Verwandlungen: Dichter als Leser Kants [1 ed.] 9783737015271, 9783847115274


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Verwandlungen: Dichter als Leser Kants [1 ed.]
 9783737015271, 9783847115274

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Violetta L. Waibel / Gabriele Geml / Sarah Caroline Jakobsohn / Philipp Schaller (Hg.)

Verwandlungen Dichter als Leser Kants

Mit einer Abbildung

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit Förderung der Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Anselm Kiefer: „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“, 1997, Holzschnittcollage auf Leinwand mit Emulsion, Acryl und Schellack / Collage of woodcuts on canvas with emulsion, acrylic and shellac, 268 x 398 x 6 cm. Part I: 199 x 398 cm; Part II: 69 x 198 cm (AKI 1552). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1527-1

Inhalt

Violetta L. Waibel Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Violetta L. Waibel / Gabriele Geml / Sarah Caroline Jakobsohn / Philipp Schaller Einleitung – Kant in literarischen Verwandlungen . . . . . . . . . . . . .

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Kant-Lektüren bei Schiller und Goethe Jure Zovko Zur Rezeption der Ethik Kants in Schillers ästhetischen Schriften und Dramen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gabriele Tomasi Schiller on the Artistic Value of Tragedy. A Case of Moderate Autonomism? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ralf Gisinger Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kant in der Aneignung von Hölderlin und Kleist Violetta L. Waibel „der eine schöner, der andre wilder“. Hölderlins aisthetisches Philosophieren im Ausgang von Kants Prinzip der Zweckmäßigkeit und der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Johannes Epple Aufwertung und Auflösung. Hölderlins und Nietzsches Auseinandersetzung mit Kants Differenzierung von Reflexions- und Sinnen-Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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Inhalt

Barbara Santini Vom Reich Gottes zur ästhetischen Kirche. Hölderlins Verwandlung von Kants transzendentaler Begründung der Religion . . . . . . . . . . . . . . 187 Anna Maria Kontriner Wahrheitssuche und Trauerspiel. Zu Heinrich von Kleists Kant-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Grillparzer in Nähe und Distanz zu Kant Alexander Wilfing Musik, Maß, Genie. Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik-) Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Gabriele Geml Wille und Wollen bei Kant und Grillparzer . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Kant im Verständnis von Tolstoi und Dostojewskij Marie-Élise Zovko Kant und Tolstoi über Freiheit und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 307 Philipp Schaller Autonomie oder Vorbild? Kant und der Erlöser in Dostojewskijs ‚Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke‘ . . . . . . . . . . . . . . 347

Kant in ironischen Brechungen gelesen Andreas Arndt „Der kategorische Imperatif auf Reisen“. Johann Daniel Falks Kant-Satire 1797: ‚Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire. Herausgegeben von J.D. Falk. Nebst einem saubern Conterfey auf die Kantische Philosophie‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Christian Strasser „Das Nichts im Wiederhalle“. Die ‚Nachtwachen von Bonaventura‘ als transzendentalpoetisches Echo auf die Philosophie Kants . . . . . . . . . 407 Sarah Caroline Jakobsohn Der Robespierre der Deutschen. Kants Zerstörungswerk in Heines Traum von der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

Inhalt

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Sebastian Schneck Ein „Geistestrio“ und der drohende Verlust des Augenlichts der Vernunft. Thomas Bernhards ‚Immanuel Kant‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Abbildung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

Verwendete Siglen und Kurztitel der Werke Immanuel Kants . . . . . . . 503

Violetta L. Waibel

Vorwort

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf ein Forschungsseminar zurück, das ich im Winter 2012/2013 am Institut für Philosophie der Universität Wien abgehalten habe, um fortgeschrittenen Studierenden im Master- und Doktoratsstudium die Möglichkeit zu bieten, sich im Vorfeld des von mir organisierten und geleiteten 12. Internationalen Kant-Kongresses zum Thema „Natur und Freiheit“, der im September 2015 in Wien stattfand, vorbereitend und vertiefend in Kants Ästhetik und Moralphilosophie sowie deren Rezeption bei Dichtern und Schriftstellern der Zeit Kants bis in die Gegenwart einzuarbeiten, zumal der Kongress sich unter anderem mit dem Schwerpunktthema „Kant und seine Dichter“ beschäftigen sollte. Erste Ergebnisse der Arbeit der Studierenden mit Kant und dem von ihnen gewählten Dichter oder Schriftsteller (Autorinnen finden sich in dem Band nicht behandelt) konnten diese auf einem öffentlichen Kolloquium im Sommer 2013 vorstellen, zu dem auch Forscherinnen und Forscher eingeladen wurden, die sich in dem Themenfeld bereits etabliert hatten. (In diesem Band gelten, sofern nicht anders zum Ausdruck gebracht, männliche Formen für alle Geschlechter.) Der große Erfolg dieser Sichtung der Rezeption Kants bei Dichtern und Schriftstellern, die oft überraschenden Ergebnisse zu bereits bekannten Rezeptionslinien, wie auch die Neuentdeckung von Kant-Lesern unter Dichtern und Schriftstellern ließ den Gedanken keimen, die Ergebnisse dieser Forschung der Studierenden ganz im Sinne dieses besonderen Studienformats zusammenzutragen und zu veröffentlichen, sobald nicht nur der Kongress stattgefunden haben würde, sondern auch die Kongressakten vor dem nächsten 13. Internationalen Kant-Kongress im August 2019 in Oslo erschienen sein würden. Diese lagen planmäßig vor: Natur und Freiheit. Akten des 12. Internationalen Kant-Kongresses, im Auftrag der Kant-Gesellschaft, 5 Bände, herausgegeben von Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner unter Mitwirkung von Sophie Gerber, Berlin, De Gruyter 2018. Der Weg war frei, nun auch diesen vorliegenden Band der Verwandlungen. Dichter als Leser Kants zu bearbeiten.

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Violetta L. Waibel

Ein großer Dank bei der gemeinsamen Herausgabe und der Zusammenarbeit mit den früheren Studierenden des Forschungsseminars gilt meinen ehemaligen und gegenwärtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit großem Einsatz und liebevoller Sorgfalt es möglich gemacht haben, dass die Schreibstudien der Studierenden von einst zu Beiträgen wurden, die nun der Öffentlichkeit vorgelegt werden können. Die Studierenden sind längst bemerkenswerte Wege gegangen, teils fern von der Universität Wien. Gleichwohl gelang es uns, den Kontakt zu ihnen so zu halten, dass die Beiträge kommentiert, verbessert, entwickelt und redigiert werden konnten. Ihnen allen gilt ein großer Dank für die Intensität und Ernsthaftigkeit, mit der sie kooperierten. Mein Dank gilt ganz besonders den beiden Mitherausgeberinnen und dem Mitherausgeber, also meinem früheren Assistenten Philipp Schaller, meiner früheren Studienassistentin Sarah Caroline Jakobsohn und meiner Mitarbeiterin Gabriele Geml für den großen Einsatz, den sie für das Zustandekommen dieses Bandes erbracht haben. Der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft habe ich sehr zu danken, dass das Kolloquium im Sommer 2013 finanziell unterstützt und nun auch der Druck dieses Bandes gefördert wurde. Dem Verlag Vienna University Press sei herzlich gedankt für die Aufnahme in das Verlagsprogramm, sowie dem Lektor, Oliver Kätsch, für die freundliche und umsichtige Betreuung des Bandes bei der Drucklegung. Violetta L. Waibel, Wien, im August 2022

Violetta L. Waibel / Gabriele Geml / Sarah Caroline Jakobsohn / Philipp Schaller

Einleitung – Kant in literarischen Verwandlungen

Immanuel Kant, Professor für Poesie und Beredsamkeit in Königsberg, seit 1764!? Immanuel Kant, Leser von Dichtern und Schriftstellern!

Kein Zweifel, Immanuel Kant hat viele literarische Werke gelesen. Kein Zweifel, Dichtung, schöne Literatur standen nicht im Zentrum seines Lebenswerkes. Dies, eine Professur für Poesie und Beredsamkeit für Kant, ist gleichwohl nicht irgendeine Phantasie, sondern war Gegenstand eines wirklichen Ansinnens, als man im damaligen Königsberg auf Immanuel Kant aufmerksam geworden war. In einem Schreiben vom August 1764 heißt es: „Uns ist ein gewisser dortiger Magister, namens Immanuel Kant, durch einige seiner Schriften bekannt worden, aus welchen eine sehr gründliche Gelehrsamkeit hervorleuchtet.“1 Kant, an den die Anfrage dann auch gerichtet wurde, ob er die frei gewordene Professur für Poesie und Beredsamkeit in Königsberg übernehmen wolle, gab zur Antwort, dass er nicht an dieser Professur interessiert sei, wohl aber an der für Logik und Metaphysik, sobald diese für eine Neubesetzung frei sei.2 Sein Warten hat sich bekanntlich gelohnt, denn 1770 hat man ihm ebendiese Professur angeboten. Bis zum 23. Juli 17963 hat er an der Universität Königsberg Logik und Metaphysik und noch vieles andere unterrichtet und daneben sein gewaltiges und umfassendes Werk ausgearbeitet. Wie kaum ein anderer hat Kant eine markante Zäsur in der Geschichte der Philosophie gesetzt mit seinen drei großen Kritiken der reinen Vernunft (1781/ 1787), der praktischen Vernunft (1788) und der Urteilskraft (1790) und all den anderen Werken, die diese Hauptwerke flankieren. Kaum ein Philosoph wird bis 1 Zitiert nach: Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie, aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, München 2003, 190f. 2 Vgl. Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s, Königsberg 1804, 36; Wiederabdruck in: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von Borowski, Jachmann und Wasianski, mit einer Einleitung von Rudolf Malter und einem neuen Vorwort von Volker Gerhardt, Darmstadt 2012, 17. 3 Kühn, Kant. Eine Biographie, 497.

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heute und nahezu weltweit so intensiv gelesen und studiert wie Immanuel Kant. Verschiedenste Richtungen, verschiedenste philosophische Strömungen beziehen sich bald affirmativer bald abwehrender auf ihn. Bücher und Beiträge im Gefolge Kants sind Legion. Schwer überschaubar ist die Zahl der Übersetzungen seiner Werke nicht nur in die verbreiteten Sprachen der Welt, sondern auch in weniger bekannte Sprachen. Im Betrieb philosophischer Gelehrsamkeit sind Kants nicht unbeträchtliche Lektüren von Schriftstellern und Dichtern bis heute wenig untersucht geblieben. Und überhaupt, wer weiß schon, dass Kant beinahe Professor für Poesie und Beredsamkeit geworden wäre, oder es wenigstens hätte werden können? Umso mehr aber sind Dichter und Schriftsteller bekannt, die sich Kants Werk anverwandelten – zu Kants Zeiten und bis heute. Dieser Anverwandlung einer ebenso überwältigenden wie schwierigen, höchst anspruchsvollen Philosophie durch Poesie und Literatur widmet sich dieser Band, der literarischen Transformationsprozessen nachspüren will. Der Titel des Buches Verwandlungen ist Programm. Kants schriftstellerisch und dichterisch tätige, vielfältig publizierende Leser, manchmal auch Leserinnen, sind nicht alle penible Ausleger von Kants Worten. Es sind bald kongeniale Leser, wie man etwa Schiller verstehen kann, es sind Leser, die sich Kants Worte durch produktive Missverständnisse aneignen, ja auch zurechtlegen, es sind Leser, die gezielt und bewusst Kants Worte umwenden, um ihnen damit, bald im ernsten Gespräch mit dem Philosophen, bald ironisierend, bald bis an die Grenze der Erkennbarkeit verändert, in ihren Werken ein neues Leben zu geben. Dieser Band nimmt den Philosophen Kant ebenso ernst wie die Dichter und Schriftsteller, die sich zu Wort meldeten mit dem, was sie aus ihren Lektüreeindrücken und Lesespuren aus den Werken Kants an Neuem formten. Die Literatur bietet eine andere Art der Auseinandersetzung mit den Fragen menschlichen Daseins als die Wissenschaft, sie bildet ein Experimentierfeld, verfügt über andere Voraussetzungen und Möglichkeiten, um philosophische Konzepte in einen schriftstellerischen Denkkosmos zu integrieren. Auch wenn die Verführung groß ist, Philosophie und Literatur nach gleichen Maßstäben bemessen zu wollen, folgen sie einer je eigenen Logik. Es gilt Philosophie und Literatur in ihrer jeweiligen Dignität und Stärke zu fassen, obschon offenkundig ist, dass zahlreiche Werke in einem schwebenden Übergang zwischen diesen beiden Disziplinen zu verorten sind. Freilich, das Sprachspiel der Konkurrenzen ist der menschlichen Kultur so tief eingeschrieben, dass gefragt werden kann, ob die Abstraktheit, die Systematizität der Philosophie, zumal die eines Kant, nicht zu fremd, zu leblos seien angesichts der wirklichen Probleme des Lebens. Man mag sich für Kant und sein Vernunftkonzept entscheiden, man mag sich gegen ihn, und für die unendliche Vielfalt des Lebens entscheiden. Hören wir, lesen wir, was die Autoren und

Einleitung – Kant in literarischen Verwandlungen

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Autorinnen zu sagen haben angesichts der wirklichen oder vermeintlichen lastenden Schwere einer Philosophie wie der Kants. Philosophie, zumal die Kants, wendet sich an die Vernunft, Literatur schreibt sich des Öfteren zu, sich an den ganzen Menschen zu adressieren. Die Liste der Dichter und Schriftsteller, die Kants Schriften gelesen, ihre Gehalte aufgenommen, adaptiert, kritisch ausgeleuchtet, mitunter überboten und mitunter missverstanden, dabei aber immer auch verwandelt haben, ist lang. Besondere Hervorhebung verdient gewiss Friedrich Schiller (1759–1805) mit seiner Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen und deren literarischen Ausgestaltungen. Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), Friedrich Hölderlin (1770–1843) und Heinrich von Kleist (1777–1811) studierten, mit unterschiedlicher Intensität und mit je anderen Interessen, Kants Schriften; ebenso die frühromantischen Dichterphilosophen Friedrich von Hardenberg / Novalis (1772–1801), Johann Paul Friedrich Richter / Jean Paul (1763–1825) oder Friedrich Schlegel (1772–1829). Nicht in demselben Maße bekannt wie die Werke der genannten Autoren, sondern vielmehr kaum publik geworden sind die literarischen Schriften von Frauen jener Zeit, die vielfach erst sehr verspätet – wenn überhaupt – einen Weg in die Öffentlichkeit fanden. Ihre literarischen Auseinandersetzungen mit Kant sind zumeist erst noch zu entdecken, obwohl es in neuerer Zeit eine beachtliche Forschung zu Frauen in Philosophie, Literatur und Wissenschaft gibt. Zu den Autorinnen, die Kants Schriften an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert rezipierten, zählt Sophie Mereau (1770–1806), die erste Studentin in Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) Privatseminaren und erste Frau, die in Schillers Horen publizierte. In ihrer Erzählung Elise (1800) setzt sie sich mit der Idee der Autonomie auseinander.4 Zu denken wäre ebenso an Karoline von Günderrode (1780–1806), an Dorothea Veit-Schlegel (1764–1839) sowie an Germaine de Staël (1766–1817) und deren 1813 in England veröffentlichte Schrift De l’Allemagne. Gerade diese Schrift, in welcher der Darstellung von Kants Philosophie beträchtliche Bedeutung zukommt, wurde für das Deutschlandbild des intellektuellen Frankreich maßgeblich.5

4 Vgl. Katharina von Hammerstein, ‚Unsere Dichterin Mereau‘ als Frau der ‚Goethezeit‘ zu Liebe und Revolution, in: Goethe Yearbook, Volume 7, 1994, 146–169. Published by the North American Goethe Society. doi.org/10.1353/gyr.2011.0369; Tom Spencer, ‚Hier oder nirgends ist Amerika!‘ America and the Idea of Autonomy in Sophie Mereau’s ‚Elise‘ (1800), in: Rob McFarland; Michelle James (Hg.), Sophie Discovers Amerika, 2014, 30–44. DOI: 10.7722/ j.ctt5vj78r.7. 5 Ein Abschnitt der Darstellung der Philosophie Kants in Germaine de Staëls De l’Allemagne erschien neuerdings in englischer Übersetzung in dem Band Women Philosophers in the Long Nineteenth Century. The German Tradition, hg. v. Dalia Nassar und Kristin Gjesdal, New York 2021, 38–50. Der Band präsentiert neben einer Reihe philosophischer Texte und Textaus-

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Zu berücksichtigen ist, dass sich das literarische Engagement von Frauen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vielfach nicht in Form von Büchern und Publikationen sedimentieren konnte. Genauer gesagt waren es häufig nicht eigene Bücher und Publikationen, floss doch einiges von ihren Ideen in die Werke ihrer bekannt gewordenen Männer ein. Umso beachtenswerter ist im Hinblick auf die eigene literarische Produktion von Frauen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Form des Briefes, die in der Zeit eine literarische Gattung sui generis bildete. Ebenso der Aufmerksamkeit wert ist die gesellschaftlich bedeutsame Rolle von Frauen als Gastgeberinnen literarisch-philosophischer Salons, in denen sicherlich auch Kants Werke diskutiert wurden. Zu denken ist an den Salon von Sophie von La Roche (1730– 1807), der Großmutter Bettina von Arnims (1785–1859) und Clemens Brentanos (1778–1842), die mit ihrer Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) als Deutschlands erste Romanschriftstellerin gilt und später die Frauenzeitschrift Pomona im Sinne eines Bildungs- und Aufklärungsmagazins herausgab. „Selbstdenken ist der höchste Mut“, wird es im 1840 erschienenen Briefroman ihrer Enkelin Bettina von Arnim über Caroline von Günderode heißen.6 Besonderes Interesse muss auch dem Hamburger Salon von Elise Reimarus (1735–1805) gebühren, einer der bedeutendsten philosophischen Schriftstellerinnen der Aufklärung, die mit Moses Mendelssohn (1729–1786), Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) und Carl Leonhard Reinhold (1757–1823) in brieflichem Austausch stand.7 Ein eigenes und durchaus enttäuschendes Kapitel ist umgekehrt Kants Haltung zu Frauen als Selbstdenkerinnen, das heißt, als Personen, die von ihrer Vernunft öffentlichen Gebrauch machen. Eine vorsichtig vorgebrachte Anfrage Sophie Mereaus, ob er gewillt sei, einige Marginalien aus seinen Notizbüchern zu einer Zeitschrift beizusteuern, die sie zu veröffentlichen plante, hat er jedenfalls ignoriert.8 Im amerikanischen Raum bildete sich im Rekurs auf Kant und vermittelt durch den englischen Philosophen und Schriftsteller Samuel Taylor Coleridge schnitte von Frauen (darunter Karoline von Günderrode, Bettina von Arnim, Lou Salomé, Edith Stein) jeweils sehr hilfreiche Einführungen in deren Werke. 6 Vgl. Ulrike Landfester, Bettine Brentano von Arnim (1785–1859) als politische Schriftstellerin: ‚Selbstdenken ist der höchste Mut‘, in: Bernd Heidenreich (Hg.), Geist und Macht. Die Brentanos, Wiesbaden 2000, 71–91. 7 Eine verdienstvolle Zusammenstellung deutschsprachiger Schriftstellerinnen um 1800 und ihrer Werke ist auf der Website der Kant-Forschungsgruppe der Ontario State University zu finden: https://publish.uwo.ca/~cdyck5/UWOKRG/women.html (Zugriff vom 8. 8. 2022). 8 Vgl. den Eintrag zu Sophie Mereau unter: https://publish.uwo.ca/~cdyck5/UWOKRG/wome n.html (Zugriff vom 8. 8. 2022). Vgl. ferner Pauline Kleingeld, On Dealing with Kant’s Sexism and Racism, in: SGIR Review, 2 (2), (2019), 3–22. https://philpapers.org/rec/KLEODW (Zugriff vom 8. 8. 2022).

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(1772–1834), der sich in seinen Aids to Reflection (1825) mit Kant auseinandersetzte, die Schriftstellergruppe der Transzendentalisten, zu denen Ralph Waldo Emerson (1803–1882) mit Nature (1836) und Henry David Thoreau (1817–1862) zählten. Bis in die Gegenwart sind etliche weitere Autorinnen und Autoren hervorzuheben, die Kants Person und seine Kritische Philosophie in der einen oder anderen Weise für sich entdeckt und literarisch anverwandelt haben, wie etwa Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) in Als Sr. Hochedelgebornen der Herr Professor Kant den 21sten August 1770 für die Professor-Würde disputierte (1770), Thomas de Quincey (1785–1859) in The Last Days of Immanuel Kant (1827), Fjodor Dostojewskij (1821–1881), Leo Tolstoi (1828–1910), Paul Valéry, (1871– 1945), Robert Musil (1880–1942) in Die Verwirrungen des Zögling Törleß (1906), Elias Canetti (1905–1994) in Die Blendung (1935), Samuel Beckett (1906–1989) in Watt (1953), Simone de Beauvoir (1908–1986) in Pour une morale de l’ambiguïté (1947; The Ethics of Ambiguity, 1948), Ingeborg Bachmann (1926–1973) in Malina (1971), Thomas Bernhard (1931–1989), Umberto Eco (1932–2016) in Kant und das Schnabeltier (1997), W[infried] G[eorg Max] Sebald in Jetzund kömpt die Nacht herbey. Leben und Sterben Immanuel Kants.9 Diese Liste ließe sich um eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren ergänzen. In den Beiträgen dieses Bandes wurde versucht, die je spezifische Art der Verwandlung herauszuarbeiten, die Kants Philosophie im Zuge der Lektüren und des Schreibens durch die literarischen Wortschöpfer erfährt. Original und Ergebnis, Kants philosophische Schriften und die jeweilige Verwandlung durch die hier vorgestellten Dichter und Schriftsteller, werden zuweilen gegeneinander gehalten, um gleichwohl beides in seinem je eigenen Wert zu bemessen. Nicht stehen hier der hohe Geist und dort der blanke Buchstabe gegeneinander, wie es ein geflügeltes Wort des späten 18. Jahrhunderts zu benennen wusste, sondern es begegnen sich der Geist der Philosophie Kants und der Geist seiner Philosophie, wie er in ästhetischer Brechung und Verwandlung im Schaffen der Dichter und Schriftsteller wiederkehrt. Aus dem großen Panorama möglicher Themen, die in diesem Band behandelt werden könnten, haben sich die herauskristallisiert, die sich die Beitragenden auf Grundlage ihrer aktuellen Forschungsinteressen gewählt haben. Ein für die Universität Wien naheliegender Schwerpunkt hat sich um österreichische Autoren gebildet: Franz Grillparzer (1791–1872), Joseph Schreyvogel (1768–1832)

9 Zu Bachmann vgl. Violetta L. Waibel, Metaphysik, Existenzphilosophie, Neoempirismus. Ingeborg Bachmann, die Philosophie und das Schreiben, in: Michael Hansel und Kerstin Putz (Hg.), Ingeborg Bachmann. Eine Hommage, Wien 2022, 158–171. Zu Sebald: Das als Drehbuch angelegte Skript wurde im Jahr 2015 posthum vom WDR als Hörspiel realisiert.

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und Thomas Bernhard (1931–1989). Mit diesen Untersuchungen ist ein Reigen eröffnet, der nach Belieben fortgeführt werden könnte.

Kant-Lektüren bei Schiller und Goethe Der Reigen der in diesem Buch verhandelten Autoren beginnt mit den Klassikern, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Je auf eigenen Wegen haben sie sich intensiv mit Kant auseinandergesetzt, wie die Forschung längst dargelegt hat. Unbestritten hat Schiller Goethes Interesse an Kants Denken entscheidend mitgeprägt. Doch während Schiller mit Kant den Menschen als sinnliches Wesen kultivieren und ihn im Ganzen ändern und bessern will, richtet Goethe sein besonderes Augenmerk auf die in Kants Kritik zu gewinnenden naturphilosophischen Impulse. Neben diesem bekannten Hauptinteresse Goethes an Kant sind andere Aspekte seiner Auseinandersetzung mit ihm unbeachtet geblieben, die im vorliegenden Band näher beleuchtet werden. Jure Zovko geht in seinem Beitrag der Rezeption der Ethik Kants in Schillers ästhetischen Schriften und Dramen nach. Schiller hat sich dem modernen Zeitgeist entsprechend und unter dem eminenten Eindruck von Kants Philosophie als „Dichter der Freiheit“ betrachtet und das Anliegen verfolgt, die Grundideen der Kantischen, autonom fundierten Ethik in der Dichtung umzusetzen. Unmittelbar nach seiner Erkrankung im Jahr 1791 begann Schiller mit einer intensivierten Lektüre der Philosophie Kants und bewertete diese bald mit Begeisterung als einen wichtigen Beitrag zur ästhetischen Kultivierung des menschlichen Geistes, die er als primäre Aufgabe der Dichtung kennzeichnete. Sie bietet einen Weg, die für Gewalt und Brutalität anfällige Natur des Menschen, wie sie sich etwa im jakobinischen Terror nach 1789 manifestierte, in eine zweite, moralische Natur zu transformieren. Seinen eigenen Beitrag zur ästhetischen Kultivierung wollte Schiller insbesondere in der dichterischen Kunst leisten. Als Protagonisten seiner Dramen und als Projektionsflächen seiner moralisch humanistischen Ideen wählte er vornehmlich historische Personen. Die tatsächlichen historischen Umstände und Konstellationen, die Schiller mit dichterischer Freiheit behandelt, spielen in seinen literarischen Werken allerdings eine untergeordnete Rolle, insofern er Fragen der Moral und Vernunft thematisiert, die für die Menschen zu allen Zeiten maßgebend sind oder sein sollten. Kurz gesagt, die Probleme von einst wie Korruption, Machtmissbrauch, Missgunst, Neid oder Eifersucht sind die Probleme von Heute in anderem Gewand. Zovko zeigt, wie das Historische in Schillers Dramen nach ästhetischen und moralischen Kriterien nach Maßgabe des Kantischen Denkens transformiert wird, was Schiller als „poetischen Kampf mit dem historischen Stoff“ charakterisiert hat.

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Mit Schiller beschäftigt sich auch Gabriele Tomasi unter dem Titel Schiller on the Artistic Value of Tragedy. A Case of Moderate Autonomism? Tomasi geht von den kunsttheoretischen Überlegungen aus, die Schiller in Auseinandersetzung mit Kants Schriften formuliert hat. Er lotet neu aus, wie Schiller das poetische Schaffen in jenem Spannungsfeld verortet, das sich zwischen Kants Moralphilosophie auf der einen Seite und dessen Theorie des Schönen auf der anderen ergibt. Im Zentrum steht das komplexe Verhältnis von Moralität und Ästhetik in der Tragödie, das Schiller sowohl theoretisch als auch praktisch zum Gegenstand seines essayistischen und künstlerischen Schaffens gemacht hat. Tomasi argumentiert dafür, dass es sich bei Schillers Position um eine moderate Form einer Autonomieästhetik (moderate autonomism) handelt, und sucht den Schiller vielfach zugeschriebenen Moralismus zurückzuweisen. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht dabei die Frage, ob literarische Werke im Sinne der Autonomieästhetik allein nach ästhetischen Gesetzen beurteilt werden sollen oder ob sie auch moralischen Erfordernissen gerecht werden müssen. Die Bedeutung, die Kants Moral- und Kunstphilosophie, seine Theorien des Guten, des Schönen und des Erhabenen, für die Verständigung von Künstlerinnen und Künstlern in Bezug auf ihr eigenes Handwerk zu bieten hat, manifestiert sich, wie Tomasi herausarbeitet, in den philosophischen und dichtungstheoretischen Überlegungen Schillers und besonders in Schillers Reflexionen über das Wesen der Tragödie. Dem anderen großen Klassiker der Zeit wendet sich Ralf Gisinger in seinem Beitrag Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre zu. Der Beitrag begibt sich zunächst auf eine Spurensuche nach möglichen Einflüssen von Kant auf Goethe, spezifischer auf die Arbeit an dessen Opus Magnum, dem Faust. Gisinger skizziert, wie Goethes Kenntnis von Kants Philosophie zunächst durch dritte wie Johann Gottfried Herder (1744–1803), Friedrich Heinrich Jacobi und Carl Leonhard Reinhold vermittelt wurde; wie sie sich durch seine produktiven Gespräche mit Schiller intensivierte, um schließlich in Goethes eigene, selbstständige und sorgfältige Lektüre von Kants Schriften zu münden. Um den möglichen Einfluss von Goethes Beschäftigung mit Kant auf die Konzeption und Gestaltung des Faust aufzuzeigen, steht zunächst ein eng umrissenes Textkorpus im Zentrum, dessen Entstehung unmittelbar in die Zeit von Goethes Kant-Lektüre fällt. Dies sind Szenen, die Goethe in Faust I (1808) nachweislich erst nach seiner intensiven Beschäftigung mit Kants Kritiken hinzufügte. In weiterer Folge liest Gisinger Faust auf Kantische Elemente und Topoi hin. Obgleich eine solche Engführung nicht des spekulativen Charakters entbehrt, erweist sie sich als aufschlussreich, insbesondere was das Ende von Faust II (1831) betrifft. In Gisingers Deutung zeigt sich, dass Faust in der Besinnung auf seine eigene Freiheit ganz im Sinne Kants eine Wendung zum Moralisch-Praktischen gelingt: Faust ist nicht mehr getrieben vom Streben nach irdisch-sinnlicher Glückseligkeit. Er

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weist nunmehr auch die Möglichkeit einer Antwort auf die Frage danach, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, klar zurück. Faust akzeptiert die von Kant gezogenen Grenzen der Erkenntnis. Die Einsicht in das Verhältnis von Natur und Freiheit besteht bei Kant unter anderem in der Unterscheidung von relativen Zwecken der (theoretischen) Erkenntnis und absoluten Zwecken der (praktischen) freien moralischen Tat. In Gisingers Lektüre des Endes von Faust II verschieben sich, durch die Brille Kants gesehen, die Koordinaten der Wette, die Faust mit dem Teufel eingegangen war.

Kant in der Aneignung von Hölderlin und Kleist Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist zählen zu den Autoren an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, die weder klar der Klassik noch der Romantik zuzuordnen sind. Die literarischen, essayistischen und brieflichen Texte, die sie hinterlassen haben, erlauben das Bild zweier Dichter zu zeichnen, die durch das neuartige transzendentalphilosophische Denken Kants zu Prozessen der Verständigung über sich selbst, über ihre Erwartungen an das Leben und über den Zweck ihres poetischen Schaffens veranlasst wurden. Während Hölderlin in eigenen philosophischen Entwürfen die Aufgabe und Bedeutung der Dichtung zu bestimmen suchte, und sich dabei an Kant abarbeitet, zeugen Kleists Äußerungen und sein künstlerisches Schaffen von einer tiefen Krise, in welche ihn die Erkenntnistheorie Kants, so wie er sie auffasste, gestürzt hat. Der Beitrag von Violetta L. Waibel „der eine schöner, der andere wilder. Hölderlins aisthetisches Philosophieren im Ausgang von Kants Prinzip der Zweckmäßigkeit und der Organisation“ nimmt Hölderlins Schriften an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in den Blick, die mit einer Wende auch in seinem Denken zusammenfällt. Zweckmäßigkeit ist das Prinzip, das die ungleichen Teile von Kants Kritik der Urteilskraft zusammenhält und das Hölderlin besonders genau studiert hat. Dabei macht er nicht nur den ersten, ästhetischen Teil, sondern auch die teleologische Urteilskraft des zweiten Teils zum Ausgangspunkt seiner eigenen Poetologie. Kants organologisches Prinzip der Biologie dient Hölderlin zur Grundlage einer Werktheorie, die die wechselhaften Prozesse der unbewussten Natur des Geistes, das, was die Natur des Genies zur Regel der Kunst macht, ebenso umfasst wie das intentionale Wollen des Dichters, der nicht teilnahmslos dem Gang der Geschichte, den Revolutionen von Vernunft und Unvernunft zusieht, sondern gezielt und bewusst Partei ergreift. Den Wechsel von geordneter, vernünftiger Organisiertheit und triebhafter, chaotischer Wildheit kleidet Hölderlin in den dunkel anmutenden Gegensatz von ‚Organischerem‘ und ‚Aorgischerem‘, entfernt gemahnend an das Anorgische bei Schelling und anderen. Hatte Kant mit der Teleologie der objektiv zweckmäßigen Organisation

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des Lebendigen der Biologie der Zeit neue Denkmuster bereitgestellt, so entfaltet Hölderlin neue Denkwege für die bald bewussteren bald dunkleren Prozesse künstlerischen Tuns, nicht ohne Ausgriff auf Spinozas berühmte scientia intuitiva. Das Tragödien-Projekt Empedokles / Tod des Empedokles und seine Herausforderungen, die Hölderlin zum Stocken im Prozess des Dichtens brachten, ihn zum Reflektieren, zum theoretischen Schreiben zwangen, erzeugen den Dialog des Dichters mit dem Theoretiker in einer Person. Der bewusste Denkanstoß soll die Geisteskräfte in einen Zustand des Schwebens, des Fließens, des Flows, wie wir heute sagen, bringen. Gelingen und Scheitern geben sich in Hölderlins Wechselbeziehung von ästhetischer Theorie und ihrer Praxis die Hand, wie Waibel herauszustellen sucht. Der Beitrag Aufwertung und Auflösung. Hölderlins und Nietzsches Auseinandersetzung mit Kants Differenzierung von Reflexions- und Sinnen-Geschmack von Johannes Epple unterzieht Kants Geschmackslehre einer kritischen Revision aus der Perspektive von Hölderlins Hyperion und Nietzsches Zarathustra. Epple geht von der These aus, dass Hölderlins Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft in dessen Roman Hyperion (1797 und 1799) das Kant-Bild von Friedrich Nietzsche (1844–1900) stark beeinflusst habe, was sich besonders in Also sprach Zarathustra (1883–1885) bemerkbar mache. Dieser Einfluss lässt sich sowohl an der Argumentationsstruktur wie auch an einzelnen Sprachbildern nachvollziehen. Sowohl Hölderlin als auch Nietzsche distanzieren sich von der für Kants Argumentation so zentralen Behauptung der Interesselosigkeit in der Wahrnehmung im Urteil über das Schöne. Epple zufolge entwirft Hölderlin ein Alternativmodell, nach dem das reine Geschmacksurteil an ein ästhetisches Interesse gekoppelt sei, das nicht auf die praktische Vernunft zurückgeführt werden kann, sondern die Initiation dichterischer Praxis in den Blick bringt. Nietzsche radikalisiere Hölderlins Modell, so Epple, indem er die von Kant entworfene Differenzierung von Reflexions- und Sinnengeschmack in der Perspektive dionysischen Menschseins auflöse. Die produktive Aneignung und Umformung der Kantischen Geschmackslehre dient beiden Autoren als Ausgangspunkt einer eigenen ästhetisch-metaphysischen Theorie. Barbara Santini nimmt den frühidealistischen Topos Vom Reich Gottes zur ästhetischen Kirche auf, um Hölderlins Verwandlung von Kants transzendentaler Begründung der Religion zu untersuchen. Dabei wird Hölderlins Nachdenken über die Religion zum Gegenstand einer genealogischen und systematischen Analyse. Der Fokus liegt auf Hölderlins Auseinandersetzung mit Kants Religionsphilosophie. Anders als Kant, der mit seinem Konzept der Vernunftreligion den Vorrang der Moral verbunden sieht, entwickelt Hölderlin Santini zufolge eine ästhetische Religion und formuliert dabei die bei Kant zu findenden apriorischen Grundlagen der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit um, auf denen ein vernünftiger Glaube beruht. Der Beitrag rekonstruiert den Gedan-

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kengang, mit dem Hölderlin zu einer neuen transzendentalen Begründung der Religion gelangt und den Übergang von einer moralischen zu einer ästhetischen Konzeption der Religion andenkt. Anna Kontriner behandelt das Thema Wahrheitssuche und Trauerspiel. Zu Heinrich von Kleists Kant-Rezeption. Im Zentrum ihrer Untersuchung steht Kleists erstes Trauerspiel, Die Familie Schroffenstein. Das Stück ist bekannt für die Brutalität und die ins Groteske umschlagende Hoffnungslosigkeit der Welt, die darin gezeichnet werden. Im Jahr 1802, als Kleist dieses Werk verfasste, befand er sich in einer tiefen Lebenskrise, wie sich zahlreichen Briefen entnehmen lässt. Als Auslöser der Krise machte Kleist selbst seine Kant-Lektüre geltend: Kant habe ihm die Aussichtslosigkeit seiner Suche nach Wahrheit gezeigt. Motivhaft und verwandelt kehrt eben diese Erfahrung in Die Familie Schroffenstein wieder. Das Stück findet sein Gravitationszentrum dort, wo Unsicherheit und Verletzlichkeit des Menschen in der Welt auf die Einsicht treffen, keine letzte Wahrheit über sie finden zu können.

Grillparzer in Nähe und Distanz zu Kant Unter erschwerten äußeren Bedingungen stand die Kant-Rezeption im Wien des 18. und 19. Jahrhunderts, wo man sich bemühte, das revolutionäre Potential dieses neuartigen Denkens mit allerlei politischen Maßnahmen in Grenzen zu halten. Dass dies auch das Gegenteil bewirkte, nämlich ein großes Interesse an der Philosophie Kants geweckt wurde, lässt sich an Franz Grillparzer (1791–1872) nachvollziehen, dem zwei Beiträge gewidmet sind. Der eine berührt das Verhältnis von Philosophie und Literatur, sofern sich beide mit dem menschlichen Wollen und Handeln und den moralischen Ansprüchen beschäftigen, unter denen es steht. Der andere bezieht noch eine weitere Kunstform ein, bei der es sich, passend zur Kultur am fraglichen geographischen Ort, um die Musik handelt. Dass Wien im 19. Jahrhundert die unumstrittene Hauptstadt der Musik war, spiegelt sich auch in Grillparzers Schreiben wider, der sich mit den in ihr stattfindenden Entwicklungen ähnlich intensiv befasst hat wie mit Kants Theorie des Geschmacks und des ästhetischen Urteils. Alexander Wilfing setzt sich in seinem Beitrag Musik, Maß, Genie. Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik)-Ästhetik mit der Bedeutung auseinander, die Kants Ästhetik in Grillparzers Schriften zukommt. Im Zentrum stehen Grillparzers ästhetische Aphorismen und die Novelle Der arme Spielmann (1848). Um die biographischen und historischen Bedingungen von Grillparzers Kenntnis der Schriften Kants zu rekonstruieren, werden im ersten Teil des Textes zunächst die allgemeinen Parameter von Grillparzers Rezeption der Lehre Kants im Hinblick auf die österreichische Bildungspolitik des 18. und 19. Jahrhunderts

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nachgezeichnet. Diese reichen von der positiven Rezeption unter Joseph II. bis zur konservativen Programmatik unter Franz II., unter der es in Österreich zur Marginalisierung von Kants Werken kommt. Neben einer Skizze der Rottenhanschen Universitätsreform, die Kants Lehre weitgehend zensierte, werden Grillparzers Bildungsweg und seine ersten Kontakte mit Kants Philosophie auf Vermittlung durch seinen Mentor Joseph Schreyvogel dargestellt. Diese historische Rekonstruktion soll Grundlagen und Bedingungen des oftmals heiklen Problems einer indirekten Rezeption bestmöglich offenlegen. Der zweite Teil stellt Grillparzers Musikästhetik in das Zentrum der Betrachtung seiner Auseinandersetzung mit der Theorie Kants. Dabei nimmt Wilfing zwei Themen in den Blick, nämlich Grillparzers Auffassung von Kants Genie-Ästhetik sowie seine Unterscheidung von „vortrefflichen“ und „mustergiltigen“ Künstlern, die sich etwa auf Grillparzers Beethoven-Kritik markant auswirkte. Mit dem Spielmann wird eine Aussöhnung angestrebt, die sich der Genie-Ästhetik verpflichtet weiß und gleichwohl die von dem Protagonisten angestrebte musikalische Realisierung der Transzendenz in der Immanenz nicht einlösen kann. Der Beitrag von Gabriele Geml, Wille und Wollen bei Kant und Grillparzer, ist Grillparzers kritischer Auseinandersetzung mit dem Kantischen Willensbegriff gewidmet, was für Grillparzer impliziert, seine eigenen psychologischen Interessen mit transzendentalphilosophischen Fragestellungen zu konfrontieren. Gezeigt wird, dass Grillparzers Aneignung von Elementen der Moralphilosophie Kants, sofern sie unter affirmativen Vorzeichen erfolgte, wesentlich von seiner Lektüre der Kritik der Urteilskraft geprägt war, die Grillparzer von Kants Schriften am nächsten stand. Zudem wird dargelegt, dass sich Grillparzers Interesse am Willensbegriff Kants primär aus einer psychologisch-anthropologischen Perspektive heraus entwickelt. Den Kantischen Dualismus von Pflicht und Neigung, Wille und Wollen, konfrontiert Grillparzer mit einem Willensphänomen, das bei Kant selbst kaum thematisch wird, im Rahmen von dessen transzendentalphilosophischen Prämissen auch keinen rechten Platz hat, nämlich dem Nicht-Wollen-Können, wie es in depressiven Symptomatiken als Antriebsschwäche oder ‚Gefühl der Gefühllosigkeit‘ zum Ausdruck gelangt. Während über die Jahrhunderte hinweg die Emotionen und Leidenschaften immer wieder als ein moralischer Störfaktor behandelt worden waren, machen Grillparzers Werke und seine der Selbstreflexion dienenden Tagebuchaufzeichnungen im geistigen Dialog mit der Kantischen Moralphilosophie darauf aufmerksam, dass auch Apathie und emotionale Gleichgültigkeit sowie ein übergroßer Gewissensdruck zu eminenten Gegenspielern der moralischen Handlungsfähigkeit werden können.

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Kant im Verständnis von Tolstoi und Dostojewskij Im Russland des 19. Jahrhunderts unterhalten die beiden bekanntesten Schriftsteller ihrer Zeit jeweils ein recht unterschiedliches Verhältnis zu dem deutschen Denker des 18. Jahrhunderts. Lew N. Tolstoi entdeckt, dass Kant dasselbe Problem philosophisch abgehandelt hatte, das auch das zentrale Thema seines Romans Krieg und Frieden ist, dem er seinen heutigen weltweiten Ruhm in erster Linie verdankt, nämlich das Problem von Freiheit und Notwendigkeit wie es sich mit Blick auf das menschliche Handeln und den davon abhängigen Lauf der Geschichte stellt. Er wurde in weiterer Folge ein überzeugter Anhänger und Interpret der Kantischen Philosophie und ihrer rationalen Begründung von Moral und Religion. Das Schaffen seines Zeitgenossen Fjodor M. Dostojewskij dreht sich indessen um die künstlerische Gestaltung eines Gedankens, den Kant in seiner Begründung der Moral vermieden hatte, dass nämlich die Aufkündigung des Glaubens an die Offenbarung die Moral ihrer verbindlichen Geltung beraube. Elise Zovko beschäftigt sich in Kant und Tolstoi über Freiheit und Geschichte vorrangig mit Krieg und Frieden, dem ersten von Tolstois drei großen Romanen. Entstanden in den Jahren 1868/1869 ist seine Handlung historisch zwischen dem Beginn des Dritten Koalitionskrieges gegen Frankreich um 1805 und Napoleons Russlandfeldzug im Jahr 1812 situiert. Die realen geschichtlichen Ereignisse werden im Rahmen der Schilderung der fiktiven Lebensgeschichten der Mitglieder von fünf adeligen Familien dargestellt, die den gesellschaftlichen Kreisen rund um den Hof des russischen Zaren Alexander angehören. Dabei verwebt Tolstoi die Weltgeschichte und die Geschichte der Schlüsselfiguren im Roman so ineinander, dass die Lebensgeschichten der Einzelnen sowohl als Folge ihrer persönlichen Lebensentscheidungen erscheinen als auch als Resultat ihrer Lebensumstände und der geschichtlichen Lage, in der sie sich unverschuldet befinden. Im Roman wird wiederholt die Frage aufgeworfen, welche Macht die Geschichte hat, welche Entscheidungen des Einzelnen bestimmend sind, ob der bloße Zufall herrscht oder aber ein übergreifender Endzweck. Zovko zeigt, wie Tolstoi das Verhältnis von Freiheit und Geschichte zur Zeit der Abfassung der ersten Bände von Krieg und Frieden und im Gefolge Arthur Schopenhauers (1788–1860) eher deterministisch sieht und sich später mit Gegnern und Befürwortern der Idee der Willensfreiheit intensiv auseinandersetzt, darunter Thomas Hobbes (1588–1679), David Hume (1711–1776), Baruch de Spinoza (1632–1677) und insbesondere auch Kant. Im Ausgang von zentralen Begriffsbestimmungen in Spinozas Ethik (1677), in Kants Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und in Kants drei Kritiken werden Tolstois Überlegungen zu dem Verhältnis in den Blick gerückt, in welchem die individuelle Freiheit zum großen Gang geschichtlicher Ereignisse steht.

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Philipp Schaller stellt eine kurze, im Jahre 1863 erschienene Erzählung ins Zentrum seines Beitrags Autonomie oder Vorbild? Kant und der Erlöser in Dostojewskijs ‚Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke‘. Darin findet sich eine vielsagende Rede von Beweisen der reinen Vernunft, die auf die Philosophie Kants zu beziehen ist. Dostojewskij lässt einen Erzähler sprechen, der von seiner Reise durch das westliche Europa berichtet und dabei ein unheilvolles Bild sowohl vom sittlichen Verfall des dortigen Bürgertums zeichnet als auch von der Entwicklung jener kapitalistischen Gesellschaft, in die es sich organisiert. Kants großangelegter Versuch, der Moral am reinen praktischen Gebrauch unseres logischen Denk- und Urteilsvermögens ein neues Fundament zu verleihen, wird hier als Kontrastfolie zur zeitgenössischen Wirklichkeit aufgerufen. Denn im 19. Jahrhundert hat sich Dostojewskijs Erzähler zufolge längst eine hemmungslose Erwerbstugend breit gemacht anstelle jenes klaren Bewusstseins von der moralischen Pflicht, das Kant mit seiner Theorie der Autonomie einer reinen praktischen Vernunft zu etablieren bestrebt war. So immunisiert sich der Bourgeois gegen jene Zumutungen, die vonseiten der Moralphilosophie an ihn ergangen waren, mittlerweile durch einen Positivismus, der merkantilistische und egoistische Imperative formuliert. Kant widerfährt, wie Schaller ausführt, in Dostojewskijs Erzählung eine ehrende Würdigung, zugleich aber auch eine deutliche Absage. Einerseits wird klar, dass die Scheintugend, mit welcher sich die Raffgier und Dekadenz im Zeitalter des Kapitalismus bemänteln, vor Kants praktischer Philosophie in all ihrer entlarvenden kritischen Schärfe nicht zu bestehen vermögen. Andererseits aber richtet sich die Hoffnung, den heraufdämmernden sozialen Antagonismus durch die Stiftung einer echten Moralität der Gesinnung zu überwinden und drohende gesellschaftliche Gewalt abzuwenden, nicht mehr auf die Philosophie, die ohnehin nicht mehr transzendental denkt, sondern positivistisch. Ein rettender Gesinnungswandel lässt sich, wie der Erzähler zu verstehen gibt, nur noch von einer Erneuerung des christlichen Glaubens erwarten. Auf diesem allein beruhen zuletzt, wie auch Dostojewskij selbst, der Verfasser der Erzählung, zu predigen pflegte, all unsere sittlichen Normen und Werte. Wie Schaller anmerkt, kündigt sich in dieser konservativen Doktrin auch schon das zentrale Thema von Dostojewskijs großen Romanen an, lässt der russische Schriftsteller in ihnen doch deutlich werden, dass das eigentliche Ziel des Denkens der Aufklärung nicht in der neuen Begründung der Moral liege, wie Kant einst gelehrt hatte, sondern in deren Überwindung. So muss sich der moderne Mensch entweder gegen die Moral entscheiden oder aber für einen Glauben, der alle menschliche Vernunft übersteigt.

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Kant in ironischen Brechungen gelesen Schon zu Lebzeiten Kants begann eine Welle ironischer Lesarten, die sich auf Werk oder Person Immanuel Kants bezogen und die bis in unsere Gegenwart reichen sollten. Vier Autoren, deren literarischer Umgang mit Kants Denken sich jeweils durch einen je eigenen Humor auszeichnet, versammelt der letzte Abschnitt der Beiträge dieses Bandes. Johann Daniel Falk (1768–1826) wirkte zur gleichen Zeit wie Kant selbst, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, und legte ein amüsantes poetisches Zeugnis von der frühen Rezeption der Kantischen Philosophie ab. An seine ironisch-satirische Behandlung Kants reiht sich die von Ernst August Klingemann (1777–1831). Das Erscheinen von Klingemanns Text fällt zeitlich mit Kants Ableben zusammen. In ihm werden, sei es Zufall oder nicht, die Vergänglichkeit und der philosophische Umgang mit ihr poetisch reflektiert und ironisiert. Der dritte Autor, Heinrich Heine (1797–1856), zählt mit seinen Werken bereits zum 19. Jahrhundert und damit zur Spät- und Endphase der Romantik. Bei ihm wird Kant als geschichtlicher Wendepunkt gesehen, nämlich als ein Denker, der durch seine Vernunft- und Metaphysikkritik neue Standards gesetzt hat, hinter die kein Weg zurückführt, während die realpolitischen Implikationen seines Denkens noch lange nicht erschöpft sind. Der Ironie Heines eignen politische und weltgeschichtliche Züge. Das Schaffen des vierten und letzten Autors, Thomas Bernhards, fällt in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in der die geschichtliche Distanz noch einmal eine ganz andere Art des ironischen Umgangs mit Kant und seinem Denken erlaubt. Das abgegriffene Bild von Kant als eines pedantischen und schrulligen Professors wird hier genützt, um poetisches Kapital aus den Albernheiten zu schlagen, die sich mit dem Kult um Weisheit und Person Kants treiben lassen. Einen bemerkenswerten Fall einer poetisch ironisierenden Darstellung aus Kants eigener Zeit behandelt Andreas Arndt in seinem Beitrag „Der kategorische Imperatif auf Reisen“. Johann Daniel Falks Kant-Satire 1797. ‚Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire. Herausgegeben von J.D. Falk. Nebst einem saubern Conterfey auf die Kantische Philosophie‘. Der sozial engagierte Philanthrop und Schriftsteller Johann Daniel Falk, der Umgang mit Schiller, Goethe und Christoph Martin Wieland (1733–1813) pflegte, wendet sich den komischen Seiten zu, die die eigene Zeit an Kants revolutionärem Denken zu entdecken glaubte. Die Nachwelt verdankt Falk den Nachweis, dass Kants Zeitgenossen die neue kritische Philosophie nicht nur mit Bewunderung, begeisterter Aneignung oder ablehnender Polemik, jedenfalls mit dem gebührenden Ernst aufnahmen. Bisweilen wurde das philosophische Ereignis des neuen kritischen Denkens, über das nun landesweit gesprochen und gestritten wurde, auch mit einem karnevalesken Humor aufgenommen, der allerdings die tiefgründigen philosophischen Dispute nicht ohne sachliches Verständnis behandelt. Womöglich entspricht der

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Zug ins Karnevaleske der Kantischen Weisheit, wonach das menschliche Denkvermögen nur begrenzt fähig ist, die großen Fragen zu beantworten, die es bedrängen. Das Bild, das Falk von der philosophischen Landschaft zeichnet, die vom Kometen der kritischen Philosophie erhellt wurde, weist ihn, wie Arndt zeigt, als durchaus versierten Kenner des Denkens seiner Epoche aus. Auch frühe Reaktionen von Interpreten und Widersachern finden Eingang in Falks satirische Behandlung der Kritischen Philosophie. Arndt ordnet den Spott, den Falk übt, in das Gefüge der Zeit ein, wenn er zeigt, dass dieser sich eher auf Kants theoretische Philosophie beschränkt und sich auch mehr gegen den bereits um sich greifenden Missbrauch von dessen Erkenntniskritik richtet als gegen diese selbst. Einbezogen werden unter anderem die Anhänger des Skeptizismus nach der Lehre David Humes, die Kant mit seinem transzendentalen Ansatz zugleich aufzugreifen und zu übertreffen beanspruchten, wie Gottlob Ernst Schulze (Aenesidemus-Schulze; 1761–1833), aber auch andere wie Friedrich Heinrich Jacobi, Carl Leonhard Reinhold und Johann Gottlieb Fichte. Kants praktische Philosophie und insbesondere die Perspektive auf einen Ewigen Frieden wusste Falk durchaus zu schätzen. Die Deutung von Falks Kant-Satire erläutert Arndt abschließend anhand des „saubern“ Konterfeis, das im vorliegenden Band abgebildet ist. Dieses enthält eine von erläuterndem Gesang begleitete bildliche Darstellung des Schicksals, das den ‚unsterblichen Meister‘ erwartet, aber auch die Wege zeichnet, die Werke in den Händen unberufener Interpreten ereilen. Christian Strasser wendet sich mit seinem Beitrag „Das Nichts im Widerhalle“. Die ‚Nachtwachen von Bonaventura‘ als transzendentalpoetisches Echo auf die Philosophie Kants einem Schriftsteller von schwarzem Humor zu. Die Textgeschichte der Nachtwachen von Bonaventura beginnt in demselben Jahr, in dem Kants Lebensgeschichte ihr Ende fand. Als der „Prolog des Hanswurstes zu einer Tragödie: der Mensch“ am Sonnabend des 21. Juli 1804 in der Leipziger Zeitung für die Elegante Welt erscheint, liegt Immanuel Kant bereits fünf Monate im Grab. Strasser sieht Ernst August Klingemann, den Autor, der sich das Pseudonym Bonaventura zulegte, in diesem Werk den harten Kontrast austragen zwischen den quasi ‚unauslöschlichen‘ Gedanken großer Denker und dem unweigerlichen Verfall der Körper dieser Denkenden. In diesem Kontrast entdeckt sich eine Quelle intrikater Komik, die in den Nachtwachen entfaltet wird. Mit schauerlicher Lust werde von Klingemann die philosophische Konstruktion der Sinngebung angesichts der Vergänglichkeit des Lebens als behelfsmäßig bis hilflos entlarvt. Damit geht zugleich eine Verkehrung der großen Denkern oft erwiesenen Ehrung einher, die manchen, so auch Kant, bereits zu Lebzeiten zuteilwurde. Der Hanswurst, als der im Hintergrund der Masken opponierende Autor, gratuliert Kant dazu, das griechische Fatum abgeschafft und an dessen Stelle eine moralische Theaterordnung eingeführt zu haben, „nach der Alles zulezt sich gut auflösen müsse“. Wie man mithilfe der Teleologie selbst in Ver-

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worrenes und Willkürliches Systematizität hineinbringt, das lernen wir, dem mysteriösen Autor der Nachtwachen zufolge, von keinem Geringeren als Immanuel Kant. Der fingierte Autor im Titel der Nachtwachen, Bonaventura, verspricht ‚das gute Geschick‘ geschickt in die Zukunft des Jenseits. Die Auseinandersetzung Heinrich Heines mit Kants Philosophie ist Gegenstand der Betrachtungen von Sarah Caroline Jakobsohns Beitrag Der Robespierre der Deutschen. Kants Zerstörungswerk in Heines Traum von der Revolution. Jakobsohn befasst sich mit der Art und Weise, wie Heine das kritische Denken Kants im Rahmen eines Schreibens deutet und vereinnahmt, das sich vor allem der Vermittlung eines progressiven politischen Anliegens widmet. Sie streicht dabei nicht nur die Differenzen in der Lebens- und Arbeitsweise des Denkers und des Dichters heraus. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf Kants und Heines ungleicher Einschätzung der mehr oder weniger drastischen sozialen und politischen Konsequenzen, welche die negativen philosophischen Ergebnisse haben würden, zu denen das Denken der Aufklärung mit Kants Vernunft- und Metaphysikkritik gelangt war. Heines Auseinandersetzung mit Kant ist teils poetischer Art, teils erfolgt sie im Rahmen seiner populären Vermittlung der deutschen Philosophiegeschichte. So wie Heine selbst in diesem Zusammenhang die Bedeutung mitreflektiert, die das Verhältnis von Inhalt und sprachlicher Form für die sozialen Wirkungen des Denkens hat, macht auch Jakobsohn diese zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, ehe sie sich dem Gebrauch zuwendet, den der spätromantische Dichter in seiner Schrift Über die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) von Kants Person und Denken macht. Wie Jakobsohn herausarbeitet, gilt Heine die vermeintliche Überwindung des Deismus als die wesentliche Errungenschaft der Kritik der reinen Vernunft, erachtet er diese doch für die Voraussetzung einer künftigen politischen Revolution in Deutschland nach französischem Vorbild. Der provokante Vergleich Kants mit Robespierre, den Heine dabei anstellt, sieht vor, dass sich sein philosophisches Vermächtnis in einer radikalen Veränderung der sozialen Wirklichkeit erfüllen wird. Die realen politischen Verhältnisse sind, anders gesagt, den ideellen Resultaten der kritischen Philosophie anzupassen. Wo aber Kant beteuert hatte, lediglich das Wissen aufheben zu wollen, um Platz für den Glauben zu schaffen, sieht Heine mit der Widerlegung der Gottesbeweise vielmehr den Glauben aufgehoben, um Platz zum Handeln zu erwirken. Sein Umgang mit Kant erweist sich dabei gleich in doppelter Hinsicht als ironisch. Einerseits unterstellt er dem Philosophen, aus der anfänglichen Tragödie seiner Vernunftkritik eine Farce gemacht und die drastischen praktischen Konsequenzen entschärft zu haben, die Heine nun selbst für ihn aus den theoretischen Resultaten seines Denkens ableiten muss. Andererseits aber nimmt das eigene Denken des späten Heine eine beachtliche Wendung. So bildet Heines späte Revision seiner früheren Lesart der Kantischen Philosophie und ihrer

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vermeintlichen Überwindung des Glaubens an einen persönlichen Gott den Schluss von Jakobsohns Betrachtungen. Eine bisweilen absichtsvoll von den philologischen Vorgaben abweichende poetische Auseinandersetzung mit Kant untersucht Sebastian Schneck in seinem Beitrag Ein Geistestrio und der drohende Verlust des Augenlichts der Vernunft. Thomas Bernhards ‚Immanuel Kant‘, der Bernhards gleichnamigem Theaterstück gewidmet ist, das im Jahr 1978 uraufgeführt wurde. Besonderes Augenmerk liegt auf den Stellen aus dem Werk Kants, die in Bernhards Komödie zitiert werden, während zugleich mit bekannten und oft erinnerten Details aus Kants Leben gespielt wird. Erstens wird, bevor das eigentliche Bühnengeschehen in Betracht kommt, rekonstruiert, wer beziehungsweise was in diesem Stück auf dem Spiel steht. Dieser Teil des Textes nimmt Stellung zu zwei Fragen: Was repräsentieren Werk und Person des Philosophen Kant – für Bernhard im Speziellen und für die Nachwelt im Allgemeinen? Und: In welchem Verhältnis stehen die Bühnenfigur und der Aufklärungsphilosoph zueinander? Der zweite Abschnitt wendet sich den intertextuellen Bezügen zwischen dem Theaterstück und dem Werk Kants zu, das im Stück an diversen Stellen zitiert wird, um der Frage nachzugehen, welchen Umgang sich Bernhard mit welchen Werken Kants gestattet. Drittens wird aufgezeigt, wie die im Vorfeld herausgearbeiteten Aspekte im Drama selbst thematisch werden. Die Situation des Menschen als empirisches und geistiges Wesen – sein individueller Zustand und sein sozialer Kontext – wird von Schneck im Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Körperlichkeit untersucht. Die hier vorgelegten Beiträge geben paradigmatisch Eindrücke davon, wie das Werk Kants in der Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhunderts bis heute kreativ angeeignet und umgedeutet wurde. Die Lektüre mag Anlass dafür sein, diese Anverwandlungen in weiteren Werken aufzuspüren. Ein Desiderat für die Forschung bleibt, all die Werke von Frauen zu sichten und ans Licht zu bringen, die sich im Verborgenen oder im Offenen mit Kant beschäftigt, im Ausgang seines Denkens geschrieben oder gedichtet haben, bereits zu Kants Zeit und in den Jahrhunderten danach. Der Schlusspunkt eines Buches ist nicht der Schlusspunkt eines Themas. Mit Freude und Neugier sehen wir einer Fortsetzung unserer Forschungen entgegen, wer immer sich dazu berufen sieht.

Kant-Lektüren bei Schiller und Goethe

Jure Zovko

Zur Rezeption der Ethik Kants in Schillers ästhetischen Schriften und Dramen

Jeder Versuch, Kants Einfluss auf Friedrich von Schillers (1759–1805) Dichtung zu verringern oder infrage zu stellen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.1 Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) selbst hat Schiller als „Dichter der Freiheit“ charakterisiert, der Kants Philosophie als eigene Religion angenommen und literarisch verkündet hat.2 Schillers Rekurs auf Kants kritische Reflexion ist unter anderem auch durch das Versagen der Französischen Revolution bedingt. Die Kluft zwischen den verkündeten Versprechungen und der miserablen Praxis war ein Anlass, dass die Französische Revolution nach der Einführung der Schreckensherrschaft durch die Jakobiner (1793) zum Paradigma der Enttäuschung wurde. Fast alle Anhänger und Befürworter der Aufklärung, prominente Schriftsteller und Philosophen, Musiker und Künstler, die ihre Begeisterung über die proklamierten Ideen der Freiheit, Gleichheit und Toleranz geäußert hatten, haben sich wegen der grausamen Praxis der Revolutionäre von der Französischen Revolution enttäuscht distanziert. Nach dem Urteil des englischen Philosophen und Parlamentariers Edmund Burke (1729–1797) hat sich in der postrevolutionären Zeit eine Clique der radikalen Weltverbesserer durchgesetzt, die im Namen der abstrakten Gleichheit und Gerechtigkeit, unter Berufung auf Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Gemeinwillen (volonté générale), den schlimmsten Ter1 Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Relevanz der hermeneutischen Urteilskraft“ geschrieben, das durch die „Croatian Science Foundation“ finanziert wurde. Vgl. Emil Staiger, Friedrich Schiller, Zürich 1967; Dieter Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), 527–547; Emil Carl Wilm, The Kantian Studies of Schiller, in: The Journal of English and Germanic Philology 7 (1908), 126–133; Peter-André Alt, Schiller – Leben, Werk, Zeit. Eine Biographie, 2 Bde., München 2000, Bd. 1, 156–189 beziehungsweise Bd. 2, 100–153; Michael Hofmann, Schiller: Epoche – Werk – Wirkung, München 2003, 29ff. Vgl. auch den ausführlichen Essay von Paul de Man, Kant and Schiller, in: Aesthetic Ideology, hg. v. Andrzej Warminski, Minneapolis 1996, 129–162. 2 Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Karoline von Wolzogen, in: Johann Wolfgang von Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. v. Ernst Beutler, Bd. 23, Zürich 1950, 807.

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ror gegen das französische Volk ausübte. Burke kritisierte die Französische Revolution als ein überflüssiges Phänomen und behauptete, dass man die Ideen der Revolution mit friedlichen Mitteln innerhalb der staatlichen Institutionen hätte verwirklichen können.3 In Schillers Werk setzt die Enttäuschung über die Französische Revolution sofort nach dem Beginn des Terrors der Jakobiner ein. Als Dichter, der seine Kunstwerke im Geiste der Aufklärung hervorgebracht hatte, wendet sich Schiller nach dem Misslingen der Französischen Revolution der Kantischen Idee der Kultivierung des Menschen zu. Demzufolge kann die Freiheit erst durch die ästhetische Bildung des Menschen erreicht werden, indem der Mensch seine tierische Natur zur zweiten moralischen Natur transformiert. Andernfalls bleibt die Freiheit nach Schillers Ansicht ein Gegenstand des abstrakten Geredes. Schillers Wende zur ästhetischen Erziehung des Menschen ist ein Zeichen dafür, dass die Prinzipien der Aufklärung ohne die Kultivierung des Geistes zur Instrumentalisierung der Ideale führen könnten.4 In den Briefen an seinen Gönner Friedrich Christian von Augustenburg (1765–1814) hat sich Schiller expressis verbis mit dem Verlauf der Französischen Revolution kritisch auseinandergesetzt und aufzuzeigen versucht, dass nur durch ästhetische Edukation und Kultivierung des Geistes eine Transformation der menschlichen Natur stattfinden kann: „Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweyte Schöpferin nennt.“5 Aus den Briefen an den Prinzen von Augustenburg ist die beachtenswerte Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) entstanden, in der eine Konzeption einer solchen ästhetischen Erziehung anvisiert wurde. „Es fehlt uns“, schreibt Schiller, „nicht sowohl an Licht als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur, denn von dem Kopf ist noch ein gar weiter Weg zu dem Herzen.“6 3 Edmund Burke, Reflections on French Revolutions, in: The Works of Edmund Burke, Bd. 5, London 1815, 183f.; 229. 4 Michael Hofmann merkt an, dass Schiller als Verfasser der Räuber die Ehrenbürgerwürde der französischen Republik erst 1794 erhalten hat, als „er längst zum erklärten Gegner des revolutionären Prozesses geworden war“, Hofmann, Schiller: Epoche – Werk – Wirkung, 33. 5 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen; in: Derselbe, Werke. Nationalausgabe (im Folgenden zitiert als NA) Bd. 20, unter Mitw. v. Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, 378. Ähnlich wie Schiller hat auch Friedrich Schlegel in seiner Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie für eine ästhetische Revolution plädiert: „Der Augenblick scheint in der Tat für eine ästhetische Revolution reif zu sein, durch welche das Objektive in der ästhetischen Bildung der Modernen herrschend werden könnte. Nur geschieht freilich nichts Großes von selbst, ohne Kraft und Entschluß!“; Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Ernst Behler unter Mitw. v. JeanJacques Anstett u. Hans Eichner, München/Paderborn/Wien/Zürich 1979, 269. 6 Friedrich Schiller an Friedrich Christian von Augustenburg, Brief vom 13. Juli 1793, in: Schiller, Werke, NA 26, hg. v. Edith Nahler u. Horst Nahler, Paderborn 1992, 265.

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Schiller hat unmittelbar nach seiner Erkrankung im Jahre 1791 mit der intensiven Lektüre von Kants Philosophie angefangen und diese bald mit Begeisterung als eine Art Heilsbotschaft an die Menschheit gekennzeichnet. Im Brief an Christian Gottfried Körner (1756–1831) vom 18. Februar 1793 würdigt Schiller Kants Philosophie als höchste Errungenschaft des menschlichen Geistes: „Es ist gewiß von keinem Sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantsche, was zugleich der Inhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme Dich aus Dir selbst. […] Diese große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Erscheinungen der Natur zurück, und diese nennen wir Schönheit.“7 Es ist das Eigentümliche der Schillerschen Ästhetik, dass der Schönheit nicht nur wie bei Kant die Dimension der subjektiven Allgemeinheit zugeschrieben wird, sondern sie auch als objektive Gegebenheit anerkannt wird.8 Da nach Schillers eigenem Bekenntnis seine primäre Leistung nicht im Bereich des Theoretischen sondern in der dichterischen Kunst bestand, wird in diesem Beitrag die Rezeption und Applikation der wichtigsten Ideen von Kants Ethik in Schillers ästhetischen Schriften und seinen klassischen Dramen ergründet. Durch die gründliche Lektüre der Kritik der Urteilskraft (1790) hat sich Schiller veranlasst gefühlt, „etwas Poetisches vor die Hand zu nehmen“. Dabei erwägt er, sein Lieblingsthema aus der Geschichte des dreißigjährigen Kriegs (1790) aufzugreifen: „besonders juckt mir die Feder nach dem Wallenstein. Eigentlich ist es doch nur die Kunst selbst, wo ich meine Kräfte fühle, in der Theorie muß ich mich immer mit Principien plagen. Da bin ich bloß ein Dilettant.“9 Ähnlich heißt es im Brief an den Prinzen von Augustenburg vom 9. Februar1793: Zu Gründung einer Kunsttheorie ist es, däucht mir, nicht hinreichend, Philosoph zu seyn; man muß die Kunst selbst ausgeübt haben, und dieß, glaube ich, gibt mir einige Vortheile über diejenigen, die mir an philosophischer Einsicht ohne Zweifel überlegen seyn werden. Eine ziemlich lange Ausübung der Kunst hat mir Gelegenheit verschafft, der Natur in mir selbst bei denjenigen Operationen, die nicht aus Büchern zu erlernen sind, zuzusehen.10

Wie aus dem Brief an Goethe vom 28. Oktober 1794 zu entnehmen ist, war Schiller paradoxerweise von dem rigoristischen Charakter der Kantischen Moralphilosophie äußerst begeistert: „Aber das macht ihr in meinen Augen Ehre, denn es beweist, wie wenig sie die Willkür vertragen kann. […] Im offenen, hellen und 7 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, Brief vom 18. Februar 1793, in: Schiller, Werke, NA 26, 191. 8 Vgl. Friedrich Schiller, Werke, NA 21, Weimar 1963, 212. 9 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, Brief vom 25. Mai 1792. URL: http://www.f riedrich-schiller-archiv.de/briefe-schillers/briefwechsel-mit-gottfried-koerner/schiller-an-g ottfried-koerner-25-mai-1792/, abgerufen am 14. 8. 2022. 10 Friedrich Schiller an Friedrich Christian von Augustenburg, Brief vom 9. Februar 1793, in: Schiller, Werke, NA 26, 185.

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zugänglichen Feld der Untersuchung erbaut sie ihr System, sucht nie den Schatten und reserviert dem Privatgefühl nichts.“ Schiller beendet seinen Brief mit der eigenartigen Feststellung, „so alt das Menschengeschlecht ist und solange es eine Vernunft gibt“, hat man die Form dieser Philosophie „stillschweigend anerkannt und im ganzen darnach gehandelt“.11 Deshalb wundert es nicht, wenn wir in Schillers Werken ausreichende Belege finden können, dass Gestalten seiner Dramen mit Kants Ideen eng vertraut sind, beziehungsweise dass sie „als poetische Gestalten“ moralische Ziele anstreben und das Humane repräsentieren. Obschon Schiller vielfach historische Stoffe als Vorlagen für seine Stücke wählt, spielt die Frage nach den konkreten Umständen der geschichtlichen Konstellation für ihn keine wesentliche Rolle. Kants Einfluss auf Schillers Autonomiekonzeption merkt man schon im Don Carlos (1787), wo der Versuch unternommen wird, das individuelle Selbst in der Gestalt des Marquis von Posa zum Selbst der Welt zu erweitern. Benno von Wiese hat Schiller wegen des eindeutigen Anachronismus getadelt: Ideen der Toleranz und Gewissensfreiheit passen nicht zur Welt der Inquisition. „Die Ideen einer sich schon dem philosophischen Idealismus annähernden Aufklärung ließen sich unmöglich in der Weise vor dem spanischen Königsthron des 16. Jahrhunderts verkünden“, heißt es in von Wieses Kritik.12 Es handelt sich offensichtlich um Kants Geschichtsbetrachtung aus seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). In ihr postulierte Kant eine Menschheitsgeschichte, die von einem archimedischen Punkt außerhalb der empirischen Geschichte als ein Postulat entworfen wird. Schiller teilte Kants Auffassung, wonach Historiker als Erzieher künftiger Generationen auftreten sollten. Die wesentliche Charakteristik der Schillerschen klassischen Dramen ist, dass Schiller sich abgesehen von der Ergründung des Geschmacks für das Schöne durchaus bemüht hat, Empfindungsfähigkeit für das Erhabene zu entwickeln, weil das Gefühl des Erhabenen „uns einen Ausgang aus der sinnlichen Welt“ verschafft.13 Im Unterschied zu Kants Konzeption des Erhabenen, das in uns bei der Betrachtung der Größe und Unbegrenztheit der Natur Achtung und Bewunderung erregt, schreibt Schiller dem Begriff des Erhabenen eine moralische Dimension im Bereich der Kunst zu. Das Erhabene manifestiert sich im Menschen als ein vernunftwidriges Gefühl, wie es der Anblick eines brennenden Vulkans, eines Orkans auslöst, vernunftwidrig, weil es die physische Schwäche angesichts der Naturkräfte sichtbar macht und gleichwohl der Mensch sich als Vernunftwesen in seiner (ästhetischen) Freiheit dagegen behaupten kann: „Er11 Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Stuttgart/Tübingen 1828, 57–58. 12 Benno von Wiese, Friedrich Schiller, Stuttgart 1957, 260. 13 Friedrich Schiller, Vom Erhabenen, in: Derselbe, Werke, NA 20, 45.

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haben nennen wir ein Objekt bey dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Ueberlegenheit, ihre Freyheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den Kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch d.i. durch Ideen erheben.“14 Die dramatische Dichtung steht vor der Aufgabe, durch das Gefühl des Erhabenen „die moralische Independenz von Naturgesetzen“ zu vermitteln.15 Schiller war vor allem von der Formulierung des kategorischen Imperativs in Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) fasziniert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“16 Der kategorische Imperativ sollte unbegrenzt und „jederzeit“ allgemein verbindlich gelten, so dass seine Geltung vom Wandel des Menschengeschlechts im Laufe der Jahrhunderte unberührt bleibt. Analog zu der Art, wie durch Kants deontologische Regeln unser Wollen und Handeln bestimmt werden, suchte Schiller die universellen Kriterien für die klassische Form der Dichtung zu entwerfen, die allgemeingeltend sein sollten. Als Befürworter des Klassischen in der Kunst hat Schiller als universelle ästhetische Bestimmungen des Kunstwerkes das „Allgemeingültige“, „Zeitlos-Gesetzliche“, „Objektive,“ das Beharrliche hervorgehoben. Das Individuelle des dichterischen Schaffens betrachtete er lediglich als „Ingrediens“ echter, allgemeiner Schönheit. Dementgegen hat Friedrich Schlegel (1772–1829) als führender Denker der Frühromantik die Ansicht vertreten, dass das Interessante, Frappante, das Hässliche, Besondere, Individuelle, Eigenartige das Spezifikum der modernen Dichtung sei. „Rechtfertigung des Interessanten“ bleibt die eigentliche Aufgabe der ästhetischen Wissenschaft, wie es in Schlegels Vorrede zum Aufsatz Ueber das Studium der Griechischen Poesie (1797) heißt.17 Die von Schiller zu einer systematischen Theorie der Ästhetik ausgearbeiteten, allgemeingültigen Regeln der schönen Kunst, auf denen Vertreter des Klassizismus ausnahmslos bestanden, haben angesichts des von Schlegel befürworteten modernistischen Zugangs zur Kunst allmählich an Bedeutung verloren. Schlegels Auffassung, dass sich das künstlerische Schaffen lediglich nach dem Kriterium des Interessanten richtet, hat sich als grundlegender Maßstab für die neuzeitliche literarische Kunst erwiesen. Im Streit zwischen Schiller und Schlegel hinsichtlich der Kriterien, wie Kunstwerke konzipiert werden sollten, hat Friedrich Schlegel nach dem Urteil von Emil Staiger den eindeutigen Sieg errungen: „Immerhin darf behauptet werden, daß 14 Schiller, Vom Erhabenen, NA 20, 171. 15 Friedrich Schiller, Ueber das Pathetische, in: Derselbe, Werke, NA 20, 196. 16 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, mit einer Einleitung hg. v. Horst Brandt und Heiner Klemme, Hamburg 2003. Hier: AA 5, 30. 17 Friedrich Schlegel, Ueber das Studium der Griechischen Poesie. In: Die Griechen und Römer. Historische und kritische Versuche über das Klassische Alterthum, in: Derselbe, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, eingeleitet und hg. v. Ernst Behler Paderborn 1979, Bd. 1, 213.

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sich die Literatur im Großen und Ganzen von der Goethezeit bis an die Schwelle unserer Tage zum Interessanten hin bewegt und daß dies nicht nur verständlich, sondern sogar fast unvermeidlich scheint.“18 Die Formulierung des kategorischen Imperativs aus Kants Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“,19 hat Schiller als Motto für die poetische Erziehung der Person genommen. Im elften Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen analysiert er gründlich die Bestimmungen der menschlichen „Person“: sie ist notwendig, allgemein, selbständig, frei, vernünftig, gesetzlich, Träger des eigenen Selbst. Demgegenüber wird der Zustand beziehungsweise das Pathos des Menschen durch Gefühl, Empfindung, Neigung und Leidenschaften charakterisiert: „Der sinnliche Trieb erwacht mit der Erfahrung des Lebens (mit dem Anfang des Individuums).“20 Kants Konzeption der Autonomie der moralischen Bestimmung der Person sollte nach Schillers Ansicht auch im Bereich der Kunst verwirklicht werden. Schiller teilt nämlich Kants Überzeugung, dass nur derjenige Wille frei ist, der sich selbst moralische Gesetze vorschreibt und nach diesen handelt. Nur dadurch erlangt der menschliche Wille die Bestätigung seiner Autonomie, die Schiller in erster Linie auf die Kunst anwendet. Nur aufgrund der Autonomie seines Willens vermag sich der Mensch vom fremden Einfluss und vom Diktat der eigenen Willkür frei zu halten und nach eigenen Entschließungen zu handeln. Deshalb hat Schiller Kants Moral als Verkündigung der höchsten Wahrheit, die die menschliche Vernunft vermitteln kann, verstanden. Die zentrale Frage, mit der sich Schiller in diesem Zusammenhang befasst, ist, wie der Dichter beziehungsweise der Künstler die „Freuden der Sinne“, die der Mensch als Individuum genießt, überwinden kann und dabei den moralischen Zustand der Menschheit, die in uns als „Gattung“ wohnt, zu erreichen beziehungsweise das Menschenbild, wie es sein soll, zu konstituieren vermag: „wir können also unsere sinnlichen Freuden nicht zu allgemeinen erweitern, weil wir unser Individuum nicht allgemein machen können.“21 Mit anderen Worten, Schiller betrachtet als primäre Aufgabe der modernen Dichtung, der „Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben“.22 Um dies zu 18 Emil Staiger, Friedrich Schlegels Sieg über Schiller, Heidelberg 1981, 18. Vgl. auch Hans Robert Jauss, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main 1970. 19 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 4, Berlin 1914. Hier: AA 4, 429. 20 Friedrich Schiller, Ueber die a¨sthetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Derselbe, Werke. NA 20, 373. 21 Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, NA 20, 411. 22 Friedrich Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, in: Derselbe, Werke, NA 20, 437.

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erreichen, ist ein disziplinierter Prozess des selbstbesinnenden Transzendierens erforderlich: Die Sprache hat für diesen Zustand der Selbstlosigkeit unter der Herrschaft der Empfindung den sehr treffenden Ausdruck: außer sich sein, das heißt, außer seinem Ich sein. Obgleich diese Redensart nur da stattfindet, wo Empfindung zum Affekt, und dieser Zustand durch seine längere Dauer mehr bemerkbar wird, so ist doch jeder außer sich, solange er nur empfindet. Von diesem Zustande zur Besonnenheit zurückzukehren, nennt man ebenso richtig: in sich gehen, das heißt, in sein Ich zurückkehren, seine Person wieder herstellen.23

In dem berühmten Gedicht Das Ideal und das Leben (1795) charakterisiert Schiller die Freiheit als Vermögen, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zu wählen: Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl.24

Würde der Mensch bloß nach seinen Affekten und Neigungen handeln, so könnte man ihn nach Schillers Urteil kaum vom Tier unterscheiden. Die Fähigkeit des Menschen, sich durch seinen Willen über seine Sinnlichkeit und Affektionen zu erheben, ist nach seinem Urteil Bestätigung der menschlichen Person im höchsten Sinne des Wortes: „Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung.“25 Durch die Erhebung des Menschen zur universellen Humanität wird auch seine Würde bestätigt. Es ist die Art und Weise, wie der menschliche Geist seine eigentliche Freiheit erlangt. Dabei ist auch Schillers persönlicher, existenzieller Kontext zu beachten, da er seit der schweren Erkrankung mühsam damit gerungen und gekämpft hat, wie „das Erhaltenswerte aus dem Brande“ zu retten sei.26 Schiller ist fest überzeugt, dass die Verantwortung des Künstlers darin bestehen soll, den Menschen durch poetische Reflexion zur Schönheit und Erhabenheit zu erziehen, was nur in glücklichen Augenblicken vollzogen werden kann. Die bekannte Schönheitsdefinition Schillers aus den Kallias-Briefen – „Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung“ – besagt, dass die üblichen Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit durch die Realisierung der Freiheit

23 Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, NA 20, 345. 24 Friedrich Schiller, Das Ideal und das Leben, in: Derselbe, Werke, NA 2.1, hg. v. Norbert Oellers, Weimar 1983, 396. 25 Schiller, Ueber Anmuth und Würde, NA 20, 294. 26 Vgl. Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 31. August 1794, in: Johann Wolfgang von Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. v. Ernst Beutler, Bd. 20, Zürich 1950, 20.

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aufgehoben werden sollen.27 Das Schöne gefällt durch seine vernunftähnliche Form; Schönheit symbolisiert das Ideal einer Harmonie zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, entsprechend der berühmten Kantischen Bestimmung der Schönheit als „Symbol des Sittlich-Guten“.28 Kants Bestimmung der symbolischen Funktion der Schönheit deckt sich offensichtlich mit Schillers sittlichem Ideal der „schönen Seele“. Den vom Dichter Christoph Martin Wieland (1733– 1813) geprägten und 1793 bereits populären Begriff der „schönen Seele“ kennzeichnet Schiller als Ideal, das man durch ästhetische Erziehung approximativ anstrebt: „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonisieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.“29 Im Hinblick auf die gespaltene Natur des Menschen, der in seiner Lebenswelt als Gefühls- und Vernunftwesen existiert, bemüht sich Schiller, Kants Dualismus zwischen der physischen und der vernünftigen Natur des Menschen durch die Vereinheitlichung der „schönen Seele“ zu versöhnen. „Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.“30 Schiller meint, dass Menschen allein nicht imstande sind, sich durch das Schöne selbst als „reine Intelligenzen zu beweisen“.31 Es bedarf dazu noch der anspruchsvollen Erziehung zum Erhabenen. Durch das Erlebnis des Erhabenen wird der Mensch inne, dass er als Vernunftwesen auch sein emotionales Potential berücksichtigen muss. Das Erhabene ruft die sittliche Energie in uns hervor, die zum Positiven kanalisiert wird. Während das Schöne uns in der sinnlichen Welt gefangen hält, erhebt uns das Erhabene durch Begeisterung über alle Formen der Sinnlichkeit. Wir verstehen uns angesichts erhabener Gegenstände im Zustand der platonischen Methexis, als ob wir an der intelligiblen Welt partizipierten, „weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluss haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen anderen als seinen eigenen Gesetzen stünde“.32 Im Zustand der ästhetischen Freiheit haben wir die eigene Kontingenz überwunden, wie es im 22. Brief heißt: „Hier allein fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen; und unsre Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußerer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren.“33 27 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, Brief vom 8. Februar 1793, in: Schiller, Werke, NA 26, 183. Vgl. auch Fragmente aus Schillers Ästhetischen Vorlesungen, in: Derselbe, Werke, NA 21, 83: „Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung.“ 28 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2001. Hier: AA 5, 35. 29 Schiller, Ueber Anmuth und Würde, NA 20, 294. 30 Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung, NA 20, 365 31 Schiller, Ueber das Erhabene, NA 20, 43. 32 Schiller, Ueber das Erhabene, NA 20, 42. 33 Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung, NA 20, 359.

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Ästhetische Freiheit wird von Kuno Fischer mit einem Asyl verglichen, wo die menschliche Seele frei von allen Qualen ist, vergleichbar mit der platonischen Ideenwelt, in der sie sich wohl fühlt.34 Deshalb bleibt das primäre Anliegen der Dichtung, namentlich der tragischen Kunst, so Schiller, die Empfindungsfähigkeit für das Erhabene in uns zu entwickeln: „Die Fähigkeit, das Erhabene zu empfinden, ist also eine der herrlichsten Anlagen in der Menschennatur, die sowohl wegen ihres Ursprungs aus dem selbständigen Denk- und Willens-Vermögen unsre Achtung, als wegen ihres Einflusses auf den moralischen Menschen die vollkommenste Entwicklung verdient.“35 In seiner Schrift Ueber das Pathetische (1801) erklärt Schiller, dass der „letzte Zweck der Kunst […] die Darstellung des Übersinnlichen“ ist, was „die tragische Kunst insbesondere bewerkstelligt“ und zwar dadurch, dass sie „die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht“.36 Das Übersinnliche erweist sich dabei keineswegs als unzugängliche Transzendenz, sondern als das „absolut Große in uns selbst“ beziehungsweise als innere Erfahrung des moralischen Gesetzes, das sich qua Freiheit epiphänomenal manifestiert. Die Dichtung sollte uns möglichst lebhaft leidende Menschen vor Augen stellen, mit natürlichen Schmerzen und Leidenschaften, damit sich Zuschauer mit Erschütterung in das Leben der Helden pathetisch hineinversetzen; das „Pathos muß da seyn, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kund thun und sich handelnd darstellen könne“.37 Schiller betrachtet diesen spezifischen Prozess des Transzendierens über das Pathetische als Entwicklung der idealistischen Anlage im Menschen, wobei die tragische Dichtung dazu beitragen sollte, „den idealistischen Schwung des Gemüts“ zu kultivieren und die Erhabenheit des Menschen zu stärken. Infolge der Tatsache, dass Schiller in der Regel historische Stoffe zur Vorlage für seine Dramen wählt, kann er seine primäre Intention, wonach uns die dramatische Kunst lehren sollte, wie man würdig leben kann, was die konkrete Gegenwart anbelangt, nur auf Umwegen verwirklichen. Aber berühmte historische Gestalten sind nach Schillers Ansicht auch Menschen, die uns ähnlich sind, und als solche können sie Gegenstand unseres Mitgefühls werden. Es ist bemerkenswert, wie das Historische in Schillers Dramen zum Teil nach den Kriterien des ästhetischen Aneignungsprozesses transformiert wird. Schiller selbst spricht vom „poetischen Kampf mit dem historischen Stoff“.38 Im Brief an Goethe vom 4. April 1797 schreibt er, dass „der ganze Cardo rei [Kern der Sache, 34 35 36 37 38

Vgl. Kuno Fischer, Schiller als Philosoph, Heidelberg 1891, 387. Schiller, Ueber das Erhabene, NA 20, 52. Friedrich Schiller, Ueber das Pathetische, in: Derselbe, Werke, NA 20, 196. Schiller, Ueber das Pathetische, NA 20, 196. Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 19. Juli 1798 in: Schiller, Werke, NA 30, hg. v. Lieselotte Blumenthal, Weimar 1961, 73.

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JZ] in der Kunst liegt, eine poetische Fabel zu erfinden“.39 Schiller verwendet dabei die teleologische Metapher der „aufbrechenden Knospe“, die als Punctum saliens gilt. Schiller entwickelt seine Dramen nach dem Vorbild des Sophokleischen Oedipus Rex: Das Drama ist nur noch Enthüllung und Erkenntnis in Form einer tragischen Analyse: „Die Handlung ist eine aufbrechende Knospe, alles liegt schon darin, und es entfaltet sich nur in der Zeit. Alles muß sich natürlich und notwendig aus den Prämissen entwickeln, was daher geschieht und sich ereignet, muß gleich in der Idee und in der Anlage des Stücks vorbereitet und begründet sein.“40 Entsprechend der Struktur des klassischen Dramas findet sich dieses Punctum saliens meist im dritten Akt des Schillerschen Trauerspiels. Der Höhepunkt in Maria Stuart (1800) ist die Begegnung der zwei Königinnen, die in der großen Streitszene kulminiert, während in der Jungfrau von Orleans (1801) der springende Punkt des Dramas Johannas menschliche Schwäche gegenüber Lionel wird. Im Wallenstein ist das Punctum saliens erreicht worden, wenn sich der Generalissimus endlich mit den Schweden in der Absicht auf einen Friedensschluss verbindet. An Goethe berichtet Schiller am 2. Oktober 1797 über die Komposition des Wallenstein: „Der Moment der Handlung ist so prägnant, daß alles, was zur Vollständigkeit derselben gehört, natürlich, ja in gewissem Sinn notwendig darin liegt, daraus hervorgeht.“41 Goethe war sehr zufrieden damit, wie Schiller seinen „poetischen Kampf mit dem historischen Stoff“ geführt hat, vor allem mit der Gestaltung des Wallenstein-Dramas: Alles hört auf „politisch zu sein“ und wird bloß menschlich, „ja das Historische selbst ist nur ein leichter Schleier, wodurch das rein Menschliche durchblickt“.42 Schillers beschriebener Befreiungsprozess als „Uebergang zur Freyheit“ aus dem Netz der Sinnlichkeit ist die allgemeine Charakteristik all seiner klassischen Dramen. Er ereignet sich „plötzlich“, „durch eine Erschütterung“.43 Schiller bemüht sich, dies in seinen Trauerspielen kunstvoll und dem historischen Kontext entsprechend zu vollbringen. Die im Anschluss an Kants Philosophie gestellte Frage, wie Kultur und tragische Kunst dazu beitragen können, den „idealistischen Schwung des Gemüts“ und die Erhabenheit des Menschen zu kultivieren, sollten das primäre Thema in Schillers poetologischen Reflexionen sein. Als Schiller mit der Arbeit am Drama 39 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 4. April 1797 in: Schiller, Werke, NA 29, hg. v. Norbert Oellers und Frithjof Stock, Weimar 1977, 55. 40 Diese Stelle der Nachlass-Fragmente findet sich in: Schiller, Werke, NA 12, in Zusammenarbeit m. Klaus Harro Hilzinger u. Karl-Heinz Hucke hg. v. Herbert Kraft, Weimar 1982, 331. 41 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 2. Oktober 1797, in: Schiller, Werke, NA 29, 141. 42 Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller, Brief vom 18. März 1799 in: Schiller, Werke, NA 38.1, hg. v. Lieselotte Blumenthal, Weimar 1975, 54. 43 Schiller, Ueber das Erhabene, NA 20, 45.

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Wallenstein im Frühjahr 1796 begonnen hat, sind zehn Jahre seit seinem letzten Stück, dem Don Carlos vergangen. Am 24. September 1794 schreibt er an Körner: „Vor dieser Arbeit ist mir ordentlich angst und bange, denn ich glaube mit jedem Tag mehr zu finden, daß ich eigentlich nichts weniger vorstellen kann als einen Dichter, und daß höchstens da, wo ich philosophieren will, der poetische Geist mich überrascht. Was soll ich thun?“44 Bedeutungsvoll ist, dass Schiller nach 1795 ein neues Konzept für seine tragischen Dramen entwickelte. In den früheren Tragödien stand das Heroische im Mittelpunkt. Bei der Konzeption des Wallenstein war es Schiller plausibel, dass er mit dem einseitigen Idealismus der Dramen Die Räuber von 1781 und Don Carlos von 1787 nicht zurechtkommen kann, weil der Charakter des neuen Stücks namentlich durch realistische Züge geprägt war. Der schöpferische Prozess der Arbeit an seinem opus magnum verzögerte sich und Schillers dramaturgisches Schaffen geriet bald in eine Krise. Er schreibt darüber an Goethe am 24. Januar 1797, also in dem Jahr, als Schiller seine wichtigsten Balladen gedichtet hat: Mit der Arbeit geht’s aber jetzt langsam, weil ich gerade in der schwersten Krise bin. Das seh ich jetzt klar, daß ich Ihnen nicht eher etwas zeigen kann, als biß ich über alles mit mir selbst im reinen bin. Mit mir selbst können Sie mich nicht einig machen, aber mein selbst sollen Sie mir helfen, mit dem Objekte übereinstimmend zu machen. Was ich Ihnen also vorlege, muß schon mein Ganzes seyn, ich meine just nicht mein ganzes Stück, sondern meine ganze Idee davon. Der radikale Unterschied unserer Naturen, in Rücksicht auf die Art läßt überhaupt keine andere, recht wohlthätige Mittheilung zu, als wenn das Ganze sich dem Ganzen gegenüber stellt; im einzelnen werde ich Sie zwar nicht irre machen können, weil Sie fester auf sich selbst ruhen als ich, aber Sie würden mich leicht über den Haufen rennen können. Doch davon mündlich weiter.45

In einem Brief an Wilhelm von Humboldt (1767–1835) vom 21. März 1796 schreibt Schiller hinsichtlich seiner Gedankenentwicklung der WallensteinKomposition, er hätte einige äuserst treffende Bestätigungen meiner Ideen über den Realism und Idealism bekommen, die mich zugleich in dieser dichterischen Composition glücklich leiten werden. Was ich in meinem letzten Aufsatz über den Realism gesagt, ist von Wallenstein im höchsten Grade wahr. Er hat nichts Edles, er erscheint in keinem einzelnen Lebensakt groß; er hat wenig Würde u. dgl. ich hoffe aber nichtsdestoweniger auf rein realistischem Wege einen dramatisch großen Character in ihm aufzustellen, der ein ächtes Lebensprincip in sich hat.46

44 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, Brief vom 24. September 1794 in: Schiller, Werke, NA 27, hg. v. Günter Schulz, Weimar 1958, 38. 45 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 24. Januar 1797, in: Schiller, Werke, NA 29, 38. 46 Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt, Brief vom 21. März 1796 in: Schiller, Werke, NA 28, hg. v. Norbert Oellers, Weimar 1969, 203f.

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Der einseitige Einwand, dass Schiller durch seine Tendenz zum Moralischen die „Flucht ins Kantische Ideal“ unternommen habe, um „die Rettung von der Misère“ zu finden,47 lässt sich am trefflichsten durch die Analyse seiner Arbeit an der Wallenstein-Trilogie widerlegen. Die Ansicht, Schiller habe die konkrete Situation überflogen, statt sie zu analysieren und sich für die Kompensation durch Kunst statt für revolutionäre Veränderungen eingesetzt, ist zum Teil auch durch seine Enttäuschung über die Französische Revolution bedingt. Das ästhetische Ideal, Menschen durch Kunst zu kultivieren, ist bei Schiller weiterhin präsent, auch wenn prima facie der Realismus als Weltanschauung in seiner WallensteinTrilogie dominant bleibt. Die Neigung zum Idealisieren kommt auch darin zum Ausdruck, dass Schiller unentwegt bei den Lesern eine Sympathie für Wallenstein weckt. Ähnlich wird auch in der Darstellung der schottischen Königin Maria Stuart verfahren. Schillers Worte im Munde der Königin: „Das Ärgste weiß die Welt von mir und ich / Kann sagen, ich bin besser als mein Ruf,“48 können nur noch die Sympathie der Zuschauer wecken, nachdem ihnen das Schicksal der abgesetzten Königin bekannt wird. Ebenso bemüht sich Schiller von Anfang an mit allen theatralischen Mitteln darum, den Hochverräter Wallenstein würdevoll und sympathisch darzustellen, während der treue Royalist Octavio Piccolomini den Lesern menschlich äußerst bedenklich erscheint. Die Tatsache, dass der einzige Idealist in der Wallenstein-Trilogie, Max Piccolomini seine uneingeschränkte Sympathie für Wallenstein zeigt, ist nur ein Beleg dafür, dass Schiller in seiner reifen Schaffensphase eine geschickte Synthese von Realismus und Idealismus erreicht hat. Es ist beachtenswert, wie Schiller Kants berühmte Bestimmung der Aufklärung in den Mund von Max Piccolomini legt: Mein General! – Du machst mich heute mündig. Denn bis auf diesen Tag war mirs erspart, Den Weg mir selbst zu finden und die Richtung.49

47 Friedrich Engels, Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Berlin 1977, Bd. 4, 232. 48 Friedrich Schiller, Maria Stuart, in: Derselbe, Werke, NA 9.1, hg. v. Nikolas Immer, Weimar 2010, 92. 49 Friedrich Schiller, Wallenstein, in: Derselbe, Werke, NA 8.2, hg. v. Hermann Schneider und Lieselotte Blumenthal, Weimar 1994, 205. Vgl. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 8, Berlin 1914. Hier: AA 8, 35: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

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Schiller gelingt es, dass wir zum Schluss Sympathien für Wallenstein beziehungsweise Antipathien gegenüber Octavio hegen, so dass eine faire Beurteilung der historischen Gestalten im poetischen Gewand belastet bleibt. Schillers eigenartiger Real-Idealismus ist in seinen klassischen Dramen durch die augenfällige Balance zwischen Pathos und Freiheit, Gefühl und Vernunft gekennzeichnet, wobei der knappe Sieg der Vernunft angedeutet wird. Schiller selbst schrieb darüber: „In der geschickten Führung dieses Kampfes beruht eben das große Geheimniß der tragischen Kunst.“50 Auch Wallenstein enthält eine permanente Auseinandersetzung mit der aktuellen politischen Wirklichkeit, wie die Verse aus dem Prolog belegen: Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen, Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne Auch höhern Flug versuchen, ja sie muß, Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen.51

Schillers Wallenstein hat zahllose Deutungen erfahren. Im Grunde genommen begann der Streit um den Wallenstein bereits mit seinem Erscheinen. Nach Goethes Urteil führt das Wallenstein-Drama einen Sieg der Individualität vor. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) schrieb über Wallenstein gleich nach der Veröffentlichung des Dramas in einer äußerst trüben Beurteilung: „Der unmittelbare Eindruck nach der Lesung Wallenstein’s ist trauriges Verstummen über den Fall eines mächtigen Menschen, unter einem schweigenden und tauben Schicksal. Wenn das Stück endigt, so ist alles aus, das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten; es endigt nicht als eine Theodizee.“52 Hegel urteilt erstaunlich hart über Wallenstein und zwar weil er Wallensteins Seele als „charakterlos“ und dauernd „spielend“ empfunden hat. Hegel hat in seiner Frühzeit offensichtlich die tiefere Dimension des ästhetischen Spiels nicht erfasst, und ist deswegen zu einer ausgesprochen negativen, geschichtspessimistischen Beurteilung des Dramas gekommen. Das Ende der Wallenstein-Trilogie hat Hegel durchaus pessimistisch bewertet: „es steht nur Tod gegen Leben auf, und unglaublich! abscheulich! Der Tod siegt über das Leben! Dies ist nicht tragisch, sondern entsetzlich! Dies zerreißt … [das Herz], daraus kann man nicht mit erleichterter Brust springen!“53 In den Vorlesungen über die Ästhetik hat Hegel Schiller dafür gelobt, dass er in seinem Spätwerk „ein reiferes Pathos geltend zu machen suchte“, er hat sich nämlich bemüht, „das Prinzip der antiken Tragödie 50 Friedrich Schiller, Ueber die tragische Kunst, in: Derselbe, Werke, NA 20, 163f. 51 Schiller, Wallenstein, NA 8.1, 6. 52 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über Wallenstein [um 1800], in: Derselbe, Werke in zwanzig Ba¨nden. Theorie-Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986, 618. 53 Hegel, Über Wallenstein [um 1800], Werke, Bd. 1, 318f.

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auch in der dramatischen Kunst wiederherzustellen“.54 Deshalb lobt er an Schillers Dramen das, „was allgemeinen, anhaltenden, tiefen dramatischen Effekt macht“. Es ist nämlich „das Substantielle im Handeln: als bestimmter Inhalt das Sittliche, als formell die Größe des Geistes und Charakters.“55 Ludwig Tieck (1773–1853) und die Brüder Schlegel sind durch ihre Universalisierung der Ironie „gegen Schiller losgezogen und haben ihn schlechtgemacht, weil er für uns Deutsche den rechten Ton getroffen hatte und am populärsten geworden war“.56 Hegel hat in den Vorlesungen über die Ästhetik Schillers eigentliches Verdienst darin gesehen, dass er „die Kantische Subjektivität und Abstraktion des Denkens durchbrochen hat“ und sich dabei bemüht, „über sie hinaus die Einheit und Versöhnung denkend als das Wahre zu fassen und künstlerisch zu verwirklichen“.57 Obwohl Schiller im Brief an Goethe Wallenstein als einen Realisten charakterisiert hat, ist er offensichtlich eine sehr komplexe Gestalt. Einerseits ist es plausibel, dass Wallenstein als realistische Gestalt nicht auf dem Kantischen moralischen Standpunkt bleiben kann. Schiller unternimmt, um ihn zu klären, die bekannte Aristotelische Wende, wie Michael Hofmann überzeugend nachgewiesen hat.58 Von Aristoteles hat Schiller durch Lektüre seiner Poetik gelernt, dass nicht der Held, sondern die Umstände maßgebend sind. Im Brief an Goethe schreibt Schiller am 5. Mai 1797, dass Aristoteles „bei der Tragödie das Hauptgewicht in der Verknüpfung der Begebenheiten legt, heißt recht den Nagel auf den Kopf getroffen“.59 Wie sich Wallensteins Natur gegen Kants Lehre vom guten Willen sträubt, ist ersichtlich aus den berühmten Versen aus dem letzten Teil der Trilogie Wallensteins Tod Ich kann mich nicht, Wie so ein Wortheld, so ein Tugendschwätzer, An meinem Willen wärmen und Gedanken – Nicht zu dem Glück, das mir den Rücken kehrt,

54 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Derselbe, Werke, Bd. 15, 559. 55 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, 496. Dazu vgl. vom Verfasser: Hegels Aufhebung der Schönheit durch die Sittlichkeit, in: Andreas Arndt, Günter Kruck und Jure Zovko (Hg.), Gebrochene Schönheit: Hegels Ästhetik – Kontexte und Rezeptionen, Berlin 2014, 144–155. 56 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke, Bd. 15, 497. 57 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Derselbe, Werke, Bd. 13, 89. 58 Michael Hofmann, Schiller: Epoche – Werk – Wirkung, 150. Vgl. auch Dieter Borchmayer, Wallenstein, in: A Companion to the Works of Friedrich Schiller, hg. v. Steven D. Martinson, Rochester 2005, 191. 59 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 5. Mai 1797 in: Schiller, Werke, NA 29, 74.

Kants Ethik in Schillers Schriften und Dramen

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Großtuend sagen: Geh! Ich brauch dich nicht! Wenn ich nicht wirke mehr, bin ich vernichtet;60

Dass er andererseits auch moralische Skrupel hat, ist auch für Dieter Borchmeyer ein wichtiges Thema: Wallensteins Fehler ist es, dass er zu moralisch denkt, um konsequent im Sinne einer am bloßen Erfolg und Nutzen orientierten Staatskunst zu handeln. […] Hätte er sich bedenkenlos den amoralischen politischen Maximen der Gräfin und seiner Generäle verschrieben, wäre er vielleicht nicht gescheitert, sondern möglicherweise ein neuer Cäsar geworden. Nicht in erster Linie durch sein Verbrechen, sondern durch seine (entschlossenes Handeln verhindernde) Moralität kommt er zu Fall!61

Borchmeyer findet einen weiteren Ansatz zur Interpretation: „Ein Schlüssel zu Wallensteins Charakter ist sein versetztes Künstlertum: dass er mit der Macht mehr spielt als sie gebraucht.“62 Wenn bei Wallenstein moralische Skrupel zu finden sind, dann stammen sie offensichtlich von Max Piccolomini, der, als die von Schiller erfundene Gestalt in einem realistisch geprägten dramaturgischen Kontext, die maßgebende idealisierte Figur bleibt. Dasselbe gilt für Wallensteins Tochter Thekla, die in der Wallenstein-Trilogie als Max’ Geliebte dargestellt wird. Max Piccolomini als Gestalt, die von Schiller nach den Kantischen moralischen Prinzipien kreiert wurde, bleibt ein Prototyp des ethischen Idealismus, ein Held mit dem reinen Herzen eines Liebenden, der bereit ist, alle Neigungen der Pflicht unterzuordnen. Er bleibt das dargestellte Ideal der schönen Seele, eindeutig Kantisch gemalt und dazu noch, im Geiste Schillers, mit dem Mut zum Erhabenen großzügig ausgestattet. Es ist aus diesen Gründen selbstverständlich, dass Max in den komplexen Ereignissen nicht fähig ist zu intrigieren und sich wegen seiner Sympathie mit Wallenstein sogar vom eigenen Vater distanziert. Der überzeugte Realist Wallenstein kann selbstverständlich die idealistische Maxime von Max Piccolomini nicht annehmen, aber es bleiben gewisse Spuren in seiner Seele. Wallenstein muss skeptisch gegenüber solchem ethischen Idealismus auftreten, wenn er sich als Realist versteht, der souveräner Herr der Situation sein möchte. Die Tragödie des skrupellosen Machtpolitikers Wallenstein fängt an, als er von Kants Idee des ewigen Friedens angesteckt wird und die alte Aristotelische Prudenzlehre aus den Augen verliert. Wallenstein behält für sich ein Paradigma des Aristotelischen Bewegers sub specie contingentiae, „solange ich wirke, bin ich“. Peter-André Alt hat überzeugend nachgewiesen, dass das Vorbild der klassischen Prudentia-Lehre für die

60 Schiller, Wallenstein, NA 8.1, 193. 61 Dieter Borchmeyer, Macht und Melancholie, Frankfurt am Main 1988, 172. 62 Borchmeyer, Macht und Melancholie, 13.

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Jure Zovko

Figur des Wallenstein grundbestimmend war. Für Wallensteins praktische Klugheit können die Autoren der Gegenreformation, Justus Lipsius (1547–1606) sowie Diego Saaverda Fajardo (1584–1648), Pate stehen. Alt behauptet, Wallenstein sei ein „Vertreter der prudentia, der, verschlossen und argwöhnisch, seine eigenen Antriebe im Dunkeln läßt, die Motive seiner Gegenspieler aber scharfsinnig zu analysieren sucht“.63 Alt schreibt weiter dazu: „Wahre politische Klugheit, so betont Lipsius, verlange neben der Einsicht in die fremde Psyche auch die Selbsterkenntnis (sed duplicam prudentiam esse: A se, et ab aliis). Gerade diese Komponente der prudentia fehlt Wallenstein; seine spätere Agonie resultiert daraus, daß ihm das Wissen über die eigenen Grenzen abgeht, das ein zentrales Element der politischen Vernunft ist“.64 Am Falle Wallenstein hat Schiller offensichtlich die politischen Hoffnungen seiner Zeit in die Vergangenheit projiziert, was ein wesentlicher Bestandteil seiner poetischen Transformation des historischen Stoffes ist. Kants Idee des ewigen Friedens steht im Hintergrund von Wallensteins Konzeption der politischen Friedensordnung und Staatenharmonie. Damit die künftige neue Ordnung zustande gebracht wird, muss die bestehende Herrschaft der Habsburger Dynastie abgeschafft werden. Dabei ist Wallenstein als einem Realpolitiker durchaus bewusst, dass sein Ziel wegen der bestehenden Macht der konservativen Kräfte, die sich an „das ewig Gestrige“ halten, jederzeit scheitern kann. Wallensteins Scheitern poetisiert Schiller gleichzeitig als eine Bemühung, neue politische Perspektiven durch die ästhetische Bildung der Bürger zu eröffnen. Schiller hat sich offensichtlich mit den politischen Strömungen seiner Zeit kritisch auseinandergesetzt und wollte auf seine Zeitgenossen ästhetisch durch Kultivierung des Geistes wirken. Es sind auf den ersten Blick Umwege über die Kunst, aber es bleibt die Frage offen, ob es bessere Zugänge dazu gibt. Dies ließe sich auch durch andere historische Dramen, vor allem Maria Stuart und Wilhelm Tell exemplifizieren. Bei der Komposition des Trauerspiels Maria Stuart, mit dem Schiller den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens erreicht, hat er sich nach eigenem Bekenntnis an dem Modell des Euripides orientiert: „denn ich sehe eine Möglichkeit, den ganzen Gerichtsgang zugleich mit allem politischen auf die Seite zu bringen, und die Tragödie mit der Verurtheilung anzufangen.“65 Damit kann das Trauerspiel einerseits mit dem Vollzug des Urteils und andererseits mit dem Vollzug der inneren Freiheit abgespielt werden. Das Kantische Moment der deontologischen Konzeption der Würde bleibt im Drama Maria Stuart der Kernbestandteil der Handlung. In Schillers erfundenem Gespräch zwischen den Königinnen Elisabeth und Maria Stuart, das historisch 63 Peter-André Alt, Klassische Endspiele: Das Theater Goethes und Schillers, München 2008, 169. 64 Alt, Klassische Endspiele, 171. 65 Friedrich Schiller, Brief vom 26. April 1799, in: Schiller, Werke, NA 30, 45.

Kants Ethik in Schillers Schriften und Dramen

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nicht stattgefunden hat, findet Maria ihren soteriologischen Weg zum Erhabenen, nachdem sie ihren Weg zur physischen Rettung nicht erreicht hat. Im Königinnen-Gespräch erweist sich Maria Stuart als moralische Siegerin, weil sie allen Wert auf die Würde der Person legt.66 Schiller hat durch geschickte Poetisierung der Geschichte Weichen gestellt, wie eine Kultivierung der Person stattfinden kann.

66 Zu Schillers Charakterisierung der Maria Stuart schreibt Benno von Wiese: „Diese leidenschaftliche, unkluge und oft von Illusionen verführte Seele weckt die großen Passionen. Ihr Liebreiz, ihre Wehrlosigkeit, ihre sündige Vergangenheit und ihre königliche Haltung strahlen einen geheimnisvollen Zauber aus“, Benno von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, Hamburg 51961, 242.

Gabriele Tomasi

Schiller on the Artistic Value of Tragedy. A Case of Moderate Autonomism?

Works of art often provide insights into moral issues, and we regard these insights as contributing to their moral value. What precisely constitutes that value and whether it interacts with or is distinct from the works’ aesthetic value are disputed questions. Radical autonomism claims that the possible moral value of an artwork is entirely irrelevant to its artistic value and that art is valuable if and only if it has aesthetic value. While it may be natural to want to defend the freedom of aesthetic evaluation from cognitive, moral and political intrusion, the radical version of autonomism seems rather implausible.1 Revealing a kind of aesthetic essentialism, it characterizes the independence of aesthetic value in excessively strong terms and can be refuted even within an autonomist framework. On the other hand, interactionists maintain that “the presence of one kind of value”, be it moral or aesthetic, “affects the degree of the other”. Interaction between these different kinds of value can be conceived of in two ways: one may think that the “ethical merits and defects in a work affect the degree of aesthetic value possessed by the work”, or one may assume that the aesthetic value of a work bears on its ethical value.2 Autonomists often consider Kant their champion, and for good reason. The first five sections of Kant’s “Analytic of the Aesthetic Power of Judgment” are devoted to detaching judgments of taste from judgments connected to inclinations or concepts and therefore to isolating aesthetic pleasure as the only

1 For arguments against radical autonomism, see Eileen Jones, Artistic Value and Opportunistic Moralism, in: Matthew Kieran (ed.), Contemporary Debate in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006, 331–341. See also Berys Gaut, Art, Emotion and Ethics, Oxford 2007, 67–89. 2 Robert Stecker, Aesthetics and the Philosophy of Art. An Introduction, Lanham 2010, 256–257. Although interaction between aesthetic and ethical values is also plausible, the literature on the topic is mainly focused on the first option. For a mapping and discussion of the different positions, cf. Noël Carroll, Art and Ethical Criticism: An Overview of Recent Directions of Research, in: Ethics 110, 2000, 350–387; Cain Todd, Aesthetic, Ethical, and Cognitive Value, in: South African Journal of Philosophy 26, 2007, 216–227; Alessandro Giovannelli, The Ethical Criticism of Art: A New Mapping of the Territory, in: Philosophia 35, 2007, 117–127.

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free pleasure.3 Though Kant acknowledges the existence of analogies between judgments of taste and moral judgment, conceives of the beautiful as the symbol of the morally good, and suggests that it is only in this respect that beauty pleases with a claim to the assent of everyone else,4 he nevertheless maintains the autonomy of taste. The same autonomist picture holds when Kant turns to art. He conceives of it as “a kind of representation that is purposive in itself” and says that it has “the reflecting power of judgment […] as its standard”.5 Kant is well aware that art can have broad effects on us. For example, he acknowledges that the pleasure of art “is at the same time culture and disposes the spirits to ideas”. He also suggests that works of art should deal with themes of deep concern to us because if they are not combined with moral ideas, they cannot be objects of intellectual interest and a source of self-sufficient pleasure. However, he affirms that “what is essential [in fine art] consists in the form, which is purposive for observation and judging”.6 Interactionists, on the contrary, may be tempted to enrol Schiller in their camp, and this for good reason as well. In fact, one finds in Schiller many hints of a connection between ethics and aesthetics. In his Kalliasbriefe (1793), for example, Schiller attributes judgments of taste to practical reason;7 in Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), while claiming that the end of art is free pleasure, he seems to suggest that art can attain it only by moral means and must therefore follow the way of morality.8 Furthermore, in the latter essay, and above all in his Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), Schiller conceives of fine art as indirectly related to moral and political ends in virtue of the experience occasioned by it. As for his

3 Cf. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 2006, hereafter cited by the page number of volume 5 of the Akademie-Ausgabe in the translation by Paul Guyer and Eric Matthews (cf. Immanuel Kant, Critique of the Power of Judgment, ed. by Paul Guyer, New York 2000). Here: AA 5, § 5, 210. 4 Cf. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 59. 5 Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5, § 45, 306. 6 Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5, § 325f. 7 Friedrich Schiller, Kallias, oder über die Schönheit, in: Derselbe, Theoretische Schriften, hg. v. Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit v. Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt am Main 2008, 282–283 and the comment in Frederick Beiser, Schiller as Philosopher. A Re-Examination, New York 2005, 59–61. 8 Schiller thinks that if we had a complete philosophy of art, the result would be “that a free pleasure, as that which the fine arts produce, rests wholly upon moral conditions, and the whole moral nature of man is active in it. It would further result that the occasioning of this pleasure is an aim which can never be attained but by moral means, and consequently that art, to perfectly attain pleasure as its real aim, must make its way through morality” (Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Derselbe, Theoretische Schriften, 235. The translation used is the Project Gutenberg EBook of Schiller’s aesthetical essays, produced by Tapio Riikonen and David Widger).

Schiller on the Artistic Value of Tragedy

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poetic works, it may be interesting to recall the following passage from the preface to Die Räuber (1781): In consequence of the remarkable catastrophe which ends my play, I may justly claim for it a place among books of morality [unter den moralischen Büchern], for crime meets at last with the punishment it deserves; the lost one enters again within the pale of the law, and virtue is triumphant. Whoever will but be courteous enough towards me to read my work through with a desire to understand it, from him I may expect – not that he will admire the poet, but that he will esteem the honest man [den rechtschaffenen Mann].9

Schiller’s description of Die Räuber as a moral book, namely as a book that (implicitly or explicitly) expresses a moral point of view, that endorses or rejects a set of values or a type of behaviour, for example by putting forward characters as admirable or contemptible, naturally makes it morally evaluable. Though one is inclined to assume that the obvious objects of ethical criticism are the views expressed in a work or the responses solicited by it, Schiller’s hope to be judged an honest man is not inappropriate. We can make sense of his expectation, observing that artworks are the products of intentional agency; therefore, ethical criticism is not always restricted to the work but is often directed to the wider results of intentional agency and to the relevant agent herself.10 Schiller’s reference to a reader yearning to understand his work also prompts us to pay attention to the importance of distinguishing between attitudes that are endorsed and attitudes that are merely explored in a work. In any case, returning to the question of whether the moral evaluation of a work also influences evaluation of its artistic value, what is clear is that Schiller’s position is not easy to assess.11 On the one hand, he makes room for a relation 9 Friedrich Schiller, Die Räuber, Vorrede, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in zehn Bänden, hg. v. Hans-Günther Thalheim mit Peter Fix, Jochen Golz, Weltraud Hagen, Matthias Oehme, Regine Otto, Barthold Pelzer, Bd. 2, Berlin 2005, 407–408 (the translation used is the Project Gutenberg EBook of The Robbers, produced by David Widger). Interestingly, Schiller’s comment in his review of the drama is rather puzzling: “Nun das Stück von seiten seiner Moral? – Vielleicht findet der Denker dergleichen darin (besonders wenn er sie mitbringt)” (Friedrich Schiller, Selbstrezension, in: Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 2, 427). 10 Ted Nannicelli, Ethical Criticism and the Interpretation of Art, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 75, 2017, 401–413 has brought me to appreciate this point. 11 As for the broad moral consequences, intended or not, that artworks can have, Schiller seems to place a value on the possible beneficial effects of art and theatre. On 26 June 1784, he gave a lecture in Mannheim with the title Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, translated as the somewhat “misleading” Theatre considered as a moral institution (Norbert Oellers, Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, Stuttgart 2006, 438), in which he claimed that theatre is “a school of practical wisdom, a guide to our daily lives, an infallible key to the most secret accesses of the human soul” (Schiller, Theoretische Schriften, 194). Perhaps hoping for a renewal of his contract in Mannheim, Schiller rhetorically emphasized the effects of theatre on the promotion of education and on the “world’s mighty

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between aesthetics and ethics, while on the other he clearly claims that art should be autonomous, that it should be an end in itself and that moral evaluation and aesthetic evaluation are radically different. Not without reason, tensions in Schiller’s conception emerge more evidently in his theory of tragedy, since tragic art is a genre in which there is typically a relationship between aesthetics and ethics. Tragedies often have moral content; they suggest or question moral insights, and they are highly engaging and esteemed precisely for this reason. As we will see, Schiller thinks that there is a conflict at the core of tragedy that demonstrates the moral strength or absolute freedom of the human being in one way or another. However, he also claims that our fascination with works of tragic art lies more in their form than their content, thus hinting at the importance of the literary response to tragedy and of the way in which tragedy engages with its content. The aim of this paper is to try to clarify how, according to Schiller, the moral value and the aesthetic value of drama may relate to each other – if they do relate. I hope to provide a clearer picture of his position by considering his reflections on tragedy against the background of the debate between autonomists and interactionists. The paper is structured as follows. I begin with broad observations on Schiller’s conception of the aim of art in general and of tragic art in particular (Sec. 1 and 2). I then hint at Schiller’s argument for the autonomy of art and at the role of imagination in the experience of tragic art; this will help us to further specify how the distinctive aesthetic response to tragic art might engage with moral content (Sec. 3). From this basis, I move to a more extensive examination of how, in Schiller’s conception, moral value may be related to aesthetic value (Sec. 4 and 5). In the conclusion of the paper (Sec. 6), I tentatively suggest that Schiller is a moderate autonomist.

1.

Schiller on the Purpose of Art

Schiller conceives of the end of art in Kantian terms. For example, in the abovementioned Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, an essay based on a lecture on the theory of tragedy given in the summer of 1790 and published while Schiller was intensively studying Kant’s third Critique, he maintains that the end of art is free pleasure. Less Kantian, however, is his men” (Oellers, Schiller, 196). It is obvious that if works of art, or their performances, have moral consequences, they can be ethically evaluated for having such consequences (I do not deal with this issue here). Interestingly, Schiller closed the lecture with a consideration that is only apparently out of tune with the rest of its content, namely the observation that “theatre takes us in, and within its imaginary world we dream the real one away; we are given back to ourselves” (Oellers, Schiller, 200).

Schiller on the Artistic Value of Tragedy

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clarification that this pleasure depends on moral conditions or on the fact that the whole moral nature of a human being is active in it.12 The idea that free pleasure is the end of art is reasserted in Über das Pathetische (1793), where Schiller nicely states that “art must delight the spirit and oblige freedom”.13 Both statements suggest that the pleasure at which art aims is a complex state of mind, and both make reference to morality – not to moral content, but either to our moral nature and its activity or to the condition of morality, that is, freedom. According to Schiller, whatever the possible moral condition or effects of art, its essential function is to afford a pleasure that he, following Kant, qualifies as free in order to stress that it has nothing in common with sensory pleasure. To slightly clarify how Schiller conceives of the pleasure at which art aims, it is worth recalling the description of artistic pleasure that he offers some years later in the “Twenty-Second Letter” of his Über die ästhetische Erziehung. This description focuses on the experience of beauty. Schiller maintains that in the aesthetic condition, the mind is free from the limitations that can arise from sensuous or rational determination and has all its powers conjointly active within it;14 it is a state of equilibrium that Schiller views as a condition in which all the functions of the mind are possible: “If […] we are surrendered to the enjoyment of genuine beauty, we are at such a moment master in equal degree of our passive and of our active powers, and we shall with equal ease turn to seriousness or to play, to repose or to movement, to compliance or to resistance, to the discussions of abstract thought or to the direct contemplation of phenomena.” Schiller then adds: “This lofty equanimity and freedom of the spirit, combined with power and vigor, is the mood in which a genuine work of art should release us.”15 We find a similar picture in the brief Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, which opens Die Braut von Messina (1803). Schiller reaffirms that “all art is devoted to pleasure, and there is no higher and serious task than to make 12 Cf. Schiller, Über den Grund des Vergnügens, 235. 13 Cf. Schiller, Über das Pathetische, in: Derselbe, Theoretische Schriften, 428. The translation used is that by Daniel O. Dahlstrom in Friedrich Schiller, Essays, ed. by Walter Hinderer and Daniel O. Dahlstrom, New York 2005, 49 (hereafter quoted followed by page number in Theoretische Schriften and then in Schiller, Essays). 14 Roughly speaking, experiences in which sensation is predominant have the effect of limiting our intellectual faculty; by contrast, experiences that are predominantly intellectual, e. g. the exercise of abstract conceptualization, have the effect of limiting our sensuous experience and feeling. 15 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Schiller, Theoretische Schriften, 639. The translation used is that by Elizabeth M. Wilkinson and L. A. Willoughby in Schiller, Essays, 149 (hereafter quoted followed by page number in Theoretische Schriften and then in Schiller, Essays). As Schiller further notes, the pleasure of true beauty is an ideal condition that results from both a balanced psychological disposition in the audience and the character of an art object in which neither rational nor sensual aspects are predominant.

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human beings happy”. He then further states that true art provides “the greatest pleasure”, which consists “in the freedom of the mind in the enlivening play of all its powers”.16 These statements might sound bewildering. Schiller seems to extend his description of the effect of beauty to every work of art. However, it is difficult to generalize such a description. It would seem that an art as tragedy does not fit easily into this picture. In fact, Schiller makes room for differentiation. In his essay on tragic pleasure, he hints at a possible distinction between fine arts, or arts of taste, as arts which above all satisfy intellect and imagination, and the arts he calls moving (or touching) arts, or arts of sentiment or of the heart (rührende Künste), which especially occupy imagination and reason. The distinction is based on the fact that art can make use of different types of representation – Schiller recalls “the good, the true, the perfect, the beautiful, the touching, the sublime” – and that insofar as a specific kind of pleasure is pursued as a main aim by certain works, it can ground their particularity as works belonging to a form of art or to a genre. This suggests that the general aim of art – Schiller also frames it in terms of arousing the higher feeling of purposiveness – or its expected aesthetic effect can be specified. Though Schiller points out that we are not authorized to base a rigorous classification of the liberal arts upon the differences between the types of representations they can make use of, he believes that paying attention to them can serve to determine the principles for the evaluation of art more precisely. For example, although the moving cannot be absolutely separated from the beautiful, distinguishing between them may prevent the muddle that inevitably arises when we confuse the field of the beautiful with that of the moving. By suggesting these tentative distinctions, Schiller paves the way for acknowledging the peculiarity of tragedy as an art belonging to the field of the moving.17 Schiller hints at the peculiarity of tragedy in a passage in Über das Pathetische, where he phrases the aim of art in a different way: “The ultimate purpose of art is to depict what transcends the realm of the senses (die Darstellung des Übersinnlichen)”, and the art of tragedy in particular accomplishes this by displaying 16 Friedrich Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, in: Derselbe, Sämtliche Werke, Bd. 5, 8. In a passage that deserves its own in-depth analysis, Schiller, recapping core thoughts of Die ästhetische Erziehung, further maintains that art does not merely aim at affording a transient pleasure, at exciting “a momentary dream of liberty”; rather, its purpose is “to make us really free; and this by awakening, exercising, and perfecting in us a power to remove to an objective distance the sensible world, which otherwise only burdens us as rough matter, and presses us down with a blind power”. Schiller also describes the power that art awakens in us as a power “to transform” the sensible world “into a free work of our spirit, and to dominate the material by means of ideas” (Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, SW 5, 8). 17 Cf. Schiller, Über den Grund des Vergnügens, 237–238.

Schiller on the Artistic Value of Tragedy

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moral independence, that is, by displaying human beings’ freedom “in the throes of passion, from nature’s laws”.18 Before going a bit more into the detail of this conception of tragedy, it is worth recalling another passage from the “TwentySecond Letter” of Über die ästhetische Erziehung, where Schiller, while hinting at the peculiarity of tragedy, emphasizes that it does not follow from this peculiarity that the aesthetic effect of tragedy is different from that of the other arts: “The psyche of the listener or spectator must remain completely free and inviolate; it must go forth from the magic circle of the artist pure and perfect as it came from the hands of the Creator. […] Art forms that affect the passions (Künste des Affekts), such as tragedy, do not invalidate this.” Schiller provides two reasons for holding that tragedy is not a counterexample to his conception of the effect of art. Firstly, he notes that the moving arts are not entirely free arts, since they have a particular aim (pathos). Secondly, he makes a point that has both an empirical and a conceptual character: no true connoisseur of art will deny that “works even of this class are the more perfect, the more they respect the freedom of the spirit even amid the most violent storm of passion”. Schiller then observes that while “a fine art of passion” exists, “a fine passionate art is a contradiction in terms”, because the effect of beauty is freedom from passion. Clearly, a contradiction can arise here only if it is assumed that the moving arts should also aim at beauty. However, this is not what Schiller seems to assume when he counts tragedy among the fine arts. Presumably, he is only suggesting that the peculiar aim of tragedy (pathos) should be integrated with beauty. In fact, in the foregoing lines of the letter, he argues that “in a truly successful work of art (in einem wahrhaft schönen Kunstwerk) […] the form is everything”,19 thus suggesting that the aesthetic value of tragedy has the same source as the aesthetic value of every other kind of fine art (that is, form). I will not enter into this theoretical desideratum of Schiller’s theory here.20 I wish simply to note that by evoking the integration of pathos with beauty, Schiller 18 Schiller, Über das Pathetische, 423/45 (translation slightly modified). 19 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 641–642/151. He further comments: “Herein, then, resides the real secret of the master in any art: that he can make his form consume his material” (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 641/151). 20 By identifying, as we will see, the practically sublime as the object of tragedy, Schiller brings together “what Kant kept separate”: the form of beauty and the formlessness of the sublime (Daniel O. Dahlstrom/Walter Hinderer, Introduction, in: Schiller, Essays, xxii). Though it is not clear how this can happen, given his distinction between the beautiful and the sublime, Schiller actually seems to try to overcome the distinction between the beautiful and the sublime, for example by introducing, in the “Seventeenth Letter” of Über die ästhetische Erziehung, the idea of an energizing beauty (cf. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 619–622/135–137). In Über das Erhabene, an essay dating back to 1793–1796, he strikingly claims that “even the sublime must lose itself in something ideally beautiful” (Schiller, Über das Erhabene, 828/75; cf. also Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 616/133 “Twenty-Sixth-Letter”).

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hints at the complex character of the artistic value of tragedy. In the next sections, by examining how he conceives of the particular aim of tragedy, I will try to show that it implies a relation to morality, and I will then try to clarify how moral value and aesthetic value relate in the experience and appreciation of tragic art.

2.

The Intriguing Case of Tragedy

Like any other art, tragedy aims at pleasure, but the pleasure it aims at is of a peculiar kind: it is a pleasure connected to a negative emotion, or, as Schiller claims in Über die tragische Kunst (1792), it is the great pleasure (das hohe Vergnügen) contained “in the sorrowful, tragic emotion”.21 Echoing Aristotle’s conception, he maintains that the end of tragedy is to arouse sympathy or compassion (Mitleid),22 or to arouse “fear and sympathy (Furcht und Mitleid)”.23 Schiller interprets the complex structure of tragic pleasure by means of two notions: that of sympathy and the Kantian dynamic sublime. In the opening paragraphs of the essay, Schiller presents the experience of tragedy as part of a wider set of experiences of pleasure that are occasioned by emotions with a negative hedonic tone. He assumes that it is common to experience pleasures that derive from painful emotions and observes that “the same tender feeling that frightens us back from the sight of physical suffering or even from physical expression of moral suffering allows us, in sympathy with the pure moral pain, to feel a pleasure all the sweeter”.24 What characterizes these experiences is that the negative emotion is communicated or felt through imaginative engagement in painful situations. In fact, a negative emotion felt in a real situation has a relation that is so strictly tied to our drive for happiness that no room for pleasure is left. It is a crucial condition of tragic pleasure that the negative emotion from which it derives is not a response to a directly perceived painful situation. On the one hand, this suggests that imagination plays a crucial role in tragic pleasure; on the other, it renders the stage an ideal place for these experiences.

21 Friedrich Schiller, Über die tragische Kunst, in: Schiller, Theoretische Schriften, 257. Hereafter quoted (in the translation by Daniel O. Dahlstrom) followed by page number in Theoretische Schriften and then in Schiller, Essays (in this case p. 6). According to Schiller, “the touching, in its proper sense, designates this mixed sensation, into which enters at the same time suffering and the pleasure that we find in suffering” (Schiller, Über den Grund des Vergnügens, 239). 22 Schiller, Über die tragische Kunst, 269/16. 23 Friedrich Schiller, Über Egmont, Trauerspiel von Goethe, in: Derselbe, Theoretische Schriften, 927. 24 Schiller, Über die tragische Kunst, 252/2.

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I will say something on the role of imagination in the next section. Here, it is worth considering a further aspect of Schiller’s conception of tragic pleasure: the connection he draws between tragic pleasure and sympathy with pure moral pain. Moral pain is the suffering caused, for example, by conflict between moral reason and self-interest. How can pleasure be connected to it? Very briefly, Schiller’s answer to this question is based on the assumption that there are two sources of pleasure: the satisfaction of our urge for happiness and the fulfilment of moral laws. If a pleasure does not spring from the first source (which seems to be the case in the scenario at issue), it must have its origin in or must somehow be connected to the second source.25 Schiller’s claim is precisely that the pleasure with which the indirectly felt negative emotions – or, as he points out, those that are originally felt – please us “emanates […] from our moral nature”. In truth, he is not claiming that there is a direct connection between the pleasure of sympathy and morality. In his conception, what “produces the pleasure that we take in sympathetic suffering” is the activity of reason, that is, of the power of our mind that is excited in the assault on our sensuous life. Schiller writes: “The pleasure that sorrowful, tragic emotions give us originates in the satisfaction of the urge to act.”26 As Daniel Dahlstrom points out, tragic emotions confirm our capacities as rational, moral agents to transcend the constraints of nature.27 However, since Schiller conceives of reason as absolute autonomy, it is rather natural for him to assume that the mind experiences itself as completely free particularly in moral action and therefore to connect tragic pleasure to morality. What follows from this is the further suggestion that the moral frame of mind “is most capable of enjoying the pleasure of compassion (Mitleid)”.28 Although we will have more than one occasion to note that Schiller emphasizes the role of the moral culture of the audience in the appreciation of tragic art, at this point it may be interesting to note how, with regard to an aspect of the audience’s engagement, Schiller diverges from Aristotle while apparently following him. Assuming that sympathy requires at least partial identification with the subject of suffering, Schiller maintains that the tragic character should be similar to us and for this reason should have a mixed character.29 As Arbogast 25 Cf. Schiller, Über die tragische Kunst, 255/4. 26 Schiller, Über die tragische Kunst, 254–256/4–5. 27 Daniel Dahlstrom, Play and Irony: Schiller and Schlegel on the Liberating Prospects of Aesthetics, in: The History of Continental Philosophy, ed. by Alan Schrift, Chicago 2011, vol. 1, 107–129, here 110–111. 28 Schiller, Über die tragische Kunst, 254/4. 29 Cf. Aristotle, Poetics, Ch. 13 and Schiller, Über die tragische Kunst, 264–265/12. Admittedly, the use of the term ‘sympathy’ here is rather ambiguous, as a wide range of psychological experiences might fall under it. In truth, in our engagement with narrative fiction we are neither fixed nor immobile; we can move from sympathy, which consists in feeling sorrow or

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Schmitt observes, however, Schiller gives “mixed character” a rather different meaning than Aristotle.30 Aristotle maintains that the tragic hero should not be a bad, or even a perfectly virtuous, person but a person like many of us, whose actions fail because of a (great) mistake that we could also make. We feel compassion for her failure precisely because her misfortune is not deserved, and at the same time we feel fear because it is brought about by an error that threatens all of us. The idea in the background is that we sympathize with what we fear for ourselves. On the other hand, Schiller associates having a “mixed character” simply with being a “human being in general”: the human being has such a character, and since it is not a spirit or a pure rational being, or a mere sensible being, it is a mix of both. It is pivotal to Schiller’s theory of tragedy that the relevant similarity between the audience and the tragic hero bears on what connects them as human beings; more precisely, it is a resemblance, as he writes, that points to “the mind’s entire foundation, insofar as this is universal and necessary”. According to Schiller, “it is preeminently our moral nature that is universal and necessary”.31 He assumes that the tragic destiny derives precisely from the split in our nature: not from the hero’s personal fault or mistake but from the fact that she, like all human beings, is a sensible moral being. As such, we are all subject to laws of necessity while also being absolutely free. Consequently, sympathy with a character’s pain derives not from fear for ourselves or love for others but from our shared moral nature. We sympathize with tragic heroes on a moral level because we identify with them and their moral conflict. Returning to Schiller’s conception of the aim of tragedy, that is, the pleasure contained in tragic emotions, it is now clear that both the representation of pain concern for the distressed or needy other, involving caring about her while not sharing her experience as such, to “in-her-shoes imagining” and to empathy as a complex imaginative process involving taking up the other’s psychological perspective and imaginatively experiencing, to some degree, what s/he experiences. If we respond emotionally to tragedy from the outside, from the point of view of an observer of a situation and not from that of the participant in it, our emotions have different objects from those of the characters. However, that we respond to the character’s situation emotionally does not prevent us from empathizing with her or him, from imagining being in her or his situation ourselves, because as empathizers we maintain self-other differentiation. We can therefore feel fear as a result of empathy, for example, while also feeling pity for the character, as part of our own distinct response. We are neither forced to mirror characters’ experiences nor forced to observe them from the outside. Sympathy might occur while the reader empathizes with the character. On this cf. Amy Coplan, Empathic Engagement with Narrative Fictions, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 62, 2004, 141–152. 30 Cf. Arbogast Schmitt, Zur Aristoteles-Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen, in: Bernhard Zimmermann (Hg.), Antike Dramentheorien und ihre Rezeption, Stuttgart 1992, 191–213, 204–206. 31 Schiller, Über die tragische Kunst, 264–265/12–13.

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and the sympathy that arises from it play the mediating role of making the human being’s freedom from the constraints of nature intuitively graspable to the audience, and thus of making pleasure in the pure activity of reason possible.32

2.1

From the (Kantian) Sublime to the Pathetic

We have seen Schiller state that “the ultimate purpose of art is to depict what transcends the realm of the senses” and that tragic art accomplishes this purpose by displaying human freedom from the constraints of nature. He argues that “[t]he principle of freedom within us makes itself known only by the resistance it exerts against the power of feeling”. However, [i]n order for human intelligence to reveal itself as a force independent of nature, it is necessary for nature first to demonstrate all its might before our eyes. The sensuous being must suffer deeply and vehemently, the pathos must be present, so that the rational being can testify to its independence and, by acting, can present itself.33

Here, Schiller elaborates Kantian ideas, transferring them to the experience of art.34 According to Kant, what distinguishes the sublime from the beautiful is precisely the fact that it brings about pleasure from something displeasing or a representation of purposiveness that presupposes something counterpurposive. For different reasons and in different ways, both the absolutely great – be it an artefact or an object of nature – and the representation of nature as an object of fear are counterpurposive with regard to the interests of our senses, but they are purposive in relation to reason as a faculty of ideas. Summing up his conception, Kant states that “the sublime consists merely in the relation in which the sensible in the representation of nature is judged as suitable for a possible supersensible use of it”.35 It is particularly what he calls “dynamically sublime” that reveals a capacity for judging ourselves “as independent of nature” and “superior[] over it”.36 Schiller reinterprets this Kantian notion as what he calls the “practically sublime” and refines it via a distinction between what is contemplative and pathetically sublime in the power of nature.37 According to him, it is in the case of the pathetically sublime that we suffer sympathetically, that is, when we are 32 Cf. Schmitt, Zur Aristoteles-Rezeption, 199–200. 33 Schiller, Über das Pathetische, 423/45. As Samuel Hughes notes, “the paradigm of a sublime object accordingly shifts dramatically, from Alpine storms or volcanic eruptions to individuals enduring through suffering” (Samuel Hughes, Schiller on the Pleasure of Tragedy, in: British Journal of Aesthetics, 55, 2015, 417–432, here 422). 34 Cf. Schiller’s letter to Körner of 4. 12. 1791. 35 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 29, AA 5, 267. 36 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 28, AA 5, 261. 37 On this point cf. Giovanna Pinna, Introduzione a Schiller, Roma/Bari 2012, 89–117.

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presented with a depiction of people suffering the consequences of the power of nature, where the representation is combined “with the emotion and consciousness of the moral freedom within us”.38 Schiller’s pathetic sublime rests on a conflict between sensible human nature and moral reason. It follows that to achieve its end, tragedy, while remaining within its aesthetic boundaries, should depict actions that bring to consciousness both the dependence of human beings on the physical world and their moral autonomy. The playwright should represent scenes and characters that are, “on the one hand, vivid enough to produce something analogous to genuine fear without actually frightening the audience”. On the other hand, the play should disclose the freedom of the human being from all that concerns its sensible nature,39 since, according to Schiller, the intuitive representation of this independence is the source of the pleasure we take in tragic objects. As Hughes observes, Schiller views the pleasure of tragedy as an instance of the pleasure of the sublime, which he understands to be “the revelation of human freedom through suffering”.40 The interpretation of tragic pleasure in light of the pathetic sublime helps us to understand why Schiller, as we have seen, ascribes a central role to the reader’s or the beholder’s moral sensibility.41 He sometimes phrases his thought in ways that may suggest that tragic pleasure is morally loaded. For example, he seems to suggest that the reader’s moral sense should be stronger than his instinct for happiness so that, as he puts it, “selfish adherence to his individual ego is di38 Friedrich Schiller, Vom Erhabenen, in: Derselbe, Theoretische Schriften, 419. The translation used is that by Daniel O. Dahlstrom in Schiller, Essays, 42, hereafter quoted followed by page number in Theoretische Schriften and then in Schiller, Essays. Schiller emphasizes that “if what arouses the emotion (or what is pathetic) is supposed to provide a basis for the sublime, it may not be pressed to the point where one is actually suffering oneself. Even in the midst of the most violent emotion we must distinguishes ourselves from the individual who himself suffers, for the freedom of the spirit is gone as soon as the illusion is transformed into complete truth”. Sympathy must remain within what Schiller calls “its aesthetic boundaries”, which he connects with the two basic conditions of the sublime, that is, the vivid representation of suffering and the feeling of one’s own security (Schiller, Vom Erhabenen, 420/42). As also noted by Kant (cf. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 28, AA 5, 261), the sublime object or event must not arouse actual fear: “only in a detached consideration of something and through the feeling of the activity inside ourselves can we take pleasure in something sublime” (Schiller, Vom Erhabenen, 403/29). 39 Dahlstrom, Play and Irony, 111–112. 40 Hughes, Schiller on the Pleasure of Tragedy, 418. As Hughes also points out, our response to the sublime is thus a ‘mixed feeling’: “we feel pain on account of our sympathy for suffering, but also ‘gladness’ (Frohsein) […] in the consciousness of our freedom occasioned by witnessing resistance to that suffering” (Hughes, Schiller on the Pleasure of Tragedy, 422). 41 It was a Kantian point that the judgment on the sublime in nature has its foundation in the “predisposition to the feeling for (practical) ideas”, i. e. to the moral feeling (Kant, Kritik der Urteilskraft, § 29, AA 5, 265).

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minished by his obedience of the universal laws of reason”.42 In fact, it is the relation to morality that mixes pleasure with grievous pains in many cases. One may suffer because of having sacrificed personal interests while being pleased at having accomplished one’s duty. It is fairly obvious that the stronger a person’s moral sense, the more she or he will be sensitive to this kind of pleasure. In Schiller’s conception, however, the (moral) “assault on our sensibility” is a subject of tragedy only insofar as it displays the activity of reason: he situates an irreconcilable and painful conflict between morality or freedom and sensible nature at the core of tragedy because we are offered a grasp of the power of reason in (good) depictions of this conflict. As noted above, sympathetic suffering is pleasing “because it reconfirms our own power to act”.43 This power mainly reveals itself in morality; therefore, tragic pleasure may have a moral condition, but it is not a moral pleasure or a morally loaded pleasure. The question of the role of the moral sensibility of the audience is clearly intertwined with that of the relation between moral value and aesthetic value in the experience and appreciation of tragedy. Before pursuing this further, however, we must take a look at the role of imagination in the experience of tragedy. This will help us to put Schiller’s moral framing of tragic pleasure in what he considers the appropriate perspective for the evaluation of art.

3.

Imagination and the Autonomy of Art

Imagination is crucial to the experience of tragedy. The idea of the pathetic sublime as a representation of another’s suffering presupposes direct imaginative involvement in the representation of tragic events: we become observers and participants in events that affect us imaginatively. It is imagination that projects us into a situation of virtual danger and transforms our reaction to the represented events into pathos. Tragedy lives because of this mechanism, which – keeping sympathy within the boundaries of the aesthetic – translates the sublime into an aesthetic semblance.44 It is worth recalling that, according to Schiller, semblance is the essence and the product of art. Aesthetic semblance (aesthetischer Schein) is a fictive di42 Schiller, Über die tragische Kunst, 254/3. 43 Dahlstrom, Play and Irony, 112. As noted by Giovanna Pinna with regards to works such as Wallenstein and Maria Stuart, the tragic conflict can also take on the form of an epistemic or metaphysical conflict between us and a world that frustrates every effort to understand it or to harmonize with it in pursuit of our deeper ends. This is a possibility also suggested in Schiller, Über das Erhabene (1801). Cf. Giovanna Pinna, Il sublime in scena. Sulla teoria schilleriana della tragedia, in: Strumenti Critici 14, 1999, 175–203, here 197–203. 44 On this cf. Pinna, Il sublime in scena, 184–188.

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mension that is distinct from reality and truth – and also from moral reality – and does not claim to substitute them.45 Poetic truth, Schiller maintains, does not consist in the fact that something actually happened, but rather “in the fact that it could happen, thus, in the internal possibility of the matter”.46 Though possible, what art represents is, like a dream, different from the real. In fact, Schiller equates the nature of aesthetic semblance to that of dreams,47 meaning that art presents its constructions not to the senses but to imagination alone.48 Aesthetic semblance is not only presented to but also produced by imagination. Imagination has its own laws, according to which it constitutes its own world, and it does not claim to substitute reality. For Schiller, the fact that the domain of art is a world of semblance, that is, a domain of objects that imagination has transformed into objects for aesthetic contemplation, grounds the autonomy of art. Claiming the autonomy of art does not necessarily involve reducing the value of art to aesthetic value, of course. Autonomism may allow for the possible moral or cognitive value of a work to impinge on its value qua art, and I will try to show that Schiller’s conception actually does allow it. Prior to the question of the possible influence of moral or cognitive value on the value of a work is the question of how art can acquire these values, or, in other words, how art can provide access to certain kinds of beliefs, attitudes and moral insights that are available to us. The idea that aesthetic appearance or poetic truth invites imaginative rather than belief-based involvement, or a sympathetic response rather than a concern for correspondence with the facts, does not exclude the notion that art may have such a capacity. As for Schiller’s conception of tragedy, I suggest that we bear in mind that, according to him, pathos is “the first and indispensable demand made of the tragic artist”. He emphasizes that the artist may press the depiction of suffering as far as possible […] without suppressing moral freedom. He must, as it were, give his hero or his reader the complete, full salvo of suffering, since otherwise it always remains problematic whether the hero’s resistance to that suffering is an act of the mind […] and not rather […] a deficiency.49

45 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 661–662/167–169 “Twenty-SixthLetter”. 46 Schiller, Über das Pathetische, 448/66. 47 Cf. Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, in Derselbe, Sämtliche Werke, Bd. 5, 8. Cf. also the Prologue of Wallenstein, where Schiller speaks of the “Schattenbühne” of art (Schiller, SW 4, 9) and the poem Das Reich der Schatten (cf. Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, 232–237). Interestingly, Schiller also claims that just because “true art wants something real and objective, it cannot be satisfied with the appearance of truth”, but aims at “an ideal edifice” (Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, in Schiller, SW 5, 8). 48 Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, 9. In this way, i. e. by turning away from reality and becoming purely ideal, Schiller adds, art can be “more true than all reality and more real than all experience” (Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, 9). 49 Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, 9, 423–424/46.

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Given that the final purpose of art is to depict the supersensible, and reading the term ‘pathetic’ in connection with the ancient idea that we learn through suffering (ta pathemata mathemata), Schiller is apparently endorsing what we might call “a pathetic conception of the cognitive value of tragedy”. The idea is that the metaphysical and moral insights that tragedy can yield are conveyed through the peculiar feeling evoked in the reader or the beholder by the events it represents. This is the peculiar way in which tragedy, as art, can convey cognitive or moral content. Assuming that this is correct, it is precisely on form – the element that Schiller considers crucial in art – that the possible moral or cognitive value of art depends.

3.1

The Centrality of Form

In line with the traditional theory of art, Schiller points out that art achieves its aim through the imitation of nature.50 Given that tragedy’s specific aim is the pleasure of sympathy, he claims that tragedy should represent the suffering nature or pathos, and it should imitate nature in those kinds of action that are most apt to arouse pity and grief.51 Schiller apparently combines his reinterpretation of Kant’s dynamic sublime with a crucial element of Aristotle’s definition of tragedy, that is, the idea that tragedy is the representation (by people acting and not by narration) of a serious, complex action which has magnitude.52 In fact, Schiller maintains that “tragedy is […] a literary imitation of a coherent series of events (of a complete action) that shows us human beings in a state of suffering and has the purpose of arousing our sympathy”.53 No less than Aristotle, Schiller stresses the poetic character of tragedy, that is, the special achievement of the literary presentation of tragic events. Tragedy has a literary dimension that invites and rewards a certain kind of attention. In particular, to attend to the literary dimension of tragedy is to attend to its aesthetic qualities and to how it sustains and develops humanly interesting content.54 According to Schiller, what is “simply human in human relations” will always be the most fertile material for tragedy;55 it makes use of it in view of its 50 On Schiller’s notion of imitation cf. Carsten Zelle, Darstellung – zur Historisierung des Mimesis-Begriffs bei Schiller (eine Skizze), in: Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich (Hg.), Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, Köln/Weimar/Wien 2007, 73–86. 51 Cf. Schiller, Über die tragische Kunst, 257/6. 52 Cf. Poet, 1449 b 25–30. 53 Schiller, Über die tragische Kunst, 269/16. 54 Cf. Peter Lamarque, Tragedy and Moral Value, in: Australasian Journal of Philosophy 73, 1995, 239–249, here 246. Lamarque’s paper has influenced my reading of Schiller’s theory more than my footnotes can show. 55 Schiller, Über die tragische Kunst, 266/13.

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poetic purpose, “that is to say, […] in order to move us, and, by moving us, to delight us”.56 If the purpose of tragedy is to arouse the emotion of compassion, the means to achieving this purpose is its form: the form of tragedy, Schiller writes, is the form “most conducive to arousing the compassionate emotion”. Giving form a rather broad meaning, he seems to equate it with “the imitation of a poignant action”. He then claims that “the most perfect tragedy would thus be one in which the compassion aroused is the effect less of the material than of the form of tragedy, employed in the most effective way. This may stand for the ideal of tragedy”.57 Since the aesthetic value of a tragedy depends on whether it achieves the purpose of tragic art, which in turn depends on its form, Schiller is suggesting that the aesthetic value of a tragedy qua art depends on its form. And since form apparently encompasses all the literary and stylistic resources through which the imitation of a poignant action may be attained, the aesthetic value of tragedy ultimately rests on the aesthetic quality of the poetic representation. Following Kant, Schiller considers form the bearer of aesthetic value, and he assumes that value is of paramount importance for art.58 I do not believe that he reduces the value of art to aesthetic value, however. After all, he claims not that the expected effect of tragedy depends only on form but that it depends more on form than on content.59 Indirectly, he acknowledges that content also plays a role 56 Schiller, Über die tragische Kunst, 272/18. 57 Schiller, Über die tragische Kunst, 274–275/20. In Über das Erhabene, Schiller summarizes his conception in stronger terms, by tellingly pointing out that “all the magic of the sublime and the beautiful lies in the appearance [Schein] and not in the content [Inhalt]” (Schiller, Über das Erhabene, 840/85). The contrasting of Schein with Inhalt suggests that Schein has a meaning akin to that of Form here. What Schiller presumably means, however, is the aesthetic semblance produced through form. In the Kalliasbriefe, he maintains that in a work of art form is mere appearance (Erscheinung), and he exemplifies the point by saying that a piece of marble may appear to be a man even though it is not (Schiller, Theoretische Schriften, 324). 58 Cf. Kant, Kritik der Urteilskraft, §§ 13–14. 59 Despite Schiller’s statement, the relations between form and content are extremely complicated, and the boundary between form and content is difficult to mark. What is really formal in form, conceived of as the imitation of an action fit to move? That Schiller conceives of form in a rather broad way is also suggested by the fact that he calls the form of beauty “living form”. Beauty, he writes, “is indeed form, because we contemplate it; but it is at the same time life, because we feel it”, so that “in the enjoyment of beauty, or aesthetic unity, an actual union and interchange between matter and form […] momentarily takes place” (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 659/164–165 “Twenty-Fifth Letter”). This idea of an aesthetic unity clearly transfers to the work of art, whose form, therefore, should not be conceived of as a mere spatial and/or temporal form, as it was for Kant, but as a living form, that is, as a form in which, as Schiller’s conception suggests, the “formal qualities” of the work and their “relation […] to our thinking faculties” is unified with “what is immediately present to the senses” (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 609/128 “Fifteenth Letter”). It is worth recalling that form is the object of the form drive; therefore, this notion recollects all that is implied in our rational effort “to give form”, that is, unity and meaning, to

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and that there is perhaps more to the value of art than its aesthetic value. Tragedy, like other art forms, has representational and expressive content that can be aesthetically assessed but can also yield other kinds of value. The manner in which a character or course of action is portrayed, or an emotion described, can be beautiful or powerful, but it can also endow the work with moral or cognitive value. Let us define artistic value as the value “yielded by an artwork’s overall artistic character”. So conceived, artistic value encapsulates aesthetic, moral and any other kind of value that may contribute to the value of a work qua art.60 Schiller regards form as essential to artistic value, but he is also well aware that such value is at least partly a matter of the way in which form and content interact. Tragedy is a case in point. As we have seen, Schiller considers form a means to the aim of sympathy. Sympathy implies imaginative involvement with the represented events, and it is presumably part of this involvement that a reader or a beholder thinks the (morally) relevant thoughts and/or feels the (morally) relevant feelings about the represented events. That they think or feel these thoughts and feelings is part of the expected effect of a work and part of an appropriate aesthetic response to it. As we have seen, this is also how access to the moral or metaphysical content of a tragedy is made available to them. Thus, it seems that to call a dramatic representation “pathetic” involves an evaluation of its form or structure, that is, of its aesthetic character and its moral (or cognitive) content at one and the same time. Appreciation of art encompasses both aesthetic and moral (or cognitivemoral) evaluation in this case. Does Schiller then allow for moral value to be part of artistic value? Can he reject the blurring of the conceptual distinction between aesthetic and moral value, while at the same time making room for a possible relationship between those values in works of tragic art?

4.

Moral Content and Aesthetic Value

In the previous section, we saw that Schiller’s emphasis on form does not imply that the artistic value of tragedy reduces to its aesthetic value. He considers form crucial to (tragic) art because it is the way in which characters and events are represented in a work, and it is the quality of the representation that determines the sympathetic and imaginative response to them. As we have also seen, however, the emotional involvement that form promotes also makes the moral (or metaphysical) themes of tragedy more immediate; it makes their appropriation what is the “mere world” (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 595/118 “Eleventh Letter”). 60 Cf. Elisabeth Schellekens, Aesthetics and Morality, London 2007, 41.

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possible. It is this fact that would seem to suggest that Schiller’s autonomist outlook allows for the moral or cognitive content of a tragedy to contribute to its value qua art, or in other words, for its moral or cognitive value to contribute to or be part of its overall artistic value. I will now try to corroborate this conjecture. I begin by considering an aspect of the relationship between aesthetics and morality at which I have already hinted, that is, the role of the audience’s moral sensibility. Granted that form is the means of arousing sympathy, it is also true that the expected effect of tragedy, given its particular nature, also depends on the moral sensibility of the reader or the beholder. In fact, what tragic art aims at is not the depiction of suffering but a representation of moral freedom. Schiller maintains that if “depicting the suffering nature is the first law of the art of tragedy”, “portraying moral resistance to the suffering is the second law” because “the pathetic is aesthetic only insofar as it is sublime”,61 that is, insofar as it brings to our consciousness a capacity to resist suffering that evokes rational freedom.62 As we have seen, however, Schiller transposes to art the Kantian point that the perception of the sublime depends on the moral culture of the beholder, on possessing the (moral) idea of our independence from nature. Interestingly, this moral condition has (or should have) a counterpart in the content of the work. Schiller does not mean that the content should be morally approvable. With regard to this, he marks important distinctions to safeguard his autonomist outlook: The same object can be disagreeable to us from a moral point of view and yet be quite attractive to us from an aesthetic point of view. But even if the same object satisfies us in both instances, it has this effect in each case in a completely different way. That it is aesthetically useful does not make it morally satisfying and it does not become aesthetically useful by the fact that it is morally satisfying.63

This passage suggests the independence of moral and aesthetic value. Schiller specifies this independence thesis by claiming that “in aesthetic judgment we are interested, not in morality of itself, but simply in freedom, and morality can 61 Schiller, Über das Pathetische, 426, 428/48, 49. 62 Schiller writes: “That, however, we can regard a loss with indifference, a loss that is rightly so poignant for us as sensuous beings, proves that there is a capacity within us to act according to laws completely different from those of the sensuous faculties, a capacity having nothing in common with natural instinct. Everything that makes us conscious of this capacity within us is sublime” (Schiller, Vom Erhabenen, 421/43). 63 Schiller, Über das Pathetische, 442/61. Presumably, it is because we can find aesthetically attractive what is morally detestable that Schiller writes of Die Räuber: “If I understand his play, he must like strong doses of emetics as well as of aesthetics” (Schiller, Selbstrezension, 428). It is not by chance that he makes Karl Moor a murderer and not a robber (a thief): a murderer, Schiller notes in Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst, is “morally much more reprehensible, but aesthetically he becomes a degree more useful” (Schiller, Theoretische Schriften).

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please our imagination only insofar as it makes that freedom visible”.64 This statement seems to echo Kant’s idea that the aesthetic evaluation of an object rests on the free play of the faculties of cognition and that taste is “a faculty for judging an object in relation to the free lawfulness of the imagination”.65 Furthermore, it echoes the conception sketched by Schiller himself in the Kalliasbriefe according to which the principle of aesthetic judgment, that is, the concept of beauty, concerns how freedom appears in the sensible world.66 Returning to the independence thesis passage, I suggest that Schiller himself gives the example of an object that, in spite of being morally satisfying, may not be without defect from an aesthetic point of view. I am thinking in particular of his review of Goethe’s Egmont (1788). This text is a nice example of Schiller’s critical attitude. Schiller offers penetrating observations on the particular genre to which this tragedy belongs, i. e. works that have the character or nature of human beings as their subject, and on how Goethe gives unity to the piece and builds his characters. He praises many aspects of the work but also expresses a revealing objection to the portrayal of the tragedy’s hero. Egmont is a man who craves justice and national liberty and who faces the consequences of his opposition to the Duke of Alba’s despotic authority and his sincere trust in his people. Schiller notes that by supplying Egmont with human weaknesses to make him more like us, Goethe deprives him of the greatness that produces the theatrical effect of fear and pity. Leaving aside the soundness of this criticism – his friend Körner, for example, did not agree with him67 – it is interesting that it is not so much based on historical or moral considerations but on aesthetic considerations, and more precisely on considerations concerning the aesthetic effect of the character.68 Goethe’s depiction of Egmont’s life and heroism may be morally satisfying, but, according to Schiller, it is not without its aesthetic flaws. In general terms, the situation may be that envisaged by Schiller in Über das Pathetische, a case in which the depiction of tragic events does not make clear that the hero’s conduct rests on an act of the mind rather than a deficiency.69 A representation that shows us a man in a state of suffering, but in which the expression of the power of the mind is wanting, cannot attain the pathetic. Therefore, though it may be morally satisfying, it is aesthetically flawed.

64 Schiller, Über das Pathetische, 451/68. 65 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 9. Cf. § 22, AA 5, 240. 66 Indeed, in the Kalliasbriefe, Schiller defines beauty as “freedom in appearance (Freiheit in der Erscheinung)” (Schiller, Theoretische Schriften, 285). On this cf. Beiser, Schiller as Philosopher, 57–76. 67 Cf. Körner’s letter to Schiller of November 1788. 68 Cf. Schiller, Über Egmont, 928–930. 69 Cf. Schiller, Über das Pathetische, 423–424/46.

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The opposite case, in which objects are morally disagreeable to us and nevertheless aesthetically attractive, is possibly more intriguing. It is worth examining this case more extensively because doing so will help us to understand what Schiller means when he says that morality pleases our imagination only insofar as it makes freedom visible and, above all, to see that Schiller’s independence thesis does not exclude an (indirect) relation between aesthetic and moral or cognitive value.

4.1

Schiller’s Taste for Controversial Characters

As critic and author, Schiller has a clear preference for morally controversial characters. His preface to Die Räuber (1781), and above all his comments on the tragic destiny of Medea, make clear why he prefers these kinds of characters. In the preface, aligning his Karl Moor with characters such as Klopstock’s Adramelek, Milton’s Lucifer, Medea, and Shakespeare’s Richard III, Schiller observes that all of these figures arouse in the audience a complex feeling of both love and condemnation: they would excite admiration as much as disapproval if they were encountered in reality. He offers two aesthetic reasons to justify the poetic choice to depict the robber Karl Moor as a kind of “strange Don Quixote whom […] we at once detest and love, admire and pity”. The first reason is that the task of the poet is to portray human beings as they are; therefore, a poet must include good qualities in her character descriptions, as even the most vicious people are never totally deprived of goodness. The second reason is that a human being who is so utterly depraved as to be without a single redeeming feature is not a satisfying subject of art and would disgust rather than excite the interest of the reader or the beholder, arousing imaginative resistance to engaging with it. Schiller writes: “A noble soul can no more endure a succession of moral discords than the musical ear the grating of knives upon glass.” In truth, Karl Moor is not a completely evil man; he is “a mind for which the greatest crimes have only charms through the glory which attaches to them, the energy which their perpetration requires, and the dangers which attend them”. What seems to attract Schiller to such a character is that a man like Moor is “endowed with the power of becoming either a Brutus or a Catiline, according as that power is directed”: it is just “an unhappy conjunction of circumstances”, he observes, that “determines him to choose the latter for his example”, while “only after a fearful straying […] [is he] recalled to emulate the former”.70 In other 70 Schiller, Die Räuber, Vorrede, 405–407. For more on this cf. Schiller, Selbstrezension, 414f. For an analysis of Schiller’s construction of the characters of Die Räuber cf. John Guthrie, Schiller the Dramatist. A Study of Gesture in the Plays, Rochester 2009, 49–71.

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words, what attracts Schiller is the display of freedom.71 What defines a tragic character is not moral perfection but the strength of mind and freedom that are manifested in a firm opposition to destiny or in the overcoming of natural feelings and inclinations; this will become clear in light of the elaboration of the idea that the expected effect of tragedy is a feeling related to the pathetic sublime. From the standpoint of aesthetic evaluation, Schiller writes, “[a] human being is already a sublime object if he demonstrates the dignity of the human vocation by virtue of his condition, even supposing that we are not to find this vocation realized in his person”.72 At the centre of tragedy, he portrays the human capacity to transcend sensuality or the independence of the mind; presumably, this is also what really interests him as an author. In regard to this, his observations on (Corneille’s) Medea are revealing. Schiller notes that, from an aesthetic point of view, the horrific actions of Medea, who kills her sons to cut to Jason’s heart, appear sublime if we view her as a tender mother and therefore recognize the strength of will that it takes to sacrifice what she, as a mother, loves most. We morally disapprove of her deeds; nevertheless, they are aesthetically admirable because they show the capacity of the will to oppose even the strongest natural inclination. Responding to the tragic events from this point of view on human actions, our admiration is directed not at Medea’s deeds but at the freedom of her will, that is, in the end, the human predisposition to morality.73 Paradoxically, Medea gives us an insight into her human destination, or into the way in which sensible nature and rational nature relate in autonomous subjectivity, even though this destination is not realized in her case.74 While the actualization of the capacity for morality or of absolute freedom is morally satisfying and sometimes morally sublime, the demonstration of the possibility of an absolutely free will, although perhaps not morally pleasing, is nonetheless sublime and aesthetically pleasing.75 These considerations bring us back to the role of the reader’s or the beholder’s moral sensibility. Schiller is so aware that the appreciation of works with the kind of character types he likes requires an audience with a certain kind of moral sensibility that in the preface to Die Räuber he expresses his worry about the fact 71 On Schiller’s conception of the tragic character cf. Pinna, Il sublime in scena, 191f. 72 Schiller, Über das Pathetische, 440/61. 73 Sublime actions, we might say, are those “with a distinct capacity to prompt a consciousness of freedom in the observer” (Hughes, Schiller on the Pleasure of Tragedy, 422). 74 Cf. Schiller, Über das Pathetische, 450/68. 75 Schiller wants to have both the freedom of imagination, which he considers crucial to the aesthetic experience of art, and the reference to morality, which elevates the mind and is required by the sublime (cf. Schiller, Über das Pathetische, 447/66). Therefore, he focuses not on morality but on the possibility of morality. Morality presupposes freedom, and Schiller thinks that, while moral constraints are detrimental to the freedom of imagination, under the aspect of its possibility, morality completely agrees with the interest of imagination.

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that the protagonist of the drama may puzzle many of his readers and furthermore mentions his concerns about the advisability of bringing the drama to the stage. Schiller hints at the fact that a certain strength of mind is required not only on the part of the poet but also on that of the reader: on the part of the poet because he may not disguise vice, and on the part of the reader so that he does not suffer “brilliant qualities to beguile him into admiration of what is essentially detestable”. Schiller seems to fear that the drama will achieve the expected aesthetic effect if the reader does not have a certain moral sensibility. Perhaps Schiller is worried that his admiration for the idealist Karl Moor will be mistaken for an endorsement of the robber’s moral view, while his intention was to expose vice “in its innermost workings” and to trace the deepest “workings of the soul”.76 Be this as it may, what he seems to suggest is that a work can take up a morally controversial character or subject simply for the purposes of exploring them and should be evaluated in terms of the quality of this exploration and of the knowledge it possibly yields about moral characters and situations. He further suggests that in the (evaluation of the) achievement of these results, the moral sensibility of the reader or the beholder is involved. This apparently contrasts with the independence thesis. Before assessing the situation, however, I will touch on a further element that is involved in aesthetic response to a work: thematic interpretation. Schiller’s comment on Medea makes clear that there is a connection between thematic interpretation, one’s sympathetic and imaginative response to a tragedy, and the moral appropriation of its content: a sympathetic response to a tragedy is mediated by a conception of how its elements cohere within a thematic interpretation. As Peter Lamarque points out, we would have access to a different kind of moral appropriation under a different interpretation.77 To outline this aspect of Schiller’s conception slightly more precisely, I would like to comment briefly on his observations on a work that he praised highly, Le Cid (1637) by Pierre Corneille. More than character, this tragedy has as its subject action and situations. According to Schiller, due to the circumstances in this drama, a fundamental conflict takes place between praiseworthy feelings or inclinations and a moral imperative. Both of the piece’s central characters – Don Rodrigue and Chimène – earn our esteem because they do their duty in spite of their inclinations and suffer for reasons that make them highly respectable. Commenting on their destiny, Schiller observes that the only thing that can disturb our sympathetic pleasure in this case is “the sheer impossibility of combining the idea of misfortune with someone who could not be more deserving of good fortune”. The disturbing element is a state of affairs that contrasts 76 Schiller, Die Räuber, Vorrede, 405–407. 77 Cf. Lamarque, Tragedy and Moral Value, 248–249.

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with an ideal that recalls the Kantian highest good as a condition of happiness proportionated to virtue.78 Thinking of a feature of ancient tragedy but also of the dissonance in Rodrigue and Chimène’s story, Schiller observes that being blindly subject to fate is […] always humiliating and debilitating for entities that are free and self-determining. […] However, even this resolves itself and, with it, every hint of displeasure disappears at the highest and final stage to which a morally formed people can ascend and to which the art that touches us can elevate itself.79

Schiller seems to suggest that the appearance of subjection to fate dissipates if the tragic events are seen from the point of view of a purposive connection of the whole of nature or of a higher moral order – a point of view that he presumably connects to Kant’s philosophy. The plausibility of his reading of Le Cid is not important, nor is it important whether one agrees with how he conceives of the tragic conflict and its resolution. I have summed up his observations because they recall the obvious fact that tragic drama invites interpretation of its central themes and that how we respond to it depends on how we interpret it. Schiller offers a moral key to the tragic conflict. Presumably, he would say that one who fails to respond appropriately to Le Cid has failed not only imaginatively but also in terms of understanding. Again, whether his reading is correct is not important. What is important here is that Schiller’s observations suggest that he views morality, or moral and perhaps metaphysical or religious vision, as being involved in the aesthetic response. The response to Le Cid or to Medea’s story envisaged by Schiller presupposes an audience that, following Kant, understands human freedom as independence not only from external determination or constraint but also from internal determination by inclinations, desires and passions, and therefore as a capacity to be moved by (moral) reason alone. Furthermore, it seems to presuppose a conception of a moral order of things. What do these considerations on the role of the audience’s moral sensibility and of thematic interpretation suggest with regard to Schiller’s independence thesis and to the question of whether the value of a tragic drama qua art also depends on morality?

5.

On Schiller’s Autonomism

Schiller’s basic outlook is autonomism. As we have seen, he emphasizes that the charm of the sublime and the beautiful in art lies solely in appearance (Schein) and not content. His main argument for the autonomy of art is an appeal to the 78 Cf. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Book II, Chapter 2. 79 Schiller, Über die tragische Kunst, 260–261/9.

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fact that the domain of art is aesthetic semblance, that is, a fictive dimension: “Only inasmuch as it […] expressly renounces all claims to reality, and only inasmuch as it is autonomous (dispenses with all support from reality) is semblance (Schein) aesthetic”.80 While engaging the audience in the represented events, the imagination also creates the distance from them that allows for freedom and aesthetic contemplation. It is worth recalling that if sympathetic suffering is real, it is directed to events that are real in the domain of aesthetic semblance. There cannot be pleasure in sympathetic suffering if fiction becomes reality. In the experience of art, we react to something that imagination has transformed into an object of aesthetic contemplation, and Schiller seems to assume that aesthetic appreciation mainly concerns a tragedy’s form, that is, features such as the structure of the plot, the sensitive way in which a character or a morally complex situation is depicted and explored, the incisiveness of the dialogue, and the like. Because form in tragic art aims at an effect that requires that moral conditions be appreciated, however, Schiller acknowledges that the moral sensibility and moral conceptions of the reader or the beholder are involved in the experience and the aesthetic appreciation of drama.81 Schiller’s point goes beyond the rather obvious observation that it can be difficult to assess whether the depiction of a scene is banal, deep or nuanced without appealing to considerations of (moral) plausibility, “true-to-life” characters, and the like. His more substantial point is the observation that moral sensibility is important in interpreting and reacting appropriately to morally problematic characters or events such as those usually represented in works of tragic art. Supposing this is correct, should we conclude that, contrary to the independence thesis, Schiller allows for an internal relation between moral and aesthetic value? I think that this conclusion would be hasty. Schiller’s conceptual distinction between aesthetic and moral value in our appraisal of tragic art may hold because by acknowledging the role of the moral sensibility of the reader or the beholder in aesthetic appreciation, he is simply making room for the possibility that their moral sensibility will help to reveal the aesthetic value of form without constituting it. One the other hand, Schiller may also accept that one value (indirectly) influences the other with regard to the overall artistic value of a tragedy. Influence may run in both directions. As we saw in the Egmont case, if the expression of the moral disposition is wanting in a drama, the work cannot achieve pathos – that is, it will fail aesthetically. Generalizing, a work may fail 80 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 664/169 “Twenty-Sixth Letter”. 81 It might be argued that, if we need a Kantian conception of the human being, its freedom and the will to understand our experience of tragedy, this experience offers a point of access to that conception that differs from philosophy, showing that tragic art can be a source of knowledge and can have cognitive value.

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aesthetically not only for aesthetic reasons (for example, because it conveys the moral disposition in a shallow way and without subtlety) but also because of the aesthetic consequences of a lack of ethical insight. For example, a character may be badly developed as a result of the poor moral culture of the author or the attitude he adopts towards her. In these cases, moral features at least indirectly impact the aesthetic value of a work.82 Schiller seems to allow for this influence in the statement that the pathetic is aesthetic only insofar as it is sublime. As we have seen, the pathetic sublime is connected to the representation of moral opposition to suffering. The notion that the representation of human suffering in tragic dramas is aesthetically valuable only under this condition apparently suggests that a work’s moral character influences its aesthetic value. Is Schiller then a selfstyled autonomist? Again, to draw this conclusion would be hasty. Schiller’s attraction to morally problematic characters should direct our attention to the fact that sublime actions are carried out not only by people who suffer for doing their duty but also by those who suffer in situations where moral laws and/or legal rules are infringed. That a work has a moral character does not mean that it has morally approvable content. This reply may contain a more insidious objection to the independence thesis, however. Considering Schiller’s appreciation of characters such as Iago, Richard III, Medea, and his Karl Moor, we might wonder whether he is an immoralist. According to one definition, immoralism is the view that “sometimes ethical defects make a work aesthetically better, and ethical merits might make works aesthetically worse”.83 Immoralism clearly contradicts the independence thesis. But is Schiller an immoralist? In answering this question, it should be noted that since there is nothing morally wrong with imagining being bad, the ethical defects of a work cannot consist in bringing someone to do so. The moral flaw comes in when the work endorses a morally flawed perspective. What Schiller writes in the preface to Die Räuber seems to suggest that he is not an immoralist. Admittedly, he sympathizes with Karl Moor, and it may be that the work prescribes that the

82 Admittedly, it may be difficult to specify why a character is not well depicted without appealing to cognitive considerations, and thus it may prove difficult to preserve the autonomist tenet. Furthermore, it may prove difficult to distinguish between direct and indirect influence of the moral features on the aesthetic features of a work. 83 Stecker, Aesthetics, 257. See Stecker, Aesthetics, 263–270 for an interesting discussion of the topic. For a defence of immoralism, see Daniel Jacobson, In Praise of Immoral Art, in: Philosophical Topics 25, 1997, 155–199; Matthew Kieran, Forbidden Knowledge: The Challenge of Immoralism, in: José L. Bermúdez/Sebastian Gardner (eds.), Art and Morality, London 2003, 56–73; Eileen John, Artistic Value and Opportunistic Moralism, in: Matthew Kieran (ed.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006, 332–341.

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reader do the same;84 however, sympathy would seem to be merited here because the reader is offered a complex character and is asked to respond to him in a complex way. The reader is not supposed to forget that he is a criminal.85 Schiller would claim that it is not with vice that the reader sympathizes but with the moral capacity that both bad and good people share.86 He maintains that tragic figures may please us aesthetically, and we may sympathize with them even if we find them morally reproachful because “it is merely the capacity” for morality “that we share” with a morally problematic figure, “and the fact that we see our capacity” in them explains “why we feel our spiritual power elevated”.87 In his view, what is aesthetically engaging is actually the representation of a morally flawed perspective, not its endorsement. That is, what we find engaging is the capacity of a work to represent that perspective such that the reader can imaginatively experience it from the inside and, above all, experience the power of mind and freedom involved in wrongdoing. As we have seen, this kind of sympathy, as well as the feeling it arouses, is nothing more than what Schiller considers the expected aesthetic effect of (modern) dramas on a (post-Kantian) audience. I have recalled that in the preface to Die Räuber, Schiller seems to place value on his work because it provides an understanding of the mechanism of vice. He suggests a similarity between the audience’s response to Karl Moor and to Richard III. Both characters arouse in the audience a complex feeling of both love and condemnation. In fact, as Stecker suggests, Shakespeare’s Richard III is an invaluable work if one wants to experience from the inside what it is like to be a really bad person.88 In this work, as in many others, evil and vice are vividly represented without being endorsed, and we value them because they enable us to sympathetically engage with and to understand moral perspectives that we condemn. This does not presuppose immoralism, however, even when, as in the case of Die Räuber, Schiller seems to rely on the attraction of vice, the dramatic value of serious crime, to explore its mechanism and the kind of actions that define the greatness that can also belong to evil. As we have seen, representations of vice and evil, like depictions of virtue, are aesthetically valuable in his eyes only insofar as they evoke our independence from natural laws. If he is neither a moralist nor an 84 Cf. the analysis of the “charisma of criminal” in Gail Kathleen Hart’s, Friedrich Schiller: Crime, Aesthetics, and the Poetics of Punishment, Cranbury 2005, 59–67. 85 I make use here of a point made by Stecker (cf. Stecker, Aesthetics, 267–268). 86 As far as the poet’s interest is concerned, Schiller writes, “it makes no difference if he intends to take his heroes from the class of pernicious or of good character, since the very measure of power required for good can quite often, for that reason, be demanded in something evil. When we make aesthetic judgments, we focus far more on power than on its orientation and far more on freedom than on lawfulness” (Schiller, Über das Pathetische, 450/67–68). 87 Schiller, Über das Pathetische, 447–448/66. To use an expression by Hughes, the revelation of human freedom is “multiply instantiable” (Hughes, Schiller on the Pleasure of Tragedy, 428). 88 Cf. Stecker, Aesthetics, 266.

Schiller on the Artistic Value of Tragedy

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immoralist, are we then justified to conclude that he is an autonomist? I suggest that if he really is an autonomist, he is surely not a radical one.

6.

Conclusion

In this paper, I have attempted to make sense of two apparently contradictory statements voiced by Schiller. On the one hand, he claims that art is autonomous and should be evaluated without letting the imaginative and moral dimensions blur into one another; on the other hand, he maintains that, in order to perfectly attain the pleasure that is its true aim, art must find its way through morality. In claiming this, Schiller does not mean that art should have morally approvable content. In fact, he maintains that to demand moral purposefulness in aesthetic things and drive imagination from its own legitimate domain is “an obvious confounding of boundaries”.89 Schiller grounds the autonomy of art (and of aesthetic judgment) on the consideration that the domain of art is that of semblance. According to him, the aim of tragic drama is not to tell the truth, or to teach history or impart moral lessons, but to engage us imaginatively in order to arouse tragic pleasure. Even when tragic dramas deal with historical events, as in his Wallenstein (1798–1799) or Maria Stuart (1799), those events are fictionalized; that is, they are presented in a way that invites an imaginative response rather than a concern for historical truth, knowledge of facts or moral principles. We have nonetheless seen that, while rejecting the notion that there is a direct relationship between moral content and aesthetic value, Schiller envisages the possibility of a work’s being aesthetically defective due to moral considerations of a certain sort. If this is correct, it seems that we would be justified in considering him a moderate autonomist – an autonomist who, while conceiving of the value of an artwork primarily in aesthetic terms, allows for (aspects of) its moral character to indirectly influence its artistic value. This conclusion may also be supported by the fact that Schiller allows for interaction between moral (and cognitive) value and aesthetic value in the appraisal of tragic dramas. He observes that the representation of painful events and of moral resistance to suffering and the exploration of morally problematic characters or situations in tragedy are aesthetically valuable insofar as they confront us as sublime. That they confront us as sublime, however, depends not only on the aesthetic quality of the poetic representation of characters and events that give expression to a moral disposition or capacity for morality but also on the audience’s moral sensibility, which plays a role, if not in constituting that aesthetic quality, then surely in revealing it. 89 Schiller, Über das Pathetische, 451/68–69.

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But why not consider Schiller a moderate moralist?90 The reason we should reject this option is that there remains for him a clear-cut distinction between moral and aesthetic value, or better, between ethical and artistic evaluation. Schiller stresses that what is aesthetically valuable is how tragic content is represented; the aesthetic value of a tragedy depends on form, that is, on the poetic character of the representation. I have suggested that this does not prevent him from making room for the possibility that moral or cognitive value is part of the overall artistic value of a tragic drama, at least inasmuch as those values partly depend on the aesthetic properties of the form or the structure of the work.91 Although the moral value of a tragedy is obviously connected to its content and to the moral insights it offers, Schiller seems to suggest that it becomes part of its value as art only when we have access to those insights through imaginative involvement in the imaginary world of the drama. As we have seen, this involvement is deeply connected to its form, to the aesthetic quality of the poetic representation: our response to tragic characters or events is a response to them as represented in a dramatic context. Perhaps Schiller overemphasizes the aesthetic role of form and is too optimistic about the possibility of clearly distinguishing form and content. The dividing line between form and content is sometimes so unclear as to make doubtful whether aesthetic value can really be defined, as he seems to assume, in terms of formal values. His autonomism is probably better defended in elaborating – as he partly does in Über das Pathetische – on what counts as making an aesthetic judgment as opposed to making a moral judgment or on what counts as having an aesthetic experience as distinct from having a moral experience. As for art, the point is not only that art includes more than aesthetic value. Aesthetic value may actually be crucial, and it may be implicated in or be the condition of a work possessing other kinds of value, such as moral or cognitive value. As Schiller seems to acknowledge, however, the reverse cannot be excluded; that is, it cannot be excluded that a lack of moral insight or cognitive naivety impacts the development of content and therefore the aesthetic value of a work. This may make it tricky to defend his autonomism, but the difficulty is better understood as a sign not that his autonomism is flawed but of the complexity of the relations between the values that make good art so attractive to us. 90 Roughly, “moderate moralism” is the view that ethical defects (or merits) are sometimes aesthetic defects (or merits). It is defended in Noël Carroll, Moderate Moralism, in: British Journal of Aesthetics 36, 1996, 223–237. 91 Furthermore, it does not prevent him from accepting that works of art can have moral effects. In Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst, he observes that “taste pardons far less than morality and its tribunal is stronger because an aesthetic object is also responsible for subsidiary ideas that are activated in us at its instigation” (Schiller, Theoretische Schriften, 455–456).

Ralf Gisinger

Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre

1.

Einleitung

Wenige Tage nach der Fertigstellung des Faust II und somit auch wenige Wochen vor seinem Tod bemerkte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in einem Gespräch mit Frédéric Soret (1795–1865): „Mon œuvre est celle d’un être collectif et elle porte le nom de Goethe“.1 Dieser Ausspruch Goethes so kurze Zeit vor seinem Tod und im Wissen um die Beendigung seines Opus Magnum Faust, welches ihn über sechs Jahrzehnte begleitet und beschäftigt hat, soll als ein Einsatzpunkt meiner archäologischen Unternehmung fungieren. Archäologisch insofern, als es gelingen soll, Elemente von Kants Philosophie in der Faust-Dichtung freizulegen und aufzuspüren, ohne Goethe oder den Faust in seiner Gesamtheit mit Kants Philosophie oder deren zentralen Anliegen identifizieren zu wollen. Es gilt also in dem, was Goethe allzu bescheiden „être collectif“ nennt – ein Kollektivwesen, das er „nur“ mit seiner Signatur versehen habe – den spezifisch Kantischen Einfluss zu entdecken und offenzulegen. In Anbetracht der vielen disparaten Einwirkungen auf Goethes Dichtung und Denken erscheint es nicht allzu einfach zu unterscheiden, welche Gedanken und Motive Goethe wirklich von Kant bezog oder diesem verdankte und was sich als eine Art Zeitgeist für das Ende des 18. beziehungsweise den Anfang des 19. Jahrhunderts in Weimar bestimmen lässt, welcher wiederum natürlich stark von Kant geprägt und inspiriert war. Zu berücksichtigen gilt, dass Goethe bis 1788 Kants Philosophie vornehmlich aus zweiter Hand begegnete, was neben seinen eigenen autobiographischen Schilderungen etwa ein Brief von Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) aus dem Jahre 1785 nahelegt,2 und wohl 1 Johann Wolfgang von Goethe, zit. n. Albrecht Schöne, Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare, Frankfurt am Main 2003, 27: „Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und es trägt den Namen von Goethe.“ [Übers. RG]. 2 Am 13./14. Dezember 1785 schreibt Jacobi an Goethe über sein anmaßendes Vorhaben, den Kern von Kants Denken, welcher auch Kant selbst bislang verborgen geblieben sei, zu entblößen. Des Weiteren berichtet Jacobi, Kant habe sein Buch Über die Lehre des Spinozas

78

Ralf Gisinger

erst 1788/89 mit einer eigenen systematischen Lektüre und Aufarbeitung von Kants System begann.3 Selbstverständlich war Goethe auch später nicht von anderen Kant-Interpretationen unberührt und auch (oder gerade) die eigene Beschäftigung mit Kants Konvoluten schützte ihn vor partiellen Missverständnissen nicht. Um das berühmte Diktum von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) über die Philosophie zu adaptieren, ließe sich die Ausgangslage wie folgt zusammenfassen: Nicht nur Philosophie, auch Dichtung ist „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“.4 Aus diesem Grund können zwar sowohl in Goethes Weltanschauung, als auch in seiner Dichtung Elemente von Kants Philosophie nachgewiesen werden, jedoch erscheint es mir wichtig und relevant, genau zu bestimmen, was Goethe bei Kant wirklich gelesen und für sein Denken aufgenommen hat. Ein Zeugnis Goethes, welches sowohl seine tiefe Wertschätzung für Kant ausdrückt, als auch dessen enorme Wirkkraft unterstreicht, findet sich in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann (1792–1854) vom 11. April 1827: Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philosophen er für den vorzüglichsten halte. ‚Kant‘, sagte er, ‚ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat, und die in unsere deutsche Kultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt brauchen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, besitzen Sie schon.‘5

Hiermit lässt sich illustrieren, dass Goethe die grundlegende Verwobenheit von Kants Philosophie mit künstlerischen oder wissenschaftlichen Erzeugnissen oder, allgemeiner gesprochen, mit der Denkweise seiner Epoche anerkannte, die im Folgenden auch für Goethes eigenes Werk zu berücksichtigen ist. Im Allgemeinen besteht die Gefahr der Zusammenführung des Philosophen mit dem Dichter darin, die Welten, Figuren und Handlungen, die die Dichtung vorstellt, dem Autor persönlich zuzuweisen und gleichsam unterzuschieben. Es bleibt ein großer hermeneutischer und auch spekulativer Akt, die Weltanschauungen des Dichters über seine Werke feststellen und eingrenzen zu wollen, weshalb Vorsicht geboten ist. Allerdings soll es auch nicht das Ziel sein, Goethes gelesen und für gut befunden. Eine Antwort Goethes auf diesen Brief ist aber nicht bekannt oder erhalten. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi an Johann Wolfgang von Goethe, Brief Nr. 202 vom 13./14. Dezember 1785, in: Karl-Heinz Hahn (Hg.), Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Bd. 1: 1764–1795, Weimar 1980, 104–105. 3 Vgl. Karl Vorländer, Kant, Schiller, Goethe. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 1907, 125–156. 4 Hegel formuliert in der „Einleitung“ in die Rechtsphilosophie: „Philosophie [ist] ihre Zeit in Gedanken erfaßt“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Derselbe, Werke, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt am Main 1979, 26. 5 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (21 in 26 Bänden), MA (Münchner Ausgabe), hg. v. Karl Richter, Bd. 19, München/Wien 1986, 224.

Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre

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Absichten hinreichend und erschöpfend zu bestimmen oder ihm „Kantisches Denken“ nachzuweisen (so wie viele versucht haben, Goethe und Kant geistesgeschichtlich klar zu trennen, etwa Simmel6 oder Gadamer7), sondern einerseits mögliche Verbindungslinien freizulegen und andererseits Elemente von Kants Philosophie bei Goethe herauszudestillieren. Meine These ist, dass Goethes uns bekannte und sehr intensive Beschäftigung mit Kants Schriften (insbesondere den Kritiken) nicht zufällig mit seiner Wiederaufnahme des Faust-Dramas und der Überarbeitung des Faust-Stoffes koinzidiert. Die hinzukommenden Teile weisen im weiteren Sinne eine thematische Verbindung zu Kants Schriften auf, die Goethe studiert hat, was sich auch insbesondere durch Goethes Unterstreichungen und Anmerkungen in seinen eigenen erhaltenen Exemplaren der Kritiken zeigen lässt. Die nachfolgenden Überlegungen stützen sich somit vornehmlich auf drei Elemente: 1. Goethes Bezugnahmen in Briefen und anderen Werken auf Kant: Durch Goethes eigene Zeugnisse und durch Zitate lässt sich der bedeutende Einfluss von Kants Philosophie auf ihn bestimmen. 2. Das Faust-Drama als Text (Frühe Fassung, Faust I, Faust II, Skizzen und Paralipomena). 3. Goethes Anstreichungen in seinen Ausgaben der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft. In einer Zusammenführung dieser 3 Momente soll eine Skizze konstruiert werden, wie diese Begegnung Goethes mit Kants Kritiken in den Faust eingeflossen sein könnte. Dabei rücken insbesondere die Wetten als rahmende Struktur der Faust-Dichtung in den Fokus, um davon ausgehend vornehmlich den „Zweiten Teil“ der Kritik der Urteilskraft, die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ mit dem Faust in Verbindung zu bringen. So wird versucht zu zeigen, dass dem Faust am Ende des Zweiten Teils durch die Besinnung auf die eigene Freiheit in einem Kantischen Sinne die Wendung zum Moralisch-Praktischen gelingt. Es sind Spuren von Texten und Ideen Kants, die im Faust auf diese Weise verfolgt und nachgezeichnet werden und die eine mögliche Lektüre aus dieser Perspektive zulassen. So umfangreich und nahezu unüberblickbar sich die Forschungslage um Goethe und den Faust sowie auch um Kant und dessen Philosophie gestaltet, so singulär nimmt sich das Zusammendenken dieser beiden geistesgeschichtlich so herausragenden Persönlichkeiten an. Die Aufgabe, Kant und Goethe in ihrer 6 Vgl. Georg Simmel, Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung, in: Derselbe, Gesamtausgabe in 24 Bänden, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 10, hg. v. Michael Behr et al., Frankfurt 1995 (Erstausgabe 1906/1916), 119–166. 7 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Goethe und die Philosophie, Leipzig 1947, 28.

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Ralf Gisinger

Beziehung zueinander zu untersuchen (was sich auf die Wirkung von Kant auf Goethe beschränken muss), wurde vor allem in frühen Werken von Karl Vorländer, Georg Simmel, Ernst Cassirer, Jonas Cohn, Gabriele Rabel und Rudolf Steiner geleistet, neuere Arbeiten haben etwa Géza von Molnár und Gerhard Kuhnke vorgelegt.8 Im dezidierten Hinblick auf den Faust verkleinert sich das Feld nochmals erheblich, vor allem sind dabei die Forschungsarbeiten Géza von Molnárs zu nennen,9 der insbesondere die Anstreichungen Goethes in seinen Exemplaren der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft erstmals veröffentlicht hat und diese in seine Analyse miteinbezieht.10

2.

Goethes Beschäftigung mit Kant im Kontext der Entstehung der ‚Faust‘-Dichtung

Die Prämissen: Einer Durchführung dieses Programms obliegt es, die Entstehungsgeschichte des Faust minutiös aufzugliedern. Es ist zu berücksichtigen, dass sich relativ präzise festlegen lässt, wann Goethe erste fremdvermittelte Eindrücke von Kants Philosophie, etwa von Johann Gottfried Herder (1744– 1803) und Friedrich Heinrich Jacobi, bekommen hat und in welchem Zeitraum er mit seinen expliziten Kant-Studien begann. Somit lassen sich sowohl Faust. Frühe Fassung (auch als Urfaust bezeichnet), der 1775, also bevor Kant als Vertreter einer neuen, sich als Vernunftkritik präsentierenden Philosophie in Erscheinung trat, fertiggestellt wurde, als auch Faust. Ein Fragment, welches noch vor Goethes Rückkehr von seiner Italienreise beendet (1788) und 1790 gedruckt wurde, nicht für die Einwirkung von Kants Philosophie heranziehen. Was diese 8 Vgl. Ernst Cassirer, Goethe and the Kantian Philosophy, in: Derselbe, Rousseau, Kant, Goethe. Two Essays, Princeton 1963, 61–97; Jonas Cohn, Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. Schillers philosophischer Einfluss auf Goethe, in: Hans Vaihinger/Bruno Bauch (Hg.), Schiller als Philosoph und seine Beziehungen zu Kant, Berlin 1905; Gabriele Rabel, Goethe und Kant, Wien 1927; Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, Dornach 1979; Gerhard Kuhnke, Goethes Wege zu Kant, Frankfurt am Main 2011. 9 Vgl. Géza von Molnár, Goethes Kantstudien. Eine Zusammenstellung nach Eintragungen in seinen Handexemplaren der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ und der ‚Kritik der Urteilskraft‘, Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 64, Weimar 1994. 10 Eine kleine Monographie von Hermann Baum stellt zwar einen Konnex zwischen Kant und dem Faust her, integriert aber noch nicht diese primären Quellen, die tiefere Einblicke in Goethes Kant-Lektüre gewähren. Vgl. Hermann Baum, Kants ‚System‘ und Goethes ‚Faust‘, Hamburg 1992. Molnárs erstmalige Veröffentlichung von Goethes Unterstreichungen in seinem Exemplar der Kritik der Urteilskraft erfolgte 1984, wurde von Baum aber entweder nicht berücksichtigt oder als nicht relevant für seine Studie betrachtet. Vgl. Géza von Molnár, Goethes Studium der Kritik der Urteilskraft: Eine Zusammenstellung nach den Eintragungen in seinem Handexemplar, in: Goethe Yearbook 2, 1984, 137–222.

Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre

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klare Abgrenzung ermöglicht, ist ein konzentrierter und klar abgesteckter Untersuchungskorpus, der in den Erweiterungen, Hinzufügungen und Paralipomena besteht, die Goethe zwischen 1794 und 1807, der Fertigstellung und Drucklegung von Faust. Der Tragödie erster Teil, unternommen hat. Auch die Grundrisse des zweiten Faust-Teils lassen sich für diese Zeitspanne bestimmen, obzwar der Zweite Teil in seiner endgültigen Ausführung erst einer intensiven Arbeitsphase am Ende von Goethes Leben entsprang. So lag eine Strukturbeschreibung für den gesamten Faust als Schema schon 1797 vor.11 Im Jahre 1816 entstand eine Inhaltsangabe des zweiten Faust-Teils für Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit,12 die allerdings unveröffentlicht blieb, da es Eckermann gelang, Goethe zur Wiederaufnahme der Faust-Dichtung zu bewegen, mit welcher er sich vor allem in den Jahren 1825 bis kurz vor seinem Tod 1832 beschäftigte und die er auch vollendete.13 In der Zeit nach der Fertigstellung von Faust. Ein Fragment, also 1788/89, begann Goethes gründliches Kant-Studium, welches vor allem durch die Begegnung Goethes mit Friedrich Schiller (1759– 1805) im Jahre 1794 intensiviert wurde. Dieses Zusammentreffen titulierte Goethe 1817 retrospektiv als „Glückliches Ereignis“, da es den Beginn eines regen Austausches der beiden Dichter markierte.14 Diese Konvergenz mit Schiller wird durch eine Notiz Goethes in seinen Jahresheften von 1795 affirmiert und beleuchtet außerdem die sich verändernde Beziehung zu Herder, was nicht zuletzt Goethes Verhältnis zu Kant mitbeeinflusste: Herder fühlt sich von einiger Entfernung, die sich nach und nach hervorthut, betroffen, ohne daß dem daraus entstehenden Mißgefühl wäre zu helfen gewesen. Seine Abneigung gegen die Kantische Philosophie und daher auch gegen die Akademie Jena hatte sich immer gesteigert, während ich mit beyden durch das Verhältniß zu Schiller immermehr zusammenwuchs.15

11 Goethe notiert sich am 23. Juni 1797 in seinem Tagebuch: „Ausführliches Schema zum Faust.“ Johann Wolfgang von Goethe, Tagebuch vom 23. Juni 1797, Nr. 389, in: Derselbe, Sämtliche Werke. Briefe Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, hg. v. Karl Eibl, II. Abteilung, Bd. 4 (31): Johann Wolfgang Goethe mit Schiller, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Teil 1 vom 24. Juni 1794 bis zum 31. Dezember 1799, Frankfurt am Main 1998, 356. 12 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Bericht für ‚Dichtung und Wahrheit‘, Paralipomena H P63, in: Albrecht Schöne, Johann Wolfgang Goethe. Faust. Texte, Frankfurt am Main 2003, 593–596. 13 Schöne vermutet, dass der 1816 67-jährige Goethe bei der Erstellung dieses Schemas für den 2. Teil des Faust nicht mehr mit dessen Fertigstellung rechnete. Vgl. Schöne, Goethe Faust. Texte, 786. 14 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Glückliches Ereignis, in: Derselbe, Sämtliche Werke, MA 12, Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden, München 1989, 86–90. 15 Johann Wolfgang von Goethe, Tag- und Jahreshefte, hg. v. Irmtraut Schmid, in: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, MA 17, Frankfurt am Main 1994, 50.

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In weiterer Folge soll nun die stetige Annäherung Goethes an die Schriften Kants ab 1785 zusammengefasst werden, um die bekannten Referenzen zum Königsberger Philosophen vorzustellen und vorläufig zumindest zeitlich in einen Zusammenhang mit der Entstehung des Faust zu setzen. Zur Chronologie: Die Szenen des Faust. Frühe Fassung entwickelte Goethe kontinuierlich ab ca. 1773 bis etwa um 1775 und widmete sich dem Faust-Stoff erst wieder ab 1786 für die achtbändige Ausgabe seiner Schriften für den Leipziger Verleger Georg Joachim Göschen (1752–1822),16 welcher dann als Faust. Ein Fragment 1790 erscheinen sollte. Goethe beschäftigte sich in dieser Epoche eher sporadisch mit philosophischen Schriften, wobei Kant noch völlig außerhalb seines Horizontes angesiedelt war, jedoch entwickelte er vornehmlich zwischen 1784 und 1786 ein reges Interesse an Philosophie und las etwa Jacobi, Baruch de Spinoza (1632–1677) und Herder. Die enge Beziehung zu Herder und die damit verbundene Übereinstimmung mit seiner Philosophie war mit ein Grund für Goethes zunächst distanziertes Verhältnis zu Kant. So gestaltete sich seine Perspektive auf Kants Philosophie wohl bis zur Rückkehr von der Italienreise relativ parallel zu Herder. Goethe beschreibt sein Verhältnis zur Philosophie selbst in der Schrift Einwirkung der neueren Philosophie: Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ, nur die fortdauernde Gegenwirkung womit ich der eindringenden Welt zu widerstehen und sie mir anzueignen genötigt war mußte mich auf eine Methode führen, durch die ich die Meinungen der Philosophen, eben auch als wären es Gegenstände, zu fassen und mich daran auszubilden suchte.17

Es ist davon auszugehen, dass sich Goethe bis zur Rückkehr von der Italienreise nicht näher mit Kant beschäftigte, da etwa keine Erwähnungen in den 2500 bis zu dieser Zeit entstandenen Briefen zu finden sind,18 er aber sehr wohl schon von Kant gehört hatte, was sich in einzelnen Erwähnungen sowie am oben erwähnten Jacobi-Brief von 1785 illustrieren lässt (vgl. Fußnote 2), in dem ihm Jacobi seine Auffassung vom „Kern des Kantschen Denkens“ darlegt. Weder rezipierte Goethe also die frühen Schriften Kants, noch fand er allgemein Nahrung und Bestätigung für sein Denken in der damaligen „neueren“ Philosophie. Goethe selbst erinnert sich an seinen Zugang zur Philosophie als eine Art intuitves Verständnis ohne wirklich fundierte Grundlage. So beschreibt er im Nachhinein, an seine Italienreise zurückdenkend, seinen philosophischen Zustand in Bezug auf Kunsttheorie und Pflanzenmetamorphose noch als „dämmernd“, attestiert 16 Vgl. Schöne, Goethe Faust. Texte, 767. 17 Johann Wolfgang von Goethe, Einwirkung der neueren Philosophie, in: Derselbe, Sämtliche Werke, MA 12, 94–98, 94. 18 Vgl. Vorländer, Kant, Schiller, Goethe, 137.

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sich aber darin doch eine „fruchtbare Dunkelheit“.19 Auch das erste kritische Werk Kants (die Kritik der reinen Vernunft von 1781/1787) konnte, wie Vorländer bemerkt, „diese Dunkelheit in ihm zunächst noch nicht heben.“20 Die ersten distanzierten Begegnungen mit Kant fasst Goethe rückblickend wie folgt zusammen: „Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst erschienen, sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserm geistigen Dasein beitrage.“21 Während Goethes Italienreise 1786–1788 kam es vor allem durch die Berufung von Carl Leonhard Reinhold (1757–1823) an die Universität in Jena zu einer Proliferation und Verbreitung von Kants Schriften in Weimar, mit der sich Goethe nach seiner Rückkehr aus Italien konfrontiert sah. Sowohl aus Goethes autobiographischen Erinnerungen, als auch aus Briefwechseln von Freunden lässt sich so seine erste Berührung mit Kants Werken rekonstruieren. Goethe schien sich ab Ende des Jahres 1788 intensiver mit Kant auseinanderzusetzen, worüber ein Brief von Wieland an Reinhold am 18. Februar 1789 Zeugnis ablegt: „Goethe studiert seit einiger Zeit Kants Kritik usw.“ Gemeint ist hier wohl die Kritik der reinen Vernunft, wie auch Vorländer vermutet.22 Womit Kant für Goethe jedoch endgültig an Wirkungskraft gewann, ist die 1790 erschienene Kritik der Urteilskraft, in der Goethe seine eigenen Positionen wiederfand beziehungsweise diese in sie hineinlegte: Aber – und abermals kehrte ich daher zu der Kantischen Lehre zurück, einzelne Kapitel [der Kritik der reinen Vernunft, Anm. RG] glaubt’ ich vor andern zu verstehen und gewann gar manches zu meinem Hausgebrauch. Nun aber kam die Kritik der Urteilskraft mir zu Handen und dieser bin ich eine höchst frohe Lebensepoche schuldig. Hier sah ich meine disparatesten Beschäftigungen nebeneinander gestellt, Kunst- und Naturerzeugnisse eins behandelt wie das andere, ästhetische und teleologische Urteilskraft erleuchteten sich wechselsweise.23

19 20 21 22 23

Vgl. Goethe, Einwirkung der neueren Philosophie, MA 12, 94. Vorländer, Kant, Schiller, Goethe, 138. Goethe, Einwirkung der neueren Philosophie, MA 12, 94f. Vgl. Vorländer, Kant, Schiller, Goethe, 140. Goethe, Einwirkung der neueren Philosophie, MA 12, 95–96.

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3.

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Goethes Studium der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ und der ‚Kritik der Urteilskraft‘

Goethes reges Interesse an Kant sollte auch nach extensiven Phasen des Studiums der Kritiken nicht versiegen. Mit Schiller verband ihn ab 1794 bis zu dessen Tod 1805 ein intensiver Austausch, in dem nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit Kants Philosophie und Denkweise beständiges Thema sein sollte.24 Obgleich nach Schillers Tod die dezidierte Beschäftigung mit Kant für einige Jahre in den Hintergrund trat, fand Goethe immer wieder zur kritischen Philosophie zurück, so etwa im Jahre 1817: Im Kontext der Veröffentlichungen der Hefte Zur Morphologie versuchte Goethe einerseits eine Rekonstruktion des Kantischen und Schillerschen Einflusses auf sein Denken, was sich in den oben bereits zitierten Aufsätzen Einwirkung der neueren Philosophie und Glückliches Ereignis zeitigte, andererseits wandte er sich auch wieder der Kritik der Urteilskraft zu,25 wobei sein Interesse und seine Faszination wiederum (wie bei seiner ersten Lektüre) dem teleologischen Teil galten, den er auch für seine naturwissenschaftlichen Studien für unerlässlich hielt. Dieser Fokus auf die teleologische Urteilskraft bestätigt sich auch in zwei frühen Briefstellen, zunächst in einem Brief von Goethe an Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) vom 25. Oktober 1790: „Kants Buch hat mich sehr gefreut und mich zu seinen früheren Sachen gelockt. Der teleologische Teil hat mich fast noch mehr als der ästhetische interessiert“,26 des Weiteren in der Korrespondenz zwischen Schiller und dessen Freund und Herausgeber Christian Gottfried Körner (1756–1831): „In der Kritik der teleologischen Urteilskraft hat er [Goethe, Anm. RG] Nahrung für seine Philosophie gefunden“, schreibt Körner an Schiller am 6. Oktober 1790.27 Die kontinuierliche Rolle von Kants Philosophie, insbesondere der Kritik der Urteilskraft, veranschaulicht, dass die Wirkung Kants auf Goethe nicht nur temporär begrenzt, sondern ab ungefähr 1790 bis zum Ende seines Lebens ein stetiger Begleiter und Anknüpfungspunkt geblieben ist. Deshalb lohnt es sich in weiterer Folge, die Lektüre Goethes weiter zu spezifizieren, was glücklicherweise durch das Vorhandensein der Exemplare der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft ermöglicht wird, die Goethe persönlich besaß und in denen er seine Anstreichungen und Kommentare vermerkte. Die erste Einsicht in 24 Für eine ausführliche und chronologische Darstellung der Stellung Kants im Briefwechsel Goethe-Schiller, vgl. Vorländer, Kant, Schiller, Goethe, 157–196. 25 Vgl. Vorländer, Kant, Schiller, Goethe, 219ff. 26 Johann Wolfgang von Goethe an Johann Friedrich Reichardt am 25. Oktober 1790, Brief Nr. 02845, in: Goethes Werke [Sophienausgabe], hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. 4, Goethes Briefe, Bd. 9, Weimar, Oberitalien, Schlesien, Weimar, 18. Juni 1788– 8. August 1792, Weimar 1891, 235–236. 27 Vgl. Vorländer, Kant, Schiller, Goethe, 144.

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dieses Quellenmaterial besorgte Karl Vorländer, die Herausgabe der Faksimiles ist Géza von Molnár zu verdanken.28 Die eminente Bedeutung dieser Anstreichungen lässt sich nicht nur darin ermessen, dass sie uns den Fokus und die Perspektive Goethes erschließen und Einblicke in seine frühe Begegnung mit Kant ermöglichen. Darüber hinaus gibt uns Goethe selbst einen Hinweis, dass er seine Ausgaben der Kritiken auch später immer wieder Re-Lektüren unterzogen hat und verleiht deshalb den Unterstreichungen auch über den Zeitpunkt des Vermerks hinaus Gültigkeit und Aktualität: „Noch erfreuen mich in dem alten Exemplar die Stellen die ich damals anstrich, sowie dergleichen in der Kritik der Vernunft, in welche tiefer einzudringen mir auch zu gelingen schien: denn beide Werke aus einem Geist entsprungen deuten immer eins aufs andere.“29 Wie im Vorigen ausgeführt, muss ein möglicher Einfluss von Kants Philosophie an der Schwelle zwischen dem Fragment und den weiteren Ausarbeitungen Goethes am Faust untersucht werden, was sowohl die hinzukommenden Teile der Tragödie, als auch die Überlegungen und Pläne für den Gesamtaufriss des Werks betrifft. Zwischen dem Fragment und Faust I ist zunächst keineswegs ein klarer Bruch auszumachen. Vielmehr sind es Tendenzen und Elemente, die zumindest auf die Beschäftigung Goethes mit Kants Themen und Schriften hinweisen. Zwar kann Goethe mitnichten als „Kantianer“ bezeichnet werden, dennoch hat er, wie schon gezeigt wurde, Kant studiert. Die in der Goethe-Forschung oft getroffene Unterscheidung bzw. Darstellung von Kant und Goethe als Antipoden ist jedenfalls verfehlt, was seinen Ausgangspunkt auch in der unterstellten Opposition mit Schiller hat, der als orthodoxer Kantianer und profunder Kant-Kenner nur allzu oft einem naturverhafteten Goethe, der dem Spinozismus anhänge, entgegengestellt wird. Obwohl Goethe vor allem in jungen Jahren, aber auch Zeit seines Lebens stark von Spinoza inspiriert war, lässt sich sein allgemein eklektischer Zugang zur Philosophie wohl am besten durch seine eigenen Worte in einem Gespräch mit Eckermann vom 4. Februar 1829 ausdrücken: „Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei erhalten; der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige […].“30 Dabei ging es ihm auch bei Kants Philosophie weder um eine Übernahme der Kantischen Denkweise, noch um eine kritische Abarbeitung, um sich seiner Distanz und Unabhängigkeit zu versichern. Er entwickelte vielmehr ein (einseitig) dialogisches Verhältnis, das sich an Kant orientierte. Goethe lag nicht viel an einer philosophisch korrekten Wiedergabe Kants oder dem erschöpfenden Verständnis von Kants Thesen, sondern es ging ihm oft darum, sein eigenes Denken mit Kant und über Kant hinaus zu finden, so 28 Vgl. Molnár, Goethes Kantstudien, 159–358. 29 Goethe, Einwirkung der neueren Philosophie, MA 12, 96. 30 Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 278.

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manches sich auf seine Weise anzueignen, wozu er auch essentielle Teile zu negieren oder auszulassen bereit war.31 Der Freund Schiller vermittelte Goethe nicht nur Grundzüge von Kants Philosophie, indem er immer wieder die konsequente Reflexion im Hinblick auf Kant von Goethe einforderte, seine Initiative war zudem überaus wichtig für Goethes Wiederaufnahme der Arbeit am Faust-Fragment. Ein Zeugnis für diese Rolle Schillers findet sich etwa im Brief Goethes an Schiller vom 2. Dezember 1794: „Vom Faust kann ich jetzt nichts mitteilen, ich wage nicht das Paket aufzuschnüren das ihn gefangen hält. Ich könnte nicht abschreiben ohne auszuarbeiten und dazu fühle ich mir keinen Mut. Kann mich künftig etwas dazu vermögen; so ist es gewiß Ihre Teilnahme.“32 Doch bevor zur spezifischen Kant-Lektüre Goethes übergegangen wird, sollen noch einige Hinweise zur Entstehungsgeschichte des Faust gegeben werden um darauf aufbauend Kants Spuren im Faust nachgehen zu können.

4.

Die ‚Faust‘-Dichtung

Als methodischer Einsatzpunkt dienen für diese Analyse nun zunächst die Differenzen zwischen dem Urfaust/Faust. Frühe Fassung (1775) beziehungsweise Faust. Ein Fragment (1790) und Faust I (1808). Der Zeitraum zwischen der Fertigstellung von Faust. Ein Fragment und der Erscheinung des Ersten Teils der Tragödie erstreckt sich über 18 Jahre, in die sowohl das beflissene Studium von Kants Schriften, als auch die Freundschaft sowie der Tod Schillers fallen. In dieser Zeitspanne setzt sich Goethe kontinuierlich und systematisch mit den großen Kritiken Kants auseinander und wird auch stets wieder von der Weiterführung und Ausarbeitung des Faust eingeholt, besonders ab 1797 gelangen sie zur konkreten Ausführung, wobei Schiller hierbei eine entscheidende Rolle spielt und, nebenbei bemerkt, auch seine Bitte an den Verleger Johann Friedrich Cotta (1764–1832), Goethe doch ein finanziell außergewöhnliches Angebot zu machen, Früchte trägt.33 Welche Szenen kommen nun aber für den Faust I hinzu und sind damit relevant für diese Untersuchung? Die Szenen, die vollständig neu hinzukommen, sind „Zueignung“, „Vorspiel auf dem Theater“, „Prolog im Himmel“, „Vor dem Tor“, „Studierzimmer I“, „Walpurgisnacht“ und „Walpurgisnachtstraum“. Neue 31 Vgl. Molnár, Goethes Kantstudien, 17. 32 Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller, Brief Nr. 27 vom 2. Dezember 1794, in: Goethe, Sämtliche Werke, MA 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805, München 1990, 42. 33 Briefe von Schiller, Cotta und Goethe vom Dezember 1798 bis April 1799, vgl. Schöne, Goethe Faust. Texte, 777–780.

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Verse fügt Goethe den Szenen „Nacht“ und „Studierzimmer II“ hinzu, des Weiteren werden einzelne Szenen umgestellt und in Prosa gehaltene Textabschnitte in Versform gebracht.34 Wie gezeigt werden soll, suggerieren einige der hinzugekommenen Stellen (vornehmlich der „Prolog im Himmel“ und „Studierzimmer II“) einen Einfluss von Kant (durch Vermittlung Schillers), unter dessen Ägide nun vermehrt Elemente der Erkenntnisproblematik, Moral und Freiheit eingeschlossen werden.35 Im Folgenden wird versucht, vor allem die in dieser Form neu hinzugekommenen „Wetten“ aus den Szenen „Prolog im Himmel“ und „Studierzimmer II“ sowie, damit verknüpft, das Ende der gesamten Tragödie im Hinblick auf Goethes Kant-Rezeption zu untersuchen.

5.

Die Wetten im ‚Faust‘ als Widerhall von Goethes Kant-Lektüre

Eine ironische Äußerung Goethes veranschaulicht die Verortung des Faust an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Dichtung und illustriert gleichzeitig Goethes Verhältnis zur Philosophie. Als Antwort auf Schillers Ankündigung, die Philosophen in Jena seien schon „ganz unaussprechlich gespannt“ auf den Faust, antwortet Goethe, dem keine so rechten Fortschritte gelingen wollten, am 18. März 1801 lakonisch: „Da die Philosophen auf diese Arbeit neugierig sind, habe ich mich freilich zusammen zu nehmen.“36 Obgleich schon das Aufspüren allgemeiner philosophischer Motive im Faust lohnenswert wäre,37 wird hier die Dichtung stets an Goethes spezifische Kant-Lektüre rückgebunden. Dabei sollen im Folgenden vornehmlich zwei Momente beleuchtet werden, einerseits die Wetten als rahmende Handlungen der ganzen Faust-Dichtung und andererseits, aber durchaus im Zusammenhang, die Bestimmung Fausts als die Bestimmung des Menschen im Kontext der Kantischen Teleologieproblematik. Eine der Hauptveränderungen im Übergang von der Frühen Fassung zum Faust I ist der Einsatz der Wette. Die Wette ist es auch, die weitläufige Kontroversen der Interpretationen generierte und dem Werk eine spannungsgeladene Doppelbödigkeit und Vielschichtigkeit gibt. Vor allem ist sie aber auch in der Lage, nicht nur einen Bogen innerhalb des Ersten Teils, sondern darüber hinaus bis zum Ende des Zweiten Teils zu spannen und somit neben anderen Facetten eine Vereinheitlichung der beiden Faust-Teile zu leisten. Doch von welcher Wette ist die Rede? Einerseits existiert eine Wette zwischen dem Herrn und Mephis34 Vgl. Schöne, Goethe Faust. Kommentare, 71–74. 35 Vgl. Baum, Kants ‚System‘ und Goethes ‚Faust‘, 10. 36 Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller, Brief Nr. 806 vom 18. März 1801, in: Goethe, Sämtliche Werke, MA, 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805, 847. 37 Vgl. Gernot Böhme, Goethes Faust als philosophischer Text, Zug 2005.

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topheles und andererseits zwischen Mephistopheles und Faust, die sich jedoch in ihrer Struktur grundsätzlich voneinander unterscheiden, aber dennoch miteinander zusammenhängen.38 Als zentral gilt gemeinhin die zwischen Faust und Mephistopheles in der Szene Studierzimmer II39 abgeschlossene Wette, welche als „dramatischer Knoten“ oder „dramaturgisches Herzstück“40 in den Deutungen für den Gesamtaufriss zurecht nicht hoch genug eingeschätzt wird. Dennoch rückte in manchen Interpretationen die Frage der gewonnenen oder verlorenen Wette so ins Zentrum, dass die verschiedenen Ebenen, die mit den Wetten für die gesamte Dichtung und deren poetische und philosophische Aspekte ins Spiel kommen, auf die bloße Bestimmung von Sieg oder Niederlage Fausts gegenüber Mephistopheles reduziert wurden. So wurden juristische Gutachten angefertigt41 und mehrstufige Tabellen angelegt, ob Faust die Wette „im Wortsinne und im höheren Sinne“ oder „nicht im Wortsinne aber im höheren Sinne“42 gewonnen oder verloren hat oder schlicht die ganze Wette für ungültig erklärt werden sollte. Durch die Miteinbeziehung beider Wetten lässt sich diese Frage aber transzendieren. Außerdem kann anhand der Wette ein erster möglicher Einsatzpunkt hinsichtlich Kants festgemacht werden, von dem ausgehend sich weitere Interpretationen bezüglich Kantischer Spuren im Faust generieren lassen. Goethe transformiert in seinem Werk den sonst üblichen Pakt mit dem Teufel, der auch im Sagenstoff rund um den historischen Faust als solcher tradiert wurde, zu einer Wette, was schon die Koordinaten des Verhältnisses von Faust zu Mephistopheles verändert und bricht. Faust geht zunächst keinen Pakt ein, vielmehr entzieht er sich, indem er Mephistopheles auf sein Angebot entgegenhält: „Das Drüben kann mich wenig kümmern.“43 Im Vergleich zu einem ordinären Teufelspakt steht Faust dem Werben des Mephistopheles relativ gleichgültig gegenüber, ja er ist sogar gewillt zu wetten, da er nicht nur davon überzeugt ist, nichts aufs Spiel zu setzen, sondern auch, dass Mephistopheles mit irdischen Vergnügungen nicht Fausts Streben beziehungsweise sein Begehren zu stillen in der Lage sei. Fausts Skepsis oder vielmehr seine Sicherheit entspringt seiner Überzeugung, dass der Teufel ihm nichts geben könne,44 was in der Frage kulminiert: „Ward eines Menschen Geist in seinem Streben von deines Gleichen je 38 Vgl. Heinrich Rickert, Die Wetten in Goethes Faust, in: Richard Kroner, Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 10, 1922, 123–161, 132. 39 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, in: Derselbe, Sämtliche Werke, MA 6.1: Weimarer Klassik 1798–1896, München 1986. Hier: Goethe, Faust I, 535–673, Vers 1698ff. Die Verszahlen beziehen sich auf die Münchner Ausgabe und deren Zeilenangaben. 40 Gerrit Brüning, Die Wette in Goethes Faust, in: Goethe Yearbook 17, 2010, 31–54, 31. 41 Vgl. Rickert, Die Wetten in Goethes Faust, 123. 42 Karl Eibl, Zur Wette im Faust, in: Goethe-Jahrbuch 116, 1999, 271–280, 271. 43 Goethe, Faust I, MA 6.1, Vers 1660. 44 Vgl. Goethe, Faust I, MA 6.1, 1675.

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gefasst?“45 In Bezug auf dieses unstillbare Begehren lässt sich natürlich unmittelbar an Spinozas Conatus denken und tatsächlich treffen und manifestieren sich auch in der Wette die disparaten Spinozistischen sowie Kantischen Einflüsse auf Goethe. Géza von Molnár hat in Goethes Exemplar der Kritik der reinen Vernunft in der „Methodenlehre“, den Ausführungen „Über Meinen, Wissen und Glauben“ eine Anstreichung Goethes gefunden, die sich genau auf diesen Status des Wettens bezieht.46 So schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft: „Der gewöhnliche Probierstein: ob etwas bloße Überredung, oder wenigstens subjektive Überzeugung, d.i. festes Glauben sei, was jemand behauptet, ist das Wetten. Öfters spricht jemand seine Sätze mit so zuversichtlichem und unlenkbarem Trotze aus, dass er alle Besorgnis des Irrtums gänzlich abgelegt zu haben scheint. Eine Wette macht ihn stutzig.“47 Das „Wetten“ ist in Goethes Exemplar der Kritik der reinen Vernunft unterstrichen. Diese Überlegungen Kants treffen genau den Kern von Fausts Intentionen und räumen weit verbreitete Missverständnisse über die „Paktszene“ aus. Faust fordert den Mephistopheles zu einer Wette heraus, er hat aus seiner Perspektive nichts zu verlieren, weil er einerseits überzeugt ist, dass die Künste und Angebote des Teufels ihn nicht saturieren können, und er sich andererseits um „das Drüben“ nicht zu kümmern braucht. FAUST Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, So sei es gleich um mich getan! Kannst du mich schmeichelnd je belügen, Daß ich mir selbst gefallen mag, Kannst du mich mit Genuss betrügenDas sei für mich der letzte Tag! Die Wette biet ich! MEPHISTOPHELES Topp! FAUST Und Schlag auf Schlag! Werd ich zum Augenblicke sagen:

45 Goethe, Faust I, MA 6.1, 1676–77. 46 Vgl. Géza von Molnár, „Die Wette biet’ ich“. Der Begriff des Wettens in Goethes ‚Faust‘ und Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, in: Klaus-Detlef Müller et al. (Hg.): Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag, Tübingen 1988, 29–50, 45f. 47 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998. Im Folgenden nach der Paginierung der ersten Auflage 1781 (A) und der zweiten Auflage 1787 (B) zitiert. Hier: A 824/B 852.

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Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! Dann mag die Totenglocke schallen, Dann bist du deines Dienstes frei, Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, Es sei die Zeit für mich vorbei!48

Die Abmachung zwischen Faust und Mephistopheles wird gespalten in die von Faust initiierte Wette, die um den traditionellen Pakt supplementär ergänzt ist.49 Erst in weiterer Folge besteht der Teufel auf den Pakt in Form eines mit Blut unterzeichneten Vertrages. Um zu verstehen, warum Mephistopheles die Bedingungen der Wette mit Faust akzeptiert, muss die erste Wette zwischen Gott und Mephistopheles als der Rahmen verstanden werden, wie er in der Szene „Prolog im Himmel“, dem Beginn des alttestamentarischen Buches Hiob nachempfunden, gesetzt wird. Hier schlägt Mephistopheles die Wette vor, wobei diese von Anfang an aufgrund der Asymmetrie der Wettpartner eine nur scheinbare sein kann und sich deshalb strukturell von der zweiten Wette zwischen Faust und Mephistopheles unterscheidet. Gott lässt sich nicht explizit auf die Wette ein, denn er erteilt Mephistopheles lediglich die Erlaubnis für die Zeit auf Erden seine Verführungskünste einzusetzen. Allerdings kennt Gott schon den Ausgang der Wette,50 er geht also kein Risiko ein. Die Bedingungen der Kontingenz und eingeschränkten Zufälligkeit einer Wette, die sie von einem Vertrag unterscheidet, sind somit nicht erfüllt.51 Da der „Herr“ seinen „Knecht“ Faust für den Zeitraum seines irdischen Lebens dem Mephistopheles überlässt, lässt sich der Prolog im Himmel auch als eine Art Freilassungsakt von Faust interpretieren, der sich, nicht mehr metaphysisch determiniert, „selbst auf die Suche nach der Bestimmung des Menschen machen muß“52 und so emanzipiert wird, wobei dies erst die Bedingung der Möglichkeit seines Handelns in der Freiheit darstellt. In dieser Szene werden die Koordinaten des Verhältnisses von Natur und Freiheit für den weiteren Verlauf der Tragödie ausgelegt. Das faustische „Irren so lang er strebt“,53 das „verworrene Dienen“54 Fausts gehört konstitutiv zur menschlichen Verfasstheit, jedoch, so der 48 49 50 51

Goethe, Faust I, MA 6.1, 1691–1706. Vgl. Rickert, Die Wetten in Goethes Faust, 142ff. Vgl. Rickert, Die Wetten in Goethes Faust, 137. Vgl. Michael Holquist, Gambling with Kant. Faustian Wagers, in: New Literary History 40/1, Baltimore 2009, 63–83, 70. 52 Eibl, Zur Wette im Faust, 275. 53 Goethe, Faust I, MA 6.1, 317. 54 Goethe, Faust I, MA 6.1, 308.

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Herr, sei „ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange […] sich des rechten Weges wohl bewusst“.55 Schiller fasst diese widerstrebenden Momente des Faust in einem Brief an Goethe vom 23. Juni 1797 zusammen: „Die Duplizität der menschlichen Natur und das verunglückte Bestreben, das Göttliche und das Physische im Menschen zu vereinigen, verliert man nicht aus den Augen; und weil die Fabel ins Grelle und Formlose geht und gehen muss, so will man nicht bei dem Gegenstand stille stehen, sondern von ihm zu Ideen geleitet werden.“56 Des Weiteren betont Schiller die Vermengung von philosophischer und poetischer Natur, die im Faust angelegt sei, worin ihm Goethe zustimmt.57 Damit ist die „Doppelnatur“58 des Faust beschrieben, denn dieser fordert, in Mephistopheles’ Worten „Vom Himmel […] die schönsten Sterne, und von der Erde jede höchste Lust“.59

6.

Fausts praktische Wendung zur Freiheit als die Bestimmung des Menschen als Endzweck?

6.1

Grenzbestimmungen zwischen Kant und Faust

Im Vorigen sind also erste Ansätze des Verhältnisses von Natur, Gott und Freiheit ausgelegt, die es nun gilt, mit Fragen nach der Grenze des Erkenntnisvermögens und der Bestimmung des Menschlichen zu vertiefen. Fragen, die sich im Faust stellen und die in der Kritik der reinen Vernunft sowie der Kritik der Urteilskraft auftauchen. Faust kann nicht erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“60 und diese Grenze setzt niemand so klar wie Kant in seiner Erkenntniskritik. Goethe konnte in der Kritik der Urteilskraft und der Kritik der reinen Vernunft eine Bestätigung jenes Erkenntnispessimismus finden, den er seinem Faust in Form einer Verzweiflung am eigenen Forscherstreben in den Mund legte. Bei Kant fand er Nahrung für diese Grenzbestimmungen, wie er im Gespräch mit Eckermann vom 1. September 1829 bezeugt: „Kant hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu

55 Goethe, Faust I, MA 6.1, 328f. 56 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, Brief Nr. 332 vom 23. Juni 1797, in: Goethe, Sämtliche Werke, MA 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805, 360f. 57 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller, Brief Nr. 333 vom 24. Juni 1797, in: Goethe, Sämtliche Werke, MA 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805, 361. 58 Vgl. Rickert, Die Wetten in Goethes Faust, 135. 59 Goethe, Faust I, MA 6.1, 304f. 60 Goethe, Faust I, MA 6.1, 378–379.

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dringen fähig sei, und daß er die unauflöslichen Probleme liegen ließ. Was hat man nicht alles über Unsterblichkeit philosophiert! und wie weit ist man gekommen!“61 Hierbei bezieht sich Goethe offenbar direkt auf die Kritik der reinen Vernunft, wo Kant in den „Paralogismen“ Moses Mendelssohns (1729–1786) „Beweis der Beharrlichkeit der Seele“ widerlegt62 und Unsterblichkeit (neben Freiheit und Gott) als regulative Ideen der reinen Vernunft aus dem Bereich theoretischer Erkenntnis ausschließt, gleichwohl sie als Postulate der praktischen Vernunft wieder eingeführt werden. Besinnt man sich auf das Faustische „was die Welt im Innersten zusammenhält“, so fokussierte sich Goethes Interesse auch in anderen Schriften vornehmlich auf Fragen der Natur und der Naturwissenschaft, besonders auf die inneren Mechanismen und Zweckrelationen der Natur.63 Hinsichtlich eines Zweckbegriffs innerhalb der Natur geht es hierbei einerseits um die Bestimmung des Menschen als Naturwesen und die diesbezügliche Kompatibilität mit der (unterstellten) menschlichen Freiheit, andererseits um die Frage, ob eine Art göttliches Wesen diese Zweckbeziehungen eingerichtet habe oder für deren Zusammenhang garantiere. Auch für die Erforschung dieser Fragen war es Kant, der dem menschlichen Erkenntnisvermögen hier Grenzen setzte und Goethe las und rezipierte diese Stellen zustimmend. In § 68 der Kritik der Urteilskraft legt Kant dar, dass die Teleologie (als Lehre der Zwecke) gemeinhin aus dem Rahmen der Physik herausgenommen und am Übergang zur Theologie verortet wird, da die Natur hinsichtlich ihrer Zweckbeziehungen untersucht wird, die mit dem Verstand nicht greifbar sind.64 Wenn also durch die Teleologie die Natur als Zweckeinheit begriffen wird, so wird die Grenze des Verstandes überstiegen. Außerdem kann den Zweckbeziehungen nur eine der Natur immanente „Absicht“, als ein Begriff der reflektierenden (nicht der bestimmenden) Urteilskraft, jedoch keine dahinterliegende „Absicht“ eines höheren Wesens unterstellt werden. Somit wird mit der Teleologie „eine Art der Kausalität der Natur, nach einer Analogie mit der unsrigen im technischen Gebrauche der Vernunft, bezeichnet“.65 Goethe unterstreicht darauf folgend: „[D]enn nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann“.66 Sein Interesse rührt zwar von der verstandesmäßigen Begrenzung, aber um sich damit doch nicht zu begnügen, sondern stets die Potentialität des Darüber-hinaus zu suchen, wie er autobio61 62 63 64

Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 335. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 413. Vgl. Goethe, Einwirkung der neueren Philosophie, MA 12, 95f. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2001. Hier: § 68, AA 5, 383f. 65 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 68, AA 5, 383. 66 Vgl. Molnár, Goethes Kantstudien, 331.

Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre

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graphisch bezeugt: „Als ich die Kantische Lehre wo nicht zu durchdringen doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, indem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete.“67 Goethe scheint seine Erkenntnisse der Kant-Lektüre über die Grenzen des menschlichen Geistes auch an seine Figur Faust weitergegeben zu haben. Oder um den Faust am Ende seines Lebens sprechen zu lassen: Der Erdenkreis ist mir genug bekannt, Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, Sich über Wolken seinesgleichen dichtet! Er stehe fest und sehe hier sich um; Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen! Was er erkennt, lässt sich ergreifen. Er wandle so den Erdentag entlang; Wenn Geister spuken, geh’ er seinen Gang, Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück, Er, unbefriedigt jeden Augenblick68

In diesem Zitat legt Goethe die Grenzbestimmungen, die er sowohl aus der Kritik der reinen Vernunft als auch aus der Kritik der Urteilskraft aufnimmt, dem Faust in den Mund. Werden von Kant in der „Transzendentalen Dialektik“ die Fehlschlüsse der reinen Vernunft in Bezug auf die transzendentalen Ideen anhand der Paralogismen, Antinomien und dem Ideal der reinen Vernunft aufgezeigt, woraus notwendig ein bloß regulativer Gebrauch der Ideen (Seele, Welt, Gott) resultiert, so leistet eine Kritik der reinen Vernunft in der „Methodenlehre“ eine Bestimmung der Möglichkeiten sowie der Grenzen der Erkenntnis.69 Der reinen Vernunft wohnt das Potential und das Bestreben inne, „sich über Wolken sei-

67 Johann Wolfgang von Goethe, Anschauende Urteilskraft, in: Derselbe, Sämtliche Werke, MA 12, 98. 68 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, MA 18.1: Letzte Jahre 1827–1832, München 1997. Hier: Goethe, Faust II, 103–351, Vers 11441–11452. 69 „[N]ämlich nicht die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst, nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkenntnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen; welches nicht die Zensur, sondern Kritik der Vernunft ist, wodurch nicht bloß Schranken, sondern die bestimmten Grenzen derselben, nicht bloß Unwissenheit an einem oder anderen Teil, sondern in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art, und zwar nicht etwa nur vermutet, sondern aus Prinzipien bewiesen wird.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 761/B 789.

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nesgleichen“ zu dichten und erst ihr kritischer und regulativer Gebrauch ermöglicht Formen des begrenzten und gesicherten Erkenntnisfortschritts. Die Bestimmung des Menschen und seiner Grenzen der Erkenntnis und des Wissens wird Faust also am Ende seines Lebens bewusst, ohne jedoch in die anfängliche Verzweiflung des Ersten Teils zurückzufallen. Vielmehr lässt sich aus obigem Zitat eine Akzeptanz, ja eine Bejahung der Kantischen Begrenzung des „menschlichen Geists“ herauslesen. Faust muss nicht mehr nach einem metaphysischen Prinzip suchen, das „die Welt im Innersten zusammenhält“, sondern erkennt die Beschränkungen des Verstandes, der Vernunft und der eigenen Erfahrung, die den Rahmen seiner Existenz und somit auch seines weiteren Strebens setzen.

6.2

Fausts Ende als Kants Bestimmung des Menschen als Endzweck

Doch wie lässt sich nun der weitere Verlauf des Faust mit Kantischen Begriffen deuten? Es soll nicht suggeriert werden, Goethe habe Kant gelesen und infolgedessen den Faust umgeschrieben beziehungsweise vollendet. Vielmehr werde ich im Folgenden versuchen, das Ende des Faust II mit Kants Positionen und Überlegungen, mit denen sich Goethe intensiv beschäftigt hat, zu konfrontieren. So werden mögliche Einflüsse ebenso offengelegt, wie Interpretationswege aus einer Kantischen Perspektive eröffnet. Schon am 26. Juni 1797 schreibt Schiller: „[E]s gehörte sich meines Bedünkens, daß der Faust in das handelnde Leben geführt würde […]“.70 Fausts Streben nach dem Höchsten bleibt in beiden Teilen eine bloße Rastlosigkeit, die in einer stetigen Bedingtheit durch das Sinnliche gefangen bleibt. Nach Kant ist jedoch das einzig Unbedingte, Übersinnliche im Menschen die Freiheit im Praktischen,71 was Faust zunächst nicht zu erreichen in der Lage ist. Für Kant lässt sich etwa bloße Glückseligkeit nicht als letzter Naturzweck bestimmen (womit sich eine Analogie zu Fausts Schicksal herstellen ließe) – sie bleibt als solche nie erreichbar, denn „seine [des Menschen, Anm.] Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze oder Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden“.72 Dies ist genau die Grundfrage, an der die Wette zwischen Faust und Mephistopheles ansetzte. Womit aber Goethe und damit Faust die alles entscheidende Wendung auch im Kantischen Sinne gelingt, ist das Ende des zweiten Faust-Teils, der in dieser Form kurz vor Goethes Tod beendet wurde und auf Anweisung des Autors erst 70 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, Brief Nr. 334 vom 26. Juni 1797 Nr. 334, in: Goethe, Sämtliche Werke, MA 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805, 363. 71 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 84, AA 5, 435. 72 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 83, AA 5, 430.

Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre

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posthum erscheinen durfte. Faust, schuldbeladen73 und erblindet von der Sorge, spricht seine performativ aufgeladenen letzten Worte, die seinen Tod bedeuten werden.74 Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, Verpestet alles schon Errungene; Den faulen Pfuhl auch abzuziehn, Das Letzte wär’ das Höchsterrungene. Eröffn’ ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde Sogleich behaglich auf der neusten Erde, Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft, Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft. Im Innern hier ein paradiesisch Land, Da rase draußen Flut bis auf zum Rand, Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen, Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muss. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Äonen untergehn. – Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.75

Diese letzten Worte Fausts lassen sich im Hinblick auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen bei Kant in einen Zusammenhang mit der Frage nach dem Endzweck der Natur stellen, was Kant im § 83 der Kritik der Urteilskraft unternimmt. Da der Mensch unfähig sei, seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen und dazu zusammenzustimmen […], bleibt also von allen seinen Zwecken in der Natur nur die formale, subjektive Bedin73 Vgl. Rickert, Die Wetten in Goethes Faust, 151. 74 Auch hierzu gibt es durchaus kontroverse Standpunkte verschiedener Interpretationen: Der hier vertretenen Auffassung, Faust finde durch seinen Sprechakt den Tod, stehen durchaus auch Positionen entgegen, die einen altersbedingt „natürlichen“ Tod Fausts postulieren. Vgl. Ada M. Klett, Der Streit um ‚Faust II‘ seit 1900, Jena 1939, 68. 75 Goethe, Faust II, MA 18.1, 11559–11586.

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gung, nämlich der Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen, und (unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung) die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen, als Mittel, zu gebrauchen übrig, was die Natur, in Absicht auf den Endzweck, der außer ihr liegt, ausrichten, und welches also als ihr letzter Zweck angesehen werden kann.76

Obzwar der Mensch Kant zufolge durch keinen letzten objektiven Zweck bestimmt werden kann (wie etwa in anderen Konzeptionen durch Glückseligkeit), eröffnet sich doch ein solcher letzter Zweck aus der formal-subjektiven Bedingung der Möglichkeit, sich selbst Zwecke zu setzen. Hierauf basiert die (menschliche) Freiheit und es wird gleichsam eine Trennung von Natur und Freiheit hinsichtlich der Zweckbestimmung eingeführt. Faust besinnt sich also der Bedingung der Möglichkeit sich selbst Zwecke zu setzen, was sich etwa mit den Versen „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss“77 illustrieren lässt. Kant leitet von einem Zweckbegriff, der der reflektierenden Urteilskraft im Hinblick auf die Möglichkeit einer zweckhaften Ordnung der Natur entspringt (Kapitel 6.1), über zu einem Zweckbegriff der reinen praktischen Vernunft, der im Reich der Freiheit angesiedelt ist.78 Ein Endzweck ist nicht als Zweck innerhalb der Natur möglich, da er sodann stets bedingt wäre, in der Ordnung der Zwecke jedoch unbedingt sein muss.79 Somit unternimmt Kant die Bestimmung des Menschen innerhalb des Komplexes von Natur und Freiheit: Nun haben wir eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Kausalität teleologisch, d. i. auf Zwecke gerichtet und doch zugleich so beschaffen ist, dass das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig, vorgestellt wird. Das Wesen dieser Art ist der Mensch, aber als Noumenon betrachtet; das einzige Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das Gesetz der Kausalität, samt dem Objekte derselben, welches es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt), von seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen können.80

Der Endzweck kann jedoch nur als ein Begriff der praktischen Vernunft nach moralischen Gesetzen vorgestellt werden. Hier liefert Kant eine Charakterisierung des Menschen, der (als vernünftiges Wesen) im Rahmen der Zweckbeziehungen der Natur als Endzweck vorgestellt werden könne, jedoch nur hinsichtlich seiner moralisch-praktischen Beschaffenheit.

76 77 78 79 80

Kant, Kritik der Urteilskraft, § 83, AA 5, 431. Goethe, Faust II, MA 18.1, 11575–11576. Vgl. Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, 484. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 84, AA 5, 435. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 84, AA 5, 435.

Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre

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Die Freiheit wird von Faust am Ende der Tragödie als Grundprinzip des Lebens anerkannt und darüber hinaus eröffnet sich ihm die Aussicht, Anderen („Millionen“) diese Freiräume überhaupt erst zu schaffen, womit eine moralische Komponente mit ins Spiel kommt, da, wie wir von Kant wissen, Freiheit überhaupt erst Bedingung der Möglichkeit von Moralität darstellt. Und somit lässt sich mit Kant auch das gesamte Faust-Drama auf diesen „höchsten Augenblick“ hin entwickeln: „Von dem Menschen nun […] als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich.“81 Es ist kein Zufall, dass sich Faust just infolge seiner Erblindung auf seine Vernunft und selbstbestimmte Freiheit besinnt. Wobei hier das „wahre Sehen“ trotz oder gar wegen der Blindheit (ganz dem mythologischen Teiresias nachempfunden) im Sinne Kants nur metaphorisch zu verstehen ist. Erscheinungen sind für Kant selbstredend nicht nur auf visuelle Wahrnehmungen beschränkt, womit sich für den Faust nicht eine neue Einsicht, was die Erscheinungen betrifft, ergibt. Fausts Erblindung dient vielmehr der allegorischen Transformation der Figur. Sobald sich ihm die Sphäre der bloßen Erscheinungen verschließt, eröffnet sich ihm (oder er sich) die Möglichkeit, sich als frei Handelnder selbst als Zweck zu setzen und also aus der Bestimmung durch die Zwecke der Natur zu treten.82 Das Ende des Faust II lässt sich somit als eine „Verwirklichung der Freiheit in der Befolgung eines von reiner praktischen Vernunft geforderten autonomen Sollens“83 deuten.

6.3

Fausts „hohes Glück“ als Kants Vermächtnis?

Noch deutlicher ausgeführt wird dies von Kant in § 86 über die Ethikotheologie, der als eine Parallele zur gesamten Faust-Problematik anmutet: Also ist es nur das Begehrungsvermögen: aber nicht dasjenige, was ihn von der Natur (durch sinnliche Antriebe) abhängig macht, nicht das, in Ansehung dessen der Wert seines Daseins auf dem, was er empfängt und genießt, beruht; sondern der Wert, welchen er allein sich selbst geben kann, und welcher in dem besteht, was er tut, wie und nach welchen Prinzipien er, nicht als Naturglied, sondern in der Freiheit seines Begehrungsvermögens, handelt; d. h. ein guter Wille, ist dasjenige, wodurch sein Dasein allein einen absoluten Wert und in Beziehung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck haben kann.84

81 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 84, AA 5, 435. 82 Vgl. Géza von Molnár, Hidden in Plain View: Another Look at Goethe’s Faust, in: EighteenthCentury Studies 35/3, 2002, 469–496, 482. 83 Kuhnke, Goethes Wege zu Kant, 105. 84 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 86, AA 5, 443.

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Der Mensch, so Kant, könne nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein. Wenn Kant in weiterer Folge fragt, was ein Mensch, der sein Talent in Tätigkeit, Glücksumstände und Nutzen umsetzt, ohne guten Willen sei, dann ließen sich Kants Überlegungen leicht mit dem Verhängnis des Faust in Einklang bringen.85 Erst in seinen weiter oben zitierten letzten Worten wird sich Faust der eigenen Freiheit im Praktischen und des darauf beruhenden moralischen Aktes bewusst. Nach Kant ist der Mensch ausgehend von der Freiheit und Sittlichkeit in der Lage, sich als Endzweck der Natur und somit außerhalb ihrer Bedingungsverhältnisse zu setzen, woraus Kant im Rahmen dieser Ethikotheologie die Möglichkeit einer Theologie ableitet, die auf einem praktisch-moralischen Freiheitsbegriff beruht und nicht eine Ableitung der Moral oder der Freiheit aus einer Theologie postuliert. Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen, und gründet allererst eine Theologie; da die letztere, wenn sie nicht unbemerkt aus der ersteren borgte, sondern konsequent verfahren sollte, für sich allein nichts als eine Dämonologie, welche keines bestimmten Begriffs fähig ist, begründen könnte.86

Goethe scheint sich in dieser ethiko-teleologischen Begründung und ihrem Primat der praktischen Moral wiederzufinden und versieht in seinem Exemplar Kants Ausführungen zur Begründung einer Theologie über die Freiheit mit einem schlichten „optime“,87 denn hier treffen die Ausführungen Kants auf das auch die Faust-Dichtung prägende „Verhältnis des tätigen Lebens zum metaphysischen Rahmen eines solchen Seins“.88 Was Kant in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ unternimmt, ist die Überführung der begrenzten Zwecke theoretischer Erkenntnis zu der Idee eines Endzwecks der Freiheit für unsere moralische Bestimmung im Bereich des Praktischen. „Die Idee eines Endzwecks im Gebrauche der Freiheit nach moralischen Gesetzen hat also subjektiv-praktische Realität.“89 Diese „subjektiv-praktische Realität“ der auf Freiheit basierenden moralischen Handlung macht sich Faust am Ende seines Lebens zu eigen und findet so sein „hohes Glück“.90 Faust jagt nicht mehr einer irdisch-sinnlichen Glückseligkeit (im Sinne Kants) hinterher, kann aber auch gleichzeitig die Frage danach, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, zurückweisen, indem er Kants Grenzziehungen akzeptiert. Die Einsicht in das Verhältnis von Natur und 85 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 86, AA 5, 443. 86 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 86, AA 5, 444. Im Zitat bezieht sich Kant auf den vorhergehenden Paragraphen 85, in dem er die Unmöglichkeit einer Physikotheologie, nämlich aus den Zwecken der Natur eine oberste Ursache derselben abzuleiten, postuliert. 87 Vgl. Molnár, Goethes Kantstudien, 356. 88 Géza von Molnár, Goethes Einsicht in die ‚Wissenschaftslehre‘, in: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 7, 1997, 167–192, 171. 89 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 88, AA 5, 453. 90 Goethe, Faust II, MA 18.1, 11585

Goethes ‚Faust‘ im Fokus seiner Kant-Lektüre

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Freiheit resultiert aus der Unterscheidung von relativen Zwecken der (theoretischen) Erkenntnis und absoluten Zwecken der (praktischen) freien moralischen Tat. Beachtenswert ist, dass schon am Beginn von Faust I die Priorität der Tat in Fausts Neuübersetzung des Johannes-Evangeliums ins Zentrum rückt. Anstelle von „Im Anfang war das Wort“ sucht Faust nach einem alternativen Begriff und landet über „Sinn“ und „Kraft“ bei dem Satz: „Im Anfang war die Tat.“91 Dieses Motiv wird am Ende des Zweiten Teils eingelöst, wenn das Kantische Primat der praktischen Vernunft auf dichterisch-allegorische Weise durch die subjektivmoralische Bestimmung der Faust-Figur ihre Verwirklichung findet: „Eröffn’ ich Räume vielen Millionen, nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen“.92 Hier lässt sich somit, hinsichtlich des Tätig-Seins als Prinzip, ein Bogen über die gesamte Faust-Tragödie schlagen sowie eine Engführung mit Kants Überlegungen zum Vorrang des freien praktisch-moralischen Tuns vor der theoretischen Erkenntnis anstellen. Mit diesen Überlegungen zur Zusammenführung von Kants Bestimmung des Menschen über seine Freiheit mit dem Ende des zweiten Faust-Teils lassen sich auch neue Schlüsse für die Wette ziehen, die die Frage, ob Faust die Wette gewinnt oder verliert, transzendieren: Was bei den beiden Wetten auf dem Spiel stand, ist das menschliche Sein als solches. Faust verliert zwar seine Wette dahingehend, dass er nun zu einem Augenblick sagen kann „verweile doch, du bist so schön“,93 aber genau in diesem von Anfang an transgressiven Moment der Wette zeigt sich – er hat keinesfalls verloren. Bedingt durch die Verknüpfung mit seiner Läuterung im Erreichen eines praktisch-moralischen Bewusstseins findet er, was ihm zuvor versagt und verschlossen geblieben war. Die Wette verliert in diesem Kontext für Faust schlichtweg an Relevanz, da er die moralische Handlung, bedingt durch die menschliche Freiheit, affirmiert. „Was Faust am Ende bejaht, ist das Leben schlechthin, und zwar als Aufgabe, sich frei zu betätigen.“94 Damit ist aber noch keine wirkliche moralische Handlung verbunden, vor allem wenn berücksichtigt wird, was sich Faust über die gesamten zwei Teile, von Gretchen bis zu Philemon und Baucis, „zuschulden“ kommen ließ. Eine solche erreicht er vielmehr, indem er für ein Kollektiv die Bedingungen der Möglichkeit schafft, Freiheit als Endzweck menschlicher Bestimmung zu erlangen und zu nutzen. In dieser implizit politischen Wendung des Faust-Endes („Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“) lässt sich noch eine weitere Verbindung zu Kant herstellen. Bei Kant findet sich die politische Dimension im Kontext der Teleologie in ihrem Bezug auf das Verhältnis von Natur und Freiheit im § 83 der Kritik 91 Goethe, Faust I, MA 6.1, 1237. 92 Goethe, Faust II, MA 18.1, 11563–11564. 93 Die Frage, ob Faust es durch Goethes Verwendung des Konjunktivs („dürft’ ich sagen“) doch nicht ausspricht, kann im Rahmen dieses Textes nicht beantwortet werden. 94 Molnár, Der Begriff des Wettens in Goethes ‚Faust‘, 40.

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der Urteilskraft, wo Kant die „bürgerliche Gesellschaft“ als Bedingung für die größte Entwicklung der Naturanlagen postuliert.95 Faust schafft nicht nur seine eigene Freisetzung im Praktischen, sondern in der Eröffnung der „Räume für viele Millionen“96 stellt er für diese durch einen politischen Akt die Potentialität her, „tätig-frei zu wohnen“97 und damit in ihrer Autonomie sich selbst das faustische Streben anzueignen. Und obgleich dieses Streben mit beständigen Irrtümern einhergeht („Es irrt der Mensch so lang er strebt“), so ergibt sich für Faust durch die Bejahung der freien Betätigung, die die Grundlage für moralisches Handeln bereitstellt, doch noch ein versöhnliches Ende. Denn, wie uns die Engel in der allerletzten Szene „Bergschluchten“ verraten: Wer immer strebend sich bemüht Den können wir erlösen.98

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Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 83, AA 5, 432. Goethe, Faust II, MA 18.1, 11563. Goethe, Faust II, MA 18.1, 11564. Goethe, Faust II, MA 18.1, 11936–11937.

Kant in der Aneignung von Hölderlin und Kleist

Violetta L. Waibel

„der eine schöner, der andre wilder“. Hölderlins aisthetisches Philosophieren im Ausgang von Kants Prinzip der Zweckmäßigkeit und der Organisation

Die Bedeutung von Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft für den Dichter und Philosophen Friedrich Hölderlin kann kaum überschätzt werden.1 Neben der Wichtigkeit der beiden anderen Kritiken Kants hat die Kritik der Urteilskraft die mit Abstand größte Wirkung auf die philosophische und poetologische Konzeption Hölderlins. Schon bald nach der Bekanntschaft mit der Metaphysik eines absoluten Ich, wie Johann Gottlieb Fichte sie in seiner frühen Wissenschaftslehre von 1794/95 seinen Lesern vorlegte, stellte Hölderlin den Anspruch auf, diese durch eine Metaphysik des Seins und des Schönen zu überbieten, die sich an Kant und Schiller schulte, um auch deren Konzeptionen gewissermaßen noch hinter sich zu lassen.2 Zu dieser Metaphysik des Seins als Schönheit, die in Kants Ästhetik ihre Wurzeln hat, ist viel geschrieben worden. Dies wird daher nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Vielmehr wird ein Desiderat im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, das die Rezeption der Dritten Kritik betrifft. Hölderlin, aber nicht nur er, hat sowohl aus dem ästhetischen, als auch aus dem teleologischen Teil der Kritik der Urteilskraft wichtige Impulse gewonnen, die in seiner Ästhetik und Poetologie wirksam geworden sind. Kants Teleologie und sein Prinzip der objektiven Zweckmäßigkeit bietet die Grundlage für eine Werktheorie. Die lebendigen Systeme der Natur, die Kant Organisationen nennt, erlauben auch, Systeme des Denkens neu und anders zu fassen, als Kant dies in seiner Architektonik vorsah. Die Teleologie der Natur bietet überdies eine gute Grundlage, um das für Hölderlins philosophische Konzeption so zentrale Verhältnis von Natur und Kunst genauer zu durchden1 Vgl. Violetta L. Waibel, Voraussetzungen und Quellen: Kant, Fichte, Schelling, in: Johann Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2020, 100–117. Ich danke Andreas Wintersperger und Gabriele Geml sehr herzlich für die sorgfältige redaktionelle Bearbeitung des Beitrags für die Drucklegung. 2 Vgl. Violetta L. Waibel, Metaphysik des Schönen und Erhabenen im Hinblick auf das Tragische bei Kant, Schiller und Hölderlin, in: Rudolf Langthaler und Michael Hofer (Hg.), Kant und die Folgen. Die Herausforderung in Ästhetik, Ethik, Religionsphilosophie. Wiener Jahrbuch der Philosophie XLVIII, 2016, Wien 2017, 34–101.

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Violetta L. Waibel

ken. Beide Aspekte sollen hier mit Blick auf Kants Prinzip der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft näher untersucht werden. In wenigstens fünf Kontexten verwendet Hölderlin den für Kant zentralen Terminus der Organisation sowie des Organischen des Lebens und des Lebendigen, nämlich im Zusammenhang der Arbeit am Hyperion (1), später im Umfeld der Arbeit an der Tragödie Empedokles (2) und schließlich in seiner Poetologie um 1799/1800 (3), die noch bis in die Anmerkungen zu den Übersetzungen der Sophokles-Tragödien ausstrahlt (4). Ein weiterer Kontext liegt zeitlich dazwischen und beinhaltet die Infragestellung eines absolut geltenden letzten Grundes alles Daseins in einem Brief an den Freund Isaak von Sinclair vom 24. Dezember 1798 (5). Zu diesem Themenfeld ist auch Hölderlins Nachdenken über Kunst und Bildungstrieb zu zählen. Der Theoriezusammenhang des Organischen in Kants Teleologie spielt freilich auch in den nachkantischen Philosophiekonzepten Fichtes, Schelling, Hegels und anderer eine bedeutende Rolle.3 Bereits im Januar 1795 spricht Hölderlin in einem Brief an Hegel die herausragende Bedeutung an, die er in Kants Teleologie sieht: Daß Du Dich an die Religionsbegriffe machst, ist gewis in mancher Rüksicht gut und wichtig. Den Begriff der Vorsehung behandelst Du wohl ganz parallel mit Kants Teleologie; die Art, wie er [Kant, V.L.W.] den Mechanismus der Natur (also auch des Schiksaals) mit ihrer Zwekmäsigkeit vereiniget, scheint mir eigentlich den ganzen Geist seines Systems zu enthalten; es ist freilich dieselbe, womit er alle Antinomien schlichtet. Fichte hat in Ansehung der Antinomien einen ser merkwürdigen Gedanken, über den ich aber lieber Dir ein andermal schreibe.4

Die Antinomie, von der Hölderlin hier spricht, ist die Antinomie der teleologischen Urteilskraft in der Kritik der Urteilskraft. Es ist höchst bemerkenswert, dass Hölderlin den Geist der Philosophie Kants gerade in dieser teleologischen Antinomie erkennt und davon Hegel Mitteilung macht. Das erinnert an Schelling, der in der 1795 erschienenen Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen festhält, dass hier wie nirgendwo sonst von 3 Vgl. Günter Zöller, „Ein ewiges Werden“. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim mittleren Fichte, in: Violetta L. Waibel, Christian Danz und Jürgen Stolzenberg (Hg.), System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus: IV. Systeme in Bewegung: Systembegriffe nach 1800–1809. Hamburg 2018, 11–30; Gideon Stiening, Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman ‚Hyperion oder der Eremit in Griechenland‘, Tübingen 2005, 62–77. 4 Friedrich Hölderlin an Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Brief vom 26. Januar 1795, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, in 3 Bänden, München (Hanser) 1993; hier: MA 2, 569, Zeile 16–25. Vgl. Violetta L. Waibel, Kants Lehre der Antinomien „scheint mir den ganzen Geist seines Systems zu enthalten“ – Anmerkungen zu Hölderlin und Hegel und ein Rekurs auf Fichte. Beitrag für die Festschrift für Andreas Arndt zum 65. Geburtstag, in: Begriff und Interpretation im Zeichen der Moderne. Mit Zeichnungen von Nader Ahriman, hg. v. Sarah Schmidt, Dimitris Karydas und Jure Zovko, Berlin 2015, 33–50.

Hölderlins aisthetisches Philosophieren im Ausgang von Kant

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Kant „auf so wenigen Blättern so viele tiefe Gedanken zusammengedrängt worden, als in der Kritik der teleologischen Urtheilskraft § 76. geschehen ist.“5 Das Briefzeugnis Hölderlins und die Stelle aus Schellings Ich-Schrift zeigen die hohe Bedeutung an, die der Antinomienproblematik einerseits und andererseits der von Kant entwickelten Teleologie überhaupt zugesprochen wird. Im vorliegenden Kontext steht die Teleologie im Blick, die Hölderlin für seine Zwecke aufgenommen und umgeschrieben hat, wie zu zeigen sein wird. Zunächst kommt im Folgenden der Grundgedanke von Kants Organisationsprinzip des Lebendigen zur Darstellung, den Kant selbst in eine Beziehung zur Organisation des Denkens und näherhin zur Frage nach der Philosophie in ihrer wissenschaftlichen Form als System bringt. Sodann wird Hölderlins Konzeption von naturgegebener und vom Menschen geschaffener Organisation in ihrer frühen Ausprägung und einer späteren Reformulierung thematisiert. Zwischen der früheren und späteren Konzeption besteht nicht nur ein terminologischer, sondern auch ein bemerkenswerter philosophisch systematischer Unterschied. In der Vorrede zum Fragment von Hyperion, das 1794 in Schillers Neuer Thalia erschienen ist, schreibt Hölderlin: Es giebt zwei Ideale unseres Daseyns: einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zuthun, gegenseitig zusammenstimmen, und einen Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe statt finden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind.6

Diese frühe Auffassung von Organisation wird im Grund zum Empedokles, einem theoretisch poetologischen Text von 1799, den Hölderlin offenbar verfasste, um die inneren Hemmnisse zu verstehen, die ihm die weitere Arbeit an seiner Tragödie Der Tod des Empedokles erschwerten, in deutlich veränderter Form erneut aufgenommen: „Der organischere künstlichere Mensch ist die Blüthe der Natur; die aorgischere Natur, wenn sie rein gefühlt wird, vom rein organisierten, rein in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung.“7 Der Gegensatz einer aorgischen Natur und eines organischen aber künstlichen Menschen ist ein Schlüssel für Hölderlins um 1800 weit differenzierteren Beitrag zum Verhältnis von Natur und Kunst gegenüber den Überlegungen von 1794. Einen weiteren Niederschlag findet diese Gedankenfigur in Hölderlins poeto-

5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), in: Derselbe, Ausgewählte Schriften, in 6 Bänden, hg. v. Manfred Frank (in der Folge zitiert als AS), Bd. 1: 1794–1800, Frankfurt am Main 1985, I 132. 6 Hölderlin, Fragment von Hyperion, Vorrede, MA 1, 489, Zeile 4–12. 7 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–878, 868, Zeile 16–20.

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logischem Haupttext Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig … sowie in einem weiteren poetologischen Text dieser Zeit. Dies ist Anlass, den Werkbegriff herauszuarbeiten, den Hölderlin teils explizit in seinen poetologischen Selbstverständigungen, teils implizit aus dem Gedankenkreis systematischer Organisation gewinnt. Organisation ist bei Hölderlin offenkundig im Sinne der Kantischen Teleologie als ein organisiertes, in sich wohlgegliedertes Ganzes zu verstehen. Kant spricht in seiner Teleologie sowohl von der „Organisation der Natur“8 als auch von „organisierten Wesen“. Dem gilt es nun, sich zuzuwenden, um die Wurzeln von Hölderlins Metaphysik der menschlichen Ideale näher zu beleuchten. Zunächst ist daher Kants teleologischer und systematischer Zweckbegriff in den Blick zu bringen.

1.

Kants Bestimmung einer Organisation der Natur in der Teleologie der Kritik der Urteilskraft

Kant hat mit der Dritten Kritik das Repertoire seiner transzendentalen Prinzipien erweitert und neben den Kategorien als transzendentalen Prinzipien der Erkenntnis und dem Gesetz der Freiheit und mit ihm dem Kategorischen Imperativ als Prinzip der Moralphilosophie ein neues transzendentales Prinzip eingeführt, das der Zweckmäßigkeit, dessen subjektiver Gebrauch seine Ästhetik des Schönen und des Erhabenen in Natur und Kunst bestimmt, dessen objektiver Gebrauch indessen die Teleologie der Natur als Erweiterung seiner bis dahin entfalteten Erkenntnistheorie auf den Weg brachte. In dieser Teleologie führt Kant einen Terminus ein, der unter den Nachkantianern große Aufmerksamkeit auf sich zog. Es ist dies der Terminus der Organisation der Natur. Kant macht deutlich, dass er den Terminus der Organisation und mit ihm die Teleologie insgesamt einem rein mechanistischen Weltverständnis entgegenstellt. Das Prinzip der causa finalis kannte schon Aristoteles und nach ihm eine lange Tradition der Philosophie. Kant setzt mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit einen

8 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2009. Hier: AA 5, 375. – Auch Johann Gottfried Herder verwendet in seiner Schrift, Gott. Einige Gespräche über Spinoza‘s System nebst Shaftesbury’s Naturhymnus, Gotha 1787, im letzten der fünf Gespräche das Theorem der Organisation der Natur. Das konnte sowohl Hölderlin als auch Kant bekannt gewesen sein. Hölderlins frühe Idee der Organisation zeigt mit dieser Konzeption einige Verwandtschaft, da Herder die beiden Gesprächspartner Theano und Philolaus über die vom Chaos zur Ordnung und also zur Idealität sich richtende Ordnung der Natur sprechen lässt: „Alle Kräfte der Natur wirken organisch. Jede Organisation ist nichts als ein System lebendiger Kräfte, die nach ewigen Regeln der Weisheit, Güte und Schönheit einer Hauptkraft dienen.“ (Ebenda, 246).

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markanten Neuanfang. Er verknüpft mit diesem teleologischen Prinzip Ästhetik, Biologie und Systemtheorie als wahlverwandte Disziplinen. Als unverzichtbares Beurteilungsprinzip grenzt er es gegen den Kausalmechanismus ab und stellt es diesem an die Seite. Kant differenziert überdies die dem Zweckprinzip einwohnende Analogie zu dem nach Zwecken handelnden menschlichen Tun. Insbesondere arbeitet er mit der Analyse der Zwecke der Natur als Organisationen des Lebens ein Mehr an Bedeutung gegenüber dem menschlichen zweckgerichteten Handeln heraus. Kant spricht von Naturprodukten als organisierten Lebewesen, denen er die ausgezeichnetste Form einer objektiven Zweckmäßigkeit zuschreibt. Davon sind einfachere Formen der Zweckmäßigkeit abzugrenzen. Organisierte Lebewesen zeichnen sich durch innere (statt äußere), materiale (statt bloß formale) und objektive (statt relative) Zweckmäßigkeit aus. „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“9 In dieser Formel fasst Kant bündig zusammen, was er zuvor im Detail entwickelt hat, um materiale, innere, objektive Zweckmäßigkeit in den Produkten der Natur zu bestimmen. Diese Formel schließt mehrere interne Bestimmungen ein. „[E]in Ding existiert als Naturzweck,“ so Kant, „wenn es von sich selbst (wenn gleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung ist“.10 Zum Naturzweck, der sich selbst Ursache und Wirkung ist, gehört, dass er sich erstens der Gattung nach erzeugt und erhält. Zweitens erzeugt er sich als Individuum durch sein Wachstum, das von einer mechanischen Größenerzeugung gänzlich zu unterscheiden sei. Vielmehr erfolgt das Wachstum des Lebendigen durch Stoffwechsel, also dem Austausch mit äußeren Dingen, die dem Individuum zugeeignet werden, und dessen Identität ebenso erhalten wie verändern. Darüber handelt Kant nicht sehr ausführlich. Drittens erzeugt es sich selbst auch in der Weise, „daß die Erhaltung des einen von der Erhaltung des anderen wechselweise abhängt.“11 Kant denkt hierbei etwa an die Selbsthilfe der Natur bei Verletzungen. Der Naturzweck ist sich dabei Ursache seiner selbst, weil dies Ursachesein dem Aktionsradius des Naturwesens als Möglichkeit inhäriert. Das Wesen als Naturzweck ist sich Wirkung als „organisiertes“ und Ursache als „sich selbst organisierendes Wesen“, gemäß den drei genannten und nur an Naturwesen beobachtbaren Erscheinungen. Kant sucht näher zu deuten, inwiefern von Selbstverursachung bei Naturzwecken gesprochen werden kann, die es vom Kausalmechanismus klar abzugrenzen gilt. Während der Kausalmechanismus durch den Verstand gedacht und erkannt wird, ist die Finalursache eine Idee der Vernunft, die entfernt dem 9 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 66, AA 5, 376 [Herv. i. O.]. 10 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 64, AA 5, 370–371 [Herv. i. O.]. 11 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 64, AA 5, 371.

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zweckrationalen Denken des Menschen entspricht, aber sich doch auch in wesentlichen Momenten von diesem unterscheidet. Kant führt aus, dass das Naturprodukt als Zweckursache sich selbst ideale Ursache ist, diese Ursache aber von unserem Verstand nicht angemessen verstanden, sondern nur in seinen Erscheinungen beobachtet werden kann. Im Gegensatz zur Idealität der Finalursachen der Natur kann der Kausalmechanismus als reale Ursache bezeichnet werden, der durch die Kategorie gedacht wird. Kant schreibt: Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun erstlich erfordert, daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einem Begriffe oder einer Idee befaßt, die alles, was in ihm enthalten sein soll, a priori bestimmen muß.12

Zu einer Organisation der Natur zählt also ganz wesentlich, dass diese als ein Ganzes begriffen wird, auf das die Teile in einer spezifischen Ordnung bezogen sind, die durch Beobachtung für die Beurteilung freigelegt und sichtbar gemacht werden kann. Diese Ordnung wird durch eine Idee vorgestellt, die sich nicht näher bezeichnen lässt, die aber dennoch die Ordnung nicht bloß formal, sondern auch material (dem Dasein nach) bestimmt. Diese Relation der Teile zum Ganzen wird von Kant noch weiter bestimmt, indem der Unterschied zwischen einer rationalen Zweckursache durch intentionales Handeln des Menschen von der spezifischen Weise der Zweckmäßigkeit der Natur herausgearbeitet wird: Soll aber ein Ding, als Naturprodukt, in sich selbst und seiner innern Möglichkeit doch eine Beziehung auf Zwecke enthalten, d. i. nur als Naturzweck und ohne die Kausalität der Begriffe von vernünftigen Wesen außer ihm möglich sein; so wird zweitens dazu erfordert: daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile bestimme: nicht als Ursache – denn da wäre es ein Kunstprodukt –, sondern als Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es beurteilt.13

Im Unterschied zu einer zweckgerichteten Handlung des Menschen durch die Kausalität von Begriffen liegt Kant zufolge bei einem Naturzweck im Hinblick auf das Verhältnis der Teile und des Ganzen eines Zwecks eine Wechselseitigkeit vor, nach der diese sich gegenseitig „Ursache und Wirkung ihrer Form“ nach sind. Dieses Teil-Ganze-Verhältnis eines Naturzwecks ist Erkenntnisgrund dieser besonderen Form der Verbindung. Da es nicht ein Begriff ist, der eine zweckmäßige Organisation der Natur verursacht und hervorbringt, ist die Verursachung dem Naturgegenstand selbst als eigene Kausalität zuzuschreiben, wie Kant ausführt: 12 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 373. 13 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 373.

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Zu einem Körper also, der an sich und seiner innern Möglichkeit nach als Naturzweck beurteilt werden soll, wird erfordert, daß die Teile desselben einander insgesamt, ihrer Form sowohl als Verbindung nach, wechselseitig, und so ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen, dessen Begriff wiederum umgekehrt (in einem Wesen, welches die einem solchen Produkt angemessene Kausalität nach Begriffen besäße) Ursache von demselben nach einem Prinzip sein, folglich die Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen beurteilt werden könnte.14

Kant behauptet offenkundig, dass dann, wenn das Naturprodukt über Begriffe verfügte, seine Selbstverursachung als wirkende Ursache identisch wäre mit seinem Begriff als Zweckursache. Da der Mensch aber keine Möglichkeit hat, diese Selbstverursachung, die zugleich ihr Begriff ist, zu erkennen, so bleibt immerhin, das Naturprodukt als einen solchen Zweck zu beurteilen. Im Weiteren bestimmt Kant das Verhältnis der Teile zum Ganzen noch genauer: In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist (denn er könnte auch Werkzeug der Kunst sein, und so nur als Zweck überhaupt möglich vorgestellt werden); sondern als ein die andern Teile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können.15

Ein Naturprodukt ist sowohl ein durch die Natur organisiertes und hervorgebrachtes, als auch ein sich selbst organisierendes Wesen. Ein organisiertes Wesen ist es hinsichtlich der wechselseitigen Bestimmbarkeit der Verhältnisse der Teile untereinander und ihre Beziehung zum Ganzen, wonach Teile als „Werkzeug (Organ)“ für andere Teile wie für das Ganze betrachtet werden, wie Kant ausführt. Umgekehrt steht aber auch das Ganze in einer Beziehung zu den Teilen und Organen, sofern das Ganze den Begriff, mithin die Form seiner inneren Verbindung darstellt. Das Naturprodukt ist sich selbst organisierend, weil es seiner Natur gewissermaßen als innerer Zweck eingeschrieben ist, sich selbst in mehrfacher Weise zu erzeugen, nämlich, wie erwähnt, als Gattung durch Fortpflanzung, als Individuum durch Wachstum, als wechselseitige Erhaltung der Teile untereinander durch Selbstheilung und ähnliches. Kant spricht sich dezidiert dafür aus, Naturwesen als organisierte Zwecke zu verstehen und wendet sich damit gegen die Auffassung, Tiere, Menschen, überhaupt Lebewesen als Maschinen zu sehen. Er erteilt damit eine klare Absage an rationalistische Modelle, die Naturwesen auf ihre bloße Funktionalität, also auf 14 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 373 [Herv. i. O.]. 15 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 373f [Herv. i. O.].

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ihre Analogie zu Maschinen reduzieren, wie dies etwa René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz oder Christian Wolff vertreten haben.16 Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.17

Das bedeutet, es gibt viele Momente an Lebewesen, die durch kausalmechanische Erklärungen bestimmt werden können. Kant wendet sich hiergegen nicht prinzipiell. Im Gegenteil. Es lassen sich durchaus verschiedenste, kausal bestimmbare Mechanismen identifizieren und additiv nebeneinander stellen sowie aufeinander beziehen. Doch damit werden nur einzelne Funktionszusammenhänge an Lebewesen expliziert, nicht aber das Leben als solches in der Komplexität seiner Ganzheitlichkeit wie seiner Teile, die den Mechanismus übersteigt. Der menschlichen Erkenntnis ist nur der Mechanismus zugänglich, der heute die Möglichkeiten der Erkenntnisse zu Kants Zeiten um ein Vielfaches übertrifft. Zusammenfassend erklärt Kant: Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert sich vielmehr selbst, und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte, zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert. Näher tritt man vielleicht dieser unerforschlichen Eigenschaft, wenn man sie ein Analogon des Lebens nennt.18

Von einer „unerforschlichen Eigenschaft“ des Lebens der Natur und in der Natur spricht Kant. Unerforschlich ist diese Natur des Lebendigen bis heute allen unglaublichen Erkenntnisfortschritten zum Trotz, wie ich denke. Der Mechanismus des Lebens ist in vielerlei Hinsichten, in vielerlei Verschränkungen erforscht, das Prinzip des Lebens als solches verbirgt sich, ist der menschlichen Erkenntnis letztlich nicht zugänglich. Letztlich heißt, die menschliche Erkenntnis nähert sich dem Leben nur durch Umwege an, die der Kausalmechanismus und die Konstruktion von Modellen erlaubt. Die Medizin, die Pharmazie, die Biologie, die Lebenswissenschaften, die Genforschung beherrschen nicht DAS Leben in sei16 Vgl. Markus Wild, Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume. Berlin, Boston 2007, zu Descartes 135–210. Vgl. ferner Sebastian Bender, Von Menschen und Tieren – Leibniz über Apperzeption, Reflexion und conscientia, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 2013, Bd. 67, H. 2 (2013), 214–241 (Stable URL: https://www.jstor.org/stable/23492057 JSTOR). 17 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 374 [Herv. i. O.]. 18 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 374 [Herv. i. O.].

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nem innersten Prinzip, sondern die Parameter des Lebens, die freilich bemerkenswerte Annäherungen durch ein immer komplexer werdendes Verständnis des Mechanismus erlauben. Experimente wie die von Stanley Miller, aus unorganischen Stoffen der hypothetisch angenommenen Uratmosphäre durch energetischen Beschuss organische Stoffe herzustellen, sind spektakulär und zeigen, dass es einen Übergang vom Unorganischen zum Organischen gibt.19 Derlei Experimente geben kausalen Aufschluss über spekulative Möglichkeiten des Übergangs vom Unorganischen zum Organischen, ohne jedoch das Prinzip des Lebens, wie Kant es philosophisch begreiflich zu machen sucht, als solches aufgedeckt zu haben. Kant stellt in der Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft selbst spekulative Überlegungen an, um mit Hilfe der Annahme eines architektonischen Verstandes Richtungen einer weiteren Erforschung anzugeben. Kant sieht, dass mit den in § 64 ausdifferenzierten Formen der Selbsterhaltung lebendiger Organisationen zwar wichtige Funktionen des Lebens wie die der Fortpflanzung innerhalb einer Art sowie die des Wachstums, der Heilung einzelner Individuen benannt wurden, aber damit noch gar nicht Zusammenhänge unter verschiedenen ähnlichen Lebensformen thematisiert und reflektiert wurden, wie dies etwa Goethe im Anschluss an Kants Naturphilosophie unternommen hat.20 Der architektonische Verstand, den Kant im § 80 der Methodenlehre im Blick hat, sucht die Organisation des Lebens in der Tiefe der Zeitentwicklung zu denken. Die Evolutionstheorie Charles Darwins ist noch nicht formuliert, das sollte noch einige Jahrzehnte dauern.21 Und doch denkt sich Kant mit dem architektonischen Verstand einen Archäologen der Natur, der eine „durchgängig zusammenhangende Verwandtschaft“ in der „großen Familie von Geschöpfen“ zu erfassen suche, da es so zahlreiche Ähnlichkeiten im Bau der Lebewesen gebe. Kant erwägt sogar: Er kann den Mutterschoß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam als ein großes Tier), anfänglich Geschöpfe von minder-zweckmä19 Humberto R. Maturana und Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Frankfurt am Main 2015, 51–53. Vgl. dazu Kant, Kritik der Urteilskraft, § 80, AA 5, 419. 20 Johann Wolfgang von Goethe, Morphologie, in: Derselbe, Hamburger Ausgabe, in 14 Bänden, München 1983, Bd. 13, 53–250. Es handelt sich um eine Sammlung von Schriften Goethes aus mehreren Jahrzehnten, die unter diesem Titel zusammengefasst sind. Vgl. ferner Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt am Main 2011, 100–109 und 173–182. Eckart Förster, Von der Eigentümlichkeit unseres Verstands in Ansehung der Urteilskraft (§§ 74–78), in: Otfried Höffe, (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Klassiker Auslegen, 33. Berlin 2008, 259–274. 21 Charles Darwins grundlegende Schrift seiner Evolutionsbiologie mit dem Titel On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, ist erstmals London 1859 erschienen und erfuhr weitere Bearbeitungen und Auflagen.

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ßiger Form, diese wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse unter einander sich ausbildeten, gebären lassen; bis diese Gebärmutter selbst, erstarrt, sich verknöchert, ihre Geburten auf bestimmte fernerhin nicht ausartende Spezies eingeschränkt hätte, und die Mannigfaltigkeit so bliebe, wie sie am Ende der Operation jener fruchtbaren Bildungskraft ausgefallen war.22

Diese Überlegungen Kants legen nahe, dass er selbst einen Übergang aus der Materialität der „Mutter Erde“ zum Leben hypothetisch für denkbar hält, auch wenn er dazu kein näher durchdachtes Modell anzubieten hat. Immerhin hatte schon Aristoteles die Geburt von einfachen Lebewesen aus dem Schlamm als möglich gedacht.23 Kant hält gleichwohl fest, dass mit einer solchen Hypothese, mag sie auch bestätigt werden, der Zusammenhang der beiden fraglichen Prinzipien, causa efficiens und causa finalis, mitnichten erklärt und aufgeschlossen wäre. Sie würden noch immer parallel nebeneinander stehen. Auch das erwähnte Millersche Experiment kann, ganz im Sinne Kants, zwar einen Übergang vom Unorganischen zum Organischen nachvollziehbar machen, aber nicht die Einheit der beiden Prinzipien ausweisen. Keines kann durch das andere ersetzt werden, sie haben ihre je wohlunterschiedenen Funktionen im Gang der Naturerkenntnis. Kants Begriff der Organisation der Natur bezieht sich wesentlich auf das Produkt der Natur, das nicht angemessen begriffen werden würde, würde es allein durch die Naturkausalität, also den Kausalmechanismus bestimmt und erkannt. Zwar ist mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit keine Erkenntnis der Natur im eigentlichen Sinne möglich, betont Kant doch nachdrücklich, dass dieses Prinzip nur zur Beurteilung dient. Aber ein Verzicht auf dieses Beurteilungsprinzip würde die Natur sowie ihre organisierten und organisierenden Wesen nur unzulänglich bestimmen. Kant wendet dieses teleologische Prinzip auf weitere Zusammenhänge der Natur an, um schließlich zu diskutieren, in welchem Sinne es auf das Ganze der Natur angewandt werden darf und wo die Grenzen seiner Anwendbarkeit liegen. In der Bestimmung des objektiven Zwecks der Natur in den organisierten und sich organisierenden Wesen liegt der Kerngedanke von Kants Naturteleologie. Die objektiven Zwecke sind durch Aktionen, Veränderungen innerhalb ihres Wesens zuzuschreiben, die relativen Zwecke sind bestimmt durch Interaktion mit der Außenwelt. Diesen systematisch zentralen Kontext nimmt Hölderlin auf, nicht um die Naturphilosophie voranzubringen, sondern um das organologische Modell zum Ausgang seiner Poetologie und Anthropologie zu nehmen. Dem gilt es nun, sich zuzuwenden. 22 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 80, AA 5, 419. 23 Zur Frage der Urzeugung bei Aristoteles vgl. Wilhelm Capelle, Das Problem der Urzeugung bei Aristoteles und Theophrast und in der Folgezeit, in: Rheinisches Museum für Philologie, Bd. 98 (1955), 150–180.

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2.

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Hölderlin über das Prinzip des Lebens und das Prinzip der Herrschaft

Hatte Hölderlin 1794 von den beiden Idealen gesprochen, die er der Natur und der Selbstgesetzgebung durch den Menschen im Kontext seiner Arbeit am Hyperion zuschrieb, schlägt er in einem Brief an den Freund und Unterstützer Isaak von Sinclair nun ganz andere Töne an, wenn er über die Organisation von Natur und Mensch nachdenkt. Er schreibt: Es ist […] die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, daß keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden. Die absolute Monarchie hebt sich überall selbst auf, denn sie ist objectlos; es hat auch im strengen Sinne niemals eine gegeben. Alles greift in einander und leidet, so wie es thätig ist, so auch der reinste Gedanke des Menschen, und in aller Schärfe genommen, ist eine apriorische, von aller Erfahrung durchaus unabhängige Philosophie, wie Du selbst weist, so gut ein Unding, als eine positive Offenbarung, wo der Offenbarende nur alles dabei thut, und der, dem die Offenbarung gegeben wird, nicht einmal sich regen darf, um sie zu nehmen, denn sonst hätt’ er schon von dem Seinen etwas dazu gebracht. Resultat des Subjectiven und Objectiven, des Einzelnen und Ganzen, ist jedes Erzeugniß und Product, und eben weil im Product der Antheil, den das Einzelne am Producte hat, niemals völlig unterschieden werden kann, vom Antheil, den das Ganze daran hat, so ist auch daraus klar, wie innig jedes Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt und wie sie beede nur Ein lebendiges Ganze ausmachen, das zwar durch und durch individualisirt ist und aus lauter selbstständigen, aber eben so innig und ewig verbundenen Theilen besteht. Freilich muß aus jedem endlichen Gesichtspunct irgend eine der selbstständigen Kräfte des Ganzen die herrschende seyn, aber sie kann auch nur als temporär und gradweise herrschend betrachtet werden.24

Es ist offenkundig, dass Hölderlin hier mit der Frage nach den „Bedingungen alles Lebens und aller Organisation“ mit Bausteinen aus Kants Teleologie in der Kritik der Urteilskraft argumentiert, da er im zweiten Teil dieser Ausführungen Verhältnisse von Erzeugnissen und Produkten, von Teilen und Ganzen diskutiert, die nur zusammen ein „lebendiges Ganze[s]“ ausmachen. Kants Begriff der objektiven Zweckmäßigkeit, der, wie gezeigt, für die lebendigen Organisationen in der Natur reserviert ist, wird zwar nicht explizit erwähnt, spielt aber nicht nur 24 Friedrich Hölderlin an Isaak von Sinclair, Brief vom 24. Dezember 1798, in: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, MA 2, 721–723, 723. In den Fichte-Studien (649) formuliert Friedrich von Hardenberg die Idee eines Universalsystems. Vgl. dazu Violetta L. Waibel, „Das oberste Princip – ein Frey Gemachtes, ein Erdichtetes, Erdachtes“. Anmerkungen zu Hardenbergs Systemkritik, in: Christian Danz/Jürgen Stolzenberg (Hg.), System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus: III. Systembegriffe um 1800, Hamburg 2011, 357–382. In den Worten von Hardenbergs: „Das Universalsystem der Filosofie muß, wie die Zeit seyn, Ein Faden, an dem man durch unendliche Bestimmungen laufen kann – Es muß ein System der mannichfachsten Einheit, der unendlichen Erweiterung, Compass der Freyheit seyn – weder formales, noch materiales System“. Hardenberg, NS II, 289–290, FS 649.

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hier, sondern auch in Hölderlins Poetologie eine wichtige systematische Rolle, wo er freilich umgedeutet wird. Kants Lehre vom Schönen und Erhabenen dient ihm dazu, die Idee des Schönen als höchstes Prinzip der Philosophie auszubilden.25 Die Teleologie der Natur mit ihrem Begriff vom „organisierte[n] Produkt der Natur“ dient ihm dazu, einen Begriff vom Kunstwerk, als ein Ganzes betrachtet, herauszuarbeiten. Ein in sich „organisiertes Produkt der Natur“, also ein Organismus oder Lebewesen ist Kant zufolge das, „in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.“26 Kant bringt hier die eigentümliche Form der Kausalität auf den Punkt, die er dem Finalprinzip zuschreibt. Dem liegt ein Strukturprinzip zugrunde, das die Teile als Teile von einem strukturierten Ganzen ausweist, in dem Wechselseitigkeit sowohl zwischen den Teilen und dem Ganzen in beiden Richtungen, als auch innerhalb der Teile zu denken ist. Das hat Hölderlin offenkundig sehr interessiert. In Anlehnung an Kants Bestimmung teleologischer, objektiver Zwecke in der Natur reflektiert Hölderlin darauf, dass „im Product der Antheil, den das Einzelne am Producte hat, niemals völlig unterschieden werden kann, vom Antheil, den das Ganze daran hat“. Diese Überlegung nimmt offenkundig auf den schon erwähnten zentralen Gedanken Kants Bezug, in dem das Verhältnis der Teile zum Ganzen in einem Lebendigen genauer bestimmt wird: „Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun erstlich erfordert, daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einem Begriffe oder einer Idee befaßt, die alles, was in ihm enthalten sein soll, a priori bestimmen muß.“27 Mit dieser Argumentation sucht Kant den wichtigen Unterschied einer Zwecksetzung, die der Mensch als handelndes Vernunftwesen vollzieht, indem er Kunstprodukte erzeugt, von den Zwecken in der Natur hervorzuheben. In den Naturprodukten bestimmt „die Idee des Ganzen […] die Form und Verbindung aller Teile“ nicht als hervorbringende Ursache, sondern bloß „als Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen“.28 Bei der Erzeugung von Kunstprodukten ist die Idee des Ganzen hingegen hervorbringende Ursache der Form. 25 Zu Hölderlins Metaphysik des Schönen, vgl. Violetta L. Waibel, From the Metaphysics of the Beautiful to the Metaphysics of the True. Hölderlin’s Philosophy in the Horizon of Poetry. (Von der Metaphysik des Schönen zur Metaphysik des Wahren. Hölderlins Philosophieren im Zeichen des Dichtens) Chapter 20, translation by Crina M. Gschwandtner, in: Matthew C. Altman (Hg.), The Palgrave Handbook of German Idealism, Hampshire, New York 2014, 409–433. 26 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 376 [Herv. i. O.]. 27 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 373 [Herv. i. O.]. 28 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 373.

Hölderlins aisthetisches Philosophieren im Ausgang von Kant

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Wenn Hölderlin in seiner Briefpassage von Erzeugnissen und Resultaten spricht, so lässt dies vermuten, dass es ihm weniger um eine naturphilosophische Betrachtung und Vertiefung von Kants Naturteleologie geht, sondern um eine Analogie, durch die Kunstprodukte, das heißt sowohl technisch praktisch hervorgebrachte Dinge als auch und vor allem künstlerische Produkte nach Maßgabe der Organisationen der Natur, reflektiert werden. Dieser Befund wird bestärkt durch die einleitenden Gedanken im Brief an Sinclair, wonach „der Mensch in seiner eigensten freiesten Thätigkeit, im unabhängigen Gedanken selbst von fremdem Einfluß abhängt, und […] auch da noch immer modifizirt ist von den Umständen und vom Klima“. Wo finde der Mensch dann noch, fragt Hölderlin provozierend, Herrschaft?29 Freiheit und Selbsttätigkeit des Menschen werden in unhintergehbarer Weise verknüpft und durchdrungen gesehen von Abhängigkeiten und Notwendigkeiten des Daseins. Hölderlin sucht das intentionale Handeln des Menschen in seinen vielfältigen Zusammenhängen aus den systemischen Interaktionen der Natur zu begreifen. Die Natur kennt zunächst keine Herrschaft, „Alles greift in einander und leidet, so wie es thätig ist“. Wo Herrschaft in der Natur zu entdecken ist, ist sie nicht absolut, sondern vorübergehend. Absolute Monarchie, die sich im Erbrecht der Königswürde entdecken lässt, kennt die Natur nicht. Auch wenn es hier nicht direkt gesagt wird, der Gedanke an eine „absolute Monarchie“ spielt indirekt auf politische Verhältnisse und der Absetzung der Monarchie durch die Ereignisse rund um die Französischen Revolution von 1789 an, die nach Hegels Diagnose in die Tyrannei der absoluten Freiheit geführt hat.30 Das kann hier nicht weiter verfolgt werden. Hölderlin vollzieht hier eine Umkehrung hinsichtlich der Weise, wie die Tradition und so auch Kant Lebewesen der Natur als besondere Fälle intentionalen Handelns des Menschen zu begreifen suchte. Kant hat mit seiner Konzeption der nicht näher bestimmbaren, aber zu unterstellenden Finalursachen, die er Lebewesen zuschreibt, diese deutlich von mechanischen Erzeugnissen unterschieden. Das Moment des Lebendigen, das Kant auf neuartige Weise zu fassen suchte, ist es, was Hölderlin nun für das menschliche Handeln überhaupt, besonders aber für das künstlerische Tun genauer zu verstehen sucht. Das Gehirn in seiner biologischen Struktur lässt sich ebenso sehr als Organismus verstehen, wie auch das, was es mental, etwa durch Denken oder durch künstlerisches Arbeiten als mehr oder weniger organisiertes Produkt hervorbringt.

29 Hölderlin an Isaak von Sinclair, Brief vom 24. Dezember 1798, MA 2, 722–723, Zeile 37–3 (oben). 30 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Derselbe, Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede. Hamburg 1988; hier: GW 9, 316–323.

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Kants Konzeption der zweckmäßigen, lebendigen Organisation in der Natur und eines Systems der Natur überhaupt bietet für Hölderlin offenkundig eine tragfähige Konzeption, um ein Ganzes, das in sich gestaltet ist, sowie eine wechselseitige Beziehung vom Ganzen zu den Teilen und der Teile zum Ganzen näherhin zu denken und zu begreifen. Kants Theoriekontext der teleologischen Naturbetrachtung bestätigt implizit Hölderlins Feststellung, nach der es „die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation [ist, V.L.W.], daß keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden“.31 Kant gibt weder den Selbsterhaltungstrieb als zentrales und herrschendes Organisationsprinzip der Natur an, wie dies etwa in Spinozas Conatus zu finden ist,32 noch nennt er andere Prinzipien, die den Gang der Natur beherrschen. Anders als Kant beachtet Hölderlin die Frage einer bloß regulativen Beurteilung des Ganzen der Natur anstelle einer konstitutiven Erkenntnis nicht näher. Ihm ist der Aspekt der Herrschaft wichtig, der bei Kant so nicht zu finden ist, wenn er gegenüber Sinclair betont: „Freilich muß aus jedem endlichen Gesichtspunct irgend eine der selbstständigen Kräfte des Ganzen die herrschende seyn, aber sie kann auch nur als temporär und gradweise herrschend betrachtet werden.“33 Die Betrachtung des Ganzen des Daseins erfährt mit dieser Überlegung Hölderlins eine Dynamisierung. Es gibt nicht ein vorherrschendes Prinzip vor allen, sondern das Herrschaftsprinzip wechselt im Fortgang der Zeit. Da die Fortsetzung des Briefes an dieser Stelle verloren gegangen ist, erfährt der Leser hier nicht, wie dieses dynamische System eines Ganzen im Wechsel seiner Teile und der wechselnden Herrschaftsverhältnisse von Kräften, die nicht näher bezeichnet werden, von Hölderlin weiter ausgestaltet und gedacht wurde. Es kann darauf hingewiesen werden, dass Kant im Anschluss an den Göttinger Anatomen, Zoologen und Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach dessen Theorie des Bildungstriebs und der Epigenesis im Rahmen seiner Teleologie in der Kritik der Urteilskraft affirmierend aufgreift, ein Theorieansatz, der für Hölderlin in mehreren Kontexten von großer Bedeutung ist. Was Kant in § 64 der Teleologie der Kritik der Urteilskraft ausführt, kann als Systematisierung von Johann Friedrich Blumenbachs Theorie das Eigentümliche der Bildungskräfte

31 Hölderlin an Isaak von Sinclair, Brief vom 24. Dezember 1798, MA 2, 723, Zeile 5–7. 32 Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, hrsg., mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Lateinisch – Deutsch, Hamburg 1999; hier: Ethik, Teil 3, vor allem die Lehrsatz 6–9 mit den Beweisen und Anmerkungen, 238–243 und öfter. Vgl. Thomas Cook, Der conatus: Dreh- und Angelpunkt der ‚Ethik‘, in: Michael Hampe/Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, Klassiker Auslegen, 31, Berlin 2006, 151–170. 33 Hölderlin an Isaak von Sinclair, Brief vom 24. Dezember 1798, MA 2, 721–723, 723, Zeile 26– 29. Vgl. ähnlich schon 1795 in der Vorrede der Vorletzten Fassung des Hyperion, in: MA 1, 558 [Herv. i. O.].

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der Natur gelesen werden,34 die Kant in drei Formen klassifiziert. Lebewesen erhalten sich durch Fortpflanzung der Gattung nach. Als Individuen gedeihen und erhalten sie sich durch Ernährung und Stoffwechsel. Die Teile der Organisation von Lebewesen erhalten sich aber auch durch Selbstheilkräfte oder durch Ersatz einer wichtigen Funktion durch einen anderen Teil des Körpers oder der Organe.35 Möglicherweise hat Hölderlin hier auch das Modell des Bildungstriebs vor Augen gehabt (von dem noch die Rede sein wird), wenn er vom wechselnden Herrschaftsprinzip „alles Lebens und aller Organisation“ spricht. Das Model des Bildungstriebs, in dynamisierter Form gedacht, scheint ihm jedenfalls überzeugend zu sein, um das Leben im Ganzen zu denken. Keine Kraft sei monarchisch, weder im Himmel noch auf Erden. Hölderlin weist die Annahme der absoluten Herrschaft irgendeiner Kraft zurück und geht stattdessen davon aus, dass aus dem endlichen „Gesichtspunct [betrachtet, VLW] irgend eine der selbstständigen Kräfte des Ganzen die herrschende [sein könne], aber sie kann auch nur als temporär und gradweise herrschend betrachtet werden“.36 Damit, so muss es scheinen, ist auch die Unbedingtheit des Seins schlechthin aufgehoben, oder wenigstens im Anspruch relativiert, die Hölderlin in Seyn, Urtheil, Modalität reklamiert hatte. Diese Überlegung liegt hier wenigstens nahe. Eine apriorische, von der Erfahrung unabhängige Philosophie sei ein Unding, betont Hölderlin überdies. Prinzipien werden nicht gänzlich zurückgewiesen, aber ihrer Unbedingtheit und Absolutheit benommen und stattdessen mit einem Zeitkoeffizienten versehen, wie überhaupt Prozessualität, mithin Zeitlichkeit, Werden und Vergehen, in den Vordergrund gestellt sind: „Alles greift in einander und leidet, so wie es thätig ist“. Die Herrschaft und Geltung von Prinzipien wird nicht vollständig zurückgewiesen: „Freilich muß aus jedem endlichen Gesichtspunct irgend eine der selbstständigen Kräfte des 34 In § 81 der Kritik der Urteilskraft ist zu lesen: „In Ansehung dieser Theorie der Epigenesis hat niemand mehr, sowohl zum Beweise derselben als auch zur Gründung der echten Prinzipien ihrer Anwendung, zum Teil durch die Beschränkung eines zu vermessenen Gebrauchs derselben, geleistet als Herr Hofr. Blumenbach. Von organisierter Materie hebt er alle physische Erklärungsart dieser Bildungen an. Denn daß rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprünglich selbst gebildet habe, daß aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen, und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fügen können, erklärt er mit Recht für vernunftwidrig; läßt aber zugleich dem Naturmechanism unter diesem uns unerforschlichen Prinzip einer ursprünglichen Organisation einen unbestimmbaren, zugleich doch auch unverkennbaren Anteil, wozu das Vermögen der Materie (zum Unterschiede von der ihr allgemein beiwohnenden, bloß mechanischen Bildungskraft) von ihm in einem organisierten Körper ein (gleichsam unter der höheren Leitung und Anweisung der ersteren [nämlich der organisierten Natur, V.L.W.] stehender) Bildungstrieb genannt wird.“ Kant, Kritik der Urteilskraft, § 81, AA 5, 424. 35 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 64, AA 5, 369–372. 36 Vgl. Hölderlin an Isaak von Sinclair, Brief vom 24. Dezember 1798, MA 2, 723, Zeile 26–29 [Herv. i. O.].

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Ganzen die herrschende seyn, aber sie kann auch nur als temporär und gradweise herrschend betrachtet werden.“ Relationalität und Prozessualität scheinen nun in Hölderlins Denken zu dominieren. Der Kontext dieser brieflichen Überlegungen referiert deutlich genug auf das organologische Konzept, das bereits seit Jahren die Vertreter des Deutschen Idealismus, vor allem Fichte, Schelling, dann auch Hegel, in Kants Teleologie entdeckt und für ihr Philosophie- und Systemverständnis gewonnen und umgeschrieben haben. Das kann hier nicht angemessen vertieft werden. Nur so viel sei festgehalten: Hatte anfänglich, etwa Aristoteles, menschliches zweckorientiertes Tun in die Natur hineinprojiziert, um Leben, Lebendiges zu begreifen und zu explizieren, so hat Kant mit seinem Prinzip der objektiven Zweckmäßigkeit der Natur, durch die er die Organisation von Leben und Lebewesen zu bestimmen suchte, ein Denkmodell geschaffen, das zurückprojiziert wurde in das Subjekt, um die lebendige Selbstorganisation des Denkens und des künstlerischen Tuns fasslich zu machen. Der Gang der Überlegung im Brief an Sinclair bezieht sich nicht ausdrücklich auf ein prozessuales Verständnis des Selbst, schließt dieses aber auch nicht aus. Was hier eher im Allgemeinen als organologischer Prozess, als „Bedingung alles Lebens und aller Organisation“ ausgesprochen ist, wird in den poetologischen Schriften direkt auf Subjektivität und Geist bezogen. Als „Organisation“ sowie „organisierte“ und „sich selbst organisierende[] Wesen“ bezeichnet Kant in seiner Teleologie der von Hölderlin so intensiv studierten Kritik der Urteilskraft (1790) die objektive Zweckmäßigkeit, die die innere Verfasstheit eines lebendigen Ganzen, das Verhältnis der Teile zueinander, das Verhältnis von Teil und Ganzem und umgekehrt bestimmt.37 Nicht erst die Nachkantianer, Kant selbst hat den lebendigen Körper als Modell für eine Systemkonzeption verstanden, zunächst in seiner Architektonik der Kritik der reinen Vernunft,38 dann auch in den beiden Einleitungen der Kritik der Urteilskraft, wovon die Erste Einleitung den damaligen Lesern nicht bekannt geworden ist. Kants transzendentaler und elementarphilosophischer Zuschnitt, der auch seine Dritte Kritik prägt, lässt leicht aus dem Blick geraten, dass Leben, Organisation ein steter Prozess ist. Lebendige Organisation zeichnet sich Kant zufolge aus durch (geschlechtliche) Vermehrung, Ernährung und Wachstum sowie durch Selbstheilung.39 Diese Prozesse verbinden die objektive mit der relativen Zweckmäßigkeit, auch wenn Kant den Zusammenhang eher am Rande deutlich macht. Dass 37 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 64–66, AA 5, 369–377. 38 Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998. Im Folgenden nach der Paginierung der ersten Auflage 1781 (A) und der zweiten Auflage 1787 (B). Hier: Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 832–833/B 860–861. 39 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 64, AA 5, 371–372.

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auch das mentale Leben Teil der lebendigen Prozesse ist, hat Kant nicht ausdrücklich und nicht mit der nötigen Konsequenz reflektiert, wenngleich dies in seiner Konzeption des organischen Lebens unausgesprochen einbegriffen ist.40 Johann Gottlieb Fichte war es, der als erster die Prozessualität und Aktuosität des Mentalen bereits in der frühen Wissenschaftslehre von 1794/95 als der Darstellung des Systems des Geistes mit Emphase in den Blick rückte. Hegel nimmt dies entschieden auf, wenn er seine Form dialektischen Denken als Organisation, als organologisch, als flüssige und lebendige Substanz, entfaltet.41 In Hölderlins Denken sucht man vergeblich nach einer dialektischen ‚Methode‘, die den ebenso dunklen, zumeist kaum oder nicht erklärten, wie ausgefeilten prozessualen Methoden der Wissenschaftslehren oder der Systematik Hegels vergleichbar wären. Freilich ist sich die Hölderlin-Forschung darüber im Klaren, dass für Hölderlin gleichwohl dialektische Denkformen, das Denken in Gegensätzen, die Auffindung und Auflösung von Widersprüchen, zentral sind. Es lässt sich pauschal sagen, dass Hölderlins poetologische Schriften neben den jeweiligen inhaltlichen Fragen, die ihn beschäftigen, immer auch Konstruktionsanleitungen für sein dichterisches Tun sind. Diese nehmen unter anderem Anleihe an Kants organologischem Modell der Formung eines Ganzen und seinen vielfältigen Beziehungen zu den Teilen, das es zu schaffen gilt. In einem seiner Frankfurter Aphorismen betont Hölderlin explizit das Moment des Kompositorischen seines Dichtens: Überhaupt muß er [der Dichter, VLW] sich gewöhnen, nicht in den einzelnen Momenten das Ganze, das er vorhat, erreichen zu wollen, und das augenbliklich unvollständige zu ertragen; seine Lust muß seyn, daß er sich von einem Augenblike zum andern selber übertrifft, in dem Maße und in der Art, wie es die Sache erfordert, bis er am Ende den Hauptton seines Ganzen gewinnt. Er muß aber ja nicht denken, daß er nur im crescendo vom Schwächern zum Stärkern sich selber übertreffen könne, so wird er unwahr werden, und sich überspannen; er muß fühlen, daß er an Leichtigkeit gewinnt, was er an Bedeutsamkeit verliert, daß Stille die Heftigkeit, und das Sinnige den Schwung gar schön ersezt, und so wird es im Fortgang seines Werks nicht einen nothwenigen Ton geben, der nicht den vorhergehenden gewissermaßen überträffe, und der herrschende Ton wird es nur darum seyn, weil das Ganze auf diese und keine andere Art komponirt ist.42

Zahlreiche Stellen und Kontexte sprechen dafür, dass für ihn nicht minder die Prozessualität des Denkens und des lebendigen Bewusstseins in Geltung ist als für seine Studienkollegen. Der genannte Brief an Sinclair ist ein wichtiges Do40 Vgl. Violetta L. Waibel, Causa Efficiens – Causa Finalis. Two Unequal Principles of Science in Kant, in: The Court of Reason, Berlin 2021, 993–1003. 41 Violetta L. Waibel, Christian Danz und Jürgen Stolzenberg (Hg.), System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus: IV. Systeme in Bewegung: Systembegriffe nach 1800–1809, Hamburg 2018. 42 Hölderlin, Frankfurter Aphorismen 1798/1992, MA 2, 58–59, Zeile 34 (unten)–15.

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kument. Er sucht sich mit diesen Überlegungen Verhältnisse des Subjektiven und Objektiven zu erklären und kommt zur Einsicht, dass die Natur weder einen Grund erkennen lässt für eine absolute Monarchie noch für eine erfahrungsunabhängige rein apriorische Philosophie. Die Natur, das Leben kennt vorherrschende Prinzipien, aber kein Prinzip, das unangefochten und dauerhaft vorherrschen würde. Widerstreit, Widerspruch, Prozess, Relativierung von Herrschaft, das sind rückblickend allerdings Momente in Hölderlins Denken, die bereits Jahre früher zu bemerken waren. In der Vorrede des Hyperion in Vorletzter Fassung findet man in einer vielzitierten Passage neben dem mit Hölderlin gemeinhin assoziierten Konzept von Einheit und reinem Sein Gedanken, die bereits die Prozessualität thematisieren und die im Brief an Sinclair mit Macht hervortreten: Die seelige Einheit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Εν και Παν der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst. Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jezt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten. Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts, oft aber auch, als wären wir Alles und die Welt nichts. […] Aber weder unser Wissen noch unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Daseyns dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist; die bestimmte Linie vereiniget sich mit der unbestimmten nur in unendlicher Annäherung. Wir hätten auch keine Ahndung von jenem unendlichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sinne des Worts, wir strebten gar nicht, die Natur mit uns zu vereinigen, wir dächten und wir handelten nicht, es wäre überhaupt gar nichts, (für uns) wir wären selbst nichts, (für uns) wenn nicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts vorhanden wäre. Es ist vorhanden – als Schönheit; es wartet, um mit Hyperion zu reden, ein neues Reich auf uns, wo die Schönheit Königin ist.43

„Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten“, schreibt Hölderlin hier, und denkt damit Wechsel und Bewegung als vorherrschend gegenüber einem Zustand der Ruhe, wie er dies auch im Brief an Sinclair betont. Der normative Horizont ist jedoch in diesem Zeugnis hier und in dem Brief an Sinclair ein deutlich veränderter. In dieser Passage aus der Vorrede zum Hyperion von 1795 ist von einem Zerfallensein mit der seligen Einheit, von einem verloren gegangenen Urzustand, die Rede. Der Prozess, der Wechsel ist offenkundig ein normativ schlechterer Zustand, als derjenige, in dem sich der Mensch zuvor in einem Einssein mit der Natur befand. Die selige Einheit als Zustand der Natur in einer wohlgefügten Ursprünglichkeit zu bestimmen, deutet auf Jean-Jacques Rousseau und seinen Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit 43 Hölderlin, Hyperion 1795/1992, MA 1, 558–559, Zeile 13–1 (oben).

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unter den Menschen) von 1755 hin. Das sei hier nur erwähnt. Rousseau hatte in dieser Schrift bereits die These formuliert, dass menschliche Gemeinschaftsverhältnisse wie Monarchien, Aristokratien nachhaltig zur Zerstörung der ursprünglichen Gleichheit der Menschen beigetragen haben.44 Rousseau gilt bekanntlich als geistiger Ahnvater der Prinzipien der Französischen Revolution; liberté, égalité, fraternité, c’est à dire paix, also Freiheit, Gleichheit und Friede unter den in Verbindung stehenden Menschen sind bereits die behandelten Themen in diesem Discours. Und auch Hölderlin ruft diese in ihrer positiven oder negativen Erscheinung (Herrschaft und Knechtschaft als Dysbalance von Gleichheit) im weiteren Kontext seines Vorworts auf. Im 1794 erschienenen Vorwort des Fragments von Hyperion ist noch ausdrücklicher von einer Organisation der Natur die Rede, also einem Rousseauschen ursprünglichen Seinszustand des Menschen, der in eine Organisation verwandelt werde, die der Mensch sich selbst gebe. Dieser durch das Selbst erzeugte Zustand müsse die Naturorganisation einst in der Zukunft abbilden, allerdings bei „unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften“.45 Den Weg zwischen diesen idealen Seinszuständen bestimmt Hölderlin durch die weithin rezipierte Metapher einer exzentrischen Bahn. Da Hölderlin sowohl die Organisation der Natur, als auch die Organisation, die der Mensch unter Wahrung des Maßstabs des Ausgangsideals herzustellen hat, als Ideale anspricht, darf angenommen werden, dass in diesen idealen Organisationen menschlicher Verhältnisse eine gute, wenn nicht sogar ideale Balance auch hinsichtlich der Herrschaftsverhältnisse vorzustellen ist. Blickt man nun wieder auf die Ausführungen im Brief an Sinclair, so wird deutlich, dass sich darin drei Ebenen des Denkens überlagern, (1) menschlich politische Herrschaftsverhältnisse, (2) metaphysische Fragen, die ein reines erfahrungsunabhängiges Apriori zurückweisen, und (3) ein organologisches von Kant herrührendes Konzept, das die beiden ersten vermittelt. Die Hypothese eines Ur- und Naturzustandes nach Maßgabe Rousseaus, das bei Hölderlin anzutreffen ist, ist das Konzept eines Anfangs, das Hegel strikt zurückweist. Allerdings lässt sich sagen, dass dessen Phänomenologie des Geistes in einer frappierenden Weise der exzentrischen Bahn gehorcht, die Hölderlin in seiner Vorrede zum Hyperion-Romanfragment von 1794 zum Thema macht, und die der Weg sein wird, die sein Protagonist Hyperion zu durchlaufen hat. „Die exzentrische Bahn, die der Mensch, im Allgemeinen und Einzelnen, von einem Puncte (der mehr oder weniger reinen Einfalt) zum anderen (der mehr oder we44 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen) 1755, in: Derselbe, Schriften zur Kulturkritik, eingeleitet, übersetzt, und hg.v. Kurt Weigand, Hamburg 1995, Französisch – Deutsch, 77–269, hier: 248–253. 45 Hölderlin, Fragment von Hyperion, 1794/1992, MA 1, 489, Zeile 9–10.

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niger vollendeten Bildung) durchläuft, scheint sich, nach ihren wesentlichen Richtungen, immer gleich zu seyn.“46 Hegels Weg der Selbsterfahrung des Bewusstseins ist der Weg einer zunehmenden Erkenntnis, der Gestalten seiner selbst aufdeckt, ihre Möglichkeiten, ihre Grenzen erfährt, und an den Grenzen, dem Scheitern nach immer neuen Möglichkeiten sucht. In dieser Perspektive wäre es durchaus spannend, Hegels Gang der Entwicklung des Selbst im ‚Bildungsroman‘ Phänomenologie mit dem Entwicklungsgang zu konfrontieren, den Hyperion im zweibändigen Roman von 1797 und 1799 aber auch in früheren überlieferten Fragmenten nimmt. Dem Gang der Entwicklung des Bewusstseins korrespondiert das Durchlaufen einer „exzentrischen Bahn“, wie Hölderlin im Vorwort zum Fragment von Hyperion formuliert, wo Hölderlin vorsieht, dass diese Bahn von einem Ideal zu einem anderen läuft.47 Mit diesen beiden Idealen verbindet Hölderlin schon hier die Rede von Organisationen, wie er sie mit der Teleologie in Kants Kritik der Urteilskraft kennengelernt hatte: Es giebt zwei Ideale unseres Daseyns: einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zuthun, gegenseitig zusammenstimmen, und einen Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe statt finden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind.48

46 Hölderlin, Fragment von Hyperion, Vorrede, 1794/1992, MA 1, 489, Zeile 12–16. 47 Eine sehr detaillierte Untersuchung von Hölderlins Hyperion-Projekt in allen seinen Stufen und die Rolle von Kants Philosophie für den Hyperion hat Gideon Stiening mit seinem Buch Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman ‚Hyperion oder der Eremit in Griechenland‘ vorgelegt. Stiening liest Hölderlins Roman und seine Stufen über weite Strecken als Zeugnis eines strengen kantischen Moralphilosophen. Diese moralphilosophisch orientierte Interpretation verkennt, dass Hölderlin bereits im Oktober 1794 ankündigt, dass er mit und über Schiller hinaus eine „Kantische Gränzlinie“ hinter sich lassen wolle (Hölderlin an Christian Neuffer, 10. Oktober 1794, MA 2, 550–551, 551, Zeile 8. Vgl. dazu auch Violetta L. Waibel, Metaphysik des Schönen und Erhabenen im Hinblick auf das Tragische bei Kant, Schiller und Hölderlin, in: Rudolf Langthaler/Michael Hofer (Hg.), Kant und die Folgen. Die Herausforderung in Ästhetik, Ethik, Religionsphilosophie. Wiener Jahrbuch der Philosophie XLVIII, 2016, Wien 2017, 34–101.) Bei der Betrachtung der Vorrede des Fragments von Hyperion bringt Stiening Kants Vorstellung eines Ideals sowie die Teleologie und insbesondere die Organisation von Teil und Ganzem nach § 65 der Kritik der Urteilskraft in den Blick (63–84). Stiening moniert, dass die beiden Ideale der Natur und der Selbstorganisation in der Forschung auf spätere Fassungen des Hyperion angewandt worden seien, obwohl die Termini nicht mehr vorkommen (62–63). Hervorzuheben ist der Verweis Stienings darauf (70), dass die Organisation durch uns selbst in Kants Überlegungen zur gemeinschaftlichen, staatlichen Verfassung in der Kritik der Urteilskraft (§ 83) einen ihrer Ausgangspunkte hat. Nach meinem Verständnis ist die Systematik, und schließlich auch die Dynamisierung der „Organisation“ für Hölderlins philosophisches und poetologisches Denken in den kommenden Jahren durchgängig bedeutend, was zurücktritt ist die Fokussierung auf die Ideale. 48 Hölderlin, Fragment von Hyperion, Vorrede, MA 1 489, Zeile 4–12.

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Die beiden Formen der „Organisation der Natur“ und der „Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind“ werden offenkundig als Idealzustände vom Menschen betrachtet. Das erste Ideal bezieht sich dabei auf den Menschen in einem idealen natürlichen Zustand, das zweite Ideal ist, wie er schreibt, ein „Zustand der höchsten Bildung“, in dem sich ein Ideal der Bildung, also der Kultivierung des Menschen realisiert hat, oder erst realisieren soll. Der Begriff der Organisation wird in dem kurzen Text nicht genauer bestimmt, gemahnt aber doch an die Idee der Organisation, die Kant mit der objektiven Zweckmäßigkeit als organisiertes und sich selbst organisierendes Prinzip zum Thema gemacht hat. Organisiert und sich selbst organisierend lässt sich oberflächlich auf die beiden Idealzustände der Natur und des Selbst projizieren. Doch das wäre zu kurz gegriffen. Es würde weder den einen noch den anderen Zustand als Idealzustand begreiflich machen. Man darf davon ausgehen, dass Hölderlin den beiden Zuständen zuschreibt, was Kant zum Begriff des Lebens als einer Organisation in der Kritik der Urteilskraft herausgearbeitet hat. Doch während Kant Lebewesen der Natur überhaupt betrachtete, und deren Struktur als lebendige Wesen dem Verständnis genauer zu erschließen suchte, schränkt Hölderlin seine Perspektive auf den Menschen ein. Überdies steigert er die Organisation zu einem Ideal, zu einem Gleichgewichtszustand also, den die Natur einerseits erlaubt und die Selbstorganisation der Subjektivität andererseits. Es wird überdies das Verhältnis der beiden Ideale zueinander als Organisationen von Hölderlin bedacht. Sie gleichen sich einerseits, aber von der selbstgegebenen Organisation heißt es zudem, dass in ihr „dasselbe statt finden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften“.49 Während Kant also in seinen Überlegungen den systematischen Unterschied zwischen dem Kausalmechanismus und der Zweckmäßigkeit der Natur einerseits herausarbeitet, aber andererseits auch der Verkürzung und dem Missverstand entgegentritt, sofern man die Zweckmäßigkeit der Natur bloß als ein Analogon der menschlichen Kunstfertigkeit versteht, geht Hölderlin einen anderen Weg. Er wendet den Organisationsbegriff der Natur auf den Naturzustand des Menschen an, wie immer dieser genauer zu verstehen sein mag, und entwirft ein künftiges Ideal, das der Naturorganisation mit „unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften“ folgt. Das Naturideal macht freilich deutlich, dass auch der Mensch ein Naturwesen ist, das sich mit dem Prinzip der Naturorganisation zu einem gewissen Teil denken und beurteilen lässt. Hölderlin scheint es attraktiv gefunden zu haben, den Gedanken der Organisation mit dem der Schönheit zu verknüpfen, die im

49 Hölderlin, Fragment von Hyperion, Vorrede, MA 1 489, Zeile 9–10.

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Roman Hyperion häufig dargestellt und reflektiert wird,50 so dass beide Momente, die der subjektiven und der objektiven Zweckmäßigkeit, der Schönheit wie der natürlichen Wohlorganisiertheit überlagern und eigentlich zusammenfallen. Die Vorstellung eines Daseinszustands, sei dieser auch als ideal gedacht, erzeugt allerdings eine gewisse Statik in der Vorstellung dieses Ideals, die der Dynamik des Lebens überhaupt und des menschlichen Daseins im Besonderen entgegensteht. Dynamik spiegelt sich im Bild der exzentrischen Bahn, wenngleich eine Bahn einen geordneten Verlauf eines Geschehens, eines Bewegungsablaufs markiert. Wie dynamisch auch immer diese Bahn gedacht sein mag, sie führt zu einer höheren Organisation, die zugleich einen höheren Daseinszustand verspricht. Die exzentrische Bahn ist von Zweckorientierung, von menschlichem Handeln bestimmt. Bedeutet dies, dass der Selbstorganisation der emphatische Begriff der Organisation in Kants Sinn abgesprochen werden muss? Ist diese ein Kunstprodukt? Genau dies scheint Hölderlin nicht im Sinn zu haben, denn dieses Ideal ist zwar Resultat menschlichen Handelns, aber es ist zugleich ein Resultat, das über das bloße menschliche Handeln hinausreicht. Es ist Formung der ursprünglichen Natur, der ursprünglichen Organisation, indem deren Kräfte vervielfältigt und verstärkt werden. Wie der Arzt, der das kranke Leben befördern, gesund zu machen sucht, muss der Weg der Bildung ein solcher sein, der mit menschlichen Mitteln, mit wohlgesetzten Zwecken die Natur des Ganzen zu fördern und zu potenzieren sucht. Wenn es so ist, dass in der Naturorganisation ein Ideal zu finden ist, dann muss Bildung eine Potenzierung dieser Natur durch die Natur der Vernunft sein. Die Statik des Idealzustands am Beginn und Ende einer Entwicklung ist nur scheinbar, sofern der Idealzustand als Spiegel eines maximal optimierten Kräftespiels interpretiert wird. Das Verhältnis der Organisationen von Natur und Kunst (als einer Selbstgesetzgebung durch Kulturleistungen), bewegt Hölderlin auch in seinem zweiten großen Dichtungsprojekt, in seiner Tragödie Der Tod des Empedokles. Dieses Verhältnis von Natur und Kultur erfährt in der Theorie um 1800 eine wesentliche Modifizierung. Wieder ist es ein Dichter, Empedokles, der im Zentrum des Werks steht. Der Protagonist ist in entfernter Verwandtschaft nach dem Vorsokratiker Empedokles gezeichnet. Die Gestalt des Empedokles kann hier aber nur in wenigen Zügen in den Blick gebracht werden. Im Prozess des Suchens nach einem geeigneten Sinn des Tragischen, das nach dem Vorbild von Sophokles im Trauerspiel Der Tod des Empedokles realisiert werden soll, nimmt Hölderlin seine frühe Vorstellung von den zwei Idealen als Organisation der Natur und Organisation, die 50 Vgl. Johannes Epple, Transformationen schöpferischer Vernunft. Kant – Hölderlin – Nietzsche. HölderlinForschungen 3, hg.v. Violetta L. Waibel, Jörg Robert und Martin Vöhler, Paderborn 2021.

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wir uns selbst geben, wieder auf und deutet sie um. Das nicht unproblematische Naturideal wird von Hölderlin teilweise zurückgenommen. Damit wird seine spätere Konzeption lebenswirklicher und überzeugender. Der Gedanke vorübergehender Herrschaftsverhältnisse der Organisationen der Natur, die keine absolute Monarchie duldeten, wie Hölderlin sie gegenüber Sinclair reflektierte, findet im Empedokles einen Widerhall. Dem gilt es nun, sich zuzuwenden.

3.

Natur und Kunst als Aorgisches und organisiert Organisches in wechselseitiger Durchdringung

Hölderlin gerät bei der Ausarbeitung des Trauerspiels Empedokles bekanntlich ins Stocken. Geplant waren für Hölderlins einziges Trauerspiel fünf Akte. Was zustande kam, ist Fragment geblieben. Überliefert sind eine frühe Entwurfsskizze von 1797 und drei Fragment gebliebene Fassungen aus den Jahren 1798 bis 1800 von unterschiedlicher Konzeption und Länge. Nachdem er nicht bloß einen Ersten, sondern auch einen Zweiten Entwurf des Empedokles unvollendet liegen lässt, wendet er sich theoretischen Reflexionen, darunter dem Grund zum Empedokles zu. Darin sucht Hölderlin neue Klarheit zu gewinnen über die Wechselbestimmung von Natur und Kunst. Nach der Aufgabe des Zweiten Entwurfs unterbricht er die Arbeit an der dramatischen Dichtung, um mit theoretischen und poetologischen Selbstreflexionen die Probleme der ins Stocken geratenen Arbeit an dieser tragischen Dichtung philosophisch zu durchdringen. Ergebnis dieser Selbstreflexionen sind die Fragment gebliebenen Schriften Die tragische Ode … und Der Grund zum Empedokles. Und nach Abbruch des Dritten Entwurfs und im Anschluss an die letzten Notizen zur geplanten Rede des Sehers Manes konzipiert Hölderlin den theoretischen Text Das Untergehende Vaterland … .51 Im Grund zum Empedokles sucht Hölderlin die Probleme zu überwinden, die ihn ins Stocken geraten ließen. In anderem Kontext habe ich gezeigt, dass Hölderlin diese Tragödie insbesondere nach dem Vorbild von Sophokles’ Tragödie Ödipus auf Kolonos konzipierte und nicht geringe Probleme hatte, das Tragische seines Empedokles überzeugend zu begründen. Die Frage der Begründung des Tragischen werde ich im Folgenden nur streifen.

51 Der Erste Entwurf des Dramas liegt in zwei von fünf Akten vor, die insgesamt 1864 Verse und 9 und 7 Aufzüge umfassen. Vom Zweiten Entwurf liegen vom ersten Akt 536 Verse in drei Aufzügen vor, und vom zweiten Akt 163 Verse des zum Ersten Entwurf äquivalenten Aufzugs 7 und dem folgenden neuen 8. Aufzug. Vom Dritten Entwurf liegen schließlich 504 Verse in 4 Aufzügen und die Skizze zu einer Fortführung vor.

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Der Grund zum Empedokles beginnt mit den Worten: „Natur und Kunst sind sich im reinen Leben nur harmonisch entgegengesetzt. Die Kunst ist die Blüthe, die Vollendung der Natur; Natur wird erst göttlich durch die Verbindung mit der verschiedenartigen aber harmonischen Kunst“.52 Während 1794 Natur und Selbstorganisation einander gegenübergestellt wurden, sind es 1800 Natur und Kunst. In beiden Fällen geht es Hölderlin um anthropologische Bestimmungen, mit denen er nach dem Ideal des Menschen sucht. Natur spielt auch um 1800 die Rolle eines Vorbildes, denn die Kunst ist ihre „Blüthe“, ja sogar ihre „Vollendung“. Aber hier spricht Hölderlin nicht mehr nur von einer Potenzierung der Kräfte der Natur in ihrer Idealität durch die Selbstgesetzgebung. Vielmehr ist die Natur erst ideal, Hölderlin sagt hier göttlich, durch die Verbindung mit der Kunst, die in bestimmten Hinsichten anders ist als die Natur, wenngleich sie für diese Verbindung harmonisch gestimmt sein soll. Für den jüngeren Hölderlin war die Natur von sich aus ein Ideal, vor und um 1800 ändert sich sein Naturbegriff in bemerkenswerter Weise. Natur wird einerseits neutraler, andererseits vielschichtiger gesehen. Den beiden Polen der Ideale der Naturorganisation und der selbstgesetzgebenden Organisation von 1794, die durch eine exzentrische Bahn verknüpft und die Zustände von einem zum anderen überführt werden sollen, steht nun eine Wechselbestimmung der beiden Momente gegenüber, die ebenso different wie einander wesensverwandt sind. Sie sind sich „nur im reinen Leben harmonisch entgegengesezt“; das heißt offenbar, dass Natur und Kunst je nach Perspektive identisch oder einander entgegengesetzt sind. Die beiden Momente ersetzen sich gegenseitig den Mangel, der im einen wie im anderen Zustand vorhanden ist, und genau genommen ist das „Göttliche […] in der Mitte von beiden“, wie es im Grund zum Empedokles heißt.53 Diese „Mitte von beiden“ fordert eine Vermittlung von Natur und Kunst, die der Künstler exemplarisch und prototypisch zu erfüllen hat. Das Modell der beiden Ideale mit ihren Organisationen von Natur und Kunst von 1794 stellt Resultate von geringeren oder höheren und vervielfältigten Kräfteverhältnissen vor Augen, die jeweils in ihrer Art schön zu nennen sind. Kants Theorie des Schönen in der Kritik der Urteilskraft vertritt den Gedanken einer inneren Wesensgleichheit von Schönheit in Natur und Kunst. Kants Untersuchungen der Struktur des Urteils vom Schönen beginnen mit dem Naturschönen, das meistens im Fokus der Analytik der ästhetischen Urteilskraft steht, nämlich beim ersten, zweiten und vierten Moment des Schönen der Qualität, der Quantität, der Modalität nach. Beim dritten Moment der Relation und der Zweckmäßigkeit des Schönen ohne Zweck differenziert Kant in reine Natur-

52 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 9–13. 53 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 16.

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schönheit und anhängende Schönheit des Menschen und der Kunst.54 Im Anschluss an die Deduktion der reinen ästhetischen Urteile entwickelt Kant seine Darlegungen zur Schönheit in der Kunst und dem Künstler als Genie (§§ 30 bis 54). Der § 45 ist geradezu programmatisch überschrieben: „Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint“.55 Das musste Hölderlin sehr interessiert haben. Die Annahme legt sich nahe, wonach dieser Gedankengang Kants eher Hölderlins späterem als dem früheren Modell entspricht. Kant führt näherhin aus: An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei. Auf diesem Gefühle der Freiheit im Spiele unserer Erkenntnisvermögen, welches doch zugleich zweckmäßig sein muß, beruht diejenige Lust, welche allein allgemein mitteilbar ist, ohne sich doch auf Begriffe zu gründen. Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.56

Die These ist naheliegend, dass das Modell, das Kant hier zum Verhältnis von Natur und Kunst mit Blick auf die Schönheit zum Ausdruck bringt, sich weit besser in Hölderlins Überlegungen im Grund zum Empedokles spiegelt, als im Modell der beiden Ideale als Organisationen, deren Transformationsprozesse vom einem zum anderen auf dem Weg einer exzentrischen Bahn verlaufen. Die Vorstellung, das menschliche Leben sei durch einen idealen, aber, durch welche Gründe auch immer, verlorenen und verlassenen Urzustand zu bestimmen, den es in ferner Zukunft wiederzugewinnen gilt, unterliegt ebenso der berechtigten Kritik an all jenen Konzeptionen, die das eigentliche Leben in ein Jenseits des menschlichen Lebens projizieren. Leben ist und vollzieht sich im Hier und Jetzt, Schönheit ist im Hier und Jetzt, sei sie Schönheit der Natur, oder Schönheit, die durch Kunst hervorgebracht wird. In der Vorrede zur Vorletzten Fassung des Hyperion betont Hölderlin, die Schönheit sei Anwesenheit eines idealen Seins: Wir hätten auch keine Ahndung von jenem unendlichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sinne des Worts […], wenn nicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts vorhanden wäre. Es ist vorhanden – als Schönheit; es wartet, um mit Hyperion zu reden, ein neues Reich auf uns, wo die Schönheit Königin ist.57

54 Vgl. Violetta L. Waibel, Kant und das Schöne – in der Kunst, in: Volker Gerhardt und Matthias Weber (Hg.): Immanuel Kant 1724–2024. Ein europäischer Denker (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, ca. Bd. 79). München/ Berlin/New York 2022, erscheint demnächst. 55 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 45, AA 5, 306. 56 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 45, AA 5, 306. 57 Hölderlin, Hyperion 1795/1992, MA 1, 558–559, Zeile 31–2 (oben).

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Während Hölderlin hier eine metaphysische Dimension der Schönheit als seiend und als vorhanden erklärt, gibt Kant als Beispiele für Schönheiten der Natur Blumen, wohlgeformte Lebewesen des Tierreichs an: „Blumen sind freie Naturschönheiten. […] Viele Vögel (der Papagei, der Kolibri, der Paradiesvogel), eine Menge Schaltiere des Meeres sind für sich Schönheiten.“58 Es versteht sich, dass diese Beispiele bloß Hinweise darauf sind, wo Schönes insbesondere zu finden ist. Freilich gilt Kants grundlegender Anspruch, dass es keine allgemeinen Urteile über Gegenstandbereiche des Schönen gibt, sondern jedes einzelne Lebewesen daraufhin beurteilt werden muss, ob es tatsächlich schön ist und verwechselbar ist mit einem Kunstwerk. Soll die Schönheit eines Kunstwerks beurteilt werden, müsse man sich an ihm bewusst machen können, dass es Kunst sei, nicht Natur, schreibt Kant. Schönheit zeichnet sich durch Interesselosigkeit und Zweckmäßigkeit ohne Zweck aus. Zugleich weiß Kant, dass es keine Kunst, kein Artefakt gibt, an dem nicht die Spuren menschlicher Zwecksetzungen, menschlicher Intentionalität im Handeln erkennbar sind. Der Künstler, die Künstlerin bearbeitet den Gegenstand, sei dies die Sprache, die Farbe auf Leinwand oder Papier, das bearbeitete Material einer Skulptur, die nach Regeln gesetzten Klänge oder auch Geräusche einer musikalischen Darbietung. Kein Kunstwerk kann entstehen, ohne dass ein Subjekt, das sich künstlerisch ausdrücken möchte, intentionale Prozesse in Gang bringt. Mag auch die Natur des Genies, der Künstlerin, des Künstlers Wesentliches an der Originalität eines Werkes mitgestalten, mag diese Natur Ausdruck des Unbewussten sein, es ist unhintergehbar ein Wollen mit am Werk. Sei es auch, dass ein gänzlich unbearbeiteter Gegenstand der Natur zum Kunstwerk erklärt werden würde. Auch diese Erklärung ist Intention, Zweck. Es ist das Wollen eines Subjekts, das einen Naturgegenstand dekontextualisiert und zu etwas bestimmt, was nur dem Menschen möglich ist. Im schönen Kunstwerk müssen sich Kants Theorie zufolge Zweckfreiheit des Schönen mit all jenen Zwecken zusammenbringen lassen, die das Werk zum Kunstwerk machen, nämlich die Formgebung, die Materialbearbeitung, die Gestaltung als einem Ganzen. Werke der Kunst dienen dieser Konzeption zufolge also keinen Zwecken, sind also nicht Mittel zu einem außer ihrer selbst liegenden Zweck. Gleichwohl folgt aber jedes Kunstwerk einer oder mehreren künstlerischen Absichten und Ideen. Kunstwerke haben einen Stoff, der in vielfacher Hinsicht bearbeitet werden muss, sie sind bestimmt durch einen Formwillen, adressieren sich an die Geschichte der Kunst, stimmen zu, grenzen sich ab. Diese werkbezogenen, immanenten Zwecke sind Produkte der Gedankenarbeit der künstlerischen Schaffensprozesse, die sich mittelbarer oder unmittelbarer auch den Rezipienten der Werke mitteilen.

58 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 16, AA 5, 229.

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Wissenschaften wie die Literatur- oder Musikwissenschaft, die Kunstgeschichte und andere, haben vieles erhellende und erschließende über Kunstwerke zu sagen. Diese Begriffsarbeit, die sowohl die Gedankenarbeit der Künstlerinnen und Künstler zu rekonstruieren beabsichtigt, als auch gattungsspezifische wie historische Bezüge und noch vieles andere herauszuarbeiten sucht, ist es jedoch nicht, die die Schönheit von Kunstwerken auszeichnet, jedenfalls nicht unmittelbar. Die Problematik der verschiedenen Perspektiven auf Werke der Kunst reflektiert Kant auf eine bemerkenswerte Weise, wenn er schreibt: „Ein Geschmacksurteil würde in Ansehung eines Gegenstandes von bestimmtem inneren Zwecke nur alsdann rein sein, wenn der Urteilende entweder von diesem Zwecke keinen Begriff hätte oder in seinem Urteile davon abstrahierte.“59 Es gibt also offenkundig Kontexte, in denen ein Gegenstand unmittelbar und frei von weiteren Überlegungen als schön erfahren wird; in anderen stellen sich Begriffe (der Vollkommenheit) angesichts eines möglichen Zwecks des dargestellten Gegenstandes ein. Bei Kunstwerken kommt man oft nicht umhin, etwas als der Kunstgattung angemessen, dem Subjekt entsprechend gelungen zu beurteilen. Die Frage der Schönheit und des inneren Zwecks des Kunstwerkes oder der Schönheit eines Menschen überlagern und vermischen sich hier. Beide Hinsichten führen zu einem angemessenen Urteil: „der eine [urteile, VLW] nach dem, was er vor den Sinnen, der andere nach dem, was er in Gedanken hat. Durch diese Unterscheidung kann man manchen Zwist der Geschmacksrichter über Schönheit beilegen, indem man ihnen zeigt, daß der eine sich an die freie, der andere an die anhängende Schönheit halte, der erstere ein reines, der zweite ein angewandtes Geschmacksurteil fälle.“60 Bildet man sich historische oder wissenschaftliche Begriffe von Kunstwerken, so hat man bei der Frage nach der Schönheit von diesen Begriffen, sei es bewusst oder unbewusst, möglichst abzusehen, von ihnen zu abstrahieren, wie Kant hier ausdrücklich sagt, auch wenn sie sich dem Rezipierenden aufdrängen. Kant legt hier nahe: Wir können uns bei der Betrachtung von Kunstwerken auf verschiedene Ebenen der reinen oder der anhängenden Schönheit begeben, je nach Einstellung bald Begriffe zulassen, bald diese ausblenden. Wichtig ist, das jeweilige Interesse am Kunstgegenstand, sein rationales Erfassen oder sein sinnliches Erfahren genau zu kennen, um zu wissen, worüber man im speziellen Fall urteilt; ob nämlich ein Kunstwerk schön ist und das Gefühl des Reflexionsurteils anspricht, oder ob es nach rationalen Gesichtspunkten künstlerische Fertigkeiten und Zwecke beurteilt wird.

59 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 16, AA 5, 231. 60 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 16, AA 5, 231.

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Über das hinaus, was Kant hier sagt, ist überdies vorstellbar, dass die rationale, begriffliche Erschließung von Kunstwerken auch die Lust, die das Schöne hervorruft, zu verstärken vermag. Hat man die inneren Zwecke erkannt, von denen Kant bezüglich der Kunstwerke spricht, so ist der Kopf, sind die Vermögen auch frei, ihr Spiel, ihr Vergnügen, ihre belebende Kraft in Gang zu setzen und zu gewahren. Sieht man nun zurück zu Hölderlin, so gibt er im Grund zum Empedokles und in anderen poetologischen Schriften dieser Arbeitsphase klar zu erkennen, dass er sehr genau zwischen Gefühlen, Empfindungen, Reflektieren und Erkennen im schöpferischen Prozess (und der Rezeption des Werkes) unterscheidet. Der in Kant zu entdeckende Perspektivenwechsel auf Natur und Kunst, auf die bewussteren oder unbewussteren Einstellungen des (künstlerischen) Subjekts zu seinem Gegenstand dürfte ihm geläufig geworden sein. Der Gedanke von einer exzentrischen Bahn (1794), die das Naturideal in ein Ideal der Selbstgesetzgebung transformiert, könnte Hölderlin schon bald unangemessen vorgekommen sein, wenn darunter ein Heraustreten aus einem Idealzustand und der langwierige, aus dem Zentrum herausgesetzte, ex-zentrische Weg hin zu einem gesollten und gewollten Ideal verstanden werden soll. Dieses Modell wird der eigenen Idee vom Ganzen des Lebens, das sich wandelt, eine Idee, die später immer deutlicher hervortritt, nicht gerecht. Organisationen, Organismen des Lebens verändern sich nicht durch einzelne lineare Prozesse. Das intentionale Eingreifen in einen Organismus (an zentralen Stellen und Knotenpunkten) kann mitunter schlagartig vieles verändern wie die Erfahrung zeigt; und nicht nur zum Guten, wenn man die internen Kreisläufe und Zusammenhänge zu wenig begreift. So kann auch ein Entwicklungsroman wie Hölderlins Hyperion oder Hegels Erzählung von der Entwicklung des Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes missverstanden werden, wenn er als bloß lineare Entwicklung rezipiert wird. In der Vereinigung von (linearem) Mechanismus mit (ganzheitlicher) Finalität identifizierte Hölderlin den Geist der Philosophie Kants, wie er am 26. Januar 1795 an Hegel schrieb: „Den Begriff der Vorsehung behandelst Du wohl ganz parallel mit Kants Teleologie; die Art, wie er [Kant, V.L.W.] den Mechanismus der Natur (also auch des Schiksaals) mit ihrer Zwekmäsigkeit vereiniget, scheint mir eigentlich den ganzen Geist seines Systems zu enthalten; es ist freilich dieselbe, womit er alle Antinomien schlichtet.“61 Das kann hier nicht vertieft werden, doch es ist festzuhalten, dass Differenz ebenso wie Zusammentreffen von Mechanismus und Teleologie des Organischen zu einer grundlegenden gedanklichen Operation für Hölderlin geworden ist.

61 Friedrich Hölderlin an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Brief vom 26. Januar 1795, in: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, MA 2, 569.

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Sofern ein Entwicklungsroman dem Gang der Zeit eines Subjekts folgt, kann man von einem linearen Fortgang sprechen. Der Gang der Zeit lässt sich im Rückblick als kausale Geschichte erzählen und im Vorausschauen als Erwartbares, wenn vielleicht auch nicht immer als dann Eintreffendes bestimmen. Ein Briefroman lässt zumeist die Sukzession der nacheinander geschriebenen Briefe im Fortgang der Zeit erwarten. Das Romanprojekt Hyperion in der gedruckten zweibändigen Fassung von 1797 und 1799 folgt einem Bildungsgang auf der Ebene des Erzählens in Briefen, in dem erzählte Zeit und die Zeit des Schreibens kenntlich getrennt werden. Mithin treten die Zeit des Erlebens und die Zeit des Reflektierens über das früher Erlebte auseinander und verschränken sich zugleich im Erinnern und Kommentieren des Wiedererlebens. Der Protagonist Hyperion, der von seinen Erfahrungen brieflich Nachricht gibt, wird, so könnte man sagen, am Ende der Dichter, der das Romangeschehen als impliziter Briefeschreiber, und in Distanz zu sich tretend als Kommentator auf anderer Ebene, schreiben wird und, wie ein Moment des Innehaltens und Reflektierens zeigt, bereits geschrieben hat. Beim Besuch der Ruinen des antiken Athen erteilt Diotima Hyperion den Auftrag: „Du wirst Erzieher unsers Volks, du wirst ein großer Mensch seyn, hoff ich.“62 Im eben genannten Brief an Hegel vom 26. Januar 1795 spricht Hölderlin von seinem Plan einer Volkserziehung: „Ich gehe schon lange mit dem Ideal einer Volkserziehung um, u. weil Du Dich gerade mit einem Teile derselben der Religion beschäftigest, so wähl ich mir vieleicht Dein Bild und Deine Freundschaft zum conductor der Gedanken in die äußere Sinnenwelt, und schreibe, was ich vieleicht später geschrieben hätte, bei guter Zeit in Briefen an Dich, die Du beurteilen und berichtigen sollst.“63 Das Bildungs- und Erziehungsprojekt, das im Gang des Romans Auftrag Diotimas an den Protagonisten Hyperion war, schließt sich zusammen mit dem Plan des Autors Hölderlin, das Ideal einer Volkserziehung zu realisieren, wozu sicher auch dieser Roman zählte. In den Schlussworten des Romans spiegeln sich beide Ebenen: „So dacht’ ich. Nächstens mehr.“64 Nachdem Hyperion im letzten Brief des Romans Diotima angerufen hatte, deren Stimme er zu hören glaubt, lässt der Protagonist Hyperion „die kalte Nacht der Menschen zurük“,65um einen inneren Dialog mit der Natur wiederzugeben, der anhebt mit „O du, so dacht ich“. Dieser Dialog spricht die Zyklizität alles Lebens, alles Organischen, alles stofflichen Sterbens und Neuauflebens aus, schließlich auch des sich Trennens und Verbindens des Geistes. Höher, umgreifender als alle Dissonanzen in der Welt ist die Liebe. Liebe ist nicht ohne 62 63 64 65

Hölderlin, Hyperion, Erster Band, Zweites Buch, MA 1, 693, Zeile 9–10. Hölderlin an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Brief vom 26. Januar 1795, MA 2, 569. Hölderlin, Hyperion, Zweiter Band, Zweites Buch, MA 1, 760, Zeile 33. Hölderlin, Hyperion, Zweiter Band, Zweites Buch, MA 1, 759, Zeile 35.

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Streit, ohne innere Entfernung, aber sie vermag es, Versöhnung, neue Verbindung einzuleiten: „Versöhnung ist mitten im Streit“. Zu diesem inneren Erzählen, des „[S]o dacht’ ich“ gehört noch die berühmte Passage: „Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist alles.“ Nicht mehr in dieses Selbstzitat einbegriffen sind die letzten Worte: „So dacht’ ich. Nächstens mehr.“ Wie die Liebe den Streit zu überwinden vermag, so das Leben die kalte Nacht und die Erfahrung des Todes. Zunächst ist es Hyperion, der mit seinem „so dacht’ ich“ eine Einsicht generiert, die der scientia intuitiva Spinozas nahe kommt. Wohl 1798 notiert sich Hölderlin in einem seiner Frankfurter Aphorismen: „Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, daß man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen sezt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisirtes Gefühl keine Vortreflichkeit, kein Leben.“66 Ewige Heiterkeit und Gottesfreude ist amor Dei intellectualis. Diese Freude, diese Liebe, diese Einsicht erreicht man durch einen langen Weg des Erlebens, Erfahrens, des Denken und Begreifens. Eine solche Einsicht ist es offenbar, die Hyperion nach seinen Erlebnissen und Erfahrungen, die er zu bewältigen hatte, zuteil wird. Sie ist es auch, die den Briefe schreibenden Hyperion veranlasst, im Geist dieser Einsicht, dieser scientia intuitiva, dem Briefadressaten weitere Briefe in Aussicht zu stellen. Für den Leser vom Ende her gedacht, ist dieses „Nächstens mehr[.]“ bislang nicht erfolgt. Die nächsten Briefe, die Fortsetzung wird auf eine virtuelle Ebene gehoben. Damit wird indirekt auch der Leser des Romans angesprochen, denn Bildung, so macht Hölderlin vielfach deutlich, ist nicht Wissensanhäufung, ist nicht das Nachschlagen in Kompendien, wie die Vorrede erklärt.67 „Nächstens mehr[,]“ heißt daher auch, den Briefroman von Neuem zu lesen, im zyklischen Gang, um seine Tiefen zu erfassen. Es ist aber auch die Adresse an den Leser, die Einsicht, die scientia intuitiva selbst zu erlangen, die nie ein für alle mal erreichbar ist, sondern wieder und wieder gewonnen werden muss. Auf der Ebene des Romangeschehens ist es der implizite, werdende Autor, der sich an sich selbst wendet, sich in die Zukunft projiziert. Überdies ist es das vollzogene Projekt des Autors, der das Buch zum Druck gab. An dieser Stelle verschränkt sich der implizite Schreiber mit dem Autor Hölderlin. Das RomanProjekt ist auch ein Prozess des Werdens des Schriftstellers und Künstlers, wie Hölderlin überhaupt in seiner Dichtung vielfach das Tun des Dichters, des Künstlers reflektiert.

66 Hölderlin, Frankfurter Aphorismen, 1798/1992, MA 2, 59. 67 Vgl. Hölderlin, Hyperion, Vorrede, MA 1, 611.

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4.

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Empedokles, „nach allem zum Dichter geboren“

Nicht anders verhält es sich mit Empedokles, dem Vertrauten der Natur, der „nach allem zum Dichter geboren“ scheint.68 Der herausragende Künstler wird in Kants kunsttheoretischen Überlegungen, wie in vielen anderen Dokumenten der Zeit auch, als Genie reflektiert. Kant findet im Rahmen seiner Urteilstheorie vom Schönen und Erhabenen jedoch eine besonders eindrucksvolle und tiefgreifende Formulierung für das Genie: „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“69 Das Verhältnis von Natur und Kunst ist hier nicht nur Ausdruck für die Produkte und Werke, die von Künstlern hervorgebracht werden, es ist Ausdruck der künstlerischen Subjektivität selbst. Was Kant im Urteil über das Schöne als urteilsbildende Formation entdeckt, nämlich die begriffsfreie, durch ein Spiel der rezeptiven und synthetisch agierenden Vermögen sich konstituierende zweckfreie Zweckmäßigkeit, entdeckt sich nun als besonderes Vermögen des schaffenden Künstlers. Die „Natur“ des Genies und Künstlers gibt der „Kunst die Regel“. Kant macht deutlich, dass der Künstler all das, was zur Technik seines Arbeitens zu zählen ist, zu erlernen hat. Was aber das Kunstwerk zum bedeutenden, herausragenden, schönen Werk macht, ist das, was die wirkende Natur im künstlerischen Subjekt an formierenden, neuen, nichtbegrifflichen Regeln hervorbringt. Kant selbst spricht von der Natur des Genies, Hölderlin, bald auch Schelling,70 sprechen von dem Unbewussten, das an dem Hervorbringen der Kunst beteiligt ist. Hölderlin, das zeigen seine poetologischen Schriften, will den kreativen Prozess der Hervorbringung von Neuen durch die Kunst und das künstlerische Genie ergründen und besser verstehen. Das Stocken bei der Arbeit am Tod des Empedokles ist Reflexion auf die Frage, wie eine neuzeitliche Tragödie 68 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 871, Zeile 21. 69 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46, AA 5, 307 [Herv. i. O.]. 70 Vgl. F.W.J. Schelling, Konstruktion der Kunst überhaupt und im Allgemeinen, in: Derselbe, Philosophie der Kunst, vorgetragen im Winter 1802/1803, AS 2, 201–215, wo Schelling bereits in der Hinführung zu seinem Vorlesungsgegenstand der Kunst sowohl den Begriff des Organismus als auch den des Unbewussten als grundlegende Momente vorstellt. Einen Eindruck von Schellings Ansatz, der im Horizont seiner Naturphilosophie näher zu untersuchen wäre, können diese Sätze vermitteln: „§ 17. In der idealen Welt verhält sich die Philosophie ebenso zur Kunst, wie in der realen die Vernunft zum Organismus.“ Ferner: „§ 18. Das organische Werk der Natur stellt dieselbe Indifferenz noch ungetrennt dar, welche das Kunstwerk nach der Trennung, aber wieder als Indifferenz darstellt.“ Und: „§ 19. Notwendigkeit und Freiheit verhalten sich wie Bewußtloses und Bewußtes. Kunst beruht daher auf der Identität der bewußten und der bewußtlosen Tätigkeit.“ (Ebenda, 211–212)

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gestaltet werden kann. Es ist aber auch Reflexion auf die sich machende organisierende Kraft der Kunst schaffenden Subjektivität, die im Feld von Rationalität, Welterkenntnis, Kunsttechnik und dunklem Andrang aus der Tiefe des begrifflosen Geistes sich Orientierung verschaffen muss. Die Gestalt des Empedokles begreift Hölderlin als einen besonderen Vertrauten der Natur, der durch Selbstüberhebung das unmittelbare Einssein mit der Natur stört, zerstört, verletzt. Darin sucht Hölderlin das neue Tragische zu begründen.71 Nicht um die Kunst als Kunst des Tragischen soll es im Folgenden gehen, sondern um die Frage der künstlerischen Subjektivität im Prozess von Unbewusstem und Bewusstem an der Schnittstelle von Natur und Kunst, wofür Hölderlin das Wechselverhältnis von Aorgischem und Organischem kreiert. Liest man dieses neu konzipierte Verhältnis von Natur und Kunst als Fortführung derjenigen Betrachtungen Hölderlins, die er sich durch das Studium von Kants Dritter Kritik und dem Prinzip der Zweckmäßigkeit in ihren verschiedenen Spielarten erarbeitet hat, so ist nun deutlich, dass Kants Darstellung der Wesensmerkmale des Genies von Hölderlin neu durchdacht und zum Austrag gebracht werden. Man ist daher kaum überrascht, dass diese Konstellation nicht nur im Kontext des Empedokles-Projekts ausgesprochen ist, sondern auch in anderen Kontexten, in denen sich Reflexionen über das Wechselverhältnis des Aorgischen und Organischen finden. An den einstigen Tübinger Studienfreund Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schreibt Hölderlin im Juli 1799 von dem, was ihn derzeit umtreibe, nämlich das Nachdenken über Poesie, insofern sie lebendige Kunst ist, und zugleich aus Genie, Erfahrung und Reflexion hervorgeht und idealisch und systematisch und individuell ist. Diß führte mich zum Nachdenken über Bildung und Bildungstrieb überhaupt, über seinen Grund und seine Bestimmung, insofern er idealisch und insofern er thätig bildend ist, und wider insofern er mit Bewußtseyn seines Grundes und seines eigenen Wesens vom Ideal aus und insofern er instinctmäßig aber doch seiner Materie nach Kunst und Bildungstrieb wirkt etc.72.

71 Violetta L. Waibel, Scheitern des Tragischen? Anmerkungen zu Hölderlins Empedokles, in: Violetta L. Waibel und Konrad P. Liessmann (Hg.), Es gibt Kunstwerke – wie sind sie möglich? München 2014, 353–379. Karin Dahlke legt mit ihrem Buch Äußerste Freiheit. Wahnsinn / Sublimierung / Poetik des Tragischen der Moderne. Lektüren zu Hölderlins ‚Grund des Empedokles‘ und zu den ‚Anmerkungen zum Oedipus‘ und zur ‚Antigonä‘ (Würzburg 2008) eine sehr zu beachtende Studie zu Hölderlins Konzeption seiner Tragödie und des Tragischen vor, die die Verbindung einer literaturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Studie darstellt. Dabei unterstellt die Autorin, dass Hölderlin an Schizophrenie litt und diese Erkrankung die Konzeption des Tragischen deutlich beeinflusste, damit aber zugleich einem wesentlichen Moment moderner Subjektivität Ausdruck verlieh. 72 Hölderlin an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Brief vom Juli 1799, in: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, MA 2, 792, Zeile 19–28.

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Hölderlin spricht ferner von der „freien Forderung zu gegenseitiger Wirksamkeit und zu harmonischem Wechsel“, und ergänzt, „daß die Seele im organischen Bau, die allen Gliedern gemein und jedem eigen ist, kein einziges allein seyn läßt, daß auch die Seele nicht ohne die Organe und die Organe nicht ohne die Seele bestehen können, und daß sie beede, wenn sie abgesondert und hiermit beede aorgisch vorhanden sind, sich zu organisiren streben müssen und den Bildungstrieb in sich voraussetzen.“ Er fügt noch hinzu: „Als Metapher durfte ich wohl diß sagen.“ Es ist eine Metapher dafür, dass das „stofflose Genie nicht ohne Erfahrung und die seellose Erfahrung nicht ohne Genie“ sei.73 Man darf davon ausgehen, dass dieser Brief in zeitlicher Nähe zu den theoretischen Reflexionen steht, die Hölderlin beim Stocken der Arbeit an der Empedokles-Tragödie niedergeschrieben hat. Der Bezug zu Kants Konzeption des ästhetischen Urteils ist allzu deutlich, wenn überdies von der Notwendigkeit bei der Bildung nicht nur des Urteils über Kunst, sondern auch deren Konstituierung angesprochen ist. Kants Idee des Gemeinsinns ist zudem im Blick, wenn davon die Rede ist, dass die Seele „allen Gliedern gemein und jedem eigen ist“, ein Gedanke, der auch Hölderlins poetologische Hauptschrift einleitet: „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist, wenn er die gemeinschaftliche Seele, die allem gemein und jeden eigen ist, gefühlt und sich zugeeignet, sie vestgehalten, sich ihrer versichert hat“.74 Schönheit, so lehrt Kant, gilt allgemein, wenn auch nur subjektiv allgemein und ist daher jedem urteilsfähigen Subjekt mitteilbar, wenn auch nicht durch Begriffe, sondern als Gefühl vermittelbar und dem anderen anzusinnen.75 Der Künstler ist es vor allen, der Schönheit, Wahrheit und Geist durch die Autonomie seiner Gestaltungskraft hervorzubringen vermag. Anders als 1794 mit dem Konzept der Organisationen durch Natur und Selbst richtet sich nun die Aufmerksamkeit auf den Produktionsprozess einer Kunst, die das Spannungsfeld von bewusst tätiger Ordnung von Erfahrung und Reflexion einerseits und dem instinkthaften Tun, dem Hervorbrechen von Ungeordnetem zu begreifen und zu sondieren sucht, wie der Briefausschnitt an Schelling zeigt. Der schaffende Bildungstrieb im Künstler ist manchmal auch, aber nicht mehr nur Wohlgestalt der Natur, wie dies die Idee von der ursprünglichen, mit Rousseau vereinbaren Organisation der Natur nahelegt.76 Obwohl das Denken 73 Hölderlin an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Brief vom Juli 1799, MA 2, 792, Zeile 19–28. 74 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 77, Zeile 15–18. 75 Zur Frage des Gemeinsinns und dem damit verbundenen modalen Moment der Notwendigkeit der Geltung des ästhetischen Urteils vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, §§ 21 und 22. 76 Jürgen Link verteidigt nicht nur eine Interpretation Jean-Jacques Rousseaus, die es Ernst nehme mit dessen Gang zurück zur Natur, um den Depravationen der Kultur zu entkommen, sondern sieht dies auch in Hölderlins Rousseau-Rezeption realisiert, allerdings in Form einer inventiven Rückkehr, wie Link betont. (Jürgen Link, Hölderlin – Rousseau. Inventive Rück-

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von Rousseau für Kant von großer Bedeutung ist, ist ihm die Bewertung der Natur, sei diese nun das schlechthin Gute oder das schlechthin Böse, ein Überschwang, der durch nichts zu begründen ist. Vermutlich war es gar nicht Kant, der Hölderlin veranlasste, von seinem frühen, idealischen Naturbegriff Abstand zu nehmen.77 Das Nachdenken über Natur und Kunst und deren Wechselverhältnisse im Hinblick auf den Menschen und seine Lebensbedingungen bringt Hölderlin auf eine ganz neue Begrifflichkeit, wenn er im Grund zum Empedokles schreibt: „Der organischere künstlichere Mensch ist die Blüthe der Natur; die aorgischere Natur, wenn sie rein gefühlt wird, vom rein organisierten, rein in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung.“78 Der Gegensatz einer aorgischen Natur und eines organischen, aber künstlichen Menschen ist ein Schlüssel für Hölderlins um 1800 weit differenzierteren Beitrag zum Verhältnis von Natur und Kunst, der sich bereits in dem Brief an Schelling ankündigt. Beachtenswert ist, dass Hölderlin komparative Formulierungen, nämlich der „organischere künstlichere Mensch“ und die „aorgischere Natur“, wählt. Das bedeutet, dass er nicht mehr bloß die zwei Pole der Organisation der Natur und der Organisation, die wir uns selbst geben, gegenüberstellt, sondern mit dem Komparativ offenkundig einen graduellen Übergang andeutet. Überdies steht das Aorgischere und das Organischere in einer dialektischen Wechselbeziehung. Das Aorgischere der Natur erfährt im Organischeren seine Blüte, während das Organischere des Menschen durch das Aorgische seiner Vollendung entgegensieht. Die Beziehung ermöglicht beiden Seiten eine Steigerung und Höherpotenzierung, nämlich in der Blüte die höchste Schönheit der Natur und in der Vollendung des Menschen die ausgleichende Verknüpfung von subjektiver Individualität mit dem Allgemeinen, Unbestimmten und daher auch mit dem Unbegrenzten und Offenen der Natur. Dieser hier ausgesprochene Gegensatz einer „aorgischere[n] Natur“ und eines „organischere[n] künstlichere[n] Menschen“ schließt einerseits an die Rede von der Organisation an, die Hölderlin aus Kants Teleologie aufgenommen und auf den Menschen übertragen hat, andererseits führt er neue Begriffe und vor allem kehr, Wiesbaden 1999, sowie derselbe, Hölderlins Fluchtlinie Griechenland, Göttingen 2020, hier besonders 155–197.) Diese radikale Lesart verstellt meines Erachtens den Blick auf das, was Organisation durch das Selbst in Hölderlins Denken bedeutet, wie auch auf Hölderlins veränderten Naturbegriff um 1800 und die große Emphase für eine Dichtung, die den Geist ins Zentrum rückt. 77 Vgl. Violetta L. Waibel, From the Metaphysics of the Beautiful to the Metaphysics of the True. Hölderlin’s Philosophy in the Horizon of Poetry. (Von der Metaphysik des Schönen zur Metaphysik des Wahren. Hölderlins Philosophieren im Zeichen des Dichtens) Chapter 20, translation by Crina M. Gschwandtner, in: Matthew C. Altman (Hg.), The Palgrave Handbook of German Idealism, Hampshire, New York 2014, 409–433. 78 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 2, 868–878, 868, Zeile 16–20.

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ein neues strukturelles Verständnis des komplexen Verhältnisses von Natur und Kultur ein. Das Aorgische der Natur ist ein Neologismus,79 von dem man annehmen muss, dass Hölderlin ihn kreiert hat. Überdies spricht er nicht mehr nur von der Organisation des Menschen, sondern von dem Organischen und der Organisiertheit, die er dem Menschen zuschreibt. Es ist hier angezeigt, Überlegungen zur Begriffsgeschichte dieser Termini einzublenden. „Aorgisch“ ist vermutlich ein im Ausgang vom griechischen ‚orgé‘ gebildeter und von Hölderlin in dieser Schrift geprägter Begriff, um den Gegensatz zum Organischen zu bestimmen und überdies den Gegensatz von Natur und Kunst (Kultur) zu bezeichnen. ‚Orgé‘ lässt sich mit Trieb, innerer Regung, Stimmung, aber ebenso mit Leidenschaft, Eifer, Zorn übersetzen. Das Adjektiv ‚aórgetos‘ bedeutet „frei von Zorn“, und lässt sich deuten als frei seiend von spezifisch menschlichen Leidenschaften, Eifer und Zorn, die, wie Hölderlin von Spinoza, Rousseau oder Schiller erfahren konnte, zumeist durchwirkt sind von Vorstellungen und unverstandenen Begriffen. Wo Menschen in kulturellen Verhältnissen leben, gibt es kaum eine ursprüngliche und ungeschiedene Natur, die nicht durch kulturelle Momente bestimmt ist und dennoch stellen die bestehenden Verhältnisse keine gelungene und vernünftige Sittsamkeit und Sittlichkeit dar. Überdies erinnert aorgisch an das Griechische ergon, das Werk, mit dem das Wort „Organisation“ in einer weiteren Beziehung steht. Das Wort Organisation ist im 18. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche übernommen worden und hat seine Wurzeln im Lateinischen. Es wurde verwendet für „Aufbau, Einrichtung, Gliederung, planmäßige Gestaltung“. Ferner ist es verwandt mit dem Wort „Organ“, was das „Organ“ im heutigen Sinne ebenso bedeutet, nämlich „mit Organen versehen“, wie es das bezeichnet, was „zu einem lebensfähigen Ganzen zusammen[ge]füg[t]“ ist, eine Bedeutung, die in Kants Verwendung des Terminus Organisation offenkundig ist, wenn er dies auch kaum explizit macht. Immerhin nennt er in § 65 Teile der 79 Der Artikel „Aorgisch“ in dem Band Analecta Hölderliniana IV. Zur Dreidimensionalität der Natur, von Anke Bennholdt-Thomsen und Alfred Guzzoni (Würzburg 2017, 249–258) gibt eine hervorragende Übersicht über diesen Begriff bei Hölderlin, der eine große Ähnlichkeit und ebenso Differenz zum Begriffspaar „Anorgisch“ und „Organisch“ bei Schelling bildet (wie die Forschung seit langem weiß), den dieser 1798, 1799 und öfter in seinen naturphilosophischen Schriften verwendet. Die Autorin und der Autor weisen nach, dass das Begriffspaar in der Folge von anderen Autoren der Zeit verwendet wird. Nicht das „Anorgische“, aber das „Aorgische“ lässt sich in Hölderlins Schriften in 5 verschiedenen Kontexten nachweisen: „1) in einem Brief an Schelling vom November 1799; 2) in dem Aufsatz Grund zum Empedokles, entstanden im November 1799 zwischen dem Zweiten und Dritten Entwurf seines Trauerspiels; 3) in dem Januar/Februar 1800 verfaßten Aufsatz Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig … (auch unter dem Titel Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes zitiert); 4) in dem ebenfalls poetologischen Aufsatz aus derselben Zeit Über den Unterschied der Dichtarten und 5), als Nachklang, in den Anmerkungen zur Antigonä von 1803.“ (Ebenda, 252–253)

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Lebewesen, die um Willen des Ganzen existieren auch „Werkzeug (Organ)“, um es allerdings abzuheben von einem mechanischen, vom Menschen geschaffenen „Werkzeug der Kunst“.80 Ferner bezeichnet „Organ“ auch das Werkzeug, Organon. Das Wort „Organon“ für Organ, Körperteil mit einheitlicher Funktion, gibt es schon im Griechischen. Das Griechische „órganon“ ist etymologisch gesehen eine freie Bildung zu „érgon“ für „Werk, Dienst“.81 Der Kontext legt die Vermutung nahe, dass Hölderlin die Bezeichnung des Aorgischen eingeführt hat, um es dem von Kant übernommenen Terminus des „Organisierten“ und des „Organischen“ als Gegensatz an die Seite zu stellen. Der Terminus „Organisation“ kommt im Grund zum Empedokles nicht mehr vor. Vielmehr benutzt Hölderlin Ableitungen des Verbs „organisieren“ und die Adjektivbildung des „Organs“, indem er vom Organischen spricht, das der Sache nach in der Bedeutung von Werkzeug in Kants Theorie der Organisation der Natur eine wichtige Rolle spielt. Das Präfix ‚a‘ als Privativum für ‚un-‘, ‚-los‘, ‚-leer‘ in Hölderlins Wortgebilde des Aorgischen steht möglicherweise für die Privation der spezifisch menschlichen Kräfte, die eine Organisation als vernünftig erdachte oder beurteilte Organisation ausmacht. Dass Kant jedes strukturierte Ganze sowohl der Natur als auch des Menschen als Organisation bezeichnet, muss Hölderlin klar vor Augen gestanden haben. Aber genau an diesem Punkt sucht er eine weitere Differenzierung. Das Aorgische ist ihm das „Unbegreifliche[]“, daher auch das Nichtvernünftige, das Nichtdenkende, das der Reflexion sich entziehende, aber auch das „Unfühlbare[]“ und das „Unbegrenzte[]“,82 also nicht einmal das dem reflektierenden Urteil im Gefühl sich Manifestierende und irgendwie unmittelbar Zugängliche.83 Im Menschen ist damit eine Ebene des Nichtbewussten, des dem Bewusstsein sich Entziehenden, dem Unbewussten bezeichnet, das Kant rundum als Natur des Genies anspricht, aus dessen Dunkelheit, aus dessen dunklem, nicht näher bezeichnetem Grund neue Regeln der Kunst hervorgehen können. Das Organische und das Organisierte reserviert Hölderlin hingegen für die spezifisch menschliche Weise erkennenden und vernünftigen Seins, das nicht bloß ein mechanisches Erkennen, sondern ein organisch gefügtes, zweckvolles 80 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, AA 5, 374. 81 Im Griechischen bedeutet „órganon (ὄργανον)“ „Werkzeug, Gerät, Instrument, Sinneswerkzeug“ und leitet sich von „érgo (ἔργον)“, deutsch „Werk, Sache“ ab. Vgl. die Artikel „Organ“ und „organisieren“, in: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Günther Drosdowski, Paul Grebe und weiteren Mitarbeitern. In Fortführung der „Etymologie der neuhochdeutschen Sprache“ von Konrad Duden, Duden Band 7, Mannheim 1963, 483. 82 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 28. 83 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 28.

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und stimmiges Denken und Tun bezeichnet. Im Menschen selbst ist eine zwiefache Natur am Werk, die nämlich des Unbewussten und die der Vernunft.84 Dem steht die äußere Natur entgegen, die aber selbst nicht bloß reine, sich selbst überlassene Natur ist, sondern auch kultivierte Natur. Dieses komplexe Verhältnis von Natur und Kunst wird nun im Grund zum Empedokles von Hölderlin genauer reflektiert. Im Spannungsfeld von Natur und Kunst verliert der Protagonist von Hölderlins Tragödie, also Empedokles, seine klare Orientierung. Dies sucht Hölderlin nun genauer zu durchdenken. Hier also nochmals der Anfangssatz seiner theoretischen Reflexion zum Empedokles: „Natur und Kunst sind sich im reinen Leben nur harmonisch entgegengesetzt. Die Kunst ist die Blüthe, die Vollendung der Natur; Natur wird erst göttlich durch die Verbindung mit der verschiedenartigen aber harmonischen Kunst“.85 Zunächst und ursprünglich wird dieses Leben, getragen vom harmonischen Wechselverhältnis des Organischeren und Aorgischeren, nur im Gefühl in seiner Vollendung erfahren. Hier scheint es keinen Unterschied zu machen, ob die äußere oder die menschliche Natur im Blick steht. Offenkundig ist Empedokles exemplarisch die Person, die diese Erfahrung macht, solange er mit sich und der Natur im Einvernehmen steht. Solange das Leben gut gefügt ist, seinen Gang ohne größere Hindernisse gehen kann, tritt vieles gar nicht erst ins Bewusstsein. Subjekte sind dann eingehegt in ihr Tun, in ihre Geschäfte und Verrichtungen. Störungen sind es, die Aufmerksamkeit, ein Hinsehen, ein Bewusstsein von der Sache fordern. Aber es ist nicht nur der gute Gang des Lebens, der Dinge aus dem Bewusstsein blendet, sondern auch das Nichthinsehenwollen, Schmerzerfahrung, Scham, Leid, dem das Bewusstsein auszuweichen sucht. Hölderlin hat schon früh ein tiefes Bewusstsein davon entwickelt, dass Störungen im Gang des Lebens, ob diese nun mechanisch und blind wirken und zerstörerisch sind, oder auch Gutes hervorrufen, die Aufmerksamkeit fokussieren. Das heißt, Veränderungen, die sich spürbar manifestieren, erzeugen zugleich ein Aufscheinen des Bewusstseins, das in Aktivität gesetzt ist. Verletzungen sind es zumeist, die ein einiges, glückliches Daseinsgefühl stören, um das Urteil, das Denken, das Raisonnement, die Vernunft auf den Plan zu rufen. Metonymisch dafür steht die Idee der Urteilung in Seyn, Urtheil, Modalität, die als Teilung eine Verletzung des zuvor innigst

84 Bemerkenswerter Weise spricht Hegel in der Phänomenologie des Geistes im Kontext der „Beobachtenden Vernunft“ auch vom Vernunftinstinkt; vgl. Hegel, GW 9, 142–150). Friedrich Heinrich Jacobi hat die prägnante Formel geprägt: „hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?“ Friedrich Heinrich Jacobi, Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Neue vermehrte Ausgabe, Breslau 1789, 422. Das Vernehmen, von dem sich das Wort Vernunft herleitet, hat die doppelte Bedeutung des passiven und aktiven Hörens, Wahrnehmens, Bestimmtseins von dem, was Gegenstand der Vernunft ist. 85 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 9–12.

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Vereinigten darstellt.86 Die Nemesis, mit ihr die Strafe, die Furchtbarkeit wird wegen ihres „geheimnisvollen Ursprungs“ als Tochter der Nacht vorgestellt, wie Hölderlin in seinen Überlegungen Über den Begriff der Straffe festhält.87 Im ungestörten, wohlgeformten Gang des Daseins verwechseln sich Natur und Kunst, oder wie Kant es formuliert: „Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint“.88 Um nicht bloß im Gefühl erfahren zu werden, sondern auch der Erkenntnis zugänglich zu sein, müssen Natur und Kunst sich dem jeweils anderen anverwandeln, wie Hölderlin mit und über Kant hinaus betont. Das heißt, „das organische das sich zu sehr der Natur überließ und sein Wesen und Bewußtsein vergaß“, wie dies dem Künstler widerfährt und er auch zulässt, damit seine Natur der Kunst die Regeln zu geben vermag. Der Künstler muss sich auch der Reflexion wieder öffnen, er muss sich dem „Extrem der Selbstthätigkeit und Kunst und Reflexion“ zuwenden, um im Wechselspiel seiner Natur und seinem Können das Werk im Spiel aller Vermögen entstehen zu lassen.89 Aus diesen Überlegungen bestätigt sich Hölderlins Verwendungsweise des Terminus des „Organischen“ für menschliche Verstandes- Vernunft- und Kunsttätigkeit. Aber auch die Natur muss, um nicht bloß fühlbar, sondern erkennbar zu werden, in das 86 Vgl. Friedrich Hölderlin, Seyn, Urtheil, Modalität, MA 2, 49–50. Dieser theoretische Text Hölderlins wird hier nach dem in der Knaupp-Ausgabe verwendeten Titel angeführt. Vermutlich ist der von Beißner vergebene Titel, Urtheil und Seyn überzeugender, da die Annahme berechtigt ist, dass Hölderlin zuerst und im Kontext seiner Auseinandersetzungen mit Fichte über das „Urtheil“ und die „Urtheilung“ nachdachte, um dann zu einem systematisch anderen Ergebnis zu gelangen, indem er nicht das absolute Ich Fichtes, sondern das „Seyn“ zum höchsten Prinzip vor aller Teilung zu bestimmen. Urtheil und Seyn würde also den genetischen Verlauf der Reflexionen in den Titel aufnehmen. Fichte hatte mit der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 auch die Kategorien Kants abzuleiten gesucht. Das gelang mit den Qualitäts- und Relationskategorien sehr gut. Die Modalkategorien waren ihm offenbar ein Problem, die in der „Deduktion der Vorstellung“ auftauchen, aber nicht systematisch deduziert werden. Das könnte Hölderlin aufgefallen sein. Jedenfalls bilden die Modalkategorien, die Hölderlin (nicht aber Kant und Fichte) nach Postulaten des empirischen Denkens für den Verstand und nach „Kategorien“ der Vernunft differenziert, das systematische Glied, um vom Urteil und der Urteilung zum „Seyn schlechthin“ zu gelangen. Vgl. die umfangreiche Studie von Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992, die den Text Urtheil und Seyn zum Ausgangspunkt und Zentrum von Hölderlins philosophischer Konzeption macht. Ferner Violetta L. Waibel, Hölderlin und Fichte. 1794–1800, Paderborn 2000, wo der Zusammenhang des Theorems der „Urtheilung“ mit der Platner-Vorlesung Fichtes herausgestellt wurde (ebenda, 140–162). Die Spekulation Friedrich Stracks, wonach Hölderlin durch Schelling und eventuell auch durch Sinclair zu seinem ‚Urtheilungstheorem‘ gelangt sein könnte, beinhalten interessante Überlegungen, sind aber letztlich nicht überzeugend. Vgl. Friedrich Strack, Über Geist und Buchstaben in den frühen philosophischen Schriften Hölderlins, Heidelberg: Manutius Verlag, 2013. 87 Hölderlin, Über den Begriff der Straffe, MA 2, 47, Zeile 17. 88 Kant, Kant, Kritik der Urteilskraft, § 45, AA 5, 306. 89 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 25–26.

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Extrem ihres Wesens übergehen, „wenigstens in ihren Wirkungen für den reflectirenden Menschen“, wie Hölderlin hinzufügt, indem sie „in das Extrem des aorgischen des Unbegreiflichen, des Unfühlbaren, des Unbegrenzten übergeht“.90 Nach der ursprünglichen harmonischen Verwechslung ist nun Natur und Kunst in das Extrem ihres jeweiligen Wesens zurückgegangen. Dies ermöglicht offenkundig, ohne dass Hölderlin es explizit sagt, die Erkenntnis des zuvor gefühlten Verhältnisses. Einen einfachen und unmittelbaren Zugang zur Erkenntnis kann es nach Hölderlin nicht geben. Noch weniger sind ihm komplexe Verhältnisse in unmittelbarer Weise erkennbar. Vielmehr wird die Erkenntnis gewonnen durch einen Bruch mit dem anfänglichen harmonischen Verhältnis, in dem das Leben seinen ungestörten Gang geht. In Seyn, Urtheil, Modalität sprach er von der Verletzung des Seins durch das Urteilen, das Ursprüngliche Teilen.91 Einen solchen Bruch führt auch Empedokles herbei, als er sich im Überschwang seines Dialogs mit der Natur schließlich selbst als Gott bezeichnet.92 Durch einen weiteren „Fortgang der entgegengesetzten Wechselwirkungen“, die Hölderlin nicht näher bezeichnet, wird „die Natur organischer durch den bildenden cultivirenden Menschen, überhaupt die Bildungstriebe und Bildungskräfte“.93 Der Mensch werde hingegen „aorgischer, allgemeiner unendlicher“. Hölderlin hat offenbar vor Augen, dass der Mensch in der bewussten Wechselwirkung und Auseinandersetzung mit der Natur seine Anlagen und sein Wesen, also das Organische, in die Natur projiziert, zugleich aber von seinem individuellen Streben loslässt und das Aorgische, das er der Natur, also auch der Natur des Bewusstseins, zuschreibt, auf ihn selbst zurückwirkt. Da der Mensch in vielfältigen Wechseln mit der Natur steht, verändert er sie direkter oder indirekter auch immer, wie er durch Autoren wie Spinoza, Rousseau oder Schiller bestätigt finden konnte. Wenn der „verallgemeinerte geistig lebendige, künstlich reinorganische Mensch und die Wohlgestalt der Natur sich begegnen“,94 sei dies Gefühl das Höchste, was der Mensch erfahren könne. Das anfängliche Gefühl fordert also, auch erkannt zu werden, denn Hölderlin schreibt, dass dieses Leben „nur im Gefühle und nicht für die Erkenntniß vorhanden“ sei.95

90 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 26–28. 91 Hölderlin, Seyn, Urteil, Modalität, MA 2, 49. 92 Hermokrates sagt im Ersten Entwurf des Empedokles: „es haben / die Götter seine Kraft von ihm genommen, / Seit jendem Tage, da der trunkne Mann / vor allem Volk sich einen Gott genannt.“ (Hölderlin, Empedokles, Erster Entwurf, MA 1, 775, Verse 178–182) Und Empedokles klagt sich an: „du hast / Es selbst verschuldet, armer Tantalus / Das Heiligtum hast du geschändet, hast / Mit frechem Stolz den schönen Bund entzweit“ (ebenda, MA 1, 779, Verse 313–316). Auf die Differenzen in den Fassungen kann hier nicht näher eingegangen werden. 93 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 31–32. 94 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–869, Zeile 35–1 (oben). 95 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 20–21.

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Dafür müssen sich die Momente des harmonischen Beisammenseins in ihre Extreme separieren. Aber es bleibt nicht bei der nüchternen Erkenntnis. Das Leben, das Lebendige ist wesentlich etwas, das auch im Gefühl stattfindet. Das durch die Erkenntnis hindurchgegangene Leben fügt sich zu einem Höchsten der Gefühle. Das sind offenkundig die ausgezeichneten Glücksgefühle, Gefühle von Erhabenheit, die Empedokles im Dialog mit der Natur zuteil werden. Mit seiner Entscheidung für den Freitod im Ätna soll die Separierung aufgehoben werden, die sich mit der Selbsternennung zu einem Gott manifestiert hat. Hölderlin sucht die Erzählung der mit dem historischen Empedokles verbundenen Legende, wie sie von Diogenes Laertius überliefert ist, eine tragische Wendung zu geben, die freilich nicht recht überzeugen kann und ihn wohl selbst nicht überzeugt haben dürfte.96 Hier will ich mich dem Spannungsverhältnis von Natur und Kunst zuwenden, das in Hölderlins Protagonisten exemplarisch für den Menschen der Moderne ausgetragen wird. Die Dramenfigur Empedokles ist der Vertraute der Natur. Dies heißt zugleich, dass die Natur ihrem Liebling quasi ihre Geheimnisse anvertraut, indem er sie enträtseln darf. Infolgedessen ist Empedokles auch der Schützer der Natur und ihrer Geheimnisse. Die Vertrautheit mit der Natur, die Auszeichnung durch die Natur lässt Empedokles überdies zum Liebling der Menschen werden, die, seine natürliche Ausstrahlung spürend, seine Nähe suchen. Als Versöhnungsgestalt übt er eine große Wirkungsmacht und einen starken Einfluss auf diejenigen aus, die für die Natur und die Kraft der Versöhnung offen sind. Empedokles’ Auszeichnung lässt ihn übermütig werden. Die Vertrautheit mit der Natur macht ihn nicht nur zum Liebling der Menschen, sondern auch zum Liebling der Götter, denn in der Natur zeigt sich Hölderlin zufolge das Göttliche. Empedokles versteht sich nicht mehr nur als Liebling der Götter, sondern er ruft sich selbst zum Gott aus. Damit zerbricht sein reines Verhältnis zur Natur und zu Gott. Er verzeiht sich sein frevlerisches Wort nicht und sucht Erlösung im Tod, ein Tod, der zugleich Erlösung für sein Volk bedeuten soll. Damit ist eine Nähe zum Sterben des Ödipus intendiert, denn nach der Weissagung der Götter wird die Stadt gesegnet werden, auf deren Boden Ödipus seine letzte Ruhe findet. Bei Hölderlin ist es freilich nicht der Boden, der letzte Ort der Zuflucht, der den Bewohnern Segen vermittelt, sondern es ist Empedokles selbst, dessen selbstgewählter Sühnetod eine geschichtsträchtige Wirkung haben soll. Doch wie ge-

96 Hölderlin teilt an Isaak von Sinclair am 24. Dezember 1798 mit: „Ich habe dieser Tage in Deinem Diogenes Laërtius gelesen.“ (MA 2, 722.) Vgl. den Artikel zu „Empedokles“ in: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt, unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu hg. sowie mit einem Vorwort, Einleitung und neuen Anmerkungen versehen von Klaus Reich. Hamburg 1990, Zweiter Band, Achtes Buch, Kapitel 2, 134–147.

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sagt, im Folgenden soll das Verhältnis von Natur und Kunst untersucht werden und nicht Hölderlins Begründung des Tragischen. Zur Separierung des innigen Verbundenseins, der harmonischen Verwechslung von Natur und Kunst kommt es, als Empedokles, der als Erkennender und Wissender, aber auch als innig Fühlender mit der Natur in Verbindung steht, sich in einem solchen göttlich zu nennenden Zustand der Innigkeit mit der Natur dazu hinreißen lässt, sich selbst Gott zu nennen, wie die Entwürfe deutlich zu machen suchen. Im Grund zum Empedokles erklärt Hölderlin, dass es der dargestellte „Tod des Einzelnen“ sei,97 der die Mitte zwischen dem anfänglichen hohen Gefühl der Innigkeit mit der Natur und dem höchsten Gefühl, das durch die Erkenntnis hindurchgegangen ist, darstelle. Die erneute Einigkeit mit der Natur nach dem Streit mit ihr, schafft Empedokles ein letztes Glück, in dem Natur und Vernunft eine neue Verbindung eingegangen sind. Dies ist offenkundig der Kerngedanke, den Hölderlin sich klar zu machen sucht. Aber nicht nur Empedokles erfährt dieses höchste Gefühl als Individuum. In abgeschatteter Form soll es dem Volk zuteil werden, das durch Empedokles’ Tod eine Läuterung erfährt.

5.

Der Künstler als Tätig-Empfangender des bewusst-unbewussten Bildungstriebes

Sofern die Rekonstruktion überzeugt, wonach Hölderlin im Grund zum Empedokles die Termini des Organischen und der Organisiertheit für den Menschen und sein zweckintentionales Handeln benützt und die Organisiertheit der Natur durch das Aorgische bezeichnet, so ist dennoch, gemessen an Kants Teleologie, Hölderlins Behauptung bemerkenswert, wonach „die Natur organischer durch den bildenden cultivirenden Menschen, überhaupt die Bildungstriebe und Bildungskräfte“ werde.98 Kants Teleologie zufolge ist die selbsterzeugende Kraft der Natur durch eine Analogie mit der menschlichen zweckintentionalen Schöpfungskraft des Menschen niemals angemessen zur Darstellung zu bringen, da an der Natur Möglichkeiten der bildenden Kräfte beobachtet werden können, die das menschliche Reflexionsvermögen weit überschreiten. Ein Naturzweck ist ihm, wie er in § 65 zusammenfassend formuliert, ein „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“. Hat Hölderlin Kant missverstanden, oder lässt sich die Intention seiner Aussage aufdecken? Mir scheint, Hölderlin sucht hier Kant mit dessen eigenen Argumenten und Theoremen, diese umdeutend, zu überbieten.

97 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 869, Zeile 6. 98 Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868, Zeile 31f.

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Der Mensch, der die erwähnte Wechselbeziehung zur Natur eingeht und eingehen kann, wonach die Natur organischer, mithin kultivierter wird, ist zunächst Empedokles, der nicht nur ein besonderer Mensch, sondern vor allem auch Künstler ist. Der Künstler ist aber Genie, für das mit Kants weithin prägenden Worten gilt, dass er „das Talent (Naturgabe) [sei], welches der Kunst die Regel gibt.“ Das Talent bezeichnet Kant weiter „als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers“, das er der Natur zurechnet.99 Der Künstler ist somit in besonderer Weise Natur, und damit auch ein Naturzweck. Freilich ist dies, auch für Kant, jeder Mensch, sofern er ein Geschöpf der Natur ist und physiologisch betrachtet wird. Im Künstler aber artikuliert sich die Natur in ausgezeichneter Weise an der Schnittstelle zwischen Natur und Kunst und damit für Hölderlin an der Schnittstelle des Aorgischen und des Organischen. Mir scheint, Hölderlin interessiert sich im Zusammenhang des Empedokles auch gar nicht so sehr für die Natur im Allgemeinen, sondern er spricht von der Natur, die sich durch den Künstler artikuliert. Die Natur des Künstlers steht im innigen Dialog mit seinen wissenden, bewusst erworbenen Fertigkeiten. So ist der Künstler fähig, das Wechselspiel von Bildungstrieben und Bildungskräften mit den vernünftigen, formgebenden Kräften zu verbinden, zu beleben und zu unterhalten, um seine Werke hervorgehen zu lassen. Dem Bruder Karl Gok schreibt Hölderlin am 4. Juni 1799 über den Bildungstrieb, dessen sich auch der Künstler bedient: So gehet das Gröste und Kleinste, das Beste und Schlimmste der Menschen aus Einer Wurzel hervor, und im Ganzen und Großen ist alles gut und jeder erfüllt auf seine Art, der eine schöner, der andre wilder seine Menschenbestimmung, nemlich die, das Leben der Natur zu vervielfältigen, zu beschleunigen, zu sondern, zu mischen, zu trennen, zu binden.100

In seiner poetologischen Hauptschrift Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig … denkt Hölderlin unter anderem über ein Verfahren nach, das dem Dichter, Genie und Künstler ermöglicht, einen ursprünglichen künstlerischen Einfall, Hölderlin nennt ihn Totaleindruck, für ein Werk fruchtbar zu machen, indem dieser Totaleindruck in seiner ganzen Unmittelbarkeit erlebt und gefühlt, dann auseinandergelegt und analysiert, schließlich wieder zu einem Werk verschmolzen und zusammengefügt werden müsse. Es ist erforderlich, intuitive 99 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46, AA 5, 307. 100 Friedrich Hölderlin an Karl Gok, Brief vom 4. Juni 1799, in: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, MA 2, 767–772, 769, Zeile 16–21. Wenn Hölderlin in dieser Zeit verstärkt vom der Eigenschaft des ‚Wilden‘ spricht, denkt man unverzüglich an den Wilden, den Sauvage, den Rousseau wiederholt als die Instanz ansieht, auf die sich der durch Kultur depravierte Mensch besinnen sollte, um durch diese Rückbesinnung eine Kultur der Humanität und Naturorientierung zu gewinnen: „Die Menschen sind schlecht. […] Jedoch der Mensch ist von Natur gut“. Rousseau, Discours sur l’inégalité, 1755/1995, 110–111.

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Schöpferkraft und Reflexion in einem genauen Verhältnis zu halten. Grundgedanke ist, dass für das Kunstwerk der Geist durch und mittels eines geeigneten Stoffes reproduziert werden muss. Der Geist tritt in ein Wechselverhältnis mit dem Stoff der Darstellung. Der menschliche Geist kann nichts erzeugen, was nicht schon durch die Natur in verborgener Weise vorhanden ist. Der Geist kann nur die Kräfte der Natur konzentrieren, vervielfältigen, ihre Richtung bestimmen. Das intuitive Moment des unmittelbaren Ausdrucks der Natur ist Hölderlin zufolge im Totaleindruck gegenwärtig, in der für die Reproduktion des Geistes der Stoff in einer noch unausgesprochenen gefühlten Wirkung begriffen ist. Und diese Wirkung ist eigentlich die Identität des Stoffs, weil in ihr sich alle Theile concentriren. Aber sie ist unbestimmt gelassen, der Stoff ist noch unentwikelt. Er muß in allen seinen Theilen deutlich ausgesprochen, und eben hiedurch in der Lebhaftigkeit seines Totaleindruks geschwächt werden. Er muß diß, denn in der unausgesprochenen Wirkung ist er wohl dem Dichter aber nicht anderen gegenwärtig, überdiß hat diß in der unausgesprochenen Wirkung der Geist noch nicht wirklich reproducirt, sie giebt ihm nur die Fähigkeit, die im Stoffe dazu liegt zu erkennen, und ein Streben, die Reproduction zu realisiren. Der Stoff muß also vertheilt, der Totaleindruk muß aufgehalten, und die Identität ein Fortstreben von einem Puncte zum andern werden, wo denn der Totaleindruk sich wohl also findet, daß der Anfangspunct und Mittelpunct und Endpunct in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse der Endpunct auf den Anfangspunct und dieser auf den Mittelpunct zurükkehrt.101

Die ursprünglich synthetische Kraft des Totaleindrucks ist eine solche, die von der Unmittelbarkeit der Natur des Subjekts erzeugt, nicht durch Selbsttätigkeit hervorgebracht wird. Nun soll aber der Totaleindruck des Genies, der geeignet ist, den Geist zu reproduzieren, zu diesem Zweck auch mitteilbar sein. Der gefühlte, unausgesprochene Totaleindruck, wird daher, wie Hölderlin sagt, geschwächt, er wird reflektiert und ins deutliche Bewusstsein gehoben. Durch diesen Reflexionsakt gerät der Gegenstand des Totaleindrucks in einen „durchgängigen Widerstreit“.102 Der durchgängige Widerstreit entspricht der Formulierung, wonach der „Stoff […] also vertheilt, der Totaleindruk […] aufgehalten, und die Identität ein Fortstreben von einem Puncte zum andern werden“ muss. Die obige Textstelle fordert aber mit dem daran anschließenden Halbsatz darüber hinaus, „daß der Anfangspunct und Mittelpunct und Endpunct in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse der Endpunct auf den Anfangspunct und dieser auf den Mittelpunct zurükkehrt.“103 Dies entspricht der Sache nach demjenigen, was Hölderlin an späterer Stelle des Textes als „durchgängige karakteristische Beziehung“ bezeich-

101 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 79 Zeile 25–39. 102 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 85, Zeile 29. 103 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 85, Zeile 37–39, Anmerkung.

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net.104 Der Geist lässt sich durch bloße Reflexion, deren synthetische Einheit wesentlich durch Bestimmung, daher durch Entgegensetzung und Widerstreit hervorgeht, eben nicht reproduzieren. Vielmehr muss die selbsttätige Kraft des Subjekts ein Äquivalent zur ursprünglich synthetischen Kraft des Totaleindrucks bereithalten. Eine solche synthetische Kraft lässt sich in der konstruktiven Methode entdecken, die den amor Dei intellectualis, die scientia intuitiva Spinozas ermöglicht. Sie ist diejenige Methode, die dem künstlerischen Genie erlaubt, zu seiner Vollendung zu gelangen. Durch sie lässt sich das Kunstwerk so konzipieren, dass es als Ganzes in der Weise gefügt wird, „daß der Anfangspunct und Mittelpunct und Endpunct in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse der Endpunct auf den Anfangspunct und dieser auf den Mittelpunct zurükkehrt.“ Wenn an das vollendete Kunstwerk die Forderung ergeht, dass es als geschlossenes Ganzes könne wahrgenommen werden, so muss sein Gefüge bewusst und mit Freiheit konstruiert sein. Der textliche Zusammenhang, in dem die „materielle Identität“ als Totaleindruck konkretisiert wird, zeigt, dass sich Hölderlins der Idee der bewusstlosen Tätigkeit des Genies verpflichtet weiß. Wenn Stoff und Geist „vom Dichter zu eigen gemacht und vestgehalten werden, mit freiem Interesse“,105 so gilt es, den Stoff und die Sache philosophisch für das dichterische Schaffen zu erschließen, damit der Geist sich selbst ergreifen kann, um das Handeln des Denkens zu einem philosophisch Durchgängigen zu machen. War schon zu Beginn des Textes Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig … das Fühlbarmachen des geistigen Gehalts und der geistigen Form Thema der Überlegungen, so steht die Forderung, dass „im Puncte der Entgegensezung und Vereinigung […] in diesem Puncte der Geist in seiner Unendlichkeit fühlbar ist“,106 erneut der und unausgesprochen der Totaleindruck und mit ihm das Fühlbarmachens des Geistes und alle Folgeprozesse im Blick stehen. Dieses Fühlbarmachen geschieht, so Hölderlin, „im stärksten Gegensaz, im Gegensaz der ersten idealischen und zweiten künstlich reflectirten Stimmung, in der materiellsten Entgegensezung […], daß gerade da das Unendlichste sich am fühlbarsten, am negativpositivsten und hyperbolisch darstellt“.107 Fragt man sich, was mit diesen beiden Stimmungen gemeint sein kann, so liegt die Antwort darin, die erste idealische Stimmung im Totaleindruck, die zweite künstlich reflektierte in deren Schwächung zu suchen, was dadurch geschieht, dass der Totaleindruck in allen seinen Teilen ausgesprochen werden müsse. Die „künstlich reflectirte Stimmung“ ist demnach diejenige, in der ein Totaleindruck

104 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 87, Zeile 12–13 [Herv. i.O.]. 105 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 78, Zeile 33–34, Anmerkung [Herv. i. O.]. 106 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 86, Zeile 1–4 [Herv. i. O.]. 107 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 86, Zeile 11–23 [Herv. i. O.].

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reflektierend und analysierend durchdacht108 und für die Angemessenheit der Reproduktion des Geistes untersucht wird. Da hier dasjenige, was am „fühlbarsten“ ist, auch das Negativpositive ist, will Hölderlin damit vermutlich das durch das Gefühl ins Bewusstsein Getretene, aber noch nicht als solches Bewusste kennzeichnen. Die künstlich reflektierte Stimmung ist eine solche, in der nur die Entgegensetzungen entfaltet werden, nicht aber deren Verbindung. So schreibt Hölderlin, dass „insofern es für das rein poëtische Leben formale Entgegensezung ist, auch formale Verbindung seyn muß“,109 dass „derjenige Act des Geistes, welcher in Rüksicht auf die Bedeutung nur einen durchgängigen Widerstreit zur Folge hatte, ein ebenso vereinigender seyn [müsse], als er entgegensezend war.“110 Der Gedanke, dass der durchgängigen Entgegensetzung eine durchgängige Verbindung korrespondieren müsse, kommt in weiteren, seine besondere Bedeutung hervorhebenden Wendungen zum Ausdruck. Das harmonischentgegengesetzte Leben könne sich nicht mit dem „Auffassen und Vesthalten desselben durch hyperbolische Entgegensezung“ begnügen.111 Vielmehr sei es des Dichters „lezte Aufgabe, beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung zu haben, damit der Geist nie im einzelnen Momente, und wieder einem einzelnen Momente, sondern in einem Momente wie im andern fortdauernd, und in den verschiedenen Stimmungen sich gegenwärtig bleibe“. Darin, so Hölderlin weiter, liege „eigentlich poëtischer Karakter, weder Genie noch Kunst, poëtische Individualität, und dieser allein ist die Identität der Begeisterung, ihr die Vollendung des Genie und der Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben.“112

108 Zum Begriff der Totalvorstellung und des Totaleindrucks bei Hölderlin vgl. Gerhard Kurz, der die erste idealische und die zweite künstlich reflektierte Stimmung mit Novalis als „ordo inversus“ interpretiert, in der die Diskursivität der Reflexion, durch die das Ziel der Einheit verfehlt werde, in einem zweiten Schritt durch eine rückläufige Bewegung der ersten, zurückgenommen und in ihrer Einheit aufgehoben werde. Vgl. Kurz 1975, 105/106 und Kurz’ Beitrag zu Hölderlin in: Manfred Frank und Gerhard Kurz, Ordo Inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka, in: Herbert Anton, Bernhard Gajek und Peter Pfaff (Hg.), Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, Heidelberg 1977, 75–97 (zu Hölderlin 82–86). Da Novalis mit dem Begriff des „ordo inversus“ eine spiegelbildliche Verkehrung der Reflexionsleistung zum Ausdruck bringen will (ebenda, 75), ist die Übertragung dieses Begriffs auf Hölderlins Konzept eher problematisch. Hölderlin kann mit der ersten „idealischen“ Stimmung kaum die normale Reflexionsbewegung gemeint haben. Eher schon lässt sie sich als Totaleindruck verstehen, der in der künstlich reflektierten Stimmung geschwächt wird. Die Vor- und Rückwärtsbewegung erzeugt schließlich eine dritte Stimmung, die bestimmt ist durch den Gegensatz von erster und zweiter Stimmung. 109 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 85, Zeile 20–21. 110 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 85, Zeile 28–30. 111 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 86, Zeile 33–35. 112 Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 87, Zeile 28–32.

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Diese Gedankenfolge ist es, die im Blick gehalten werden muss, um zu verstehen, in welchem Sinne die Selbsterkenntnis der „poëtische[n] Individualität“ einen Gipfel der Verfahrungsweise des poëtischen Geistes darstellt, als den Hölderlin sie emphatisch beschreibt: und es ist die Hyperbel aller Hyperbeln der kühnste und lezte Versuch des poëtischen Geistes, wenn er in seiner Verfahrungsweise ihn je macht, die ursprüngliche poëtische Individualität, das poëtische Ich aufzufassen, ein Versuch, wodurch er diese Individualität und ihr reines Object, das Einige, und Lebendige, harmonische, wechelseitig wirksame Leben aufhöbe, und doch muß er es, denn da er alles, was er in seinem Geschäffte ist, mit Freiheit seyn soll, und muß, indem er eine eigene Welt schafft, und der Instinkt natürlicher weise zur eigentlichen Welt, in der er da ist, gehört, da er also alles mit Freiheit seyn soll, so muß er auch dieser seiner Individualität sich versichern. Da er aber sie nicht durch sich selbst und an sich selbst erkennen kann, so ist ein äußeres Object nothwendig und zwar ein solches, wodurch die reine Individualität, unter mehreren besondern weder blos entgegensezenden, noch blos beziehenden sondern poëtischen Karakteren, die sie annehmen kann, irgend Einen anzunehmen bestimmt werde, so daß also sowohl an der reinen Individualität, als an den andern Karakteren, die jezt gewählte Individualität und ihr durch den jezt gewählten Stoff bestimmter Karakter erkennbar und mit Freiheit vestzuhalten ist.113

Mit der Selbsterkenntnis der poetischen Individualität steht ein besonderes Problem der Selbsterkenntnis zur Lösung an. Sie ist nicht bloß dichterische Selbstheit; in ihr begreift der Dichter den Geist, dessen Reproduktion Aufgabe der Dichtung ist. In der poetischen Selbsterkenntnis begreift der Dichter überdies nicht bloß die eigene Seele, sondern die allen gemeine. Damit ist implizit auch eine intersubjektive Dimension in der Selbsterkenntnis einbegriffen. Ferner ist in ihr, wie Hölderlin es artikuliert, „Identität der Begeisterung, ihr [ist] die Vollendung des Genie und der Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben“.114 Hebt der künstlerische Prozess mit dem Totaleindruck an, in der der „sinnliche Berührungspunkt aller Theile“ die materielle Identität darstellt und dem Geiste in dessen „Einigkeit vor dem idealischen Wechsel“ entspricht,115 so ist der nächste, die Reproduktion des Geistes ermöglichende Schritt seine Darstellung durch den „durchgängigen Widerstreit“.116 Dem durchgängigen Wechsel muss nun in einem weiteren Schritt auch eine durchgängige Verbindung entgegengesetzt werden, die im Durchgang durch die Selbsterkenntnis der poetischen Individualität gewährleistet sein soll, um so das Werk zu konstituieren.

113 114 115 116

Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 88, Zeile 14–34 [Herv. i. O.]. Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 87, Zeile 30–32. Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 78, Zeile 32. Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …, MA 2, 85, Zeile 29.

Hölderlins aisthetisches Philosophieren im Ausgang von Kant

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Der Künstler ist nun selbst auf diese innere Natur angewiesen, die sich in ihm bald schöner, bald wilder realisiert. Er benötigt innere Freiheit, die sich nicht (bloß) an Schulformen orientiert. Den Bildungstrieb verwirkliche „der eine schöner, der andre wilder“, wie Hölderlin an Sinclair schrieb. Hölderlins Gestalt des Empedokles ist Künstler, ist Dichter, der in eminenter Weise mit der Natur im Dialog steht und auf die Zeichen der Natur hört, sie den Menschen in die Sprache übersetzt, durch die die Natur allgemeiner verständlich werden kann. Er ist das Gefäß für das Göttliche der Natur, das sich durch Empedokles hindurch sichtbar und hörbar machen, sich durch ihn zeigen will. Anders als nach dem frühen Ideal der Natur ist es nun der künstlerische Prozess, der die Natur zu einem Ideal zu erheben vermag, sie organischer macht. Die Natur verschließt sich Empedokles erst, als er sich im Übermut selbst zum Gott ausruft, eine Selbstüberhebung, die den Keim der tragischen Idee in sich birgt, die Hölderlin im Gang der Ausarbeitung der dramatischen Gestaltung des Empedokles nicht geringe konzeptionelle Schwierigkeiten eingetragen hat. Durch Empedokles hindurch spricht das Aorgische der Natur, es bildet sich in seiner Kunstfertigkeit zur künstlerischen wie künstlichen Organisation. Das Künstlergenie ist die Natur, die der Kunst die Regeln gibt, weiß Kant, weiß mit ihm Hölderlin, der freilich dies Verhältnis von Natur und Kunst zu einer komplexen dialektischen Struktur seines poetischen Denkens hochpotenziert. Übersetzt in die Sprache von Heute, ist diese Natur des Genies nicht zuletzt das Unbewusste, das am schöpferischen Prozess wesentlich teilhat und regelgebend mitwirkt. Das schöpferische Unbewusste ist ein Grenz- und Schwellenphänomen des Bewusstseins, bald diesseits, bald jenseits aktiv, bald dem Chaos, bald der Ordnung nahe. Der Dichter ist für Hölderlin ganz im Sinne der Subjektphilosophie Kants und Fichtes ein tätig selbstbestimmtes freies Subjekt. Aber: Sein Tätigsein ist nichts ohne die Gabe, die er empfängt und für die er sich tätig bereit halten muß. Dieses passivisch Aktive lässt sich mit dem bald Aorgischeren, bald Organischeren bezeichnen. Auch daher ist der Dichter Gefäß, das sich selbst macht, um bereit zu sein, die göttliche Gabe der Natur, oder mit anderen und heutigen Worten, das aus den Kräften des Schöpferisch Unbewussten Hervorgehende zu empfangen und wiederzugeben. Mit dem Aorgischen kommt noch der weitere und wichtige Aspekt des Chaotischen hinzu, das der Organisation der Natur von 1794 gerade nicht zu eigen war. Das Chaotische und Wilde ist ein Charakteristikum des Kreativen und aus dem Ursprünglichen Schöpfenden eines romantischen Denkens. Das Aorgische Hölderlins hat aber freilich noch nicht die ganze Abgründigkeit der Triebe und Regungen der Natur im Blick, wie sie die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts mehr und mehr zum Thema machen wird.

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Die Erfindung des Aorgischen, der ungeformten, wilden Natur als Gegensatz zum Organischen menschlicher Formgebung kündigt sich im Brief an den ehemaligen Tübinger Studienfreund Christian Neuffer vom 12. November 1798 mit den Überlegungen an, die die eigene Zerstörbarkeit reflektieren, und in deren Gefolge Hölderlin erkennt, dass er dem Licht den Schatten zugesellen müsse, dem Reinen das Unreine, wenn seine Dichtkunst lebendiger werden soll: Weil ich zerstörbarer bin, als mancher andre, so muß ich um so mehr den Dingen, die auf mich zerstörend wirken, einen Vortheil abzugewinnen suchen, […]. Ich muß sie in mich aufnehmen, um sie gelegenheitlich (als Künstler, wenn ich einmal Künstler seyn will und seyn soll) als Schatten zu meinem Lichte aufzustellen, um sie als untergeordnete Töne wiederzugeben, unter denen der Ton meiner Seele um so lebendiger hervorspringt. Das Reine kan sich nur darstellen im Unreinen und versuchst Du, das Edle zu geben ohne Gemeines, so wird es als das Allerunnatürlichste, Ungereimteste dastehn, und zwar darum, weil das Edle selber, so wie es zur Äußerung kömmt, die Farbe des Schiksaals trägt, unter dem es entstand, weil das Schöne, so wie es sich in der Wirklichkeit darstellt, von den Umständen unter denen es hervorgeht, nothwendig eine Form annimmt, die ihm nicht natürlich ist, und die nur darum zur natürlichen Form wird, daß man eben die Umstände, die ihm nothwendig die Form gaben, hinzunimmt.117

Dieser Brief ist ein wichtiges Dokument dafür, dass Hölderlins Dichten in den Jahren um die Jahrhundertwende, also etwa ab 1798 bis zu seinem Zusammenbruch 1806 reicher, lebendiger an Tönen, an Stimmungen, an Affekten und Empfindungen wird. Das Heilige, Reine, Edle soll die Färbung des Wirklichen und darum einen Nebenton des Unheiligen, des Unreinen, des Unedlen erhalten. Wer das hohe Pathos mit Hölderlins Namen und seinem Werk verknüpft, das bei ihm durchaus zu finden ist, mag über Hölderlins hier explizit ausgesprochenes Ansinnen erschrecken. Wie es eine harmonisch idealische Mischung des Individuellen, ichlich Organischen der Kunst und des allgemeineren unendlicheren Aorgischen der Natur gibt (Empedokles’ Leben im Einklang mit der Natur), so gibt es auch den höchsten Widerstreit der beiden Extreme (Empedokles’ Tod und die Versöhnung inmitten des Streits mit der Natur und den Mitbürgern), durch den jeder der Pole Eigenschaften des anderen annimmt. Im Grund zum Empedokles wird dieser Prozess folgendermaßen zur Darstellung gebracht: wo dann das aorgisch gewordene organische sich selber wieder zu finden und zu sich selber zurückzukehren scheint, indem es die Individualität annimmt und das Objekt, das 117 Friedrich Hölderlin an Christian Neuffer, Brief vom 12. November 1798, in: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, MA 2, 710–713, 711–712, Zeile 35 (unten) –17). Dem Zerstörenden einen „Vortheil“ abzugewinnen zu suchen, klingt nach einer unmittelbaren Bezugnahme auf Spinozas Ethik, der zufolge es gilt, den Affekten stets das dem Lebenstrieb Nützlichere abzuschauen, besser freilich nicht das Nächstliegende, sondern das langfristig Nützlichere.

Hölderlins aisthetisches Philosophieren im Ausgang von Kant

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Aorgische sich selbst zu finden scheint, indem es auch zugleich das Organische auf dem höchsten Extreme des Aorgischen findet, so daß in diesem Moment, in dieser Geburt der höchsten Feindseeligkeit die höchste Versöhnung wirklich zu seyn scheint.118

Durch Empedokles erfährt die Natur eine Individualisierung, ferner Fühlbarkeit und schließlich Sprache, der durch Sprache organisierte, selbsttätige und reflektierte Mensch aber, der sich der Natur überlässt, vergisst sein reflektierendes Wesen, seine Individualität und sein Bewusstsein und geht über zum Allgemeineren des Unbegreiflichen, Unfühlbaren, Unbegrenzten der Natur.119 Die aorgische, weil ungebundene, elementare Natur wird im Gegenzug dadurch organischer, die Bildungskräfte und Bildungstriebe werden lebendig. Offenkundig ist von Hölderlin intendiert, dass das Sich-Einlassen auf die äußere unbegrenzte Natur eine Wandlung in der inneren subjektiven Natur (des Künstlers) bewirkt, welches ebenso Distanz zu sich möglich macht, wie es eine tiefere Kenntnis seiner selbst auslöst. Das Aorgische machte Empedokles’ Kunstgeist näherhin „kühner unbegrenzter erfinderisch“,120 denn gegen die „hyperpolitischen, immerrechtenden und berechnenden“ Bürger121 wird Empedokles Reformator, der nicht bei einem kurzsichtigen und selbstsüchtigen Ziel stehen bleibt, sondern der ein vollständiges Ganzes erfinden will. Dem steht entgegen die „anarchische Ungebundenheit, wo jeder seiner Originalität folgt, ohne sich um die Eigentümlichkeit der andern zu kümmern“.122 Aber auch das Aorgische ohne das Organische hindert das vollständige Ganze und treibt Empedokles dazu „ungeselliger einsamer, stolzer und eigner“123 zu sein. Eine „freigeisterische Kühnheit“ nennt Hölderlin die Haltung, „die sich dem Unbekannten, außerhalb des menschlichen Bewußtseyns und Handelns liegenden, immer mehr entgegensezt, je inniger ursprünglicher die Menschen sich im Gefühle mit jenem vereiniget fanden und durch einen natürlichen Instinkt getrieben wurden“.124 Diese „freigeisterische Kühnheit“ ist ein Extrem des Aorgischen, das nun auch ein „negative[s] Räsoniren, Nichtdenken des Unbekannten“ genannt wird, dem Empedokles begegnet, indem er sucht, „des Unbekannten Meister zu werden […] die überwältigende Natur zu umfassen, und zu verstehen, und ihrer bewußt zu werden suchen mußte, wie er seiner selbst bewußt und gewiß seyn konnte“.125

118 119 120 121 122 123 124 125

Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–878, 869, Zeile 15–24 [Herv. i. O.]. Vgl. Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–878, 868, Zeile 26. Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1. 868–878, 873, Zeile 23–24. Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–878, 873, Zeile 31. Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–878, 873, Zeile 36. Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–878, 874, Zeile 2. Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–878, 874, Zeile 5–9. Hölderlin, Grund zum Empedokles, MA 1, 868–878, 874, Zeile 15–20.

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Die „freigeisterische Kühnheit“ als einem Extrem des Aorgischen ist nun freilich auch die Tat des freiwillig aufgesuchten Todes von Empedokles im Feuer des Ätna. Der Tod ist die absolute Grenze des Lebens, und damit die absolute Grenze der Natur des Menschen einerseits. In der bewussten Entscheidung für den Zeitpunkt des Todes, wie in der Selbstbestimmung zum Tod übernimmt die reflektierende Kraft des denkenden Wesens die partielle Herrschaft über die Natur, sofern diese nämlich sterblich ist. Die sterbliche Natur wird zur Auflösung im Feuer bestimmt, dem Element, das dem Geist am nächsten und am verwandtesten ist. Damit zielt Hölderlin auf eine Idee des Tragischen, die der idealischen Überhöhung des Ödipus auf Kolonos in Sophokles gleichnamigem Drama gleichkommen soll. Aus der Gegenüberstellung der Positionen von 1794 und 1800 wird deutlich, dass Hölderlin mit der Bezeichnung des „Aorgischen“ von der Vorstellung der im emphatischen Sinne schönen, wohlorganisierten, stimmigen und gefügten Natur abrückt, die er 1794 durchaus im Sinne von Rousseaus ursprünglicher und reiner Natur Kants Bild vom krummen Holz der menschlichen Natur entgegenstellte.126 Das Aorgische bei Hölderlin trägt, avant la lettre, Züge des Dionysischen im Kunsttrieb, den Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik erfinden wird, insofern mit beiden Begriffen das Ungeformte, Ungeordnete, Chaotische, kreatürlich sich erzeugende Wilde bezeichnet ist. Freilich ist der Begriff des Aorgischen bei Hölderlin sehr viel gemäßigter und gezähmter vorzustellen als der Kunsttrieb des Dionysischen, den Nietzsche thematisiert. Die bei aller Differenz gleichwohl frappierende innere Verwandtschaft der beiden Prinzipien erklärt sich aus der großen Vertrautheit beider Autoren mit den antiken Tragödiendichtern, einigen der wichtigen Vorsokratiker (Heraklit, Empedokles), der Pindarischen und der Platonischen Welt der Gedanken und Ideen. Schließlich hat sich der junge Nietzsche nicht zufällig und nicht wenig mit Hölderlin, schließlich auch mit dessen Empedokles auseinandergesetzt, suchte er doch selbst eine Tragödie mit dem Titel Empedokles zu konzipieren, die freilich außer wenigen Fragmenten keine Gestalt annehmen sollte.127

126 Vgl. Immanuel Kant, Ideen zu einer Geschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., hier: AA 8, Berlin 1923, 15–31, 6. Artikel, 23. 127 Bei diesen knappen Hinweisen zu Hölderlin und Nietzsche muss es hier sein Bewenden haben. Vgl. aber Monique Dixsaut, L’ Empedocle di Nietzsche, in: Giovanni Casertano (Hg.), Empedocle tra poesia, medicina, filosofia e politica, ins Italienische übersetzt von Silvia Casertano, Napoli 2007, 310–330. Vgl. Ferner Violetta L. Waibel, Empedocle in Hölderlin, ebenda, 289–309.

Johannes Epple

Aufwertung und Auflösung. Hölderlins und Nietzsches Auseinandersetzung mit Kants Differenzierung von Reflexions- und Sinnen-Geschmack

In der Forschung wurde mehrfach auf die große Bedeutung von Friedrich Hölderlins (1770–1842) dichterischem Werk für die Formationsbewegung von Friedrich Nietzsches (1844–1900) Denkweg hingewiesen. Untersucht wurden das Bildungsverständnis der beiden Autoren,1 die Überschneidungen in der Metaphern-Konstruktion in Also sprach Zarathustra (1883–1885)2 und in Hölderlins Empedokles-Fragment (1797–1800),3 die systematische Bestimmung zentraler philosophischer Topoi und Zeitdiagnosen, die das Philosophieren der beiden Dichter in Atem hielt,4 sowie die herausragende Bedeutung von Nietzsches Hölderlin-Lektüren für die Rezeption des schwäbischen Dichters im 20. Jahrhundert.5 Als Initiationsmoment der Auseinandersetzung mit Nietzsches Rezeption des „wahren und ächten Nicht-Philisters“6 Hölderlin gilt Wilhelm Diltheys (1833– 1911) entsprechender Aufsatz in Das Erlebnis und die Dichtung. Dort heißt es: „Und als er im Zarathustra dichterisch seine Lebensansicht entwickelte, wirkte der philosophische Roman Hölderlins von der Grundidee bis in die Form, ja bis in die einzelnen Worte.“7 1 Vgl. Violetta L. Waibel, Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung, in: Nietzscheforschung 11, 2004, 45–62. 2 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra – ein Buch für Alle und Keinen, in: Derselbe, Kritische Studienausgabe [im Folgenden zitiert als KSA mit Bandangabe], hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 4, Berlin 1988. 3 Vgl. Vivetta Vivarelli, Empedokles und Zarathustra: Verschwendeter Reichtum und Wollust am Untergang, in: Nietzsche-Studien 18, 1989, 509–536. 4 Thomas H. Brobjer, A Discussion and Source of Hölderlin’s Influence on Nietzsche. Nietzsche’s Use of William Neumann’s Hölderlin, in: Nietzsche-Studien 20, 2001, 397–412. 5 Gunter Martens, Hölderlin-Rezeption in der Nachfolge Nietzsches – Stationen der Aneignung eines Dichters, in: Hölderlin-Jahrbuch 23, 1982/1983, 54–78. Vgl. ferner Henning Bothe, „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992, und Mathias Politycki, Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin 1989, 410–430. 6 Friedrich Nietzsche, Erste Unzeitgemäße Betrachtung, KSA 1, 171f. 7 Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin, Leipzig 1906, 339.

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Bemerkenswert ist, dass gerade der viel diskutierte Hyperion-Roman (1797 und 1799)8 keinen Eingang in die Hölderlin-Nietzsche-Forschung gefunden hat. Nach einer Phase der intensiven Auseinandersetzung in den 1970er, 80er und 90er Jahren, in der nicht nur der Hyperion selbst das Interesse der Forschung auf sich zog, sondern auch sein Einfluss auf die Formationsbewegung der nachKantischen deutschen Philosophie offengelegt wurde, versiegte nach der Jahrtausendwende das Interesse an Hölderlins einzigem Roman. In der letzten großen Arbeit zum Hyperion untersuchte Gideon Stiening das Erzählsystem ausgehend von den Vorstufen bis hin zum publizierten Werk.9 Seither ist es still geworden um die Lebensgeschichte des neugriechischen Eremiten und seinen Versuch, die „Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter“10 durchzusetzen. Ausgehend von Diltheys emphatischem Hinweis in seinem Hölderlin-Aufsatz versucht die folgende Untersuchung, der Bedeutung des Hyperion-Romans für Nietzsches Also sprach Zarathustra nachzugehen. Als Ausgangspunkt werden hierfür Nietzsches Vorbehalte gegenüber Kants Beschränkung der Wahrnehmung des Schönen auf das interesselose Wohlgefallen beziehungsweise den Reflexions-Geschmack gewählt.11 Es ist diese Kritik, die das Eingangstor in Nietzsches Ästhetik des Leibes markiert und die ihn von seinem philosophischen Mentor par excellence, dem Kantianer in aestheticis Arthur Schopenhauer (1788–1860), trennt. Die Kritik an Schopenhauers und Kants Ästhetiken formuliert Nietzsche aus der Perspektive des Artisten und damit des Produzenten und nicht des Wahrnehmenden ästhetischer Phänomene.12 Auch für Hölderlin stehen ästhetische 8 Friedrich Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, in: Derselbe, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 1, München 1992. 9 Vgl. Gideon Stiening, Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman ‚Hyperion oder der Eremit in Griechenland‘, Tübingen 2005. 10 Hölderlin, Hyperion, 611. 11 „‚Schön ist‘, hat Kant gesagt, ‚was ohne Interesse gefällt.‘ Ohne Interesse! Man vergleiche mit dieser Definition jene andere, die ein wirklicher ‚Zuschauer‘ und Artist gemacht hat – Stendhal, der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade das abgelehnt […], was Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt: le désintéressement.“ Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 347. 12 Die Quellenforschung widmete sich in den vergangenen Jahrzehnten mit großem Interesse dem Verhältnis Nietzsches zu Kant. Besonders Nietzsches Radikalisierung der Kopernikanischen Wende zu einem erkenntnistheoretischen Perspektivismus stand im Fokus der Untersuchungen. Es herrscht jedoch kein Konsens, welche Werke Kants Nietzsche gelesen hat. Als gesichert gilt allein seine Lektüre der Kritik der Urteilskraft, über die er auch eine Dissertation („Die Teleologie seit Kant“) plante. Hierzu vgl. Carlo Gentili, Kants ‚kindischer‘ Anthropomorphismus. Nietzsches Kritik der ‚objektiven‘ Teleologie, in: Nietzsche-Studien 39, 2010, 100–119. Zu Nietzsches Kant-Lektüren vgl. Vgl. Thomas H. Brobjer, Nietzsche as German Philosopher, in: Nicholas Martin (Hg.), Nietzsche and the German Tradition, Berlin 2003, 39–83. Zu Nietzsches Kritik an Kants Lehre von Erscheinung und Ding an sich vgl. Mattia

Hölderlins und Nietzsches Auseinandersetzung mit Kant

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und in weiterer Folge poetologische Fragen im Fokus seiner Kant-Lektüren.13 Hyperions Lebensgeschichte erweist sich als der Weg des Dichters zu seiner Bestimmung, der dem Leser in Form einer epistolaren Autobiographie präsentiert wird. Erinnertes Leben und Dichten konvergieren in der schriftstellerischen Reflexion über den eigenen Lebensgang. Gleichwohl widmet der Roman zahlreiche Passagen der rezeptiven Hinwendung der Protagonisten zur äußeren Natur, die sich besonders im zweiten Buch des Ersten Bandes in strahlender Schönheit präsentiert und Hyperion als Leitmedium seiner Selbstfindung dient. Dies führt zu der Frage, ob und wenn ja wie die poetische Grundausrichtung der Erzähllogik des Hyperion der Wahrnehmung des Naturschönen begegnet und ob sich hieraus Berührungspunkte mit Nietzsches artistischer Kritik am interesselosen Wohlgefallen ergeben. Für diese Fragestellung bietet es sich an, Hyperions Überfahrt zur Insel Kalaurea und Zarathustras Rede „Mittags“ in den Blick zu nehmen, da in ihnen – so die These der nachstehenden Analysen – implizit auf Kants Reflexionsästhetik des Schönen Bezug genommen wird und die beiden Autoren darauf aufbauend explizit ein je eigenes Modell ästhetischer Erfahrung der Natur konfigurieren, das sich in Hölderlins Fall durch die Aufwertung des Leiblich-Angenehmen gegenüber den rationalen Momenten des Schönen auszeichnet, in Nietzsches Fall eine Auflösung der Klassifikation von Reflexions- und Sinnengeschmack artikuliert. Beide Autoren rücken ins Zentrum ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem interesselosen Wohlgefallen den anthropologischen Zustand des Schlummerns. Durch diesen wird in Hyperion und Zarathustra das Bedürfnis zu singen erregt, ohne ästhetischer Kontemplation jene Potentiale zuzugestehen, die das Dichten tatsächlich ins Werk setzen.

Riccardi, „Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus“. Erscheinung und Ding an sich bei Nietzsche, Basel 2009. 13 Violetta Waibel gibt einen guten Überblick über Hölderlins Kant-Studien. Vgl. Violetta L. Waibel, Kant, Fichte, Schelling, in: Johann Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, 90–95. Abgesehen davon, dass Hölderlin Vorlesungen von Johann Friedrich Flatt über Kants Philosophie im Tübinger Stift besucht haben dürfte, gehörte er neben Schelling, Hegel, Carl Philipp Conz und Christian Ludwig Neuffer zu einem Freundeskreis, der in gemeinsamen Lektüren die kritische Philosophie, Platon und Jacobi studierte. Vgl. Karl Rosenkranz, Hegel’s Leben, Berlin 1844, 40. Zu Hölderlins Erweiterung von Kants Moralphilosophie zu einer Produktionstheorie des Kunstschönen vgl. Friedrich Strack, Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit, Tübingen 1976.

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1.

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Der Ausschluss des Angenehmen und des Sinnen-Geschmacks aus Kants Analytik des Geschmacks

In die ersten drei Momente des reinen Geschmacksurteils, wie Kant es in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ untersucht, sind eigene Paragrafen eingeschaltet, die sich mit dem Angenehmen (und dem Guten) auseinandersetzen. Diese Paragrafen gilt es textnah zu analysieren, um erstens Kants Differenzierung zwischen dem Angenehmen und dem Schönen nachzuzeichnen und damit zweitens den Ausgangspunkt zu markieren, von dem aus Hölderlin und Nietzsche die „kantische Gränzlinie“ überschreiten. Es sollen jene Merkmale diskutiert werden, die das Angenehme zum einen der Sphäre des Ästhetischen zurechnen, zum anderen als nicht zugehörig zur Sphäre des Reflexions-Geschmacks ausweisen. In der Erörterung des ersten Moments, jenes der Qualität, entwickelt Kant in § 3 die Differenzierung von Empfindung und Gefühl, um den je eigenen Bezirk festzulegen, den Angenehmes und Schönes in der Sphäre des Ästhetischen einnehmen. Er bestimmt die Empfindung als eine „Vorstellung einer Sache (durch Sinne, als eine zum Erkenntnisvermögen gehörige Rezeptivität)“.14 Sie korrespondiert der Materie der Anschauung und beruht auf einer Affektion der Sinnlichkeit. Eine solche Empfindung ist stets auf ein Objekt bezogen und intendiert objektive Erkenntnis. Am Ende des Paragrafen öffnet Kant eine zweite Differenzierung, dieses Mal jedoch in der Sphäre der Empfindung. Mit dieser Differenzierung nähert er sich der Differenz von Angenehmem und Schönem, indem er zunächst sowohl die subjektive als auch die objektive Seite der Empfindung zur Sphäre des Gefühls rechnet: „Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objektiven Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur subjektiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d.i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Objekt des Wohlgefallens (welches kein Erkenntnis desselben ist) betrachtet wird.“15 Das Grün der Wiese markiert innerhalb der Empfindung das Objektive. Die Wirkung, die diese Farbe auf das Gemüt ausübt, trägt nichts zur Objektkonstitution bei. Sie zeigt allein an, welche Beziehung zwischen der emotionalen Gestimmtheit des Subjekts und dem Grün der Wiese vorliegt. Kant fixiert an dieser Stelle des Reflexionsganges noch nicht die Differenzierung der Lust am Schönen und jener am Angenehmen. Dies leistet er im dritten Moment der Analytik des Geschmacks. Hier zeigt er alleine an, dass das Urteil über das Angenehme in den gleichen Bezirk wie das reine Ge14 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2001. Hier: § 3, AA 5, 206. 15 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 3, AA 5, 206.

Hölderlins und Nietzsches Auseinandersetzung mit Kant

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schmacksurteil fällt, nämlich in den Einzugsbereich der subjektiven Empfindung, also des Gefühls. Beide sind ästhetische Urteile und daher nicht auf Erfahrungserkenntnis gerichtet, zu welcher die objektive Empfindung gehört. Sie drücken allein die Gestimmtheit des Subjekts angesichts eines empirischen Gegenstandes aus. Das Angenehme kommt demnach mit dem Schönen darin überein, dass beide eine Beziehung auf das Lebensgefühl aufweisen. Das Spezifikum des Angenehmen liegt in der interessierten Wahrnehmung eines Gegenstandes. Dieses Interesse ist „pathologischer“ Natur, das heißt es zeigt die Abhängigkeit des Willens von Neigungen an. Das Angenehme macht demnach „durch [subjektive, JE] Empfindung eine Begierde nach dergleichen Gegenständen rege, mithin das Wohlgefallen nicht das bloße Urteil über ihn, sondern die Beziehung seiner Existenz auf meinen Zustand sofern er durch ein solches Objekt affiziert wird, voraussetzt.“16 Anders als beim Schönen findet sich beim Angenehmen eine durch ein Bedürfnis hervorgerufene Gerichtetheit des Subjekts auf die Empirie, die sich als von seinem Wohlgefallen oder Missfallen begleitete darstellen kann. Das Subjekt ist den Gegenständen ausgesetzt. Es ist bedürftig. Es ist von einem Sehnen nach ihnen geleitet. Das reine ästhetische Urteil dagegen ist immer auch von Distanz gekennzeichnet. Es markiert eine tendenzielle Abkehr vom Lebensgang bei gleichzeitiger kontemplativer Hinwendung. Grund hierfür ist, dass nicht wie beim Angenehmen die konkrete, unmittelbare Existenz des Gegenstandes und seine Beziehung zum Zustand des Subjekts Lust bereitet, sondern allein die Form des schönen Naturphänomens, die das freie Spiel der Erkenntniskräfte ins Werk setzt. Der Quantität nach, die das zweite Moment bildet, ist das Urteil über das Angenehme ein Privaturteil. Dies ist es deshalb, weil das Wohlgefallen von einem höchst individuellen Interesse abhängt. Das reine Geschmacksurteil kann Anspruch auf subjektive Allgemeingültigkeit erheben. Für Kant ist Allgemeingültigkeit stets an Apriorizität gekoppelt. Dies ist beim Urteil über das Schöne durch das freie Spiel der Erkenntniskräfte gegeben. Das Urteil über das Angenehme wurzelt in der materialen Präsenz eines Objekts. Als angenehm werden Farben, Töne und Gerüche wahrgenommen. Sie wecken eine höchst subjektive Begierde nach der Gegenwärtigkeit des entsprechenden Gegenstandes. Wenn die subjektive Allgemeingültigkeit der reinen Geschmacksurteile aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte erwächst, so artikuliert sich das Private, schlechthin Individuelle des Angenehmen in den leiblichen Regungen und Bedürfnissen des ästhetischen Rezipienten. Diese Konsequenz legen Kants Beispiele für das Angenehme nahe. Er wählt hierfür die Wirkung von Farben, die Töne der Blas- und Saiteninstrumente, den Hunger, die Güte des Kanariensekts, kurz, alles was sich

16 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 3, AA 5, 207.

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dem Subjekt durch den Genuss vermittels der Sinne als Gegenstand eines Wohlbefindens oder eben Missfallens präsentiert.17 Bemerkenswert ist, dass Kant im § 7 dem Angenehmen ein eigenes Taxierungsvermögen zubilligt. Denn er geht davon aus, dass auch im Angenehmen ein gewisser Grad an allgemeiner Zustimmung möglich ist, der aber allein komparativ zu denken ist und nicht „universal“ wie beim Urteil über das Schöne.18 In eine konkrete Situation übersetzt, ließe sich sagen: Soviel ich bis jetzt wahrgenommen habe, muss ich sagen, dass die Wirkung dieses Gegenstandes angenehm ist. Er ist aber nicht schlechthin angenehm. Es können also stets angenehmere Situationen auftreten. Das Leuchten der Farben kann intensiviert werden, Wein kann zur Reife aufbewahrt bleiben. Dieser Geschmack für das Annehmliche, den Kant später als Sinnen-Geschmack kennzeichnet,19 artikuliert ein Beurteilungsvermögen des Angenehmen analog zum Reflexions-Geschmack als dem Beurteilungsvermögen des Schönen. Er ist ein bloß privates Vermögen, das die leiblich-bedürftige Stellung des Subjekts in der Erfahrungswelt hinsichtlich seiner Bedürfnisse artikuliert. Dieser bloß private Grund der Beurteilung des Angenehmen führt dazu, dass Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht unter dem Namen des „inwendigen Sinns“ das Beurteilungsvermögen des Angenehmen als „ein bloßes Wahrnehmungsvermögen (der empirischen Anschauung) vom Gefühl der Lust und Unlust, d.i. der Empfänglichkeit des Subjects, durch gewisse Vorstellungen zur Erhaltung oder Abwehrung des Zustandes dieser Vorstellungen bestimmt zu werden“,20 charakterisiert. Der Sinnen-Geschmack beziehungsweise der inwendige Sinn kann demnach keinen Anspruch auf subjektive Allgemeingültigkeit, die dem reinen Geschmacksurteil angehört, erheben. Er kann allein das je singuläre Subjekt dazu nötigen, einen leiblichen Zustand zu erhalten oder abzuwehren – Lust zu steigern oder Unlust zu vermeiden, ohne wie beim Reflexions-Geschmack gesellschaftliche Anerkennung dafür zu erwarten. Im dritten Moment, jenem der Relation, greift Kant die Bestimmung der gemeinsamen Sphäre auf, die Angenehmes und Schönes in der Empfindung unter dem Namen des Gefühls einnehmen. In § 14 teilt Kant ästhetische Urteile in empirische und in reine ein. Mit den empirischen beziehungsweise materialen ästhetischen Urteilen identifiziert er jene, „welche Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit […] von einem Gegenstande, oder von der Vorstellungsart desselben, aussagen“.21 Er markiert sie als Sinnenurteile (materiale ästhetische Ur17 18 19 20

Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 7, AA 5, 212f. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 7, AA 5, 212f. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 7, AA 5, 213f. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 8, Berlin 1914, 153. 21 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 14, AA 5, 223f.

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teile) und unterscheidet sie damit von den formalen allein eigentlichen Geschmacksurteilen. Wenn bei den materialen ästhetischen Urteilen die Lust durch die unmittelbare Präsenz eines Gegenstandes gewirkt wird, so dient beim Urteil über das Schöne der Gegenstand ausschließlich als Anstoß, das zweckmäßige Spiel der Erkenntniskräfte ins Werk zu setzen. Anders als die Geschmacksurteile besitzen die Sinnenurteile keinen Zugang zur Sphäre des Allgemeinen und sind daher als leiblich-sinnliche Ausdrucksformen eines empirischen, interessierten Wohlgefallens aufzufassen. Ihnen spricht Kant daher den Aspekt von Reiz und Rührung zu, der durch die Präsenz angenehmer Phänomene gewirkt wird. Bemerkenswert ist, dass der Aspekt der Rührung in die Sphäre des Erhabenen weist. Am Ende von § 14 schreibt er, „Rührung“ sei „eine Empfindung, wo Annehmlichkeit nur vermittelst augenblicklicher Hemmung und darauf erfolgender stärkerer Ergießung der Lebenskraft gewirkt wird“.22 Dies ist ein Aspekt, der eminent in die Schönheits-Konzepte von Hölderlin und Nietzsche weist und das Unangenehme zur sinnlich-erschreckenden Seite des Erhabenen transformiert. Ob auch das Angenehme in die Sphäre des Erhabenen führt, wird in der Auseinandersetzung mit Hyperions Kalaurea-Erlebnis zur Beurteilung stehen. Das vierte Moment des Geschmacksurteils, also jenes der Modalität, widmet sich dem urteilslogischen Status, den das Urteil über das Schöne einnimmt. Dieses Moment gehört nicht zu seiner intrinsischen Konstitution, sondern markiert den logischen Status des entsprechenden Urteils.23 Anders als das Geschmacksurteil, das Anspruch auf exemplarische Notwendigkeit erheben darf, kann das Urteil über das Angenehme allein auf Wirklichkeit abzielen.24 Es handelt sich demnach um ein assertorisches Urteil hinsichtlich seiner Urteilsform. Da es jedoch ein bloßes Privaturteil ist, das nur den höchstpersönlichen Zustand eines singulären Subjekts angesichts der Präsenz eines bestimmten Gegenstandes anzeigt, kann es sich nicht um eine objektive Assertion handeln. Vielmehr stellt es die radikalste rational nachvollziehbare Form von Subjektivität dar, die sich urteilsmäßig ausdrücken lässt. Demnach ist es, analog zum subjektiv-allgemeingültigen Geschmacksurteil, als ein subjektiv-assertorisches Urteil zu kennzeichnen.25 22 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 14, AA 5, 226. 23 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten OriginalAusgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998, § 9, A 74f/B 99f: „Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte), sondern nur den Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht.“ 24 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 18, AA5, 236. „Von dem, was ich angenehm nenne, sage ich, daß es in mir wirklich Lust bewirke.“ 25 Die Bestimmung der Wahrnehmungsurteile, zu denen die bloßen Sinnenurteile gehören, ist ein häufig diskutierter, problematischer Bereich der Kantischen Urteilslogik, dem in dieser

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Abschließend ist festzuhalten, dass Kant die materiale Lust (und auch die begriffliche in Form des Guten) aus seiner Geschmackslehre ausschließt, da er sie als unwesentlich für das Erlebnis des Schönen auffasst. Ein ästhetisches Subjekt fühlt sich in einer schönen Stimmung, wenn sich seine Erkenntnisvermögen in freiem Spiel befinden. Einbildungskraft und Verstand spielen dann miteinander, wenn die Form der zugrundeliegenden „Vorstellung unmittelbar mit dem Gefühl der Lust verbunden ist; und diese Vorstellung selbst ist eine ästhetische Vorstellung der Zweckmäßigkeit.“26 Schön wird demnach ein ästhetisches Phänomen genannt, wenn es sich als zweckmäßig für die reflektierende Urteilskraft und die in ihr involvierten Erkenntnisvermögen darstellt. Indem die Urteilskraft auf diese Weise verfährt, erweist sie sich als fähig, jene Aufgabe zu übernehmen, die ihr Kant innerhalb des transzendentalphilosophischen Systemgebäudes zugesteht. Das Ergebnis der beiden ersten Kritiken ist, dass Natur und Sittlichkeit auf unterschiedlichen Gesetzgebungen, nämlich jener des Verstandes und jener der Vernunft, aufbauen. Aus dieser Heterogenität ergibt sich eine Kluft innerhalb der Theorie transzendentaler Subjektivität, die sich nicht durch den Rückzug auf eine der beiden Sphären oder durch die Annahme einer höheren Entität als die Vernunft, etwa eines extramundanen Gottes, aufheben lässt. Es stellt sich also die Frage, wie der Theoretiker mit dieser Dissonanz umgehen soll. In der zweiten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft nähert Kant sich der Lösung dieser Fragestellung, indem er das Verhältnis der einzelnen Seelenvermögen zueinander analysiert. Dabei hält er fest, dass zwischen dem Erkenntnisvermögen und dem Begehrungsvermögen das Gefühl der Lust liegt. Zwischen der Vernunft und dem Verstand wiederum liegt die Urteilskraft. Da Verstand und Vernunft gesetzgebend für Erkenntnis- und Begehrungsvermögen sind, so liegt für Kant die Annahme nahe, dass das Gefühl der Lust an die Prinzipien der Urteilskraft gebunden ist. In den beiden ersten Kritiken fungierte die Urteilskraft als jenes Vermögen, das zwischen den Verstandes- beziehungsweise den Vernunftbegriffen und der Natur in Form des Anschauungsmaterials beziehungsweise der Materie einer Maxime vermittelt. Wird nun das Vermittlungspotential der Urteilskraft auf den Verstand und die Vernunft als solches gelegt, so muss von der These ausgegangen werden, dass sich eine gelungene Vermittlung von Begehrungsvermögen und Erkenntnisvermögen in einem Lustgefühl artikuliert. Arbeit nicht nachgegangen werden kann. Vgl. Gerold Prauss, Erscheinung bei Kant. Ein Problem der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Berlin 1971, 247. Prauss sieht das Wahrnehmungsurteil als ein problematisch-assertorisches Urteil an. Er bleibt jedoch schuldig zu erklären, wie ein Urteil zugleich problematisch und assertorisch sein kann. Zur Kritik an Prauss vgl. Paul Natterer, Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. Interdisziplinäre Bilanz zur Kant-Forschung seit 1945, Berlin 2003, 231. 26 Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung, AA 5, 189.

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Es ist also wenigstens vorläufig zu vermuten, daß die Urteilskraft eben sowohl für sich ein Prinzip a priori enthalte, und da mit dem Begehrungsvermögen notwendig Lust oder Unlust verbunden ist […], eben sowohl einen Übergang vom reinen Erkenntnisvermögen, d. i. vom Gebiete der Naturbegriffe, zum Gebiete des Freiheitsbegriffs bewirken werde, als sie im logischen Gebrauche den Übergang vom Verstande zur Vernunft möglich macht.27

Es stellt sich nun die Frage, auf welche Weise die Urteilskraft die Vermittlung von Verstand und Vernunft bewerkstelligt. Kant hält in den Abschnitten IV. und V. der Zweiten Einleitung fest, dass sich die reflektierende Urteilskraft nicht mit den transzendentalen Naturgesetzen auseinandersetzt, denn diese empfängt sie hinreichend bestimmt durch den Verstand.28 Von diesen transzendentalen Gesetzen unbestimmt bleiben jedoch die unzähligen empirischen Gesetze. Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft ist es nun die empirischen Gesetze auf ein „Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen“ zurückzuführen, um ihren Gesetzescharakter zu erweisen. Die empirischen Naturgesetze müssen demnach von der reflektierenden Urteilskraft so gedacht werden, „als ob […] ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen […] gegeben hätte“29. Kant nennt das Prinzip durch das die Urteilskraft die besonderen empirischen Naturgesetze so betrachtet, als hätte sie ein nicht-menschlicher Verstand hervorgebracht, die transzendentale Zweckmäßigkeit. Die Urteilskraft geht also davon aus, dass die Natur zweckmäßig für unser Erkenntnisvermögen eingerichtet ist. Die transzendentale Zweckmäßigkeit ist ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft und nicht eines der bestimmenden, da diese unter den Gesetzen des Verstandes steht und im Erkenntnisprozess arbiträre Wahrnehmungen unter die Kategorien des Verstandes subsumiert. Als Reflexionsprinzip gilt die transzendentale Zweckmäßigkeit nicht objektiv, sie bestimmt also nicht die Natur, sondern sie strukturiert das Nachdenken über diese. Es handelt sich also um ein Gesetz, das die Form der Reflexion organisiert und nicht die Form der Natur oder die Materie einer Maxime. Kant nennt dieses Gesetz des Nachdenkens auch das Gesetz der Spezifikation der Natur oder auch Heautonomie. Im für dieses Kapitel relevanten Abschnitt der Kritik der Urteilskraft, dem der ästhetischen Reflexion über die Natur, wird die zweckmäßige Einrichtung der Natur vom Erkenntnisvermögen allein durch das interesselose Wohlgefallen am Schönen und nicht an der interessierten Anteilnahme an der Natur, die sich im Urteil über das Angenehmen artikuliert, erfahren. Im reinen Geschmacksurteil zeigt sich, dass bestimmten Gegenstandsvorstellungen subjektive Elemente anhaften, die sich als Symbol für den moralischen Begriff des höchsten Guts eignen. 27 Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung, AA 5, 178f. 28 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung, AA 5, 179. 29 Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung, AA 5, 180.

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Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten; und auch nur in dieser Rücksicht […] gefällt es mit einem Anspruche auf jedes anderen Beistimmung, wobei sich das Gemüt zugleich einer gewissen Veredelung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit der Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist.30

Auf eine solche moralische Dignität kann das Urteil über das Angenehme nicht verweisen. In ihm drückt sich eine Gebundenheit an die Materie der Empfindung emotional aus, die gerade den Aufweis des Freiheitsbegriffs torpediert und den Menschen als sinnliches, bedürftiges Wesen zur Geltung bringt. Da das Angenehme von der Materie abhängig ist, zeigt sich das entsprechende Urteil als ein höchst kontingentes. Der Grad des Gefallens am Angenehmen ist von der momentanen Disposition des Wahrnehmungssubjekts abhängig. Dies kann so weit gehen, dass der Gegenstand je nach Situation einmal als angenehm und ein anderes Mal als unangenehm wahrgenommen wird. Eine solche Konstellation ist ungeeignet, um als sinnlicher Ausdruck der Sittlichkeit zu fungieren. Kernkompetenz des kategorischen Imperativs ist es, eine empirische Maxime an die Bedingungen der Moralität – Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit – anzupassen. Soll nun die Natur als zweckmäßig für Vernunft und Moralität akzentuiert werden, so muss die Analogie zwischen Naturschönheit und Sittlichkeit stabil sein. Würde die ästhetische Beschaffenheit von situativen Voraussetzungen abhängen, so würde dadurch angezeigt werden, dass die äußeren Bedingungen des Handelns keinen stabilen Erfüllungsrahmen der Vernunftideen darstellen. Praktische Subjektivität würde so als von der Natur abhängig erscheinen. Die Konsequenzen für Kants Kritischen Idealismus wären enorm. Der subalterne Status des Angenehmen wurzelt tief in den Problemkonstellationen des Transzendentalen Idealismus. Es mag daher von Interesse sein, wenn zwei Autoren, deren intensive Lektüren von Kants Kritik der Urteilskraft gut belegt sind, in ihrer Auseinandersetzung mit dem rezeptionsästhetischen Schönen Elemente des Angenehmen, des Begehrens und des Leiblichen als solchen mitaufnehmen. Im Folgenden soll anhand von Hyperions Überfahrt nach Kalaurea und ausgewählter Reden Zarathustras gezeigt werden, wie Hölderlin und Nietzsche eine spezifisch ästhetische Form der Leiblichkeit nicht nur als Epiphänomen des freien Spiels der Erkenntniskräfte, sondern als tragende Kraft in den Konstitutionsprozess der Wahrnehmung der schönen Natur aufnehmen. Die beiden Autoren vollziehen diesen Akt der Aufwertung des von Kant ignorierten Teils ästhetischer Subjektivität nicht um seiner selbst Willen. Mit ihr wenden sich Hölderlin und Nietzsche gegen eine Bestimmung des Schönen, die sich am Primat des Praktischen orientiert. Eine solcherart gefasste, auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit abzielende Theorie des Schönen würde zu

30 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 59, AA 5, 353.

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einer Verengung anthropologischer Welthaltigkeit führen und gerade jene Elemente ignorieren, die die schöpferische Natur des Menschen ausmachen.31

2.

Die Kalaurea-Überfahrt: Hyperions interesselose und interessierte Hinwendung zur schönen Natur

Im Mittelpunkt des Zweiten Buches des Ersten Bandes steht Hyperions Bekanntschaft mit Diotima und seine Entwicklung zum „Erzieher des Volks“.32 Der Bekanntschaft mit seiner Geliebten und der Initiation der Schönheit als universales, metaphysisches Prinzip geht Hyperions Anreise zur Insel Kalaurea voraus. Sie, die Schönheit, ist es, die ihn aus der nihilistischen Stimmung, in die ihn der Bruch mit Alabanda versetzt hat, befreit. Für den hier vorgelegten Überlegungsgang ist die Überfahrt zur Insel Kalaurea von entscheidender Bedeutung. An ihr zeigt sich innerhalb des Roman-Verlaufs erstmals eine Verschränkung reflexions-ästhetischer und material-ästhetischer Elemente in der Gestalt eines sie umfassenden und in sich strukturierten LustGefühls. Gleichzeitig ließe sich Hölderlins Beschreibung der Überfahrt wie eine Kritik am interesselosen Wohlgefallen und seinen Potentialen, dichterische Praxis ins Werk zu setzen, lesen. Bringt man in Anschlag, dass es sich beim Hyperion um einen Bildungsroman handelt, artikuliert sich in der Kritik an der interesselosen Kontemplation ein Auftrag an den Protagonisten, einen ästhetisch-ganzheitlichen Zustand zu generieren, der poetische Produktion initiiert. Es gilt daher zu fragen, wie Schönes und Angenehmes in der Beschreibung der Naturszenerie und der Wirkung, die sie auf Hyperions Gemüt ausübt, miteinander verschränkt werden. Demnach soll erwiesen werden, dass es sich bei der Kalaurea-Überfahrt um ein Schönheitserlebnis handelt, das formale und materiale ästhetische Elemente in sich versammelt und so über Kants bloßes Kontemplationsmodell hinausgeht. Nach der Trennung von Alabanda verlebt Hyperion seine Tage in tiefer innerer Isolation. Erst eine Einladung von Notara „weckte mich denn doch ein wenig“.33 Er nimmt ein Schiff und fährt von Smyrna zur Insel Kalaurea. Es war ein heiterer blauer Apriltag, an dem ich hinüberschiffte. Das Meer war ungewöhnlich schön und rein, und leicht die Luft, wie in höheren Regionen. Man ließ im

31 Ich analysiere Hölderlins und Nietzsches Kritik an einer Ästhetik der Autonomie aus der Perspektive einer geistreichen Kunst in den Kapiteln III und IV meiner Dissertation. Vgl. Johannes Epple, Transformationen schöpferischer Vernunft. Kant – Hölderlin – Nietzsche, Paderborn 2021 (= Hölderlin-Forschungen 3). 32 Hölderlin, Hyperion, 693. 33 Hölderlin, Hyperion, 653.

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schwebenden Schiffe die Erde hinter sich liegen, wie eine köstliche Speise, wenn der heilige Wein gereicht wird. Dem Einflusse des Meers und der Luft widerstrebt’ der finstere Sinn umsonst. Ich gab mich hin, fragte nichts nach mir und andern, sucht nichts, sann auf nichts, ließ vom Boote mich halb in Schlummer wiegen, und bildete mir ein, ich liege in Charons Nachen.34

Im Angesicht der schönen Natur beruhigt sich Hyperions Herz „voll wilder Widersprüche“.35 Die Erinnerungen an den Verlust von Alabanda verlieren ihre Dominanz und damit ihre drückende Last auf sein Gemüt. Dies vermag allein die schöne Natur zu leisten. Es ist daher zu fragen, wie seine Stimmung am Schiff zu beschreiben ist und in welchem Verhältnis diese zu Kants entsprechenden Überlegungen steht. In einer ersten Annäherung ist zu sagen, dass sich Hyperion während der Überfahrt von der depressiven Phase seiner Selbst- und Gesellschaftskritik am Ende des ersten Buches distanziert. Er überlässt dem Schiffer die Arbeit, liegt an Deck und wartet auf die Ankunft in Kalaurea. Dies erst ermöglicht ihm, die Natur in ihrer unmittelbaren Gegebenheit wahrzunehmen. Schön, rein und leicht sind vor allem das Meer und die Luft. In ihrer bloßen Präsenz gewährleisten sie, dass sich Hyperions Befinden bessert. Dies führt zu einer bemerkenswerten Formulierung, die es genauer zu untersuchen gilt. Hyperion schreibt: „Ich gab mich hin, fragte nichts nach mir und andern, sucht nichts, sann auf nichts“. Hyperion nimmt Abstand von den aktiven, kognitiven Modi des Fragens, des Suchens und Sinnens, indem er sich vorbehaltlos der Wahrnehmung der Natur hingibt. Diese Distanzierung wird durch seinen Dämmerzustand poetisch gestaltet. Das Schlummern steht den auf Aufmerksamkeit und aktive Teilnahme abgezweckten, reflexiven und selbstreflexiven Zuständen des Fragens, Suchens und Sinnens entgegen. Das Wörterbuch der Brüder Grimm deutet „sinnen“ als „seine Gedanken worauf richten“.36 „Auf nichts sinnend“ markiert Hyperions Gemütszustand als nicht oder noch nicht auf ein konkretes Objekt fixiert. Er intendiert nicht objektive Erkenntnis, sondern lässt die Phänomene gewissermaßen an sich vorübermäandern. Der Duden geht einen Schritt weiter als das grimmsche Wörterbuch. Dort wird „sinnen“ in praktischer Hinsicht als streben und begehren aufgefasst.37 Auch 34 Hölderlin, Hyperion, 653. 35 Gideon Stiening deutet Hyperions Ankunft auf Kalaurea als eine erste Aussöhnung von Mensch und Natur. Dem ist zu zustimmen. Er geht jedoch in keiner Weise auf die Modalität dieser Aussöhnung ein. Die Frage nach der Beziehung zu Kants Geschmackslehre und Hölderlins Überbietung liegen daher nicht im Blick seiner Analyse. Vgl. Stiening, Epistolare Subjektivität, 321ff. 36 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 16, Leipzig 1905, 1155. 37 Duden, Bd. 7, Mannheim u. a. 2007, 770.

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diese Darstellung des Wortes „sinnen“ lässt sich auf Hyperions Gemütsverfassung applizieren. Am Schiff ist er frei von konkreten Handlungstendenzen und Interessen, seien sie leiblicher oder vernünftiger Natur. Damit haben das Wohlgefallen am Angenehmen und jenes am Guten Kant folgend in Hyperions Wahrnehmung der schönen Natur keine konstitutive Funktion. Hyperion liegt interesselos an Deck des Schiffes, schlummert beinahe und gibt sich der schönen Atmosphäre hin. Hyperion ist also frei von einer solchen durch Setzungen des Subjekts organisierten Hinwendung zur Natur, die seinen phänomenalen Horizont bündeln und zu seiner praktischen, erkenntnismäßigen oder neigungsabhängigen Verfügung disponibel machen würde. Diese Absenz von Interessen fasst Kant in ästhetischer Hinsicht als Kontemplation. Hyperion befindet sich demnach in einem ästhetisch-kontemplativen Zustand. Die Gestaltung dieser Szene hebt also erstens mit einer Beschreibung eines kontemplativen Zustands an, in dem Hyperion als frei von theoretischer und praktischer Hinwendung zur Natur dargestellt wird und so das Meer und die Luft als „schön“, „rein“ und „leicht“ wahrnimmt. Doch diese rein kontemplative Lust an der Natur erfährt in den folgenden Textstücken eine entscheidende Korrektur. Denn Hyperion erwacht aus dem Schlummer und sein „ganzes Wesen öffnete sich der wunderbaren Gewalt“,38 als ihn der Fährmann auf die ferne Silhouette der Insel Kalaurea hinweist. Mit großem Auge, staunend und freudig sah’ ich in die Geheimnisse der Ferne, leicht zitterte mein Herz, und die Hand entwischte mir und faßte freundlichhastig meinen Schiffer an – so? rief ich, das ist Kalaurea? Und wie er mich drum ansah, wußt’ ich selbst nicht, was ich aus mir machen sollte. Ich grüßte meinen Freund mit wunderbarer Zärtlichkeit. Voll süßer Unruhe war all mein Wesen.39

Hyperions Verfassung ändert sich eklatant gegenüber dem anfänglichen Schlummer. Durch den Hinweis des Fährmanns auf die baldige Ankunft beginnt Hyperions Herz, also das organische Zentrum seines Körpers, zu zittern. Das Auge wird groß. Er fühlt sich von den „Geheimnissen der Ferne“ angezogen und merkt wie sich sein ganzes Wesen, also auch die leiblich-sinnlich-bedürftige Komponente, einer „wunderbaren Gewalt“ öffnet. Bemerkenswert an dieser Stelle des Romans ist, dass ein Erregungszustand eintritt, der durch das Erscheinen der Gestalt der schönen Küste im Zustand kontemplativer Naturwahrnehmung hervorgerufen wird. Das Schöne geht dem in interessensfreier Betrachtung verweilenden Hyperion zwar auf, führt ihn aber in eine „süße Unruhe“, die ihn über den Zustand der bloßen Kontemplation hinaustreibt. Dies

38 Hölderlin, Hyperion, 654. 39 Hölderlin, Hyperion, 654.

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artikuliert sich frappanter Weise in leiblichen Rührungen. Denn zum einen „zitterte mein Herz“, zum anderen greift Hyperion nach der Hand des Schiffers. Es gilt also zweitens festzuhalten, dass das Erwachen aus dem Schlummer der Kontemplation mit dem Interesse an leiblicher Annäherung einhergeht. Hyperion hat jedoch das in der Kontemplation Wahrgenommene nicht vergessen wie einen flüchtigen Traum, sondern es markiert die Quelle seiner interessierten Hinwendung zur Natur. Welchen Charakter hat dieses Interesse? Durch das zitternde Herz und die Annäherung an den Schiffer zeigt sich tendenziell, dass sich das Schöne leiblichen Anmutungen, und damit dem Feld des Material-Ästhetischen, öffnet. Um dies genauer zu untersuchen, gilt es zunächst zu prüfen, ob sich Versatzstücke aus Kants Geschmackslehre fruchtbar für Hyperions neuen Zustand machen lassen. Lässt sich das Erwachen aus dem Schlummer der Kontemplation mit Kantischen Theoriebausteinen theoretisch fundieren oder verlässt Hölderlin den Boden der Kritik der Urteilskraft? Zur Beantwortung dieser Frage ist das Verhältnis von Interesse und reinem Geschmacksurteil in den Blick zu nehmen, das Kant im Anschluss an die vier Momente des Geschmacksurteils untersucht. In den §§ 41 und 42 behandelt er das empirische und das intellektuelle Interesse am Schönen. Kant bezieht sich auf den Analysegang der Analytik des Geschmacks und weist erneut darauf hin, dass die Konstitution des Urteils über das Schöne ohne Beimengung von Begehrlichkeiten und Intentionen abläuft. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass mit dem formierten Geschmacksurteil keine Interessen verbunden werden können. Eine solche Verbindung kann sich allein „indirekt“ konstituieren.40 Indirekt bedeutet hier äußerlich. Die intrinsische Organisation des Urteils über das Schöne vollzieht sich interesselos. Erst so wird das freie Spiel der Erkenntniskräfte ins Werk gesetzt. Die Konsequenz ist das Erlebnis einer schönen Stimmung, das sich in einem diskursfähigen Urteil ausdrückt. An dieses Erlebnis kann sehr wohl ein Interesse gekoppelt werden. Kant kennt hier zwei Weisen: das empirische und das intellektuelle Interesse. In erster Hinsicht zeigt es sich als „Trieb zur Gesellschaft“, also zur Vergemeinschaftung und hat sozialen Charakter.41 In zweiter Hinsicht ist es ein Kennzeichen einer „guten Seele“ und weist damit auf die Affinität zwischen dem Schönen und dem Sittlichen hin.42 Eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesen beiden Weisen des indirekten Interesses kann an dieser Stelle übergangen werden. Bemerkenswert und für die Kalaurea-Szene entscheidend ist, dass Kant prinzipiell die Möglichkeit aner-

40 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 41, AA 5, 297. 41 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 41, AA 5, 296ff. 42 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 42, AA 5, 298ff.

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kennt, ein Interesse, wenngleich nur indirekt, also äußerlich, mit einem reinen Geschmacksurteil zu verbinden. Zu fragen ist nun, ob sich das Interesse, das Hyperion an Kalaurea entwickelt, auf Kants Darlegungen beziehen lässt. Nach der Ankunft auf der Insel verbringt Hyperion den Tag alleine. „Den Nachmittag wollt’ ich gleich einen Theil der Insel durch streifen. Die Wälder und geheimen Thale reizten mich unbeschreiblich, und der freundliche Tag lokte alles hinaus.“43 Hyperion ist nun vollends aus seinem Schlummer erwacht. Er ist aber nicht nur erwacht, er wird aktiv. Er fasst den Plan, die Insel zu erkunden, um sich „der wunderbaren Gewalt“ noch intensiver auszusetzen. Es ist offensichtlich, dass Hyperions Anteilnahme an der schönen Natur nichts mit Kants zwei Weisen des indirekten Interesses am Schönen zu tun hat. Weder will er mit Notara, den er ja zu besuchen beabsichtigt, über die Landschaft Kalaureas sprechen, noch ist an dieser Stelle erkennbar, dass es sich bei Hyperion um eine gute Seele handelt. Vielmehr zeigt sich, dass er den Ehrgeiz entwickelt, sich der am Schiff kontemplativ erlebten schönen Natur erneut auszusetzen. Dies mag der Grund sein, weshalb er nun die Insel auf eigene Faust durchstreift. Demnach lässt sich drittens notieren, dass es sich bei der Überfahrt und bei der Ankunft auf Kalaurea um zwei verschiedene ästhetische Zustände handelt. Am Schiff befindet sich Hyperion in jenem der Kontemplation und erlebt das Meer und die Luft als „schön“, „rein“ und „leicht“. Dieser Zustand ist klar von jenem der Ankunft unterschieden. Hyperion erwacht und entwickelt ein Begehren, die schöne Küste intensiver zu erleben. Seine Aktivität speist sich nicht aus einer begrifflichen Hinwendung zur Natur oder aus einem bloß leiblichen Bedürfnis, sondern aus dem schlummernd Erlebten. Er will sich diesem Erlebnis erneut aussetzen, denn „[d]ie Wälder und geheimen Thale reizten mich unbeschreiblich, und der freundliche Tag lokte alles hinaus“.44 Diese beiden Zustände sind verbunden und abgegrenzt durch das Erwachen. Am Schiff formuliert Hyperion ein reines Geschmacksurteil. Er befindet sich im Zustand der reinen Kontemplation. An Land ist Hyperion von Tatendrang durchdrungen. Es ist die kontemplativ wahrgenommene Küste, die ihn „reizt“ und „sein Wesen in süße Unruhe versetzt.“ Das Erwachen verbindet diese beiden Weisen ästhetischer Hinwendung zur schönen Natur. Als indirekt kann diese Verbindung deshalb angesetzt werden, weil Hyperion erst erwachen muss, um ein Interesse zu entwickeln. Sein Zustand verändert sich radikal: Von selbstgenügsamer Kontemplation geht er über in einen von Begehren gekennzeichneten Zustand, der seine Kraft und Legitimität aus der Kontemplation schöpft.

43 Hölderlin, Hyperion, 654. 44 Hölderlin, Hyperion, 654.

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Demnach scheint Hölderlin ausgehend von Kant ein indirektes Interesse an das interesselose Wohlgefallen anzubinden, das weder auf Vergesellschaftung noch auf das Gute abzielt. Es scheint sich um eine Steigerung des Gefühls der kontemplativen Lust zu handeln. Wie mag sich dies vollziehen? Es handelt sich um einen Umstand, der in Kants Auseinandersetzung mit dem Schönen, soweit ich sehe, nicht abgehandelt wird. Es lässt sich einwenden, dass dies im Rahmen der Analytik des Erhabenen geleistet wird. Allein, beim Erhabenen tritt eine Steigerung der Lust durch Leiden auf, dies kann für die Kalaurea-Überfahrt nicht reklamiert werden. Die Analytik des Erhabenen weist jedoch einen Weg, der auch für die Kalaurea-Szene hilfreich sein kann. Schmerz bereitet dort die sinnliche Präsenz eines alle Zweckmäßigkeit konterkarierenden Naturphänomens. Das Missfallen an einem solchen Naturphänomen führt zur Steigerung der Lust, insofern es das Subjekt dazu befähigt, die Vernünftigkeit seines Wesens in den Blick zu bringen. Das Sinnliche beziehungsweise Unangenehme – Kant spricht auch vom Grässlichen45 – fungiert dort als Steigerungspotential der Lust. Bis jetzt wurde in der Kalaurea-Szene allein ersichtlich, dass Hyperion ein Interesse an ein konstituiertes Geschmacksurteil koppelt. Noch wurde nur angedeutet, dass dieses Interesse in die Sphäre des Material-Ästhetischen weist. Es soll aber der Versuch gewagt werden, nach solchen Elementen in Hyperions Erkundungsgang auf der Insel Kalaurea zu fahnden, um die spezifische Konfiguration der Steigerung der Lust durch begeisterte Annäherung an die schöne Natur offenzulegen. Es war so sichtbar, wie alles Lebendige mehr, denn tägliche Speise, begehrt, wie auch der Vogel sein Fest hat und das Thier. Es war entzükend anzusehn! […] O Schwester des Geistes, der feurigmächtig in uns waltet und lebt, heilige Luft! wie schön ist’s, daß du, wohin ich wandre, mich geleitest, Allgegenwärtige, Unsterbliche! Mit den Kindern spielte das hohe Element am schönsten. Das summte friedlich vor sich hin, dem schlüpft’ ein taktlos Liedchen aus den Lippen, dem ein Frohlokken aus offener Kehle; das strekte sich, das sprang in die Höhe; ein anders schlenderte vertieft umher. Und all diß war die Sprache Eines Wohlseyns, alles Eine Antwort auf die Liebkosungen der entzükenden Lüfte.46

Mit dem ersten Satz scheint unser Projekt zum Scheitern verurteilt zu sein. Hyperion wendet sich gegen die bloße Befriedigung körperlicher Bedürfnisse. Er reklamiert eine spezifische interesselose Haltung, die selbst den Tieren eigen ist. Natur wird demnach nicht als Ort bloßer Bedürfnisbefriedigung akzentuiert. Denn in ihr wirkt als belebendes Prinzip die Luft, die „Schwester des Geistes“.47 45 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 23, AA 5, 245. 46 Hölderlin, Hyperion, 654f. 47 Jeorgakopulus deutet die Präsenz des Geistes als Aufgang einer mythischen Sprache, die als dionysisches Gegenstück zur bloß rationalen Vernunft fungiert. Vgl. Katharina Jeorgako-

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Die Luft war schon in das Erlebnis des Schönen bei der Überfahrt nach Kalaurea involviert. Jetzt aber ist es nicht der Zustand der bedürfnislosen Kontemplation, in den ihn die Luft versetzt, sondern sie versetzt ihn in einen interessiert-interesselosen, der ihn forciert, die schöne Landschaft zu erkunden. Interessiert ist dieser Zustand, da er Hyperion dazu animiert, das Naturschöne zu erkunden und sich ihm auszusetzen. Interesselos ist er, da er sich vom einverleibenden Zugriff auf die Früchte der Natur distanziert und allein darauf abzielt Wohlbefinden zu generieren. Es handelt sich demnach um zwei Zustände der Kontemplation: Erstens um einen formalen, Kantischen, der sich am Schiff vollzieht, zweitens um einen leiblichen, der Hyperion dazu animiert, die schöne Insel zu erkunden. Bei diesem Erkundungsgang erfährt Hyperion, dass Tier- und Pflanzenwelt, und freilich auch die Menschen, durch die Luft zu Tätigkeit animiert werden, die nicht begrifflicher oder bloß leiblich interessierter Natur ist. Dies ist es, was er als Fest beschreibt. Zugleich steht die schöne Luft in Analogie zum Geist, der in der Kritik der Urteilskraft als das Vermögen fungiert, ästhetische Ideen zu produzieren. Vor allem bei den Kindern zeigt sich dies erstens in spielerischen Bewegungen und führt zweitens zu prototypischer künstlerischer Tätigkeit. Sie werden zu gesanglicher Äußerung gereizt. Die poetologischen Implikationen sind für jetzt beiseite zu lassen. Entscheidend ist die Konsequenz, die Hyperion aus dieser Naturbeschreibung zieht: „Und all diß war die Sprache Eines Wohlseyns“. Im zu Hölderlins Zeiten maßgeblichen Wörterbuch, jenem der Brüder Grimm, wird „Wohlseyn“ als ein Idealzustand der körperlichen Befindlichkeit beschrieben und damit als Gesundheit.48 Es handelt sich somit um einen sinnlichen, leiblichen beziehungsweise material-ästhetischen Zustand, der in der KalaureaSzene durch die kontemplative Wahrnehmung der schönen Natur gewirkt wird. Damit lässt sich die Steigerung der Lebendigkeit, die dem Schönen zugrunde liegt, näher beschreiben. Wie beim Erhabenen, in dessen Formationsbewegung das Material-ästhetische in negativer, schmerzensvoller Weise die Lust steigert, kann es auch in positiver, also lustvoller Weise das reine Wohlgefallen intensivieren, indem – und das ist aller Aufmerksamkeit würdig – es das kontemplative Urteil über das Schöne um leiblich-kontemplatives Wohlseyn erweitert. Anders als bei der Lust am Erhabenen, das für die Unabhängigkeit des Menschen als noumenales Wesen den Blick schärft, tritt in der positiven, sinnlichen Lust das Bedürfnis des Menschen in den Vordergrund, sich der Natur auszusetzen, sich als Teil in ihr pulus, Die Aufgabe der Poesie. Präsenz der Stimme in Hölderlins Figur der Diotima, Würzburg 2003, 148ff. 48 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 30, 1991, 1178. „Wohlsein, n. das wohlbefinden; wolseyn felicità, prosperità Kramer t.-ital. (1700) 2, 798a; meist auf den körperlichen zustand bezogen und synonym mit wohlbehagen, gesundheit; la santé, bonne disposition Schwan (1783) 2, 1066a; Stosch gleichbedeut. wörter 2, 265. bereits in der mhd. Mystik belegt, aber erst seit dem 18. jh. in breiter verwendung.“

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zu erkennen, sie zu durchstreifen ohne konkretes Ziel, aber auch ohne den trivialen Ehrgeiz, sie sich einzuverleiben. Es handelt sich somit um einen ästhetischpraktischen Zustand, der sich in Hyperions kontemplativer Entdeckerlust äußert. Es lässt sich festhalten, dass Hyperion an das reine Geschmacksurteil ein Interesse koppelt, das viertens in die Sphäre des interesselosen Leiblichen weist. Dies führt zu einer bemerkenswerten Konsequenz: Beide ästhetischen Zustände, jener am Schiff und jener auf der Insel, werden als schön beschrieben und sind vermittels eines indirekten Interesses miteinander verbunden. Beide Zustände sind jedoch interesselos. Für Hölderlin ist demnach der ganze Mensch in ein ästhetisches Erlebnis involviert. Es handelt sich weder um eine begriffliche Lust, noch um ein bloßes Geschmacksurteil im Sinne Kants, wie es der am Schiff meilenwert von der Küste entfernte Hyperion vollzieht. Nach der Ankunft auf der Insel ist er mit allen Sinnen in das Naturschöne eingetaucht. Tier- und Pflanzenwelt umspielen ihn und dies hebt seine Stimmung zu einem alles umfassenden Lustgefühl. Diese in einem Geschmacksurteil fundierte Gesundheit deutet Hölderlin als eine Form von kontemplativer Gestimmtheit von Leiblichkeit und Rationalität. Entscheidend ist, dass aus dieser Gesundheit ein lustvolles Tätig-sein folgt. Das Singen, das Tönen wird von Hyperion als die Sprache eines Wohlseyns markiert. Die Kinder geben ihm einen Wink für den Fortlauf seines Lebensganges.49 Eins ist jedoch auffällig: Es ist nicht Hyperion, der singt. Er ist der bloße, um leibliche Elemente erweiterte, kontemplative Rezipient des Schönen. Da Hyperions Lebensgeschichte auf die Initiation seiner Dichterschaft abgezweckt ist, ist es naheliegend, dass es sich beim ästhetischen Erlebnis auf der Insel Kalaurea aus produktionsästhetischer Perspektive um einen defizienten Zustand handelt. Die Einbildungskraft des am Schiff befindlichen Hyperion bleibt an die aus der Ferne wahrnehmbaren formalen Konturen der Küste von Kalaurea gebunden. Sie verfährt also nicht dichterisch, skizziert aber in freier Gesetzmäßigkeit, also ohne unter die Direktiven des Verstandes subsumiert zu werden, das Bild der Küstenlandschaft. Hölderlin gelangt mit dieser Schilderung eines ästhetischen Wahrnehmungsaktes über Kants Schönheitsrationalismus hinaus. Er weist auf die leiblichen Erregungszustände hin, die unweigerlich mit dem Schönen ein49 Margarete Wegenast deutet die singenden Kinder als Chiffren des Göttlichen. In ihrer Präsenz drückt sich innerhalb des Romans die spinozistisch konzipiert Alleinheit der Natur aus. Wegenasts Interpretation der Kalaurea-Szene steht in der Nähe der hier vorgelegten, da festgehalten wird, dass es sich um ein Erlebnis handelt, in das der ganze Mensch involviert ist. Es wird jedoch daraus keine Konsequenz für die Wissenschaft des ganzen Menschen, also die Ästhetik, gezogen. Wegenast interessiert sich eher für die Alleinheitsproblematik und die Rückbezüge auf Spinozas Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Vgl. Margarete Wegenast, Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des ‚Hyperion‘, Tübingen 1990, 162ff.

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hergehen und es konstituieren, bleibt jedoch in der Kalaurea-Szene an der Kantischen Vorgabe einer Mimesis der natura naturata haften. Für die tatsächliche Initiation von dichterischem Gesang genügt eine solche Stimmung des Gemüts nicht. Hölderlin bestimmt die Dichtung als jenes Medium, das alle Teile des Menschen, also Räsonnement, Empfindung und Vorstellung, gleichermaßen stimuliert.50 In der Kalaurea-Szene ist jedoch ein Folgeverhältnis angesetzt. Die distanzierte, rein rationale Evokation des Schönen führt vermittels des Erwachens in einen leiblich-interesselosen Zustand. Es handelt sich jedoch um zwei voneinander strikt getrennte Daseinsmodi, die allein indirekt miteinander verknüpft werden. Nun gilt es, Nietzsches produktionsästhetische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Interesselosigkeit und Interesse in Also sprach Zarathustra zu untersuchen. Es wird sich zeigen, dass Nietzsche in der Rede „Mittags“ aus der Perspektive einer Ästhetik des Leibes einen ästhetischen Kontemplationszustand moduliert, den er wie Hölderlin durch den Schlummer poetisch gestaltet und als nicht hinreichend für die Initiation poetischer Praxis charakterisiert. Diese frappante Motiventsprechung zwischen Hyperions Kalaurea-Überfahrt und Zarathustras halkyonischer Beruhigung des Willens führt zu der These, dass die beiden Dichter den Leib als konstitutives Element in die Wahrnehmung des Schönen integrieren und sich so von Kants Reflexionsästhetik distanzieren. In einer solchen Modulation des interesselosen Wohlgefallens bewegt sich Hölderlin noch klar auf dem theoretischen Fundament, das der ästhetische Teil der Kritik der Urteilskraft vorgibt. Erst Nietzsche sprengt die Kantische Dichotomie von Reflexions- und Sinnengeschmack und fundiert die Wahrnehmung des Schönen in leiblichen Interessenskonflikten, so dass sie über Kants Bestimmung im freien Spiel der Erkenntniskräfte hinausreicht. Hölderlins poetische Gestaltung von Hyperions Kalaurea-Überfahrt kann demnach als ein Vorläufer-Modell von Nietzsches Konzeption des halkyonischen Mittags in Also sprach Zarathustra angesehen werden, das zum einen Nietzsche durch seine Hyperion-Lektüren bekannt gewesen ist und zum anderen neben der Übereinstimmung im philosophischen Gehalt auch auf seine Metaphern- und Bilderwahl Einfluss nahm.

50 Vgl. Hölderlin, Hyperion, 369.

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Zarathustras Interesse am Schönen und die halkyonische Beruhigung des Willens

Kant weist im ästhetischen Teil der Kritik der Urteilskraft nach, dass das Geschmacksurteil einen paradigmatischen Fall von durchgängiger Einheit im menschlichen Gemüt ausdrückt. Allgemeines und Besonderes finden in der Wahrnehmung der schönen Naturformen in eine harmonische Zusammenstimmung, die sich in Form eines kontemplativen Lustgefühls dem Subjekt präsentiert. Die ästhetische Lust des reinen Geschmacksurteils hat ihren Grund im transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit ohne Zweck. In ihm liegt die Quelle der heautonomen Verfahrensweise der reflektierenden Urteilskraft. Sie gibt sich selbst das Gesetz der ästhetischen Beurteilung schöner Naturgegenstände. Damit tritt sie in Analogie zur Vernunft, die autonom dem Begehrungsvermögen Gesetze vorschreibt. Nietzsche ist wohl der prononcierteste Kritiker der Affinität von Schönheit und Moralität, wie einer erfahrungsunabhängigen Vernunft in toto als Leitmodul endlicher Welthabe.51 Bekanntlich fasst er sie in Also sprach Zarathustra als nachrangiges Phänomen auf, das stets auf die verschlungenen Wirkungsweisen des Leibes zurückzuführen ist.52 Nietzsche drängt daher auf eine „Bescheidenheit des Bewusstseins“53 zugunsten des Leibes, der auf ständige Steigerung der Lebenskräfte drängt.54 Durch Nietzsches Attacken auf die Vernunft als Hüterin der Ordnung tritt das Differente, das Widersprechende, ja das Chaos in den Blick der philosophischen Analyse.55 Chaos weist für Nietzsche immer schon in das Physiologische, Affektive. Chaos meint für Nietzsche Physis und ist damit Quell dichterisch-schöpferischer Begeisterung. Paradigmatisch hierfür ist das Zarathustra-Wort, dass noch Chaos in sich haben müsse, wer einen tanzenden Stern gebären wolle.56 Da für die anstehende Untersuchung Nietzsches Also sprach Zarathustra im Fokus steht, ist vor allem auf die dortige Auseinandersetzung mit der schönen Kontemplation und ihrer Beziehung zum Interesse, den Begierden und leibli51 Einen kritischen Vergleich von Kants Urteilslogik des Schönen und Nietzsches Ästhetik aus der Tragödien-Schrift liefert Violetta Waibel. Vgl. Violetta L. Waibel, Die Explikationskraft der Ästhetiken Kants und Nietzsches für den abstrakten Expressionismus (Wassily Kandinsky, Mark Rothko, Jackson Pollock, Joan Mitchell), in: Beatrix Himmelmann, Kant und Nietzsche im Widerstreit, Berlin 2005, 196–217. 52 Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 39ff. 53 Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß Winter 1883–1884, KSA 10, 653. 54 Vgl. Günter Haderkamp, Triebgeschehen und Wille zur Macht. Nietzsche – zwischen Philosophie und Psychologie. Würzburg 2001, 15ff. 55 Vgl. Babette E. Babich, Nietzsches Chaos sive natura: Natur-Kunst oder Kunst-Natur, in: Harald Seubert, Natur und Kunst in Nietzsches Denken, Köln u. a. 2002, 91–113. 56 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 19.

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chen Bedürfnissen einzugehen. Diese Beziehung markiert die Gelenkstelle, die Nietzsches ambivalentes Verhältnis zur klassischen Ästhetik charakterisiert. Ziel ist es, seine kritische Haltung gegenüber den idealistischen Konzepten offenzulegen und demgegenüber seinen eigenen Entwurf zu akzentuieren, der in seinen zentralen Momenten mit Hölderlins Verständnis der Wahrnehmung des Naturschönen koinzidiert. Bemerkenswert ist, dass sich auch in Nietzsches Also sprach Zarathustra ein Rezeptionsmodell ästhetischer Naturphänomene findet, das poetische Produktivität intendiert, jedoch letztlich an einer geglückten künstlerischen Äußerung scheitert. Bevor auf Nietzsches Verständnis der Kontemplation eingegangen werden kann, muss die Frage gestellt werden, was in Also sprach Zarathustra unter Geschmack verstanden wird. Der Geschmack ist ein terminus technicus, der sich wie ein roter Faden durch Nietzsches Philosophieren zieht. Es ist naheliegend, dass Nietzsches Primat der Ästhetik den Geschmack ins Herzstück seiner Analysen der perspektivischen Verwicklungen menschlichen Lebens setzt. Dies zeigt sich schon bei einem flüchtigen Blick auf sein Gesamtwerk. Von den ersten Basler Jahren bis zu den Nachlassfragmenten aus den späten 1880er Jahren gesteht Nietzsche dem Geschmack jene Kompetenzen zu, die einer auf die höchstindividuellen Bedürfnisse der Individuen Rücksicht nehmenden Steigerung der Kräfte gerecht wird.57 Es ist aber gerade Also sprach Zarathustra, wo dieses ‚Vermögen‘ einer scharfen, dichterischen Fundierung unterzogen wird. In der Rede „Von den Erhabenen“ findet sich in gedrängter Form eine Auseinandersetzung mit dem Geschmack, die auf den ersten Blick in entschiedenem Gegensatz zum Kantischen Ansatz steht, jedoch ihre begriffliche Akzentuierung gerade erst durch den Abstoß von diesem erlangt. Die Textstelle lautet: Und ihr sagt mir, Freunde, dass nicht zu streiten sei über Geschmack und Schmecken? Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken! Geschmack: das ist Gewicht zugleich und Wagschale und Wägender; und wehe allem Lebendigen, das ohne Streit um Gewicht und Wagschale und Wägende leben wollte!58

Von Schönheit ist hier nicht die Rede. Nietzsche setzt sich mit unterschiedlichen Bestimmungen des Geschmacks auseinander, die er prüft und einander gegenüberstellt. Es ergeben sich so Reminiszenzen an Kants Theorie aus der Kritik der Urteilskraft. Denn Zarathustra spricht von Freunden, die ihn davon überzeugen wollen, dass „nicht zu streiten sei über Geschmack und Schmecken“. Er selbst stellt sich in Opposition zu dieser These und plädiert für das Gegenteil, eben dass der Geschmack eine grundlegende Kompetenz darstellt, das Leben zu struktu57 Zur Bedeutung des Geschmacks für Nietzsches Philosophieren vgl. Karl Jaspers, Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 41974, 49f. 58 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 150f.

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rieren und zu deuten und so in Konflikt mit den Taxierungen anderer kommen kann. Anders als Kant, der den Geschmack, zumal den Reflexions-Geschmack, allein als das Vermögen, Schönes zu beurteilen, darstellt, ist er für Zarathustra eine paradigmatische Leidenschaft, Orientierung im chaotischen Lebensgang zu generieren. In einem Nachlassfragment aus dem Herbst 1880 setzt sich Nietzsche mit dem Geschmack der höheren Natur auseinander. „Der Geschmack der höheren Natur richtet sich auf die Ausnahmen. Es ist der individuelle Geschmack, der hier hervortritt: zu begreifen ist so eine Leidenschaft nicht.“59 Nietzsche rekurriert hier auf einen radikal subjektiven, ja privativen Geschmack, der sich jeder allgemeinen Mitteilbarkeit entzieht. Wenn Zarathustra Streit, Leben und Geschmack in Beziehung setzt, wendet er sich gegen den kontemplativen Charakter des Kantischen Geschmacksurteils und damit gegen die Fundierung des Schönen im Reflexions-Geschmack, wie in der Folge zu zeigen sein wird. Nach Nietzsche verfährt der Geschmack gerade nicht interesselos. Er ist das Einschätzungsvermögen höchstpersönlicher Interessen und Machtquanten. Die Beurteilungen, die er hervorbringt, intendieren daher nicht Allgemeingültigkeit, wie das reine ästhetische Urteil, sondern sind allein privativer Natur, wie es Kant für die Arbeit des Sinnen-Geschmacks ansetzt. Gerade die Verwurzelung des Geschmacks in den höchstpersönlichen, leiblichen Prädispositionen gilt für Nietzsche als das Initiationsmomentum des Streits um das Schmackhafte. Es lässt sich also festhalten, dass Nietzsches Verständnis des Geschmacks in entschiedener Distanz zu Kants Konzeption des Reflexions-Geschmacks steht. Anstatt subjektive Allgemeingültigkeit zu intendieren, fokussiert Nietzsche seine Überlegungen auf die leibliche Authentizität endlicher Individuen und gerät somit in den Ausstrahlungsbereich des in der Sphäre der Interessen arbeitenden Sinnen-Geschmacks. Blickt man auf die Antinomie des ästhetischen Teils der Kritik der Urteilskraft, so stellt man fest, dass die Möglichkeit zu streiten, sehr wohl zu Kants Theorie des Schönen gehört. Läuft Nietzsches Kritik am Reflexions-Geschmack also ins Leere? Im § 57 der KU hält Kant fest, dass der ästhetische Streit durch die Beziehung des Urteils über das Schöne zu einem „bloßen reinen Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen“60 gegeben ist. Über ein Geschmacksurteil lässt sich daher nicht disputieren, da ein Vernunftbegriff durch den Verstand nicht letztgültig einzuholen ist. Ein Vernunftbegriff gewährt jedoch jene epistemische Stabilität, die es ermöglicht, ihn unterschiedlich auszulegen und so zu legitimen, aber gleichzeitig divergierender Ansichten zu kommen. Es besteht also die Möglichkeit, über ein Geschmacksurteil zu streiten. Dies ist der Kern der subjektiven Allgemeingültig59 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 242. 60 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 57, AA 5, 340.

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keit, die Kant dem reinen Geschmacksurteil zugesteht. Aus dieser Perspektive dürfte Kant keine Einwände gegen die Konflikthaftigkeit geschmacklicher Schätzungen haben, auf die Nietzsche so viel Wert legt und die er seinen Freunden vorhält. Entscheidend ist jedoch die Intention, die Kant mit dem ästhetischen Konflikt verfolgt. Denn durch die Beziehung des Geschmacksurteils auf Vernunftprinzipien kann doch so etwas wie Einstimmung beziehungsweise Schlichtung des Streits anvisiert werden. Demnach wird im Meinungsaustausch letztlich doch eine – wenngleich subjektive – Allgemeingültigkeit hergestellt. Dies ist es, wogegen Zarathustra seine Invektiven ins Feld führt. In seinem Denkkosmos bedeutet die Beendigung des Streits die Erschlaffung der Lebendigkeit im „erbärmlichen Behagen“ – ein Umstand, den es aufs Entschiedenste zu vermeiden gilt. Demnach fundiert er die Möglichkeit des Streitens in der Bindung des Geschmacks an die höchstpersönlichen, leiblichen Interessen eines Individuums. Anders als Kant, der dem bloß privaten Sinnen-Geschmack jede Diskursfähigkeit abspricht, fungiert er bei Nietzsche als Artikulationsmedium der leiblichen Authentizität und markiert so die Quelle des Meinungsstreits im sozialen Verkehr. Nietzsche blendet demnach den Reflexions-Geschmack und mit ihm die interesselose, subjektive Allgemeingültigkeit aus und legt den Akzent seines Denkens auf die interessierte, sinnliche Hinwendung zu den Phänomenen und damit auf die privaten, leiblich fundierten Willensäußerungen. Im Fokus des ästhetisch gestimmten Individuums liegt somit nicht das interesselose Wohlgefallen an der Zusammenstimmung des Allgemeinen mit dem Besonderen, sondern die Lust an der Steigerung und Entladung physiologischer Kräfte im nicht zu schlichtenden Daseinskampf.61 Nietzsche fasst jedoch diesen Streit nicht als plumpen Kampf außer Kontrolle geratener Machtansprüche. Er sieht ihn eher als einen feinsinnigen, auf kleinste Akzentuierungen wertlegenden Prozess der Selbstorganisation einer lebendigen Ganzheit. Für diesen Prozess ist der Geschmack die entscheidende Kompetenz. Denn: „Ein Wenig mehr, ein Wenig weniger: das gerade ist hier Viel, das ist hier das Meiste.“62 Im Bild der Waage, das Zarathustra seinen Freunden entgegenhält, kommt das Charakteristikum des Geschmacks, feinste Gradunterschiede in der Harmonisierung divergierender Willen zur Macht abzuwägen, zum Vorschein. Er ist jedoch nicht nur eine Waage. „Er ist Gewicht zugleich und Wagschale und Wä-

61 Zu Nietzsches oszillierender Kritik am interesselosen Wohlgefallen zwischen der Kantischen und Schopenhauerischen Ästhetik vgl. Hans Gerald Hödl, Interesseloses Wohlgefallen. Nietzsches Kritik an Kants Ästhetik als Kritik ans Schopenhauers Soteriologie, in: Himmelmann (Hg.), Kant und Nietzsche im Widerstreit, 186–196. 62 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 152.

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gender.“63 Der Geschmack wird hier als in verschiedenen Erscheinungsweisen aufgefasste Grundkraft dargestellt, die sich selbst schätzend organisiert und formt. Aufgrund dieser Bestimmung ist es naheliegend den Geschmack als ästhetische Erscheinungsweise des Willens zur Macht zu skizzieren. Da es für Nietzsche/ Zarathustra den Willen zur Macht „und nichts außerdem“64 gibt, fungiert dieser als eine ontologische Grundkraft, die sich in verschiedenen Anwendungsfeldern entsprechende Operationsmechanismen und Kompetenzzentren schafft. So drückt sich in der theoretischen Einstellung wie auch im moralischen Wertschätzen ein spezifischer Wille zur Macht aus und so eben auch im Feld der Ästhetik. In diesem ist es der Geschmack als ästhetischer Wille zur Macht, der wägt, gewogen wird und jenes Instrument verkörpert, kraft dessen gewogen wird, eben die Waage. Nietzsches Primat des Ästhetischen folgend kann jedoch gesagt werden, dass Erkenntnis, Moral und Ästhetik nicht gleichrangig nebeneinander stehende Artikulationssphären des Willens zur Macht darstellen, sondern dass die Ästhetik und damit eben der Geschmack die reinste und auch basalste Erscheinungsweise des Willens zur Macht verkörpert. Erst so kann Nietzsche den „Willen zur Wahrheit“ als einen „schlechten Geschmack“ abqualifizieren und die „Reduktion der Moral auf Ästhetik“ feiern.65 Es ist die Metapher der Waage, die zum einen die Distanz zu Kants Ansatz offenbart, aber auch Übereinstimmung mit diesem akzentuiert. So fügt sich die Analogie des Geschmacks und der Waage mit Kants Bestimmung der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft. Sie fungiert als jenes Vermögen endlicher Individuen, heterogene Sphären, Besonderes und Allgemeines, miteinander in Einklang zu setzen – zu harmonisieren im Fall des Schönen. Die Waagschale auf der das Besondere liegt beinhaltet die Bilder der Einbildungskraft, die mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes, also der zweiten Schale, in Balance gehalten werden. Gewogen und damit als lustvoll beurteilt wird demnach das freie Spiel der Erkenntniskräfte, das durch das transzendentale Prinzip der Zweckmäßigkeit ohne Zweck gegründet wird. Nietzsche entkoppelt diese Bestimmung des Geschmacks von Kants reflexions-ästhetischer Fragestellung und implementiert sie in den leiblich-interes63 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 150. 64 Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 611. „[Diese] meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, […] dieß mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, […] – wollt ihr einen Namen für diese Welt? […] Ein Licht für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ [Hervorhebung im Original gesperrt, JE] 65 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, 471.

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sierten Selbstbildungs- beziehungsweise Selbstschöpfungsprozess endlicher Individualität. Wenn in Zarathustras Verständnis auf der Schale des Besonderen die individuellen Begierden und Interessen aufruhen, so dürfte – seinem Bildungsauftrag folgend – auf der Schale des ‚Allgemeinen‘ der Übermensch liegen. Freilich, der Übermensch fungiert nicht als statischer Vernunftbegriff, auch nicht als Regel des Verstandes, dafür schon eher als das Ideal menschlicher Vollkommenheit, in dem sich die höchstpersönliche Organisation der Willen zur Macht durch das diffizile Abwägen des Geschmacks realisieren soll. Gerade aber die Analogie von Geschmack, Waage und reflektierender Urteilskraft macht den entschieden anthropologischen Grundzug von Zarathustras Überlegungsgang offenbar. Für Kant ist die (reflektierende) Urteilskraft jenes Vermögen, das ausschließlich dem Menschen zu eigen ist. Bloße „Geister“ sind reine Vernunftwesen und erkennen durch einen anschauenden Verstand, Tiere strukturieren ihre Welthabe kraft ihrer Instinkte. Der Mensch als sinnlich-vernünftiges Doppelwesen bedarf der reflektierenden Urteilskraft, um ausgehend von der empirischen Unmittelbarkeit allgemeine Strukturen und damit Diskursivität und Öffentlichkeit, ja Kultur insgesamt ins Werk zu setzen.66 In einem Nachlassfragment von 1883 zieht Nietzsche aus diesem Gedanken Kants einschneidende Konsequenzen: „Und ich selber, meine törichten Freunde! – was bin ich denn, wenn ich nicht das bin, worüber zu streiten ist: ein Geschmack!“67 Nietzsche nähert sich im Vergleich zur Kantischen „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ ästhetischen Grundlegungsfragen unter konträren Voraussetzungen. Diese Neuausrichtung des Reflexionshorizonts führt zur Auflösung der Dichotomie von Sinnen- und Reflexions-Geschmack und damit zur Reintegration des Leibes als Konstitutionsfaktor des Schönen. Im Bild der Waage konvergieren diese beiden Formen emotionaler Intelligenz. Nietzsche verknüpft in seinem Konzept des Geschmacks leibliche Interessen und Machtquanten (Sphäre des Sinnen-Geschmacks) und die Fähigkeit zu beurteilen und abzuwägen (Reflexions-Geschmack). Der „inwendige Sinn“ als bloßes Wahrnehmungsvermögen leiblicher Interessen, wie ihn Kant in seiner Anthropologie beschreibt, verfügt für die Aufgabe des Schätzens nicht über die nötigen Kompetenzen. Gianni Vattimo ist daher zuzustimmen, wenn er sich gegen eine Gleichsetzung von Nietzsches Geschmacks-Perspektivismus mit dem reinen

66 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 5, AA 5, 210. In seiner Studie zu Nietzsches produktivem Missverständnis von Kants Naturteleologie widmet sich Carlo Gentili auch Nietzsches Auseinandersetzung mit der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft. Vgl. Gentili, Kants ‚kindischer‘ Anthropomorphismus, 100–119. 67 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 256.

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Geschmacksurteil ausspricht.68 Es ist jedoch, anders als Vattimo darlegt, zu sagen, dass es sich bei einer Schätzung sehr wohl um eine Äußerung des Geschmacks, nämlich ein Amalgam von Sinnen- und Reflexionsgeschmack, handelt. Zeigte sich bei der Auseinandersetzung mit Hyperions Kalaurea-Erlebnis eine Aufwertung des Leiblich-Sinnlichen gegenüber der reinen Kontemplation in ästhetischen Belangen, so verkörpert in Nietzsches Denken der Geschmack eine spezifische Form „intelligenter Sinnlichkeit“,69 die endliche Individuen befähigt, in der Lebenswelt sinnhaft zu agieren. Dies markiert einen entscheidenden Gegensatz zum Kerngedanken von Kants Ästhetik. Vollzog sich in der Kritik der Urteilskraft der Aufweis des Schönen in der Freisetzung des Einzelnen vom interessierten Zugriff auf die Wirklichkeit, so ist in Also sprach Zarathustra der Geschmack jene höchstpersönliche Leidenschaft, die den Kampfplatz der Interessen zu organisieren versteht und so als zentrales Kompetenzzentrum im lebendigen Daseinskampf auftritt. Der Standpunkt von Zarathustras Freunden kommt daher einem Rückzug in eine ästhetische Hinterwelt gleich. Solchen Kunst- und Naturfreunden droht Zarathustra: „[U]nd wehe allem Lebendigen, das ohne Streit um Gewicht und Wagschale und Wägende leben wollte!“ Eine solche Form des Lebendigen negiert die leiblich-sinnlichen Bedingungen gelingenden Lebensvollzuges. Es handelt sich um einen „Büsser des Geistes“, der sich in solcher Weise ästhetischen und damit lebensweltlichen Phänomenen nähert. Bisher wurde die Analyse von Nietzsches Auffassung des Geschmacks aus einer anthropologischen Perspektive unternommen. Die Wahrnehmung des Schönen war bisher nicht Gegenstand der Untersuchung. Dies soll im folgenden Überlegungsgang nachgeholt werden. Aufbauend auf der eben analysierten leiblichen Fundierung des Geschmacks bietet es sich nun an, zwei Weisen der vita contemplativa in Nietzsches Werk zu untersuchen, deren erste sich in Menschliches, Allzumenschliches befindet und sich mit Schopenhauers reinem Subjekt der Erkenntnis auseinandersetzt, und deren zweite in Zarathustras Rede „Mittags“ eine an Kant angelehnte Auffassung einer ästhetischen, interesselosen Kontemplation literarisch gestaltet und – ähnlich wie in Hyperions KalaureaErlebnis – die Defizite eines solchen Bewusstseinsmodus hinsichtlich poetischer Praxis herausarbeitet. Zunächst die Kontemplations-Szene aus Menschliches, Allzumenschliches: Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner […]. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den grossen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte […]. Er will Nichts, er sorgt 68 Gianni Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt am Main 1997, 23. 69 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, 294.

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sich um Nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, – es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. – Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, […] das Leben reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen.70

Bemerkenswert ist die Analogie zu Hyperions ästhetischem Erlebnis bei der Überfahrt zur Insel Kalaurea. Der Mensch, der diese Naturszenerie erlebt, ist frei von Interessen, denn er „will Nichts, er sorgt sich um Nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt“. Der Hinweis Nietzsches darauf, dass das Herz ausgesetzt hat, ist aufschlussreich. Das Herz als das Zentrum des Organismus und damit als die leibliche Ermöglichungsbedingung der Begierden und Interessen hat seine beherrschende Kraft verloren. Dieser Umstand korrespondiert mit der KalaureaSzene, in der nach dem Erwachen aus dem Schlummer das Herz erzittert – ein Indiz für den Übergang in die leiblich dominierte Sphäre der Lebenswelt. Wenngleich in der Kontemplations-Szene aus Menschliches, Allzumenschliches nirgends die Natur als rein, leicht oder gar als schön angesprochen wird, ist doch ersichtlich, dass sich der Betrachter in einem Zustand fern des aktiven, konfliktreichen Lebensganges befindet. Auffällig ist, dass Hölderlin und Nietzsche den Schlaf gleichermaßen ins Zentrum ihrer poetischen Gestaltung der Kontemplation rücken. Ist in Hölderlins Roman Hyperion dem Schlummer ausgesetzt, so schläft in der Passage aus Menschliches, Allzumenschliches zum einen die äußere Natur in Form des „grossen Pan“. Zum anderen schläft die Natur am Menschen in Form des Herzens. Auffallend ist, dass Nietzsche diesen Zustand als „Tod mit wachen Augen“ beschreibt. Es dürfte sich also um einen stärkeren Betäubungszustand handeln und nicht um Hyperions Schlummer, in dem dieser ja noch des sinnlichen Sehens fähig war. Dennoch lebt ein Auge. Es liegt nahe, dass es sich nicht um das Auge als Organsinn handelt, da ja gerade dieses mit dem Leib eingeschlafen ist. Nietzsche meint wohl das Auge der Erkenntnis, das wach geblieben ist und das Vieles sieht, was es vorher nicht gesehen hat.71 Es handelt sich offenbar, um einen Zustand der äußersten Beruhigung des Leibes, gewissermaßen um einen komatösen Modus des wahrnehmenden Subjekts, der mit dem Attribut des ‚Still-werdens‘ beschrieben wird. Gerade dieser Aspekt ist es, der eine erste Verbindungslinie zum Zarathustra schlägt. Denn in der Rede „Von den Erhabenen“ wird von einem „Still-werden“ gesprochen, dass jedoch mit dem Prädikat des Schönen verknüpft

70 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2, 690. 71 Vgl. Ulf Beckerhoff, Der Verlust der Aisthesis. Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen aus Sicht seiner späten Philosophie, Marburg 1998, 32ff.

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wird: „[N]och ist seine [des Helden, JE] strömende Leidenschaft nicht stille geworden in der Schönheit.“72 Das Still-werden einer strömenden Leidenschaft und die komatöse Stille des Leibes in Menschliches, Allzumenschliches markieren offensichtlich zwei verschiedene Modi endlicher Subjektivität. Das Absterben des Leibes und damit das Ende sensitiver Anmutungen markiert demnach die größtmögliche Distanz zur schönen Beruhigung oder Kontemplation, wie sie in der Rede „Von den Erhabenen“ angesetzt wird. Im Textstück aus Menschliches, Allzumenschliches befindet sich demnach der kontemplierende Mensch nicht im Zustand der Schönheit, sondern in einem theoretisch-epistemischen, da die Beruhigung so stark ausfällt, dass nur mehr das Auge der Erkenntnis wachbleibt. Nietzsche gestaltet ein Kontemplations-Modell, das an Schopenhauers Theorie des reinen Subjekts der Erkenntnis angelehnt ist. Dieser schopenhauerische, kontemplative Mensch wird zwar nicht der ewigen Ideen teilhaftig. Er erfährt jedoch ein „schweres, schweres Glück“. Dem Leser wird in dieser Szene vorenthalten, um welches Glück es sich handelt. Beckerhoff weist darauf hin, dass es sich um das Wiederkunfts-Erlebnis handeln könnte,73 wobei dieses für Nietzsche äußerst prägende Erlebnis in Sils-Maria im Jahr 1881 stattfand und damit erst nach der Abfassung von Menschliches, Allzumenschliches.74 Dennoch spricht für diese These die Schwere des Glücks, da Zarathustra stets die Tragizität des Wiederkunfts-Gedankens hervorhebt.75 Für die hier vorgelegten Überlegungen ist der genaue Gegenstand der reinen Erkenntnis nicht entscheidend. Wichtig ist das eklatante Missverhältnis zwischen totem Leib und höchst belebtem Auge der Erkenntnis, das einen theoretischen Zustand der vita contemplativa anzeigt und damit nichts weniger als poetische Praxis intendiert. In der Rede „Mittags“ liegen die Verhältnisse anders als in der Darstellung der Kontemplation in Menschliches, Allzumenschliches. Dies führt sie näher an Hölderlins entsprechendes Konzept heran. In Menschliches, Allzumenschliches wird eine an Schopenhauer angelehnte anästhetisch-ästhetische Erkenntnis intendiert, im Zarathustra kommt es durch den kontemplativen Zustand zur In72 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 151. 73 Beckerhoff, Der Verlust der Aisthesis, 32ff. 74 Vgl. Friedrich Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, 335. „Die Grundconception des Werks [Also sprach Zarathustra, JE], der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ‚6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit.‘ Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“ 75 Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, 377. „Er [Zarathustra, JE] prophezeit ihnen: die Lehre der Wiederkehr ist das Zeichen. Er vergißt sich und lehrt aus dem Übermenschen heraus die Wiederkehr: der Übermensch hält sie aus und züchtigt damit.“ [Hervorhebungen im Original, JE]

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itiation und zum Scheitern einer künstlerischen Tat. Es ist daher zu fragen, ob es Differenzen in der dichterischen Gestaltung dieser beiden kontemplativen Zustände und des damit einhergehenden ‚Still-werdens‘ gibt. Die Rede „Mittags“76 liegt am Ende von Zarathustras Suche nach dem um Hilfe schreienden letzten Menschen. Er hat die höheren Menschen, die ihm am Weg begegnet sind, zu seinem Gastmahl in der Höhle eingeladen und kehrt nun selbst zu seiner Behausung zurück. Es ist mittags, die hoch stehende Sonne und die Strapazen seiner Suche nach dem letzten Menschen veranlassen ihn Rast unter einem „alten krummen und knorrichten Baume“ zu halten.77 Dort überkommt ihn der Schlaf. Um die Stund des Mittags aber, als die Sonne gerade über Zarathustra’s Haupte stand, kam er an einem alten krummen und knorrichten Baume vorbei, der von der reichen Leibe eines Weinstocks rings umarmt und vor sich selber verborgen war: von dem hingen gelbe Trauben in Fülle dem Wandernden entgegen. Da gelüstete ihn, einen kleinen Durst zu löschen und sich eine Traube abzubrechen; als er aber schon den Arm dazu ausstreckte, da gelüstete ihn etwas Anderes noch mehr: nämlich sich neben den Baum niederzulegen, um die Stunde des vollkommnen Mittags, und zu schlafen.78

Es ist höchst bemerkenswert, wie differenziert Nietzsche/Zarathustra von Schlaf und dionysischer Berauschung konturiert. Ein Umstand, der später für Zarathustras Verhältnis zum Gesang bedeutsam sein wird. Fürs erste muss festgehalten werden, dass Zarathustra zunächst das Bedürfnis empfindet, die Weintraube zu kosten.79 Vermutlich dürfte die Erschöpfung der stundenlangen Wanderung dermaßen groß sein, dass Zarathustra deswegen von dem erneuten Anstrengungszustand einer dionysischen Belebung des Leibes Abstand nimmt, und sich einer anderen Lust hingibt, nämlich jener des Schlafes. Auffällig ist Zarathustras Form des Schlafes, daran zeigen sich eklatante Unterschiede zu der Konzeption aus Menschliches, Allzumenschliches. Denn der Schlaf in Also sprach Zarathustra drückt „[k]ein Auge mir zu, die Seele lässt er mir wach. Leicht ist er, wahrlich! federleicht.“80 Durch die erschöpfende Suche nach dem letzten Menschen wird Zarathustra zwar schläfrig, jedoch nicht soweit, dass sich von einem Tod sprechen ließe, denn: alle Augen bleiben offen. Indem Zarathustra darauf

76 Zu Zarathustras Rede „Mittags“ vgl. Brusotti, Marco, Die Leidenschaft der Erkenntnis, 1997, 618ff. 77 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 342. 78 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 342. 79 In dem frühen Text Die dionysische Weltanschauung heißt es zum Verhältnis von WeinKunst-Natur: „Die dionysische Kunst dagegen beruht auf dem Spiel mit dem Rausche, mit der Verzückung. Zwei Mächte vornehmlich sind es, die den naiven Naturmenschen zur Selbstvergessenheit des Rausches steigern, der Frühlingstrieb und das narkotische Getränk.“ Friedrich, Nietzsche, Die dionysische Weltanschauung, KSA 1, 554. 80 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 343.

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hinweist, dass alle Augen offen bleiben, nützt er die Redundanz des Plurals um deutlich zu machen, dass der Leib als ästhetisches Sensorium seine Kraft wahrzunehmen nicht verloren hat. „[S]ie [also die Wahrnehmungssensoren des Leibes, JE] wurden nämlich nicht satt, den Baum und die Liebe des Weinstocks zu sehn und zu preisen.“81 Diese Darstellung des Schlafes markiert einen eklatanten Unterschied zur Kontemplations-Szene aus Menschliches, Allzumenschliches. In dieser ist der Körper in einem komatösen Zustand verfallen und nur der visuelle Organsinn, das Auge, bleibt wach. Auf diese Weise wird das Subjekt der Szene dazu gedrängt, das Principium individuationis – die Bindung an den Willen zu durchbrechen und die Dinge an sich, die Welt des Seienden als solchen aufzufassen. In Zarathustras Rede „Mittags“ dagegen bleibt der Leib durch die äußere Wahrnehmung des Weinstocks soweit erregt, dass er sich nicht von der Welt des Willens (zur Macht) abwendet und in eine ästhetisch vermittelte Hinterwelt abgleitet. Gleichwohl handelt es sich bei Zarathustras Schlaf um einen Zustand der Kontemplation, da Zarathustra vom gehetzten Alltag Abstand nimmt und sich einem eigenständigen Wahrnehmungsbezirk hingibt, der sich aus der Bindung an „den Baum und die Liebe des Weinstocks“ speist. Es handelt sich also um eine rezeptionsästhetische, dionysische Kontemplation, die durch das literarische Bild des Schlafens mit offenen Augen/wachem Leib ausgedrückt wird. Zarathustra dürfte sich demnach in einem Dämmerzustand befinden, also schlummern. Die Willen zur Macht sind zwar beruhigt, Kognition und Intuition bleiben jedoch voll funktionsfähig. Es handelt sich also nicht um einen „Tod mit wachen Augen“, sondern um eine Beruhigung des menschlichen Organismus bei gleichzeitiger ästhetischer Erregung. Geht Kant von einem Zustand der ‚absoluten‘ Interesselosigkeit aus, in dem der Leib keinen Einfluss auf die Konstitution des Schönen hat, so weicht Nietzsche diese Konzeption auf und spricht von einer quantitativen Beruhigung des physiologischen Kampfes ums Dasein und macht so den ästhetisch aktivierten Leib zum Konstitutionsfaktor der Wahrnehmung des Naturschönen. Anders als in der Kontemplations-Szene aus Menschliches, Allzumenschliches, in der sich Rationalität und Leiblichkeit in äußerster Dissonanz befinden, zeigt die Rede „Mittags“ einen harmonisch beruhigten Organismus, in dem die Konflikte innerhalb und zwischen Seele und Leib, die der Geschmack organisiert, in beruhigtem Einklang stehen.82 Das im Zentrum dieser Skizze kontemplativer Wahrnehmung der schönen Natur der Leib steht, zeigt sich in Zarathustra Bedürfnis nach leiblicher Befriedigung. Ihn „gelüstete […], einen kleinen Durst zu löschen und sich eine Traube abzubrechen“.83 Während er 81 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 342. 82 Gleichwohl gilt das Diktum aus der Rede „Von den Taranteln“: „Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schönheit sei und Krieg um Macht und Übermacht: das lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichniss.“ Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 131. 83 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 342.

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das tut wird er sich der Schönheit der Natur bewusst und er nimmt ein stärkeres Interesse an der Befriedigung, die ihm durch die Wahrnehmung der schönen Natur gewährt wird. Diess that Zarathustra; und sobald er auf dem Boden lag, in der Stille und Heimlichkeit des bunten Grases, hatte er auch schon seinen kleinen Durst vergessen und schlief ein. Denn, wie das Sprichwort Zarathustra’s sagt: Eins ist nothwendiger als das Andre. Nur dass seine Augen offen blieben: – sie wurden nämlich nicht satt, den Baum und die Liebe des Weinstocks zu sehen und zu preisen. Im Einschlafen sprach Zarathustra also zu seinem Herzen: Still! Still! Ward die Welt nicht eben vollkommen?84

Anders als Hyperion, den die Wahrnehmung der schönen Küste gewissermaßen überrascht, nimmt Zarathustra ein Interesse an der schönen Natur und gibt sich mit Bewusstsein der ästhetischen Kontemplation hin. In diesem Zustand befindet er sich jedoch nicht in der komatösen Stille aus Menschliches, Allzumenschliches, sondern er rezipiert mit ruhiger Lust die Schönheit der ihn umgebenden Natur. Im Nachlass aus den Jahren 1870/1871 hält Nietzsche hierzu fest: „das Schöne ist ein Lächeln der Natur, ein Überschuß von Kraft und Lustgefühl des Daseins: man denke an die Pflanze. Es ist der Jungfrauenleib der Sphinx. Der Zweck des Schönen ist das zum Dasein Verführen.“ Das Schöne verführt deswegen zum Dasein, da es der unmittelbarste Ausdruck des Logos des Daseins ist. Nimmt ein ästhetisch gestimmtes Subjekt ein schönes Naturphänomen (natura naturata) wahr, so wird sein Wesen (natura naturans) dazu gereizt, selbst einen vergleichbar schönen Gegenstand zu modulieren. Nietzsche zufolge partizipiert das Subjekt in der ästhetischen Kontemplation nicht am mundus intelligibilis und erfährt daher auch nicht den Bereich der immerseienden Ideen. Wäre dies der Fall, würde sein Bedürfnis nach ständiger Reizung und Entladung der Schaffenskraft auf eine wahre Form der Dinge eingeschränkt. Vielmehr wird durch das Naturschöne der Schaffenstrieb als solcher stimuliert. Es kann bei der ästhetischen Rezeption nicht darum gehen, den Künstler zur Nachahmung der natura naturata zu reizen, sondern Ziel der Auseinandersetzung mit der schönen Natur ist es die schöpferische Kraft, die dem ästhetischen Subjekt innewohnt, zu befreien. Die Wahrnehmung des Schönen treibt daher über die bloße Rezeption hinaus und verführt den Rezipienten dazu, die „Natur nach[zu]ahmen wie sie schafft“85 und nicht das rezeptiv aufgefasste ästhetische tode ti zu reproduzieren. 84 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 342. 85 Diesen Satz notiert Nietzsche in seiner Ausgabe der Ästhetik von Eduard Hanslick. Vgl. Anna Hartmann Caltvanti, Nietzsche als Leser. Seine frühen Quellen und die Lektüre von Eduard Hanslick, in: Michael Knoche, H. Justus Ulbricht, H. Justus und Jürgen Weber (Hg.): Zur unterirdischen Wirkung von Dynamit. Zum Umgang Nietzsches mit Büchern, Wiesbaden 2006, 58.

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In der Rede „Mittags“ befindet sich Zarathustra in einer solchen Wahrnehmung des Naturschönen und wird demzufolge nicht zur Annäherung an eine ästhetische Hinterwelt animiert, sondern zu produktionsästhetischer Aktivität gereizt. Es handelt sich aber nicht um eine Form von Aktivität, die ihn aus dem Schlummer reißt, sondern die wesentlich in der Beruhigung der leiblichen und der kognitiven Willen zur Macht wurzelt. „Willst du wohl singen, oh meine Seele?“,86 lautet Zarathustras Konsequenz aus diesem Zustand. Wie in Hyperions Kalaurea-Erlebnis folgt aus dieser harmonischen, ganzheitlichen Gestimmtheit von Intuition und Kognition eine Affinität zum Gesang. Anders jedoch als im Hyperion ist es im Zarathustra eine harmonische Beruhigung der Willen zur Macht, die zu schönem Gesang reizt. Dort, wo Hölderlin durch Aufwertung der leiblichen Hälfte interesselose Kontemplation und leibliches Wohlsein in Einklang setzt, beruhigt Nietzsche den Kampf der physiologischen Machtquanten, um Leib und Seele in eine wohlproportionierte Stimmung zu versetzen. An der Rede „Mittags“ ist weiters auffällig, dass wie bei Hyperions Ankunft auf der Insel Kalaurea die Belebung durch die ästhetische Kontemplation an der Schwelle zum Gesang verebbt. Hyperion verharrt in rezeptiver Haltung und lauscht den singenden Kindern; Zarathustra gibt sich vollends dem Genuss der halkyonischen Mittagsruhe hin, in der er wie „ein Schiff, das in seine stillste Bucht einlief“ unter dem Baum liegt.87 Ihm ist bewusst, dass durch den Gesang die Waagschalen des Geschmacks wieder aus der Balance geraten würden. In Anbetracht der rezeptiven Wahrnehmung des „alten krummen knorrichten Baumes“ und „der reichen Liebe des Weinstocks“, der an ihm emporwächst, entscheidet sich Zarathustra für den Erhalt dieser instantanen Erfahrung von Vollkommenheit und damit gegen die Initiation dichterischer Praxis. „Singe nicht! Still! Die Welt ist vollkommen. Singe nicht, du Gras-Geflügel, oh meine Seele! Flüstere nicht einmal! Sieh doch – still! Der alte Mittag schläft, er bewegt den Mund: trinkt er nicht eben einen Tropfen Glücks – […]“88. Mit diesen Worten nimmt Zarathustra Abstand von einer stärkeren ästhetischen Aktivierung seines Gemüts. Gerade er, der die Intensivierung des Streits divergierender Machtwillen propagiert, zieht sich in den Zustand der halkyonischen Ruhe zurück und lauscht den Naturtönen. Zarathustra scheint zu wissen, dass die subtilste Veränderung des Kräfteverhältnisses die Waagschalen des Geschmacks wieder aus der Balance bringen würde. „Das Leben mit blinden Augen“ würde ihn wieder an sich reißen. Die Nähe von Hölderlins und Nietzsches Beurteilung der Kontemplation, hinsichtlich ihrer Kraft dichterische Praxis zu evozieren, ist bemerkenswert. In 86 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 343. 87 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 343. 88 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 343.

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Auseinandersetzung mit der Kantischen Geschmackslehre sprechen die beiden Dichter dem interesselosen Gemütszustand das Potential ab, als Inititationsmomentum des Singens zu fungieren. Beide gehen über das Kantische Verständnis der Kontemplation hinaus, indem sie den Leib, seine Interessen und Begierden, in den theoretischen Aufriss eines ästhetischen Erlebnisses integrieren.89 Hölderlin und Nietzsche zeigen im Hyperion (Überfahrt nach Kalaurea) und in Also sprach Zarathustra („Mittags“), dass eine anthropologische Reflexion aus der Perspektive einer Rezeptionsästhetik der conditio humana nicht gerecht wird. Anders als Kant sehen die beiden Dichter das freie Spiel der Erkenntniskräfte als nicht hinreichend an, um die Wahrnehmung des Naturschönen theoretisch zu fundieren. Sie gehen über Kants Verständnis der Kontemplation hinaus, indem sie den Leib und sein Wohlsein in Hölderlins Fall in den theoretischen Aufriss eines ästhetischen Erlebnisses integrieren und in Nietzsches Fall diesen als Quelle der ästhetischen Lust am Schönen ansetzen. Zum anderen distanzieren sie sich von der interesselosen Stimmung als der Quelle produktionsästhetischen Vollzugs. Beide Autoren befassen sich wesentlich mit der Konstitution des Dichters, die ihn befähigt, wahrhafte Kunstwerke zu schaffen. Da Hyperion und Zarathustra wesentlich durch ihr dichterisches Talent zum „Erzieher des Volks“ avancieren, gilt es in anstehenden Reflexionsgängen zu fragen, welche Gemütsverfassung das Potential hat, um dichterisch-praktische Arbeit hervorzurufen. Hinweise für eine solcherart gefasste Konstitution liefert im Hyperion die Zeichnung von Diotimas Charakter, die ihre bezaubernde Wirkung auch durch ihren Gesang erreicht. In Also sprach Zarathustra findet sich ein Zustand des Subjekts, der diametral der halkyonischen Mittagsruhe entgegengesetzt ist und wesentlich an eine dionysische Unruhe gekoppelt wird. Im Bild des übermenschlichen Tanzes konfiguriert Nietzsche, wie Hölderlin in der Gestalt von Diotima, einen Spannungszustand,90 der nicht an den Pforten der Dichtung wie der Entspannungszustand der Kontemplation halt macht, sondern das ästhetische Subjekt in den Stand setzt, selbständig produktionsästhetisch aktiv zu werden.

89 Nietzsche leistet dies, indem er die ästhetische Wahrnehmung als Ausdruck eines kontemplativen leiblichen Erregungszustands darstellt. Hölderlin dagegen koppelt an das reine Geschmacksurteil das Interesse, die schöne Natur zu entdecken, um auf diese Weise das ästhetische Erlebnis zu intensivieren. 90 Vgl. dazu das Kapitel II meiner Dissertation, in dem ich Hölderlins und Nietzsches Vorbegriff dichterischen Menschentums analysiere: Johannes Epple, Transformationen schöpferischer Vernunft. Kant – Hölderlin – Nietzsche, Paderborn 2021.

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Vom Reich Gottes zur ästhetischen Kirche. Hölderlins Verwandlung von Kants transzendentaler Begründung der Religion

Der überlieferte Briefwechsel Friedrich Hölderlins (1770–1843) bezeugt, dass das Interesse für die Religionsfrage ununterbrochen die Entwicklung seines philosophischen Denkens durchzieht und es so tief prägt, dass sich eine bedeutsame Beziehung zwischen Philosophie und Religion entwickelt. Insbesondere weisen zunächst zwei Briefstellen auf die Entwicklung des Nachdenkens über die Religion von 1794 bis 1799 hin und lassen den ihm zugrunde liegenden roten Faden erscheinen. Näher betrachtet kann man sie miteinander in Zusammenhang bringen. Die erste lässt sich wie das Auftreten der richtungsweisenden Fragestellung lesen, die Hölderlins Erziehungs- und Ausbildungskontext entstammt, und die zweite als der Höhepunkt der Arbeit an einer angemessenen Antwort. In der Zeitspanne, die zwischen den Niederschriften jener Briefe liegt, beschäftigt sich Hölderlin mit anderen Aspekten der Religionsfrage als jenen, die ihm seit dem philosophischen und theologischen Studium in Tübingen wohlbekannt waren, und insbesondere richtet er seine Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen der Religion und dem menschlichen Zusammenleben.1 Diesbezüglich zeigt Hölderlin Interesse für einige paradigmatische Perspektiven, wobei die sozial engagierte, auf Erziehung gerichtete Perspektive des jungen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), die geschichtlich-anthropologische, der schönen Kunst große Bedeutung beimessende Perspektive Friedrich Schillers (1759–1805) und die sich an die Rechtssphäre anlehnende Perspektive Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) einen nicht zu verachtenden Beitrag zu seiner Auffassung leisten. Dennoch aber spielt die Kantische Perspektive mit ihrem transzendentalen Denkansatz eine herausragende Rolle. Die erste Briefstelle entspricht dem Beginn des Schreibens an Hegel vom 10. Juli 1794, in dem Hölderlin dem Freund gegenüber den Ausdruck Reich Gottes als die „Losung“ erwähnt, mit der sie am Ende der Jahre im Tübinger Stift 1 Zum Zusammenhang zwischen Hölderlins Konzeption der Religion und einer Intersubjektivitätstheorie siehe Violetta L. Waibel, Hölderlin und Fichte: 1794–1800, München 2000, 255– 264.

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voneinander geschieden waren und an der sie sich auch nach jeder Metamorphose wiedererkennen würden.2 Die zweite befindet sich im langen Brief an den Bruder vom 4. Juni 1799 und bezieht sich auf die ästhetische Kirche als das Ideal jeder menschlichen Gesellschaft, dessen philosophische Darstellung allerdings erhebliche Schwierigkeiten macht.3 Sowohl im einen als auch im anderen Schlagwort klingt die Thematik der Ekklesiologie deutlich an, mit der sich Kant im dritten und vierten Stück der Religionsschrift auf die Suche nach den Bedingungen begibt, die die Idee von einem Volk Gottes unter der Bedingung menschlichen Daseins durchführbar machen. Von der anfänglichen Orientierung an dem Gemeinschaftsmodell des Reichs Gottes bis zur späteren Konzeption der ästhetischen Kirche entfaltet sich eine konstruktive Auseinandersetzung mit Kants Religionsphilosophie und ihren theoretischen und praktischen Prämissen, von der ausgehend Hölderlin durch eine Untersuchung der Religionsgrundlagen zu einer Verwandlung von Kants „reine[m] Vernunftsystem der Religion“4 in ästhetisch-künstlerischer Richtung gelangt. Als Bindeglied zwischen den oben genannten Briefstellen und als Kernstück der Verwandlung lässt sich die prägnante Definition vom Wesen der Religion geltend machen, mit der Hölderlins theoretische Schrift Über Religion ihren Höhepunkt erreicht. Deren abschließende Formulierung, wonach „alle Religion ihrem Wesen nach poetisch“5 sei, bildet genau den Grundgedanken, mit dessen Triftigkeit die ganze innovative Bedeutung von Hölderlins Auffassung im Vergleich zu der Kants steht und fällt. Was die Grenzlinie zwischen den Berührungsund den Veränderungspunkten markiert, ist nicht nur die jeweilige Einstellung zum Wesen der Religion, sondern vor allem auch die Erschließung des dieser Einstellung zugrunde liegenden Bereichs der Frage nach der Begründung der Religion im transzendentalen Sinne. In Hinsicht auf die apriorischen Grundlagen der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Religion vollzieht sich ein Übergang von Kants moralischer zu Hölderlins ästhetischer Konzeption.

2 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner und Adolf Beck, Stuttgart 1943ff. (im Folgenden zitiert als StA). Vgl. hier: Friedrich Hölderlin an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Brief vom 10. Juli 1794 in: Friedrich Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 126–127. 3 Vgl. Friedrich Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 4. Juli 1799, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 330. 4 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 6, Berlin 1914. Im Folgenden zitiert als Religion. Hier: AA 6, 12. 5 Friedrich Hölderlin, Über Religion, in: Derselbe, Empedokles, Aufsätze, StA Bd. V.1, 281.

Hölderlins Verwandlung von Kants transzendentaler Begründung der Religion

1.

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Kants transzendentale Begründung der Religion

Dass sich die Frage nach dem Wesen der Religion mit der nach ihrer Begründung verknüpft, lässt sich in erster Linie Kants Aussage entnehmen, nach der die Eigenschaft, die den wesentlichen Charakter der Religion ausmacht, die Tauglichkeit dazu ist, allgemeingültig und folglich für jeden Menschen verbindlich zu sein.6 Der näher zu bezeichnende Grund, weshalb sich die Überlegungen zum Wesen der Religion vom transzendentalen Gesichtspunkt aus auf das umfassendere Problem ihrer Begründung zurückführen lassen, liegt in der näheren Erläuterung der drei Bedeutungen, und zwar Ursprung, Struktur und Bestimmung, die im Ausdruck ‚Wesen‘ als miteinbegriffen angesehen werden können. Genau genommen weist jede Bedeutung auf eine der Fragestellungen hin, durch die sich das Nachdenken über die Religion nach Prinzipien a priori auszeichnet und sich dessen einheitliche Forderung dementsprechend in drei Richtungen gliedert. Wenn man auf die Bedeutung von ‚Ursprung‘ aufmerksam macht, so kommt die Frage nach der Möglichkeitsbedingung der Religion zum Vorschein. Die Frage nach der allgemeingeltenden vernünftigen Form der Religion stellt sich, indem die Bedeutung von ‚Struktur‘ in Betracht gezogen wird. Dadurch, dass die Bedeutung von ‚Bestimmung‘ hervorgehoben wird, tritt letztlich die Frage nach der zweckgerichteten Wirklichkeit der Religion auf. All diese Fragen erörtert Kant in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft und im Anschluss an sein ganzes Denksystem löst er sie mit derselben Antwort auf, nämlich moralisch. In der „Vorrede zur ersten Auflage“ der Religionsschrift befindet sich der bekannte Ausdruck, laut dem die Moral unumgänglich zur Religion führt,7 welchen Kant schon früher in der Kritik der praktischen Vernunft in einer ungekürzten Formel zur Erklärung dafür verwendet, inwiefern sich die Religion aus dem moralischen Gesetz durch den Begriff des höchsten Gutes herleitet.8 Wie in der „Vorrede zur zweiten Auflage“ dargelegt, entspricht die eigentliche Religion dem, was nach dem Weglassen alles Empirischen übrig bleibt und was nichts anderes als der rein-moralische Vernunftbegriff a priori ist,9 anhand dessen das reine Vernunft-System der Religion zutage tritt und sich als natürliche Religion durchsetzt. In der wiederkehrenden Definition, nach der die Religion der Inbegriff aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote10 ist, liegt das Wesentliche aller Religion,11 das Kant als das 6 Kant, Religion, AA 6, 155. 7 Kant, Religion, AA 6, 6. 8 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, mit einer Einleitung hg. v. Horst Brandt und Heiner Klemme, Hamburg 2003. Hier: AA 5, 148. 9 Vgl. Kant, Religion, AA 6, 12. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2001. Hier: AA 5, 481. 10 Vgl. Kant, Religion, AA 6, 153.

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Formale12 derselben insofern versteht, als es sich genau mit dem rein-moralischen Vernunftbegriff von Religion deckt. In Anbetracht dessen erweist es sich als ganz folgerichtig, dass Kant die moralische Besserung des Menschen für den Zweck und das Objekt der Religion hält.13 Dabei geht es um die echte Bestimmung der Religion, deren Aufgabe sich nach Kant nicht darin erschöpfe, jeden einzelnen Menschen in moralischer Hinsicht zu einem neuen Menschen zu machen, sondern sie erstrecke sich auch darauf, den „Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge“14 oder genauer gesagt zu einem ethischen Gemeinwesen zu ermöglichen. Ein solches Gemeinwesen ist nichts anderes als das Reich Gottes auf Erden, dessen Verwirklichung von den Menschen nur durch die Religion in einer allmählichen Annäherung unternommen und in der sinnlich wirklichen Form einer Kirche vorgestellt werden kann.15 Nicht nur in der Religionsschrift, sondern auch in Textpassagen aus anderen Werken erläutert Kant ausführlich, inwiefern der Moral ein Denkvorrang vor der Religion zusteht und warum es darauf ankommt, dass die Moral keineswegs der Religion bedarf, sondern sich selbst genug ist. Wenn man sich die Priorität und Unabhängigkeit der Moral vor Augen hält, so wird die Bedeutung klar, in der die oft wiederholte Aussage, dass das Wesen aller Religion die Moral sei,16 begriffen und interpretiert werden muss. Diese Definition lässt sich nämlich in die ihr zugrunde liegende These übersetzen, nach der die Grundlage aller Religion die moralische Menschenanlage ist.17 Mit einer solchen Übersetzung wird erstens der Anspruch auf die Allgemeingültigkeit a priori, der den Kern der Frage nach dem Wesen der Religion ausmacht, in den Vordergrund gerückt und zweitens der Schwerpunkt von Kants Konzeption zusammengefasst, nach der die Moral jenen Begründungsanspruch in allen drei Bedeutungen, die im Ausdruck ‚Wesen‘ miteinbegriffen sind, erfüllt. Daraus, dass Hölderlin im Fragment Über Religion nicht nur an der Erörterung des Wesens der Religion arbeitet, sondern auch zugleich an der Erklärung des Ursprungs, der Struktur und der Bestimmung der Religion, lässt sich grundsätzlich seine Anlehnung an den transzendentalen Fragenkreis entnehmen, der durch Kants Überlegungen zu den Prinzipien a priori der Religion gekennzeichnet ist. Die tieferdringende Einsicht in die Art und Weise, wie sich 11 Kant, Religion, AA 6, 110. 12 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 6, Berlin 1914, 488. 13 Vgl. Kant, Religion, AA 6, 112. 14 Kant, Religion, AA 6, 122. 15 Vgl. Kant, Religion, AA 6, 101, 151. 16 Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 7, Berlin 1914. 192. Vgl. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 7, Berlin 1914, 8–9. 17 Vgl. Kant, Religion, AA 6, 111, 121.

Hölderlins Verwandlung von Kants transzendentaler Begründung der Religion

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Hölderlin vor diesen Fragenkreis stellt, zeigt dann deutlich, dass es für ihn um die Suche nach den apriorischen Grundlagen der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Religion geht, oder, anders gesagt, um die Suche nach der transzendentalen Begründung der Religion. Die methodologische Perspektive Kants übernehmend, fragt sich Hölderlin im Gedankengang des Fragmentes, woher die Religion kommt, worin sie besteht und wozu sie bestimmt ist, aber im Unterschied zu Kant findet er die Antworten darauf nicht in der moralischen, sondern in der ursprünglich-ästhetischen Menschenanlage. In der Auseinandersetzung mit Hölderlins kritischer Abweichung von Kants Antworten, die sich um den konstitutiven Denkvorrang der Moral vor der Religion drehen, liegt die Vorbedingung dafür, seine Verwandlung der transzendentalen Religionsbegründung in ästhetisch-künstlerischer Richtung zu begreifen und die Argumente des Fragments zu verdeutlichen.18 Nicht nur bildet diese kritische Abweichung von der insgesamt moralischen Lösung den genetisch-systematischen Hintergrund und die wirkliche Vorgeschichte von Hölderlins theoretischer Schrift Über Religion, sondern sie stellt auch den Beweggrund der Entwicklung dar, die Hölderlin von der Anlehnung an die Idee vom Reich Gottes zu seiner eigenen Konzeption der ästhetischen Kirche führt.

2.

Hölderlins Abweichung vom Primat der Moral

Hölderlin distanziert sich vom Kantischen Vorrang der Moral erst im Anschluss an eine gründliche Kenntnis der theoretischen und praktischen Prämissen von Kants Religionsphilosophie und an die Einsicht in triftige Gründe. Hierbei erweisen sich die Gründe dafür, den entscheidenden Belang der praktischen Prämissen in Frage zu stellen, als besonders wichtig. Dass Hölderlin mit der Widerlegung der rationalen Theologie – der theoretischen Prämisse – und mit der Lehre vom höchsten Gut – der praktischen Prämisse – ganz vertraut ist, geht aus seinen Briefen der Zeit im Tübinger Stift und der unmittelbar darauffolgenden Jahre hervor. Aus seinem Briefwechsel kann man nachvollziehen, dass sich Hölderlin die sich aus der Metaphysikkritik ergebende Unerkennbarkeit Gottes wie auch das praktische, der Moraltheologie zugrunde liegende Vernunftpostulat des Daseins Gottes insofern aneignet, als er beides gegen die wissentliche Manipulation von Kants System behauptet, die das offizielle akademische Milieu

18 Zu Hölderlins philosophischer Grundlage für eine nicht moralische Begründung der Religion siehe Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992, 307–308, 614–622.

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von Tübingen charakterisiert.19 Einen wichtigen Hintergrund dafür bildet der Umstand, dass es der echten Kantischen Philosophie zusammen mit der frühen Ausdeutung Karl Leonhard Reinholds (1757–1823) durch das Zutun von Nebenfiguren des Lehrerkollegiums gelang, sich im Stift zu verbreiten und sich mehr oder weniger hinter der sanktionierten Lehre durchzusetzen. Während der Ausbildungszeit steht Hölderlin im unbestrittenen Einflussbereich von Gottlob Christian Storrs (1746–1805) Dogmatik, der ihn und seine Kollegen am Anfang des Studiums dazu zwingt, sich mit dem apologetischen Gebrauch der Philosophie auseinanderzusetzen, insbesondere mit der metaphysischen Lehre von Storrs Schüler, dem Anti-Kantianer Johann Friedrich Flatt (1759–1821). Nicht nur handelt es sich bei den zwei Hauptwerken Flatts um einen Angriff auf Kants Philosophie insgesamt, sondern sie üben auch eine bissige Kritik vornehmlich an den Schwerpunkten der Kantischen Einstellung zur problematischen Denkbarkeit Gottes. Im Detail bemüht Flatt sich darum, einerseits die Grundlegung der natürlichen Theologie so wiederherzustellen, dass das Dasein Gottes wieder vernünftig beweisbar werden kann, und andererseits den moralischen Erkenntnisgrund der Religion dadurch hinfällig zu machen, Kant entweder des blinden Glaubens oder des skeptischen Atheismus zu beschuldigen. Seit dem ersten philosophisch dichten Brief, den Hölderlin am 14. Februar 1791 aus Tübingen an die Mutter adressiert, scheint es eindeutig, dass er diesem gegen Kants System gerichteten Einflussbereich nicht unterworfen bleibt, sondern vielmehr nach dem Modell von Immanuel Carl Diez (1766–1796) und Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) den Weg des selbstdenkenden Kantianers einschlägt, wie die Reihe seiner Briefe philosophischen Inhalts bezeugt und seine theoretischen Fragmente bestätigen. Mit Ausnahme eines Briefs aus Tübingen vom Mai 1793, in dem er dem Freund Neuffer erzählt, wieder in Kants Schule zu sein,20 finden sich die Angaben über seine beharrliche Beschäftigung mit Kants Philosophie in den Briefen, die Hölderlin seit dem Jahr 1794 aus Waltershausen schreibt, wo er als Hofmeister bei der Familie von Kalb angestellt wird. Der Schwester berichtet er am 16. Januar, dass er im Besitz von einem Exemplar der Religionsschrift ist21 und dem Bruder schreibt er am 21. Mai nicht nur, dass Kant zu dem Zeitpunkt beinahe seine einzige Lektüre ist, sondern

19 Zum akademischen Milieu des Stifts und dessen Auswirkungen auf Hölderlins philosophische Ausbildung sei verwiesen auf die ausführliche Monographie von Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen-Jena 1790– 1794, Frankfurt am Main 2004. 20 Vgl. Friedrich Hölderlin an Christian Ludwig Neuffer, Brief vom Mai 1793, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 84. 21 Vgl. Friedrich Hölderlin an die Schwester Maria Eleonora Heinrica Hölderlin, Brief vom 16. Januar 1794 in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 105.

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auch, dass dessen herrlicher Geist sich ihm immer mehr enthüllt.22 Kurz danach schreibt Hölderlin an seinen Schwager Breunlin, „was das Wissenschaftliche betrifft“ würde sich seine gesamte Beschäftigung „einzig in die Kantische Philosophie und die Griechen“ teilen.23 Im Rahmen des Hauptthemas im oben erwähnten Brief an die Mutter, der von der Polemik Friedrich Heinrich Jacobis (1743–1819) gegen Spinoza handelt, bezieht sich Hölderlin zweifellos auf Kant,24 indem er die scharfen Gegner der Vernunftbeweise für das Dasein Gottes auf den Plan ruft, um in seiner eigenen Vorstellung über die Anfechtbarkeit jener Beweise bestätigt zu werden. Obwohl er sich mit Flatts hartnäckigem Projekt auseinandersetzt, die rationale Erkenntnis Gottes durch die Widerlegung von Kants Kausalitätsbegriff in Anlehnung an Jacobis Einwände gegen die Transzendentalphilosophie zu rehabilitieren, bildet die theoretische, von Kant festgelegte Unbeweisbarkeit Gottes für Hölderlin einen grundlegenden Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt, sodass ein Rückfall in eine diese Einsicht missachtende Denkweise nicht mehr in Frage kommt. Als reifes Gegenstück dieser Anspielung auf den alle Metaphysik zermalmenden Kant und als Bestätigung einer selbst erlangten Einsicht kann der Brief an den Bruder vom 13. April 1795 betrachtet werden, in dem Hölderlin die Schwerpunkte von Kants Morallehre und Ethiktheologie auf eine Weise darlegt, die mehr auf die Religionsschrift als auf die Kritik der praktischen Vernunft deutet.25 Zunächst verweilt er beim Gedanken und Gefühl der Pflicht, dem moralischen und heiligen, für alle Menschen geltenden Gesetz, dem Gewissen als subjektivem Bestimmungsgrund der Annahme moralischer Maximen, der nie vollendeten Vervollkommnung der Sittlichkeit zum höchsten Zweck und letztlich bei der Freiheit des Willens als dem Unentbehrlichsten. Dass Hölderlin hier sehr wahrscheinlich an Kants Buch über die Religion anknüpft und den letzten Teil der Kritik der Urteilskraft präsent hat, erschließt sich aus der nachdrücklichen Pointierung des Begriffs vom höchsten Zweck und der Frage nach dessen Erreichbarkeit auf Erden. Wenn von einer Fortentwicklung von der Zweiten und der Dritten Kritik bis hin zur Religionsschrift die Rede sein kann, so liegt das daran, dass in letzterer an der Idee des höchsten Gutes mehr die notwendige, sich aus der Willensbestimmung durch das Gesetz ergebende Zweckbeziehung her22 Vgl. Friedrich Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 21. Mai 1794, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 119. 23 Friedrich Hölderlin an den Schwager Theodor Breunlin, Brief am Pfingstfeste 1794, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 120. 24 Vgl. Friedrich Hölderlin an die Mutter Johanna Christiana Gok, Brief vom 14. Februar 1791 in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 63–64. 25 Vgl. Friedrich Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 13. April 1795, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 162–164.

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vorgehoben wird als ihr Objektsein der praktischen Vernunft. Außerdem wird das Nachdenken über die menschliche Freiheit dazwischen insofern noch einschneidender, als einerseits die Frage nach ihrer objektiven „Realität […] an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung“26 in Angriff genommen wird, und andererseits die Unerforschlichkeit des subjektiven Grundes ihres Gebrauchs in den Vordergrund rückt.27 Eben vom Begriff des höchsten Zwecks ausgehend, entfaltet Hölderlin die Rede über den sich auf das moralische Gesetz gründenden Glauben an Gott als den Herrn der Natur und ein heiliges weises Wesen, „das die Macht hat, wo die unsrige nicht hinreicht“,28 an die Unsterblichkeit, „weil wir uns nur in einem unendlichen Fortschritt ihm nähern können“29 und „auch an die weise Lenkung unserer Schicksale, insofern sie nicht von uns abhängig sind“.30 Ein weiterer Grund, weshalb Hölderlins Darlegung den Gedanken nahelegt, dass er sich vorwiegend an jenen zwei Werken Kants orientiert, liegt in der Aufmerksamkeit auf die menschliche zweckhafte Gemeinschaftsdimension und auf Gottes Mitwirkung an einem ethischen Gemeinwesen, deren sich die Menschen nur als einer von der Vorsehung bestimmten Ergänzung würdig machen können. Auch aus anderen Briefen gehen sein Interesse an der tugendhaften, von der Freiheit ermöglichten und geförderten Besserung des Menschengeschlechtes und seine Fokussierung auf das Allgemeine und auf einen alle Menschen vereinigenden Bund deutlich hervor, und sie können sogar als ein beherrschendes, wenn auch nicht immer ganz explizit geäußertes Leitmotiv von Hölderlins philosophischer Ausbildung angesehen werden. Zu diesem Punkt lohnt es sich, neben dem Brief an den Bruder vom September 1793 auch den an Ebel vom 9. November 1795 zu erwähnen, weil Hölderlin darin hinsichtlich seiner entstehenden Konzeption der Religion folgenreiche Themen zur Sprache bringt. Hier führt er nämlich die Idee ein, dass die Geister sich mitteilen müssen, und dann umreißt er die Vereinigung aller Geister in einer „unsichtbaren streitenden Kirche“,31 die die „Zukunft des Herrn“32 oder anders gesagt „den Tag aller Tage“33 erwartet. Die beiden Ausdrücke rufen das Bild vom Reich Gottes in Erinnerung und lassen überdies erahnen, dass Hölderlin sowohl über die Zeit der

26 27 28 29 30 31

Kant, Kritik der Urteilskraft, § 91, AA 5, 474. Vgl. Kant, Religion, AA 6, 21. Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 13. April1795, StA Bd. VI.1, 163–164. Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 13. April 1795, StA Bd. VI.1, 163. Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 13. April 1795, StA Bd. VI.1, 163. Friedrich Hölderlin an Johann Gottfried Ebel, Brief vom 9. November 1795, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 185. 32 Hölderlin an Johann Gottfried Ebel, Brief vom 9. November 1795, StA Bd. VI.1, 185. 33 Hölderlin an Johann Gottfried Ebel, Brief vom 9. November 1795, StA Bd. VI.1, 185.

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menschlichen Annäherung und des kommenden Gottes als auch über die Zeit des Zustandekommens und der Vollendung des Reichs Gottes nachdenkt. Wenngleich die Betonung der Verwirklichung des höchsten Guts in der Erfahrungswelt als höchster Endzweck ausschlaggebend ist und die Brücke zum Thema der Ekklesiologie der Religionsschrift bildet, beschränkt sich die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft für Hölderlin nicht nur darauf, sondern vielmehr zeigt sie ihre entscheidende Tragweite zuerst im Gedanken einer möglichen Ursprünglichkeit der reflektierenden ästhetisch-teleologischen Selbstdeutung des Subjekts vor der Trennung zwischen theoretischer und praktischer Seite. Auf Hölderlins Denken übt die Auseinandersetzung mit der Dritten Kritik auch insofern einen großen Einfluss aus, als seine Aufmerksamkeit vom Problem und von der Lösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft angezogen wird.34 Damit das Prinzip des Mechanismus der Natur und das der Kausalität derselben nach Zwecken vereinigt werden können, greift Kant auf ein einziges oberes, ganz transzendentes Prinzip zurück, unter dem etwas außerhalb beider Liegendes zu denken ist, das deren Grund enthalten kann.35 Da sich dieses Prinzip anzeigen, aber nicht erkennen lässt, ist es nur ein unbestimmter Begriff, der dem schon in der „Einleitung“ der Kritik der Urteilskraft eingeführten Grund der Einheit des Übersinnlichen entspricht. In Bezug auf die Kantische Teleologie schreibt Hölderlin in dem sehr bekannten Brief an Hegel vom 26. Januar 1795, dass die Art, wie Kant „den Mechanismus der Natur […] mit ihrer Zweckmäßigkeit vereinigt, […] eigentlich den ganzen Geist seines Systems zu enthalten [scheint]; es ist freilich dieselbe, womit er alle Antinomien schlichtet“.36 In dieser Aussage liegt eins der Anzeichen für die Abweichung vom Kantischen Primat der praktischen Vernunft, zu der Hölderlin durch eine Radikalisierung der transzendentalen Einsicht wie zu einem Wendepunkt in der Betrachtungsweise der subjektiven Vernunftstruktur kommt, indem er sich im Schatten Kants lieber für die Ursprünglichkeit der reflektierenden Urteilskraftsphäre entscheidet als für den praktisch-moralischen Vorrang. Zur Bestätigung dieser Entwicklungslinie, die Hölderlin von der Kritik der Urteilskraft aus zieht und die seines Erachtens den Geist von Kants System zu erkennen gibt, lässt sich das anführen, was er im März und im Juni 1796 an den Bruder über das Ideal schreibt. In seinen Bemerkungen über das ‚Ideal‘ oder das ‚idealische Sein‘ ist das Kantische obere unbestimmte und unbestimmbare Prinzip leicht erkennbar, nicht nur weil kein begrifflicher Zugang zum Ideal 34 Zu Hölderlins Auseinandersetzung mit der Kantischen Antinomie zwischen Natur und Freiheit vgl. Waibel, Hölderlin und Fichte, 145–162. 35 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 78, AA 5, 412. 36 Friedrich Hölderlin an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Brief vom 26. Januar 1795 in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 156.

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möglich ist, sondern auch weil das Praktische und das Theoretische dem Ideal gleichermaßen untergeordnet werden.37 Sich an Kants Konzeption des oberen Prinzips anlehnend, schreibt Hölderlin dem Ideal die Funktion zu, Grund der Einheit des Übersinnlichen und Möglichkeitsbedingung der Vereinigung zwischen der Natur- und der Freiheitsgesetzgebung zu sein, aber im Unterschied zu Kant geht er so weit, das Ideal als Schönheit zu denken.38 Um sich auf das Ideal zu beziehen, wendet Hölderlin im Brief vom März einen evokativen Ausdruck an, der lautet: „das reine Ideal alles Denkens und Tuns, die undarstellbare, unerreichbare Schönheit“.39 Im Brief vom Juni findet sich eine unmissverständliche Formulierung der Abweichung vom Kantischen Primat der reinen praktischen Vernunft, die definitiv die Grenze markiert, von der ausgehend sich Hölderlin auf die Verwandlung der transzendentalen Grundlagen der Religion zubewegt. Nachdem das Ideal auch als der höchste Grund von allem bezeichnet wird, behauptet Hölderlin, dass „das Sollen, das in den Grundsätzen der Vernunft enthalten ist, […] vom (idealischen) Sein abhängig“40 ist.

3.

Hölderlins Herausforderung einer subjektiven Begründung der Religion

In seiner Bedeutung als Prinzip bildet das Ideal für Hölderlin eigentlich das Ziel einer philosophischen Arbeit, die er im Brief an Niethammer vom 24. Februar 1796 programmatisch darlegt. Es geht um das Projekt von Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen,41 wofür Hölderlin sich vornimmt, ein Prinzip zu finden, das ihm „die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen Subjekt und Objekt, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung – theoretisch, in intellektualer

37 Zur Gleichursprünglichkeit von theoretischer und praktischer Philosophie und zum Begriff des Ideals vgl. Henrich, Der Grund im Bewußtsein, 361–375 und Waibel, Hölderlin und Fichte, 204, 229–230. 38 Vgl. Hölderlin, Hyperion. Die vorletzte Fassung, in: Derselbe, Hyperion, StA Bd. III, „Vorrede“, 236–237. 39 Friedrich Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom Juni 1796, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 206. 40 Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom Juni 1796, StA Bd. VI.1, 208. 41 Zu diesem unvollendeten Projekt sei verwiesen auf Henrich, Der Grund im Bewußtsein, 300– 329 und Johann Kreuzer, „aber wir waren uns einig, daß neue Ideen am deutlichsten in der Briefform dargestellt werden können“. Über Hölderlins Briefe, in: Studia theodisca. Hölderliniana, II (2016), 23–41, insbesondere 36–38.

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Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müsste“.42 Damit die Auffindung eines solchen Prinzips möglich wird, ist ein ästhetischer Sinn erforderlich, der in der menschlichen Anlage liegt und zu enthüllen ist, sodass man „von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen“43 kann. Dass Hölderlin der praktisch-moralischen Vernunft kein Primat mehr einräumt und sie mit der theoretischen gleichstellt, wirkt sich auf die Entscheidungsfragen aus, ob und unter welchen Möglichkeitsbedingungen das Ideal, das in theoretischer Hinsicht die nicht weiter bestimmbare Voraussetzung des absoluten Seins44 ist und durch die intellektuelle Anschauung nur ex negativo darstellbar ist, den Menschen in einer positiven Bedeutung zugänglich sein kann, wofür die Freiheit ins Spiel kommt und wodurch das Ideal Wirklichkeit wird. Auf diese Entscheidungsfragen zu antworten, führt zur Religion, weil es eigentlich einer Darlegung ihrer Grundlagen gleichkommt. Sie ziehen genauer insofern eine neue Bestimmung des Religionswesens nach sich, als es bei der Möglichkeit a priori jenes Zugangs um die Bedingungen eines freien Verhältnisses des Menschen im Handeln zu etwas Übersinnlichem geht, das dem absoluten Vereinigten und dem innigen Vereinigenden entspricht. Wenn es eine solche Möglichkeit a priori gibt, so bezieht sie ab sofort auch den Gedanken der Zweckbeziehung und Zweckverwirklichung mit ein, ohne die das freie Handeln nicht denkbar und noch weniger durchführbar wäre. Hölderlins Projekt, ein vereinigendes Prinzip zu finden, besteht im Grunde genommen darin, das Ideal positiv zugänglich zu machen, indem die a priori-geltenden Bedingungen für ein freies Verhältnis im Handeln zum Ideal näher bestimmt würden. In Anbetracht dessen, dass für ihn das Denken nur ein negatives Verhältnis zum Übersinnlichen haben kann und die Moral hinsichtlich des positiven Zugangs zum Übersinnlichen kein Primat mehr ausübt, legt Hölderlin die Ansicht vor, dass der ästhetische Sinn das Vermögen sei, dank dessen der Mensch einen positiv-tätigen Zugang zum Ideal zustande bringen könnte. Auch wenn es keine ausdrückliche und unwiderlegbare Angabe in Hölderlins Werken gibt, bestehen triftige Gründe dafür, das Fragment Über Religion als mit dem brieflich umrissenen Projekt eng verbunden anzusehen und seinen Inhalt dahingehend auszudeuten.45 Als Hauptgrund lässt sich geltend machen, dass das Fragment von einem freien ästhetisch-künstlerischen Verhältnis zu etwas, das all die Merkmale des Ideals ausweist, und von dem sich daraus ergebenden Ur42 Friedrich Hölderlin an Immanuel Niethammer, Brief vom 24. Februar 1796, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 203. 43 Hölderlin an Immanuel Niethammer, Brief vom 24. Februar 1796, StA Bd. VI.1, 203. 44 Hölderlin, Urtheil und Seyn, in Derselbe: Empedokles, Aufsätze, StA Bd. V.1, 216–217. 45 Zur Interpretation des Fragments Über Religion als Vorarbeit oder Entwurf von Hölderlins geplantem Beitrag zu Niethammers Philosophisches Journal vgl. Henrich, Der Grund im Bewußtsein, 618–622.

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sprung der Religion handelt. Hölderlin stellt eine klare Beziehung her, nach der die Religion von einem schöpferischen Verfahren des Menschen herrührt, das das Ideal zum Gegenstand und zum Zweck hat. Es kommt eben darauf an, wie Hölderlin am Ende des Fragments das Wesen der Religion definiert. Dass er, von einer Einsicht in der Selbstdeutung des Subjekts ausgehend, das Wesen der Religion radikal überdenkt und von dem Ursprung, der Struktur und der Bestimmung der Religion eine Erklärung abgibt, macht den Kern des Anspruchs auf eine neue transzendentale Begründung der Religion aus. Zum Gelingen dieser Begründung ist es erforderlich, der Religion die Tauglichkeit zuzugestehen, allgemeingültig nach Bedingungen a priori zu sein und kraft dessen jeden Menschen in die Erschließung eines intersubjektiven gemeinsamen Wesens einzubinden. Darin kann man die echte Herausforderung erkennen, die Hölderlin gewissermaßen auf Kants Konzeption der Religion überträgt, wenn er jene Tauglichkeit nicht mehr auf eine moralische Grundlage zurückführt und folglich die von dem transzendentalen Standpunkt aus betrachtete Religion sich nicht mehr unbedingt mit dem vernünftigen praktischen Glauben decken lässt. Vom Kantischen Denkvorrang der Moral vor der Religion abzuweichen, schließt offensichtlich ein, dass man auf den einzigen möglichen objektiven Grund verzichtet, und zwar die moralische Pflicht, das höchste Gute zum Gegenstand des Willens zu machen, dessentwegen von einer a priori-allgemeingeltenden Religion die Rede sein kann. Nach Kant findet nämlich die Religion „als Vernunftbegriff a priori“46 nur in der moralisch-praktischen Beziehung statt. Dessen ungeachtet gelingt es Hölderlin, eine Verwandlung der transzendentalen Begründung der Religion zu leisten, indem er in der Tat stillschweigend von Kants Begriff der subjektiven Gründe a priori Gebrauch macht, der die Bedingungen für die subjektive Notwendigkeit und Allgemeinheit zu erfüllen gestatten. Die Einsicht, dass es bei Hölderlins Bestimmung einer ästhetischen Grundlage der Religion gerade darum geht, räumt eine Interpretation völlig aus, die Hölderlins Konzeption der Religion zu bloß anthropologischen Bemerkungen über ein geschichtlich-kulturelles Phänomen zu erklären beabsichtigt. In Hinsicht darauf, die ästhetische Grundlage der Religion herauszufinden, spielt die Anknüpfung an die Kritik der Urteilskraft wieder eine wesentliche Rolle, nicht nur weil sich Hölderlin neben der ursprünglichen Selbstdeutung des Subjekts nach den subjektiven Bedingungen der reflektierenden Urteilskraft auch von dem Schöpfungs- und Darstellungsverfahren des Genies inspirieren lässt, sondern vor allem auch, weil er in der Idee eines Gemeinsinnes einen wertvollen Anhaltspunkt dafür findet, die subjektive Notwendigkeit und die allgemeine Mittel-

46 Kant, Religion, AA 6, 12.

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barkeit zur Geltung zu bringen.47 Indem Hölderlin die Grundlage der Wesensbestimmung und des Allgemeingültigkeitsanspruchs der Religion in die ursprünglich ästhetische menschliche Anlage legt, verwandelt er im Grunde genommen die Begründung a priori der Religion von einer objektiven in eine subjektive.

4.

Das ästhetisch-künstlerische Wesen aller Religion

Mit Rücksicht darauf, wie Hölderlin sich im Fragment Über Religion vor das Problem des Religionsursprungs stellt, scheint es eindeutig, dass es vornehmlich um eine transzendentale Frage nach den Möglichkeitsbedingungen geht. Dieser Deutung entsprechend lässt sich die leitende Frage, woher die Religion kommt, in die genauere transzendentale Formel umsetzen, wie man zur Religion kommt. Neben dieser tonangebenden Fragestellung betrachtet Hölderlin dasselbe Problem dann auch aus einer anderen Perspektive und fragt sich, warum man zur Religion kommt.48 Die Verknüpfung der zwei Blickwinkel deutet darauf hin, dass Hölderlin in dem, was die Entstehung der Religion ermöglicht, auch Anzeichen dafür zu erkennen meint, dass die Religion ein gewisses menschliches Bedürfnis befriedigt. Die Selbstdeutung des Subjekts ist das, worüber er Rechenschaft geben muss, um auf jene Fragen angemessen antworten zu können. Je mehr sie im Fragment ans Licht gebracht wird, desto deutlicher tritt aber zutage, dass der Mensch „weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, […] erfahren“49 kann, „dass mehr als Maschinengang, dass ein Geist, ein Gott, […] in der Welt [ist], aber wohl in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung, in der er stehet mit dem was ihn umgibt“.50 Was Hölderlin hier als Erfahrung von Gott in der Welt bezeichnet, macht ein Geflecht von Verhältnissen aus, das wegen seiner komplizierten Beschaffenheit gewissermaßen mitbestimmt, sowohl was sich in einem Verhältnis befindet, als auch worin das Verhältnis besteht. In Anlehnung daran lassen sich Hölderlins Überlegungen zum Wesen der Religion nachvollziehen und die begriffliche Verket-

47 Zum bedeutsamen Bezug auf Kants Gedanken des Gemeinsinnes siehe Kreuzer, „aber wir waren uns einig, daß neue Ideen am deutlichsten in der Briefform dargestellt werden können“. Kreuzer, Über Hölderlins Briefe, 36. 48 Zur Bedeutung der Warum-Frage im Fragment Über Religion sei verwiesen auf die grundlegenden Studien von Johann Kreuzer, Hölderlins Beiträge zur Philosophie, in: Bad Homburger Hölderlin-Vorträge, 1998–2000 (2002), 33–47, und Derselbe, Die Rede von Gott, in: Dietmar Koch und Damir Barbaric´ (Hg.), Denkwege: philosophische Aufsätze 3, Tübingen 2004, 119–166. 49 Hölderlin, Über Religion, in: Derselbe, Empedokles, Aufsätze, StA Bd. V.1, 278. 50 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 278.

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tung verdeutlichen, die die Fragen nach dem Ursprung, der Struktur und der Bestimmung der Religion untrennbar verbindet. Der erste zu entwirrende Knoten betrifft den Sachverhalt, wonach das Verhältnis des Menschen zu etwas Übersinnlichem unmittelbar von dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst herrührt, oder, expliziter formuliert, wonach der Zugang zum absoluten Vereinigten und Vereinigenden auf das seiner selbst Bewusstwerden des Menschen angewiesen und darin eingewurzelt ist. Im Selbstverhältnis wird er seiner Endlichkeit inne, die eigentlich bedeutet, an sich nicht selbstgenügsam und auf etwas anderes konstitutiv verwiesen zu sein, nämlich auf das Ideal oder ‚das idealische Sein‘ als seinen eigenen Grund. Das Ideal und seine Leistung, der höchste Grund zu sein, bleiben in theoretischer Hinsicht durch Begriffe unbestimmbar und der einzige Zugriff darauf liegt, wie dem Fragment Urtheil und Seyn zu entnehmen ist, darin, dass sich die formale Dynamik des Selbstbewusstseins als eine solche vollziehen lässt, die in Übereinstimmung mit der ex negativo-Darstellung des Ideals erfolgt. Auf der Suche nach einem positiven Zugang zum Ideal stellt Hölderlin im Fragment Über Religion fest, dass sich das ihrer selbst Bewusstwerden der Menschen in ihrem wirklichen Leben51 als Vermögen erfüllt, sich „über die (physische und moralische) Nothdurft“ zu erheben „und so in einer mannigfaltigern und innigeren Beziehung mit ihrer Welt“ zu befinden, die als „höheres Geschik zwischen ihnen und ihrer Welt“ und „menschlich höheres Leben“ definiert wird. Ihrer Natur nach sind die Menschen imstande, über die ihnen konstitutive Bedingtheit vorübergehend hinauszukommen und „in einem mehr als mechanischen Zusammenhang“ zu leben, in dem sie „sich selbst und ihre Welt, und alles, was sie haben und seien, vereiniget fühlen“ und der „ihnen ihr heiligstes sei“.52 Nicht nur weist ein solcher höherer Zusammenhang die Merkmale des Ideals auf, das Vereinigte und Vereinigende zu sein, sondern er lässt auch etwas bisher noch nicht zum Ausdruck Gelangendes auftauchen und zwar die Art und Weise, wie das Ideal alles vereinigt, insofern es selbst vereinigt ist. Es kommt zum Vorschein, dass Hölderlin das Ideal der transzendentalen All-Einheit der Realität wohl entsprechen lässt, es aber vor allem als ‚ein lebendiges Ganze[s]‘ denkt. Dessen Definition findet sich im Brief an Isaak von Sinclair (1775–1815) vom 24. Dezember 1798, welche besagt, dass ein lebendiges Ganzes „durch und durch individualisiert ist und aus lauter selbständigen, aber ebenso innig und ewig verbundenen Teilen besteht“.53 Leicht erkennbar ist hierin der Bezug auf die 51 Dass sich die Religion als eine wesentliche Orientierung im bewussten Leben erweist, bildet ein Kernstück von Henrichs Interpretation des Fragments. Vgl. Henrich, Der Grund im Bewußtsein, 753–770. 52 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 275. 53 Friedrich Hölderlin an Isaak von Sinclair, Brief vom 14. Dezember 1798, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 301.

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durchgängige Bestimmung und die systematische Verknüpfungseinheit sowie der Bezug auf den zweckmäßigen Bund zwischen den Teilen und dem Ganzen. Das legt den Gedanken nahe, dass Hölderlin in seiner Konzeption des Ideals an Kants transzendentalen Begriff von Gott anknüpft und ihn überdies unter Bezugnahme auf den Begriff des organisierten Wesens der Kritik der Urteilskraft ausdeutet.54 Nach Hölderlins Gedankengang kann der Mensch zum absoluten Vereinigten und Vereinigenden als Inhalt eines Fühlens ohnegleichen Zugang haben, kraft dessen das, was gefühlt wird, das lebendige Ganze ist. Dieser positive Zugang kann sich nur dann für den Menschen erschließen, wenn er sich eine bewusste Übersicht über seine bedingte und nicht selbstgenügsame Existenzsphäre verschafft und sich eben zugleich darauf besinnt, „wie innig jedes Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt und wie beide nur ein lebendiges Ganze ausmachen“.55 Gerade das bedeutet, dass die Möglichkeit jenes Zugangs zum Ideal vom menschlichen Vermögen abhängt, sich über die Not zu erheben und sich so einem höheren Zusammenhang mit der ganzen Welt angehörend zu fühlen. Damit all das wirklich erfolgt, ist es jedoch unentbehrlich, dass der Mensch dieses Vermögen in die Tat umsetzt, weil es sonst bloß eine verborgene Anlage wäre. In Hinsicht darauf tritt der zweite Knoten des Geflechts von Verhältnissen in Erscheinung, dessen Durchdringung erkennen lässt, inwiefern es zur Erklärung der menschlichen Erfahrung von Gott in der Welt nicht ausreicht, sich ausschließlich an ihre Möglichkeitsbedingungen zu halten. Da sie sich nur durch ihr eigenes effektives Zustandekommen exponieren lassen, gewinnt die Frage nach dem Grund, weshalb der Mensch einen Gott in der Welt erfährt, in bemerkenswerter Weise an Bedeutung. Einen solchen Zugang zum Ideal denkt Hölderlin gar nicht als eine passive Neigung zur Hingabe an das lebendige Ganze, sondern als ein positiv-tätiges Verhältnis, in dem sich das Ideal als Inhalt eines Fühlens ohnegleichen nur insofern eröffnet, als es der Adressat einer freien Handlung des Menschen ist.56 Was das Fühlen hier einzigartig macht, ist, dass es mit seinem Ausdruck eins ist, weil es nicht nur unmöglich ohne ihn gedacht werden kann, sondern ohne ihn auch keineswegs dasein könnte. Die Untrennbarkeit des Fühlens von dessen 54 Zu diesem Brief an Isaak von Sinclair und zu Hölderlins entscheidender Bezugnahme auf Kants Gedanken der Organisation des Lebendigen sei verwiesen auf Violetta L. Waibel, „die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, daß keine Kraft monarchistisch ist“. Hölderlin und das Homburger Symphilosophieren, in: Thomas Hanke und Thomas M. Schmidt (Hg.), Der Frankfurter Hegel in seinem Kontext. Hegel-Tagung in Bad Homburg vor der Höhe im November 2013, Frankfurt am Main 2015, 51–93, insbesondere 85–93. 55 Hölderlin an Isaak von Sinclair, Brief vom 14. Dezember 1798, StA Bd. VI.1, 301. 56 Auf den engen Zusammenhang zwischen der Sphäre der Religion und der Wirklichkeit der Freiheit weisen ausdrücklich Kreuzer und Waibel hin.

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Ausdruck beschreibt den Kern der freien Handlung, in der sich die Erhebung zum höheren Zusammenhang verwirklicht, wodurch der Mensch erst mit dem absoluten Vereinigten und Vereinigenden in Berührung kommt. Mit den Worten von Über Religion übt der Mensch sein Vermögen, sich zu einem menschlich höheren Leben zu erheben, insofern aus, „als er sich seines Geschiks erinnern, als er für sein Leben dankbar seyn kann und mag“.57 Er tritt somit in ein positives Verhältnis zum Ideal ein, wenn dieses als lebendiges Ganzes zum Adressaten eines Dankbarkeitsgefühls wird, wofür der seiner bedingten Existenzsphäre bewusste Mensch sich frei entscheidet, eben indem er es frei zum Ausdruck bringt. Damit die Äußerungsweise zutrifft, muss sie die eigenartige Beschaffenheit dieses Gefühls widerspiegeln, der entsprechend das, woran der Mensch seine Dankbarkeit richtet, und das, wofür er dankbar ist, dasselbe sind.58 Es geht um den höheren Zusammenhang, der gleichzeitig die Dankbarkeit des Menschen bekommt und sie in ihm entstehen lässt. Was dem Dankbarkeitsgefühl Ausdruck verleiht, ist für Hölderlin ein dazu taugliches Verfahren, den höheren Zusammenhang darzustellen und somit eine Idee oder ein Bild von etwas zu machen, „das sich genau betrachtet weder recht denken ließe noch auch vor den Sinnen liege“.59 Mit der Wendung, an das höhere Geschick zu erinnern, meint Hölderlin gerade dieses ganz besondere Darstellungsverfahren, welches etwas, das kein Objekt ist, zu bilden vermag, insofern es ihm zum ersten Mal eine Gestalt als Kunstwerk gibt. In dieser freien Handlung, die den höheren Zusammenhang gleichzeitig zum Zweck und Gegenstand einer poetisch-künstlerischen, das Dankbarkeitsgefühl ausdrückenden Schöpfung macht, besteht das positiv-tätige Verhältnis des Menschen zum absolut vereinigten und vereinigenden Ideal, wofür es nun erforderlich scheint, dass der Mensch einen ästhetischen Sinn ins Spiel bringt. Unter ästhetischem Sinn versteht Hölderlin jenes der Selbstdeutung des Subjekts innewohnende Vermögen, das dem Menschen gestattet, sich über die Bedingtheit60 seiner Existenzsphäre hinaus der eigenen Zugehörigkeit zum lebendigen Ganzen gefühlsweise bewusst zu werden und unmittelbar dieses Bewusstsein zum Beweggrund einer freien Handlung zu machen, wodurch der Inhalt jenes Fühlens zum Ausdruck gebracht wird. Im ästhetischen Sinn, als Vermögen a priori des Subjekts verstanden, liegt die Möglichkeitsbedingung dessen, dass der Mensch einen Gott in der Welt erfahren kann. Der Grund, weshalb der Mensch seinen ästhetischen Sinn in die Tat umsetzt und zu dieser 57 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 275. 58 Grundlegend ist hierfür die Arbeit von Dieter Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, in: Derselbe, Bewußtes Leben, Stuttgart 1999, 152–193. 59 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 275. 60 Zu den Auswirkungen, die die Erhebung auf die Zeit hat, siehe Kreuzer, Die Rede von Gott, 116–166.

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Erfahrung kommt, ist jedoch die freie Entscheidung für das Dankbarkeitsgefühl, die ab sofort die Selbstbestimmung einschließt, seinen Adressaten in einer konkreten Sprachschöpfung darzustellen.61 Das poetisch-künstlerische Bild des höheren Geschicks, worauf das Darstellungsverfahren hinausläuft, macht seinerseits rückwirkend das einzige vielsagende Zeichen dafür aus, dass der Mensch im tatsächlichen seiner selbst Bewusstwerden den höheren Zusammenhang im Leben der Natur empfunden hat, „wie eine verborgene Anlage, wie einen Geist, der entfaltet sein will, ahnden und glauben“,62 und er ihm mittels seiner sprachlich-künstlerischen Tätigkeit ‚Ja‘ gesagt hat. An diesem Punkt stößt man auf den dritten Knoten des Geflechts von Verhältnissen, dessen Entwirrung zu verstehen gestattet, was für Hölderlin das Bild des höheren Zusammenhangs ist und inwiefern es mit der Erfahrung von Gott in der Welt in Beziehung steht. Um den Grund zu enträtseln, warum die Menschen sich „ein Bild machen müssen“,63 führt Hölderlin diese Art von Bedürfnis auf ihre konstitutive Anlage zum Bilden zurück, die nicht nur das Bindeglied zur Natur sondern auch insofern „ein eigentlicher Dienst sei, den die Menschen der Natur erweisen“.64 Von diesem Gesichtspunkt aus kann die menschliche Tätigkeit nur in der Natur entstehen und auf deren Entfaltung abzielen, weil sie das Lebendige, das heißt die schaffende Kraft oder „den Urstoff, den sie umwandelt, bearbeitet, nicht selbst erschaffen“,65 wohl aber entwickeln kann. Was er damit meint, wird im Fragment Über Religion als Kraft, das wirkliche Leben im Geistigen zu wiederholen, erläutert und im Brief an den Bruder vom 4. Juni 1799 ausführlich als der „ursprüngliche Trieb […] des Idealisierens oder Beförderns, Verarbeitens, Entwickelns, Vervollkommnens der Natur“66 dargelegt, woraus die Philosophie, die schöne Kunst und die Religion hervorgehen.67 Nach Hölderlin besteht die Religion in einer im Geist sich vollziehenden Wiederholung der unendlichen Organisation des Lebens selbst, die nur nach der unendlichen Befriedigung erfolgt, wie sie der Mensch erfährt, wenn er sich über die Not erhebt

61 In den Begriffen von Sprachfindung, Sprachwerdung und Sprachwirklichkeit liegt der Schwerpunkt von Kreuzers Interpretation der Verbindung zwischen Dankbarkeit und Erinnerung. 62 Friedrich Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 4. Juni 1799, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 329. 63 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 275. 64 Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 4. Juni 1799, StA Bd. VI.1, 329. 65 Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 4. Juni 1799, StA Bd. VI.1, 329–330. 66 Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom 4. Juni 1799, StA Bd. VI.1, 328. 67 Zu einer Form von natürlicher Theologie bei Hölderlin sei verwiesen auf Johann Kreuzer, „Die Sphäre die höher ist, als die des Menschen: diese ist der Gott“. Hölderlin und die natürliche Theologie, in: Margit Wasmaier-Sailer und Benedikt Paul Göcke (Hg.), Idealismus und natürliche Theologie, Freiburg 2011, 238–257.

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und „seinen durchgängigen Zusammenhang mit dem Elemente, in dem er sich regt, auch durchgängiger empfindet“.68 Wie irgendeine Befriedigung so macht auch die unendliche einen momentanen Stillstand des wirklichen Lebens aus, aber im Unterschied zu jeder anderen bewirkt sie keine Leere, sondern die Idealisierung von dem, was im Menschen die unendliche Befriedigung hervorruft. Diese Idealisierung kann den höheren Zusammenhang wiederholen, weil sie sich mit dem Zustandekommen der freien ästhetisch-künstlerischen Handlung deckt, worin und dank derer sich das lebendige Ganze, das kein Objekt unter den Objekten der Welt ist, als Zweck und Gegenstand der bildenden, von Bewusstsein begleiteten Tätigkeit des Menschen erschließt. Vom höheren Zusammenhang gibt es eine Idealisierung daher nur als Produkt des ästhetischen Sinns, das nach Hölderlins Perspektive zu Recht für subjektiv notwendig gehalten werden kann, weil das dem Vollzug des apriorischen, der Selbstdeutung des Subjekts innewohnenden Vermögens des Fühlens und Darstellens entspricht. Damit sein Wesenszug widergespiegelt wird, kann man den höheren Zusammenhang „weder bloß in Gedanken, noch bloß im Gedächtnis“ wiederholen, sonst würde die innige Verbundenheit des lebendigen Ganzen zugunsten einer bedeutungslosen Abstraktion verloren gehen, die – je überheblicher, desto wirkungsloser – „jene unendlichen mehr als nothwendigen Beziehungen des Lebens“69 oder, anders formuliert, das Göttliche, den Geist herauszukristallisieren versucht. Der höhere Zusammenhang besteht aus zarten Verhältnissen, die über die moralische und die physische Not erhaben sind, insofern sie sich dadurch auszeichnen, die Eigentümlichkeit der intellektuellen, moralischen und rechtlichen Verhältnisse und die der physischen, mechanischen und historischen Verhältnisse gleichzeitig zu besitzen. In Anlehnung an die Philosophen des Altertums bezeichnet Hölderlin sie als religiös und weist zur Erklärung ihrer Sondernatur darauf hin, dass sie von den einzelnen Teilen her „die Persönlichkeit, die gegenseitige Beschränkung, das negative Nebeneinanderseyn“ der intellektuellen Verhältnisse aufweisen, von der Verbindung der Teile her indessen aber „das Gegebenseyn des einen zu anderen, die Unzertrennlichkeit“70 der physischen Verhältnisse. Gerade in der Sondernatur seiner Verhältnisse liegt der Grund, weshalb sich der höhere Zusammenhang nicht in Gedanken, intellektuell, oder im Gedächtnis, historisch, wiederholen lässt, sondern in einer intellektuell-historischen, das heißt mythischen Vorstellung. Aufgrund dessen, dass der Wesenszug der mythischen Vorstellung den Wesenszug des Lebens ausdrücken kann, den jeder Mensch in seiner Art unendlich leben kann und lebt, ist der 68 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 275. 69 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 276. 70 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 280.

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Mythos von seiner Struktur her die einzige mögliche Idealisierung des höheren Zusammenhangs und deswegen die subjektiv notwendige Form jeder Darstellung des Göttlichen und ferner jeder Religion.71 Wenn der Mensch von Dankbarkeit beseelt das lebendige Ganze poetisch-künstlerisch wiederholt, geschieht es gleichzeitig, dass er dem Göttlichen Ausdruck und Namen verleiht und es als Gott in der Welt erfährt. Es geht um das Paradox, als welches Hölderlin die Wechselbestimmung zwischen dem Sich-Offenbarenden und dem Offenbarungsempfänger denkt, in der Überzeugung, dass eine positive Offenbarung ein Unding sei.72 Im Hinblick darauf erscheint der letzte Knoten des Geflechts von Verhältnissen, der nach seiner Entwirrung erkennen lässt, inwiefern die von jedem einzelnen Menschen gemachte Erfahrung von Gott in der Welt aus Hölderlins Perspektive die von allen Menschen geteilte Erfahrung einer gemeinschaftlichen Gottheit erschließt. Eben aufgrund dessen, dass jede Darstellung des Göttlichen nach ihrer Form subjektiv notwendig ist und daher der Idealisierungsprozess des höheren Zusammenhangs in jedem Menschen berechtigterweise angenommen werden darf, kann Hölderlin behaupten, „daß der Mensch sich auch in die Lage des andern versezen […] kann, daß es also dem einen, natürlicher weise, nicht so schwer fallen kann, die Empfindungsweise und Vorstellung zu billigen, von Göttlichem“, die ein anderer gebildet hat. Dass einer mit der „beschränkte[n], aber reine[n] Vorstellungsweise“, die ein anderer von Göttlichem hat, in Berührung kommen und sich darin einfühlen kann, bringt die Mitteilbarkeit des Vorstellungsinhalts mit sich, deren Möglichkeitsbedingung als in der subjektiv notwendigen Form des Darstellungsverfahrens a priori enthalten gedacht werden kann. Diesem Einfühlungsvermögen liegt nach Hölderlin das „Bedürfniß der Menschen“ zugrunde, „ihre verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem […] sich einander zuzugesellen, und so der Beschränktheit, die jede einzelne Vorstellungsart hat und haben muß, ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten begriffen ist“.73 In diesem Bedürfnis lässt sich der Mensch von einer gedanklichen Vorwegnahme der Gemeinschaft all derjenigen leiten, die sich eine Vorstellung von Göttlichem aus den besonderen Beziehungen ihrer Existenzsphäre bilden, eine Vorwegnahme, die in ihm daraus entsteht, dass er auf das allen gemeinsame Einfühlungs- und Darstellungsvermögen zählen kann. Auf diese Vorwegnahme, 71 Zum Mythos als Höhepunkt des Fragments siehe Helmut Bachmaier, Der Mythos als Gesellschaftsvertrag: zur Semantik von Erinnerung, Sphäre und Mythos in Hölderlins ReligionsFragment, in Helmut Bachmaier und Thomas Rentsch (Hg.), Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins, Stuttgart 1987, 135–161. 72 Hölderlin an Isaak von Sinclair, Brief vom 14. Dezember 1798, StA Bd. VI.1, 300–301. 73 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 278f.

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die offensichtlich Kants Idee eines sensus communis74 in Erinnerung ruft, gründet sich die Möglichkeit a priori, dass die Menschen in der ihrer Form nach betrachteten Vorstellung von Göttlichem einander zustimmen und eine wirkliche Gemeinschaft als ästhetische Kirche zustande bringen. Aus diesem sich vororientierenden Bedürfnis danach, jeder beschränkten Vorstellungsart ihre Freiheit zu geben, oder, ausführlicher gesagt, die eigene Vorstellungsart mit allen anderen in eine gegenseitige Beziehung zu stellen, geht nicht nur die Zustimmung hervor, sondern erstmals tritt auch das auf, worin man als in etwas subjektiv Allgemeingeltendem und Verbindendem übereinstimmt. Erst bei und dank einer solchen ästhetischen Harmonisierung der Vorstellungsarten wird der belebende Bund zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen erkennbar, der die innige Verbundenheit des lebendigen Ganzen, des Göttlichen, so schafft, wie er in jeder seiner Vorstellungen als der allgemeingeltende Inhalt jeder Religion zum Ausdruck kommt. Dieser allgemeingeltende Inhalt ermöglicht und stiftet tatsächlich eine religiöse Gemeinschaft unter den Menschen, aber gleichzeitig erschließt er sich nur daraus, dass sich die einzelnen menschlichen Erfahrungen von Gott zueinander gesellen und eben auf diese Weise eine gemeinschaftliche Gottheit ins Leben rufen. Dort, „wo jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren, wo jeder sein höheres Leben und alle ein gemeinschaftliches höheres Leben, die Feier des Lebens mythisch feiern“,75 gipfelt die im Geist sich vollziehende Wiederholung des absolut vereinigenden und vereinigten Ideals, weil dessen unendliche Einigkeit in einer solchen „Bunderneuerung“76 unter den Menschen ihre eigentliche Offenbarung auf Erden findet. Als bewusste Wiederholung der unendlichen Organisation des Lebens aufgefasst, ist die Religion an sich zweckgerichtet, eine menschliche Gemeinschaft zu verwirklichen, die den belebenden Bund zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen vollzieht und die kraft ihrer eigenen Verfassung die Kantische „Qualifikation zur Allgemeinheit im Sinne der Gültigkeit für jedermann, d. h. allgemeine Einhelligkeit“77 hat. Aus Hölderlins Perspektive ist die Religion letztlich dazu bestimmt, eine ästhetische Kirche entstehen zu lassen, „ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das, an sich, kein Ich ist, und dieses sei unter uns Gott!“78 74 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 40, AA 6, 293–296. 75 Hölderlin, Über Religion, StA Bd. V.1, 281. 76 Friedrich Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom März 1801, in: Hölderlin, Briefe, StA Bd. VI.1, 419. 77 Kant, Religion, AA 6, 157. 78 Hölderlin an den Bruder Karl Gok, Brief vom März 1801, StA Bd. VI.1, 419. Zu einer ausführlichen Interpretation dieses Briefs sei verweisen insbesondere auf Uwe Beyer, „An sich, kein Ich“. Zu Hölderlins philosophischem Gottesverständnis, in: Derselbe, Mythologie der Vernunft: vier philosophische Studien zu Friedrich Hölderlin, Tübingen 1993, 104–146.

Anna Maria Kontriner

Wahrheitssuche und Trauerspiel. Zu Heinrich von Kleists Kant-Rezeption

Ein Leben in Extremen und ein früher Tod durch eigene Hand, bis zum Überschwang emphatische Sprache, feinsinnig durchpsychologisierte Liebesbeziehungen und schonungslose Darstellungen von Krieg und Gewalt – so kennt man Heinrich von Kleist. Doch nicht nur die romantische Liebe und die Abgründe des Krieges prägen das Leben und Schreiben des preußischen Militäradeligen. In seinen jungen Jahren sind es auch ein Streben nach Bildung und Erkenntnis und eine existentielle Krise. Dieser Krise und ihrem mutmaßlichen Einfluss auf Kleists Werke jener Zeit, insbesondere auf das Trauerspiel Die Familie Schroffenstein, widmet sich dieser Beitrag.1 An den Beginn will ich Überlegungen zum Bildungsideal stellen, welches Kleist in seiner Jugend verfolgte. Anschließend will ich auf Kleists Kant-Rezeption zu sprechen kommen, wobei seine Lektüre der Schriften Kants und die Krise im Jahr 1801, als deren Auslöser er selbst seine Kant-Lektüre sah, im Vordergrund stehen werden. Im Zuge dessen wird auch auf die Frage nach der Textgrundlage seines Kant-Verständnisses einzugehen sein. Anschließend möchte ich, vor allem anhand seines ersten Trauerspiels, Die Familie Schroffenstein, Motive, die in Kleists Kant-Krise bedeutsam waren und sich in den Narrativen, die er schafft, wiederfinden, in den Blick nehmen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, inwiefern sich Aspekte von Kleists Literatur überhaupt von den philosophischen Überlegungen und persönlichen Krisen des Autors her verstehen lassen. Kleists Leben und Werk wurden bereits eingehend erforscht. Für einen ersten Überblick verweise ich auf die umfangreiche Biographie von Peter Michalzik sowie auf die kompakten Darstellungen von Wilhelm Amann und Hans-Georg Schede.2 1 Arbeitsgrundlage für diesen Text ist die erstmals 2001 von Helmut Sembdner herausgegebene Werkausgabe: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe. Zweibändige Ausgabe in einem Band, hg. v. Helmut Sembdner, München, 3. Aufl. 2013 (2001). 2 Peter Michalzik, Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Biographie, Berlin 2011, Wilhelm Amann, Heinrich von Kleist, Berlin, 2011, Hans-Georg Schede, Heinrich von Kleist, Reinbek bei Hamburg 2008.

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1.

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Das Bildungsideal des jungen Kleist

Im Frühjahr 1799 verließ Kleist das Militär, dem er sieben Jahre davor als Vierzehnjähriger beigetreten war, um sich an der Universität in seiner Heimatstadt Frankfurt an der Oder zu immatrikulieren. Aus dieser Zeit sind Zeugnisse eines regen Briefverkehrs erhalten. Er korrespondierte vor allem mit seiner Schwester Ulrike von Kleist, welche für ihn die wohl wichtigste familiäre Bezugsperson darstellte, und mit seiner damaligen Verlobten Wilhelmine von Zenge. Diese Briefe geben Einblick in Kleists Denken und Empfinden und zeigen die Entwicklung seines Schreibstils. Auch bezüglich der Kant-Krise im Jahre 1801 sind sie aufschlussreich. Wie einem Schreiben Kleists an seinen früheren Hauslehrer und Freund Christian Ernst Martini zu entnehmen ist, bewogen ihn sein Selbstverständnis als „denkender Mensch“, dem die Unterordnung unter die Autorität eines anderen nicht gemäß sei, und der Wunsch, sich ganz dem Studium widmen zu können, zum Austritt aus dem Militär.3 An seine Schwester Ulrike von Kleist schrieb er: So lange ein Mensch noch nicht im Stande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, so lange ist und bleibt er unmündig, er stehe nun als Kind unter der Vormundschaft seiner Eltern oder als Mann unter der Vormundschaft des Schicksals. Die erste Handlung der Selbständigkeit eines Menschen ist der Entwurf eines solchen Lebensplans. […] Ein schönes Kennzeichen eines solchen Menschen, der nach sichern Prinzipien handelt, ist Konsequenz, Zusammenhang, und Einheit in seinem Betragen. […] Nie werden seine Worte seinen Handlungen, oder umgekehrt, widersprechen, für jede seiner Äußerungen wird er Gründe der Vernunft aufzuweisen haben. Wenn man nur sein Ziel kennt, so wird es nicht schwer sein die Gründe seines Betragens zu erforschen.4

Es sind aufklärerische, durchaus auch an die Inhalte der Schriften Kants gemahnende Worte – wobei eine intensive Rezeption letzterer noch nicht stattgefunden haben dürfte5 –, die Kleist hier findet, um seinen „Lebensplan“ zu beschreiben. Es geht um Selbstständigkeit im Denken, um Konsequenz im Handeln, um Prinzipien und Vernunftgründe. Wenn sich Kleist dem Studium

3 Vgl. Heinrich von Kleist an Christian Ernst Martini, Brief aus Potsdam vom 18. (und 19.) März 1799, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 472–486, 472. Sämtliche Hervorhebungen in Zitaten entsprechen, sofern nicht anders angegeben, jenen in den zitierten Ausgaben. 4 Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, Brief aus Frankfurt a. d. Oder, Mai 1799, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 486–493, 489. 5 Im sogenannten Kant-Brief vom 22. März 1801 schrieb er, dass er erst „[v]or kurzem […] mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt“ geworden sei. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 630–636, 634. Vgl. auch Michalzik, Kleist, 11.

Wahrheitssuche und Trauerspiel. Kleists Kant-Rezeption

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widmet, dann nicht um der Anhäufung von Bildungswissen willen, sondern für seine Bildung zum „freien, denkenden Menschen“.6 Das Konzept eines Lebensplanes, dem Kleist zu dieser Zeit so große Bedeutung zuschrieb, wurde von der Vorstellung eines Zweckes oder Zieles getragen: Das hohe Ziel, dem er [der Mensch, der sich einen Lebensplan gebildet hat; AMK] entgegenstrebt, ist das Mobil aller seiner Gedanken, Empfindungen und Handlungen. Alles, was er denkt, fühlt und will, hat Bezug auf dieses Ziel, alle Kräfte seiner Seele und seines Körpers streben nach diesem gemeinschaftlichen Ziele.7

Ein Ziel zu haben also ermögliche das Streben, durch das sich der Mensch über Fremdbestimmung und Zufall zu Tugend und Glück zu erheben vermöge. Die Fragen nach Sinn und Ziel des Lebens, nach dem Glück, nach der Pflicht und nach der Tugend scheinen für Kleist auf das Engste verwoben gewesen zu sein.8 Doch worin bestand dieses Ziel im Konkreten? Wie gedachte Kleist sein Bildungsideal zu verwirklichen? Hier zeigte er, obwohl er sich bezüglich der grundsätzlichen Notwendigkeit eines Lebensplanes sehr überzeugt gab, bemerkenswerte Unsicherheit – wohl auch aufgrund seiner überspannten Erwartungen. Beispielsweise schrieb er an Wilhelmine von Zenge in Bezug auf die Wahl eines Studienfaches: So stehe ich jetzt, wie Herkules, am fünffachen Scheidewege und sinne, welchen Weg ich wählen soll. Das Gewicht des Zweckes, den ich beabsichte, macht mich schüchtern bei der Wahl. Glücklich, glücklich, Wilhelmine, möchte ich gern werden, und darf man da nicht schüchtern sein, den rechten Weg zu verfehlen?9

An der Universität galt Kleists größtes Interesse, folgt man Peter Michalziks umfassender Biographie, den Physikvorlesungen Christian Ernst Wünschs. Diese erinnern aus heutiger Sicht eher an Astrologie und esoterische Kosmologie denn an Naturwissenschaft. Eine der Kernideen sei gewesen, so Michalzik, „dass ein 6 Kleist an Ulrike von Kleist, Brief aus Frankfurt a. d. Oder, Mai 1799, 488. Auch seiner Schwester Ulrike und seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge legt er solche Bemühungen nahe. Allerdings sieht der einer Frau angemessene Lebensplan für Kleist grundlegend anders aus als jener für einen Mann, wie einigen seiner Briefe zu entnehmen ist, die aus Bevormundung und Belehrungsversuchen bestehen, die aus heutiger Sicht von einem sehr befremdlichen und selbstherrlichen Tonfall zeugen. So schrieb er etwa an Wilhelmine von Zenge: „Dafür will ich denn auch an Ihrer Bildung arbeiten, Wilhelmine, und den Wert des Mädchens, das ich liebe, immer noch mehr veredlen und erhöhen.“ Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Frankfurt a. d. Oder, Anfang 1800, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 501–505, 503. Vgl. mehrere Briefe Kleists an Zenge in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 500–513, 515–525 u. ö. und an Ulrike von Kleist in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 486–499. Vgl. ferner Michalzik, Kleist, 107–110. Leider sind die Antwortschreiben Zenges, wie fast alle ihre Briefe, nicht überliefert. Es wäre wichtig, auch ihre Perspektive einzubeziehen. 7 Kleist an Ulrike von Kleist, Brief aus Frankfurt a. d. Oder, Mai 1799, 489. 8 Vgl. Kleist an Ulrike von Kleist, Brief aus Frankfurt a. d. Oder, Mai 1799, 488f. 9 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Frankfurt a. d. Oder, Anfang 1800, 504.

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gleiches Gesetz über die moralische wie die physische Welt walte.“10 Kleist habe sich, so Michalzik weiter, mit Ideen auseinandergesetzt, welche das Streben nach Einsicht in die Zusammenhänge der Natur mit jenem nach Tugend und Glück nahezu identifizieren.11 Für Kleist schien es offenbar nahezuliegen, aus diesen Konzepten ein Bildungsideal abzuleiten, das auf die Erkenntnis objektiver Wahrheit sowohl über den Kosmos als auch über Tugend und Glück des Menschen abzielt. Vielleicht waren es solche Vorstellungen, die Kleist in seinem Studium antrieben. Auch sein Lebens- und Schreibstil weisen nicht darauf hin, dass er sich mit bescheidenen Zielen begnügt hätte. Dies belegt etwa jener Brief vom 22. März 1801 an Zenge, welcher in der Forschung als Kant-Brief rezipiert wird.12 Kleist teilte seiner Verlobten darin rückblickend auf seine Studienzeit mit: „[I]mmer unaufhörlich einem höhren Grade von Bildung entgegenzuschreiten, ward bald das einzige Prinzip meiner Tätigkeit. Bildung schien mir das einzige Ziel, das des Bestrebens, Wahrheit der einzige Reichtum, der des Besitzes würdig ist.“13 Es mag dieses Streben nach Wahrheit gewesen sein, wovon sich der passionierte Student sein Glück versprach – und dessen Scheitern eine Zäsur in seinem Leben darstellen sollte.

10 Michalzik, Kleist, 95. 11 Vgl. Michalzik, Kleist, 93–96. Man mag sich durch die oben zitierten Worte auch an Gottfried Wilhelm Leibniz erinnert fühlen, von dem Kleist zu jener Zeit auch Schriften gekannt haben muss, da er ihn in einem Brief und in einer seiner Verlobten gewidmeten Schrift vom September 1800 erwähnt. Vgl. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Würzburg vom 13. (–18.) September 1800, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 558–557, 565. Vgl. Kleist, [Über die Aufklärung des Weibes. Für Wilhelmine von Zenge]. Den 16. September 1800 zu Würzburg, in: Derselbe, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 315–318, 315. 12 Deutlich wird dies auch in den Briefen, die er während der Zeit einer Reise an seinen „älter[en], weiser[en] Freund“ schrieb, wie Kleist Ludwig von Brocke nennt. (Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Pasewalk vom 20. August 1800, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 522–525, 525). Er beanspruchte, mit dieser Reise „einen sehr ernsten Zweck“, zu verfolgen. (Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, Brief aus Coblentz bei Pasewalk vom 21. August 1800, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 525–527, 526). Allerdings verschwieg er, worum es sich bei diesem Zweck konkret handle, und schrieb: „Unser Glück liegt dabei zum Grunde, und es kann, welches eine Hauptsache ist, nichts dabei verloren, doch alles dabei gewonnen werden.“ Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Coblentz bei Pasewalk vom 21. August 1800, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 527–531, 527.) Vgl. zu den Ansätzen, den Zweck der Reise und der Verschwiegenheit Kleists zu erklären: Michalzik, Kleist, 121, 125f., und zu älteren – weniger vorsichtigen – Überlegungen zu den Intentionen Kleists: Wilhelm Herzog, Heinrich von Kleist. Sein Leben und sein Werk. München, 1911, 71–73. 13 Vgl. Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 635.

Wahrheitssuche und Trauerspiel. Kleists Kant-Rezeption

2.

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Kleists Kant-Lektüre

In diesem Abschnitt will ich die Hinweise auf eine Kant-Lektüre, die sich bei Kleist finden, thematisieren. Interessant sind hier vor allem die Briefe aus der Zeit um 1801, in denen Kant explizit thematisiert wird. Ich werde auch auf die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage eingehen, welche Schriften Kants Kleist gelesen haben mag.

2.1

Rezeption der Schriften Kants im Jahre 1801

Es ist nicht geklärt, wann genau Kleist begann, sich mit der Philosophie Kants auseinanderzusetzen. Laut Wilhelm Herzog finden sich schon in den Briefen gegen Ende seiner Zeit als Offizier in Potsdam 1799 mögliche und aus seiner Zeit als Student in Frankfurt 1799 bis 1801 eindeutige Hinweise auf eine Lektüre. Kleist habe etwa versucht, Zenge die Unterscheidung zwischen Verstand, Vernunft und Urteilskraft beizubringen. Allerdings waren diese ersten Versuche Kleists, Kant zu lesen, recht oberflächlich, wie Herzog ausführlich darlegt.14 Maßstäbe einer philologisch und hermeneutisch unanfechtbaren Kant-Lektüre an Kleists Interpretation heranzutragen, wird aber derselben nicht gerecht. Seine Rezeption ist nicht als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kant zu verstehen. Wie viele andere Dichterinnen und Dichter verfolgte Kleist bei seiner Beschäftigung mit Philosophie andere Ziele, was auch bei der Untersuchung seiner Herangehensweise zu berücksichtigen ist. Ein expliziter Hinweis auf Kant findet sich erstmals in einem Brief an Ulrike von Kleist vom 14. August 1800, in dem Kleist sie bittet: „Schicke mir doch durch die Post meine Schrift, über die Kantische Philosophie, welche Du besitzest“.15 Um welche Schrift von Kant oder über dessen Philosophie es sich dabei handelt, bleibt allerdings unklar. Dass seine ersten Annäherungen an Kant nicht in die Tiefe gegangen sein dürften, lässt der Brief erahnen, in dem er seine Vorstellung von einer angemessenen Bildung von Frauen an Wilhelmine von Zenge zum Ausdruck brachte: Über den Zweck unseres ganzen ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen, ob der Genuß der Glückseligkeit, wie Epikur meinte, oder die Erreichung der Vollkommenheit, wie Leibniz glaubte, oder die Erfüllung der trocknen Pflicht, wie Kant versichert, der

14 Vgl. Herzog, Heinrich von Kleist, 116f. Bezug nehmend auf: Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Frankfurt a. d. Oder vom 30. Mai 1800, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 505–508, 506. 15 Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, Brief aus Berlin vom 14. August 1800, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 513–515, 514.

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letzte Zweck des Menschen sei, das ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich.16

In der sogenannten Kant-Krise, deren Kulminationspunkt etwa ein halbes Jahr danach, also im Frühjahr 1801, zu datieren ist, wird nicht die von zahlreichen Kritikern Kants vorgebrachte ‚Trockenheit der Pflichterfüllung‘, sondern ein anderer Aspekt der Kantischen Philosophie in den Vordergrund treten. Vorboten der Krise zeigen sich jedoch schon in den eben angeführten Sätzen, in denen Kleist das Nachdenken über den Zweck des „ganzen ewigen Daseins“ als „unfruchtbar und oft verderblich“ bezeichnete. Im bereits erwähnten Kant-Brief, den er am 22. März 1801 aus Berlin an Wilhelmine von Zenge sandte, kommt Kleists Krise am stärksten zum Ausdruck. Mit den folgenden Überlegungen und der hier erwähnten vielzitierten Metapher bringt er auf den Punkt, was ihn bewegt: Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich –17

Es geht hier nicht darum, das, was Kleist aus seiner Kant-Lektüre positiv aufnimmt, an Kants tatsächlicher Philosophie zu messen. Aber eine systematische Auseinandersetzung mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Auffassungsweisen der beiden ist dennoch sinnvoll, um Kleists Denkansatz und die Probleme, die sich daraus für ihn ergeben, besser verstehen zu können. Die ersten Schritte des Gedankengangs, den Kleist an der soeben zitierten Stelle entfaltet, entsprechen durchaus dem, was Kant etwa in der „Transzendentalen Ästhetik“ seiner Kritik der reinen Vernunft schreibt. Kleist bringt mit der Rede von den grünen Gläsern die Überzeugung zum Ausdruck, dass Erkenntnis darüber, wie die Dinge unabhängig von unserer Art, sie aufzufassen, sein mögen, nicht zu erreichen sei. Es geht hier nicht nur um die erkenntnistheoretische Lehre, die schon vor Kant, etwa von John Locke, formuliert worden war, dass „etwa Farben, Geschmack etc. mit Recht nicht als Beschaffenheiten der Dinge, sondern bloß als Veränderungen unseres Subjekts, die so gar bei verschiedenen 16 Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Würzburg vom 9. oder 10. September 1800, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 565. Vgl. die nahezu idente Formulierung in: Kleist, [Über die Aufklärung des Weibes. Für Wilhelmine von Zenge]. Den 16. September 1800 zu Würzburg, 315. 17 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634.

Wahrheitssuche und Trauerspiel. Kleists Kant-Rezeption

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Menschen verschieden sein können, betrachtet werden“,18 und dass folglich die Wahrnehmung solcher Beschaffenheiten keine Objektivität im Sinne einer ontologisch fundierten Wahrheit beanspruchen kann. Was Kleist beunruhigt, ist vielmehr das, was Kant hier als seine neue erkenntnistheoretische Einsicht vertritt, nämlich, dass unsere subjektiven Anschauungsformen selbst die Beschaffenheit von Objekten bedingen, konstituieren sich Objekte als solche doch erst durch unsere Auffassung derselben. Kant aber betont, dass Erkenntnis nicht allein auf Wahrnehmung zurückgeführt werden kann, und darin besteht ein fundamentaler Unterschied zu Kleists Auffassung. In der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant: Nur so viel scheint zur Einleitung, oder Vorerinnerung, nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.19

Sinnliche Wahrnehmung also ist Kant zufolge nicht die einzige Quelle menschlicher Erkenntnis, es bedarf dazu immer auch der Verstandestätigkeit. Zwischen diesen beiden, bei jeder Erkenntnis zusammenwirkenden Vermögen besteht ein grundlegender Unterschied. Kleist hingegen leitet aus dem Gedanken, dass das Wahrgenommene, nicht auf eine wahrnehmungsunabhängige Beschaffenheit der Dinge schließen lässt, ab, dass dasselbe für die Einsichten des Verstandes gelte: „So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“20 Auch in der Sphäre des Verstandes ist Kleist zufolge keine sichere Erkenntnis möglich. Dies widerspricht der Auffassung Kants, demzufolge sich Verstandestätigkeit nicht analog zur Sinnesempfindung verstehen lässt. Die These, wonach Sinnlichkeit nicht auf die Gegebenheit des Wahrgenommenen als Dingen an sich schließen lässt, impliziert nicht die Unmöglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Kleist jedoch leitet aus den Gedanken, die er von Kant aufgreift, einen umfassenden Skeptizismus ab, während Kants Anliegen in der Ersten Kritik nicht nur im Aufzeigen der Grenzen, sondern auch ausdrücklich der Möglichkeit von Erkenntnis besteht und seine Konzeption sehr viel differenzierter ist. Solange er nur auf die Frage nach der Zugänglichkeit von sinnlich Wahrgenommenem beschränkt bleibt, entspricht Kleists Schluss, „[w]ir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es 18 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg, 1998. Im Folgenden zitiert nach der Paginierung der ersten Auflage 1781 (A) und der zweiten Auflage 1787 (B). Hier: Kant, A 29/B 45. 19 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 29, vgl. leicht abweichend: A 16. 20 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634.

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uns nur so scheint“,21 durchaus Kants Überlegungen. Die Unterschiede aber, die Kant zwischen verschiedenen Erkenntnisvermögen macht, reflektiert Kleist nicht. Er stellt die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis angesichts dessen, dass sie sich nicht einfach aus der Sinneswahrnehmung erschließen lässt, gar nicht. Für Kant ist diese Frage bekanntlich von zentraler Bedeutung, ich will darauf an dieser Stelle aber nicht näher eingehen, da Kleists Überlegungen in eine andere Richtung gehen. Die Frage, die er sich nämlich stellt, ist nicht die der Kritik der reinen Vernunft; für Kleist steht im Vordergrund, wie er angesichts dieser fundamentalen Erschütterung handeln soll.22 Auf den Bereich der praktischen Vernunft und damit auf Fragen der Moralität lassen sich erkenntnistheoretische Überlegungen Kant zufolge nicht einfach übertragen. Kant sieht einen fundamentalen Unterschied zwischen theoretischer Erkenntnis, die auf die Bestimmung von Wahrgenommenem abzielt, und praktischer Erkenntnis, die sich auf die Moralität des Handelns bezieht.23 Kleist hingegen weitet die (eigentlich nur erkenntnistheoretischen) Überlegungen, die er von Kant aufnimmt, fraglos auf die Sphäre des Handelns aus. Dass sich die Konzeptionen von Kant und Kleist hierin voneinander unterscheiden, zeigt sich auch an den Konsequenzen, die sie jeweils daraus ziehen. Um ein eindrückliches Beispiel zu nennen: Kant geht von seinen Überlegungen zur Moralität fort zum Postulat von der Unsterblichkeit der Seele; in der Reflexion auf moralisches Handeln zeigt sich die Annahme als Vernunftnotwendigkeit, dass unserem Handeln und damit uns selbst als handelnden Subjekten über den physischen Tod hinaus Bedeutsamkeit zukommt.24 Dies steht Kleists Folgerung diametral entgegen, wenn er behauptet: „so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich“. Es ist der Bereich der praktischen Vernunft, der Bereich der Moralität, in welchem die Wahrheit in einem höheren Sinn ihren Ort hat. Ein Zugang zu dieser Wahrheit ist mit Kant durchaus möglich. Allerdings besteht dieser Zugang nicht im Wahrnehmen von Gegebenem, worauf Kleist Erkenntnis reduziert, sondern eröffnet sich in der Reflexion auf moralisches Tun. Wahrheit, in diesem Sinn, lässt sich vorrangig als Ermöglichungsbedingung gerechten Handelns verstehen. Dass Kleist dies nicht rezipiert, wird anhand seiner Briefe und seiner literarischen Werke deutlich. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich die Frage nach der Textgrundlage seiner Kant-Rezeption ansprechen. 21 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634. 22 Vgl. Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634–636. 23 Vgl. etwa die Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, mit einer Einleitung hg. v. Horst Brandt und Heiner Klemme, Hamburg 2003. Hier: AA 5, III–XVI. 24 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 122–124.

Wahrheitssuche und Trauerspiel. Kleists Kant-Rezeption

2.2

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Textgrundlage der Kant-Rezeption Kleists

Es ist umstritten, auf welchen Schriften Kleists Kant-Interpretation beruht. Naheliegend ist, dass es sich um die Kritik der reinen Vernunft handelt, auf die ich mich auch bei den Überlegungen im vorangegangenen Abschnitt bezogen habe. Für die These, Kleist habe diese Schrift rezipiert, gibt es gute Gründe, auf die ich kurz hinweisen werde. Ferner will ich den Ansatz Ernst Cassirers, Kleists Krise sei nicht durch Kants, sondern durch Fichtes Gedanken angestoßen worden, thematisieren und anschließend auf die Überlegungen Ludwig Muths eingehen, der für die Kritik der Urteilskraft als Grundlage von Kleists Kant-Rezeption argumentiert. Wilhelm Herzog geht in seiner 1911 publizierten Biographie zu Kleist noch fraglos davon aus, dass sich derselbe in seiner Studienzeit mit der Kritik der reinen Vernunft befasst habe. Davor, so Herzog, habe er bereits Kants Religionsphilosophie studiert. Kleist habe sich, wie bei all seinem Tun, mit größter Leidenschaft dem Studium der Ersten Kritik gewidmet. Dass sich ihm gerade sein leidenschaftliches Streben nach Wahrheit durch Kants Erkenntniskritik als vermessen gezeigt habe, habe ihn in tiefste existentielle Not gestürzt. Herzog schreibt: „Er ersehnte das Absolute, und Kant lehrte ihn, daß nichts feststeht.“25 Und weiter: „Die reine Negation konnte er nicht ertragen. Und das Bejahende, das Positive in Kants Kritik vermochte er noch nicht zu erkennen.“26 Wie viele andere Interpretinnen und Interpreten betont auch Herzog, dass Kleists Lesart verkürzend gewesen sei. Mit derselben Eilfertigkeit, mit welcher er sich dem Studium gewidmet habe, habe er den Anspruch gestellt, alles Wesentliche verstanden zu haben, und seine – zu schnellen – Schlüsse daraus gezogen.27 Jüngere Interpretationen sehen es nicht mehr für gesichert an, welche Schriften Kants Kleist im Zuge der Krise von 1801 gelesen hat. Diesbezügliche Annahmen lassen sich schlichtweg nicht hinreichend belegen.28 Auch Tim Mehigan 25 26 27 28

Herzog, Heinrich von Kleist, 122. Herzog, Heinrich von Kleist, 123. Vgl. Herzog, Heinrich von Kleist, 117–123. Das einzige Werk Kants, das in den Schriften Kleists genannt wird, ist die Kritik der Urteilskraft. Diese zitiert er 1810 in einer Rezension, obgleich falsch. Kleist schreibt: „Kant sagt irgendwo, in seiner Kritik der Urteilskraft, daß der menschliche Verstand und die Hand des Menschen, zwei, auf notwendige Weise, zu einander gehörige und auf einander berechnete, Dinge sind. Der Verstand, meint er, bedürfe, falls er in Wirksamkeit treten solle, ein Werkzeug von so mannigfaltiger und vielseitiger Vollkommenheit, als die Hand; und hinwiederum zeige die Struktur der Hand an, daß die Intelligenz, die dieselbe regiere, der menschliche Verstand sein müsse.“ Kleist, Theater. [1] Den 2. Oktober [1810]: Ton des Tages, Lustspiel von Voß, in: Derselbe, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 408. Ludwig Muth bezieht diese Aussage Kleists auf folgende Stelle aus Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, wobei er sich auf Untersuchungen Ernst Cassirers stützt: „Die Charakterisierung des Menschen als eines vernünftigen Thieres liegt schon in der Gestalt und Organisation seiner Hand, seiner Finger und

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hält es für wahrscheinlich, dass es die Kritik der reinen Vernunft war, die aufgrund der Rückbindung jeder Erkenntnis an ihre subjektiven Ermöglichungsbedingungen und der damit einhergehenden Unmöglichkeit, Wahrheit als unmittelbare Gegebenheit aufzufassen, Kleists Krise ausgelöst habe.29 Wenn seine Rezeption auf diesen Aspekt fokussiert war, liegt es nahe, dass er den Schluss zog, es gebe keine Wahrheit. Dies würde auch erklären, weshalb Kleists KantLektüre seinem Bildungsstreben Abbruch tat. Eine provokantere These vertritt Ernst Cassirer. Kleist habe gar nicht Kant rezipiert; wenn von der „neueren sogenannten Kantischen Philosophie“30 die Rede ist, sei Fichtes populärwissenschaftliche Schrift Die Bestimmung des Menschen gemeint. Fichte habe in jenen Jahren große Aufmerksamkeit erfahren, und Thematik und Stil des Buches dürften den jungen Kleist angesprochen haben.31 Auch inhaltlich, so Cassirer, scheint es naheliegend, dass Kleist Sätze wie diese nicht unberührt ließen: Du wolltest wissen von deinem Wissen. […] Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Deine Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist nothwendig ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck.32

Allerdings bleibt auch Fichte nicht bei dieser Erklärung alles Wissens zum bloßen Bild „ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck“ stehen. Im dritten und letzten Teil der Schrift, „Glauben“, entwickelt er durchaus ein Konzept, dem zufolge positive Einsichten möglich sind.33

29 30 31 32

33

Fingerspitzen, deren theils Bau, theils zartem Gefühl, dadurch die Natur ihn nicht für Eine Art der Handhabung der Sachen, sondern unbestimmt für alle, mithin für den Gebrauch der Vernunft geschickt gemacht und dadurch die technische oder Geschicklichkeitsanlage seiner Gattung als eines vernünftigen Thieres bezeichnet hat.“ (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin 1917. Im Folgenden zitiert als Anthropologie. Hier: AA 7, 323.) Vgl. Ludwig Muth, Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation, Köln 1954, 54f. Die rassistischen, nationalistischen und sexistischen Aussagen Kants, die sich insbesondere im zweiten Teil dieses Werkes finden, zeigen die Inkonsequenz von Kants Überlegungen zur prinzipiellen Vernunft- und Moralfähigkeit des Menschen. Dass Kant nicht alle Menschen gleichermaßen als Menschen anerkannte, lässt sich auch durch die historischen und kulturellen Umstände seines Wirkens weder erklären noch rechtfertigen. Vgl. Tim Mehigan, Kleist, Kant und die Aufklärung, in: Derselbe (Hg.), Heinrich von Kleist und die Aufklärung, Rochester/Woodbridge 2000, 3–21, 7–9. Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634. Vgl. Ernst Cassirer, Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Berlin, 1924, 166–168. Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA), hg. v. Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Reihe I, Bd. 6. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 145–311, 252. In abweichender Schreibweise zitiert in: Cassirer, Idee und Gestalt, 175. Vgl. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, 253–311. Cassirer schreibt dazu, Kleist hätte diesen Abschnitt wohl nicht verstanden, was aber angesichts dessen, dass Fichte seinen

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Einen anderen Ansatz in Bezug auf die Frage, welche Schrift Kleists Lektüre zugrunde liege, vertritt Ludwig Muth in einem Beitrag zu den Kant-Studien. Er führt Kleists Krise auf die Lektüre der Kritik der Urteilskraft zurück. Diese Schrift hat Kleist zwar mit Sicherheit gekannt. Ob er sie im Zuge seiner Kant-Krise gelesen hat, wie Muth zu zeigen versucht,34 bleibt meines Erachtens aber fraglich. Muth zufolge sei es der zweite Teil der Schrift, die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ gewesen, welcher Kleists Krise ausgelöst habe. Wie ich bereits ausgeführt habe, beruhte das Weltbild des jungen Kleist auf der Vorstellung eines zu erreichenden Zweckes: Sowohl menschliches Streben als auch die Natur seien an einem einzigen, objektiv erkennbaren Zweck ausgerichtet. Dieses, wie Muth es nennt, „teleologische Wissenschaftsideal“35 ist von grundlegender Bedeutung für Kleist. Schon zu Beginn der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ erteilt Kant einer solchen Vorstellung eine Absage: „Daß aber Dinge der Natur einander als Mittel zu Zwecken dienen, und ihre Möglichkeit selbst nur durch diese Art von Kausalität hinreichend verständlich sei, dazu haben wir gar keinen Grund in der allgemeinen Idee der Natur, als Inbegriff der Gegenstände der Sinne.“36 Kant also schreibt, ein objektiver Zweck sei nicht festzumachen; bei der Zweckmäßigkeit, die sich uns in der Natur zeige, handle es sich nicht um den Verweis auf einen gegebenen Zweck, sondern vielmehr um eine Form, die der Natur, obgleich mit Notwendigkeit, von unserer Urteilskraft beigegeben werde. Die Teleologie, die sich in der Betrachtung der Natur zeige, gründe nicht in einer tatsächlich vorhandenen Ausrichtung derselben an einem objektiven Zweck, sondern sei „ein regulatives Prinzip für die bloße Beurteilung der Erscheinungen“.37 Kleist nun, der das Ideal hatte, die Zusammenhänge der Welt auf einen Zweck als auf ihre Wahrheit hin zu ordnen, so Muth, sei durch die Auseinandersetzung mit diesen Überlegungen die Beschränktheit des menschlichen Erkennens klar geworden. Er habe einsehen müssen, dass ein objektiver Zweck der Natur dem menschlichen Erkenntnisvermögen schlicht nicht zugänglich sei.38 Dass die wahre Größe des menschlichen Verstandes nicht in der Einsicht in Gegebenheiten der Natur, sondern in das moralische Gesetz bestehe, diesen Gedanken Kants rezipiere

34 35 36 37 38

Glaubensbegriff in der Bestimmung des Menschen „noch nicht zu wahrhafter Schärfe und Klarheit“ entwickelt habe, nicht verwundere. (Cassirer, Idee und Gestalt, 175). Vgl. Muth, Kleist und Kant, 54–56, Bezug nehmend auf: Kleist, Theater. [1] Den 2. Oktober [1810]: Ton des Tages, Lustspiel von Voß, 408. Muth, Kleist und Kant, 57f. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit Einleitungen und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2001. Hier: § 61, AA 5, 359. Vgl. Muth, Kleist und Kant, 57. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 61, AA 5, 361. Vgl. Muth, Kleist und Kant, 60.

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Kleist nicht. Und auch die Schlüsse, die er aus dem soeben angesprochenen Verständnis von Zweckmäßigkeit ziehe, seien andere als jene Kants. Die von Kant aufgezeigte Unentscheidbarkeit in der Frage, ob ein teleologischer Zusammenhang in der Natur objektiv bestehe oder nicht, erfasse Kleist, wie Muth darlegt, mit Genauigkeit, wenn er schreibt: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“39 Während Kant daraus aber schließt, dass der Begriff eines Naturzweckes nicht dogmatisch, wohl aber kritisch zu gebrauchen, nicht also als Gegebenheit anzunehmen, wohl aber als Regel unseres Denkens nutzbar zu machen sei,40 gelangt Kleist zu der „Überzeugung, […] daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist“.41 Kant zufolge aber besteht ein adäquater Zugang zum Zweckbegriff unabhängig davon, ob nun ein solcher objektiver Zweck gegeben ist oder nicht. Dies entwickelt er im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft im Zuge seiner „Analytik der teleologischen Urteilskraft“. Darin zeigt er, inwiefern das Prinzip der Zweckmäßigkeit tragfähig ist, nämlich verstanden als Regulativ des Denkens. Die Einsicht, dass das „Prinzip der Vernunft“, Zweckmäßigkeit anzunehmen, in der Natur „nur subjektiv, d. i. als Maxime zuständig“ ist,42 ist die Voraussetzung, unter welcher folgender Schluss durchaus berechtigt ist: „Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts ist in ihr umsonst; und man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Produkten gibt, berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten.“43 Kleist, auf der Suche nach objektiver Wahrheit, hat diese Konzeption des Zweckbegriffs Kants aber wohl nicht rezipiert, oder aber vor dem Hintergrund seiner eigenen Vorstellungen von Zwecken, diese Konzeption Kants als unzulänglich angesehen und deshalb nicht näher in Betracht gezogen. Welche Schriften seine Krise nun tatsächlich ausgelöst haben mögen, lässt sich nicht eindeutig nachweisen. Jedenfalls gelangt Kleist zu anderen Schlüssen als Kant beziehungsweise Fichte.

39 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634. Vgl. Muth, Kleist und Kant, 66. 40 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5, 395–397. 41 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634. 42 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 67, AA 5, 379. 43 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 67, AA 5, 379.

Wahrheitssuche und Trauerspiel. Kleists Kant-Rezeption

3.

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Spuren der Krise in Kleists Schreiben – ‚Die Familie Schroffenstein‘

Unabhängig davon, ob Kleist sich an Kants oder Fichtes Schriften orientierte, als er Wahrheit philosophisch zu bestimmen suchte, ist der Einfluss dieser Studien auf sein Leben und Schreiben bemerkenswert. Ich will hier exemplarisch das Trauerspiel Die Familie Schroffenstein untersuchen. Nur kurz werde ich auf den Entstehungskontext eingehen, bevor ich auf die Frage nach der Bedeutung der Suche nach Wahrheit in diesem Werk und die Frage danach, was den Handlungsverlauf desselben trägt, zu sprechen kommen werde. Im Zuge dessen ist auch darauf einzugehen, inwiefern sich vor diesem Hintergrund von Folgewirkungen der Kant-Krise in Kleists Literatur sprechen lässt.

3.1

Zum Entstehungskontext von ‚Die Familie Schroffenstein‘

In Kleists Leben kommt es in Folge seiner Lektüre zu einer Zäsur. Ob die Krise, in die er stürzt, allein aus der Lektüre Kants erwachsen ist, wie Kleist selbst es darstellt, oder ob Kants Philosophie lediglich als Katalysator für den Beginn einer Krise fungierte, die vielfältige biographische und soziale Ursachen hatte, muss offen bleiben. Wie auch immer, Kleist selbst ist sich nach seiner Lektüre, wie er im Kant-Brief konstatiert, sicher, „daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist“, und er muss sich folglich eingestehen: „Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr –“.44 Im selben Brief beschreibt er die unmittelbaren Auswirkungen der Krise auf sein Leben: „An einem Morgen wollte ich mich zur Arbeit zwingen, aber ein innerlicher Ekel überwältigte meinen Willen.“ Und weiter: „Liebe Wilhelmine, laß mich reisen. Arbeiten kann ich nicht, das ist nicht möglich, ich weiß nicht zu welchem Zwecke.“ Das Streben nach Wahrheitserkenntnis durch Bildung hat er damals aufgegeben – nicht aber, so scheint es, die Suche nach einem Zweck seines Lebens, schreibt er doch auch: „Sobald ich einen Gedanken ersonnen habe, der mich tröstet, sobald ich einen Zweck gefaßt habe, nach dem ich wieder streben kann, so kehre ich um, ich schwöre es Dir.“45 Kleist reiste tatsächlich, und zwar gemeinsam mit Ulrike von Kleist nach Paris und kurz darauf mit dem Maler Friedrich Lose in die Schweiz. Erneut veränderte sich seine Lebensweise grundlegend. In der Absicht, ein schlichtes Leben zu führen, mietete er ein Haus am Land. Die Verlobung mit Wilhelmine von Zenge wurde aufgelöst. Ende des Jahres 1802 erschien sein erstes Trauerspiel, Die Fa44 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634. 45 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634f.

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milie Schroffenstein. Trotz durchaus wohlwollender Rezeption wollte er nicht als Autor dieses Stücks identifiziert werden, bat seine Familie, es nicht zu lesen, bezeichnete es sogar als „elende Scharteke“.46 Zwar mögen in seinen späteren Werken die Dramaturgie ausgereifter und der Sprachgebrauch differenzierter sein, aber sofern Spuren seiner Krise in seinem literarischen Werk zu finden sind, dann wohl am ehesten in seinem ersten Trauerspiel, das in einem so engen zeitlichen Zusammenhang damit steht.

3.2

Scheitern der Suche nach Wahrheit

Explizit zur Sprache kommt Kants Philosophie weder in diesem noch in den anderen Werken Kleists. Auch thematisch scheint die Problematik der KantKrise auf den ersten Blick nicht im Vordergrund zu stehen. Es geht um Krieg und Gewalt, es geht um Liebe und Intrigen, um Rache und Ehre – es geht aber auch, und dies mag eine Spur sein, um Missverständnisse, Täuschungen und Irrtümer. Hans-Jochen Marquardt, der dieser Spur nachgeht, argumentiert, dass die Werke Kleists von seiner Erkenntniskrise geradezu durchzogen seien. Marquardt schreibt über Kleists literarisches Schaffen: Kleist gestaltet das Verfehlen der Wahrheit nicht, weil er der Notwendigkeit, nach Wahrheit zu suchen, entsagt hätte, sondern weil er, im Gegenteil, um so verzweifelter an dieser Suche festhält, als je unmöglicher er sie gestaltet. Was Kleist beschreibt, ist die Dialektik der Aufklärung, ihre Aporie: Aufklärung ist um so unmöglicher, je notwendiger sie ist, oder anders: Je notwendiger Aufklärung ist, um so unmöglicher wird sie.47

Inwiefern aber zeigt sich dies konkret in den Werken Kleists? Marquardt schreibt über Die Familie Schroffenstein: „Der erkenntnistheoretische Kern dieser Geschehnisse besagt: Wahrheit ist zu komplex, als dass sie sich ohne Vertrauen und ohne Kommunikation erfassen ließe. Wo das nicht berücksichtigt wird, kommt es zur Katastrophe.“48 Es sei die Suche nach Wahrheit, in dialektischer Zusammenwirkung mit der Unmöglichkeit, dieselbe zu finden, weswegen dieses Drama ein so brutales Ende nehme. Weiter schreibt Marquardt, in Kleists Werken stehe das Wahrheitsproblem, das auch als Erkenntnisproblem gefasst werden könne, in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit. Dies zeige sich etwa in Dialogszenen, die als Wettstreit konzipiert sind.49 Eine 46 Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, Brief aus Leipzig vom 13. (und 14.) März 1803, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 729–731, 731. Allerdings strich er den Ausdruck wieder durch. 47 Hans-Jochen Marquardt, Heinrich von Kleist – die Geburt der Moderne aus dem Geiste „neuer Aufklärung“, in: Mehigan, Heinrich von Kleist und die Aufklärung, 22–45, 25. 48 Marquardt, Heinrich von Kleist, 24. 49 Vgl. Marquardt, Heinrich von Kleist, 24.

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Alternative zu diesem fatalen Wahrheitsstreben scheint es Marquardt zufolge nicht zu geben: „Der Grad der Unmöglichkeit von Aufklärung wächst mit dem Grad ihrer Notwendigkeit, und umgekehrt. Das ist es, was Kleist erkannt [sic] und wogegen er – mit den Mitteln der Kunst – anzukämpfen versuchte“.50 Die Familie Schroffenstein ist unter dem Vorzeichen einer scheiternden Suche nach Wahrheit entstanden, und auch das Ringen um Gerechtigkeit war für Kleist ein wichtiges Thema. Die Frage, inwiefern sich die mit diesen Problemen verbundenen Erfahrungen Kleists in seiner Literatur niederschlagen, ist aber mit Vorsicht zu behandeln. Einen expliziten Zusammenhang stellt er nicht her, und so lässt sich nicht letztgültig sagen, was ihn beim Schreiben dieses Stückes bewegte. Dennoch aber kann nach der Motivik von Wahrheitssuche und Erkenntniskrise in dem Stück gefragt werden. Lässt sich im Handlungsverlauf wirklich die Dialektik von Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Aufklärung, die Marquardt beschreibt, erkennen? Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht nötig, den Inhalt von Die Familie Schroffenstein en detail wiederzugeben. Nur so viel sei gesagt: Zwei Grafen, beide aus der schwäbischen Adelsfamilie Schroffenstein, haben einander zugesichert, dass ihre Erbschaft in den Besitz des Sohnes des je Anderen übergehen solle, falls einer von ihnen keine Nachkommen haben werde. Nun sind bereits Söhne aus beiden Familien eines unerwarteten Todes gestorben, wofür die Grafen einander beschuldigen; ihre Beziehung ist angespannt. Ohne die Herkunft des Anderen zu kennen, verlieben sich die zwei einzigen noch lebenden ehelichen Kinder aus beiden Häusern, Agnes und Ottokar, ineinander. Die in dieser Konstellation angelegten Missverständnisse und Intrigen in Verbindung mit der Gewaltbereitschaft der Charaktere führen zu einer ganzen Reihe von Bluttaten. Am Ende ermorden die Grafen in dunkler Nacht ihr jeweils eigenes Kind. Über deren Leichen schließen sie endlich Frieden, wobei diese Stelle ganz am Ende des Dramas beinahe ins Komödiantische kippt und ein subtiler Zynismus aufkommt. Die Handlung erinnert an William Shakespeares Romeo und Julia.51 Einer der besonders augenfälligen Unterschiede zwischen den Dramen aber besteht in der Konzeption des dramaturgischen Höhepunktes: Agnes und Ottokar töten sich nicht selbst, sie werden vom je eigenen Vater ermordet. Möglich ist dies aufgrund einer Täuschung Ottokars, der nachts in einer Höhle im Wald vorgibt, Agnes zu sein, um dieselbe vor seinem rachsüchtigen Vater zu schützen. Wenig später trifft Agnes’ Vater ein, hält den toten Ottokar für seine vermeintlich getötete Tochter und tötet dieselbe dann wirklich, als den vermeintlichen Mörder der Tochter.52 50 Marquardt, Heinrich von Kleist, 25. 51 Vgl. für Näheres dazu Schede, Heinrich von Kleist, 62–64. 52 Vgl. Kleist, Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: Derselbe, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 49–152, 143–146.

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Die Handlung verläuft rapide, kaum sind die Grafen am Ort des Geschehens angekommen, zücken sie ihre Schwerter: Rupert [Ottokars Vater] tritt Agnes in den Weg. Wer bist du? Rede! Ottokar tritt vor, mit verstellter Stimme. Sucht ihr Agnes? Hier bin ich. Wenn ihr aus Warwand seid, so führt mich heim. Rupert während die Mädchen nun abgehen. Ich fördre dein Gespenst zu deinem Vater! Er ersticht Ottokar; der fällt ohne Laut.53

Und nur wenig später: Theistiner [Vasall von Agnes’ Vater]. Wenn ich nicht irre, seh ich Ottokar – Dort liegt auch Agnes! Sylvester [Agnes’ Vater]. Am Boden! Gott der Welt! Ein Schwert im Busen meiner Agnes! Agnes richtet sich auf. Wer ruft? Sylvester. Die Hölle ruft dich, Mörder! Er ersticht sie. Agnes. Ach! Sie stirbt.54

Zur Katastrophe kommt es in finsterer Nacht, und alles geschieht so schnell, dass für Klärungsversuche keine Zeit bleibt. Herbeigeführt wurde diese Situation durch Verdächtigungen, Missverständnisse und unbegründete Ansprüche, die Wahrheit zu kennen und rechtmäßig zu handeln. Ein Verehrer wird für einen Verfolger gehalten und sofort getötet,55 ein Unfall wird fraglos als Mord betrachtet56 und dergleichen mehr. Auch die Eskalation des Ganzen, wie die beiden oben wiedergegebenen Stellen zeigen, resultiert aus Verwechslungen und bewussten Täuschungen. Helmut Grugger schreibt in seinem Beitrag zur Bedeutung der Gewalt in Kleists Literatur, mit dem Gewaltausbruch in der Schlussszene sprenge dieser jegliche erklärende Systematik, die dem Handlungsverlauf davor vielleicht zu Grunde gelegt werden könnte. Zwar kritisiert er die Szene als „grotesk und überspitzt“, aber ihr Wert bestehe darin, dass sie „die vorangehende partielle Passung der Wirklichkeit in ein ideales System“ auflöse.57 Dies zeige, dass Kleist mit der Tradition der Aufklärung breche.58 53 54 55 56 57

Kleist, Die Familie Schroffenstein, 143f. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 146. Vgl. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 87f. Vgl. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 58, 150f. Helmut Grugger, Polyphone Dramatik als Schauspiel wider die Einförmigkeit der Gewalt? in: Gianluca Crepaldi, Andreas Kriwak und Thomas Pröll (Hg.), Kleist zur Gewalt. Transdisziplinäre Perspektiven, Innsbruck 2011, 171–199, 176.

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Wie lässt sich dies verstehen? Die Bereitschaft der Handelnden, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen, ist erschreckend hoch – ein Bote und ein Gast werden gelyncht59 und einem Unschuldigen wird durch Folter das Geständnis für einen Mord abgezwungen,60 um hier auf Beispiele nur hinzuweisen. Dazu kommen die stark erhöhte Unsicherheit und Anspannung der Protagonistinnen und Protagonisten. Wie Marquardt schreibt, ist das Geschehen auch durch einen Mangel an Kommunikation und Vertrauen bedingt61 – selbst die verliebte Agnes fragt Ottokar: „Soll ich dir traun, wenn du nicht mir?“ und geht fort.62 All diese Komponenten – die schnelle Aufeinanderfolge von Ereignissen, die kaum Zeit zur Reflexion lässt, die hohe Gewaltbereitschaft, der Mangel an Kommunikation und Vertrauen, die Grundstimmung der Unsicherheit – tragen dazu bei, dass die Figuren handeln, ohne die Konsequenzen ihres Handelns abschätzen zu können. Die Familie Schroffenstein ist nicht das einzige Drama Kleists, in dem solche Konstellationen die Handlung tragen; auch die Verwicklungen in Der zerbrochene Krug nehmen bei nächtlichen Ereignissen, widersprüchlichen Interpretationen derselben und falschen Verdächtigungen ihren Ausgang.63 Die Handlung im Amphitryon dreht sich um die Missverständnisse, die daraus hervorgehen, dass Jupiter und Merkur in der Gestalt der Gatten der Alkmene und ihrer Magd Charis vor dieselben treten.64 Und in der Penthesilea ist es eine Lüge Achills, die zu kurzzeitigem Glück führt und deren Aufklärung Penthesilea zu vernichtender Raserei bewegt.65 Es sind Verwechslungen und Irrtümer, wovon Kleists Dramenhandlungen ihren Ausgang nehmen. Von der Antike bis heute arbeiten Dramatikerinnen und Dramatiker mit solchen Motiven, Missverständnisse und unausgesprochene Konflikte stehen sehr häufig am Beginn von Dramenhandlungen. Wie aber lässt es sich verstehen, dass daraus, wie in Die Familie Schroffenstein, exzessive Gewalt resultiert?

58 59 60 61 62 63

Vgl. Grugger, Polyphone Dramatik als Schauspiel wider die Einförmigkeit der Gewalt?, 176. Vgl. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 83, 115f. Vgl. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 58. Vgl. Marquardt, Heinrich von Kleist, 24. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 78. Vgl. Kleist, Der zerbrochene Krug. Ein Lustspiel, in: Derselbe, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 175–244, besonders 192–199, wo der Streit darüber, wer den Krug in der Kammer der jungen Eve zerbrochen habe, vor Gericht gebracht wird. 64 Vgl. Kleist, Amphitryon. Ein Lustspiel nach Molière, in: Derselbe, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 245–320, besonders 260–265, wo die Götter in Menschengestalt den Frauen begegnen, und 314–320, wo es schließlich zur Aufklärung kommt. 65 Vgl. Kleist, Penthesilea, in: Derselbe, Sämtliche Werke und Briefe, 321–428, besonders 374– 378, wo Achill Penthesilea vortäuscht, ihr Gefangener zu sein und 398–402, wo die Täuschung, mit gewaltsamen Folgen, auffliegt.

224 3.3

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Trauer, Hoffnungslosigkeit und Gewalt

Ich will kurz auf die Frage nach dem Spezifikum der Gattung Trauerspiel eingehen und mich dabei auf Walter Benjamin und Isaiah Berlin beziehen, um dann auf die soeben aufgeworfene Frage zurückkommen zu können. Benjamin unterscheidet in seiner Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels das Trauerspiel von der antiken Tragödie. Während die Tragödie dem Außerordentlichen gewidmet sei, beschäftige sich das Trauerspiel mit dem Typischen, mit dem Gewöhnlichen. Dementsprechend sei im Trauerspiel „nicht sittliche Vergehung, sondern der Stand des kreatürlichen Menschen selber der Grund des Unterganges. Diesen typischen Untergang, der so verschieden von dem außerordentlichen des tragischen Helden ist, haben die Dichter im Auge gehabt, wenn sie […] ein Werk als ‚Trauerspiel‘ bezeichnet haben.“66 Die Protagonistinnen und Protagonisten in Die Familie Schroffenstein gehen nicht mit außerordentlicher Tragik und einem heldenhaften Schicksal zugrunde. Sie sterben dahin, und zwar einfach deshalb, weil sie verletzliche Menschen in einer Welt entgrenzter Gewalt sind, oder, mit Walter Benjamin, wegen des „Stand[es] des kreatürlichen Menschen“, der den Widrigkeiten des Lebens ausgeliefert ist und ihnen nicht anders zu begegnen weiß als mit ebensolcher Härte. Die gesamte Lebensrealität der Schroffensteins ist von Grausamkeit und traumatischen Ereignissen geprägt. Auch Beziehungen wie die Liebe zwischen Agnes und Ottokar sind von Misstrauen und Angst durchdrungen. Aber: Es wird dem keine tiefergehende Bedeutung zugeschrieben, welche das Geschehen ins Tragische steigern würde. Die Geschehnisse sind nicht außergewöhnlich, im Gegenteil, ihre Traurigkeit wird dadurch noch vertieft, dass sie als kaum bemerkenswert und nahezu alltäglich eingestuft werden. Sehr deutlich zeigt sich dies meines Erachtens etwa daran, dass ein dramaturgischer Höhepunkt des Stückes in dem schlichten „Ach!“ besteht, mit dem Agnes von Schroffenstein stirbt. Das ist nicht der unvermeidliche Tod einer tragischen Heldin, das ist ein weiterer Totschlag unter vielen. Berlin legt dar, dass dem romantischen Trauerspiel, anders als der antiken Tragödie,67 nicht ein unabwendbares Schicksal zugrunde liege, sondern dass der katastrophale Handlungsverlauf keinen festmachbaren Grund habe: Tragische 66 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Derselbe, Ausgewählte Werke, nach der von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser herausgegebenen Gesamtausgabe hg. v. d. Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, mit einem Vorwort zur Sonderausgabe von Burkhardt Lindner, Darmstadt 2018, Bd. 1, 217–444, 282. 67 Obgleich er den Unterschied zwischen klassischer Tragödie und romantischem Trauerspiel hervorhebt, bezeichnet Berlin beides als „tragedy“: Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism. The A.W. Mellon Lectures in the Fine Arts, hg. v. Henry Hardy, Princeton 1999, 12. Heinrich von Kleist selbst bezeichnet seine Dramen als ‚Trauer-‘ beziehungsweise ‚Lustspiele‘.

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Wendungen seien üblicherweise Folgen eines Irrtums oder moralischen Fehlers. In der klassischen Tragödie handle es sich dabei um einen von den Göttern verursachten und daher unvermeidlichen Irrtum, der die Ordnung der Dinge störe und so zur Katastrophe führen müsse – Berlin nennt hier exemplarisch Sophokles’ Ödipus, aber auch Shakespeares Othello. Die Voraussetzung, dass es eine solche Ordnung gebe, bleibe jedoch bestehen; hätte Ödipus gewusst, dass Laios sein Vater ist, er hätte ihn nicht getötet. Im romantischen Trauerspiel gebe es keine derartige Ordnung, keinen Maßstab mehr, also könne es auch keine Antwort auf die Frage nach dem Schuldigen und nach dem, was gerecht gewesen wäre, geben. Die Ereignisse hätten keinen Grund und keine schicksalshafte Bedeutung, weil jegliches Sinngefüge, das eine Antwort auf die Frage nach Grund oder Bedeutung erlauben würde, zerbrochen sei. Berlin nennt als Beispiel hierfür Schillers Räuber.68 Michalzik, der Berlins Überlegungen rezipiert, argumentiert, in Kleists Familie Schroffenstein zeige sich diese Grundlosigkeit des Niederganges noch deutlicher.69 Als Sylvester von Schroffenstein nach dem Mord an Agnes zu Boden sinkt und sein Vasall ihn auffordert: „Mein bester Herr, verweile nicht in diesem / Verderblich dumpfen Schmerz! Erhebe dich!“,70 antwortet Sylvester zunächst: „Laß einen Augenblick mich ruhn. Es regt / Sich sehr gewaltig die Natur im Menschen, / Und will, daß man, gleich einem einzgen Gotte, / Ihr einzig diene, wo sie uns erscheint.“71 Doch nur wenig später räumt er ein: „Ja, du hast recht! es bleibt die ganze Zukunft / Der Trauer, dieser Augenblick gehört / Der Rache!“72 Die Protagonistinnen und Protagonisten des Werkes sind sich der Verletzlichkeit des Menschen bewusst, empfinden sie als „[v]erderblich dumpfen Schmerz“, sind zur Trauer fähig – dennoch aber setzen sie die Gewalt fort. Denn sie haben zwar Einsicht in die Problematik der tatsächlich bestehenden Verhältnisse, aber sie kennen keine Gesellschaftsordnung, die die Gewalttätigkeit einschränken würde. Meines Erachtens liegt dies daran, dass die Handelnden der Literatur Kleists nicht glauben, ein Fundament für eine solche Gesellschaftsordnung als gegeben annehmen zu können. So lässt der Dichter etwa Rupert von Schroffenstein zu Beginn des Stücks konstatieren: Doch nichts mehr von Natur. Ein hold ergötzend Märchen ists der Kindheit, Der Menschheit von den Dichtern, ihren Ammen, Erzählt. Vertrauen, Unschuld, Treue, Liebe, Religion, der Götter Furcht sind wie 68 69 70 71 72

Vgl. Berlin, The Roots of Romanticism, 12f. Vgl. Michalzik, Kleist, 333f. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 146. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 146. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 147.

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Die Tiere, welche reden. – Selbst das Band, Das heilige, der Blutsverwandtschaft riß, Und Vettern, Kinder eines Vaters, zielen, Mit Dolchen zielen sie auf ihre Brüste.73

„[N]ichts mehr von Natur“, „Vertrauen, Unschuld, Treue, Liebe, Religion, der Götter Furcht sind wie [d]ie Tiere, welche reden“, „selbst das Band, [d]as heilige, der Blutsverwandtschaft riß“ – es gibt in der Welt der Schroffensteins nichts, worauf man sich verlassen könnte, keine mögliche Grundlage für eine Sicherheit gebende Gesellschaftsordnung. Und deshalb, denke ich, ist auch das, was Sylvester von Schroffenstein „Trauer“ nennt, nicht nur als eine Trauer zu verstehen, die auf den Verlust eines bestimmten Gegenstandes bezogen ist, sondern sie prägt den Weltzugang insgesamt – schließlich spricht Sylvester davon, dass ihr „die ganze Zukunft“ gehöre. Es geht hier nicht nur um die Trauer um Agnes, es geht noch viel tiefgreifender um die bittere Trauer und Hoffnungslosigkeit angesichts der Verlorenheit des Menschen in einer bodenlosen Welt. Was also treibt die Personen in dieser jeder Sicherheit baren Welt an? Ich will meine Überlegungen hierzu mit einigen Beobachtungen zu ihren Handlungen und Entscheidungen beginnen. Ottokar von Schroffenstein gibt vor, Agnes zu sein. Er tut dies, um sie vor seinem mordlustigen Vater zu schützen. In Der zerbrochene Krug lügt Eve bezüglich der nächtlichen Ereignisse in ihrem Zimmer. Grund der Lüge ist der Versuch zu verhindern, dass ihr Verlobter in den Krieg geschickt wird.74 Michael Kohlhaas zieht in der gleichnamigen Erzählung mordend und brandschatzend durch das Land, um Wiedergutmachung zu erzwingen. Dabei aber geht es ihm nicht vorrangig um den Betrug, der ihm selbst widerfahren ist, sondern darum, die Gesellschaftsordnung aufrecht zu erhalten.75 Die Handlungen von Kleists Werken werden von Versuchen getragen, in einer Welt, in der Krieg und Gewalt herrschen, etwas zu schützen – die Geliebte, den Geliebten, die Würde, das Recht. Dabei zeigen sich Widersprüche zwischen den Zielen der Handelnden und den Mitteln, mit denen sie dieselben zu erreichen versuchen. Und letztlich – das Lustspiel Der zerbrochene Krug unter den soeben genannten Beispielen ausgenommen – führen gerade auch diese Bemühungen zur Eskalation der Gewalt. Als Leserin stellt man sich die Frage, weswegen Rupert und Sylvester von Schroffenstein sofort zu ihren Schwertern greifen und morden, ohne in der 73 Kleist, Die Familie Schroffenstein, 52f. 74 Vgl. Kleist, Der zerbrochene Krug, 242. 75 Vgl. Kleist, Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik, in: Derselbe, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 9–103, 20f. Eine interessante Interpretation des Motivs der Gewalt in dieser Erzählung stammt von Thomas Pröll, Deutungsversuch eines Gewaltausbruchs. Die kleistsche Figur Michael Kohlhaas als Symbol für die Ambivalenz des Gerechtigkeitsbegriffes, in: Crepaldi/Kriwak/Pröll (Hg.), Kleist zur Gewalt, 19–43.

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Finsternis zweifelsfrei wissen zu können, wen sie treffen werden – und ohne sich selbst gegenüber Rechenschaft für ihr Tun ablegen zu können, wie folgender Dialog zwischen Rupert und seinem Vasallen nach dem vermeintlichen Mord an Agnes eindrucksvoll zeigt: Rupert fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Warum denn tat ichs, Santing? Kann ich es Doch gar nicht finden im Gedächtnis. – Santing. Ei, Es ist ja Agnes. Rupert. Agnes, ja ganz recht, Die tat mir Böses, mir viel Böses, o Ich weiß es wohl. – – Was war es schon? Santing. Ich weiß Nicht, wie dus meinst. Das Mädchen selber hat Nichts Böses dir getan. Rupert. Nichts Böses? Santing! Warum denn hätt ich sie gemordet? 76

Ebenso fragt man sich, weshalb der bis dahin nicht nur unbescholtene, sondern als „einer der rechtschaffendsten“77 geltende Bürger Michael Kohlhaas nicht etwa im Affekt, sondern mit Absicht und Planung Menschen tötet und Städte zerstört, um einen ordentlichen Gerichtsprozess in einer vergleichsweise marginalen Angelegenheit zu erzwingen.78 Was zunächst der Versuch war, Gerechtigkeit – verstanden als Vergeltungsgerechtigkeit, was an sich schon problematisch ist – herzustellen, kippt in blinde Rachlust. Sowohl die Schroffensteins als auch Kohlhaas vertrauen nicht darauf, dass ihnen Gerechtigkeit widerfahren werde, wenn sie nicht selbst tätig werden; und eine ihren jeweiligen Überzeugungen übergeordnete Moral, der etwa das Töten von Menschen prinzipiell nicht entsprechen kann, scheinen sie nicht zu kennen. In seinem Kant-Brief schreibt Kleist, „daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist“.79 Vielleicht ist es eine ähnliche Annahme, die seine Protagonisten und Protagonistinnen bewegt: Sie lügen, weil sie an Wahrheit nicht glauben, sie versuchen, durch archaische Racheakte herzustellen, was sie für Gerechtigkeit hal-

76 Kleist, Die Familie Schroffenstein, 144. 77 Kleist, Michael Kohlhaas, 9. 78 Um kurz zu zeigen, wie weit er dabei geht: Auf den Vorschlag des persönlich intervenierenden Martin Luther, man möge einander vergeben, antwortet er: „[D]er Herr auch vergab allen seinen Feinden nicht. Laßt mich den Kurfürsten, meinen beiden Herren, dem Schloßvogt und Verwalter, den Herren Hinz und Kunz, und wer mich sonst in dieser Sache gekränkt haben mag, vergeben: den Junker aber, wenn es sein kann, nötigen, daß er mir die Rappen wieder dick füttere.“ Kleist, Michael Kohlhaas, 48. 79 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634.

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ten, weil sie eine gerechte Ordnung nicht kennen, sie morden im Dunklen, weil es Erhellung nicht gibt. Es sei aber auch daran erinnert, dass Kleist mit Anfang zwanzig schon sieben Jahre lang in der Armee gedient hatte, dass er in der Zeit der deutsch-französischen Koalitionskriege lebte und wirklichen Frieden nie kennenlernte. Der Zustand des Krieges musste ihm beinahe als selbstverständlich erscheinen. Die von Gewalt und politischer Unsicherheit geprägte Zeit, in der Kleist lebte, ist sicher auch für ihn prägend gewesen. Die Grundstimmung seiner Werke lässt sich wohl nicht nur von seiner persönlichen Biographie, sondern wohl auch vom soziohistorischen Kontext her verstehen. Obgleich Literatur natürlich nie auf die Erfahrungswelt der Autorin beziehungsweise des Autors reduzibel ist: Es scheint nicht unplausibel, dass sich in Die Familie Schroffenstein auch Kleists eigene Erfahrungen mit Krieg und Gewalt niedergeschlagen haben. Um also auf die Frage zurückzukommen, was dieser Brutalität zu Grunde liegen mag: Ich denke, der Grund für die Entgrenzung der Gewalt ist nicht eine tragische Schicksalhaftigkeit wie beispielsweise in Sophokles’ Ödipus. Und es mag zwar vielleicht aus einer Metaperspektive eine Dialektik von Wahrheitssuche und Unmöglichkeit derselben erkennbar sein, aber für die Handlungen, die gesetzt werden, ist meines Erachtens etwas Anderes von tragender Bedeutung. Die Protagonistinnen und Protagonisten sind nicht Wahrheitssuchende, sie glauben, handeln zu müssen – ohne, dass sie die Folgen absehen könnten, und wissend, dass sie die Folgen nicht absehen können. Dieser vermeintliche Zwang zu handeln beruht meines Erachtens gerade auf der – wenn auch nicht immer expliziten – Überzeugung, dass es eine bleibende Sicherheit, eine objektiv gültige Wahrheit nicht geben kann. Weil sie nicht glauben, dass die Gegebenheiten verstehbar und sinnvoll sind, versuchen sie, ihre Situation zu ändern, versuchen, ihre Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht zu überwinden. Sie überkompensieren ihre Hoffnungslosigkeit und gefühlte Ohnmacht durch Gewalt. Doch die Möglichkeit einer vernünftigen Ordnung beruht auf bestimmten Voraussetzungen, etwa darauf, dass niemand gewaltsam von der Teilnahme am öffentlichen Diskurs ausgeschlossen wird. Die Protagonistinnen und Protagonisten vertrauen nicht darauf, dass sich alle vernünftig und gewaltfrei verhalten, und damit sind die Bedingungen dafür, Konflikte friedlich zu lösen und Missverständnisse gemeinsam zu klären, nicht gegeben. Durch ihr Misstrauen, durch ihre Hoffnungslosigkeit und durch ihre Annahme, dass es keine vernünftige Ordnung gibt und geben kann, unterminieren die Protagonistinnen und Protagonisten auch die Möglichkeit einer solchen. Deshalb setzen sie der Wahl ihrer Mittel keiner Grenzen und folglich eskaliert die Gewalt. Dies zeigt sich etwa in den Bemühungen von Ottokar und Eve aus Der zerbrochene Krug, ihre Geliebten durch Täuschungen zu schützen und in den Versuchen der Schroffensteins und des Michael Kohlhaas, durch Morde Ge-

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rechtigkeit zu erlangen. Zwar ist die Anwendung physischer Gewalt auch für Kleists Figuren nicht immer das erste Mittel der Wahl – Sylvester Schroffenstein zum Beispiel reagiert auf die Kriegserklärung Ruperts zunächst nicht mit Gegengewalt, sondern ist um Klärung bemüht; mit den Worten: „Ich muß mir Licht verschaffen“80 will er nach Rossitz aufbrechen. Doch das Recht, dem er sich verpflichtet fühlt, nennt er „Recht der Rache“,81 und aufgrund äußerer Umstände kommt es nicht einmal zur Abreise. Es gibt Klärungsversuche, aber jähe Gewaltausbrüche tun ihnen Abbruch, bevor sie Erhellung bringen. Das Bemühen um Aufklärung ist nur eine von vielen Problemlösungsansätzen. Die Personen handeln auf unterschiedliche Weise, und meistens handeln sie, bevor sie Grundlagen und Konsequenzen ihres Tuns reflektieren, mit dem impliziten Anspruch, im Recht zu sein. Der Horizont, vor dem ihnen ihr Tun als gut erscheinen kann, ist nicht der einer im Einzelnen aus den Fugen geratenen, aber grundsätzlich als gegeben vorauszusetzenden Gesellschaftsordnung, sondern eine von Chaos und Krieg geprägte Welt, in der Täuschung und Gewalt die Norm und nicht die Ausnahme sind. Folglich will ich Marquardts These, nach der sich Kleists Wahrheitssuche, obgleich zum Scheitern verurteilt, in seinem literarischen Schaffen fortsetzt,82 relativieren. Eine solche Dialektik mag sich in gewissen Aspekten des Dramas zeigen, die Dramenhandlung tragend aber scheint sie mir nicht zu sein. Die Protagonistinnen und Protagonisten versuchen nicht primär, zu verstehen, sie versuchen, zu verändern, der brutalen Sinnlosigkeit ihrer Welt etwas entgegenzusetzen – mit ebenso brutalen Mitteln, und so setzt sich die Gewalt fort, bricht nicht als tragische Katastrophe in eine vormals geordnete Welt ein, sondern stellt einen steten, traurigen Niedergang dar. Was sich darin zeigt, erinnert meines Erachtens weniger an ein Streben nach einer unerreichbaren Wahrheit als vielmehr an einen verzweifelten Drang zur Tätigkeit, der einer tiefgreifenden Unsicherheit entspringt. Die Frage nach der Wahrheit zu stellen ist einer der Versuche, damit umzugehen, die meisten – und vor allem auch die folgenreichsten – Versuche der Schroffensteins jedoch sind anderer Natur. Inwiefern Kleist beim Verfassen seines ersten Trauerspiels die Erfahrungen seiner Kant-Krise einfließen ließ, können wir nicht wissen. Doch der Weltzugang, in dem das Verhalten der Figuren zu gründen scheint, erinnert sehr an die Überzeugung, die Kleist auch im Kant-Brief zum Ausdruck bringt, nämlich, „daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist“83 – mit aller, vielleicht nicht so sehr tragischer als schlicht trauriger, Konsequenz.

80 81 82 83

Kleist, Die Familie Schroffenstein, 74. Kleist, Die Familie Schroffenstein, 74. Vgl. Marquardt, Heinrich von Kleist, 25. Kleist an Wilhelmine von Zenge, Brief aus Berlin vom 22. März 1801, 634.

Grillparzer in Nähe und Distanz zu Kant

Alexander Wilfing

Musik, Maß, Genie. Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik-)Ästhetik

Jede Frage nach historischen Lesebezügen muss sich mit mehreren miteinander verbundenen Themenfeldern beschäftigen, die separat geklärt werden sollten, bevor das jeweils geprüfte Verhältnis plausibel beurteilt werden kann:1 1. die allgemeine, soziokulturell determinierte Rezeptionslage in Bezug auf den bestimmten Schriftsteller, welche jedes partikulare Verständnis mitbedingt; 2. die spezielle, faktisch verbürgte Rezeption von Texten und Ideen durch das lesende Subjekt; 3. das praktische inhaltliche Begreifen und die bisweilen produktive Aufnahme der rezipierten Hypothesen durch die geschichtlich nachgeordnete Persönlichkeit. Bei den vorliegenden Ausführungen, mit welchen mehrere Kantische Einflüsse auf das Musikdenken Franz Grillparzers (1791–1872) eruiert werden, nimmt dieses abstrakte Konstrukt folgende konkrete Gestaltung an: Ich versuche zunächst, die ermittelten Grundzüge der prekären Rezeption von Kants Lehre zur Zeit der Habsburgischen Donaumonarchie konzentriert darzustellen, die unter anderem bewirkten, dass sich im neunzehnten Jahrhundert eine mehr oder weniger separate ‚österreichische‘ Denkströmung bilden konnte, die von der im deutschen Sprachraum dominierenden idealistischen Schulbildung erheblich divergiert.2 Danach werde ich die Kant-Rezeption Grillparzers aus empirischer Perspektive untersuchen, die von den beengenden Bedingungen der österreichischen Bildungspolitik spürbar geprägt war und erst durch dessen 1 Die Arbeiten zu diesem Beitrag wurden im Rahmen des Projekts P26610–G15 des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung möglich gemacht. 2 Diese These basiert primär auf Rudolf Hallers Arbeiten (Studien zur Österreichischen Philosophie. Variationen über ein Thema, Amsterdam 1979; Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur Österreichischen Philosophie, Amsterdam 1986). Zum reduktiven Fundament und den politischen Triebfedern von Hallers Narrativ siehe aber etwa: Werner Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration. Beiträge zur Geschichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie, Amsterdam 1982, 9–22; Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848–1938, Bielefeld 2010, 151–161; Alexander Wilfing, Kant und die ‚österreichische Philosophie‘ – Eine Einführung, in: Violetta L. Waibel (Hg.), Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa, Göttingen 2015, 19–27.

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Mentor Joseph Schreyvogel (1768–1832) produktiv gewandelt wurde. Nach diesen kurzen historischen Betrachtungen, die den notwendigen Ausgangspunkt für systematische Überlegungen repräsentieren, wird dann die partielle Wirkung von Kants Kunstlehre auf Grillparzers Musikdenken inhaltlich überprüft, wobei dabei seine ästhetischen Aphorismen und das Prosawerk Der arme Spielmann zentral werden.3

1.

Die Theresianischen Universitätsreformen: Wolff und Leibniz

Wie eingangs dargelegt, verbieten derzeitige methodische Paradigmen eine ideenhistorische Detailbetrachtung im negativen Verständnis, die zwei Texte nur auf parallele Argumente vergleicht, ohne deren kontextuelle Bedingungen mindestens rudimentär abzuklären. Wie Werner Sauer in Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration korrekt bemerkt, sind auch philosophische Denktraditionen von dem intellektuellen Bezugsrahmen, „gebildet von Universitäten, Akademien oder auch von den bürgerlichen Öffentlichkeitsinstitutionen wie Salon und Zeitschrift“, bedingt, welcher „Traditionsbildung und damit Entwicklung, Verfall usw. überhaupt“ ermöglicht.4 Ohne eine derartige geordnete Einbindung, die oft auch eine ansteigende Verbreitung nach sich zieht, bleiben diverse intellektuelle Konzeptionen einer meist zufälligen Bedeutung ausgesetzt, die überregionale Wirkungsmacht schwerlich erreichen könnte. Dafür bietet die instabile Rezeption von Kants Lehre im Habsburgischen Vielvölkerreich ein beinahe ideales Beispiel, das nun mit der österreichischen Unterrichtspolitik sowie ihren spezifischen Ergebnissen erhellt werden soll. Diese Politik erhielt äußerst signifikante Anregungen durch die beiden Theresianischen Bildungsreformen (1752/1774), die dafür Sorge trugen, dass sich eine merkliche Spannung zwischen deutscher und österreichischer Reflexionsweise etappenweise manifestierte, deren historische Entwicklung mit der gleichzeitigen Thronbesteigung von Maria Theresia (1717–1780) und Friedrich II. (1712–1786) im Jahr 1740 und den resultierenden Erbfolgekriegen (1740–1748) engstens ver3 Wenn man oft von Grillparzers ‚Musikästhetik‘ spricht, sollte betont werden, dass dieser keinerlei komplette Kunstlehre hinterließ. Dessen Studien beinhalten kompilierte Tagebuchnotizen, Fragmente, Kritiken etc., die posthum publiziert wurden. Diese Praxis ist von ihm explizit begrüßt worden: „Ich nehme mir […] vor, ohne Rücksicht auf ein System, über jeden Gegenstand dasjenige niederzuschreiben, was mir aus seinem eigenen Wesen zu fließen scheint. Die dadurch entstehenden Widersprüche werden sich am Ende entweder von selbst heben, oder […] mir die Unmöglichkeit eines Systems beweisen.“ Franz Grillparzer, Zur Kunstlehre [Tgb. 888 (1820)], in: Derselbe, Studien und Aufsätze, in: Sämtliche Werke, Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, 4 Bände, hg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, München 1960–1965 (im Folgenden zitiert mit der Sigle SW), Bd. 3, München 1964, 209–1178, 213. 4 Sauer, Österreichische Philosophie, 16.

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knüpft war.5 Theresias Reformen waren jedoch zunächst geeignet, die österreichischen Bildungsanstalten, welche durch das konfessionelle Kriegsgeschehen über etwa 200 Jahre von der intellektuellen Entwicklung Deutschlands abgeschnitten waren, wieder ‚deutschen‘ Standards anzunähern.6 Dies wurde durch die zentralisierte Staatsführung und die graduelle Rücknahme der katholischen Bindungen Österreichs durchgesetzt, dessen vormals jesuitisch gesteuerte Universitäten nun vermehrt staatlich gelenkt wurden.7 Wenn sich die wolffsche Philosophie zuerst privat etablierte, sodass Alexander Fixelmüller (1730–1783) die ‚neue‘ Lehre gar als Abt öffentlich verteidigen und gegen einen „schlendrianum scholasticum“ aufbegehren konnte,8 geriet sie mit der ersten Reform 1752 zum rundweg primären Denkmodus Österreichs: Die einstmals allgemein gepflogene Barockscholastik, die aristotelisch-thomistische Schulphilosophie, wurde damit graduell verdrängt. Die vormals nirgends kritisierte Berufung auf die Philosophie Aristoteles’ wurde zudem generell verworfen und die einzelnen Lehrfächer nach Christian Wolffs (1679–1754) Lehre systematisch reorganisiert, wobei hier erst nur die spekulative Philosophie einbegriffen war. Mit der zweiten Reform im Jahr 1774, die mit der offiziellen Aufhebung des einflussreichen Jesuitenordens (August 1773) durch Papst Clemens XIV. (1705–1774) historisch koinzidiert, wurde dann auch die aufklärerisch bedeutsamere Moralphilosophie den nunmehr säkularen Professoren anvertraut, die sie nach Friedrich Baumeisters (1709–1785) Lehrbuch Elementa philosophiae recentioris (1747) einheitlich vortrugen. Wie Werner Sauer eigens betont: „Der Philosophie wurde in allen Teilbereichen (Logik, Metaphysik, Ethik) die Lehre Wolffs zugrundegelegt,“9 die mit der konstant zentralen Leibniz-Tradition10 zur Leibniz-Wolffschen-Popularphilosophie verschmolz,11 die erst nach Graf 5 Robert Kann und Friedrich Prinz (Hg.), Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, Wien 1980, 10. 6 Sauer, Österreichische Philosophie, 17. 7 Rudolf Haller, Zur Historiographie der österreichischen Philosophie, in: János Nyíri (Hg.), Von Bolzano zu Wittgenstein. Zur Tradition der österreichischen Philosophie, Wien 1986, 41–53, 43. 8 Sepp Domandl, Wiederholte Spiegelungen. Von Kant und Goethe zu Stifter. Ein Beitrag zur österreichischen Geistesgeschichte, Linz 1982, 33. Domandls Aufsatz Die Kant-Rezeption in Österreich ist von ihm hieraus beinahe wörtlich kopiert worden (Wiener Jahrbuch für Philosophie 19 (1987), 7–46). 9 Werner Sauer, Von der ‚Kritik‘ zur ‚Positivität‘. Die Geisteswissenschaften in Österreich zwischen josephinischer Aufklärung und franziszeischer Restauration, in: Hanna Schnedl-Bubenicˇek (Hg.), Vormärz. Wendepunkt und Herausforderung. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Kulturpolitik in Österreich, Wien 1983, 17–46, 25f. 10 Zur Leibniz-Tradition Österreichs siehe hier etwa: Harald Haslmayr, Geistige Hintergründe des Biedermeier, in: Clifford Bernd, Robert Pichl und Margarete Wagner (Hg.), The Other Vienna: The Culture of Biedermeier Austria. Österreichisches Biedermeier in Literatur, Musik, Kunst und Kulturgeschichte, Wien 2002, 285–296. Vgl.: Hermann Blume, Romantische Naturphilosophie und ‚praktischer Idealismus‘. Zur Entwicklung philosophischer Konzeptionen

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Thuns (1811–1888) Reformen von 1849 bis 1860 von der Herbartschen Philosophie ersetzt werden sollte, die als „quasi offizielle Staatsphilosophie“ gefasst werden muss.12 Wenn auch noch der spätere Wiener Dekan Robert Zimmermann (1824– 1898) fälschlich vermutete, dass durch diese vorgebliche Emanzipation die „eigentliche Befreiung“ der universitären Philosophie angefangen habe,13 wurde diese klerikale Restriktion nur von genauso radikalen amtlichen Eingriffen substituiert, die sich auch auf die österreichische Kant-Rezeption nachteilig auswirkten.

2.

Der Josephinismus und die frühe österreichische Kant-Rezeption14

Die Krönung Josephs II. (1741–1790) im Jahr 1780 bewirkte zunächst eine drastische Lockerung der ständischen Organisation und eine dermaßen eklatante Reformbewegung, dass einige rezente Forscher sogar mehrere negative Resultate des aufgeklärten Absolutismus (ein immanent diskrepantes Grundprinzip) notieren konnten. Kaiser Joseph II. benötigte einerseits ein wesentlich gestärktes Bürgertum, um die enormen Privilegien der ständischen Oberschicht einzuengen, wollte diesem das hieraus jedoch erwachsende Instrumentarium der bürgerlichen Öffentlichkeit (Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc.) andererseits keineswegs unverkürzt zugestehen.15 Diese Anlage, die die politische Bildung des mittleren Standes erstrebte, um die projektierte behördliche Erneuerung Österreichs einzuleiten, sollte aber bald mit der Französischen Revolution im Jahr 1789 definitiv scheitern, die für reaktionäre Agita-

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im Werk Ernst Freiherr von Feuchtersleben, in: Michael Benedikt, Reinhold Knoll und Josef Rupitz (Hg.), Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820–1880), Klausen-Leopoldsdorf 1995, 383–388. ‚Popular‘ deshalb, weil der spekulative Rationalismus durch psychologische Fragestellungen aus der vormals zentralen Stellung verdrängt wurde: Sauer, Österreichische Philosophie, 27. Vgl.: Derselbe, Die verhinderte Kanttradition. Über eine Eigenheit der österreichischen Philosophie, in: Benedikt, Reinhold und Rupitz (Hg.), Bildung und Einbildung, 303–317, 307f. Andreas Hoeschen und Lothar Schneider, Der ideengeschichtliche Ort des Herbartianismus, in: Dieselben (Hg.), Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, 9–22, 15. Zur Thunschen Neuerung des österreichischen Bildungswesens vergleiche allgemein: Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien/Graz/Weimar 1962. Für einen konzisen Überblick vgl.: Peter Stachel, Das österreichische Bildungssystem zwischen 1749 und 1918, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Wien 1999, Bd. 1, 115–146. Haller, Historiographie der österreichischen Philosophie, 46. Zu Kap. 2 und Kap. 3 vgl.: Alexander Wilfing, Die frühe österreichische Kant-Rezeption: Von Joseph II. bis Franz II. und Die staatlich erwirkte Kant-Zensur: Von Franz II. bis Graf Thun, in: Violetta L. Waibel (Hg.), Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa, Göttingen 2015, 27–32 und 32–39. Erich Zöllner, Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien 1990, 322.

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toren genau dieser politischen Emanzipation geschuldet war.16 Für den österreichischen Kantianismus wurde diese aufgeklärte Bewegung jedoch insofern relevant, als das josephinische Staatskonstrukt eine vorübergehende Implementierung von Kants Lehre im Habsburgischen Einflussbereich möglich gemacht hatte. Josephs Toleranz ist dabei primär in Gestalt Gottfried van Swietens (1733– 1803) eindeutig geworden, der mit dem Jahr 1781 die österreichische Studienkommission anleitend übernahm und die erstmalige Verbreitung von Kants Philosophie maßgeblich begünstigte. Entgegen langjährig praktischen Grundsätzen, die die universitäre Ausbildung als berufliche Schulung begriffen und das Humboldtsche Bildungsideal konsequent zurückwiesen, vertrat dieser ein weitgehendes Aufklärungsziel, das die komplette Erziehung zum mündigen Staatsbürger nach sich ziehen konnte.17 Im Jahr 1783 hat van Swieten einen konkreten Reformplan vorgestellt, der die universitären Studienfächer sukzessive umwandeln und den autoritären Lehrbetrieb um didaktische Freiheiten bereichern sollte, damit „die Jugend nicht blos Philosophie, sondern philosophieren“ lerne und sich „zum eigenen Denken gewöhne“.18 Für den Habsburgischen Kantianismus ist van Swietens Position insofern relevant, als von ihm Anton Kreils (1757–1833) Professur in Pest 1785 offiziell bewilligt sowie dessen unorthodoxe Nominierung vermutlich persönlich unterstützt wurde:19 Kreil, der zur Lehre Kants tendierte, dozierte sehr bald kritische Philosophie – hierbei speziell Kants Kritik der reinen Vernunft – und ließ dann im Jahr 1789 ein Handbuch der Logik folgen, dessen Kantische Inspiration eindeutig erkennbar ist.20 Auch Johann Nepomuk Delling (1764–1833), der wohl bekannteste Leidtragende der bayrischen Illuminaten-Verfolgung, der zum gleichen Zeitpunkt von van Swieten an die ungarische Universität Fünfkirchen berufen worden war, lehrte offen nach Kantischen Grundsätzen.21 16 Sauer, Von der ‚Kritik‘ zur ‚Positivität‘, 21. Zur generellen historischen Entwicklung von Joseph II. bis Franz II. vergleiche allgemein: Ernst Wangermann, Von Joseph II. zu den Jakobinerprozessen, Wien 1966. 17 Sauer, Verhinderte Kanttradition, 308. Siehe dazu auch: Silvester Lechner, Gelehrte Kritik und Restauration. Metternichs Wissenschafts- und Pressepolitik und die Wiener ‚Jahrbücher der Literatur‘ (1818–1849), Tübingen 1977, 35f. Zu van Swieten siehe vor allem: Ernst Wangermann, Aufklärung und staatsbürgerliche Erziehung. Gottfried van Swieten als Reformator des österreichischen Unterrichtswesens 1781–1791, Wien 1978. 18 Sauer, Von der ‚Kritik‘ zur ‚Positivität‘, 29. Damit wurde von ihm oder auch Joseph von Sonnenfels aber kein rückhaltloses Aufklärungsideal durchgesetzt, zumal beide weiterhin erstrebten, dass sich der erwachsene Staatsbürger aus freien Stücken der gerechten Monarchie unterwerfe: Silvester Lechner, Gelehrte Kritik und Restauration, 40. 19 Sauer, Österreichische Philosophie, 132. Zur Lehre Kreils vergleiche ausführlich: Sauer, Österreichische Philosophie, 155–190. 20 Sauer, Österreichische Philosophie, 108. 21 Sauer, Österreichische Philosophie, 133.

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Die eigentlichen Kantianischen Strömungen Österreichs waren jedoch im privaten Bereich lokalisiert,22 weswegen zahlreiche Staatsbürger das Habsburgische Einflussgebiet zumindest zeitweise verließen und den direkten Kontakt Kants suchten sowie seine Jenenser Hochburg wiederholt visitierten.23 Besondere Bedeutung erlangte hierbei Franz Paul Herbert (1759–1811), ein Klagenfurter Fabrikant, der einen Kantischen Lesekreis begründete und wegen dieser ‚brisanten‘ Gesinnung polizeilich überwacht wurde.24 Deutliche Einflüsse von Kants Lehre können ebenso bei der ungarischen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, in progressiven Lehrbüchern der 1790er Jahre oder auch bei der anonymen Forderung Stephan Tichys (1760–1800) erkannt werden, Kants System universitär einzubinden (Philosophische Bemerkungen über das Studienwesen in Ungarn, 1792).25 Selbst die aufgeklärte Geistlichkeit hat Kants Lehre durchaus billigend rezipiert, wie der Wiener Bischof Matthias Steindl (1761–1828) bestens bezeugt, welcher seinen Schülern Kants Werke öffentlich anempfahl.26 Schon 1786, also rund fünf Jahre nach ihrer ersten Ausgabe, waren Kants Kritik der reinen Vernunft sowie dessen andere Schriften bei den meisten Wiener Läden vertreten, obwohl selbige noch etwa zwölf Monate zuvor schwerlich ausfindig gemacht werden konnten.27 Im Juni 1788 hat Paul Pepermann (1745–1784) Karl Leonard Reinhold gar auf die buchstäbliche ‚Überflutung‘ mit Kantianischen Publikationen hingewiesen, die man absolut sorglos beziehen könne.28 Diese kurzzeitige Begeisterung hatte ihren Gipfel dann etwa Mitte der 1790er 22 Dies betrifft ebenso die Forschung, die vom Lehrbetrieb striktest getrennt war, privat getätigt wurde und dem gebildeten Beamtenstand entstammte: Waltraud Heindl, Beamtentum, Elitenbildung und Wissenschaftspolitik im Vormärz, in: Schnedl-Bubenicˇek (Hg.), Vormärz, 47– 64, 55. Hierzu gehörte auch eine rigorose Trennung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften: während letztere als vollkommen wertneutrales und pragmatisch anwendbares Forschungsfeld gelten sollten, wurden philosophische Überlegungen als potentiell gefährlich betrachtet und sollten einer „beglückenden Finsternis“ weichen, welche den status quo „zur positiven Norm“ erklärte: Schnedl-Bubenicˇek, Einleitung, in: Vormärz, 9–16, 9. 23 Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 37. Dieser nennt hier etwa Johann Benjamin Erhard (1766–1827), Leopold Ritter Meißl (1772–1808), Gottfried Wenzel Graf Purgstall (1773–1812), Joseph Schreyvogel oder auch Cajetan Tschink (1763–1809). Für einige andere Kantianer siehe etwa auch: Eduard Castle, Johann Nagl und Jakob Zeidler (Hg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, 4 Bände, Wien 1899–1937. 24 Max Leyrer, Franz Paul Herbert und sein Kreis, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 66 (1962), 89–107 und Wilhelm Baum, Der Klagenfurter Herbert-Kreis zwischen Aufklärung und Romantik, in: Revue Internationale de Philosophie 50/3 (1996), 483–514. Zu Franz Paul Herbert siehe etwa auch: Sauer, Österreichische Philosophie, 231–265 und Ernst Topitsch, Kant in Österreich, in: Richard Meister (Hg.), Philosophie der Wirklichkeitsnähe. Festschrift zum 80. Geburtstag Robert Reiningers, Wien 1949, 236–254, 239f. 25 Sauer, Österreichische Philosophie, 129–134; Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 39. 26 Sauer, Österreichische Philosophie, 137; Topitsch, Kant in Österreich, 245. 27 Sepp Domandl, Verdrängter und aufgeklärter Humanismus. Wiederholte Spiegelungen, in: Benedikt, Knoll und Rupitz (Hg.), Bildung und Einbildung, 367–379, 368. 28 Sauer, Österreichische Philosophie, 109 (Pepermann an Reinhold, 18. 6. 1788).

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Jahre, als ein Grazer Abdruck von Kants Werken (1795–1797) leichthin verfügbar wurde, der den definitiven Wendepunkt der eingangs günstigen Rezeption markierte.29 Die zunächst eklatante Verbreitung von Kants Lehre wurde somit von den politischen Ereignissen, der Französischen Revolution und der Hinrichtung Ludwig XVI. (1754–1793) plötzlich beendet: Kaiser Franz II. (1768– 1835), mit dem Jahr 1792 nun Herrscher Österreichs, der die destruktive Entwicklung Frankreichs keinesfalls importieren wollte, setzte einen radikalen Gegenkurs, der progressive Tendenzen unterbinden sollte, denen Kants System ebenfalls beigezählt wurde. Damit brach die Habsburgische Unterrichtspolitik mit dem Deutschen Idealismus und schlug quasi einen ‚Sonderweg‘ ein, der die Kantianische Schulbildung langfristig verhinderte.30

3.

Franz II. und die verhinderte Kant-Rezeption31

Dieses Verdikt zur Philosophie Kants beruht primär auf der konsequenten Vernunftkritik, die mehrere politisch relevante Bereiche – Religion, Moral, Staat etc. – vom dogmatischen Normenkodex löste und damit hohes kritisches Potential entfalten konnte. Die konservative franziszeische Programmatik lehnte diesen ‚aprioristischen Konstruktivismus‘ ab, der eine sukzessive bürgerliche Emanzipation durch kritische Reflexion lancierte und der mit seiner ‚quid-juris‘Frage eine ernstliche Bedrohung für die gegebene Ordnung darstellte, die nun mit rationalen Beweisen motiviert werden musste:32 Damit würde die theoretische Begründung von sozialer Wandlung möglich, die man keinesfalls akzeptieren könne, zumal Kants Lehre als politische Philosophie par excellenceeingeschätzt wurde, deren umfassende Verbreitung jedenfalls verhindert werden musste. Für reaktionäre Agitatoren wie Leopold Alois Hoffmann (1760–1806, Wiener Zeitschrift) und Felix Franz Hofstätter (1741–1814, Magazin der Kunst und Literatur) war die Revolution in Frankreich ein Handstreich der Freimaurer, deren vorgeblich pervertierte Grundsätze sich auch in Kants Werken finden

29 Domandl, Verdrängter Humanismus, 368; Sauer, Österreichische Philosophie, 143. 30 Rudolf Haller, Bernard Bolzano. Eine nicht gehaltene Rede zu seinem 200. Geburtstag, in: Derselbe, Fragen zu Wittgenstein, 44–54, 44. Siehe dazu auch: Sauer, Verhinderte Kanttradition, 303–307. Zur stellenweise überspitzten Darstellung eines durchgehenden österreichischen Anti-Kantianismus vgl. Anm. 2. 31 Zur Politik Kaiser Franz’ II. vergleiche allgemein: Donald Daviau, Biedermeier. The Happy Face of the Vormärz Era, in: Bernd, Pichl und Wagner (Hg.), The Other Vienna, 11–27. Siehe dazu auch: William Johnston, Vienna, Vienna: The Golden Age 1815–1914, New York 1981; Lechner, Gelehrte Kritik und Restauration. 32 Sauer, Österreichische Philosophie, 286–293.

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würden.33 Dies war für österreichische Sympathisanten der kritischen Philosophie insofern misslich, als Kants Lehre bei den heimischen Freimaurern durchaus verbreitet war, wie sieben Artikel Anton Kreils für das Journal der Freymaurer deutlich belegen, welcher zudem der Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“ langjährig angehörte.34 Anton Kreil und Johann Nepomuk Delling wurden sodann beide mit der scheinbar adäquaten ‚Begründung‘ entlassen, dass „der Vortrag der kritischen Philosophie zum Atheismus führe“.35 Notorische Josephiner wurden nun als ‚räudige Schaafe‘ (Zitat Franz II.) kaiserlich verleumdet und die gesteigert aggressive Charakteristik dann auch direkt gegen Kants Person gewendet, der in der Wiener Satirezeitschrift Eipeldauerbriefe36 als „Großpapa der Mordphilosophie“ verdächtig firmierte.37 Diese Haltung wurde durch Peter Miottis (1743–1804) Polemiken (Über die Nichtigkeit der Kantischen Grundsätze in der Philosophie 1798 und Über die Falschheit und Gottlosigkeit des Kantischen Systems 1802) energisch angetrieben, der zur großen Freude des Wiener Nuntius Antonio Gabriele Severoli (1757–1824) die „perversen Grundsätze des Materialisten Kant“ emphatisch bekämpfte.38 In den Kantischen Grundsätzen forderte selbiger dann auch eine staatliche Repression von Kants Philosophie, die durch ihren ketzerischen Apriorismus die kirchliche Autorität und die staatliche Ordnung schändlich aufweichen wolle. Wenn Kants Lehre aus politischen Rücksichten auch nicht mehr erlaubt werden konnte, hatten sich viele Habsburgische Bildungsplaner trotz allem einer amtlichen Prohibition widersetzt, die das Renommee Österreichs nachhaltig geschädigt und das ohnehin existente Interesse lediglich gesteigert hätte.39 Wegen ihrer enormen Resonanz im ablaufenden achtzehnten Jahrhundert und der vermeintlich gefährlichen Ausrichtung konnte jedoch keinesfalls zugelassen werden, dass Kants Lehre eine unbegrenzte Ausbreitung verzeichnete. Daher wurde eine zumindest mittelbare Restriktion angestrebt, die der kirchlichen Indizierung der Kantischen Philosophie aus dem Jahr 1827 erstaunlich vorausging und die wirkungsvolle Ein-

33 Wynfrid Kriegleder, Die literarische Romantik in Österreich, in: Benedikt, Knoll und Rupitz, Bildung und Einbildung, 213–226, 216. Zur Kritik von Hoffmann und Hofstätter an Kants Lehre siehe etwa auch: Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 40 und Sauer, Österreichische Philosophie, 282. 34 Sauer, Österreichische Philosophie, 108. 35 Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt, 153. 36 Zur enormen Relevanz von satirischen Zeitschriften für die öffentliche Anschauung siehe etwa auch: Helmut Lang, Die Zeitschriften in Österreich zwischen 1815 und 1880, in: Herbert Zeman (Hg.), Die Österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830–1880), Graz 1982, 13–21. 37 Sauer, Österreichische Philosophie, 118 und 283. 38 Topitsch, Kant in Österreich, 243. 39 Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 42.

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dämmung der kritischen Philosophie im Habsburgischen Herrschaftsgebiet nach sich zog. Auf Rat des Polizeiministers Johann Anton Pergen (1725–1814) wurde daher im Jahr 1795 eine übergreifende Studienkommission implementiert, die Minister Heinrich von Rottenhan (1738–1809) direkt leitete und die das österreichische Bildungssystem im Franziszeischen Regierungsgeist reorganisierte, um „den Schaden wiedergutzumachen, den die Aufklärung in den Köpfen der österreichischen Bevölkerung angestiftet hatte“.40 Universitäten, Lyzeen und Schulen sollten einzig restaurative Absichten unterstützen, von akademischer Nonkonformität rundum befreit und auf propädeutische Unterrichtsziele begrenzt werden, die mit religiösen Doktrinen und staatlichen Vorgaben vereinbar waren, da „die von der Philosophie ausgehende Gefahr für die bestehende Ordnung“ mit der „politischen Aktualisierung“ der humanistischen Denktraditionen unmittelbar einhergehe.41 Rottenhans Programm, das das obligatorische philosophische Propädeutikum besonders skeptisch beurteilte, benannte folgende Prinzipien: „[D]as Studium der Mathematik und der Physik, dann die positiven Wissenschaften [sollen] das Übergewicht über die sogenannten rationalen oder spekulativen Wissenschaften gewinnen […], damit dem Skeptizismus und der politischen und philosophischen Freidenkerei, die gegenwärtig den Geist der Gelehrsamkeit so sehr mit dem schlichten Menschenverstande entzweit haben, Grenzen gesetzt werden.42

4.

Heinrich von Rottenhan und das inoffizielle Kant-Verbot

Wie mit der kritischen Philosophie verfahren werden sollte, die der politischen Ausrichtung Österreichs offenkundig widersprach, ist bei der Sitzung vom 4. 7. 1798 geklärt worden,43 die die angestrebte Neuordnung der philosophischen Spezialdisziplin betraf, welche Heinrich von Rottenhan als „die wichtigste aller […] Arbeiten“ anführte.44 Dafür wurden mehrere exklusive Gutachten eingeholt, die die sozialpolitische Bedeutsamkeit des Kantischen Kritizismus beleuchten: Über kantische Philosophie mit Gutachten in Hinsicht auf erbländische 40 Sauer, Von der ‚Kritik‘ zur ‚Positivität‘, 31. 41 Sauer, Verhinderte Kanttradition, 309. 42 Sauer, Verhinderte Kanttradition, 309. Siehe hierzu ebenso: Susanne Preglau-Hämmerle, Die politische und soziale Funktion der österreichischen Universität, Innsbruck 1986, 94–96. 43 Dieses Ereignis ist von Karl Wotke erstmals ausführlich besprochen worden, der die Gutachten und Protokolle der Kommission detailliert referierte: Kant in Österreich vor 100 Jahren. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie in Österreich, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 4 (1903), 289–305. 44 Sauer, Von der ‚Kritik‘ zur ‚Positivität‘, 34.

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Universitäten (anonymer Verfasser) und Franz Samuel Karpes (1747–1806) Gedanken über das einstweilige ratsamste Verhalten der Lehrer auf österreichischen Schulen in Anschauung der kantischen Philosophie.45 Beide Autoren lehnten jedoch ab, ein offizielles ‚Kant-Verbot‘ anzuraten, meinten jeweils, dass Kants Lehre weder Staat noch Kirche wirklich bedrohe und forderten vielmehr, dass alle angestellten Professoren die transzendentale Verfahrensweise kennen müssen, um die unlängst erreichte Anbindung an die deutsche Tradition nicht neuerlich einzubüßen. Eine Lektüre des Kantischen Kritizismus im philosophischen Anfangsunterricht wurde jedoch kategorisch abgewiesen, zumal dessen anspruchsvolle Argumentation einen jungen Menschen schlichtweg überfordere und der anonyme Gutachter plädierte sogar gegen einen direkten Vortrag der Philosophie Kants, die nur historisch dargelegt werden sollte. Diese Urteile wurden jedoch der verantwortlichen Hofkommission nicht unmittelbar unterbreitet, sondern zunächst vom Zensor Franz Karl Hägelin (1735– 1809) genutzt, um sein wesentlich kritischeres Memorandum Bemerkungen über die Gedanken, die kantische Philosophie betreffend abzufassen, das den betreffenden Kommissaren anschließend ausgehändigt wurde. Auch Hägelin bekannte freiwillig, dass Kants Lehre etablierte religiöse Meinungen nirgends verletze, betonte jedoch schwere politische Vorbehalte: Während die Leibniz-Wolffsche Popularphilosophie die politische Verfassung absichere, werde Kants Lehre von radikalen Agitatoren verbreitet, sodass selbige auch regulären Studenten lediglich behutsam vermittelt und somit einzig flüchtig ‚traktiert‘, aber niemals geprüft werden dürfte: Bei der bezüglichen Abstimmung war man sich sehr bald einig, dass für das obligatorische Propädeutikum der bisherige Unterricht des dogmatischen Schultradition erhalten bleiben sollte.46 Für die eigentliche universitäre Philosophie wurde aber eine provisorische Bestimmung ausgehandelt, die für vierzig Jahre gelten würde: Wenn auch im philosophischen Vorbereitungskurs die Leibniz-Wolffsche Popularphilosophie fortgesetzt unterrichtet werden sollte, durfte Kants Lehre im philosophischen Doktoratsstudium genannt, hierbei jedoch lediglich polemisch behandelt werden.47 Damit wurde der modus vivendi im 45 Sofern nicht anders vermerkt, basieren die folgenden Abschnitte auf Domandls Forschung: Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 43–45. Beide Texte sind hier auch vollständig abgedruckt: Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 124–130. Siehe dazu auch: Werner Sauer, Österreichische Philosophie, 292–299. 46 Für die komplette Auflistung der anwesenden Kommissare vgl.: Wotke, Kant in Österreich, 295. 47 Sauer, Von der ‚Kritik‘ zur ‚Positivität‘, 35. Nur von Zippe (1747–1816) wollte einen eigenen Dozenten für Kantische Philosophie anstellen, der einen freiwilligen Lehrkursus organisieren sollte, der aber erst nach dem regulären Studium besucht werden konnte. Liberale Studenten hätten somit die anfallenden Zusatzkosten für den unbesoldeten Fachprofessor selbst tilgen müssen, was für eine geringe Hörerzahl gesorgt, aber trotz allem einen erwünschten Augenschein von philosophischer Eigenständigkeit gewahrt hätte: Topitsch, Kant in Österreich, 241.

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direkten Umgang mit Kants Kritizismus eingeläutet, der zwar nicht auf ein direktes, jedoch trotzdem faktisches ‚Verbot‘ hinauslief. Dieser Boykott währte sogar bis 1860/61,48 als der erbittertste Kant-Gegner unter allen österreichischen Bildungspolitikern, Graf Thun, schließlich abdanken musste, welcher vordem mit Franz Exner (1802–1853) und Hermann Bonitz (1814–1888) die leitenden Prinzipien des Humboldtschen Bildungssystems im Habsburgischen Einflussbereich graduell etabliert hatte, die Kantische Philosophie durch seine antiidealistische Besetzungspolitik jedoch weiterhin hintertrieb.49 Wann das ‚Verbot‘ von Kants Lehre wirklich erfolgte, ist weiterhin umstritten: Während Domandl behauptet, dass dieses bereits im Jahr 1793 offiziös verhängt worden war,50 beruft Werner Sauer sich hier auf Johann Goldfriedrichs Geschichte des Deutschen Buchhandels (4 Bde., Leipzig 1908–1913), die für das Jahr 1798 die partielle Inhibition der Philosophie Schellings, Fichtes und Kants empirisch verzeichnet.51 Für Sauers Angabe spricht dabei auch der vorstehend angegebene Grazer Abdruck von Kants Werken (1795/97), der folglich entgegen Domandls Auffassung keine unerklärliche „Fehlleistung“ von Franz’ Zensur war.52 Ernst Topitsch verlegte das früheste ‚Verbot‘ von Kants Werken gar auf das Jahr 1803, aus dem polizeiliche Dokumente über eine diesbezügliche Beschlagnahmung eruiert werden konnten.53 Doch auch wenn Domandls Datierung zuträfe, müsste hierzu ergänzend angemerkt werden, dass Kants Lehre nicht jener populären Literatur angehörte, deren akribische Inspektion von besonderer Wichtigkeit war. Selbst das eindeutig verschärfte Zensurgesetz aus dem Jahr 1819 differenziert weiterhin zwischen akademischen Publikationen und ‚volkstümlichen‘ Veröffentlichungen, wobei erstere von staatlichen Eingriffen großteils verschont blieben.54 Wie sehr sich Franz’ Zensur, deren alleinige Kontrolle sich dieser sogar persönlich vorbehielt,55 an der potentiellen Massenwirkung von suspekter Literatur orientierte, wird auch dadurch bezeugt, dass teure Bücher die 48 Domandl, Verdrängter Humanismus, 369. Siehe hierzu weiter: Erika Rüdegger, Die philosophischen Studien an der Wiener Universität 1800 bis 1848, Wien 1964. 49 Siehe hierzu primär: Preglau-Hämmerle, Funktion der österreichischen Universität, 101–107. Bereits Alfred Wieser betonte korrekt, dass bei nahezu fünfzig Universität-Seminaren zu Kant in Wien 1848–1938 unter Graf Thun (1852–1860) eine auffällige Stagnation konstatiert werden konnte, was die betreffende Lehrpolitik dokumentiert: Die Geschichte des Fachs Philosophie an der Universität Wien 1848–1938, Wien 1950, 235. Diese Pause wurde schon durch Topitsch (Kant in Österreich, 250) eigens betont. 50 Domandl, Verdrängter Humanismus, 369. 51 Sauer, Österreichische Philosophie, 278. 52 Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 42. 53 Topitsch, Kant in Österreich, 239 und 243. 54 Barbara Otto, Der sezessionierte Herbart. Wissenschaftsrezeption im Staatsinteresse zur Zeit Metternichs, in: Benedikt, Knoll und Rupitz (Hg.), Bildung und Einbildung, 141–153, 144. 55 Walter Obermaier, Zensur im Vormärz, in: Bürgersinn und Aufbegehren. Biedermeier und Vormärz in Wien 1815–1848, Wien 1988, 622–627, 623.

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rigorosen Prüfungen müheloser passierten als bewusst populäre und damit meist billige Schriften.56 Im Großen und Ganzen lässt sich aber mit Peter Stachel summarisch konstatieren: „Der für die Philosophie in Deutschland bestimmende Einfluß der Lehren Kants und der (vermeintlich) auf diesen aufbauenden Vertreter einer idealistischen Philosophie (Fichte, Hegel und Co.) konnte sich in Österreich innerhalb der akademischen Philosophie niemals beherrschend durchsetzen.“57

5.

Grillparzers erste Kant-Kontakte

Als Franz Grillparzer von 1804 bis 1806 seine juristische Ausbildung absolvierte,58 die für die fortgeschrittene Beamtenkarriere unumgänglich war,59 wurde dieser mit der eben skizzierten Sachlage konfrontiert, die in der Habsburgischen Residenzstadt kategorisch eingehalten wurde, wohingegen provinzielle Universitäten liberaler verwaltet werden konnten.60 Grillparzers Studienzeit war aber noch ziemlich ungestört, da die anhaltenden Kontroversen mit Napoleons Frankreich und die dadurch bedingte Bindung der exekutiven Staatorgane eine lückenlose Kontrolle erschwerten. Erst nach dem Niedergang Napoleons im Jahr 1815, der die außenpolitische Bedrohungslage merklich minderte, ist die behördliche Überwachung entscheidend aufgewertet worden, zumal darum genügend Polizeikräfte disponibel waren, um Rottenhans Direktiven wortgetreu umzusetzen.61 Grillparzer wurde durch diese nachlässige Handhabung des internen ‚Boykotts‘ von Kants Lehre somit schon sehr früh mit der kritischen Philosophie vertraut gemacht.62 Die propädeutischen Vorbereitungskurse, die mit dem Jahr 1805 inhaltlich modifiziert wurden, umfassten zahlreiche Disziplinen: 1.+2. Jahr: griechische Sprache, Mathematik, Philosophie, Physik, Religionslehre, Weltgeschichte; 3. Jahr: höheres klassisches Studium, österreichische Geschichte, Religionslehre / nach freier Wahl: Ästhetik, Astronomie, Diplomatik, 56 Zöllner, Geschichte Österreichs, 385. 57 Peter Stachel, Leibniz, Bolzano und die Folgen. Zum Denkstil der österreichischen Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Wien 1999, Bd. 1, 253–296, 255. Siehe dazu auch: Roger Bauer, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, Heidelberg 1966, 12; Haller, Bernard Bolzano, 44; Sauer, Verhinderte Kanttradition, 303. 58 Fritz Strich, Franz Grillparzers Ästhetik, Berlin 1905, 6. 59 Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848, Wien 1991, 97. 60 Barry Smith, The Production of Ideas: Notes on Austrian Intellectual History from Bolzano to Wittgenstein, in: Derselbe (Hg.), Structure and Gestalt: Philosophy and Literature in AustriaHungary and Her Successor States, Amsterdam 1981, 211–231, 219. 61 Zöllner, Geschichte Österreichs, 379. 62 Walter Seitter, Unzeitgemäße Aufklärung. Franz Grillparzers Philosophie, Wien 1991, 23f.

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Heraldik, Landwirtschaft, Numismatik, Pädagogik, Technologie, lebende Sprachen und weitere Bereiche.63 Grillparzer hatte seine ersten Studien, die den zeitigen Kontakt mit Kants Lehre nach sich zogen, sowie seinen ‚spießigen‘ Professor in folgender Erinnerung resümiert: Er hatte eine ‚Philosophie ohne Beinamen‘ als Vorlesebuch geschrieben und hielt sich für ganz selbstständig, bloß weil er die Neuerungen Kants von sich stieß, indes sein System, nichts als der bare Wolfianismus [sic] war. Oft, erinnere ich mich, rief er während der Vorlesung aus: Komm her, o Kant, und widerlege mir diesen Beweis!64

Wenn auch mehrere Forscher glaubten, dass dieser anonyme Professor mit Leopold Rembold (1787–1844) ident wäre,65 scheint dennoch plausibler, dass hier der schon vorher genannte Philosoph Franz Karpe karikierend dargestellt wurde, wie die einschlägige Fachliteratur primär vertritt.66 Hierfür sprechen mehrere Argumente: 1. Karpes Verdikt zu Kants Lehre geriet äußerst negativ,67 während Rembolds Sympathien weithin bekannt waren, die dann auch seine letztliche Entlassung bewirkten;68 2. Die vorstehend angeführte Darstellung der Philosophie ohne Beynahmen in einem Lehrbegriffe als Leitfaden bey der Anleitung zum liberalen Philosophiren (Wien 1802–1803) ist von Franz Karpe verfasst worden; 3. Zu Grillparzers Studienzeit (1804–1806) hat Leopold Rembold, welcher damals 17 Jahre alt war, keinesfalls universitäre Vorlesungen durchgeführt, da er 1811 Adjunkt an der Wiener Fakultät für Philosophie wurde69 und ihm dann erst nach einem beruflichen Intermezzo am Grazer Lyzeum (1814) im Jahr 1817 eine ordentliche Anstellung an der Alma Mater Rudolphina eröffnet werden konnte.70 Samuel Karpe folgte aber auch bei den von ihm aufgesetzten Lehrbüchern (Compendiaria philosophiae moralis institutio, Wien 1804 und Institutiones philosophiae dogmaticae perpetua Kantianae disciplinae ratione habita, Wien 63 Heindl, Gehorsame Rebellen, 133. 64 Franz Grillparzer, Selbstbiographie, in: Derselbe, Sämtliche Werke, SW 4, München 1965, 20– 178, 40. 65 Haslmayr, Biedermeier, 286; Schnedl-Bubenicˇek, Einleitung, 11. 66 Wilhelm Börner, Grillparzer und Kant, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 26 (1913), 242–251, 243; Friedrich Kainz, Grillparzer als Denker. Der Ertrag seines Werks für die Weltund Lebensweisheit, Wien 1975, 57; Seitter, Unzeitgemäße Aufklärung, 23; Fritz Störi, Grillparzer und Kant, Frauenfeld 1935, 22; Strich, Grillparzers Ästhetik, 6. 67 Sauer, Verhinderte Kanttradition, 310. 68 Schnedl-Bubenicˇek, Einleitung, 11. 69 Jutta Valent, Die Grazer Universität zur Zeit Josephs II. und die Lyzeumsjahre, in: Thomas Binder et al. (Hg.), Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie an der Universität Graz, Amsterdam 2001, 91–116, 106 70 Stephan Peter Barta, Die politisch verfolgten Professoren des österreichischen Vormärz, Dissertation Wien 1966, 107.

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1804) den erörterten Prinzipien der Rottenhanschen Studienordnung niemals gänzlich:71 Er war hier zwar unbeirrter Anhänger der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie und behandelte demgemäß Kants Lehre durchweg polemisch, beging jedoch das ‚kapitale‘ Vergehen, sie mit dem dogmatischen Rationalismus geradeswegs zu konfrontieren, was dezidiert untersagt war und ihm mehrere Konflikte eintrug.72 Dieses ‚Delikt‘ führte aber auch dazu, dass Grillparzer durch einen kantkritischen Wissenschaftler mit Kants Kritizismus erstmals bekannt gemacht wurde, denn auch eine polemische Referierung von spezifischen Lehrgebäuden hatte deren fundamentale Komponenten aus negativer Perspektive inhaltlich vermitteln können. Einen Begriff von Kants Philosophie, der pauschale Polemiken übersteigt, hat Grillparzer dann aber erst durch seinen Mentor Joseph Schreyvogel wirklich erhalten, dessen betreffende Bemühungen anschließend besprochen werden.

6.

Schreyvogel, Grillparzer, Kant und die deutsche Romantik

Joseph Schreyvogel, der dem Wiener Burgtheater mit dem Jahr 1814 faktisch vorstand,73 war ein klassischer Josephiner, der dem Franziszeischen Regierungsgeist mehrmals öffentlich opponierte.74 Schreyvogels Beschäftigung mit Kants Lehre, dessen praktische Philosophie von ihm besonders geschätzt wurde, begann während seiner juristischen Ausbildung und fand nach erneuter Lektüre (1810–1813) – die neben allen Kritiken auch dessen kleinere Schriften umfasste – abermalige Resonanz: Kant war ihm gemäß einer Tagebucheintragung vom 8. Januar 1813 der „tiefste und reinste Geist, der jemals schrieb und lehrte“.75 Die journalistische Betriebsamkeit Schreyvogels setzte zwar noch bei der Wiener Zeitschrift Hoffmanns ein, die als „agitatorisches Sprachrohr“ der absoluten

71 Haller, Historiographie der österreichischen Philosophie, 43. 72 Sauer, Österreichische Philosophie, 299; Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 47. 73 Hans-Joachim Hinrichsen, „Bertas Lied in der Nacht“ (D653). Schubert, Grillparzer und das Wiener Volkstheater, in: Walther Dürr, Siegfried Schmalzriedt und Thomas Seyboldt (Hg.), Schuberts Lieder nach Gedichten aus seinem literarischen Freundeskreis. Auf der Suche nach dem Ton der Dichtung in der Musik. Kongressbericht Ettlingen 1997, Frankfurt am Main 1999, 135–155, 141. 74 Elisabeth Buxbaum, Joseph Schreyvogel. Förderer und Freund Grillparzers, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 96 (1992), 27–38, 28. 75 Joseph Schreyvogel, Tagbucheintrag vom 8. Januar 1813, in: Joseph Schreyvogels Tagebücher 1810–1823, 2 Bände, hg. v. Karl Glossy, Berlin 1903, Bd. 1, 228. Vgl. auch: Wilhelm Baum, Wien als letzter Zufluchtsort der Aufklärung. Josef Schreyvogel: Die Philosophie Kants als Bollwerk gegen die ‚neue Schule‘ der Wiener Romantik, in: Benedikt, Knoll und Rupitz (Hg.), Bildung und Einbildung, 283–298, 295; Gabriele Geml, Joseph Schreyvogel – Die kantische Moralphilosophie als Lebenskunst, in: Waibel (Hg.), Umwege, 314–323.

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Monarchie fungierte,76 ging aber bald zur Österreichischen Monatsschrift Johann Baptist Alxingers (1755–1797) über, dem „letzte[n] österreichische[n] Aufklärungsorgan“,77 das vor allem gegen das Magazin der Kunst und Literatur des ExJesuiten Hofstätter beständig ankämpfte, das Hoffmanns Ablehnung von Kants Lehre getreu vertrat.78 Dort wurden ebenso mehrere Einzelstudien Schreyvogels gedruckt, die auf Kantische Gedanken referieren und sogar dessen damals bereits offiziell verbotene Religionsschrift – die von der katholischen Kirchenzensur schleunig indiziert wurde – affirmativ erwähnten (Der Glaube an Vorsehung nach Grundsätzen der reinen Vernunft, 1794).79 Schreyvogel kritisierte ebenfalls „Gesinnungsterror“ und „Präventivjustiz“ der Franziszeischen Gegenaufklärung, die von Pergens Polizei immer heftiger forciert wurde.80 Nachdem Alxingers Zeitschrift unter nicht näher bekannten Umständen im Juni 1794 definitiv aufgelöst wurde und Schreyvogel sich auch bekenntnishaft verabschiedet hatte (Die Republik der Philosophen, 1794), reiste dieser nach Weimar, wo er mit Fichte, Goethe, Herder, Schiller und Wieland Umgang pflegte.81 Als Schreyvogel dann nach etwa zwei Jahren in die Habsburgische Residenzstadt zurück kehrte, wurden seinerseits persönliche Verbindungen zur Josephinischen Führungsschicht vorangetrieben und neuerliche literarische Projekte eingeleitet (Das Sonntagsblatt), die die mächtiger werdende Romantik kritisch prüften.82 Grillparzers Freundschaft mit dem rastlosen Josephiner wurde durch die von beiden Autoren zeitgleich abgefasste Übersetzung von Calderóns (1600–1681) La vida es sueño begründet, wobei deren dichterische Gediegenheit Schreyvogel auf den jungen Beamten hinwies.83 Seine überaus wichtige Funktion für die aktuelle Thematik bestand jedoch darin, dass Schreyvogel dem jüngeren Kollegen die inhaltliche Bedeutung der kritischen Philosophie nahelegte und ihm am 15. 3. 1817 Kants Werke empfehlend aushändigte.84 Schreyvogels Erinnerungen protokollieren diesbezüglich nachfolgende Bemerkungen: „Ich habe Grillparzern die Hauptwerke von Kant gegeben. Vielleicht findet er Beruhigung darin.“85 Grillparzer dürfte zuvor einzig durch einen privaten Lesekreis, in dem Kants Naturrecht diskutiert wurde, seine „für uns […] neue“ kritische Philosophie 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

Buxbaum, Joseph Schreyvogel, 28. Sauer, Österreichische Philosophie, 114. Baum, Zufluchtsort der Aufklärung, 285. Topitsch, Kant in Österreich, 239. Sauer, Österreichische Philosophie, 218. Baum, Zufluchtsort der Aufklärung, 286. Buxbaum, Joseph Schreyvogel, 28. Buxbaum, Joseph Schreyvogel, 27. Baum, Zufluchtsort der Aufklärung, 297f. Joseph Schreyvogel, zit. n. Franz Grillparzer, Aus Josef Schreyvogels Tagebuch [Gespr. II, 52], in: Franz Grillparzer, Zeugnisse und Gespräche, SW 4, 879–986, 888.

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gelesen haben, ohne dass sie auf ihn nachhaltig eingewirkt hätte.86 Auch Grillparzers Tagebücher lassen dessen gleichzeitige Beschäftigung mit „den Alten und mit Kants Philosophie“, die ihm „erst seit kurzem bekannt geworden war“, nach seiner aufwendigen Versifizierung von Das goldene Vlies plausibel scheinen.87 Da Grillparzers Tetralogie im Jahr 1821 fertig wurde, ihm Kants Werke seit etwa vier Jahren präsent waren und die Kantisch geprägten Aphorismen „Zur Kunstlehre“ im Jahr 1819 notiert wurden, wird eine ungefähre Abwägung der historischen Konstellation durchführbar. Schreyvogel stiftete jedoch nicht nur die generelle Beziehung zur Philosophie Kants, sondern ebenso das inhaltliche Verständnis Grillparzers, da sie von ihm als direktes Bollwerk zur deutschen Romantik aufgefasst wurde.88 Kants Lehre stimmte für ihn mit „methodisch kontrolliertem, verantwortlichen Philosophieren“ überein und war „eine Arbeit des Geistes; die Philosophien der Spätern sind geistige Schwelgereien“.89 Wenn Grillparzer in seinem späteren Nekrolog (1850/51) auf den von ihm verehrten Mediziner Ernst von Feuchtersleben (1806– 1849) dessen intimes Verhältnis zur kritischen Philosophie resümiert, kann also durchaus vermutet werden, dass hier auch seine persönliche Auffassung durchscheint: Beinahe kein Feld des menschlichen Wissens blieb ihm fremd. In der Philosophie war Kant sein Mann. Diese Philosophie der Bescheidenheit, die das demütige ‚Ich weiß nicht‘ an die Spitze des Systems stellt, das Gegebene als eines Beweises ebenso wenig fähig als bedürftig zum Ausgangspunkt nimmt, völlig zufrieden, wenn sie das logisch Richtige, Würdige und allen Förderliche damit in Übereinstimmung bringen kann; die, gerade weil sie dem Denken seine Grenzen setzt, der Ahnung und Empfindung möglich macht die leer gewordenen Räume als Religion und Kunst auszufüllen – Kants Philosophie war die seinige.90

Der damals enorme Zustrom von romantischen Intellektuellen, welcher diverse namhafte Vertreter um das Jahr 1805 an die Stadt Wien binden sollte – zum Beispiel Brentano, Gentz, Grimm, Müller, Tieck, Werner und die Brüder Schlegel –, festigte hierbei Kants Rolle als ‚Antipode‘ der Romantik. Schreyvogel lehnte dabei die für ihn unangebrachte Überschätzung der ‚deutschen‘ Kulturwelt bei gleichzeitiger Geringachtung von klassischen Schriftstellern ab,91 sah die nach86 87 88 89 90

Grillparzer, Selbstbiographie, 48. Grillparzer, Selbstbiographie, 110. Domandl, Wiederholte Spiegelungen, 62. Sauer, Österreichische Philosophie, 330. Franz Grillparzer, Meine Erinnerungen an Feuchtersleben (1850/51?), SW 4, 221–224, 222f. Vgl. zu Feuchterlebens Rezeption von Kants Philosophie: Gabriele Geml, Ernst Freiherr von Feuchtersleben – Kant und die Vorgeschichte der Psychotherapie in Österreich, in: Waibel (Hg.), Umwege, 323–335. 91 Baum, Zufluchtsort der Aufklärung, 289. Vgl. Franz Grillparzer, Mit Mittelhochdeutsch und Volkspoesie … (1837), in: Derselbe, Epigramme, SW 1, München 1960, 367–594, 426: „Mit

Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik-)Ästhetik

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trägliche Nobilitierung des ‚ritterlichen‘ Mittelalters als „seltsamen Schwindel“,92 der durch einen höchst nebulosen Mystizismus grundiert sei, und kritisierte wiederholt bestimmte Eigenheiten der romantischen Bewegungen: „ihre Philosophie, die Frömmelei, das mystische Getue.“93 Kants Lehre wurde dabei zum zentralen Garanten von rationaler Reflexion und vernünftiger Bescheidung, die mit der opulenten Phantasie der deutschen Romantiker unmittelbar kontrastiert wurde, was dem ‚gemeinen‘ Scharfsinn seine absolut legitime Stellung zuteilte.94 Dieses Verdikt kann auch in Grillparzers Aphorismen entdeckt werden, wo er der kritischen Limitation der rationalen Fakultäten billigend begegnet: „Kants Philosophie ist die wissenschaftliche Anerkennung der menschlichen Beschränktheit“.95 Der entschieden historische Ansatzpunkt der deutschsprachigen Kunstphilosophie in Hegels Schule wird von ihm ebenfalls abgelehnt, da diese gegen Kants Lehre kritiklos versuche, artistische Schönheit nach begrifflichen Parametern abzuschätzen.96 Grillparzer fasst seine akontextuelle Kunstreflexion unter anderem poetisch: „Die Kritiker, will sagen: die neuen, / Vergleich ich den Papageien, / Sie haben drei oder vier Worte, / Die wiederholen sie an jedem Orte. / Romantisch, klassisch und modern / Scheint schon ein Urteil diesen Herrn / Und sie übersehen in stolzem Mut / Die wahren Gattungen: schlecht und gut“.97 Auch Peter Wittmann hat die ahistorische Anschauung Grillparzers akzentuiert, die später äußerst relevant wird:

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Mittelhochdeutsch und Volkspoesie / Weiß ich fürwahr nichts zu machen. / Wer trinkt auch, solang es Brunnen gibt, / Aus Wegspur gern und Lachen. / Und fragst du mich, wo der Brunnen sei; / Hast du Homer nicht gelesen? / Fällt dir der große Brite nicht bei, / Was Spanien und Welschland gewesen? / Dort lösche deinen brennenden Durst, / Dort aus dem Vollen dich letze! / Der Pöbel erzeugt das Schöne nicht, / Noch gibt er dem Schönen Gesetze.“ Robert Mühlher, Ontologie und Monadologie in der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Joseph Stummvoll (Hg.), Die österreichische Nationalbibliothek. Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum des Generaldirektors Univ.-Prof. Dr. Josef Bick, Wien 1948, 488–504, 488. Herbert Seidler, Österreichischer Vormärz und Goethezeit. Geschichte einer literarischen Auseinandersetzung, Wien 1982, 108. Siehe dazu auch: Roger Bauer, Die ‚Neue Schule‘ der Romantik im Urteil der Wiener Kritik, in: Zeman (Hg.), Österreichische Literatur, 221–229. Vgl. Franz Grillparzer, Weh mir! … (1849), in: Derselbe, Gedichte, SW 1, 9–366, 330f: „Weh mir! ich bin verrückt. / Ich hoffs zu Deutschlands Ehre, / Denn, wenn ich es nicht wäre, / Wär Deutschland selbst verrückt. / Denkt nur – ich sags mit Schaudern – / Der deutschen Weisheit Zier / Scheint mir ein leeres Plaudern, / Fast schäm ich mich vor mir. / Was ihre Philosophen / Erschaut in Gottes Geist, / Scheint – ohne Vers und Strophen – / Mir Dichtung allermeist. / Und zwar von schlechtster Sorte, / Wo Meistrin Phantasie / Zu Nebeln ballt die Worte, / Doch zu Gestalten nie. / Viel Wissen der Gelehrten, / Vielwisserei genannt, / Nimmt sie nicht als Gefährten / Den leitenden Verstand.“ Franz Grillparzer, Zur Literargeschichte (1848), in: Derselbe, Studien und Aufsätze, SW 3, München 1964, 715–722, 716. Seitter, Unzeitgemäße Aufklärung, 165. Franz Grillparzer, Die Kritiker … (1856), in: Derselbe: Epigramme, SW 1, 542.

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Die Verlagerung der Bewertung von ästhetischen Kriterien zur Analyse inhaltlicher Probleme vor dem Hintergrund des historischen Kontexts lehnt Grillparzer somit ab. Für ihn steht das Kunstwerk, das unabhängig von Zeit und Raum erfaßt werden kann, im Vordergrund. Die Poesie ist für ihn letztlich eine unbegreifbare Wahrheit, die […] ganz im Sinne Kants: ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ ist.98

Wie mit Grillparzers Einschätzung der verschiedenen Kunstepochen ersichtlich geworden ist, ruhte diese nachteilige Entwicklung für ihn auf Hegels System, das negative Resultate generiere, welche dessen Schülern besonders angelastet wurden:99 „Das Hegelsche Kriegsvolk, entlassen / Aus dem Dienste der Philosophie, / Macht jetzt unsicher die Straßen / Der Geschichte und Poesie“.100 Grillparzers Hegel-Skepsis wird auch durch manch andere kritische Passagen bezeugt, weshalb Walter Seitter korrekt betonen konnte, dass dieser gewiss der unbedingten „Spitzengruppe“ von Grillparzers Seitenhieben zugerechnet werden müsste: Kants Philosophie wird für Grillparzer zum Ausgangspunkt einer lebenslangen Beschäftigung mit Philosophie und zum Maß, an dem alle anderen folgenden Systeme […] gemessen werden. Hegel dagegen wird mit zunehmendem Alter Grillparzers beinahe zum Synonym aller negativen Veränderungen politischer, gesellschaftlicher und literarischer Natur.101

Grillparzers Kritikpunkte sowie seine positivistische Grundeinstellung wurden besonders vehement,102 wenn hegelianisches Philosophieren nicht mehr die

98 Peter Wittmann, Zu Grillparzers Rezeption von Kant und Hegel, in: Benedikt, Knoll und Rupitz (Hg.), Bildung und Einbildung, 529–540, 537f. Vgl. auch: Robert Mühlher, Grillparzer und der deutsche Idealismus. Ein Beitrag zum Säkularisationsproblem, in: Wissenschaft und Weltbild 1 (1948), 62–75. 99 Hegels Person war ihm dagegen durchaus angenehm, wie bei einigen knappen Notizen aus dem Jahr 1826 gelesen werden kann: „Ich ging daher hin und wiederholte dem Meister [Hegel; AW]: der Grund worum ich ihn nicht früher besucht, wäre, weil man bei uns erst bis zum alten Kant gekommen und mir daher sein, Hegels, System ganz unbekannt sei. Um so besser, versetzte, höchst wunderlich, der Philosoph. Es schien, als ob er besonders an meinem Goldenen Vließ Interesse genommen habe, obwohl wir uns kaum darüber und überhaupt über Kunstgegenstände nur im allgemeinen besprachen. Ich fand Hegeln so angenehm, verständig und rekonziliant, als ich in der Folge sein System abstrus und absprechend gefunden habe.“ Grillparzer, Selbstbiographie, SW 4, München 1964, 137f. 100 Franz Grillparzer, Marodeurs (1857), in: Derselbe, Epigramme, SW 1, 547. 101 Seitter, Unzeitgemäße Aufklärung, 25. Siehe dazu etwa zwei interessante Epigramme Grillparzers an Hegels Adresse: „Möglich, daß du uns lehrst, prophetisch das göttliche Denken, / aber das menschliche, Freund, richtest du wahrlich zu Grund.“ Franz Grillparzer, Hegel (1839), in: Derselbe, Epigramme, SW 1, 435). „Was mir an deinem System am besten gefällt? / Es ist so unverständlich als die Welt.“ Franz Grillparzer, Hegel (1850), in: Derselbe, Epigramme, SW 1, 504. 102 Zum Positivismus als überaus typische Disposition der österreichischen Philosophie vergleiche einführend: Wolfgang Stock, Die Erfassung der österreichischen Nationalphilosophie

Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik-)Ästhetik

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‚faktische‘ Außenwelt und die apriorischen Bedingungen ihrer perzeptiven Erkenntnis behandelte, sondern selbige nach theoretischen Vorstellungen ändern wollte.103 Diese These kann man bei Grillparzers Abhandlung Über den gegenwärtigen Zustand der dramatischen Kunst in Deutschland (1835) ausführlich nachprüfen: Die deutsche Philosophie hatte kaum durch Kant ihre große Umwälzung vollbracht und in ihren ersten Ausbildungs-Formen Bestand und Platz gewonnen, als sie auch, ziemlich revolutionär anfing, ihre Usurpationen über benachbartes und weltfremdes Gebiet auszudehnen. Wobei jedoch vor allem Kant selbst ausgenommen werden muß.104

Kant galt ihm als klarer Denker, der etwa auch innerhalb artistischer Thematiken die geeignete Richtlinie darstellte, um der ‚romantischen Schwülstigkeit‘ sowie deren ‚grotesken Auswüchsen‘ wirkungsvoll vorzubeugen: Jeder, der sich der Literatur, wenn auch bloß der schönen, widmen will, sollte Kants Werke studieren, und zwar, abgesehen vom Inhalt, schon bloß wegen ihrer strenglogischen Form. Nichts ist mehr geeignet an Deutlichkeit, Sonderung und Präzision der Begriffe zu gewöhnen, als dieses Studium und wie notwendig diese Eigenschaften selbst dem Dichter sind, leuchtet wohl ein […].105 (1820)

7.

Kants Genie-Begriff und Grillparzers Musikästhetik

Wegen dieser prinzipiellen Einschätzung kann kaum wirklich erstaunen, wenn Kants Genie-Begriff durch seine klassizistische Grundorientierung auf Grillparzers Reflexionen besonders nachhaltig wirkte.106 Kants Urteilskritik, die in der erhaltenen Bibliothek Grillparzers aufgefunden werden konnte, war ihm bestens bekannt: Denn bevor dieser Kants Werke käuflich erworben hatte, wurden von ihm ausgiebige Abschriften aus deren erster Einleitung erstellt,107

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im Rahmen der empirischen Metaphilosophie. Ein Beitrag zur Methode der Historiographie der Philosophie, in: Nyíri (Hg.), Von Bolzano zu Wittgenstein, 54–73. Wittmann, Grillparzers Rezeption, 539f. Auch Miotti teilte diese ‚positiven‘ Vorbehalte und wollte Kants Lehre tilgen, um alle jene Denker, „welche ihre Philosophie nach der existirenden Welt, nicht die existirende Welt nach ihrer Philosophie einrichten“, anzuspornen: Lechner, Gelehrte Kritik und Restauration, 27. Franz Grillparzer, Über den gegenwärtigen Zustand der dramatischen Kunst in Deutschland (1834/35), in: Derselbe, Studien und Aufsätze, SW 3, 686–696, 692. Franz Grillparzer, Zur Ästhetik [Tgb. 622, 1820], in: Derselbe, Studien und Aufsätze, SW 3, 211–258, 241. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2009. Hier: § 46, AA 5, 307f. Franz Grillparzer, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 42 Bände in 3 Abteilungen, hg. v. August Sauer und Reinhold Backmann, Wien 1909–1948, Abt. 2, Bd. 7, 323ff.

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was – neben häufig zitierten Passagen aus späteren Perioden108 – die genauere Kenntnis der Dritten Kritik Kants plausibel scheinen lässt, die auf das Jahr 1820 datiert werden kann.109 Wenn auch stets relativ unsicher ermittelt werden kann, welche Texte einer Person realiter vertraut waren – eine erhaltene Bibliothek, markierte Passagen oder auch wörtliche Anleihen bieten dafür keine stabile Basis –, darf dennoch vermutet werden, dass Grillparzer auch Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bekannt gewesen war. Diese These wird durch einen knappen Hinweis aus Grillparzers Tagebüchern textlich erhärtet, in denen dieser darauf eingeht, dass Kants Schrift „die Seekrankheit […] der Einbildungskraft“ vorzugsweise zugeschrieben hat.110 Grillparzers äußerst akkurate Lektüre geht hier daraus hervor, dass diese erwähnte Textstelle in § 26 als Element einer Fußnote beiläufig auftaucht, die bei lediglich flüchtiger Durchsicht mutmaßlich überlesen worden wäre. In beiden Werken wird Kants Genie-Begriff detailliert erläutert, wobei zuerst dessen spätere Analyse zitiert werden soll: Nun heißt das Talent zum Erfinden das Genie. Man legt aber diesen Namen immer nur einem Künstler bei, also dem, der etwas zu machen versteht, nicht dem, der blos vieles kennt und weiß; aber auch nicht einem blos nachahmenden sondern einem seine Werke ursprünglich hervorzubringen aufgelegten Künstler; endlich auch diesem nur, wenn sein Product musterhaft ist, d.i. wenn es verdient, als Beispiel (exemplar) nachgeahmt zu werden.111

Kants Fokus auf die musterhafte Originalität, die von Grillparzers Aphorismen ebenfalls beständig diskutiert wird, scheint hierbei besonders bedeutsam. In Die Kunstverderber (1852) trennt dieser die „ausgezeichneten Künstler“ in „Vortreffliche“ und „Mustergiltige“, die lediglich deswegen differieren, da „vortreffliche“ Produzenten eine lediglich subjektive Richtung beschreiten, während letztere eine allen zuträgliche Strömung fortführen: „Auf den eigentlich großen Künstler übt das von seinen Vorgängern Übernommene als Vorhandenes die Macht eines Natürlichen und er macht es wie alle andern, nur unendliche Male besser.“112 Beide Denker waren darin einig, dass artistische Genialität nicht durch abstrakte Vorgaben erreicht werden könne, sodass philosophische Kunstkonzepte betreffs kreativer Prozesse eine lediglich korrektive Funktion erfüllen würden: „Man kann richtig denken ohne Logik, rechtschaffen handeln ohne Moral und 108 So wird etwa Kants „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ mehrmals angeführt: Vgl. Franz Grillparzer, Studien und Aufsätze, SW 3, 216f., 225f., 284. 109 Störi, Grillparzer und Kant, 23. 110 Franz Grillparzer, Tagebücher, SW 4, 225–727, hier: [Tgb. 601, 1820], 353. 111 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin 1917, 224. 112 Franz Grillparzer, Die Kunstverderber (1852?), in: Derselbe, Zur Ästhetik, SW 3, 250–252, 252.

Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik-)Ästhetik

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das Schöne empfinden, ja hervorbringen ohne Ästhetik. […] [D]ie Wichtigkeit jener Theorien liegt weniger in dem Nutzen der wahren, als in der absoluten Schädlichkeit der falschen.“113 Eine regelrecht empirische Wissenschaft von ‚schönen Künsten‘, die mit unumstößlichen Beweisgründen fassen könne, ob „etwas für schön zu halten sei oder nicht“, wird auch in Kants Werk dezidiert geleugnet: Dieses Urteil würde, „wenn es zur Wissenschaft gehörte, kein Geschmacksurteil sein“,114 da es keinesfalls bestimmend, das heißt nach objektiven Richtlinien operieren kann, die das freie Spiel der menschlichen Erkenntniskräfte schließlich verhindern würden.115 Grillparzer bekundet durchaus ähnliche Ansichten, wobei deren theoretische Begründung von ihm um aufklärerische Gedankengänge ergänzt worden ist, die dem ehemaligen Josephinismus entstammten:116 Wozu also eine Ästhetik wenn sie weder lehren kann, wie das Schöne hervorzubringen, noch wie es mit Geschmack zu genießen ist? Dazu, weil es die Sache eines vernünftigen Menschen ist, sich von allen seinen Handlungen und Urteilen einen Grund angeben zu können. Wenn die Ästhetik auch keine Rechenkunst des Schönen ist, so ist sie doch die Probe der Rechnung […].117

Dass Grillparzers Kunsttheorie die Kantischen Positionen selektiv aufnahm, um das eigene, vorweg existente Konzept philosophisch zu untermauern und sie daher keine minutiöse Übernahme von Kants Lehre war, scheint folglich plausibel. Dieses Schema wird besonders eindeutig, wenn man den Genie-Begriff Grillparzers exakter erörtert: Für Kant fußt musterhafte Originalität, die sich nicht nach abstrakten Vorschriften, sondern dagegen vielmehr nach praktischen Prozessen konstituiert, auf einem notwendigen „Mechanismus […] ohne welchen der Geist, der in der Kunst frei sein muß und allein das Werk belebt, gar keinen Körper“ haben würde.118 Grillparzer deutet erneut Kants These als antizipative Gegenposition zum romantischen Genie-Kultus, der die konsequente Suspendierung jeglicher tradierter ‚Regeln‘ bezwecke oder diese einem gegebenen Gegenstand auf eigene Faust anpasse. Zitat Kant: „Das Genie kann nur reichen Stoff zu Produkten der schönen Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben und die Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen Gebrauch davon zu machen, der vor der Urteilskraft bestehen kann.“119 Der Konflikt von Genie und Regel, der mit dem neunzehnten Jahrhundert besonders 113 114 115 116

Franz Grillparzer, Zur Ästhetik [Tgb. 3819 (1845/46?)], SW 3, 214f. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 44, AA 5, 305. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 9, AA 5, 219. Wynfrid Kriegleder, Grillparzer und der Josephinismus, in: Jahrbuch des Wiener GoetheVereins 96 (1992), 17–26. 117 Franz Grillparzer, Zur Ästhetik [Tgb. 873 (1820/21)], SW 3, 213f. 118 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 43, AA 5, 304. 119 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 47, AA 5, 310.

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prominent wurde und bei der Musik eine virulente Spannung zwischen ‚Formalästhetik‘ und ‚Ausdrucksästhetik‘ langzeitig grundierte, wurde unter divergenten historischen Bedingungen somit bereits damals erörtert: „[D]a manche neuere Erzieher eine freie Kunst am besten zu befördern glauben, wenn sie allen Zwang von ihr wegnehmen, und sie aus Arbeit in bloßes Spiel verwandeln“,120 müsse bewusst erinnert werden, dass jede Kunst Regeln nötig hätte, „durch deren Grundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt wird“.121 Artistische Schönheit ist das „Produkt des Genies“, das „der Kunst die Regel“ gibt, kann also nicht einem objektiven Begriff nachfolgen: „Man sieht hieraus, daß Genie ein Talent sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse.“122 Weil Kant aber weiß, dass auch „originaler Unsinn“ geschaffen werden könnte, müssen ‚geniale‘ Künstler nicht lediglich individuell, sondern zugleich „exemplarisch“ produzieren,123 um auf die möglichen Nachfolger vorbildhaft einzuwirken, weswegen ästhetische Originalität mit etablierten Traditionen kombiniert werden müsste, ohne dass „die Schulform durchblickt, d.i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe“.124 In Kants Anthropologie wird dies noch deutlicher artikuliert: Der Mechanism der Unterweisung weil diese jederzeit den Schüler zur Nachahmung nötigt, ist dem Aufkeimen eines Genies, nämlich was seine Originalität betrifft, zwar allerdings nachtheilig. Aber jede Kunst bedarf doch gewisser mechanischer Grundregeln, nämlich der Angemessenheit des Products zur untergelegten Idee, d.i. Wahrheit in der Darstellung des Gegenstandes, der gedacht wird. […] Die Einbildungskraft aber auch von diesem Zwange zu befreien, und das eigenthümliche Talent, sogar der Natur zuwider, regellos verfahren und schwärmen zu lassen, würde vielleicht originale Tollheit 120 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 43, AA 5, 304. 121 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46, AA 5, 307. Vgl.: „Obzwar mechanische und schöne Kunst, die erste als bloße Kunst des Fleißes und der Erlernung, die zweite als die des Genies, sehr von einander unterschieden sind: so gibt es doch keine schöne Kunst, in welcher nicht etwas Mechanisches, welches nach Regeln gefaßt und befolgt werden kann, und also etwas Schulgerechtes die wesentliche Bedingung der Kunst ausmachte.“ Kant, Kritik der Urteilskraft, § 47, AA 5, 310. 122 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46, AA 5, 307f. 123 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46, AA 5, 308. 124 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46, AA 5, 307. Vgl.: Martin Gammon, ‚Exemplary Originality‘: Kant on Genius and Imitation, in: Journal of the History of Philosophy 35 (1997), 563–592; Peter Lewis, ‚Original Nonsense‘: Art and Genius in Kant’s Aesthetic, in: George Ross und Tony MacWalter (Hg.), Kant and His Influence, New York 1990, 126–145; Yu Liu, Celebrating Both Singularity and Commonality: The Exemplary Originality of the Kantian Genius, in: International Philosophical Quarterly 52 (2012), 99–116.

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abgeben; die freilich nicht musterhaft sein, und also auch nicht zum Genie gezählt werden würde […].125

Kants Lehre verficht jedoch keinerlei illiberale Dogmatik, die tradierte ‚Gesetze‘ als starren Maßstab jeglicher künftigen Entwicklung bestimmt, sondern dagegen vielmehr einen dynamischen Wandlungsprozess, der hier auch Grillparzers Anschauung durchweg entspricht. Für Kant ist das geniale Produkt keine unmittelbare „Nachahmung“, sondern kreative „Nachfolge“ des späteren Künstlers, der „zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird, Zwangsfreiheit von Regeln so in der Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt, wodurch das Talent sich als musterhaft zeigt“.126 Grillparzer bildet diesen Kantischen Gedanken folgerecht weiter, indem dieser betreffs ästhetischer Kontroversen akzentuierte, dass nicht abstrakte Diskurse (die objektive Maximen niemals fixieren können), sondern dagegen aktive Dichter schuld seien, wenn die poetische Produktion der eigenen Epoche qualitativ abklingen würde: Das ist oft gesagt worden und daher nichts Neues. Meistens aber wurde der Satz so gebraucht, als ob es die eigentlich schlechten Künstler wären, die dieses Verderbnis herbeiführen. Das ist aber ganz unwahr. Die schlechten Dichter bleiben unbeachtet, und die mittelmäßigen unterhalten, oft ganz mit Recht, die Menge […]. Die ausgezeichneten Künstler sind es, die die Kunst verderben, wenn sie sich individuellen Richtungen mit zu großer Vorliebe hingeben […].127

Diese sozusagen subjektiven Richtungen sind für den ‚vortrefflichen‘ Kunstschöpfer durchaus produktiv, doch wenn selbiger jegliche vorhandenen Konventionen durchbreche sowie dessen buchstäblich exzentrische Befähigung nicht zügle, würden ebenso untalentierte Apologeten angestachelt, eine für sie untaugliche Richtung einzuschlagen: „Man schreit jetzt in allen Künsten so sehr gegen die Regeln, und daß das Genie sich durch sie nicht könne binden lassen. Das letztere ist wohl auch wahr. Aber durch gänzliches Aufheben der Regeln auch jene Köpfe davon zu befreien, die keine Genies sind, muß doch notwendig zum Unsinn führen.“128 Ähnlich Grillparzers Reklamation zur Hegelschen Philosophie werden geniale Künstler somit prekär, wenn deren defizitärer Geschmack nicht genügend ausgeprägt ist und ihr überbordender Individualismus die talentlose Schülerschaft letztlich motiviert, jene spezifischen Charakteristika fortzuführen, die die geregelte Gestaltung hinter sich ließen. Auch Kant bekundet ähnliche Ansichten:

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Kant, Anthropologie, AA 7, 225. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, AA 5, 318. Grillparzer, Die Kunstverderber (1852?), in: Derselbe, Zur Ästhetik, SW 3, 250–252, 251. Grillparzer, Zur Ästhetik [Tgb. 1053 (1822)], SW 3, 245f.

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Aber diese Nachahmung wird Nachäffung, wenn der Schüler alles nachmacht, bis auf das, was das Genie als Mißgestalt nur hat zulassen müssen, weil es sich, ohne die Idee zu schwächen, nicht wohl wegschaffen ließ. Dieser Mut ist an einem Genie allein Verdienst; und eine gewisse Kühnheit im Ausdrucke und überhaupt manche Abweichung von der gemeinen Regel steht demselben wohl an, ist aber keineswegs nachahmungswürdig, sondern bleibt immer an sich ein Fehler […] für dergleichen aber das Genie gleichsam privilegiert ist […].129

Während Grillparzer hierbei betont, dass ‚normale‘ Individuen nach berechneter Erweiterung streben sollten, brauchen dagegen ‚geniale‘ Künstler eine kontrollierte Beschränkung, da lediglich hierdurch „Gestalt“ ins Wirken des Genies komme und „jenes so häufig vorkommende und so zerstörende Verstäuben ins Unermeßliche“ getilgt werden könnte, von dem der freie Geist ständig bedroht werde.130 Diese These schlug sich auch bei Grillparzers Beurteilung des damaligen Musiklebens direkt nieder, dessen kritische Diagnose aus der für ihn zentralen Konzeption der graduellen Erneuerung verständlich ist. Grillparzer betrachtete bekanntlich Wolfgang Amadeus Mozart als ideales Beispiel des genialischen Komponisten, da er Inhalt und Form, Phantasie und Gestaltung, Genialität und Geschmack gebührend vereinigen könne. Dieses Prinzip ist von ihm bei dem feierlichen Trinkspruch zum fünfzigjährigen Mozart-Jubiläum (6. Dezember 1841) explizit benannt worden: „Dem großen Meister in dem Reich der Töne, / Der nie zu wenig tat und nie zu viel, / Der stets erreicht, nie überschritt sein Ziel, / Das mit ihm eins und einig war: das Schöne!“131 Das zur Enthüllung von Mozarts Denkmal (4. September 1842) bestimmte Gedicht Zu Mozarts Feier gibt dann ähnliche Gedanken wieder: Nennt ihr ihn groß? er war es durch die Grenze. / Was er getan und was er sich versagt, / Wiegt gleich schwer in der Schale seines Ruhms. / Weil nie er mehr gewollt, als Menschen sollen, / Tönt auch ein Muß aus allem, was er schuf, / Und lieber schien er kleiner, als er war, / Als sich zu Ungetümen anzuschwellen. / Das Reich der Kunst ist eine zweite Welt, / Doch wesenhaft und wirklich wie die erste, / Und alles Wirkliche gehorcht dem 129 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, AA 5, 318. Vgl.: „Wenn die Frage ist, woran in Sachen der schönen Kunst mehr gelegen sei, ob daran, daß sich an ihnen Genie, oder ob, daß sich Geschmack zeige, so ist das eben so viel, als wenn gefragt würde, ob es darin mehr auf Einbildung, als auf Urteilskraft ankomme. Da nun eine Kunst in Ansehung des ersteren eher eine geistreiche, in Ansehung des zweiten aber alleine eine schöne Kunst genannt zu werden verdient: so ist das letztere wenigstens als unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) das Vornehmste, worauf man in Beurteilung der Kunst als schöne Kunst zu sehen hat. Reich und original an Ideen zu sein, bedarf es nicht so notwendig zum Behuf der Schönheit, aber wohl der Angemessenheit jener Einbildungskraft in ihrer Freiheit zu der Gesetzmäßigkeit des Verstandes.“ Kant, Kritik der Urteilskraft, 209f. (A319f.). Siehe dazu auch: Kathi Meyer, Kants Stellung zur Musikästhetik, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 3 (1920), 470– 482, 475. 130 Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 613 (1820)], SW 3, 353. 131 Franz Grillparzer, Wenn man das Grab … (1841), in: Derselbe, Gedichte, SW 1, 277–279, 277.

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Maß. / Des seid gedenk, und mahne dieser Tag / Die Zeit, die Größres will und Kleinres nur vermag.132

Während Mozart von ihm zum idealen Künstler stilisiert wird, fand jener kanonische Komponist, mit dem Grillparzer besonders vertraulich verkehrte,133 aus den schon zuvor erklärten Motiven lediglich begrenzte Anerkennung: Ludwig van Beethoven.134 Nach Grillparzers Unterteilung der genialen Künstler in „vortreffliche“ und „mustergiltige“ wurde dieser als Teil der ersteren Gattung erachtet und mit Mozarts Werken abschlägig konfrontiert: „Wer die Arien der Constanze in der Entführung hört, merkt, daß Mozart in seinem Anfange dem Punkte näher stand, auf dem Beethoven aufhörte. Die Empfindung herrscht noch vor über die Form. Mit zunehmender Reife aber lernte er, ohne Schaden für die Empfindung, sie der Form unterzuordnen, sie zu gestalten, was Beethoven immer mehr verlernt hat.“135 Hinsichtlich Grillparzers Kantianisch inspirierter Kunsttheorie ist von ihm bei Beethovens Musikwerken das oftmalige „Übertreten der Regeln“ moniert worden, das romantische Komponisten als positives Kriterium werteten, „indes sie [die Regeln, A.W.] doch die Aussprüche des gesunden, unbefangenen Sinnes und als solche unschätzbar sind“ (1834).136 Selbst bei der oft zitierten Grabrede, die Heinrich Anschütz im Herbst 1827 am Währinger Friedhof öffentlich rezitierte, ist ein kritischer Vorbehalt im Kontext der vorstehenden Unterscheidung von „vortrefflich“ und „mustergiltig“ weiterhin bemerkbar: „Der nach ihm kommt, wird nicht fortsetzen, er wird anfangen müssen, denn sein Vorgänger hörte nur auf, wo die Kunst aufhört“ (1827).137 132 Franz Grillparzer, Zu Mozarts Feier (1842), in: Derselbe, Gedichte, SW 1, 283–285, 284f. 133 Zu Franz Schubert, der für Grillparzers Musikdenken ebenso zentral wurde, siehe etwa auch: Dietrich Berke, ‚In einem Style, der an die Erhabenheit der Händel’schen Compositionen erinnert.‘ Schubert und Grillparzer: eine Künstlerfreundschaft?, in: Eva Badura-Skoda et al. (Hg.), Schubert und seine Freunde, Wien 1999, 203–214; Otto Deutsch, Schubert und Grillparzer, in: Österreichische Musikzeitschrift 32 (1977), 497–505; Alfred Orel, Grillparzer und Schubert, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 29 (1930), 56–71. 134 Zur Beziehung von Grillparzer und Beethoven siehe hier etwa: Donald MacArdle, Grillparzer and Beethoven, in: Music & Letters 40 (1959), 44–55; Dale Monson, The Classic-Romantic Dichotomy. Franz Grillparzer and Beethoven, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 13 (1982), 161–175; Alfred Orel, Grillparzer und Beethoven, Wien 1941. 135 Franz Grillparzer, Zur Musik, in: Derselbe, Studien und Aufsätze, SW 3, 873–906, hier: [Tgb. 3618 (1843)], 881. 136 Grillparzer, Zur Musik [Tgb. 2174 (1834)], SW 3, 885. David Levin sieht Grillparzers Spielmann (siehe unten) gar als die persiflierende Repräsentation Beethovens: The Tone of Truth? Music as Counter-Discourse in ‚Der arme Spielmann‘, in: Clifford Bernd (Hg.), Grillparzer’s ‚Der arme Spielmann‘. New Directions in Criticism, Columbia 1988, 287–299, 293f. 137 Franz Grillparzer, Beethoven – Rede am Grabe (1827), in: Derselbe, Zur Musik, 881–883, 882. Grillparzers Denkmuster sollte dabei als fortwährende Argumentation charakterisiert werden, welche primär Beethovens „Nachfolger“ wiederholt abwertete. Siehe dazu auch das folgende Gedicht betreffs Meyerbeers Opernmusik: „Genossen, macht ein ernst Gesicht, / Es geht um unsre Ehre, / Und können wir das Leichte nicht, / Versuchen wir das Schwere. / Setzt

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8.

Alexander Wilfing

‚Der arme Spielmann‘ und Grillparzers Pythagoreismus

Dass Grillparzer zur musikalischen Schwesterkunst ein überaus intimes Verhältnis unterhielt, ist weithin bekannt.138 Bei Der arme Spielmann – Grillparzers singulärer vollendeter Prosadichtung – die nach zehn Jahren Arbeit 1841/42 letztendlich komplettiert und im Jahr 1847 in Heckenasts Almanach Iris (1811– 1878) verspätet gedruckt worden ist,139 kann diese ästhetische Begeisterung sowie deren Kantische Inspiration deutlich verfolgt werden. Die Novelle, die aus der narrativen Perspektive einer anonymen Erzählfigur geschrieben ist, erörtert das desolate Schicksal Jakobs, eines unglücklichen Beamtensohns, der wegen seiner enormen Naivität sozial abfällt und ein bescheidenes Spielmannsleben führt,140 ohne dass dieser seiner einstmaligen bürgerlichen Geborgenheit tatsächlich nachtrauert.141 Ein belebtes Volksfest macht diese unbenannte Erzählerfigur auf den verstiegenen Spielmann aufmerksam, der „eine alte vielzersprungene Violine“ auffallend bearbeitet:

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139 140 141

hoch und höher euch das Ziel, / Verspottet alle Schranken; / Von fern gesehn, erspart man viel, / Vor allem die Gedanken. / Und fehlt uns etwa das Talent, / Genie lacht der Gemeinheit, / Drum, Nullen, schart, so viel ihr könnt, / Euch um die fremde Einheit.“ Franz Grillparzer, Chor der Wiener Musiker beim Berlioz-Feste (1845), in: Derselbe, Gedichte, SW 1, 304f. Zu Grillparzers Weber-Kritik siehe etwa auch: Franz Grillparzer, Der Freischütz, Oper von Maria Weber (1821), in: Derselbe, Zur Musik, SW 3, 885–889. Vgl.: Hartmut Grimm, Die Musikanschauungen Franz Grillparzers und Eduard Hanslicks. Geistesverwandtschaft und Distanz, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 24 (1982), 17–30; Christoph Mahling ‚Das übrige so unbedeutend als die Komposition…‘ Gedanken und Beobachtungen Franz Grillparzers zur Musik und zum Musikleben seiner Zeit, in: Peter Cahn und Ann-Katrin Heimer (Hg.), De musica et cantu. Studien zur Geschichte der Kirchenmusik und der Oper, Hildesheim 1993, 543–578; Joachim Reiber, Von der Kunst der Begrenzung. Franz Grillparzer und die Oper, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 96 (1992), 137–150. Johannes Brockt, Grillparzer and Music, in: Music & Letters 28 (1947), 242–248; Philip Gordon, Franz Grillparzer: Critic of Music, in: The Musical Quaterly 2 (1916), 552–561; Peter Neumann, Einige Bemerkungen über Oper und Volkslied und die Idee der Einheit von Musik und Dichtung von Lessings Laokoon-Fragmenten bis zu Richard Wagner und Heinrich Heine, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 7 (1972), 103–123; Karl Schmidt, Franz Grillparzer und die Musik, in: Musikerziehung 26 (1972), 3–6 und 54–58; Manica Sˇpendal, Grillparzers Gedanken zum Musikleben seiner Zeit, in: Mirko Krizˇman (Hg.), Mariborer GrillparzerSymposion, Maribor 1993, 14–27. Zur Genese und stockenden Rezeption von Grillparzers Spielmann vergleiche allgemein: Clifford Bernd, From Neglect to Controversy: Introducing a Volume of Criticism on ‚Der arme Spielmann‘, in: Derselbe (Hg.), Grillparzer’s ‚Der arme Spielmann‘, 1–8. Zum Abstieg von Grillparzers Spielmann vgl.: Heinz Politzer, Franz Grillparzers ‚Der arme Spielmann‘, Stuttgart 1967, 23f. Zum Kontrast mit romantischen Musikerfiguren, der vor allem daran liegt, dass Grillparzers Spielmann nicht als ein ‚verkanntes Musikgenie‘ gefasst werden sollte, vgl.: Helmut Brandt, Grillparzers Erzählung ‚Der arme Spielmann‘. Eine europäische Ortung der Kunst auf österreichischem Boden, in: Zeman (Hg.), Österreichische Literatur, 343–364.

Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik-)Ästhetik

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[A]ll diese Bemühung, Einheit in seine Leistung zu bringen, war fruchtlos, denn was er spielte, schien eine unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie. Dabei war er ganz in sein Werk vertieft: die Lippen zuckten, die Augen waren starr auf das vor ihm befindliche Notenblatt gerichtet – ja wahrhaftig Notenblatt! Denn indes alle andern, ungleich mehr zu Dank spielenden Musiker sich auf ihr Gedächtnis verließen, hatte der alte Mann mitten in dem Gewühle ein kleines, leicht tragbares Pult vor sich hingestellt, mit schmutzigen, zergriffenen Noten, die das in schönster Ordnung enthalten mochten, was er so außer allem Zusammenhange zu hören gab.142

Als Jakob dann auch noch lateinische Redensarten fallen lässt, die eine gute bürgerliche Ausbildung nahelegen, die von dem restlichen Aussehen des ärmlichen Musikanten merklich differiert, fädelt dieser Erzähler eine persönliche Unterredung ein, bei dem sie ein späteres Treffen in Jakobs Wohnung abmachen. Als er die klägliche Unterkunft endlich erreicht, hört dieser bereits auf der anliegenden Seitenstraße Jakobs Geigen, das von ihm plastisch geschildert wird: Ein leiser, aber bestimmt gegriffener Ton schwoll bis zur Heftigkeit, senkte sich, verklang, um gleich darauf wieder bis zum lautesten Gellen emporzusteigen, und zwar immer derselbe Ton mit einer Art genußreichem Darauf [sic] beruhen wiederholt. Endlich kam ein Intervall. Es war die Quarte. Hatte der Spieler sich vorher an dem Klange des einzelnen Tones geweidet, so war nun das gleichsam wollüstige Schmecken dieses harmonischen Verhältnisses noch ungleich fühlbarer. Sprungweise gegriffen, zugleich gestrichen, durch die dazwischen liegende Stufenreihe höchst holperig verbunden, die Terz markiert, wiederholt. Die Quinte daran gefügt, einmal mit zitterndem Klang, wie ein stilles Weinen, ausgehalten, verhallend, dann in wirbelnder Schnelligkeit ewig wiederholt, immer dieselben Verhältnisse, die nämlichen Töne.143

Nach einer kurzen narrativen Überleitung gibt Jakob Kunde von seinem früheren Leben, das als betuchter mittlerer Sprössling eines Wiener Hofrats günstig begann, sich aber durch seine ungeheure Pedanterie bei jeglichen gestellten Aufträgen baldigst abwärts bewegte, da sie ihn bei Vater, Lehrer und wechselnden Vorgesetzten als einfältiges Individuum erscheinen ließ. Bei der für ihn adäquaten Anstellung als kopierender Kanzleihelfer lernte dieser dann eine benachbarte Greißlerstochter, Barbara, kennen und lieben, die ihm durch ihren freien Gesang auch seine lange unterdrückte Leidenschaft für die ‚holde Musik‘ abermals erweckte. Das hat eine sehr gebrochene Verbindung dieser beiden Figuren erzielt: Zwar hat die bodenständige Greißlerstochter die Gefühle Jakobs 142 Grillparzer, Der arme Spielmann, SW 3, 146–186, 149f. Inwiefern der anonyme Erzähler bei der artistischen Beurteilung von Jakobs Können als aufrechter Übermittler gefasst werden kann, wird weiterhin diskutiert: Gordon Birrell, Time, Timelessness and Music in Grillparzer’s ‚Spielmann‘, in: Bernd (Hg.), Grillparzer’s ‚Der arme Spielmann‘, 233–253, 237. Da die behandelte ästhetische Problematik und die fragliche Rezeption von Kants Lehre in Grillparzers Kunsttheorie von den strittigen Vorzügen von Jakobs Geigen nicht unmittelbar determiniert wird, soll dies hier nicht genauer erörtert werden. 143 Grillparzer, Der arme Spielmann, SW 3, 155.

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absolut erwidert, doch wurde diese durch dessen enorme Naivität gleichzeitig abgestoßen. Als der reiche Vater stirbt und Jakob somit dessen achtbares Vermögen erhielt, wurde dessen Einfalt abermals ersichtlich, indem dieser sich durch einen ehemaligen Mitarbeiter fahrlässig betrügen ließ und plötzlich mittellos dastand, weshalb Barbaras Vormund die geplante Hochzeit stracks verbot und diese einen begüterten Metzger ehelichen ließ. Jakob, der mit dem einfachen Schicksal zufrieden ist und wegen seines schlichten Charakters den ungenützten Möglichkeiten mitnichten nachtrauert, wurde damit zum ärmlichen Spielmann, der nach einem desaströsen Hochwasser und einer dabei geholten Erkältung verschied. Nach dieser kurzen Angabe, die der realistischen Erzählmanier Grillparzers nicht vollauf gerecht wird, soll nun das Geigen Jakobs erörtert werden, das mehrere wichtige Merkmale aufweist. Der Spielmann grenzt einzig konsonanten Wohlklang von dissonantem Übelklang ab, den dieser gezielt meidet, ignoriert durchweg metrische Strukturen und spielt nur ‚reine‘ Harmonien, unter deren repetitiver Ausführung „sein Gesicht oft geradezu den Ausdruck der Verzückung annahm“.144 Jakobs Spielen beruht somit nur auf harmonischen Grundelementen, die keinerlei autonome musikalische Begründung im eigenlogischen Strukturverlauf haben, sondern dagegen lediglich auf abstrakter Mathematik aufbauen: Statt nun in einem Musikstücke nach Sinn und Rhythmus zu betonen, hob er heraus, verlängerte die dem Gehör wohltuenden Noten und Intervalle, ja nahm keinen Anstand, sie willkürlich zu wiederholen. Da er nun zugleich die Dissonanzen so kurz als möglich abtat, überdies die für ihn zu schweren Passagen, von denen er aus Gewissenhaftigkeit nicht eine Note fallen ließ, in einem gegen das Ganze viel zu langsamen Zeitmaß vortrug, so kann man sich wohl leicht eine Idee von der Verwirrung machen, die daraus hervorging.145

Grillparzer lässt damit mathematische Musikkonzepte der antiken Griechen präsent werden, die im philosophischen Pythagoräismus etabliert worden waren, wobei deren genauere Kenntnis aus Grillparzers Aphorismen zweifellos hervorgeht.146 Der sogenannte „harmonikale Pythagoräismus“, der in der mittelalterlichen Musikphilosophie als musica mundana, musica humana und musica instrumentalis wiedergefunden werden kann und die für uns heutzutage fremdartige Zuordnung zum Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) der septem artes liberales fundiert, erstellte eine gradlinige Verbindung 144 Grillparzer, Der arme Spielmann, SW 3, 157. 145 Grillparzer, Der arme Spielmann, SW 3, 157. 146 Vgl. Franz Grillparzer, Zur Musik in der Antike, in: Derselbe, Zur Musik, SW 3, 877–880; Franz Grillparzer, Gedenkblatt für Meyerbeer (1850), in: Derselbe, Gedichte, SW 1, 336f. Zum betreffenden Antikenbezug Grillparzers siehe auch: Gerta Steinringer, Grillparzers Beziehung zur Musik, Dissertation Wien 1977, 97f.

Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik-)Ästhetik

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zwischen mathematischen Gesetzlichkeiten und der musikalischen Strukturierung, die mit der menschlichen Disposition übereinstimme.147 Wie bei Schopenhauers (1788–1860) Überzeugung, dass eine unmittelbare Entsprechung von musikalischen Eigenschaften und ‚weltlichen‘ Parametern eruiert werden kann,148 sind musikalische Verbindungen für die pythagoreische Weltanschauung ein manifestes Spiegelbild der kosmischen Verhältnisse, das sich auch bei der spekulativen Konstruktion der himmlischen Sphärenharmonie manifestierte, die den ruhenden Gleichklang der göttlichen Schöpfung, des „Weltalls Summe“, gänzlich ausdrücke.149 Spielt Jakob damit schon ‚schöne‘ Musik im Sinne Kants? Jakobs Passion für die vorgetragenen harmonischen Progressionen fußt zwar auf zählbaren Relationen, die das ästhetische Wohlgefallen begründen und musikalische Kompositionen von der belanglosen Kombination von nur angenehmen Sinnesreizen zum „schöne[n] Spiel“ erheben,150 das „die bloße Reflexion über eine solche Menge einander begleitender oder folgender Empfindungen […] [als] gültige Bedingung seiner Schönheit verknüpft“. Für Kant ist das Fundament der Mathematik jedoch schlicht „conditio sine qua non“ der ästhetischen Beurteilung, an der die bloße Zahl „nicht den mindesten Anteil“ hat.151 Grillparzer verneint genauso, dass künstlerische Formgebung und mathematische Strukturierung für die universale Etablierung von ästhetischen Schönheiten alleine reichen würden, betont hierzu aber auch, dass „das Höchste […] in der Kunst“ nur insofern existiere, „als es in der Form erscheint; das heißt insofern es der Künstler nicht bloß gedacht und empfunden, sondern das Vorgestellte auch adäquat dargestellt hat“.152

147 Zum ‚harmonikalen Pythagoräismus‘ vergleiche allgemein: Rudolf Haase, Geschichte des harmonikalen Pythagoräismus, Wien 1969; Barbara Münxelhaus, Pythagoras musicus. Zur Rezeption der pythagoreischen Musiktheorie als quadrivialer Wissenschaft im lateinischen Mittelalter, Bonn 1976. Zu Grillparzers Bezugnahme vergleiche neuerlich: Steinringer, Grillparzers Beziehung zur Musik, 88 sowie Steinringer, Harmonikales Gedankengut bei Grillparzer?, in: Musikerziehung 33 (1979), 63–66, 63. 148 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Derselbe, Sämtliche Werke, hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, 5 Bände, Frankfurt am Main 1986, Bd. 1, (§ 52) 364. Siehe dazu auch: Ralf Nicolai, Grillparzers ‚Der arme Spielmann‘. Eine Deutung, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 29 (1988), 63–84, 73f. Zu Grillparzers Vertrautheit mit der Veröffentlichung Schopenhauers siehe etwa auch: Peter Niedermüller, Schopenhauers Überlegungen zur Asemantik der Musik, in: Musik & Ästhetik 3 (1999), 40–57, 40; Alexander Wilfing, Musik und Gefühl bei Arthur Schopenhauer und Eduard Hanslick, in: Musik & Ästhetik 17 (2013), 31–46, 32. 149 Franz Grillparzer, Stammbuch (1851), in: Derselbe, Epigramme, SW 1, 512. 150 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 51, AA 5, 324. 151 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 53, AA 5, 329. 152 Franz Grillparzer, Zur Kunstlehre, in: Derselbe, Zur Ästhetik, SW 3, 213–239, hier: [Tgb. 765 (1820)], 216.

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Eine rein physische Einwirkung von musikalischen Empfindungen kann also auch für ihn die vollständige Legitimation von schönen Künsten keinesfalls garantieren, die von intellektuellen Komponenten ergänzt werden müssen, die die „notwendige Verbindung mit dem Verstande wirklich herstellt und eine Musik als Kunst überhaupt möglich macht“.153 Würde Grillparzers Spielmann lediglich lustvolle Harmonien vortragen, ohne dass sie auf eine „ästhetische Idee“ rekurrieren,154 wäre sein kapriziöses Musizieren – das allgemeine Mitteilbarkeit durchweg vermissen lässt – nur angenehme Unterhaltung und damit nicht ‚schön‘. Wenn hier zwar auch skeptisch hinterfragt werden könnte, ob Grillparzer die Dritte Kritik Kants detailliert verstanden habe, wurde dessen generell geläufige Separation von Angenehmem, Schönem und Gutem von ihm umfassend anerkannt: „Schön ist dasjenige, das, indem es das Sinnliche vollkommen befriedigt, zugleich die Seele erhebt. Was dem Sinnlichen allein genug tut, ist angenehm. Was die Seele erhebt, ohne durch das vollkommene Sinnliche dahin zu gelangen, ist gut, wahr, recht, was man will, aber nicht schön“.155 Die bisher einzig harmonikale Charakteristik von Jakobs Geigen, die auf persönlichen Erfahrungen Grillparzers ruhen dürfte,156 muss also durch intellektuelle Komponenten ergänzt werden, die auch tatsächlich hinzutreten. Denn für ihn war das „jeweilige Was der Musik“, ihre jeweilige punktuelle Gestaltung in spezifischen Kunstwerken, die den harmonikalen Pythagoreismus manifestieren, „immer ziemlich gleichgültig“: Sie spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian Bach aber den lieben Gott spielt keiner. Die ewige Wohltat und Gnade des Tons und Klangs, seine wundertätige Übereinstimmung mit dem durstigen, zerlechzenden Ohr, daß […] der dritte Ton zusammenstimmt mit dem ersten und der fünfte desgleichen und die Nota sensibilis hinaufsteigt, wie eine erfüllte Hoffnung, die Dissonanz herabgebeugt wird als wissentliche Bosheit oder vermessener Stolz und die Wunder der Bindung und Umkehrung, wodurch auch die Sekunde zur Gnade gelangt in den Schoß des Wohlklangs. – […] [E]in ganzes Himmelsgebäude, eines ins andere greifend, ohne Mörtel verbunden, und gehalten von Gottes Hand. Davon will niemand etwas wissen bis auf wenige.157

Ohne jedwede religiöse Implikation der zitierten Textstelle detailreich zu analysieren,158 kann hier also durchaus vermerkt werden, dass sich Jakobs Spielen

153 154 155 156 157 158

Grillparzer, Der Freischütz, Oper von Maria Weber (1821), SW 3, 886. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, AA 5, 314. Grillparzer, Zur Kunstlehre [Tgb. 3178 (1836)], SW 3, 228. Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 273 (1817), SW 4, 273. Grillparzer, Der arme Spielmann, SW 3, 162f. Siehe dazu etwa: Birthe Hoffmann, Die Kakophonie des Absoluten am Ende der Kunstperiode. Franz Grillparzers ‚Der arme Spielmann‘, in: Otto Kolleritsch (Hg.), Die Musik, das Leben und der Irrtum. Thomas Bernhard und die Musik, Wien 2000, 36–51; Lilian Hoverland, Speise, Wort und Musik in Grillparzers Novelle ‚Der arme Spielmann‘. Mit einer Betrachtung

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mit der transzendenten Gottesvorstellung engstens verbindet. Denn Jakobs Geigen, das mit der mathematisch untermauerten, pythagoreischen Sphärenharmonie zusammenstimmt,159 wird auch von durchgängiger Entzeitlichung charakterisiert, die metrische Strukturen zugunsten harmonischer Proportionen vernachlässigt und damit einen zeitfreien Zustand ‚verkörpert‘,160 der den westlichen Gottesbegriff markant definiert. Grillparzer hat den für ihn richtigen Gedanken, dass Gott niemals abstrakt erfasst werden könnte, aus der theoretischen Vernunftkritik folglich entlehnt, leugnet jedoch das zweifelhafte Gottespostulat aus Kants praktischer Philosophie, das schlichtweg „überflüssig“ sei, „da das Sittengesetz menschlich so begründet ist, daß es einer göttlichen Herleitung gar nicht bedarf.“161 Sobald Grillparzers Aphorismus zur Kantischen Gottesidee mit der skizzierten Überlegung zu Jakobs Geigen unmittelbar kombiniert wird – eine gewiss prekäre Mixtur von Figur und Autor – kann also folgende Diagnose gestellt werden: Wenn Gott durch keine Fakultät der Vernunft erkannt werden könne, bleibt für ihn nur mehr eine menschliche Erkenntnisform, die seine quasi metaphorische Repräsentation bewerkstelligt – die Kunst oder exakter gesagt: die musikalische Komposition, deren mathematisches Ausgangsmodell von der ästhetischen Idee Gottes transzendiert und zur schönen Kunst erhoben wird. Diese These scheint ebenso bereits im harmonikalen Pythagoreismus von Grillparzers Musikdenken dezidiert angelegt, der die göttliche Schöpfung durch ‚reine‘ Musik sowie deren harmonische Verhältnisse repräsentiert. Der Klassizist Grillparzer, der die romantischen Umwälzungen des damaligen Diskurses unbeirrt ablehnte und dabei einen „schwachen kränkelnden Geist“ hinsichtlich scheinbarer Formlosigkeit beanstandete,162 approximiert sich hier romantischen Gedankengängen, die unwillkürliche Assoziationen mit Hoffmann, Schopenhauer oder Wackenroder bieten können. Das dazumal geläufige Paradigma der musikalischen Komposition als universale Expression, dem romantische Komponisten mehrheitlich nachhingen und das von E.T.A. Hoffmann (1776–l822) verbindlich formuliert wurde,163 kann etwa auch Grillparzers Weber-

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zu Kafkas Hungerkünstler, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 13 (1978), 63–83; Kainz, Grillparzer als Denker, 330. Walter Salmen, Das Motiv der Sphärenharmonie in der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Zeman (Hg.), Österreichische Literatur, 711–715. Peter Schäublin, Das Musizieren des armen Spielmanns. Zu Grillparzers musikalischer Zeichensprache, in: Sprachkunst 3 (1972), 31–55, 36. Franz Grillparzer, Zur Philosophie, in: Derselbe, Studien und Aufsätze, SW 4, 1144–1167, hier: [Tgb. 3189 (1836)], 1160. Franz Grillparzer, Zur deutschen Literatur, in: Derselbe, Studien und Aufsätze, SW 4, 680– 808, hier: [Tgb. 581 (1819)], 681. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Beethovens Instrumental-Musik, in: Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht (Hg.), E.T.A. Hoffmann. Sämtliche Werke, 6 Bde., Frankfurt am Main 1985–2004, Bd. 2/1, 52–61.

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Kritik buchstäblich entnommen werden: „Wo Worte nicht mehr hinreichen, sprechen die Töne. Was Gestalten nicht auszudrücken vermögen, malt ein Laut. […] [A]lles was höher geht und tiefer als Worte gehen können, das gehört der Musik an.“164 Grillparzers Musikdenken, das die prononcierte Konzentration auf formale Bildung beständig einfordert, die für ihn schöne Kunst im Sinne Kants überhaupt grundiert, kann also auch als versuchte Synthese zwischen klassischer Bescheidung und romantischer Entfesselung gefasst werden.165 Ähnlich Wilhelm Heinrich Wackenroders (1773–1798) Tonkünstler Berlinger, der an der Diskrepanz von Immanenz und Transzendenz letztlich zerbricht, scheint Grillparzers Spielmann jedoch ebenso unfähig, die ästhetische Gottesidee einzulösen. Jakobs Geigen, das die musikalische Unendlichkeit akustisch einfangen möchte, muss alle musikalische Transzendenz schließlich begrenzen und zugleich vereinzeln. Jakobs Wunsch nach immanenter Transzendenz, die den lieben Gott ‚spielen‘ möchte, scheitert genauso wie das utopische Verlangen, eine klar romantische Metaphysik der ‚absoluten‘ Tonkunst – die die romantische Kunstreligion erkennbar antizipiert – und die klassische Vorstellung von rationaler Ordnung ‚harmonisch‘ auszusöhnen.

164 Grillparzer, Der Freischütz, Oper von Maria Weber (1821), SW 3, 887. 165 Thomas Horst, Unendlichkeit und Grenze. Zu Grillparzers Musikästhetik, in: Helmut Bachmaier (Hg.), Franz Grillparzer, Frankfurt am Main 1991, 343–358.

Gabriele Geml

Wille und Wollen bei Kant und Grillparzer

Die Anfänge des literarischen Schaffens von Franz Grillparzer (1791–1872), der im Jahr 1817 mit der Uraufführung des Dramas Die Ahnfrau im Theater an der Wien einen ersten Publikumserfolg erlebt, fallen in eine Zeit, in der das Freiheitsideal der Aufklärung in Österreich auf eine tiefgreifende staatliche Repression stößt.1 Das revolutionäre Pathos von Ludwig van Beethovens (1770– 1827) in den Jahren 1802–1803 komponierter Eroica hallt noch nach,2 die Ode An die Freude wird als Chorfinale seiner 9. Symphonie erst noch komponiert werden,3 doch vielfach sind die freiheitskündenden Stimmen seit dem Wiener Kongress kleinlauter geworden.4 Es ist die Zeit der Restauration – die in Österreich mit Schriftstellern wie Franz Grillparzer, Ferdinand Raimund (1790–1836), Nikolaus Lenau (1802–1850) oder Johann Nepomuk Nestroy (1801–1862) zugleich eine Hochphase der Literatur wird. Der Zwiespalt zwischen dem liberalen Denken der Aufklärung und der politischen Repression manifestiert sich in der Habsburgermonarchie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gerade auch an der Rezeptionsgeschichte der Schriften Immanuel Kants (1724–1804). Diese waren in Österreich Ende des 18. Jahrhunderts in intellektuellen Kreisen zunächst bald nach ihrem Erscheinen gelesen und auch verbreitet worden: Einen Hinweis auf die lebhafte Nachfrage nach Kants Werken in Österreich gibt der Umstand, dass etliche von ihnen Mitte der 1790er Jahre auch in Graz nachgedruckt worden waren. Dies ist umso bemerkenswerter, als es kurz zuvor zu einem umfassenden ‚Verbot‘ der kritischen Philosophie in Österreich gekommen war: Beauftragt durch Franz II. (1768– 1835), der 1792 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches geworden war und 1804 1 Für hilfreiche Anmerkungen zu diesem Beitrag danke ich Philipp Schaller und Violetta L. Waibel. 2 Ludwig van Beethoven, 3. Symphonie in Es-Dur, op. 55 (UA 1804). 3 Ludwig van Beethoven, 9. Symphonie in d-Moll, op. 125 (UA 1824). 4 Vgl. zu Grillparzers ambivalentem Verhältnis zu Beethoven den Beitrag von Alexander Wilfing in diesem Band: Musik, Maß, Genie. Grillparzers Bezugnahme auf Kants (Musik-)Ästhetik, 233–264, besonders 257.

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das Kaisertum Österreich begründete, um es fortan als Franz I. zu regieren, hatte im Jahr 1793 die Studien-Revisions-Hofkommission die Behandlung von Kants Schriften an Schulen und Universitäten ausdrücklich untersagt. Gleichwohl, oder vielleicht durch die Zensurmaßnahmen umso mehr beflügelt, blieb Kant die wesentliche philosophische Referenz der österreichischen Bildungsschicht bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus.5 In einem nachdrücklichen Sinn lässt sich dieser Referenzcharakter von Kants Philosophie jedenfalls für Franz Grillparzer behaupten, der sich in den 1820er Jahren eindringlich mit Kants Schriften befasste, um zeit seines Lebens immer wieder an diese Lektüre anzuknüpfen. Am nächsten standen ihm, für einen Schriftsteller wenig überraschend, Kants Ausführungen zur Ästhetik in der Kritik der Urteilskraft. Darüber hinaus ist aus seinen Aufzeichnungen und Werken ersichtlich, dass er sich mit Kants theoretischen und moralphilosophischen Ausführungen zur Freiheit und zu den unterschiedlichen Beweggründen menschlichen Handelns intensiv auseinandergesetzt hat. Letzteres war für Grillparzer zum einen als Dramatiker von Interesse, zum anderen aber und damit verbunden beschäftigten ihn Fragen der willentlichen wie der unbewussten Motivation in einem psychologischen Sinn; wie er sich überhaupt für Psychologie sehr interessierte. Dies hatte, wie die selbstbezogenen Reflexionen der Notizbücher zeigen, nicht zuletzt persönliche Gründe. Immer wieder sah Grillparzer sich mit depressiven Gemütslagen und psychischen Einschränkungen wie Antriebsschwäche, Apathie und Gefühllosigkeit konfrontiert – mit Zuständen, die seine Willensbemühungen auf obstinate Weise durchkreuzten.6 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Psychologie als akademische Disziplin noch nicht etabliert, psychologische Fachliteratur, zumal klinische, der Grillparzers Interesse gewiss gegolten hätte, war wesentlich ein Desiderat. Einen Einschnitt muss im Jahr 1845 die Veröffentlichung des Lehrbuchs der ärztlichen Seelenkunde des mit Grillparzer befreundeten Arztes, Schriftstellers und KantLesers Ernst von Feuchtersleben (1806–1849) bedeutet haben, das als erstes österreichisches Psychiatrielehrbuch gilt, psychosomatische und verhaltensthe-

5 Vgl. Sepp Domandl, Verdrängter und aufgehobener Humanismus – wiederholte Spiegelungen, in: Michael Benedikt, Reinhold Knoll und Josef Rupitz (Hg.), Verdrängter Humanismus – Verzögerte Aufklärung, Bd. 3: Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820–1880), Klausen-Leopoldsdorf u. a. 1995, 367–379, 368f. 6 In einem seiner schönsten lyrischen Werke, dem 1827 geschriebenen Gedicht Der Halbmond glänzet …, hat Grillparzer jener Gemütsdisposition Ausdruck verliehen. Vgl. Franz Grillparzer, Gedichte, in: Derselbe, Sämtliche Werke, hg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, München 1960–65 (im Folgenden zitiert als SW) Bd. 1, München 1960, 7–366, 182f.

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rapeutische Orientierungen aufweist und bemerkenswert viele Referenzen auf Kant enthält.7 In der Philosophie, die traditionell die Psychologie mitumfasst hatte, wurde Grillparzer in Hinblick auf die ihn beschäftigenden psychologischen Fragen nur begrenzt fündig, zumal gerade der für ihn maßgebliche Philosoph, Immanuel Kant, die Psychologie aus dem Zentrum seiner Philosophie verwiesen hatte und sich mit psychologischen Fragen eher spät und am Rande beschäftigte – so insbesondere in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) und im Streit der Fakultäten (1798). Unzweifelhaft aber bildete Kant für Grillparzers Auseinandersetzung mit Fragen der Autonomie und der Selbstbestimmung eine – wahrscheinlich sogar die – entscheidende Referenz, auch wenn Grillparzers eigener Zugang wesentlich lebenspraktisch orientiert war; sei es in Hinblick auf die spezifischen Lebenskonstellationen seiner literarischen Figuren oder in der Ausrichtung seiner persönlichen Lebensführung. Als erstrangige Quellen für Grillparzers Reflexionen über die Selbstbestimmung wie für seine Rezeption der Philosophie Kants erweisen sich seine Tagebücher und die zunächst zum eigenen Gebrauch bestimmten Schriftkonvolute mit Studien zu unterschiedlichen Gegenständen: In seinen Tagebüchern und Notizheften treffen introspektiv-phänomenologische Beobachtungen zum Willensphänomen auf harsche Selbsturteile und Selbstinstruktionen; Gelesenes wird hinterfragt und weiterentwickelt. Dabei kommt der Form des Tagebuchs neben einer theoretischen auch eine ganz pragmatische Bedeutung in Bezug auf Prozesse der Willens- und Charakterbildung zu. Mit Beate Rössler lassen sich Tagebücher im Sinne einer Versprachlichung der „Beziehung zwischen Ich und Ich“ als „Zeugnisse des modernen Strebens nach Autonomie“ und als Schauplätze des „Ringens um Selbstbestimmung“ begreifen.8 In einem Zeitalter der politischen Zensur erfüllen die ‚internen‘ Aufzeichnungen und Schriftfragmente aber noch weitere wichtige Zwecke: In ihnen kann Grillparzer begriffliche Unbekümmertheit an den Tag legen, Phänomene vorbehaltlos analysieren, Gedanken radikal formulieren. Dass Grillparzer unter der literarischen Zensur in Österreich zeit seines Lebens gelitten hat, in den letzten Lebensjahrzehnten vor Veröffentlichungen schließlich überhaupt weitgehend zurückgeschreckt ist, verleiht seinen zur Selbstverständigung verfassten Schriftstücken zusätzliches Gewicht. Seine theoretische Auseinandersetzung mit Kant hat hier ihren Ort; in die Dramen, Gedichte und Prosaschriften hat sie entsprechend 7 Vgl. Gabriele Geml, Ernst Freiherr von Feuchtersleben – Kant und die Vorgeschichte der Psychotherapie in Österreich, in: Violetta L. Waibel (Hg.), Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa, Göttingen 2015, 323–335. 8 Beate Rössler, Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben, Berlin (2017) 12019; darin den 5. Abschnitt: Autonomie, Selbstthematisierung, Selbstbeobachtung: vom Tagebuch zum Blog, 177–230, 180f.

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verwandelt Eingang gefunden. Beides, die literarischen Werke wie die primär der eigenen Verständigung dienenden Reflexionen, Studien und Tagebuchaufzeichnungen, wird im Folgenden berücksichtigt werden. Den Blickpunkt bilden die Überlegungen zu psychologischen und moralischen Aspekten des menschlichen Willensphänomens, wie Grillparzer sie unter dem Eindruck seiner Kant-Lektüren formuliert hat. Die Darstellung von Kants Philosophie erfolgt wesentlich in der Ausrichtung auf die Perspektive von Grillparzers Rezeption.

1.

Begriffliche Vorüberlegung: Wille und Wollen in der deutschen Sprache

Wie etliche Verben kennt das Verb wollen in der deutschen Sprache zwei Substantivbildungen. Einerseits die einfache Substantivierung, bei der das Nomen bis auf die Großschreibung mit der Verbform identisch ist – das Wollen – andererseits die abgeleitete Form der Wille, in dem das aktivische Streben gewissermaßen geronnen ist in die Instanz des subjektiven Vermögens. Kurrente Komposita der deutschen Umgangssprache verbinden das Wollen mit Orts- oder Richtungsangaben und verweisen damit auf eine konkrete Strebensaktivität im Hier und Jetzt: heimwollen, loswollen, hineinwollen, mitwollen, zurückwollen, hinwollen, vorbeiwollen, fortwollen, herauswollen. Das Verb willigen ist für sich selbst nicht mehr geläufig, gehört aber in gebräuchlichen Zusammensetzungen wie bewilligen oder einwilligen einer vergleichsweise abstrakten, juristisch konnotierten Sphäre an. Während das Wollen als ein Aktionsmodus einen mehr unmittelbaren, prompten Charakter hat, lässt sich der Wille definieren als „die Fähigkeit eines Akteurs, sich überlegtermaßen Ziele zu setzen und diese planmäßig zu verfolgen“.9 Als eine Fusion von Erkennen und Wollen erscheint der Wille als eine sublimierte, vergeistigte Form des Wollens, die ihren Gegenständen zeitlich entrückter ist. Im Englischen bringt das Verb to will abstrakt die Zukunftsform als solche zum Ausdruck; losgelöst von jeglicher Inklination: Hundreds of languages will die out in the coming decades. Ist das Wollen zunächst auf sinnlich gegebene Gegenstände oder angestrebte Zustände bezogen, so richtet sich der Wille – in einschlägigen Wortverbindungen etwa als Machtwille oder Erfolgswille – besonders auch auf idealische Gegenstände oder Zustände, wie die Erringung persönlichen Ruhms. Neben dem rationalen Streben, als welches der Wille begreifbar ist, lassen sich zwei weitere wesentliche Dimensionen des Willensbegriffs geltend machen, nämlich einerseits der Aspekt des Entscheidungs9 Christoph Horn, Wille, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1971–2007, Bd.12, Basel 2005, 763–769, 763.

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vermögens sowie andererseits und gewissermaßen am anderen Ende der Skala, das „psychische Antriebspotential“,10 das sich in seiner basalsten Form an den Grenzen des Bewusstseins im Lebens- und Überlebenswillen manifestiert und mit dem Selbsterhaltungstrieb konvergiert.11 Etymologisch sind Wille und Wollen einerseits mit dem Wohl, andererseits mit der Wahl verwandt.12 Die Intuition, das (leibliche) Wohl mehr dem Wollen zuzuordnen, die (bewusste) Wahl hingegen zur Sache des – entsprechend mit dem Prädikat der Freiheit versehenen – Willens zu machen, findet abermals Rückhalt in einer Reihe von Komposita. So kennt die deutsche Sprache die Worte Willensentscheidung, Willensentschluss oder Wählerwille als eigenständige Worte. Sie charakterisiert Verhaltensdispositionen als wohlwollend, andererseits als freiwillig. Indem der Wille als frei angesehen wird, ist ihm mit Adjektiven wie gutwillig – böswillig die Sphäre der Moral zugeordnet. Bemerkenswert ist, dass der Gegenbegriff zum Wohlwollen, das Übelwollen, zwar als ein Hauptwort existent ist, im Sprachgebrauch allerdings – ganz im Gegensatz zur Böswilligkeit – kaum Verwendung findet. Die Wollust, die sinnliche Begierde, war vom 16. bis ins 18. Jahrhundert als Wohllust geläufig gewesen. In nicht unerheblicher Distanz zu dieser begegnet demgegenüber der Willensbegriff in Wendungen, die geradezu eine Gegenläufigkeit des Willens zum Gewollten vermerken, indem sie die Sphäre des Genötigten und Aufgenötigten betreffen. Unwillig oder gar widerwillig begangene Handlungen setzen einen Akteur voraus, der eine Sache intendiert und diese Intention dann einer zweiten Person, die seine Absicht nicht gleichursprünglich teilt, aufwilligt. Das veraltete Verb willigen bedeutet dementsprechend auch so viel wie willig machen, jemandem seinen Willen aufzwingen – „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“.13 Ist der Wille somit einerseits mit dem Bereich der Freiheit verknüpft, semantisch positiv konnotiert, haftet ihm andererseits ein Odium von Herrschaft an, was sich in stabilen Begriffsbildungen wie dem Machtwillen, Behauptungswillen, Durchsetzungswillen oder Eroberungswillen niedergeschlagen hat; des Weiteren in Adjektivverbindungen wie dem stählernen oder eisernen Willen, die an die industriell inspirierte Militärsprache des neunzehnten Jahrhunderts gemahnen. 10 Horn, Wille, 763. 11 Philosophisch am weitesten ausgelotet wurde das Spektrum der Willensäußerungen von Arthur Schopenhauer, dessen Willensbegriff noch die Bewegungsgesetze der anorganischen Natur mit einschließt. 12 Vgl. den Eintrag zu „wollen“ in: Duden. Herkunftwörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, 3., völlig neu berab. u. erw. Aufl., hg. v. der Duden-Redaktion, Mannheim u. a. 2001, 933. 13 Johann Wolfgang Goethe, Erlkönig, in: Derselbe, Sämtliche Gedichte, mit einem Nachwort von Karl Eibl, Frankfurt am Main/Leipzig 2007, 92f.

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Wille und Wollen sind also nicht einfach nur die Synonyme, die sie auch sind, sondern haben sich in der Begriffsbildung wie im Sprachgebrauch auch voneinander entfernt.

2.

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In provisorischen Konturen konnte Kant seine moralphilosophische Konzeption, die Willensfreiheit und Glücksstreben zunächst klar separiert, um die Möglichkeit von Freiheit prinzipiell zu begründen, in der deutschen Sprache vorgezeichnet finden. So radikal sich seine konzeptuellen Neuerungen insbesondere der zeitgenössischen Leserschaft präsentieren mochten – paradigmatisch Friedrich Schillers (1759–1805) Indignation in „Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin“ –,14 nicht wenig von dem, was Kant dann in luzider Deutlichkeit und quasi in einer begrifflichen Skalpellarbeit ausformulierte, fand sich im allgemeinen Sprachgebrauch vorgeprägt und angewendet. Umgekehrt aber würde man auch feststellen können, dass die deutsche Sprache ihrerseits durch die begrifflichen Leistungen von Kants Philosophie maßgeblich geprägt wurde. Was von dem im heutigen Deutsch Geläufigen bereits zu Kants Zeiten kurrent war und was umgekehrt erst durch Kants philosophische Begriffsarbeit im Deutschen kurrent wurde, wäre en détail zu recherchieren. Es erscheint in jedem Fall nicht müßig, an den Umstand zu erinnern, dass im deutschen Sprachraum erst Kants wichtiger Vorgänger Christian Wolff (1679–1754) zu aufklärerischen Zwecken in seinen philosophischen Schriften die Abwendung von der lateinischen Gelehrtensprache hin zur deutschen Vernakularsprache vollzogen hatte; damit einerseits die terminologische Grundlegung für die moderne deutschsprachige Philosophie schaffend, andererseits eine Begriffsrevolution in der deutschen Sprache mitanstoßend, deren Ausmaß man sich selten bewusst macht. Gegenüber Italien, wo bereits 1632 Galileo Galilei (1564–1642) seinen Dialogo sopra i due massimi sistemi nicht mehr auf Latein, sondern auf Italienisch verfasste und Frankreich, wo 1637 René Descartes’ (1596–1650) Discours de la méthode auf Französisch erschien, setzte der Aufstieg des Deutschen zur Wissenschaftssprache stark verzögert ein – womöglich wird die damalige Verspätung in der heutigen Zeit durch die Eilfer14 Friedrich Schiller, Gewissensskrupel, in: Derselbe, Xenien, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 1, hg. v. Julius Petersen und Friedrich Beißner (1943) 1992, 299. Vgl. zu Schillers Kant-Rezeption: Violetta L. Waibel, Friedrich Schiller, ein kongenialer Leser Kants, in: Dieselbe (Hg.), Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich, in Osteuropa, Göttingen 2015, 279–302; Violetta L. Waibel, Feelings, Morality, Human Beings seen Holistically. A Dialogue between Kant and Schiller, in: Beiträge der Tagung The Early Critique of Kant’s Moral Philosophy. Studi Kantiani, Anno XXXIII (2020), 87–99.

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tigkeit kompensiert, mit der man das Deutsche als Wissenschaftssprache zugunsten des Englischen zu Grabe trägt. Jürgen Mittelstraß, Jürgen Trabant und Peter Fröhlicher halten in ihrem beachtenswerten Plädoyer für den Erhalt von Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft jedenfalls fest, dass berühmte wissenschaftliche Fälle des „Abschieds vom Lateinischen“ im deutschen Sprachraum erst „die deutschen Vorlesungen von Christian Thomasius 1687, die deutschen philosophischen Werke von Christian Wolff am Anfang des 18. Jahrhunderts und vor allem Immanuel Kants Philosophieren auf Deutsch“ sind.15 Der Einfluss der deutschen Sprache auf Kants Philosophie und deren Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Sprache wären – an anderer Stelle – in jedem Fall weiterer Untersuchungen wert.16 In der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/86), mit der seine praktische Philosophie in Form einer ersten eigenständigen Publikation aus diesem Bereich anhebt, grenzt Kant sich von der Moralphilosophie seines bedeutenden Vorgängers Christian Wolff ab: Gegenüber dessen 1764 erschienener Schrift Allgemeine praktische Weltweisheit würde mit Kants transzendentalphilosophischem Ansatz „ein ganz neues Feld ein[ge]schlagen“. Es wird von ihm folgendermaßen abgesteckt: Eben darum, weil sie [Wolffs Moralphilosophie; Anm. GG] eine allgemeine praktische Weltweisheit sein sollte, hat sie keinen Willen von irgendeiner besondern Art, etwa einen solchen, der ohne alle empirische Bewegungsgründe, völlig aus Principien a priori, bestimmt werde, und den man einen reinen Willen nennen könnte, sondern das Wollen überhaupt in Betracht gezogen, mit allen Handlungen und Bedingungen, die ihm in dieser allgemeinen Bedeutung zukommen, und dadurch unterscheidet sie sich von einer Metaphysik der Sitten […]. Denn die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Principien eines möglichen r e i n e n Willens untersuchen und nicht die Handlungen und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt, welche größtentheils aus der Psychologie geschöpft werden.17

Wahl und Wohl, Wille und Wollen treten unter den Vorzeichen von Kants transzendentalphilosophisch orientierter Moralphilosophie auseinander: Der Wille, den Kant als „Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach 15 Jürgen Mittestraß, Jürgen Trabant und Peter Fröhlicher, Wissenschaftssprache. Ein Plädoyer für Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft, Stuttgart 2016, 21. 16 Der Sprachwissenschaftler Hartmut Günther hat eine entsprechende Untersuchung für die Bibelübersetzung Martin Luthers (1483–1546) vorgelegt. Der zum Reformationsjubiläum von der Dudenredaktion publizierte Band legt Luthers Einfluss auf die deutsche Sprache dar. Er versammelt in einem Wörterbuch Begriffe und Redewendungen, die von Luther eingeführt wurden und sich in der Folge in der deutschen Sprache durchsetzten. Vgl. Hartmut Günther, Mit Feuereifer und Herzenslust. Wie Luther unsere Sprache prägte, Berlin 2017. 17 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 4, Berlin 1911 (in der Folge zitiert als Grundlegung), hier: 390 [Herv. i. O.].

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Principien zu handeln“, kurzerhand mit praktischer Vernunft identifiziert, „ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch nothwendig, d.i. als gut, erkennt.“18 Eben diese Separation des Willens von der Neigung ist grundlegend dafür, die praktische Philosophie um die Idee der Freiheit zentrieren zu können sowie, damit koinzidierend, das Prinzip zu bestimmen, mittels dessen sich Handlungen als moralisch und das heißt nicht zuletzt auch: als allgemein verbindlich qualifizieren lassen. Die Instanz jenes Prinzips und damit das entscheidende Vermögen praktischer Vernunft ist der gute Wille; seine bestimmende Form der kategorische Imperativ, der den moralisch befähigten Menschen – gemäß der ersten und wesentlichen Formulierung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – dazu auffordert, „nur nach derjenigen Maxime [zu handeln], durch die [man …] zugleich wollen kann […], daß sie ein allgemeines Gesetz werde“.19 Mit jenem Imperativ, der ein Gesetz der reinen Vernunft ist, das den Menschen als sinnliches Naturwesen verpflichtet, will Kant ein rationales Prinzip moralischen Handelns ausweisen. Gegenüber dem, was den Menschen sinnlich affiziert und determiniert, verlautbart der kategorische Imperativ den Anspruch der reinen Vernunft auf Selbstgesetzgebung und hebt den Menschen durch die ihm subjektiv gegebene Möglichkeit sittlich, mithin frei zu handeln, über die Sphäre der bloßen Naturkausalität hinaus. Als Wesen, das mit einer praktischen Vernunft, also mit einem autonomen Willen begabt ist, verfügt der Mensch intern über eine Kausalität eigener Art, eine Kausalität aus Freiheit, die zwar theoretisch nicht beweisbar ist, wie Kant betont, aber in einem subjektiv-praktischen Sinn in der phänomenalen Welt wirksam zu werden vermag. Freiheit ist ein Postulat, eine Aufforderung, die das Subjekt an sich selbst richtet, kein empirisch vorfindlicher, attestierbarer Sachverhalt. Das moralische Gesetz hat in Bezug auf das menschliche Bewusstsein die Form eines Imperativs, weil der Mensch kein reines, sondern ein sinnlich affiziertes Vernunftwesen ist: sein Handeln wird durch vernünftige und durch sinnliche Beweggründe bestimmt; er unterliegt einer doppelten Kausalität. Um das oberste Prinzip menschlicher Moralität – das Vernunftgesetz oder den kategorischen Imperativ – in der Reinheit darzulegen, mit der es den Willen a priori, also unabhängig von empirischen Bedingungen, zum sittlichen, autonomen Handeln bestimmt, separiert Kant den freien Willen und die Neigung. Damit hat seine Moralphilosophie beträchtliche Irritationen ausgelöst. Indem er den Begriff der Autonomie zum Leitbegriff seiner Moralphilosophie erhebt und ihm gegenüber die Glückseligkeit als subjektiven Zweck alles Handelns zurückstellt, ist es Kant um eine Neubegründung moralischen Verhaltens zu tun: Subjektiver Grund moralischen Verhaltens soll nur das Bewusstsein der Pflicht 18 Kant, Grundlegung, AA 4, 412 [Herv. i. O.]. 19 Kant Grundlegung, AA 4, 421.

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gegenüber dem Vernunftgesetz sein, weil der Begriff der Glückseligkeit inhaltlich variiert und kein allgemeines, für alle gültiges Gesetz ermöglicht. Neigung, auch in Gestalt von sogenannten moralischen Gefühlen wie Mitleid oder Sympathie, die immer empirisch sind und die Kant im weitesten Sinn dem Bereich der Glückseligkeit zurechnet, kommt als subjektives Prinzip des Wollens und Handelns nicht in einem moralischen Sinn in Frage. Dabei geht es Kant nicht um eine Zurückweisung des menschlichen Verlangens nach Glück, denn die Beförderung der allgemeinen (objektiven) Glückseligkeit bleibt auch im Rahmen seiner Ausführungen ein moralisches Anliegen. Vielmehr geht es um die Neubegründung des moralischen Verhaltens, das nach Kant ein rational bestimmtes Verhalten aus Pflicht, ein Verhalten nach Maßgabe des moralischen Vernunftgesetzes sein soll und keines, das letztlich, wie vermittelt auch immer, eigene Glückseligkeit bezweckt. Denn unter dem Prinzip der Glückseligkeit stehend wäre das Verhalten nicht autonom, sondern nur pragmatisch, heteronom bestimmt, wobei es stets Gefahr läuft, seinen eigennützigen Zweck zu verfehlen.20 In der Kritik der praktischen Vernunft rekurriert Kant selbst auf den Sprachgebrauch und legt dabei nahe, dass seine Moralphilosophie in entscheidenden Hinsichten weniger neue ‚Entdeckungen‘ propagiert, als vielmehr allgemein Geläufiges auf den Begriff bringt. So würde schon der allgemeine Sprachgebrauch „das Angenehme vom Guten, das Unangenehme vom Bösen unterscheide[n], und verlang[en], daß Gutes und Böses jederzeit durch Vernunft, mithin durch Begriffe, die sich allgemein mitteilen lassen, und nicht durch bloße Empfindung […] beurteilt werde“.21 Während die lateinischen „Ausdrücke des boni und mali eine Zweideutigkeit enthalten“ und „eines doppelten Sinnes fähig“ seien, den Kants Lehre gerade differenziert in den Blick rücken möchte, habe [d]ie deutsche Sprache […] das Glück, die Ausdrücke zu besitzen, welche diese Verschiedenheit nicht übersehen lassen. Für das, was die Lateiner mit einem einzigen Worte bonum benennen, hat sie zwei sehr verschiedene Begriffe und auch eben so verschiedene Ausdrücke. Für bonum das Gute und das Wohl, für malum das Böse und das Übel (oder Weh), so daß es zwei ganz verschiedene Beurtheilungen sind, ob wir bei einer Handlung das Gute und Böse derselben, oder unser Wohl und Weh (Übel) in Betrachtung ziehen. […] Das Wohl oder Übel bedeutet immer nur eine Beziehung auf unseren Zustand der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, des Vergnügens und Schmerzens, und, wenn wir darum ein Object begehren, oder verabscheuen, so geschieht es nur, so fern es auf unsere Sinnlichkeit und das Gefühl der Lust und Unlust, das es bewirkt, bezogen wird. Das Gute oder Böse bedeutet aber jederzeit eine Beziehung auf den Willen, so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objecte zu machen; wie er denn durch das Object und dessen Vorstellung niemals unmittelbar bestimmt 20 Vgl. Kant Grundlegung, AA 4, 433. 21 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 5, Berlin 1913, 58.

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wird, sondern ein Vermögen ist, sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Object wirklich werden kann) zu machen.22

Einschränkend wäre zu bemerken, dass sich die von Kant geltend gemachte Möglichkeit zur Differenzierung im Deutschen keineswegs konsequent durchgesetzt hat: Das Gute kann im Deutschen wie im Lateinischen für moralische wie ästhetische Urteile verwendet werden, jedenfalls sofern man an den adjektivischen Gebrauch denkt: So wird ein Wein gewiss häufiger als „gut“, denn als „wohlschmeckend“ bezeichnet. Bei Substantiven, auf die Kant ja auch Bezug nahm, lässt sich die von ihm geltend gemachte Unterscheidung aber vielfach feststellen. Es wäre irreführend, wollte man der Unterscheidung von Wille und Wollen bei Kant auf der begrifflichen Oberfläche eben dieser beiden Worte nachgehen. Zwar ist der Wille in Kants Philosophie ein zentraler Begriff, doch die Bedeutung des Wollens erweist sich als terminologisch schwankend und muss kontextuell erschlossen werden. So wird das Wollen mitunter im Sinne des sinnlichen Begehrens verstanden, manchmal aber tangiert es auch, was der gute Wille wollen soll. Die Gründe, weshalb Kant dem ‚reinen Willen‘ in seinen weiteren Ausführungen terminologisch kaum mehr das ‚Wollen überhaupt‘ kontrastiert, so wie er es in der Vorrede zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten getan hat, sind leicht nachzuvollziehen. Die Gegensätzlichkeit der beiden Bereiche, um die es ihm geht, Sittlichkeit und Sinnlichkeit, ist mit dem distinkten Begriffspaar von Pflicht und Neigung prägnanter und weniger missverständlich gefasst. Denn es geht Kant ja gerade nicht darum, den guten Willen aus dem Wollen im Sinne eines Glücksstrebens abzuleiten, etwa in der Art, dass der Wille eine sublimierte, rational durchreflektierte Begierde oder ein zeitlich beständiges, Kontinuität verbürgendes Geneigtsein wäre, sondern der durch den kategorischen Imperativ bestimmte gute Wille soll vielmehr die Instanz sein, an der sich die von allen bloß empirischen „Triebfedern“ gereinigte Bestimmung von Freiheit ausweisen lässt. Als „Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen“23 bestimmt Kant die Neigung als einen Gegenbegriff zur Pflicht (und mithin zum Begriffskomplex von Wille, Pflicht, Freiheit und Moralität). Inwieweit in die Kantischen Begriffe von Neigung und Abhängigkeit vielleicht auch bestimmte Aspekte des Sprachgebrauchs hineingespielt haben, die die beiden Termini mit einer Abwärtsbewegung assoziieren, muss letzten Endes spekulativ bleiben. In jedem Fall lässt sich im heutigen Sprachgebrauch mit der Neigung eine Bewegung nach unten verbinden. In der deutschen Sprache neigt man sich hinunter oder herab, nicht hinauf. Zumindest mehrheitlich bezeichnet das Neigen eine abfallende und keine aufsteigende Bewegung. Pflanzen, ihre Triebe und Äste neigen sich ob der 22 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 59f. 23 Kant, Grundlegung, AA 4, 413.

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Schwerkraft, werden etwa durch das Eigengewicht von Blüten oder durch den auf ihnen lastenden Schnee geneigt. Dieser Gedanke von Schwerkraft und Gravitation spielt im übertragenen Sinn auch in die Redeweise hinein, dass jemand zu bestimmten Krankheiten oder Reaktionsweisen neige; eine entsprechende Veranlagung, Inklination, einen bestimmten Hang habe. Der Hang, der wie die Neigung im übertragenen Sinn im Deutschen ebenfalls eine Einstellung des Wohlwollens zum Ausdruck bringen kann, verweist jedenfalls in der zusammengesetzten Form des Abhangs ähnlich wie die Neige auf eine Senkung, es geht bergab, hangabwärts, in Richtung Abgrund – und ebenso beim Gefallen, das auf den Fall und das Gefälle verweist. Dieselbe Bewegung zum Boden und Erdboden hin führt in einem übertragenen Sinn dazu, dass zur Neige gehen ein Ende, einen Tod, ein nicht nur bis hinunter, sondern sogar ein Unter-die-Erde-Gelangen bedeutet: der Abend wie der Wein neigen sich dem Ende zu, das Leben geht zur Neige. Beim Wort genommen, führt die Neigung die Bedeutungsschichten von Unterwerfung und Erniedrigung mit sich; sie werden sinnbildlich in der Geste der Verneigung, in der der Mensch seine aufrechte Stellung und im übertragenen Sinn seinen Stolz (dieser ist mit der erhöhenden Stelze verwandt) aufgibt; den Kopf himmelabwärts Richtung Erde senkt. Auch – und vielleicht zumal – in der emotionalen Kultur des 21. Jahrhunderts ist Zuneigung nicht selten mit der Angst vor Abhängigkeit gekoppelt. Letztere verweist wortwörtlich auf den Abhang – als Abhängiger ist man endgültig auf die schiefe Bahn geraten. Nimmt man die deutsche Kultur der Zuneigung beim Wort, so könnte man zu dem Schluss gelangen, dass sie von einem semantischen Komplex der Hinfälligkeit durchdrungen ist. Inwiefern jenes Bedeutungsfeld der Neigung in Kants Begriffswahl hineinspielte, lässt sich nicht entscheiden. Unzweifelhaft ist demgegenüber, dass er an einer der ergreifendsten Stellen seines philosophischen Werks, im Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft, die Aufmerksamkeit auf das moralische Gesetz mit einem Blick hinauf ins Erhabene, Hocherhoben-Entrückte, nämlich zum Himmel engführt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“24 Gegenüber den irdischen Befangen- und Befallenheiten findet sich hier ein Freiheitspathos ausgedrückt, das nachgerade ‚Luft von anderem Planeten‘ atmet, und darin, über die Jahrhunderte hinweg, mit jenem späteren Freiheitspathos kommuniziert, das sich in Arnold Schönbergs (1874– 1951) Komposition von Stefan Georges (1868–1933) Entrückung (1907) wieder24 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 161 [Herv. i. O.]. In der Meiner-Ausgabe der Kritik der praktischen Vernunft (Hamburg 2003, hg. v. Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme) ist der Wortlaut: „mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht“.

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findet; in jenem letzten, atonalen Satz des Zweiten Streichquartetts op. 10 (1907/ 1908), das Theodor W. Adorno (1903–1969) als das komponierte Manifest des ‚Musikstils der Freiheit‘ (Alois Hàba; 1893–1973) galt.25 Die Neigungen betreffend lassen sich in Kants Schriften unterschiedliche, durchaus ambivalente Ausführungen finden. Unter anderem Birgit Recki hat nachdrücklich betont, wie sich, bei allem Fokus auf der Freiheit, das Glücksstreben auch in Kants Moralphilosophie eminent zur Geltung gebracht findet und „wie ernst Kant in seinem vernunftkritischen Ansatz die Sinnlichkeit des endlichen Vernunftwesens nimmt“.26 So heißt es etwa bei Kant in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793): „Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d.i. unverwerflich und es ist nicht allein vergeblich, sondern wäre schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung eines Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können.“27 Wirft bereits der (negierte) Gedanke an ‚Ausrottung‘ einen gewissen Schatten auf das Gesagte, so klingen in bestimmten Passagen wie etwa in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), auch wenn betreffende Stellen gewiss nicht das Zentrum von Kants Argumentation bilden, mitunter Einstellungen durch, die die Neigungen wie einen trübenden Störfaktor im Dispositionsgefüge des vernünftigen Subjekts anmuten lassen. Auch heißt es: „Die Neigungen selber aber als Quellen des Bedürfnisses haben so wenig einen absoluten Werth, um sie selbst zu wünschen, daß vielmehr, gänzlich davon frei zu sein, der allgemeine Wunsch eines jeden vernünftigen Wesens sein muß.“28 Sehr wohl aber wird demgegenüber der Vernunft ein absoluter Wert zugesprochen: „[D]ie vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst.“29 Eben hier liegt einer der Ansatzpunkte des Widerspruchs Grillparzers, der in einem längeren Textfragment aus dem Jahr 1848 festhält: „Der Trieb, die Neigung, das Instinktmäßige sind ebenso göttlich als die Vernunft“.30 25 Vgl. Theodor W. Adorno, Schöne Stellen (1965), in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Bd. 18: Musikalische Schriften V, Frankfurt am Main 1997, 695–718, 718: „Dies [sic] Quartett vollzieht in sich den Durchbruch von der Tonalität zur freien Atonalität. Es ist, mit den Textworten ‚Ich fühle luft von anderem planeten‘, etwas wie ein Manifest der gesamten neuen Musik […]: etwas dergleichen ist nie zuvor gehört worden.“ 26 Vgl. Birgit Recki, Kant und das Glück, in: Ozren Zunec und Petar Segedin (Hg.), Zblizˇavanja. Zbornik povodom ˇsezdesete objjetnice zˇivota Damira Barbarica, Zagreb 2012, 103–121, 120. 27 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 6, Berlin 1914, 58. 28 Kant, Grundlegung, AA 4, 428. 29 Kant, Grundlegung, AA 4, 429 [Herv. i. O.]. 30 Franz Grillparzer, Zur Literargeschichte (1848), SW 3, München 1964, 715–722, 719.

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3.

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Willensschwäche und Nichtwollenkönnen bei Grillparzer

In vielen älteren und besonders wohl in den christlich geprägten Morallehren zählte die Willensschwäche zu den Störfaktoren menschlichen Verhaltens, wobei die Neigungen und Leidenschaften unter dem pejorativen Gesichtspunkt in den Blick gerückt wurden, dass sie es wären, die den Willen potentiell aus der festen Bahn seiner moralischen Erfolge werfen. In den literarischen Werken Grillparzers gehören Darstellungen von Willensschwäche und ‚Zerrissenheit‘ vielfach zu den Charakteristika der von ihm gezeichneten Figuren. Neben der Willensschwäche, die sich in Grillparzers eigenen Worten etwa als Unfähigkeit zum „Beharren im Entschluß“ bestimmen ließe31 und mit ihr verkoppelt rückt bei ihm allerdings zudem ein Phänomen als problematisch in den Blick, das in der Moralphilosophie vergleichsweise wenig Beachtung gefunden hatte, nämlich das Nichtwollenkönnen, die Paralyse oder Betäubtheit des voluntativen Vermögens. In der philosophischen Tradition wurden von wenigen Ausnahmen wie insbesondere Baruch de Spinoza (1632–1677) abgesehen die Affekte, Gefühle und Leidenschaften lange Zeit vornehmlich als potentielle Hindernisse thematisch; sei es im moralischen Verhalten oder im Erkenntnisurteil. Nicht wenigen Autoren galt die Unabhängigkeit von Gefühlen und Leidenschaften als ein anzustrebendes Ideal, moralisch wie epistemologisch. In Grillparzers Werken begegnet die Kehrseite davon: Das Freisein von Emotionen erscheint hier weniger unter dem Aspekt einer sittlichen Leistung, als vielmehr unter dem einer subjektiven Problemlage – nämlich jener affektiven Störung, die mit Symptomen von Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, Interesselosigkeit, mitunter auch einem ‚Gefühl der Gefühllosigkeit‘ einhergeht und die man heute unter dem Begriff der Depression fassen würde. In älteren Traktaten der christlichen Moralphilosophie begegnete dieser affektive Komplex in Charakterisierungen der Acedia, der (geistigen) Trägheit und Mutlosigkeit – sie wurde nach dem Katechismus der Katholischen Kirche allerdings zu den sieben Todsünden gezählt und entsprechend geahndet. Unter gänzlich anderen Vorzeichen, nämlich aus einer psychologischen Perspektive, nehmen Grillparzers Werke das Nichtwollenkönnen als ein krankheitswertiges Problem in den Blick. Seine Stücke kennen nicht allein in sich zerrissene, zwiegespaltene, zweifelnde Charaktere, die sich nicht entscheiden können, sondern auch – und natürlich vielfach mit der unentschlossenen, unsteten Zerrissenheit einhergehend –, verzweifelte Figuren, die unter ihrer gedrückten Stimmung, Gefühlsdumpfheit, Apathie und Antriebsschwäche leiden. So etwa in seiner Version der Hero und Leander-Sage, Des Meeres und der Liebe Wellen, die 1831 im Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde. Hier versucht 31 Franz Grillparzer, Ein Bruderzwist in Habsburg (1848), SW 2, München 1961, 345–448, 384.

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der an der Erfolglosigkeit seines Bemühens zunehmend selbst verzweifelnde Naukleros „zur Strafe / [f]ür ein Vergehn, derzeit noch unbekannt / [u]nd unbegangen auch“ seinen nach dem Tod der Mutter von lähmendem Trübsinn befallenen Freund Leander zu einer neuen Lebensteilnahme zu motivieren: N a u k l e r o s . […] Wie lange noch […] führ ich […] Ringsum dich durch der Menschen laute Städte, Von Fest zu Fest, vom Markte zum Altar, Den Ort ausforschend, der dir Frohsinn brächte? Wie lang sitz ich, von Sprechen müd’, dir gegenüber Und forsch in deinem Aug’, dem leidgen Blick, Ob’s angeglommen, ob erwacht die Lust? Und les ein ewig neues: nein, nein, nein! […] L e a n d e r . Ich bin müd’.32

Das ‚Gefühl der Gefühllosigkeit‘ als mögliches Symptom depressiver Wahrnehmungs- und Erlebensweisen findet sich in Grillparzers an Calderón anknüpfendem „Dramatischen Märchen“ Der Traum ein Leben (UA 1834) zum Ausdruck gebracht, hier mit narzisstisch-manischer Akzentuierung: „[Z]wischen Ohnmachtsgefühlen und Omnipotenzphantasien, […] Mediokrität und Übermenschentum“ schwankend,33 changiert Grillparzers Rustan-Figur immer wieder ins Depressive; gefangen in einer erstarrenden Gegenwart, der sich die Außenwelt nicht mehr öffnet: R u s t a n . Wie so schal dünkt mich dies Leben, Wie so schal und jämmerlich! Stets das Heute nur des Gestern Und des Morgen flaches Bild. Freude, die mich nicht erfreuet, Leiden, das mich nicht betrübt, Und der Tag, der stets erneuet, Nichts doch als sich selber gibt.34

Entstanden im Zeitraum zwischen 1817 und 1831, fällt der Beginn der Arbeit an dem Märchendrama, das an die spanische Barockliteratur (Calderón, Das Leben ein Traum 1634), aber auch an die Zauberspiel-Tradition der Wiener Theater (Mozart, Die Zauberflöte, 1791) angelehnt ist,35 zufällig gerade in eine Zeit, in 32 Franz Grillparzer, Des Meeres und der Liebe Wellen (UA 1831), SW 2, 9–88, 29. 33 Helmut Bachmaier, Nachwort, in: Franz Grillparzer, Der Traum ein Leben. Dramatisches Märchen in vier Aufzügen, Stuttgart 2009 [= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 4385], 94–96, 94. 34 Franz Grillparzer, Der Traum ein Leben. Dramatisches Märchen in vier Aufzügen (UA 1834), SW 2, 89–181, 99. 35 Vgl. Bachmaier, Nachwort (zu Grillparzer, Der Traum ein Leben), 95.

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der Grillparzer in intensivierter Weise mit Kants Schriften in Berührung gekommen war.

4.

Zu Grillparzers Kant-Rezeption

Bereits Jahre zuvor, während seines Studiums der Staats- und Rechtswissenschaften an der Universität Wien (1807–1811), war Grillparzer auf Kants Werke aufmerksam geworden, und zwar insbesondere außerhalb der Universität – an der sie nach Vorgaben der Zensur nicht anders als polemisch Erwähnung finden sollten –,36 im Rahmen eines Lesekreises, der sich im Hause seines Kommilitonen Josef Wohlgemuth gebildet hatte.37 Wie Grillparzer in seiner um 1853 entstandenen, aber erst im Jahr seines Todes 1872 veröffentlichten Selbstbiographie darlegt, hatte der Kreis einen Fokus auf Kants Philosophie und dabei, naheliegenderweise, auf den rechtsphilosophischen Schriften: „Besonders lag uns als Juristen Kants Naturrecht nah“.38 Man wird mutmaßen können, dass Grillparzer seinerzeit insbesondere mit der Metaphysik der Sitten (1797) in Berührung gekommen war. Der sich im Zusammenhang von Grillparzers Schilderung der Lesezirkelzeit womöglich aufdrängende Eindruck einer intensivierten Auseinandersetzung mit Kants Schriften wird freilich durch eine spätere Bemerkung in der Selbstbiographie einem Zweifel ausgesetzt: Für die Zeit des Abschlusses der Medea (1821), also etwa Anfang 1820, vermerkt Grillparzer, er habe sich „Zerstreuungen aller Art“ hingegeben und sich zumal durch die Beschäftigung „mit Kants Philosophie, die mir erst seit kurzem bekannt geworden war, die lästigen Gedanken über Gegenwart und Zukunft aus dem Kopfe zu schlagen“ versucht.39 Während sich in Grillparzers Selbstdarstellung in Hinblick auf seine Kant-Rezeption mithin gewisse Diskrepanzen ergeben, besteht über andere Details wenig Zweifel: Hierzu gehört die im obigen Zitat von Grillparzer angedeutete therapeutische Funktion, die die Lektüre von Kants Schriften für ihn hatte; als ein Antidot gegen grüblerische Gedanken, die ihn immer wieder einholten. Ein anderer unzweifelhafter Faktor in Hinblick auf Grillparzers Kant-Rezeption, der sich mit dem ersten Umstand verbindet, ist die Rolle, die Joseph Schreyvogel (1768–1832) als dem entscheidenden Vermittler dabei zukam. 36 Vgl. Werner Sauer, Von der ‚Kritik‘ zur ‚Positivität‘. Die Geisteswissenschaften in Österreich zwischen josephinischer Aufklärung und franziszeischer Restauration, in: Hanna SchnedlBubenicˇek (Hg.), Vormärz. Wendepunkt und Herausforderung. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Kulturpolitik in Österreich, Wien 1983, 17–46, 35 37 Vgl. Gabriele Geml, Franz Grillparzer – Zugänge zu Kant, in: Waibel (Hg.), Umwege, 302–314, 304–308. 38 Franz Grillparzer, Selbstbiographie ([1853] 1872), SW 4, München 1965, 20–178, 48. 39 Grillparzer, Selbstbiographie, SW 4, 110.

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Schreyvogel übte als dramaturgischer Leiter der Wiener Hoftheater im Zeitraum von 1814–1832 nicht nur maßgeblichen Einfluss auf das literarische Leben in Wien aus; ihm kam auch erhebliche Bedeutung für die Verbreitung der Kantischen Philosophie in Österreich zu.40 In Grillparzers Werk fand beides zusammen. Als wichtigster Mentor von Grillparzers Stücken spielt Schreyvogel, über den der häufig dysphore Grillparzer in einer Tagebuchaufzeichnung von 1828 lamentiert, „[d]ieser Theatersekretär Schreyvogel hat mir zum Teile großen Schaden gebracht“,41 eine zentrale Rolle in dessen Leben. In einer anderen – obschon ihrerseits despektierlichen – Tagebuchnotiz Grillparzers aus dem Jahr 1836 lässt er der Rolle Schreyvogels mehr Gerechtigkeit widerfahren: Ich habe durch Schreyvogls [sic] Tod viel verloren. Nicht seinen Rat bei meinen eigenen Arbeiten. […] Aber [… s]eit seinem Tode ist niemand in Wien, mit dem ich über Kunstwerke sprechen möchte, ja auch in Deutschland wäre niemand, der mir anstände, höchstens Heine, wenn er nicht innerlich ein lumpiger Patron wäre; dadurch versauere und verstocke ich in mir und die Produktion stellt sich immer ferner.42

In jedem Fall, so kann man rückblickend konstatieren, versiegten Grillparzers Veröffentlichungen, von einigen Ausnahmen abgesehen, recht weitgehend sehr bald nach dem Tod des über zwanzig Jahre älteren Schreyvogel, den Grillparzer knapp vier Jahrzehnte überleben sollte. Etliche von Grillparzers Schriften wurden posthum publiziert. Eine wesentliche Funktion dürfte Schreyvogel bei der Eindämmung von Grillparzers unerbittlichem Hang zur Selbstzensur zugekommen sein, der bei ihm ähnlich ausgeprägt war wie dann später bei Kafka, der im Übrigen Grillparzers Armen Spielmann (1847) besonders schätzte. Womöglich stand der prohibitive Effekt der Selbstzensur des von chronischen, depressiv getönten Zweifeln geplagten Grillparzer dem der staatlichen Zensur nur wenig nach, wiewohl letzterer erheblichen Anteil an Grillparzers Abstinenz von Veröffentlichungen gehabt haben dürfte.43 Zu Lebzeiten hatte Schreyvogel über Jahre 40 Vgl. hierzu ausführlich: Gabriele Geml, Joseph Schreyvogel – Die kantische Moralphilosophie als Lebenskunst, in: Waibel (Hg.), Umwege, 314–323. 41 Franz Grillparzer, Tagebücher, SW 4, 225–727, hier: [Tgb. 1629 (1828)], 443. 42 Franz Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 3168 (1836)], SW 4, 639. 43 Vgl. zu Grillparzers Leiden an der politischen Zensur: Grillparzer, Selbstbiographie, SW 4, 155; vgl. auch den Anmerkungsteil zu Grillparzers Gedichten: Peter Frank und Karl Pörnbacher, Anmerkungen zu den Gedichten und Epigrammen, in: Franz Grillparzer, SW 1, 1205f, 1205: „Obwohl ein großer Teil der Gedichte Gr.s […] bald nach ihrem Entstehen in Almanachen, Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht wurde, erschien zu Lebzeiten Gr.s keine gesammelte Ausgabe. […] Anfang 1835 lehnte Gr. ein Angebot für eine einbändige Gesamtausgabe durch den Verleger Ferdinand Philippi mit der Begründung ab, er könne sich nicht entschließen, die lyrischen Gedichte auszuscheiden, von denen gerade die besten mit Rücksicht auf die Zensur weggelassen werden müßten.“ Auch spätere Anfragen von Verlegern wehrte Grillparzer ab, eine Sammlung der Gedichte erschien erst posthum im Jahr seines Todes 1872.

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hinweg die verdienstvolle Aufgabe übernommen, Grillparzers Werke gegen den zensuriellen Doppelangriff durch äußere wie innere Instanzen – also politische wie psychische Hindernisse – zu verteidigen.44 Zerstörerische Selbstzweifel, die sich besonders auch gegen seine Schriften richteten, verfolgten Grillparzer sein Leben lang. Schon die Tagebuchaufzeichnungen des Siebzehnjährigen im Jahr 1808 sind von ihnen geprägt: „Werde ich je ein mehr als mittelmäßiger Dichter werden, oder nicht? Dies ist eine Frage, an deren richtiger Beantwortung ich beinahe verzweifle. […] Andere Dichter macht das Dichten warm, mich macht es kalt, das Haschen nach Worten, Silben, Reimen ermüdet mich […].“45 Im darauffolgenden Jahr: „Meine Nachahmungssucht übersteigt allen Glauben. Alle meine Ideen formen sich nach jüngst gelesenen. Ich fürchte ein neuer Beweis, daß ich nicht leicht jemals exzellieren werde.“46 Jahrzehnte später, 1828, Grillparzer hat längst offiziell und wiederholt exzelliert: Ich kann meinen gegenwärtigen Zustand, obwohl er sich vornehmlich am Gemüte äußert, wohl eine Krankheit nennen, und zwar um so eher, als auch ein nur mir bekanntes körperliches Übelbefinden damit verbunden ist. Das traurigste Symptom dieses Zustands ist, daß alles, was ich schreibe, mir im höchsten Grade mißfällt, ja unerträglich ist. Ich werde dadurch ganz von dem Urteil anderer abhängig. Auch vermag ich nichts von größerem Umfange auszuführen, weil in der Mitte der Arbeit schon jenes Gefühl der Insuffizienz erwacht, und jede Begeisterung zerstört.47

Die Linie der Selbstzweifel, die sich in Grillparzers Aufzeichnungen dokumentiert finden, ließe sich weiterverfolgen. Im März 1817 – wenige Wochen nach der Uraufführung von Grillparzers Erstlingswerk Die Ahnfrau im Theater an der Wien – vermerkt auch sein Vertrauter Joseph Schreyvogel in seinem Tagebuch: „13. März. Nachts – Zuerst quälte ich mich mit Grillparzer, der hypochondrisch ist“, sowie zwei Tage darauf und wie in einer logischen Konsequenz: „Ich habe Grillparzern die Hauptwerke von Kant gegeben. Vielleicht findet er Beruhigung darin.“48 Dass die Verordnung von Kants Schriften unter den seinerzeit verfügbaren Antidepressiva in Schreyvogels Augen gewissermaßen die Erstlinientherapie darstellte, verdankte sich seinen eigenen Erfahrungen. Schreyvogel selbst hatte zeit seines Lebens, besonders aber in den Jugendjahren, unter depressiven Zuständen gelitten. Im Alter von zwanzig Jahren, 1788, durchlebte er eine einschneidende Krise, von der er sich in Baden bei Wien erholte. Nicht zuletzt hatte dabei wohl eine Kant-Lektüre, die er in dieser Zeit aufnahm, einen heilsamen 44 45 46 47 48

Vgl. Geml, Franz Grillparzer – Zugänge zu Kant, 302–304. Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 32 (1808)], SW 4, 239. Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 59 (1809)], SW 4, 247. Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 1622 (1828)], SW 4, 439. Joseph Schreyvogel: Tagebücher 1810–1823, 2 Bände, hg. v. Karl Glossy, Berlin 1903, hier: Tagebucheintragungen vom 13. und 15. März 1817, Bd. 2, 243.

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Effekt auf ihn, woran sich der unterdessen Zweiundvierzigjährige in einer Tagebuchaufzeichnung von 1811 zurückerinnert: „Ich lese zu meiner Belehrung und Erbauung Kants moralische Schriften. Zur Genesung meines Kopfes hat Kant vor zwanzig Jahren viel beigetragen.“49 Schreyvogels Tagebücher sind in vielerlei Hinsicht ein bedeutendes kulturhistorisches Dokument. Im gegebenen Zusammenhang aber insbesondere aus dem Grund, dass sich hier aufgezeichnet findet, wie Schreyvogel den – nicht zuletzt selbsttherapeutisch inspirierten – Versuch unternimmt, ein Leben basierend auf den Grundsätzen der Kantischen Moralphilosophie zu führen:50 „Es ist nicht müßige Speculation, sondern ein lebendiger Geist der Moralität, was mich in diesen Schriften anzieht, und gewiß wird ihr wiederholtes Studium nicht ohne wohlthätigen Einfluß auf meinen Geist und Charakter bleiben.“51 Weit davon entfernt, Kants Moralphilosophie für ‚lebensfremd‘ zu halten, was ihr oft vorgehalten worden ist, erkennt Schreyvogel in ihr ganz konkret ein befreiendes Potential – nicht zuletzt eine Befreiung vom potentiell zermürbenden, da heteronom verhaftet bleibenden Glücksstreben – und versucht, Kants philosophische Lehren in Form von moralischen Selbstinstruktionen in seinen Lebensalltag zu implementieren. In den Tagebüchern findet sich diese vielleicht einzigartige Kant-Aneigung, die Kants praktische Philosophie zu praktizieren versucht, mitunter minutiös, mitunter elliptisch, der Nachwelt überliefert. Die Kant-Lektüre bewährte sich aber nicht nur für Schreyvogel, sondern auch für den von ihm geförderten Grillparzer. Während Schreyvogel selbst in Kants Moralphilosophie ein psychisches Entlastungspotential registrierte und versuchte, seine Lebensführung entsprechend zu orientieren, war es für Grillparzer wohl zunächst einmal die nüchterne Klarheit von Kants Sprache, die, so lässt sich schließen, einen ordnenden und beruhigenden Effekt auf seine Gedankenfluchten ausübte. Kant-Lektüre oder Kontrapunktstudien: das sollten in der Folge wesentliche Mittel in Grillparzers kognitiver Hausapotheke sein, um sein Denken wieder zur Ruhe zu bringen und sich, wie er es zu nennen pflegte, zu ‚sammeln‘ und aus dem trübsinnigen Gedankenkreisen, der karussellhaften Zentrifuge der Tristesse, zu befreien und neu zu fokussieren: Ruhe – Ruhe. Ruhe! Aber nicht jene stumpfe Ruhe, eine Folge körperlicher Erschöpfung und geistiger Verstockung, eine traurige Frucht absichtlicher Zerstreuung – Ruhe, nämlich Sammlung. Sammlung, Hinrichtung – auf einen einzigen, ausschließenden Punkt […] um mich von jener unseligen Zerstreuung zurückzurufen, die mein Labsal ist und meine Marter zugleich.52 49 Schreyvogel: Tagebücher, Tagebucheintragung vom 8. Januar 1811, Bd. 1, 12. 50 Vgl. hierzu ausführlich: Geml, Joseph Schreyvogel – Die kantische Moralphilosophie als Lebenskunst. 51 Schreyvogel: Tagebücher, Tagebucheintragung vom 15. Januar 1811, Bd. 1, 20. 52 Franz Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 1413 (wohl Anfang 1826)], SW 4, 389.

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Wenn Theodor W. Adorno im darauffolgenden Jahrhundert bemerkte, dass das Geheimnis der Kantischen Philosophie „die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung“ sei,53 so wird es gewiss auch jene lichte, hoffnungsaffine und puristischklare begriffliche Atmosphäre gewesen sein, die Schreyvogel und Grillparzer zu ihr hingezogen hatte. Dass die Kant-Lektüre für Grillparzer insbesondere auch eine markante sprachliche Erfahrung darstellte, lässt sich an einer Reihe von Äußerungen nachvollziehen. 1820 notiert er: „Jeder, der sich der Literatur, wenn auch bloß der schönen, widmen will, sollte Kants Werke studieren, und zwar, abgesehen vom Inhalt, schon bloß wegen ihrer streng-logischen Form.“54 Hält Grillparzer jedoch auf der einen Seite Kants Schriften zugute, dass sie ein Vorbild für jeden Schriftsteller darstellen, was die „Deutlichkeit, Sonderung und Präzision der Begriffe“ anbelangt, so weist er doch andererseits auf die möglichen prohibitiven Effekte jener Nüchternheit hin. Während nämlich für „Menschen, bei denen das Gemüt vorherrscht, […] Kants Schriften höchst nützlich“ seien, insofern sie eine ordnungsstiftende Wirkung hätten, bestehe andererseits für „[t]rockene Verstandes-Menschen“ die Gefahr, durch Kants Philosophie endgültig „ganz aus[zu]trocknen“.55 Mit diesen Bemerkungen über Kants Sprache ist sogleich ein grundlegender Hinweis in Bezug auf Grillparzers Haltung gegenüber dessen Philosophie gegeben. Bei aller Wertschätzung für sein Werk, das Grillparzer ähnlich wie vielen Zeitgenossen als Inbegriff und Maßstab von Philosophie gegolten hat – „[a]lles, was ich Philosophisches lese, vermehrt meine Achtung für Kant“56 –, hatte er durchaus Vorbehalte. Insbesondere, das klingt immer wieder deutlich und in einer dem späteren Spott Friedrich Nietzsches (1844–1900) frappierend ähnlichen Weise an, haderte er mit dem Apriorismus und dem Ansatz einer ‚reinen‘ 53 54 55 56

Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), GS 6, 378. Franz Grillparzer, Zur Ästhetik, SW 3, 211–258, hier: [Tgb. 622 (1820)], 241. Franz Grillparzer, Zur Philosophie, SW 3, 1144–1167, hier: [Tgb. 623 (1820)], 1154. Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 2010 (1832)], SW 4, 486. Der Begriff der Achtung, der in Kants Moralphilosophie – als Verhältnis zum Sittengesetz – eine exponierte Rolle spielt, scheint von Grillparzer sehr sensibel gewählt. Vgl. Kant, Grundlegung, AA 4, 400: „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“ [Herv. i. O.] Vgl. Grundlegung, AA 4, 401, Anmerkung: „Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter dem Worte Achtung nur Zuflucht in einem dunkelen Gefühle, anstatt durch einen Begriff der Vernunft in der Frage deutliche Auskunft zu geben. Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden. […] Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein desselben heißt Achtung […].“ [Herv. i. O.] Vgl. Grundlegung, AA 4, 436: „Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Werth bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Werth haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat.“ [Herv. i. O.]

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Vernunftphilosophie; besonders in Hinblick auf den nachkantischen Idealismus: „Damals also, wo man Prinzipien für alles auffand, ging, wie natürlich, die Kunst auch nicht leer aus. Das Schöne war apriorisch erwiesen, die Kunstformen desgleichen, so daß, wenn sie zufällig verloren gegangen wären, man sie augenblicklich aus freier Faust wieder hätte erfinden können.“57 Das trifft zwar so nicht auf Kant zu, zeigt aber jedenfalls die Richtung von Grillparzers Vorbehalten an. Sein eigenes Interesse an den Bewusstseinsformen war wesentlich soziohistorisch orientiert. Zur kulturellen Entwicklung der menschlichen Kognition wie der von ihr handelnden Epistemologie hat er selbst bemerkenswerte Überlegungen angestellt, so vor allem in einer Aufzeichnung vom Beginn der 1820er Jahre: Der Zustand, in welchem der menschliche Geist sich gegenwärtig befindet, ist nicht sein ursprünglicher. Jedermann gibt das zu hinsichtlich des Grades seiner Ausbildung; es gilt aber auch von der Art und Weise seines Wirkens. Der Geist des Menschen ist einer, und die Abteilungen, in die wir ihn zum Behufe der Erkenntnis, nach einzelnen Vermögen zerlegen, existieren weder wirklich, noch sind sie selbst im angenommenen Prinzip der Teilung so streng geschieden, als die Benennungen glauben machen könnten. Es gibt keinen Verstand ohne Urteilskraft, kein Denken ohne Erinnern, keine Vernunft ohne Phantasie; sie durchdringen sich wechselweise und nur das Vorherrschende gibt den Namen. Diese Sonderung ist schwer zu tadeln. […] Das ganze Verfahren ließe sich mit demjenigen ähnlichen vergleichen, durch welches die technischen Arbeiten der Ernährung, Bekleidung, Behausung, die im ursprünglichen Zustande, jeder alle, zu eigenem Gebrauche besorgt, beim Fortschreiten der Kultur aber jedes einzelne einem einzelnen zugeteilt wird. Da ist nun nicht zu leugnen, daß der Schneider, der bloß schneidert, ein Kleid verfertigen werde, das die Fellbedeckung des Urmenschen unendlich übertrifft und ebenso der Schuster den Schuh und der Schreiner den Tisch; ob aber der Schneider als Mensch in seiner Gesamtbildung durch diese Teilung nicht ebensoviel verliert, als er als Schneider gewinnt, ist noch eine andere Frage. Ebenso ist es mit den Geistesfähigkeiten. […] Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, je weniger treffen wir diese strenge Sonderung der Vermögen, und was die Schriften der Alten so unnachahmlich macht, ist eben dieses Hervorleuchten des ganzen Menschen, statt eines einzigen Vermögen [sic]. Sie überzeugen, wir wollen überweisen.58 57 Franz Grillparzer, Über den gegenwärtigen Stand der dramatischen Kunst in Deutschland (1835), SW 3, 686–698, 692. Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Derselbe, Kritische Studienausgabe (KSA), hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, München 3 1993, 24f.: „Wie sind synthetische Urteile a priori m ö g l i c h ? Fragte sich Kant, – und was antwortete er eigentlich? Ve r m ö g e e i n e s Ve r m ö g e n s : leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne, dass man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über dieses neue Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte […]. – Es kam der Honigmmond der deutschen Philosophie […], – alle suchten nach ‚Vermögen‘. Und was fand man nicht Alles – […] damals, als man ‚finden‘ und ‚erfinden‘ noch nicht auseinander zu halten wusste!“ [Herv. i. O.]. 58 Grillparzer, Zur Ästhetik [Tgb. 881 (1820/21)], SW 3, 220f.

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Grillparzers Ideen zu einer soziologischen Theorie der Erkenntnis – um jenen späteren Buchtitel Alfred Sohn Rethels (1899–1990) in diesem Zusammenhang zu paraphrasieren –59 sind etliche Jahrzehnte, bevor sich die Soziologie als akademische Disziplin etablierte und zu einem Zeitpunkt, als die Industrialisierung in Österreich in den Kinderschuhen steckte, durchaus bemerkenswert. JeanJacques Rousseau (1712–1778) und der zu jener Zeit noch lange nicht geborene Nietzsche scheinen sich in Grillparzers rhetorischer Frage derselben Aufzeichnung aus dem Jahr 1820 die Hände zu reichen: „Und wer würde da nicht den ungetrübten Blick des Natursohnes vorziehen dem zersplitterten und zersplitternden des kritischen Philosophen?“60 Grillparzers Vorbehalte gegen den Apriorismus finden sich in einem etwa zwanzig Jahre später geschriebenen satirischen Fragment zum Ausdruck gebracht, das „bald nach 1840“ verfasst wurde und Hegel wie Kant gleichermaßen karikiert. [Deutscher und Alleins] DEUTSCH. Und wer sind Sie? ALLEINS. Ich bin ein apriorischer Koch. DEUTSCH. Ist das nach französischer, deutscher, oder englischer Art? ALLEINS. Nach der Art oder vielmehr nach dem Prinzip des Absoluten. DEUTSCH. Und muß das absolut schmecken? ALLEINS. Sie haben vorher selbst die verschiedenen Arten erwähnt, die sämtlich aus der Erfahrung herstammend, keine feste Basis für eine allgemeine Kochkunst abgeben. […] Es handelt sich […] darum, aus der apriorischen, jeder Erfahrung vorangehenden Beschaffenheit des Magens und der Speise ein Prinzip zu gewinnen, dem sich jeder Einzelgeschmack fügen muß. DEUTSCH. Der meinige hat wenig Lust dazu. ALLEINS grob. Muß, muß! Das Verbindende zwischen Magen und Speisen ist der Hunger, das Selbstbewußtsein des Magens. Im Hunger stellt sich der Magen die noch gar nicht in ihm befindlichen Speisen vor, weshalb ich diese Vorstellung, die die Möglichkeit aller Speisen in sich begreift, als den Inhalt des apriorischen, des reinen oder leeren Magens ausspreche. DEUTSCH. Die Leere ist also auch ein Inhalt. ALLEINS. Allerdings. Wie ein leerer Beutel mit der Möglichkeit alles Geldes angefüllt ist. DEUTSCH. Kurioser Reichtum. […]61

Hervorzuheben ist Grillparzers hellhörige Aufmerksamkeit auf das Kantische Muß – („[D]em sich jeder Einzelgeschmack fügen muß.“ – „Muß, muß!“). Auch Adorno, der wie Grillparzer ein musikalisches Gehör hatte und Wortwahl und 59 Vgl. Alfred Sohn-Rethel, Soziologische Theorie der Erkenntnis, Frankfurt am Main 1985. 60 Grillparzer, Zur Ästhetik [Tgb. 881 (1820/21)], SW 3, 221. 61 Franz Grillparzer, Deutscher und Alleins (bald nach 1840), in: Derselbe, Satiren in Prosa, SW 3, 56f., 56.

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Tonfälle genau registrierte, war das Kantische ‚Muß‘ in den Ohren geblieben. In der Negativen Dialektik hat er vermerkt, dass Beethoven das „Motiv des ‚Muß ein ewiger Vater wohnen‘“ in seiner Komposition von Schillers An die Freude in der 9. Symphonie, die Adorno kurzerhand als „kantianische[ ] Hymne an die Freude“ bezeichnet, „in Kantischem Geist auf dem Muß akzentuierte“.62 Die Frage, welche Schriften Kants Grillparzer konkret gelesen hat und welche davon ihn besonders beschäftigten, wurde bereits ausführlich erörtert.63 In aller Kürze lässt sich Grillparzers Kant-Lektüre aber folgendermaßen umreißen: Nach ersten, inhaltlich wohl wenig ergiebigen Kontakten mit Kants Philosophie während der Studienzeit wird seine Kant-Rezeption im Jahr 1817 durch Schreyvogel angestoßen. Besonders ab 1819 hat sich Grillparzer eindringlich mit Kants Schriften auseinandergesetzt. Nach Fritz Störi erwirbt Grillparzer im Jahr 1820 zunächst die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) und die Kritik der Urteilkraft (1790) für seine eigene Bibliothek.64 Die Kritik der Urteilskraft, die zweifelsohne diejenige unter Kants Schriften ist, die Grillparzer am gründlichsten gelesen hat, wird in der Folge zusammen mit der Ästhetik (1806) Friedrich Bouterweks (1766– 1828) zu seinen wesentlichen Referenzen in Hinblick auf ästhetische Fragestellungen gehören. Einen Eindruck seiner besonders in den Jahren 1819/20 intensivierten Kant-Rezeption geben jene Tagebuchaufzeichnungen, die in der HanserWerkausgabe unter dem Titel Zur Ästhetik zusammengefasst sind.65 In Grillparzers Exemplar der Kritik der reinen Vernunft (Fünfte Auflage aus dem Jahr 1799) finden sich zahlreiche Anmerkungen und Anstreichungen.66 Paul Wittmann hält bezüglich Grillparzers Kant-Lektüre fest, dass sich Grillparzer „[a]ußer mit den ‚Kritiken‘ […] später auch mit den meisten anderen Werken beschäftigt“ habe.67 Bemerkenswert ist im Zusammenhang seiner Kant-Rezeption auch Grillparzers Freundschaft mit dem Wiener Psychiater, Schriftsteller, Bildungspolitiker und Popularphilosophen Ernst von Feuchtersleben (1806–1849), der seinerseits enthusiastischer Kant-Leser war, im Freundeskreis um Franz Schubert (1797–1828) 62 Adorno, Negative Dialektik (1966), GS 6, 378. Vgl. bezüglich des Kantischen ‚Muß‘ etwa den Abschnitt Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden: Kant, Grundlegung, AA 4, 447f. 63 Vgl. Fritz Störi, Die äußern Nachweise von Grillparzers Beschäftigung mit Kant, in: Derselbe, Grillparzer und Kant, Frauenfeld/Leipzig 1935 (= Wege zur Dichtung Bd. XX), 20–28; Friedrich Kainz, Beziehungen zu Kant und Hegel, in: Derselbe, Grillparzer als Denker. Der Ertrag seines Werks für die Lebens- und Weltweisheit, Wien 1975, 57–73; Peter Wittmann, Zu Grillparzers Rezeption von Kant und Hegel, in: Michael Benedikt, Reinhold Knoll und Josef Rupitz (Hg.), Verdrängter Humanismus. Verzögerte Aufklärung, Bd. 3: Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820–1880), Klausen-Leopoldsdorf 1995, 529–540. 64 Vgl. Störi, Grillparzer und Kant, 23. 65 Vgl. Grillparzer, Zur Ästhetik, SW 3, 211–258. 66 Vgl. Wittmann, Zu Grillparzers Rezeption von Kant und Hegel, 530. 67 Wittmann, Zu Grillparzers Rezeption von Kant und Hegel, 533.

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verkehrte und 1845 mit dem Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde ein wesentliches Psychiatrielehrbuch des 19. Jahrhunderts veröffentlichte, das etliche Male auf Kant rekurriert.68 Grillparzers 1850/51 verfasste Erinnerungen an Feuchtersleben enthalten eine vielzitierte Passage zur Bedeutung Kants für den früh verstorbenen Freund, die ebenso für seine eigene Haltung gegenüber Kant repräsentativ ist: In der Philosophie war Kant sein Mann. Diese Philosophie der Bescheidenheit, die das demütige ‚Ich weiß nicht‘ an die Spitze des Systems stellt, das Gegebene als eines Beweises ebenso wenig fähig als bedürftig zum Ausgangspunkt nimmt, völlig zufrieden, wenn sie das logisch Richtige, Würdige und allen Förderliche damit in Übereinstimmung bringen kann; die, gerade weil sie dem Denken seine Grenzen setzt, der Ahnung und Empfindung möglich macht, die leer gewordenen Räume als Religion und Kunst auszufüllen – – Kants Philosophie war die seinige. Daß er als Arzt, ohne eine Spur von Materialismus, gar zu gern Brücken zwischen der Physiologie und Psychologie gebaut hätte, ist wohl begreiflich.69

5.

„Brücken zwischen der Physiologie und Psychologie“

Die ‚Brücken zwischen der Physiologie und Psychologie‘, mit denen er auf die psychosomatische Ausrichtung von Feuchterslebens medizinischem Ansatz zu sprechen kam, beschäftigten auch Grillparzer selbst, introspektiv wie theoretisch. Mit einem introspektiven Interesse stellte er sich die Frage, wie die Zustände des abgeflachten Affekts und der Antriebsschwäche, die er an sich selbst wahrnahm, zu begreifen und vor allem, wie sie zu kurieren seien. Im Jahr 1829 hatte er zur Bekämpfung seiner raschen geistigen Erschöpfung und der wahrgenommenen Affektflachheit eine medizinische Behandlung ins Auge gefasst – und sich zuletzt gegen den vereinbarten Termin bei einem ihm offenbar in privaten Zusammenhängen bekannt gewordenen Mediziner entschieden. In seinem ausführlichen Brief an Doktor Fechner – die Herausgeber mutmaßen, dass es sich um einen Gottfried Fechner gehandelt haben mag –, in dem er seine Terminabsage begründet, heißt es, als Teil der Rechtfertigung, dass er gar nicht 68 Vgl. Geml, Ernst Freiherr von Feuchtersleben. 69 Franz Grillparzer, Meine Erinnerungen an Feuchtersleben (1850/51?), SW 4, 221–224, 222f. Vgl. dazu etwa die „Schlußanmerkung“ aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: Kant, Grundlegung, AA 4, 463: „Es ist aber auch eine ebenso wesentliche Einschränkung [der] Vernunft, daß sie weder die Nothwendigkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch dessen, was geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine Bedingung, unter der es da ist, oder geschieht, oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf diese Weise aber wird durch die beständige Nachfrage nach der Bedingung die Befriedigung der Vernunft nur immer weiter aufgeschoben. Daher sucht sie rastlos das Unbedingt-Nothwendige und sieht sich genöthigt, es anzunehmen, ohne irgend ein Mittel, es sich begreiflich zu machen; glücklich genug, wenn sie nur den Begriff ausfindig machen kann, der sich mit dieser Voraussetzung verträgt.“ [Herv. i. O.]

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wisse, „ob mein gegenwärtiger Zustand dem Geiste oder dem Körper zur Last geschrieben werden soll“. Das Syndrom bestehe „in einem schnellen Ermüden bei geistiger Arbeit; in der Unlust einen Gedanken zusammenhängend und mit Ausdauer zu verfolgen; in einem Mangel an Wärme des Gemüts und der Einbildungskraft“. Schon zu Beginn seiner Ausführungen hatte Grillparzer befunden: „[D]er kräftigste Widerstand, den der Mensch einem körperlichen Übel leisten kann, [liegt] in der eigenen Willenskraft“. Die Aussage bedarf zwar der Einschränkung und Korrektur, doch eignete ihr zumindest ein Wahrheitsgehalt, was Grillparzers persönliche Problemkonstellation betraf. Sein Brief kam jedenfalls zu dem im Jahr 1829 wohl nicht unberechtigten Schluss: „Wie soll die Arzneikunde mit ihren mechanisch-rohen Mitteln dazu gelangen, das gestörte Ebenmaß in diesem himmlischen Gebäude von Gedanken und Empfindungen wieder herzustellen? […] Nein, nein, mein Herr Doktor! Wir wollen uns in keine Kur einlassen, sonst aber gute Freunde bleiben!“70 Aufschlüsse über die subjekttheoretischen Fragestellungen, wie sie Grillparzer beschäftigten, waren seinerzeit noch vielfach ein Desiderat. Eines seiner Hauptinteressen galt unzweifelhaft gerade jenem Bereich, den Kant aus seiner kritischen Philosophie ausgeschlossen hatte und der zu dem Zeitpunkt noch keine eigene akademische Stätte hatte, nämlich der Psychologie. Man hat sich in dem Zusammenhang zu vergegenwärtigen, dass ein erster Lehrstuhl für Psychologie an der Wiener Universität erst ein halbes Jahrhundert nach Grillparzers Tod, nämlich im Jahr 1922 eingerichtet wurde; das Wiener Institut für Psychologie folgte 1934.71 Vorangegangen war jener akademischen Institutionalisierung der Psychologie in Wien freilich im Jahr 1879 die Gründung des Instituts für experimentelle Psychologie in Leipzig durch Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Wilhelm Wundt (1832–1920). Es wurde 1883 in ein Universitätsinstitut transformiert. Während sich in dieser „psychophysikalisch“ geprägten Institution allerdings eine ganz eminente „Spur von Materialismus“72 fand (wiewohl Fechner vormals ein keineswegs unspekulatives Buch über die Vergleichende Anatomie der Engel [1825] verfasst hatte), ist es bemerkenswert, dass eine andere Linie der Verwissenschaftlichung der Psychologie justament von Königsberg ausging; und zwar von Kants Lehrstuhlnachfolger Johann Friedrich Herbart (1776–1841). Dieser war einige Jahre nach Kants Tod (1804), im Jahr 1809, auf dessen Lehrstuhl nachgerückt und hatte in der Folge mit Publikationen wie dem Lehrbuch zur Psychologie (1816) oder Psychologie als Wissenschaft. Neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik (1824/25) gewissermaßen von ‚geisteswissenschaftlicher‘ 70 Franz Grillparzer, [An Doktor Fechner/Tgb. 1746, wohl Ende 1829], SW 4, 454–456, 455f. 71 Vgl. Universität Wien, Fakultät für Psychologie, Zahlen und Fakten [https://psychologie.uni vie.ac.at/ueber-uns/], (22. 2. 2022). 72 Franz Grillparzer, [Meine Erinnerungen an Feuchtersleben], SW 4, 221–224, 223.

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Seite zur Verwissenschaftlichung der Psychologie beigetragen. Bei Grillparzer findet sich in späteren Aufzeichnungen Herbart einige Male erwähnt; einen erheblichen Eindruck dürfte er auf ihn aber nicht gemacht haben. In einer sehr frühen Tagebuchaufzeichnung aus der Zeit um 1809 oder 1810, die mit der süffisanten Bemerkung eingeleitet wird, „[e]s wandelt mich immer ein Lachen an, wenn ich das Wort Philosophie höre“, moniert Grillparzer ein grundsätzliches Defizit an psychologischem Wissen in der Disziplin der Philosophie: Die Fragen, woran uns eben etwas liegt, gibt es eine Gottheit? Sind wir frei, unsterblich? Ist Wahrheit in unsrem Erkennen? u.s.w. werden immer unentschieden gelassen […]. Worin mag wohl der Grund von dem allem liegen? – Gewiß der Hauptgrund in der gänzlichen Vernachlässigung der Psychologie. Ohne diese Wissenschaft wird es jedem unmöglich bleiben in dem Gebiete der Philosophie bedeutende Fortschritte zu machen, wie will ich das Übermenschliche kennen, das überhaupt nur durch analogische Schlüsse von dem Menschlichen aus erkannt werden kann, wenn mir der Mensch selbst ein Rätsel ist. In der Psychologie sind wir aber so vollkommen unwissend, daß unter 1000 Erfahrungen die ein schlichter Mensch an sich in einem Tage macht, gewiß: 900 unerklärt bleiben, wenn er auch zu dem Ende alle sogenannten Philosophen Deutschlands (des jetzigen Nestes dieser Mißgeburt) zusammen rufen würde. Woher mag wohl diese gänzliche Vernachlässigung der Psychologie rühren? möchte mancher fragen.73

Im weiteren Verlauf der Ausführung versucht sich Grillparzer zwar nicht an einer Beantwortung eben dieser Frage, dafür aber an einer näheren Charakteristik der Fertigkeiten, die seiner Auffassung nach den Psychologen auszeichnen sollten. „Tiefer Beobachtungsgeist, eindringender Scharfsinn, anhaltendes Studium der körperlichen und geistigen Naturen“ würden dazu gehören, „einen vollkommenen Psychologen zu bilden“. Von all dem seien die zeitgenössischen Philosophen, als die seinerzeit potentiell zuständigen Inauguratoren psychologischer Erkenntnis, Grillparzers Ansicht nach weit entfernt. Die Aufzeichnung terminiert in einer emphatischen Anrufung des Mathematikers, Naturforschers und Schriftstellers Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799): „O Lichtenberg Lichtenberg, warum wardst du deinem Vaterlande so früh entrissen!“74 Grillparzers eminentes Interesse an psychologischen Fragestellungen, das der Ausgestaltung seiner dramatischen Figuren zugutekam, hat sich nicht zuletzt an introspektiven Selbsterfahrungen herausgebildet. Wiederholt werden in den Tagebüchern sein eigener phasenweise desinteressiert-abgeflachter Affekt und andere Phänomene der Willenslähmung zum Gegenstand des Nachdenkens. „Mein natürlicher Zustand ist ein mit Zerstreuung abwechselndes inneres Brüten. Am liebsten ohne Gegenstand“. Verbunden mit einer Verdüsterung des 73 Grillparzer, Zur Philosophie [Tgb. 79 (1809/10)], SW 3, 1144f. 74 Grillparzer, Zur Philosophie [Tgb. 180 (1816)], SW 3, 1145.

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Gemüts beobachtet Grillparzer an sich die Abstumpfung der Empfindung; sehnt sich danach, „ruhig und tätig“ zu werden – kann sich zu nichts motivieren, verbleibt in untätiger Unruhe. „Mein Herz ist anteilnahmslos geworden. Mich interessiert kein Mensch, kein Genuß, kein Gedanke, kein Buch.“75 Gegenüber der immer wieder an sich selbst beobachteten emotionalen Teilnahmslosigkeit, selbst im Angesicht des Todes von näher stehenden Personen, empfindet er „grimmigen Abscheu“: „Himmel! Kann man dahin kommen, die Menschen nur als Figuren einer Komödie zu betrachten […] ohne Rücksicht darauf, daß sie ein lebendes Selbst sind, mit Leiden und Freuden, mit Willen und Gemüt?“76 Es verwundert von dieser Ausgangslage betrachtet nicht, dass Grillparzer eine lebensvolle emotionale Anteilnahme und eine sozio-affektive Plastizität des Subjekts – ganz anders als vielen überlieferten Morallehren – geradezu als moralischer Vorzug erschienen: „Ich wollte was schuldig sein um einen Schmerz, ein Unglück, eine Verzweiflung, die mein Wesen ganz aufgehen machte in eine Empfindung, und mich – nur für eine Stunde – von dieser lauernden Verstandeskälte freimachte, die wie ein hohnlachender Narr hinter jedem Vorhang hervorguckt.“77 Der – durchaus zurecht – vielgepriesene ‚kühle Kopf‘ erweist sich von der Erfahrungslage Grillparzers aus betrachtet eher als prekär denn als erstrebenswert. Er erscheint ihm keineswegs als die verlässlichste moralische Instanz, vielmehr rückt für ihn – wie später für Max Horkheimer (1895–1973) und Adorno – das Motiv eines potentiellen Umschlags von Vernunft in Irrationalität in den Blick, wenn, aus welchen Gründen auch immer, die orientierende Kraft der Emotionen blockiert ist. Ist Vernunft ihrem Begriff nach, der sich vom Vernehmen herleitet, Quintessenz des Vernommenen, so kommt gerade auch den durch Emotionen vermittelten Daten Relevanz für ihre Entschlüsse zu. Vermutlich hätte sich Grillparzer interessiert gezeigt an Ausführungen über die neuronalen Grundlagen der Kognition und insbesondere der Entscheidungsfindung, wie sie dann Ende des 20. Jahrhunderts etwa Antonio Damasio ins Licht rückte. Dieser führt in seiner Theorie der ‚somatischen Marker‘ die enge Verkopplung von rationalen Entscheidungsprozessen mit emotionalen Bewertungssystemen aus und hält fest, „daß die kühle Strategie [der Entscheidungsfindung; Anm. GG], die Kant und andere vertreten haben“, wonach „[r]ationale Prozesse […] nicht von Leidenschaften behindert werden [dürfen]“, im empirischen Bereich am ehesten der Art und Weise ent-

75 Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 1433 (1826)], SW 4, 398. Vgl. auch Tagebücher [Tgb. 1109 (1822)], SW 4, 373ff, wo Grillparzer sich die eigene „Gefühllosigkeit“ und „Dumpfheit“ der Reaktion in Bezug auf einen objektiv erschütternden Todesfall vorhält. 76 Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 1613 (1827)], SW 4, 431. 77 Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 1615 (1827)], SW 4, 432.

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spräche, „wie Patienten mit präfrontaler Schädigung an Entscheidungen herangehen“.78 Die intrinsische Verknüpfung von Kognition und Emotion in seinem Verständnis des Willensbegriffs hat Grillparzer in eine Formulierung gekleidet, die wie eine Variation von Kants bekannter Formulierung der „zwei Stämme der Erkenntnis“ anmutet, wonach „Gedanken ohne Inhalt [..] leer, Anschauungen ohne Begriffe […] blind“ seien.79 Wie Anschauung und Verstand für Kant die beiden Stämme der Erkenntnis bilden, so bedarf der gute Wille für Grillparzer der Triebe und Leidenschaften, der Emotion, um sich zu realisieren. Ausgedrückt findet sich dies etwa in einem 1847 geschriebenen Gedicht, das die Tänzerin Lola Montez (1821–1861) in den Mittelpunkt stellt, die eine als skandalös geltende Affaire mit dem Jahrzehnte älteren bayerischen König Ludwig I. (1786–1868) eingegangen war: […] So eint sich unserm Geist die Leidenschaft, Die ihn beirrt, zum Schlimmen oft erregt, Doch liegt in ihr auch unsers Guten Kraft, Dem Blinden gleich, der einen Lahmen trägt. Denn harrtest du, bis aus Vernunft und Recht Entstünde, was das Recht und die Vernunft gebot, Schlimm wärs bestellt ums menschliche Geschlecht, Der Trieb erzeugt die Handlung, die uns not. […]80

Während das Gedicht die Formulierung zu evozieren scheint, wonach Leidenschaften ohne Absichten blind, der gute Wille ohne triebhafte Motivation jedoch lahm sei, geht das von Grillparzer aufgegriffene Motiv des Blinden, der den Lahmen trägt, tatsächlich wohl auf ein Gedicht von Georg Fürchtegott Gellert (1715–1769) zurück. Es trägt den Titel Der Blinde und der Lahme und in der Mitte des Gedichts spricht der Lahme zum Blinden: [… ] Entschließe dich, mich fortzutragen; So will ich dir die Stege sagen: So wird dein starker Fuß mein Bein, Mein helles Auge deines sein. 78 Antonio Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn (1994: Descartes’ Error: Emotion, Reason and the Human Brain; übers. v. Hainer Kober), Berlin 6 2010, 235f. 79 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998. Im Folgenden nach der Paginierung der ersten Auflage 1781 (A) und der zweiten Auflage 1787 (B) zitiert. Hier: A 52/B 76. 80 Grillparzer, Lola Montez, in: Derselbe, Gedichte, SW 1, 310f.

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Der Lahme hängt mit seinen Krücken Sich auf des Blinden breiten Rücken. Vereint wirkt also dieses Paar, Was einzeln keinem möglich war. […]81

Die Moral des Gedichts ist im Deutschen sprichwörtlich geworden: Wenn der Blinde den Lahmen trägt, gelangen beide zum Ziel. In Grillparzers Version findet sich das Motiv als Versinnbildlichung des Verhältnisses von Vernunft und Leidenschaften angewendet. Die Leidenschaften begreift Grillparzer in einer frühen Aufzeichnung aus dem Jahr 1808, mithin in der Studienzeit, in einem ganz ähnlichen Sinn wie Kant in einer Formulierung der Metaphysik der Sitten; wobei dahingestellt bleibt, ob er mit jener Schrift schon zum Zeitpunkt der Aufzeichnung in Berührung gekommen war. Kant unterscheidet in der Metaphysik der Sitten die Leidenschaften von den Affekten durch Beständigkeit und Reflektiertheit: „Leidenschaft […] ist die zur bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde […]. Die Ruhe, mit der ihr nachgehangen wird, läßt Überlegung zu und verstattet dem Gemüth sich darüber Grundsätze zu machen“.82 In ähnlicher Weise – die sich ja auch einfach allgemein aufdrängt – unterscheidet Grillparzer in der frühen Notiz von 1808 Leidenschaft von ‚Bewegung‘ respektive Affekt: „Bewegung ist die erste augenblicklich angenehme oder unangenehme Regung der Seele […], Leidenschaft aber hingegen, wie ich glaube deutet schon auf die lange Dauer in der Seele des Subj[ekts]“.83 Die Leidenschaften sind durch Kognitionen wesentlich geprägt, zum Teil überhaupt durch diese hervorgebracht. Grillparzer fasst die „Neigungen und Leidenschaften“ als „die aktiven Faktoren der Menschennatur“. Die Aufgabe des Sittlichen sei eine negative, nämlich das Übermaß der Neigungen und Leidenschaften zu hemmen, weshalb das Sittliche – das Grillparzer auch einen „Maulkorb für den Willen“ nennt – „als solches nicht der Zweck des Menschen sein“ könne.84 Interessant ist in dem Zusammenhang zu bemerken, dass Grillparzer sich umgekehrt auch vom Willensbegriff Schopenhauers als eines „nimmer ruhende[n] Streben[s]“ distanziert. Man habe damit nur „ein anderes Wort für das Wort Kraft, das zu allen Zeiten die Verzweiflung der Denker war“. Entsprechend heißt es dann auch weiter, implizit Partei für Kant ergreifend: „Schopenhauers philosophische Entdeckungen haben mich nie überzeugt; er ist eben ästhetisch.“85 81 Georg Fürchtegott Gellert, Der Blinde und der Lahme, in: Derselbe, Poetische Schriften, Erster Theil, hg. v. F. A. Schraembl, Wien 1792, 51f, 51. 82 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA 6, 408. 83 Franz Grillparzer, Zur Psychologie, SW 3, 1168f, hier: [Tgb. 623 (1820)], 1168. 84 Grillparzer, Zur Psychologie [Tgb. 2057 (1832)], SW 3, 1163 und Franz Grillparzer, Notizen und Einfälle, SW 3, 1161–1167, hier: Tgb. 155 (1812)], 1161. 85 Grillparzer, Zur Philosophie [Tgb. 4330 (1864?) und Tgb. 4336 (1864)], SW 3, 1159.

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Das doppelte Kausalitätsband

Zu dem, was Grillparzer zu Kant hinzogen hatte, gehörte nicht zuletzt das Pathos der Freiheit, mit dem seine Schriften den Menschen als vernunftbegabtes Wesen dazu aufrufen, sich selbst zu bestimmen und mehr zu werden als ein unmündiges Derivat der inneren und äußeren Umstände. In einem Entwurf aus dem Jahr 1820, in dem sich Grillparzer – dem Herausgebertitel gemäß – Über das Wesen des Drama zu verständigen sucht, macht er, in offensichtlicher Anlehnung an Kant, die Vorstellung eines „doppelten Kausalitätsbandes“ geltend, das den Menschen bestimme: Das Kausalitätsband ist nun, den Begriff der Freiheit vorausgesetzt, seiner Möglichkeit nach ein doppeltes: Nach dem Gesetze der Notwendigkeit d.i. der Natur, und nach dem Gesetze der Freiheit. Unter dem Notwendigen wird hier alles dasjenige verstanden, was, unabhängig von der Willensbestimmung des Menschen, in der Natur oder durch andere seinesgleichen geschieht und was, durch die unbezweifelbare Einwirkung auf die untern, unwillkürlichen Triebfedern seiner Handlungen, die Äußerungen seiner Tätigkeit, zwar nicht nötigend, aber doch anregend bestimmt.86

Lässt man in Grillparzers Definition von ‚Notwendigkeit‘ die beiden Relativsätze außer acht, so bleibt als irritierende Kurzformel eine äußerst höfliche, taktvolle Variante einer ‚nicht nötigenden Notwendigkeit‘ übrig; einer Notwendigkeit, die die Äußerungen der menschlichen Tätigkeit „zwar nicht nötigend, aber doch anregend bestimmt“. Es ist natürlich wesentlich zu sehen, dass diese ‚nicht nötigende Notwendigkeit‘ nur die Sphäre der menschlichen Handlungen, mithin die Äußerungen der menschlichen Tätigkeit betrifft. Hier sei die Wirkung dessen, was „notwendig vorgeht […] bestimmend (nicht nötigend)“. Grillparzer führt erklärend aus, dass „die Einwirkung [der] äußern Triebfedern“, also die Einwirkung der ‚nicht nötigenden Notwendigkeit‘, durchaus so stark sei, dass sie „bei Menschen von heftigen, durch verkehrte Erziehung und unglückliches Temperament genährten Neigungen, oft alle Tätigkeit der Freiheit aufzuheben scheint“. Auch könnten „diese Triebfedern einen Grad von extensiver und intensiver Größe erreichen […], wo fast nur ein halbes Wunder möglich machen kann, ihnen zu entgehen“. Unter jenen „äußern Triebfedern“ – der durch Kant entscheidend geprägte Begriff der „Triebfeder“ ist einschlägig – versteht Grillparzer sämtliche Einwirkungen, die „außer unserm Willenskreise“ liegen, mithin also Faktoren der äußeren wie inneren Natur wie der gesellschaftlichen Welt und bezeichnet sie als „Verhängnis“. Die Überlegungen stellt Grillparzer im Zusammenhang mit grundlegenden Gedanken zur Konzeption des Trauerspiels an. Dessen Anlage sieht er vor einer

86 Grillparzer, Über das Wesen des Drama [Tgb. 639 (1820)], SW 3, 301–303, 301f.

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grundlegenden konzeptionellen Alternative stehen: „Im Trauerspiele wird nun entweder der Freiheit über die Notwendigkeit der Sieg verschafft, oder umgekehrt.“ Und er setzt hinzu: „Wir Neuern halten das erstere für das allein Zulässige, worüber ich aber ganz der entgegengesetzten Meinung bin.“ Denn „die Erhebung des Geistes, die aus dem Siege der Freiheit entspringen soll“, würde das Trauerspiel scharf abschließen, „ohne jenes weitere Fortspielen im Gemüte des Zuschauers zu begünstigen, das eben die eigentliche Wirkung der wahren Tragödie ausmacht“.87 Mit diesen Ausführungen hat Grillparzer eine Reflexion des Freiheitsbegriffs ins Zentrum seiner dramaturgischen Überlegungen gestellt, mit deutlicher, obschon impliziter Anlehnung an Kant. Dieser hatte im Abschnitt über die Auflösung der Dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft eine doppelte Kausalität geltend gemacht: „Man kann sich nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken, entweder nach der Natur, oder aus Freiheit .“ Und „ [d]ie Freiheit im praktischen Verstande“ als „Unabhängigkeit der Willkür von N ö t i g u n g durch Antriebe der Sinnlichkeit“ bestimmt. Erklärend heißt es dazu weiter: Denn eine Willkür ist s i n n l i c h , so fern sie p a t h o l o g i s c h (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) a f f i z i e r t ist; sie heißt t i e r i s c h (arbitrium brutum), wenn sie p a t h o l o g i s c h n e z e s s i t i e r t werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.88

In einer späteren Aufzeichnung aus dem Jahr 1846 kommt Grillparzer auf die Vorstellung eines doppelten Kausalitätsbandes noch einmal zurück und prägt einen – recht österreichischen – Komplementärbegriff zu der ‚nicht nötigenden Notwendigkeit‘, nämlich die sogenannte „Separat-Notwendigkeit“, die das menschliche Verhalten auszeichne: Ich zweifle nicht, daß in den menschlichen Dingen, also auch in der Geschichte, ebensogut eine Notwendigkeit ist, als in den Naturdingen. Aber jeder Mensch hat zugleich seine Separat-Notwendigkeit, so daß Millionen Richtungen parallel, in krummen und geraden Richtungen [Linien] neben einander laufen, sich durchkreuzen, fördern, hemmen, vor und rückwärts streben und dadurch für einander den Charakter des Zufalls annehmen, und es so, abgerechnet die Einwirkung der Naturereignisse, unmöglich machen, eine durchgreifende, alle umfassende Notwendigkeit des Geschehenden nachzuweisen.89

87 Grillparzer, Über das Wesen des Drama [Tgb. 639 (1820)], SW 3, 302. 88 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 534/B 561f. [Herv. i. O.]. 89 Franz Grillparzer, Zur Anthropologie, SW 3, 1170–1172, hier: [Tgb. 3853 (1846)], 1171.

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Das Netzwerk der Freiheit

Wortgeschichtlich betrachtet ist der Begriff der Pflicht, den Kant mit dem der Freiheit enggeführt hat, mit dem der Pflege verwandt.90 Ob die Pflicht über das Althochdeutsche phliht (Fürsorge, Obhut, Auftrag, Teilnahme, Gemeinschaft, Sitte) auch mit dem lateinischen plectere – flechten respective plecta – Flechtwerk91, respektive dem altgriechischen πλέκω (pléko) – flechten verwandt ist, etwa über das altsächsische plehta, muss an dieser Stelle offen bleiben. In jedem Fall gibt es zwischen Pflicht und flechten (flicht) nicht nur eine weitgehende lautliche Übereinstimmung, die Pflicht lässt sich auch in einem semantischen Sinn als eine bestimmte Art der Verflochtenheit, als eine Verbundenheit und Verbindlichkeit betrachten, die das menschliche Handeln in der Gesellschaft betrifft; und sei es, wie in den von Kant geltend gemachten „Pflichten gegen sich selbst“, die Gesellschaft der eigenen Person.92 Der semantisch-sinnbildliche Zusammenhang von Pflicht – Geflochtenem – verflochtenen Bändern – Verbindlichkeit – Verbindung; von Band, Bindung und gemeinschaftlichem Bund ist Kants Sprachphantasie jedenfalls wohl präsent gewesen, wie sich aus entsprechenden begrifflichen Zusammenführungen in seinen Schriften schließen lässt. So heißt es etwa zu Beginn des Abschnittes der Pflichten gegen sich selbst in der Metaphysik der Sitten (1797), in dem der augenscheinliche Widerspruch in der Vorstellung einer ‚Pflicht gegen sich selbst‘ exponiert wird: „Denn in dem Begriffe der Pflicht ist der einer passiven Nöthigung enthalten (ich werde v e r b u n d e n ). Darin aber, daß es eine Pflicht gegen mich selbst ist, stelle ich mich als v e r b i n d e n d , mithin in einer aktiven Nöthigung vor (Ich, eben dasselbe Subject, bin der Verbindende)“.93 In der basalen Formulierung des kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) – „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ – ist die Verbindung vom Subjekt zur Allgemeinheit unmissverständlich hergestellt; wobei Kant in dem Zusammenhang an die Allgemeinheit von Naturgesetzen dachte („handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum a l l g e m e i n e n N a t u r g e s e t z e werden sollte“).94 Die unauflösliche Ver90 Vgl. die Einträge „pflegen“ und „Pflicht“ in: Duden. Herkunftwörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, 3., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., hg. v. der Duden-Redaktion, Mannheim u. a. 2001, 603. 91 Vgl. den Eintrag „Pflicht“ in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (https://www.dwd s.de/wb/etymwb/Pflicht) [zuletzt abgerufen 15. 8. 2022]. 92 Vgl. Immanuel Kant, Der ethischen Elementarlehre Erster Theil. Von den Pflichten gegen sich selbst überhaupt, in: Derselbe, Die Metaphysik der Sitten, AA 6, Berlin 1914, 417–447. 93 Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA 6, 417 [Herv. i. O.]. 94 Kant Grundlegung, AA 4, 421 [Herv. i. O.].

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flechtung von Freiheit und Gemeinschaft wird dann in Hegels Rechtsphilosophie weitergeführt und expliziert, unter der zentralen Annahme, dass Freiheit gesellschaftlicher Institutionen bedarf, um sich verwirklichen zu können. Auch wenn sich Grillparzer seiner Disposition gemäß, die ihn dazu drängte, sein Umfeld mit abschätzigen Bemerkungen zu versehen, zum kategorischen Imperativ mehrfach despektierlich äußerte, besteht doch kein Zweifel daran, dass er – bei aller erkennbaren Abgrenzung – von Kants Konzeption der Idee der Freiheit tief beeindruckt war. Eine der besagten abwertenden Äußerungen über den kategorischen Imperativ findet sich im Zusammenhang eines Kommentars zu dem um 1851 von Eduard Bauernfeld (1802–1890) verfassten Lustspiel Der Kategorische Imperativ. Grillparzer, der mit Bauernfeld freundschaftlich bekannt war, war das Stück offensichtlich in der Funktion des Jurymitglieds einer Preisausschreibung bekannt geworden, in der es schließlich auch – wohl unter Grillparzers Mitwirkung – den ausgeschriebenen Preis gewann. Zugleich hält Grillparzer in seinem Tagebuch fest, dass sich gegen das Stück, auch wenn es unter den Eingereichten noch das Beste gewesen sei, durchaus alles Mögliche einwenden lasse; insbesondere sei es „ungeschickt, die beinahe vergessenen Narrheiten einer vergangenen Zeit – hier den kategorischen Imperativ der Kantianer – zu einem dramatischen Hebel für die Gegenwart zu brauchen“.95 Es mag interessant sein, dass Grillparzer vom ‚kategorischen Imperativ der Kantianer‘ und nicht vom ‚kategorischen Imperativ Kants‘ spricht; ob er sich damit allerdings wesentlich gegen Kants Adepten und damit verbunden gewisse Rezeptionsverengungen richtete, oder ob die Formulierung eher Zufall war, mag hier offen bleiben. Im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ wäre Grillparzers eigenes, 1828 uraufgeführtes Stück, Ein treuer Diener seines Herrn näher zu betrachten, von dem er in der Selbstbiographie sagt, er habe mit dessen Protagonisten Bancbanus gewiss nicht, wie dem Stück vorgeworfen worden war, „eine Apologie der knechtischen Unterwürfigkeit“ im Sinn gehabt, sondern vielmehr „den Heroismus der Pflichttreue […], der ein Heroismus ist so gut als jeder andere“. Dass es sich bei dem Stück keineswegs um ein Plädoyer für knechtische Unterwürfigkeit handelte, dürfte jedenfalls auch der seinerzeitige Kaiser (Franz I.) deutlich gewärtigt haben, der dem Autor am Tag nach der erfolgreichen Uraufführung, der er beigewohnt hatte, durch den Präsidenten der Polizeihofstelle Graf Sedlnitzky ausrichten ließ, „das Stück habe Seiner Majestät so sehr gefallen, daß sie alleiniger Besitzer desselben zu sein wünschten“ – eine ver-

95 Franz Grillparzer, Der kategorische Imperativ, in: Derselbe, Preislustspiele, SW 3, 846–858, 848; vgl. auch Grillparzer, Preislustspiele [Tgb. 4047 (1851)], 858.

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gleichsweise charmante Form der oktroyierten Zensur.96 Den Bezug des Stückes zu Kant und zugleich Grillparzers dramatisch ausgestalteten Einwand gegen ein verabsolutiertes Pflichtverständnis – ein Pflichtverständnis, das also nicht länger verflochten, sondern, in wörtlicher Übersetzung des lateinischen absolvere (absolutus), von den konkreten Situationen losgelöst ist – hat Fritz Störi folgendermaßen zusammengefasst: Wir treffen eine Hauptgestalt, die sich Freiheit gleichsam dadurch bewahrt, daß sie sich durch kein Geschehen anfechten, durch nichts sich im Entschlusse beirren läßt: das ist Bancban, der treue Diener. Und dennoch ist letztlich auch er nicht frei; er ist ja im Banne eines viel zu absolut gefaßten Pflichtbegriffes, eines Pflichtbegriffes, der durch diese Schwere und Unanpaßbarkeit an die Umstände der Lage und des Falles sich selbst ad absurdum und zur Katastrophe führen muß. Er will die Pflicht in ihrer idealen Form verwirklichen, aber er verkennt, daß er von lauter Realität umgeben ist. […] Und doch ist dieser Bancban eine Gestalt, die die Würde, welche das sittliche Gesetz nach Kant an sich hat, als dessen Vertreter sich erwirbt.97

Zu Grillparzers Kummer hat – erwartbarerweise – Schreyvogel das Stück, das, basierend auf einer verantwortungsvollen, aber wirklichkeitsentfremdeten Pflichttreue die mitwirkenden Personen zielsicher in die Katastrophe navigiert, nicht zugesagt. Grillparzer, hin- und hergerissen ob seines eigenen Urteils über das Stück, vermerkt Ende 1827, also noch vor der erfolgreichen Uraufführung: „Der Theatersekretär Schreyvogel besteht darauf, daß ihm das Stück nicht gefalle. Ich halte viel auf des Mannes Urteil, und mein innerstes Gefühl gibt ihm recht. […] Ich fühle meine Kraft versiegen. Mein Herz ist betrübt bis in den Tod.“98 Auch Grillparzers über den langen Zeitraum zwischen 1822 und 1848 entstandenes, schließlich erst nach seinem Tod uraufgeführtes99 Trauerspiel Libussa wirft besorgte Blicke auf eine zunehmend abstrakt werdende Welt, die sich aus den sinnfälligen Verbindungen löst und darüber ihr Mitgefühl verliert, das, nach dem späteren Wort von Arno Gruen, die „in uns eingebaute Schranke zum Unmenschlichen“ ist.100 L i b u s s a . […] Es lösen sich der Wesen alte Bande, Zum Ungemeßnen wird, was hold begrenzt,

96 Grillparzer, Selbstbiographie ([1853] 1872), SW 4, 153. Vgl. auch Grillparzers Antwortbrief an Graf Sedlnitzky: Grillparzer an Josef Graf von Sedlnitzky, Brief aus dem Jahr 1828, in: Grillparzer, Briefe, SW 4, 729–877, 786–788. 97 Störi, Grillparzer und Kant (1935), 69. 98 Franz Grillparzer, [Tagebücher: Tgb. 1620 (Ende 1827)], SW 4, 434. 99 Vgl. Helmut Bachmaier, Nachwort, in: Franz Grillparzer, Libussa. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Stuttgart (1982) 2008, 92–96, 92. 100 Arno Gruen, Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit, München (1997) 82011, 11.

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Ja, selbst die Götter dehnen sich und wachsen Und mischen sich in einen Riesengott; Und allgemeine Liebe wird er heißen. Doch teilst du deine Liebe in das All, Bleibt wenig für den Einzelnen, den Nächsten, Und ganz dir in der Brust nur noch der Haß. Die Liebe liebt den nahen Gegenstand, Und alle lieben ist nicht mehr Gefühl, Was du Empfindung wähnst, ist nur Gedanke, Und der Gedanke schrumpft dir ein zum Wort, Und um des Wortes willen wirst du hassen, Verfolgen, töten […]101

Nach Grillparzers – Rousseauisch anklingender – Bemerkung ist in Libussa „der Streit über den Vorrang der Männer vor den Weibern in den Vordergrund gestellt, obgleich es sich eigentlich um den Widerstreit der Gefühls- und Verstandeswelt des goldenen Weltalters und der nüchternen Ordnung handelt“.102 Während die Figur der Libussa eine Vernunft des umsichtigen Vernehmens repräsentiert, nicht das schlechthin Gute, sondern vielmehr eine nachsichtige Güte in einer immer schon schlechten, korrumpierten, schuldhaften Welt verkörpert, vertritt ihr Gemahl Primislaus die instrumentelle Klugheit des technisch-kapitalistischen Zeitalters, fokussiert auf „Planung, Dynamik und Expansion“.103 Eine wesentliche Aussage des Stücks ist Libussas Schwester Tetka in den Mund gelegt: Te t k a . Das Denken selbst, das frei sich dünkt vor allen, ist eigner Nötigung zu Dienst verfallen. […] Wer seine Schranken kennt, der ist der Freie, Wer frei sich wähnt, ist seines Wahnes Knecht.104

Dies entspricht, in poetischer Form, Einsichten, wie sie im 20. Jahrhundert Adorno formuliert hat, und wonach ein Bewusstsein von den eigenen Abhängigkeiten ein erster Schritt auf dem Weg zu mehr Freiheit ist: Es ist die Einsicht in den Bann, die ihn transzendiert.105 Umgekehrt hält Adorno im Kant gewidmeten Freiheitsmodell der Negativen Dialektik – Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft – fest: „[D]ie Ehre, welche Kant der Freiheit angedeihen läßt,

101 102 103 104 105

Franz Grillparzer, Libussa. Trauerspiel in fünf Aufzügen, SW 2, 257–343, 339. Franz Grillparzer, zit. n. Bachmaier, Nachwort, in: Franz Grillparzer, Libussa, 92. Bachmaier, Nachwort, in: Franz Grillparzer, Libussa, 95. Grillparzer, Libussa, SW 2, 302. Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (1970), GS 7, 490.

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indem er sie von allem sie Beeinträchtigenden reinigen möchte, verurteilt zugleich prinzipiell die Person zur Unfreiheit.“106 Allerdings, und das bemerkten gerade auch Adorno und Grillparzer, kennt die Auseinandersetzung mit der Idee der Freiheit in Kants Werk durchaus ihre Ambivalenzen. So ist mit der Kantischen Engführung von Freiheit und Pflicht in jedem Fall auch ein Verständnis von Freiheit eröffnet, das diese in ihrer konstitutiven Verflochtenheit mit dem Allgemeinen begreift. Freiheit bestimmt sich dann nicht so sehr negativ als Ungebundenheit, sondern positiv als eine reflektierte Form der Verbundenheit und Verbindlichkeit – als das Vermögen eines erfüllenden Weltbezugs und als das beglückende Gefühl, sich in reziproken Beziehungen mit der Welt zu wissen. Besonders in der Kritik der Urteilskraft (1790) wird, wenn auch vergleichsweise hintergründig, die Dimension von Freiheit als eines nicht räsonierenden sondern vielmehr resonierenden Weltbezugs entwickelt. Ein wesentliches Motiv, das in dieser Schrift systematisch entfaltet wird, findet sich in einer häufig zitierten Notiz aus Kants Nachlass vom Anfang der 1770er Jahre: „Die [s]chöne[n] Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe.“107 Es waren vor allem Kants Ausführungen zur Ästhetik, die Grillparzer anzogen und die ihm von Kants Schriften am nächsten standen. Überhaupt ist die Kritik der Urteilskraft zweifelsohne die philosophische Schrift, mit der sich Grillparzer am intensivsten auseinandergesetzt hat. Wie aus anderen Büchern auch, hat er aus seiner Ausgabe der Kritik der Urteilskraft die Seitenbögen herausgelöst, um sie als zumindest im materiellen Sinn leichtgewichtige Lektüre auch unterwegs lesen zu können.108 Die Aufzeichnungen in seinen Notizbüchern, die mit der Kritik der Urteilskraft kommunizieren, haben gegenüber den Rezeptionsdestillaten anderer philosophischer Schriften in seinem Werk jedenfalls eine Sonderstellung, und das nicht allein quantitativ, sondern insbesondere auch, was die Intensität der Auseinandersetzung und die emphatische Zugewandtheit des ansonsten notorisch abschätzigen Kommentators anbelangt: Jedes Streben ist prosaisch, das einer Realität nachgeht. Kants Definition wird ewig wahr bleiben: Schön ist dasjenige was ohne Interesse gefällt. Aller Poesie liegt die Idee einer höhern Weltordnung zum Grunde, die sich aber vom Verstande nie im ganzen auffassen, daher nie realisieren läßt, und von welcher nur dem Gefühl vergönnt ist, dem Gleichverborgenen in der Menschenbrust, je und dann einen Teil ahnend zu erfassen. Zweckmäßigkeit ohne Zweck hat Kant es ausgedrückt, tiefer schauend als vor ihm und nach ihm irgendein Philosoph.109

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Adorno, Negative Dialektik (1966), GS 6, 254. Immanuel Kant: Handschriftlicher Nachlass, Logik: Reflexion 1820a, AA XVI, 127. Vgl. Störi, Grillparzer und Kant, 25. Franz Grillparzer, Zur Literatur [Tgb. 3196 (1837)], SW 3, 284.

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Eindringlich hat sich Grillparzer mit Kants Ausführungen zur Vermittlung von Natur und Freiheit in der Kritik der Urteilskraft auseinandergesetzt, wovon seine Überlegungen zum Schönheitsgefühl zeugen: Scheint nicht der ewige Zwiespalt der sittlichen und sinnlichen Natur, des Wollens und Sollens in diesem Augenblicke [des Schönheitsgefühls, Anm. GG] ausgeglichen? Ist dir Gott noch unbegreiflich und unverständlich das All? Fühlst du nicht deine Verwandtschaft mit den Wesen unter dir und mit etwas über dir? Ist es nicht, als ob u n s i c h t b a r e F ä d e n sich aus deinem Innern ausspannen und in ungeahneten Beziehungen die ganze Welt v e r b ä n d e n ?110

Grillparzers Wahrnehmung der herausgehobenen Augenblicke, in denen uns Schönheit in einem nachdrücklichen Sinn zuteilwird, berührt sich mit der des später geborenen Kant-Lesers Adorno, der in seinen ästhetischen Schriften und Vorlesungen mit dem polysemantischen Begriff des ‚Einstands‘ und unter Rekurs auf Platons Lehre des Enthusiasmus ähnliche Erfahrungen festgehalten hat.111 Während Grillparzer unter dem Stichwort „Unendlichkeit des Schönheitsgefühls“ in dem oben zitierten Stück auf das All zu sprechen kommt, hat Adorno, zu dessen Kanon Grillparzer nicht zählte, knapp eineinhalb Jahrhunderte später den Begriff der apparition, der ephemer aufleuchtenden Himmelserscheinung gefunden, um die Momente zu charakterisieren, in denen man in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken vom Eindruck des Schönen ergriffen wird: „Am nächsten kommt dem Kunstwerk als Erscheinung die apparition, die Himmelserscheinung.“112 Dabei lassen sich, bei aller Unterschiedenheit und Diskrepanz, sowohl Grillparzers wie Adornos Blick in den Himmel und ins All als Formen eines – durchaus dialektischen – Dialogs mit Kant begreifen. Zweifelsohne ist die Bewunderung des ‚bestirnten Himmels über mir‘ unvergleichlich viel älter als die Worte Kants, deren Eindringlichkeit vielmehr 110 Franz Grillparzer, Unendlichkeit des Schönheitsgefühls, in: Derselbe, Zur Kunstlehre, SW 3, 213–228, hier: [Tgb. 889 (1820/21)], 222, [Herv. GG]. Vergleiche dazu Kant, Grundlegung, AA 4, 409: „Woher haben wir aber den Begriff von Gott, als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit dem Begriff eines freien Willens unzertrennlich verknüpft.“ Fritz Strich (Franz Grillparzers Ästhetik, Berlin 1905, 50f) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Grillparzer im Anschluss an Bouterwerk und Schelling im Gegensatz zu Kant das Schöne (und nicht nur das Erhabene) auf das Unendliche bezieht. 111 Vgl. zu Adornos Begriff des Einstands: Gabriele Geml, Adornos Kritische Theorie der Zeit, Stuttgart 2020, 338–340. Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, 17: „Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick; jedes gelungene ein Einstand, momentanes Innehalten des Prozesses, als der es dem beharrlichen Auge sich offenbart.“ Das deutsche Wort Einstand, das einen Anfang und Beginn meint, klingt an das französische Wort für Augenblick, instant an; Einstand erinnert an die Balkenwaage, die einsteht, bezeichnet im Vokabular des Tennis einen Punkteausgleich und in der Sprache der Jäger einen friedlichen Rückzugsort für das Wild. 112 Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, 125.

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ihrerseits auch von jener epochenübergreifenden Bewunderung lebt. Doch seit Kants Formulierung scheinen die Sterne das Echo seiner Worte zurückzuwerfen, wenn einem das – im Zeitalter der Lichtverschmutzung selten werdende – Glück zuteil wird, sie zu erblicken: Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: d e r b e s t i r n t e H i m m e l ü b e r m i r u n d d a s m o r a l i s c h e G e s e t z i n m i r . Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und blos vermuthen. Ich sehe sie vor mir und v e r k n ü p f e sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Ve r k n ü p f u n g , darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen […]. Das zweite fängt von meinem u n s i c h t b a r e n Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher […] ich mich nicht, wie dort, in blos zufälliger, sondern allgemeiner und nothwendiger Ve r k n ü p f u n g erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines t h i e r i s c h e n G e s c h ö p f s […]. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer I n t e l l i g e n z , unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Thierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart […].113

Auch in einem unbetitelten Gedicht Grillparzers, das mit den Worten Wieviel weißt du beginnt und von den Grenzen des menschlichen Wissens handelt, hallt in der letzten Strophe das Echo von Kants ergreifender Formulierung wider: Denn etwas ist, du magsts wie weit entfernen, Das dich umspinnt mit unsichtbarem Netz, Das, wenn du liebst, du aufschaust zu den Sternen, Dich unterwerfend dasteht als Gesetz.114

Wie an vielen anderen Stellen in Grillparzers Werk lässt sich an der Strophe der Eindruck gewinnen, dass Grillparzer sich die Bildgehalte von Kants Sprache lyrisch anverwandelt, seiner gelegentlichen Bemerkung gemäß: „Der Geist der Poesie ist zusammengesetzt aus dem Tiefsinn des Philosophen und der Freude des Kindes an bunten Bildern.“115 Inwieweit Grillparzer bei der Strophe die konkrete zitierte Stelle aus dem Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft vor Augen stand, muss dabei spekulativ bleiben, immerhin aber lassen sich auffällige Koinzidenzen ebenso wie pointierte Abweichungen der beiden zitierten Stücke bemerken. So ist zunächst auffällig, dass Kant in dem zitierten Stück – wie 113 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 161f. [Herv.: Sperrdruck: i.O., Kursivierungen: GG]. 114 Franz Grillparzer, Wieviel weißt du … (1843), in: Derselbe, Gedichte, SW 1, 292. 115 Grillparzer, Tagebücher [Tgb. 1620 (Ende 1827)], SW 4, 434.

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hervorgehoben – gleich dreimal von Verknüpfung spricht: Ich verknüpfe den Anblick des „bestirnte[n] Himmel[s] über mir und das moralische Gesetz in mir […] unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz“. Der Blick in den Sternenhimmel lässt mich „die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlichGroße mit Welten über Welten und Systemen von Systemen“ erweitern und fortknüpfen. Die wahre Unendlichkeitserfahrung liegt aber darin, dass ich mich durch „das moralische Gesetz in mir“ als partizipierend an der intelligiblen Welt begreife: Es „stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne“. Es finden sich also, anders ausgedrückt, das Lebensgefühl, das Bewusstsein, Teil eines unvorstellbar großen Ganzen zu sein sowie die Ahnung von Transzendenz angesprochen. In Grillparzers Bild des „unsichtbaren Netz[es]“116 scheinen Kants Formulierungen genau aufgefangen: Während das Netz das Knüpfwerk ist, verweist seine Unsichtbarkeit auf die intelligible Sphäre, auf das von Kant adressierte „von der ganzen Sinnenwelt unabhängige[ ] Leben“, das „unsichtbare[ ] Selbst“ sowie jene „wahre Unendlichkeit“, die nach Kants bemerkenswert oxymorischer Formulierung „nur dem Verstande spürbar“, mithin ein vernunftgewirktes Gefühl ist. Zugleich ist in Grillparzers Strophe die Rede von der Unterwerfung unter das Gesetz. Bemerkenswert ist dazu, dass Grillparzer – ebenso wie später Adorno – die repressive Rhetorik von Unterwerfung, Nötigung, Demütigung und dem Imperativischen117 durchaus verstört hat, die in Kants Darlegungen zum Begriff der Freiheit vielerorts begegnet. Adorno wird später in der Negativen Dialektik festhalten, dass der Ton – mehr als der intendierte Inhalt – von Kants praktischer Philosophie vielfach repressive Züge aufweist, wobei er als ein Beispiel von vielen möglichen etwa folgenden Satz aus der Kritik der praktischen Vernunft anführt: „Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz, doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angethan wird, verbunden, ist nun die Achtung fürs Gesetz.“118 In Grillparzers Gedicht jedenfalls werden Netz und Gesetz enggeführt, sie sind Ausdruck ein und desselben, eben jenes zu Beginn angesprochenen „Etwas“, in dem – in Verbindung mit dem Sternenhimmel – das durch Dominique Bonhours 116 Vgl. dazu die weiter oben bereits zitierte Stelle: „Ist es nicht, als ob unsichtbare Fäden sich aus deinem Innern ausspannen und in ungeahneten Beziehungen die ganze Welt verbänden?“ Grillparzer, Unendlichkeit des Schönheitsgefühls [Tgb. 883 (1820/21)], SW 3, 222. 117 Vgl. etwa Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 79, wo eine „Demüthigung auf der sinnlichen Seite“ durch eine „Erhebung der moralischen [Seite]“ kompensiert sein soll. 118 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 80. Vgl. Adorno, Negative Dialektik, GS 6, 231. Vgl ebd. 257, 267 und 279, wo Adorno die repressiven Töne und „Zwangszüge in Kants Freiheitslehre“ problematisiert.

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(1628–1702) und Pierre Carlet de Marivaux (1688–1763) geprägte Je ne sais quoi als eine Chiffre für das Schöne anklingt. Diese Engführung von Netz und Gesetz zitiert Kants Begriff der Pflicht – damit aber auch die Idee der Freiheit – geradezu herbei, scheint daran anzuknüpfen. Das Bild eines nahezu unsichtbaren Netzwerks findet sich auch in einer Aufzeichnung Grillparzers, in der er sich gegen die Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (1835) von Georg Gottfried Gervinus (1805– 1871) wendet. Grillparzer liest diese Literaturgeschichte, die zu den Schriften gehört, die den Beginn der Verwissenschaftlichung von Literatur markieren, noch im Jahr der Veröffentlichung, muss aber bald feststellen, dass ihm das Werk, „bei allem unleugbaren Geist und Verdienst […] unerträglich“ ist. Er macht dafür den deterministischen Zugang des Autors verantwortlich, wobei ihm auch die nationalistische Ausrichtung suspekt gewesen sein muss. Die geistige Welt, die doch „das Gegenbild der körperlichen“ sei, werde „den Gesetzen der Schwere, der Attraktion, der Kohäsion, und was weiß ich, unterworfen; alles, was kommt, mußte so kommen, der Willkür, der Stimmung, dem Genie, der Laune ist kein Spielraum gelassen, bis aufs Blut wird alles erklärt, und wenn der Mensch bis dahin ein Rätsel schien, sieht [man] mit einemmal, daß jede Erscheinung der sittlichen Welt sich nach den Anhandgebungen der Regeldetri und des Einmaleins darlegen lasse“. Und Grillparzer hält dem entgegen: „Wenn Wille und Entschluß nicht frei sein sollten, so sind doch die Fäden ihrer Leitung so fein und kompliziert, daß Seildreher und Zwirnspinner ewig nicht dahin kommen werden, sie zu unterscheiden und aufzuzählen.“119 Das Komplizierte, also das Zusammengefaltete, Verwickelte oder Verstrickte leitet sich der Wortherkunft vom lateinischen plectere (flechten) ab. Die feinen Fäden, an denen Grillparzer zufolge der menschliche Wille hängt („sofern er nicht frei sein sollte[ ]“), sind jedenfalls nicht zu vergleichen mit einem groben gestrafften Seil, bei dem es eine eindeutige Richtung des Ziehens und Gezogenwerdens gibt. Das ‚Kausalitätsband‘ der Freiheit ist vielmehr verschlungen zu einem schimmernden Stoff von feinster Textur, dessen Changieren immer wieder neue Aspekte seiner Muster hervorbringt – darin einem wohlkomponierten poetischen Text vergleichbar oder den vielgestaltigen Verflechtungen in Stefan Georges Teppich (1899): Und kahle linien ziehn in reich-gestickten Und teil um teil ist wirr und gegenwendig Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten .. Da eines abends wird das werk lebendig.120

119 Grillparzer, Zur Literargeschichte [Tgb. 2782 (1835)], SW 3, 702 [Herv. i. O.]. 120 Stefan George, Der Teppich, in: Derselbe, Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel (1899), in: Derselbe, Die Gedichte/Tage und Taten, Stuttgart 2003, 381–459, 410.

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Zwischen der zitierten Stelle aus Kants Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft und Grillparzers Gedichtstrophe aus dem Gedicht Wieviel weißt du gibt es allerdings auch signifikante inhaltliche Abweichungen. Dazu gehört, dass Grillparzers Gedicht den Akzent auf die Tätigkeit der Liebe legt – aus der die Unterwerfung unter das (moralische) Gesetz erst folgt – was der Kantischen Konzeption des Sittengesetzes widerspricht: „Denn etwas ist, […] / das, wenn du liebst, du aufschaust zu den Sternen, / Dich unterwerfend dasteht als Gesetz“. Das „Etwas“ mag dabei als „unsichtbare[s] Netz“ zwar latent stets gegenwärtig sein, es aktualisiert sich aber – als gesetzgebend – erst in konkreter Tätigkeit und im konkreten Weltbezug. Grillparzers Vernunftbegriff bleibt in jedem Fall offen für ein aufgeschlossenes Vernehmen, für die spezifischen Anforderungen der konkreten Situation, die den ‚guten Willen‘, die beste Absicht, auch vielfach diskreditieren können. So kennen Grillparzers Dramen eine ganze Reihe von Figuren, die sich, nach der Bemerkung von Helmut Bachmaier, im Verlauf des Stücks „ans Menschliche verlieren und dadurch ihrer ursprünglichen Berufung untreu werden“.121 Zu ihnen sind Libussa, Sappho oder Hero (Des Meeres und der Liebe Wellen) zu zählen. Gegen das unbedingte Prinzip des Guten hat Grillparzer die Relativität der Güte geltend gemacht. Wie Bernd Breitenbruch ausführlich dargelegt hat, spricht Grillparzer von der Güte an mehreren Stellen als „de[m] höchste[n] aller menschliche[n] Vorzüge“. „Die Relativität der Güte hat Grillparzer der Absolutheit – und Sterilität – der Tugend positiv gegenübergestellt.“122 Zu den Vorzügen von Grillparzers Stücken gehört die Atmosphäre der Verzeihlichkeit, die sich über ihnen als ein Abglanz von Freiheit ausbreitet. Als Psychologe hat Grillparzer die Tendenz, die Schuldkategorie zu verflüchtigen: Verständnis exkulpiert die Figuren. Halb Psychologe, halb Kantianer formuliert er eine Maxime, die zwar kein kategorischer, aber doch jedenfalls ein humaner Imperativ werden könnte. „Da die Freiheit des Menschen zu den unentschiedenen Fragen gehört, so sollen wir über uns wachen, als ob wir frei wären, und die anderen entschuldigen, als ob sie es nicht wären.“123

121 Bachmaier, Nachwort, in: Franz Grillparzer, Libussa, 94. 122 Bernd Breitenbruch, Ethik und Ethos bei Grillparzer. Denkerische Bemühung und dramatische Gestaltung, Berlin 1965 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 18 /142), 37f, 48. 123 Franz Grillparzer zit. n. Breitenbruch, Ethik und Ethos bei Franz Grillparzer, 44.

Kant im Verständnis von Tolstoi und Dostojewskij

Marie-Élise Zovko

Kant und Tolstoi über Freiheit und Geschichte Der Mensch scheint in Verbindung mit dem allgemeinen Leben der Menschheit den Gesetzen unterworfen, die dieses Leben bestimmen. Aber unabhängig von dieser Verbindung scheint derselbe Mensch frei. Wie sollte das vergangene Leben der Völker und der Menschheit betrachtet werden – als Werk des freien oder des unfreien Handelns der Menschen? Das ist eine Frage der Geschichte. L. Tolstoi, Krieg und Frieden1

1.

Freiheit und Geschichte aus philosophischer und aus künstlerischer Sicht

Die Frage nach der Freiheit des Individuums zieht eine ganze Reihe weiterer Fragen nach sich: die Frage nach dem Verhältnis der Freiheit zur Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens, die Frage nach der Möglichkeit des Zufalls und der Bedingtheit individueller Handlungen durch geschichtliche Ereignisse, die Frage nach Möglichkeit und Wirklichkeit des moralischen Fortschritts, die Frage, ob es einen Sinn und letzte Zweckgerichtetheit der individuellen Lebensgeschichte oder der kollektiven Geschichte der Menschheit insgesamt gebe. Diese Fragen werden von dem Philosophen Immanuel Kant und von dem Romanschriftsteller Lew Tolstoi auf ähnliche Weise thematisiert. Doch zugleich stellen sich wichtige Unterschiede heraus, die auf wesentliche Unterschiede der jeweiligen Aufgabe der Philosophie und der Kunst hinweisen. Im Folgenden werde ich versuchen, diese fundamentalen Unterschiede anhand eines Vergleichs herauszuarbeiten, der die Darstellung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Geschichte in Tolstois Krieg und Frieden und Kants Auffassung desselben Verhältnisses, vor allem in der Kritik der reinen Vernunft und seinem Aufsatz Idee zu einer universalen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht thematisiert. Auf den ersten Blick scheint Tolstoi in Krieg und Frieden die Wirklichkeit der individuellen Freiheit abzulehnen und eine Art Resignierens und Schopenhauerschen Pessimismus angesichts des unausweichlichen Determinismus geschichtlicher Kräfte als einzige Möglichkeit des Umgangs damit zu empfehlen. 1 Lew Tolstoi, Krieg und Frieden, übers. v. Barbara Conrad, München 2010, „Epilog 2, Kap. VIII“, 1059.

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Seinerseits verteidigt Kant die Wirklichkeit der Freiheit als einzige unter den transzendentalen Ideen, die sich – aufgrund des „Faktums“ des moralischen Imperativs und der notwendigen Voraussetzung der Freiheit als dessen unerlässlicher Bedingung – erweisen lässt. Gleichzeitig vertritt Kant eine teleologische Auffassung der Geschichte, dazu ein optimistisches Konzept des moralischen Fortschritts, wobei die individuelle Freiheit dem Prozess, durch den das übergeordnete Ziel der Geschichte erreicht wird, subsumiert wird. Dieser Prozess wird durch die Entwicklung des rationalen Potentials der Menschheit insgesamt gekennzeichnet, eine Entwicklung, so Pauline Kleingeld, die nicht nur durch den Fortschritt der Wissenschaften und der Künste, sondern ebenso durch jenen der Politik, der Erziehung, der Religion und der Moral realisiert wird. Die Beziehung zwischen persönlicher Freiheit und geschichtlichem Fortschritt wirft dabei eine Reihe von Problemen und Widersprüchen auf. Wie Kleingeld und eine Reihe anderer Interpreten feststellen, ist es nämlich nicht klar, ob sich die Kantische Idee des Fortschritts „durch die Prinzipien seiner kritischen Philosophie begründen läßt“.2 Kants teleologische Auffassung der Geschichte sieht vor, dass sich die Menschheit gemäß einem „Naturplan“ und angetrieben durch sozialen Antagonismus („ungesellige Geselligkeit“) in Richtung eines Zustands allgemeinen Friedens und einer moralischen Welt bewegt. Diese Auffassung steht nach Kleingeld aus verschiedenen Gründen unter Verdacht, wobei „der Begriff eines ‚Naturplans‘ […] eher als ein unreflektiert übernommenes metaphysisches Erbe zu deuten“ sei.3 Die Idee einer rationalen Entwicklung der Geschichte scheint erstens der Behauptung Kants, dass das moralische Gesetz unbedingt und universell gültig ist, zu widersprechen („universal validity problem“). Zweitens widerspreche diese Idee sowie der darin implizierte Begriff der Moralisierung Kants These, dass moralische Tätigkeit sich auf „noumenaler“ und von daher zeitloser Ebene abwickelt (das sogenannte „atemporality problem“). Drittens scheine die Idee moralischen Fortschritts als eines apersonalen, geschichtlichen Prozesses dem idealen Ziel der Würde und Gleichheit aller Menschen zu widersprechen, da gemäß dem Prozeßhaften dieser Idee des Fortschritts manche Menschen notwendig größere Freiheit als andere (das „moral equality pro2 Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1995, 1. 3 Kleingeld, Fortschritt und Vernunft, 1. Vgl. Ferner Andrews Reath, Two Conceptions of the Highest Good in Kant, in: Journal of the History of Philosophy 26 (1988), 593–619; Yirmiyahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, Princeton 1980, 29–80; Sharon Anderson-Gold, Kant’s Ethical Commonwealth: The Highest Good as a Social Goal, in: International Philosophical Quarterly 26 (1986), 23–32. Yovel findet zum Beispiel, dass die Herausarbeitung der Elemente von Kants „kritischer Philosophie der Geschichte“ eine „Antinomie“ seines Systems ans Licht fördert (was Yovel die „historische Antinomie“ nennt), wobei klar werde, dass Kants Idee einer rationalen Geschichte im Hinblick auf sein System ebenso notwendig wie unhaltbar sei. Vgl. Yovel, Kant and the Philosophy of History, 271f. Übersetzungen aus dem Englischen, sofern nicht anders angegeben, sind von der Verfasserin.

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blem“) genießen werden.4 Kleingeld wird die Konsistenz der Kantischen Auffassung der Entwicklung unserer Veranlagung, unsere Vernunft einzusetzen, gegen diese Einwände verteidigen. Sie stellt dabei aber fest, dass die Konsistenz der Kantischen Position nur auf der Grundlage eines vor-darwinistischen und von daher überholten Modells des Charakters unserer Anlagen und der Struktur jener Entwicklung zu verteidigen ist.5 Was will der Künstler und was der Philosoph mit deren jeweiligem Versuch, sich Klarheit hinsichtlich dieser für des Menschen Leben so zentralen Fragen zu verschaffen? Wie ähneln sich und wie unterscheiden sich dabei deren Aufgaben? Dannhauser bemerkt, dass während sich literarische Kunst und Poesie mit denselben Themen befassen wie die Philosophie, sich dabei ihre jeweiligen Funktionen unterscheiden. Während der Philosoph Kant auf ein rational-theoretisches Verständnis des Verhältnisses von Freiheit und moralischer Entwicklung im Hinblick auf die Geschichte aus ist, leistet der Roman Krieg und Frieden mehr, als ein theoretisches Argument für oder gegen die Wirklichkeit individueller Freiheit, die Annahme des moralischen Fortschritts, oder eine Darstellung der praktischen Erfordernisse, die daraus erfolgen, aufzustellen. Er tut auch mehr, als uns darüber zu informieren, was Freiheit und Geschichte überhaupt sind und wie sie sich zueinander verhalten. Er lehrt uns vielmehr durch seine idiosynkratrische Verbindung von theoretischer Reflexion und narrativer Kunst, „wie das menschliche Leben ist“. Wie Harriett Beecher Stowe mit ihrem Roman Uncle Tom’s Cabin uns nicht bloß zeigen möchte, wie es ist, Sklave zu sein, sondern uns mit einer tiefen „Empörung hinsichtlich der Ungerechtigkeit der Sklaverei erfüllen möchte“, will auch Tolstoi, „während Philosophie versucht, diese zugunsten des Verstehens zu transzendieren“,6 etwas anderes und mehr als der Philosoph. Demnach ist es fraglich, ob Tolstoi, wie Durán meint, den Roman Krieg und Frieden bloß oder hauptsächlich als „Mittel für seine philosophische Untersuchung des Wesens der Geschichte“ einzusetzen beabsichtigte.7 4 Pauline Kleingeld, Kant, History, and the Idea of Moral Development, in: History of Philosophy Quarterly 16/1 (1999), 59–80, 59, vgl. 62. 5 Vgl. Kleingeld, Kant, History, and the Idea of Moral Development, 75. 6 Werner J. Dannhauser, Poetry vs. Philosophy, in: Political Science and Politics 28/2 (1995), 190– 192, 191: „At its highest peak, literature no longer simply illuminates what it is like to be a butcher, a baker, or a candlestick maker. Instead it teaches us what human life is like.“ 7 Gloria Durán, What’s to be Done about History? A Comparative Study of the Insights of Tolstoy and Unamuno, in: Confluencia 2/1 (1986), 4–9, 4. Durán übernimmt Isaiah Berlins Standpunkt, gemäß welchem „Tolstoi nicht wirklich an den freien Willen glaubt“. Dieser Standpunkt wird jedoch der Komplexität des Romans Krieg und Frieden und Tolstois eigenem Suchen und Untersuchen der Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, Freiheit und geschichtlicher Bestimmung des Menschen nicht gerecht. Durán akzeptiert unkritisch auch andere Aspekte der Deutung von Berlin, nach dem Tolstoi im Wesentlichen als Empirist und Realist im Hinblick auf die Geschichte anzusehen ist. Vgl. Durán, What’s to be Done about History?, 4f.

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Die Frage nach der Freiheit des Individuums angesichts der überindividuellen Bedingtheit seines Daseins hat Tolstoi zeitlebens beschäftigt. Seine Beschäftigung mit dieser Frage war weder oberflächlich noch vorübergehend, sondern seine Gedanken „über die Grenzen der Freiheit und unsere Abhängigkeit von unserer Umgebung“ waren, wie er selber erklärte, „Frucht der ganzen geistigen Arbeit“ seines Lebens und „integraler Bestandteil“ seiner Lebensauffassung.8 Beim Verfassen des Romans Krieg und Frieden stehen Tolstoi die menschliche Freiheit und die natürliche, gesellschaftliche und geschichtliche Bedingtheit des menschlichen Lebens im Mittelpunkt. Der Roman Krieg und Frieden, der erste von Tolstois drei großen Romanen, entstanden 1868/1869, gefolgt von Anna Karenina im Jahr 1877 und Auferstehung 1899, ist im vorzüglichen Sinne ein geschichtlicher Roman. Er handelt von weltgeschichtlichen Ereignissen aus der Zeit der Napoleonischen Kriege, genauer gesagt von den Ereignissen um Napoleon und Alexander zwischen dem Beginn des Dritten Koalitionskriegs gegen Frankreich um 1805 und Napoleons Russlandfeldzug im Jahre 1812. Diese Ereignisse werden hauptsächlich aus russischer Sicht, mittels der Lebensgeschichten der Schlüsselfiguren aus fünf adligen Familien der russischen Aristokratie um den Hof von Alexander I., dargestellt. Den Fokus von Tolstois Epik bilden die Beziehungen der Familien Bolkonski, Rostow und Besuchow, allem voran die Erlebnisse des Fürsten Andrej Nikolajewitsch Bolkonski und Pierres, des unehelichen Sohns und Nachfolgers des Grafen Besuchow, die beide auf je eigene Weise nach dem Sinn des Lebens suchen. Im Roman werden Weltgeschichte und Geschichte der Schlüsselfiguren so ineinander verwoben, dass die Lebensgeschichten der Einzelnen einerseits als Folge von deren frei gefassten Willensentscheidungen, andererseits als durch äußerliche Lebensumstände, natürliche Veranlagung und geschichtliche Ereignisse bestimmt, erscheinen. Dadurch wird immer wieder die Frage aufgeworfen, welche Macht die Geschichte, welche der mit Nachdenken und Absicht gefasste Entschluss des Einzelnen haben; ob dabei der Zufall, ein bewusst vorgesetztes Ziel oder ein übergreifender Endzweck die entscheidende Rolle spielt, und was schließlich im Leben der einzelnen Menschen und der Menschheit die Oberhand behält: das freie Handeln des Individuums oder der Zwang vorgegebener Bedingungen. „Niemand“, sagt Robert Bierstedt, „kann Krieg und Frieden lesen, ohne auf Tolstois häufige und ausführliche Abhandlungen zur Geschichtsphilosophie und insbesondere zum Verhältnis heldenhafter Individuen auf der einen Seite und namensloser Kräfte geschichtlicher Änderungen auf der anderen aufmerksam zu

8 Vgl. den Brief an den Geschichtswissenschaftler Michail P. Pogodin vom März 1868, zit. n. Joe Barnhart, Tolstoy on Free Will, in: The Personalist Forum 11/1 (1995), 33–54, 34.

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werden“.9 Bierstedt nennt diese Art „Spekulation“ bei Tolstoi „historiophilosophisch“.10 Vor allem in den späteren Teilen von Krieg und Frieden, zumal bei der Schilderung der Schlacht von Borodino und in den beiden Epilogen, steht die Frage des Verhältnisses zwischen individueller Freiheit und dem unaufhaltsamen Gang der Geschichte im Vordergrund. Wie Reginald F. Christian bemerkte, fangen alle drei Teile des dritten Bands, sowie zwei Teile des vierten Bands, mit Ausführungen über Fragen an wie jene der geschichtlichen Verursachung, des Wesens des Regierens und der Macht. Überdies befassen sich ein Großteil des ersten Epilogs und der zweite Epilog insgesamt theoretisierend mit der „Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die behaupten, die Menschen handeln aus Notwendigkeit, und denjenigen, die insistieren, unsere Entscheidungen würden aus der freien Ausübung des Willens des Einzelnen“11 getroffen. Tolstois geschichtsphilosophische Reflexionen in Krieg und Frieden scheinen vorwiegend durch den Determinismus gekennzeichnet zu sein. Zu der Zeit, als er die letzten Bände von Krieg und Frieden verfasste, studierte und bewunderte Tolstoi Schopenhauer. Das berichtet Eugen Schuyler, amerikanischer Konsul in St. Petersburg, der Tolstoi im September 1868 auf dessen Landgut in Jasnaja Poljana besuchte. Weniger als ein Jahr später, in einem Brief an Afanasy Fet vom 30. August 1869, schreibt Tolstoi, er halte Schopenhauer für „das größte Genie unter Männern“.12 Walsh sieht in Schopenhauer den Haupteinfluss Tolstois im Punkt des Determinismus zur Zeit der Verfassung des Epilogs. Er verweist dabei auf zahlreiche Zitate und Hinweise, die Tolstois Anlehnung an die Schopenhauersche Schrift deutlich machen.13 Walsh macht auf die in Band XV der Jubiläums-Ausgabe von Tolstois Gesamtwerken enthaltenen frühen Entwürfe des Epilogs aufmerksam, wo Tolstoi offenbar einen deterministischen Standpunkt bevorzugte. Dabei beruft sich Tolstoi ausdrücklich auf Schopenhauer, indem er schreibt, „Schopenhauer, der unserer Meinung nach der größte Denker unseres Jahrhunderts ist und der einzige unmittelbare Nachkomme der großen Denker der Philosophie – Descartes, Spinoza, Locke, Kant – hat in Der Wille in der Natur [Über den Willen in der Natur] und in seiner preisgekrönten Akademieschrift 9 In seinen Bemerkungen zu Isaiah Berlins berühmtem Essay The Hedgehog and the Fox, vgl. Robert Bierstedt, Notes, in: The Saturday Review (17. April 1954), 30. 10 Bierstedt, Notes, 30. 11 Diese Beobachtung Christians wird wiedergegeben von Harry Hill Walsh, Schopenhauer’s ‚On the Freedom of the Will‘ and the Epilogue to ‚War and Peace ‘, in: The Slavonic and East European Review 57/4 (1979), 572–575, 572. 12 Lew Tolstoi, Polnoe Sobranie Socˇinenii, Bd. 61, Moskau 1953, 105. Vgl. Sigrid McLaughlin, Some Aspects of Tolstoy’s Intellectual Development: Tolstoy and Schopenhauer, in: California Slavic Studies V (1970), 187–248. Zitiert in Walsh, Schopenhauer’s ‚On the Freedom of the Will‘ and the Epilogue to ‚War and Peace‘, 573. 13 Walsh, Schopenhauer’s ‚On the Freedom of the Will‘ and the Epilogue to ‚War and Peace ‘, 573, 575.

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über die Freiheit des Willens das Gesetz der Notwendigkeit erfolgreich nachgewiesen, dem der Mensch unterworfen ist.“14 Tolstoi hat aber offensichtlich auch Kant schon in jüngeren Jahren gründlich studiert. Das bestätigt Medzhibovskaya, die die Wichtigkeit Kants für die Entwicklung von Tolstois Denken hervorhebt und den Anfang von Tolstois Beschäftigung mit Kant viel früher ansetzt als sonst in der Forschung üblich. Eine sehr mitgenommene französische Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft aus seiner eigenen Bibliothek habe Tolstoi schon als jungen Mann überall begleitet und sei sehr gründlich studiert worden.15 Wie Poole bemerkt, ist „das zentrale Problem Kants in der ersten Kritik“, also die Frage, wie man Freiheit und Notwendigkeit mit einander im Denken aussöhnen kann, auch eins der zentralen Probleme, mit denen sich Tolstoi in Krieg und Frieden beschäftigte. Nach Medzhibovskaya war Tolstois Lösung dieses Problems langfristig im Wesentlichen eine Kantische und motivierte Tolstois „Fortschritt zum Glauben“.16 Als Tolstoi in späteren Jahren in diese Richtung weiter fortschritt, beschäftigte er sich immer mehr mit der Kritik der praktischen Vernunft, welche er als „Tempel der Weisheit“ betrachtete. 1887 führt er zu Anfang seines Werks Über das Leben als zweites Epigraph die berühmten Zeilen vom Schluss der Zweiten Kritik an, in der Kant Ehrfurcht und Bewunderung für den bestirnten Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns zum Ausdruck bringt. Über das Leben,17 dessen zentraler Begriff der des „vernünftigen Bewußtseins“ ist,18 wird 14 Lew Tolstoi, Polnoe Sobranie Socˇinenii, Bd. 15, 246, zit. n. Walsh, Schopenhauer’s ‚On the Freedom of the Will‘ and the Epilogue to ‚War and Peace‘, 573. Auffallend ist, dass Tolstoi zu diesem Zeitpunkt Kant als Vertreter des Determinismus auffasst, und dass er ihn in dieser Hinsicht mit Spinoza verbindet. Wie Walsh gezeigt hat, ist Tolstoi in diesem Punkt, wie überhaupt in seinen Entwürfen des Epilogs, von Schopenhauer abhängig: „There are other indications in these drafts of the Epilogue that Schopenhauer’s works, and particularly his essay On the Freedom of the Will, helped to mould Tolstoy’s convictions on the question of free will. For instance, Tolstoy cites as philosophers who reject the idea of free will Hobbes, Hume, Priestley, Spinoza, Kant, and Schopenhauer. All but the last-named are also quoted as the principal supporting authorities in Chapter Four of Schopenhauer’s award-winning essay.“ Walsh, Schopenhauer’s ‚On the Freedom of the Will‘ and the Epilogue to ‚War and Peace ‘, 574. 15 Vgl. Inessa Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time: A Biography of a Long Conversion, 1845–1887, Lanham 2008; Randall A. Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘. Tolstoy, Kant, and Russian Religious Thought, Review of: Medzhibovskaya, Inessa, Tolstoy and the Religious Culture of His Time: A Biography of a Long Conversion, 1845–1887, in: Tolstoy Studies Journal XXII (2010), 99–117, 100. 16 Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 100: „In view of the priority that he gave to individual autonomy and reason, it is not surprising that he came to feel a strong affinity for the author of Religion within the Boundaries of Mere Reason.“ 17 Vgl. Lew Tolstoi, On Life and Essays on Religion, trans. Maude Aylmer, London 1934. 18 Bei Tolstoi wird der Begriff razumenie gebraucht, der nach Medzhibovskaya die große Entdeckung von 1879 und Wendepunkt von Tolstois Bekehrung ausmachte (Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 201–202). Dieser Begriff „widersetzt sich einer adäquaten Übersetzung, deutet aber auf Selbstbestimmung mittels des göttlichen logos/

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von Medzhibovskaya als Ziel von Tolstois Entwicklung und Endpunkt seiner „langen Bekehrung“ betrachtet. Die Aufgabe des Lebens wird von Tolstoi demnach als die Vervollkommnung und die Vereinigung mit dem Göttlichen mittels immer größerer Unterwerfung unter die Vernunft aufgefasst. Tolstoi übernehme damit die moralische Religion Kants, nach der die Sittlichkeit die Grundlage des religiösen Glaubens liefert, „sowohl in dem Sinne, daß Sittlichkeit eine theistische Metaphysik impliziert, wie auch, daß Glauben durch das moralische Bewußtsein hervortritt“. Tolstois „lange Bekehrung“ war demnach ein Fortschreiten vom „vorzüglichen Realismus“ des Romans Krieg und Frieden zum „resoluten Idealismus“ des Werks Über das Leben.19 Doch auch in Krieg und Frieden wird bei allen deterministischen Zügen der geschichtsphilosophischen Überlegungen der Endpunkt dieser Entwicklung schon vorgezeichnet. Tolstoi scheint in Anlehnung an Schopenhauer den Begriff der reinen Vernunft als Pendant des Begriffs des Dings an sich aufzufassen. Schopenhauer seinerseits setzte den unmittelbar im Bewusstsein gegebenen Willen in einer für das heutige Verständnis befremdlichen Weise der Kantischen Vernunft gleich, demselben „Ding an sich“, wie Schopenhauer sagt, „welches in Kant als x übrigbleibt oder aber als reine Vernunft verstanden wird“.20 Dass Tolstoi sich ausführlich mit Kant befasst hat, hat auch Krouglov dokumentiert, aber ebenso, dass Tolstoi „ein höchst merkwürdiger Leser“ Kants sei.21 Vernunft hin […] durch dessen inneres Bewußtsein und Assimilierung“ (Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 101, Übersetzung M.-E.Z.). Dabei lehnt Tolstoi Kants Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand als zwei getrennte Vermögen ab (vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 340). Obgleich er Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erst gegen Ende seines Lebens gelesen zu haben scheint, hat Tolstoi offensichtlich darin eine natürliche Affinität zu den eigenen Vorstellungen entdeckt, da er zum Abschluss seiner eigenen „langen Bekehrung“ das Heil als „inneren Prozeß der Selbstbestimmung und moralischer Vervollkommnung und nicht als etwas, was durch unverdiente Gnade von außen her geschenkt“ wird (Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 101). 19 Vgl. Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 106f. 20 Walsh, Schopenhauer’s ‚On the Freedom of the Will‘ and the Epilogue to ‚War and Peace‘, 573. Eine solche Deutung kann durch den Umstand gerechtfertigt werden, dass sowohl Ding an sich wie auch Subjekt in transzendentalphilosophischer Betrachtung der Erfahrung beziehungsweise dem theoretischen Erkennen unzugänglich sind und als entgegengesetzte Pole eine Art von Grenzbegriffen darstellen, die durch ihr gegenseitiges Verhältnis zueinander das gesamte Territorium empirischen Wissens abstecken – das eine als dessen hypothetisches Zentrum, das andere als dessen hypothetische Peripherie, insofern keine von beiden erkannt werden kann, beide jedoch im Verhältnis zur Erfahrung beziehungsweise zum theoretischen Wissen gedacht werden können. 21 Alexei N. Krouglov, Leo Nikolaevic´ Tolstoj als Leser Kants. Zur Wirkungsgeschichte Kants in Russland, in: Kant-Studien 99/3 (2008), 361–386. Tolstoi besaß viele Werke Kants in deutscher, französischer und russischer Übersetzung. Von seinen in diesen Werken eingetragenen Notizen lässt sich feststellen, dass Tolstoi vor allem die Kritik der reinen Vernunft auf Französisch, die Kritik der praktischen Vernunft und die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft auf Deutsch, sowie die russische Übersetzung eines Aufsatzes von Kuno

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Auffallend ist für Krouglov auch, dass Tolstoi Kant in dieser Zeit als Vertreter des Determinismus auffasst und dass er ihn in dieser Hinsicht mit Spinoza verbindet. Der Einfluss der Schopenhauerschen Reduktion der Welt unserer Erfahrung auf das Verhältnis von „Wille“ und „Vorstellung“ – eine Unterscheidung, die ihrerseits auf Schopenhauers Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas hinweist – macht sich auch in diesem Punkt spürbar.22 Trotz der deutlichen Schopenhauerschen Tendenz von Tolstois früher KantDeutung, und trotz deterministischer Züge seiner Schilderung der geschichtlichen Ereignisse in Krieg und Frieden, ist die Darstellung der zentralen Persönlichkeiten im Roman – vor allem im Hinblick auf deren unentwegte Suche nach dem Sinn des eigenen Handelns – von einer tiefen Überzeugung der Wirklichkeit individueller menschlicher Freiheit geprägt, die der Auffassung von Kants Standpunkt in der Forschung als eines Fürsprechers der menschlichen Freiheit eher verwandt zu sein scheint. Dafür, dass Freiheit und nicht Notwendigkeit für Tolstoi das entscheidende Charakteristikum menschlichen Daseins ausmacht, spricht auch Tolstois persönliches und nachhaltiges Engagement für freiheitliche und progressive Erziehungsreformen. Diese suchte er am intensivsten in den Jahren 1859 bis 1873 in einer eigens dafür gegründeten experimentellen Schule auf seinem Landgut in Jasnaja Poljana zu realisieren.23 Tolstois endgültige Absage Fischer über Kant sehr intensiv studiert hat. Krouglov bemerkt, wie Tolstoi die Teile des Werks, die bei anderen Interpreten meistens im Vordergrund stehen: die Lehre von Raum und Zeit, die Deduktion der Kategorien, die Antinomien, von den in seiner Ausgabe vorhandenen Notizen zu urteilen, eher durchblättert, während er die Methodenlehre gründlich studiert zu haben scheint. Vgl. Krouglov, Leo Nikolaevic´ Tolstoj als Leser Kants, 365. Medzhibovskaya hatte „das unvergessliche Privileg“ Tolstois Ausgabe der Zweiten Kritik und die darin eingetragenen Notizen in dessen Bibliothek anschauen zu dürfen (Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 340, 255, Anm. 18). 22 Zu Schopenhauer vgl. Robert Wicks, Arthur Schopenhauer, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Fall 2014 Edition; hg. v. Edward N. Zalta, URL: http://plato.stanford.edu/archive s/fall2014/entries/schopenhauer/, abgerufen am 15. 8. 2022. Wicks sieht die Inspiration für Schopenhauers Ansicht vom zweifachen Aspekt des Universums einerseits in Spinoza, den Schopenhauer in seinen frühen Jahren studierte, andererseits in den Upanischaden, die das Universum ebenfalls unter einem dualen, objektiven und subjektiven Aspekt, als Brahman und Atman, betrachten. 23 Adir Cohen, The Educational Philosophy of Tolstoy, in: Oxford Review of Education 7/3 (1981), 241–251, 241. Die Schule wurde 1859 gegründet. 1860 reiste Tolstoi nach Europa, um die dort herrschenden Erziehungstheorien und Methoden zu studieren (Cohen, The Educational Philosophy of Tolstoy, 241f). Nach seiner Rückkehr 1861 erweiterte er seine Schule. Er schrieb dazu eine Reihe erziehungstheoretischer Aufsätze, die er zwischen Februar 1862 und März 1863 in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift, Jasnaja Poljana, veröffentlichte (Cohen, The Educational Philosophy of Tolstoy, 243). Seine Erziehungsmethode betonte Freiheit und die Achtung der individuellen Freiheit. Tolstoi war überzeugt, dass Bildung kostenlos und freiwillig sein sollte und war daher gegen eine allgemeine Schulpflicht und gegen die Anwendung jedweder Form von Zwang in der Erziehung. Über den Eingang zu seiner Schule hing ein Schild mit den Worten „Tritt ein und aus, freiwillig.“ Vgl. Cohen, The

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an Schopenhauer zugunsten einer eigenen Interpretation der Kantischen Moral wird noch über ein Jahrzehnt lang heranreifen,24 doch schon zur Zeit des Romans Krieg und Frieden merkt man, wie Tolstois schweres Ringen um und seine sich allmählich durchsetzende Überzeugung von der individuellen Freiheit und von der Möglichkeit, wenn nicht eines kollektiven, dann zumindest des individuellen moralischen Fortschritts, die Gestaltung des Geschehens mitbestimmen. Wie Schopenhauer, hat Kant wichtige Anregungen für seine Darstellung des Verhältnisses von Freiheit und Naturnotwendigkeit aus seiner Auseinandersetzung mit Spinoza und dem „Spinozismus“ erhalten.25 Das, was Kleingeld als „Hauptbestandteil“ von Kants Auffassung der Geschichte benennt, nämlich „die Ansicht, dass die Natur (physische und psychische) die Menschen zur Ausübung ihres Verstands und ihrer Willensfreiheit veranlasst“, wodurch „die Menschen ihre rationalen Neigungen entwickeln“26 – findet sich schon in Spinozas Ethik vor, die auch Kant bei seiner Darstellung des Verhältnisses von Notwendigkeit und Freiheit beeinflusst haben wird.27 Wichtig ist dabei, dass sowohl für Kant wie

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Educational Philosophy of Tolstoy, 243: „Er verlangte totale Freiheit für den Schüler, aus Respekt für die Persönlichkeit kleiner Kinder. In seinen Worten gab es keine andere Möglichkeit Kinder zu beeinflussen außer durch Verständnis ihres Geistes, ihrer Talente, ihrer Eigenschaften und Persönlichkeiten.“ Im Jahre 1873 wurde Tolstoi nach Moskau eingeladen, um vor einem Ausschuss sein System zu beschreiben. Aufgrund dieses Treffens wurde beschlossen, einen Versuch mit zwei Gruppen gleichaltriger Schüler aus ähnlicher sozialer Umgebung durchzuführen, bei dem Tolstois Methode im Vergleich mit konventionellen Schulmethoden geprüft werden sollte. Nach einer siebenwöchigen Probe wurden die Schüler geprüft. Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder fand dabei, dass die Schüler, die nach Tolstois Methode unterrichtet wurden, besser abschnitten als die der anderen Gruppe (vgl. Cohen, The Educational Philosophy of Tolstoy, 250). Vgl. dazu Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 340: „After a long history of rejecting the categorical imperative for fear of its abstraction and his warming up to the concept in the 1884 letter to Buturlin, Tolstoy finally embraced Kant’s moral law and reinforced it with John’s treatment of love […]. Kant’s inclusion in Tolstoy’s trinity of saving graces marks his final rejection of Schopenhauer in the famous letter to Strakhov on October 16, 1887, in which Kant is extolled and Schopenhauer is called ‚a talented scribbler‘.“ Vgl. Marie-Élise Zovko, Der systematische Zusammenhang der Philosophie in Kants Kritik der Urteilskraft. ‚Zweite Aufmerksamkeit‘ und Analogie der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/4 (2010), 629–645. Ich habe in dem genannten Aufsatz dafür argumentiert, dass Kant sehr wohl von Spinoza (nicht nur vom Spinozismus) in der Formulierung seines transzendentalen Ansatzes, vor allem hinsichtlich des Problems der Freiheit, beeinflusst wurde. Verschiedene Aspekte von Kants Verhältnis zu Spinoza sind inzwischen detailliert entfaltet worden von Omri Boehm, Kant’s Critique of Spinoza, Oxford University Press, 2014. Kleingeld, Kant, History, and the Idea of Moral Development, 59. Diese Entwicklung führt bei Kant „zu Fortschritt in allen Bereichen, in denen Vernunft angewandt wird, von Wissenschaft zur Politik, von Moral zur Religion“. Vgl. Kleingeld, Kant, History, and the Idea of Moral Development, 59. Vgl. Marie- Élise Zovko, Der systematische Zusammenhang, sowie Naturalism and Intellectualism in Plato and Spinoza, in: Andreas Arndt und Jure Zovko (Hg.), Freiheit und Deter-

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auch für Spinoza die Darstellung menschlicher Freiheit – trotz Anerkennung einer durchgängigen Notwendigkeit der Naturereignisse beziehungsweise der Naturerscheinungen – im Mittelpunkt steht. Isaiah Berlin weist in seinem Tolstoi gewidmeten Essay The Hedgehog und the Fox28 mit seiner Unterscheidung zweier grundverschiedener Arten von Denkern auf den Kern der Problematik hin, der beim hier unternommenen Vergleich zwischen Kant und Tolstoi im Mittelpunkt steht. Bei Archilochos fand Berlin das Wort: „der Fuchs weiß viele Sachen, aber der Igel nur eine große Sache“ (πόλλ’ οἶδ’ ἀλώπηξ, ἀλλ’ ἐχῖνος ἓν μέγα).29 Gemäß diesem Spruch teilt Berlin Denker und Schriftsteller in zwei Gruppen ein. Die einen, wie Platon, Lukrez, Dante, Pascal, Hegel, Dostojewskij, Nietzsche, Ibsen und Proust, nennt er „Igel“, weil sie die Welt gemäß einer einzigen, bestimmenden Idee auffassen. Die anderen nennt er „Füchse“, insofern für sie die Welt zu vielfältig erscheint, um unter einer einzigen leitenden Idee erfasst zu werden. Zu dieser Gruppe zählt er Herodot, Aristoteles, Erasmus, Shakespeare, Montaigne, Molière, Goethe, Pushkin, Balzac, Joyce und Anderson.30 Über Tolstoi meint Berlin, dass er auf den ersten Blick weder der einen noch der anderen Gruppierung zuzugehören scheine.31 Diese Ansicht will er am Beispiel von Tolstois Geschichtsauffassung in Krieg und Frieden erweisen. Von seiner natürlichen Veranlagung her scheine Tolstoi wie der Fuchs, indem er die kleinsten Details der Persönlichkeiten seiner Figuren und der von ihm geschilderten geschichtlichen Ereignissen wahrzunehmen und darzustellen vermag. Dennoch suche Tolstoi vergeblich nach einer einheitlichen Sicht der Wirklichkeit, und er werde durch die eigene Unfähigkeit irritiert, ein integrierendes Prinzip zu finden, das den Prozess als ganzen, die Geschichte des Menschengeschlechts, sowie das Leben des Individuums zu erklären vermöchte. Diese innere Gegensätzlichkeit bezeichnet Berlin als Tolstois „Tragödie“: Er ist nicht, er ist weit davon entfernt, ein Igel zu sein; und was er sieht ist nicht das Eine, sondern mit einer immerwachsenden Feingliedrigkeit, in seiner ganzen wuchern-

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minismus, Hannover 2012, 11–62 (korrigierte Version unter URL: https://ifzg.academia.ed u/MarieEliseZovko). Isaiah Berlin, The Hedgehog and the Fox: An Essay on Tolstoy’s View of History, London 1953. In Erasmus Rotterdamus’ Adagia von 1500 lautet der Spruch: „Multa novit vulpes, verum echinus unum magnum“. Vgl. Adagiorum chiliades, pars prima. Ex editione Amsterdam 1703/06, vide partem primam in editiones Joannis Frobenii 1523, https://www.hs-augsburg. de/~harsch/Chronologia/Lspost16/Erasmus/era_ada1.html, Adagium 1.5.18, 17. 8. 2022. Berlin, The Hedgehog and the Fox, 2. Berlin, The Hedgehog and the Fox, 3: „But when we come to Count Lev Nikolaevich Tolstoy, and ask this of him – ask whether he belongs to the first category or the second, whether he is a monist or a pluralist, whether his vision is of one or of many, whether he is of a single substance or compounded of heterogeneous elements, there is no clear or immediate answer.“

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den Individualität, mit einer obsessiven, unentrinnbaren, unverderblichen alles durchdringenden Luzidität, die ihn verrückt macht – das Viele.32

Was Berlin als Schwäche Tolstois ansieht, mag jedoch in Wirklichkeit die eigentümliche Stärke des Romanschriftstellers gegenüber dem Philosophen darstellen, wie sich anhand von einem Vergleich Kants und Tolstois mit Hinblick auf deren Behandlung des Problems von Freiheit und Notwendigkeit, Freiheit und geschichtlicher Bestimmung des Individuums, illustrieren lässt. Während sich nämlich der Philosoph durch seine Aufgabe gezwungen sieht, in gedanklicher Konsequenz und mit durchgreifender Rationalität eine Gesamtdeutung von Natur und Geschichte zumindest als Ziel vor Augen zu halten – auch wenn noch nicht klar ist, ob diese in Wirklichkeit überhaupt möglich ist – unterliegt der Romanschriftsteller diesem Zwang nicht. Sogar die Grenzen des Rationalen muss der Philosoph seiner Natur gemäß in der Weise eines wissenschaftlichen Redens und Schreibens rational auszuloten versuchen. Er wird dabei gezwungen, von der unmittelbaren Erscheinung des Einmaligen in Natur und Geschichte, mit anderen Worten vom eigentlichen Mysterium und Faszinosum, immer wieder abzusehen, und muss dieses sozusagen verloren gehen lassen, um sich ins kategoriale und propositionale Denken zu begeben und sich dort auszuweisen. Der Romanschriftsteller dagegen darf und muss sogar seiner Aufgabe gemäß das Einmalige, die Einmaligkeit sinnlicher und geistiger, natürlicher und geschichtlicher Erscheinungen, unter immer neuen Gesichtspunkten und aus immer neuen Perspektiven durch seine Kunst zum Leben erwecken, sie durchs Medium seiner Kunst sozusagen neu erschaffen. Das Einmalige des Kunstwerks aber, soweit es ein gelungenes Werk sein soll, hat dennoch die Kraft universeller Ansprechung und universeller Mitteilbarkeit. Der Inhalt des Romankunstwerks hallt somit im Erlebnis des Lesers nach, der es auf je eigene Weise rezipiert und in der eigenen Erfahrung nachzuvollziehen versucht, und regt damit zum Nachdenken darüber und zur Auseinandersetzung mit den dadurch erweckten Gedanken und Gefühlen an.33 Derartiges Nachdenken und eine derartige Auseinandersetzung geschehen wiederum in Gemeinschaft und in der Kommunikation mit anderen, die sich ebenfalls individuell und gemäß der eigenen Erfahrung mit dem Kunstwerk auseinandersetzen. Es ist aber nicht die bloße Wirklichkeit, die der Romanschriftsteller in seiner erzählerischen Darstellung hervorbringt, keine bloße Wiederholung äußerlicher 32 Berlin, The Hedgehog and the Fox, 71. Übersetzung M.-E.Z. 33 Ludwig Stein hebt in diesem Sinne den Gegensatz des „Dichter-Denkers“ Tolstoi zum rationalistischen Philosophen hervor: Tolstois Stellung in der Geschichte der Philosophie, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 32 (3), 1920, 125–141, 125. Die Philosophie Tolstois könne man demnach nicht erlernen, schulbuchmäßig verarbeiten und systemgerecht abzirkeln, sondern man müsse sie erleben.

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Vorgänge, sondern eine eigenständige Neuerschaffung und Neuinszenierung der von ihm auf eine gewisse Weise und aus einer bestimmten thematischen Perspektive erlebten und interpretierten Wirklichkeit, die dabei als Produkt seiner einmaligen Vision zustande kommt. Im Geschaffenen selbst, als künstlerischer Nachbildung von Erscheinungen der Natur und der Geschichte, kommen sowohl die ursprüngliche Schaffungskraft der im Künstler unbewusst mitwirkenden Natur (der eigenen körperlichen, wie auch der ihm äußerlichen, aber als „Stoff“ durch die eigene Gesetzlichkeit im Schaffen des Künstlers mitwirkenden), wie auch die absichtliche und selbstbewusste Formkraft seines Geistes zum Ausdruck. Trotzdem schafft das Kunstwerk dem Menschen, ohne dass es auf das Einmalige verzichten muss, einen Zugang zum Allgemeingültigen. Es erhebt im Hinblick auf das Bleibende und Kommunizierbare der eigenen Erscheinung, gefördert durch das durch sie erregte Wohlgefallen am Wiedererkennen seiner selbst und des von einem selbst Erlebten in der vom Künstler erschaffenen „zweiten“ Wirklichkeit, einen universalen Geltungsanspruch. Der Romanschriftsteller Tolstoi behandelt demgemäß die sich den Menschen aufdrängenden Fragen über Sinn und Bedeutung, Ursachen und Prinzipien des Einzelnen und des Ganzen nicht primär, wie der Philosoph Kant, mittels propositional geäußerter Argumente – wenn er sich auch immer wieder, wie zum Beispiel im zweiten Epilog zu Krieg und Frieden, auf mehr erklärende und begründende Überlegungen zu philosophischen Themen wie Freiheit und Geschichte einlässt – sondern exemplarisch, in den einmaligen, aber immer neu erlebten und gedeuteten Handlungen und Erlebnisse der Figuren seines Romans.

2.

Freiheit des Individuums, Fortschrittsglaube, Suche nach dem Sinn des Lebens

Im Folgenden will ich im Hinblick auf zentrale Begriffsbestimmungen aus Kants Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht und auf eine Auswahl verwandter Passagen aus Kants Kritiken die Hauptzüge von Tolstois Überlegungen zum Verhältnis zwischen Freiheit und Geschichte in den erzählerischen Teilen des Romans betrachten.34 Dazu werde ich bei Gelegenheit Gedanken aus Spinozas Ethik heranziehen, die Kant und Tolstoi – direkt oder indirekt – bei der Formulierung ihrer eigenen Gedanken zu diesem Verhältnis beeinflusst haben 34 Die tiefergehende Problematik der geschichtsphilosophischen Überlegungen Tolstois aus den beiden Teilen des Epilogs, vor allem die Frage nach deren Sinn, Platz und Rolle im Roman, sowie in Tolstois Schaffen insgesamt, muss hier ausgespart werden. Vgl. dazu Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of his Time, Teil 1, Kap. 5: The Unfinished Battle: The Case With the Epilogues, 109–130.

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mögen35 und die die Problematik noch pointierter zum Ausdruck bringen. Ich werde dabei bestrebt sein, den Unterschied zwischen Tolstois Auffassung des genannten Verhältnisses und der Auffassung Kants zu beleuchten. Dieser Betrachtung werde ich einzelne Abschnitte von Krieg und Frieden, allem voran gewisse Szenen aus der Darstellung der Schlacht um Borodino, sowie aus dem ersten, narrativen Teil des Epilogs, und einzelne Bemerkungen aus Tolstois Bekenntnis, Meine Beichte, zu Grunde legen. Ziel dieser Gegenüberstellung ist nicht so sehr einen theoretischen Beweisgang zu liefern, als vielmehr den unterschiedlichen Charakter des philosophischen und des künstlerischen Ansatzes bei der Auseinandersetzung mit der genannten Problematik zu beleuchten. Die Frage nach der Freiheit des Individuums ist bei Tolstoi wie bei Kant nicht allein mit der Frage der Moralität des Einzelnen, sondern auch mit der Frage nach dem Sinn des Ganzen, das ist mit der Frage, welchen Sinn die Handlungen des Einzelnen angesichts des großen Gangs der Geschichte haben mag, verbunden. Von daher hängt die Frage nach der Freiheit des Individuums im Roman Krieg und Frieden eng mit der Frage nach dem Zweck menschlichen Handelns, dem Begriff des Fortschritts, und der Vorstellung eines eventuell zu erschließenden Endzwecks der Geschichte, zusammen. Es sind nach Kant „nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht“, denkbar: eine Kausalität „nach der Natur“ und eine Kausalität „aus Freiheit“. Freiheit bestimmt Kant „im kosmologischen Verstande“ als „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität […] nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte“. Freiheit ist demnach „eine reine transzendentale Idee“, die „nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält“. Deren Gegenstand kann „selber in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden“, insofern das allgemeine Gesetz und die Möglichkeit der Erfahrung und somit der „bloßen Natur“ von der durchgehenden Verkettung von Ursache und Wirkung abhängt. Die Möglichkeit der Erfahrung hängt nämlich davon ab, „daß alles, was geschieht, eine Ursache […] haben müsse“ und diese eine andere und so weiter bis ins Unendliche, wodurch der „Inbegriff bloßer Natur“ erzeugt wird. Da aber in der Erfahrung des Menschen „keine absolute Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnisse herauszubekommen ist“, „schafft sich die Vernunft die Idee von

35 Es gibt nach Ihnatkovs Zählung etwa fünfzig allgemeine Hinweise auf Spinoza im Gesamtwerk Tolstois. Wie Ihnatkov feststellt, wird Tolstois Nähe zu Spinoza eher durch die Prinzipien, auf die beide vertrauten, als durch eine Aneignung von Spinozas Ideen bedingt. Spinozas Ideen benützte Tolstoi mehr, um die eigenen Schlussfolgerungen zu bestätigen, denn als eine primäre Quelle seiner Reflexionen. Vgl. Volodymyr Ihnatkov, Leo Tolstoy’s Philosophy in Light of Alastair McIntyre’s Theory of Tradition-Dependent Rationality, Dissertation, Ann Arbor 2009, 190, 232, Anm. 534.

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einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe“.36 Auf der transzendentalen Idee der Freiheit gründet der praktische Begriff der Freiheit, das liberum arbitrium, das Kant mit der „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ identifiziert. Insofern Willkür durch „Bewegursachen der Sinnlichkeit“ oder „pathologisch necessitiert“ wird, ist sie nämlich nicht frei, sondern „tierisch“. Kant interessiert aber die Frage, ob es eine Kausalität gibt, die „unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen“ vermag. Letzteres wiederum muss – da Erfahrung als Ganzes weiterhin fortbestehen muss, damit Freiheit im Verhältnis auf sie ihre Wirklichkeit zum Ausdruck bringen kann – „in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt“ sein. Dies würde heißen, dass der Mensch, der ebenfalls Teil des durch die Verkettung von Ursache und Wirkung durchgängig bestimmten Zusammenhangs empirischer Erscheinungen ist, trotz seiner Eingebundenheit in der Zeitordnung, spontan und ohne durch vorhergehende Ursachen bedingt zu sein, „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“ vermag.37 Die Auflösung der dritten Antinomie verlangt, dass neben den notwendig bedingten empirischen Erscheinungen die Möglichkeit einer „nichtempirischen“, „intelligiblen“ Verursachung bestehen müsste,38 deren Wirkungen wiederum Erscheinungen sind und somit der Bedingtheit des empirischen Kausalzusammenhangs unterliegen. Dieser „intelligible Grund“ unterbricht die empirisch erfahrbare, durchgängige Verkettung von Ursache und Wirkung überhaupt nicht, sondern betrifft „bloß das Denken im reinen Verstand“.39 Der Mensch nämlich, der „die ganze Natur sonst lediglich […] durch Sinne kennt“, erkennt sich auf zweifache Weise: erstens als „Phänomen“, zweitens als „bloß intelligiblen Gegenstand“, dessen Handlungen nicht nur als Erscheinungen durch die Rezeptivität der Sinne, sondern eben auch als Handlungen durch Verstand und Vernunft vermittelt werden. Besonders das Vermögen der Vernunft zeigt sich als „von allen empirisch bedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der dann von seinen […] Begriffen einen empirischen Gebrauch macht“.40 Manche Erscheinungen müssten demnach Gründe haben können, „die nicht Erscheinungen 36 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998. Im Folgenden nach der Paginierung der ersten Auflage 1781 (A) und der zweiten Auflage 1787 (B) zitiert. Hier: A 532f/B 560f. 37 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 534/B 562. 38 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 544/B 572. 39 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 545/B 573. 40 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 546f/B 574f.

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sind“, und nicht nur durch Erscheinungen bestimmt werden, wenn auch von diesen Gründen gilt, dass ihre „Wirkungen erscheinen, und so durch andere Erscheinungen bestimmt werden können“. Ein solcher Grund wäre eine „intelligible Ursache“. Die aus ihr erfolgende Wirkung wäre „in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei […] in Ansehung der Erscheinungen“ als notwendig anzusehen.41 Der Begriff einer transzendentalen Freiheit ist von dem des Zufalls, das ist von einer angeblichen Unterbrechung der durchgehenden Notwendigkeit und Verkettung von Ursache und Wirkung in der Natur, insofern unabhängig, als er auf diese Weise als ein außerhalb der Reihe der Naturerscheinungen (der phenomena) stehendes noumenon aufgefasst wird. Dies setzt voraus, dass Erscheinungen keine Dinge an sich sind, mit anderen Worten, dass ihnen keine absolute Realität zukommt – wodurch die Möglichkeit der Freiheit bewahrt wird: Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdann ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselben ist jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten, die, samt ihrer Wirkung, unter dem Naturgesetz notwendig sind.42

Kant sieht sich zur Annahme dieser doppelten Perspektive vor allem aufgrund des Bewusstseins des moralischen Imperativs und der Erfahrung des Sollens berechtigt.43 Durch das praktische Vermögen der Vernunft wird die „objektive Realität“ der Freiheit erwiesen.44 In praktischer Hinsicht gilt die Freiheit als einzige unter den transzendentalen Ideen, deren Wirklichkeit erwiesen werden kann, insofern die Existenz der Freiheit durch den moralischen Imperativ als Faktum der Vernunft und das dadurch bedingte Bewusstsein des Sollens vorausgesetzt wird.45 Ohne auf die von Kant gebotene Lösung eines möglichen Zusammenbestehens der Freiheit mit der notwendigen Verursachung empirischer Erscheinungen einzugehen, wendet sich Tolstoi in seinen Schilderungen der Ereignisse von Krieg 41 42 43 44

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 537/B 565. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 537/B 565. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 547f/B 575f. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, mit einer Einleitung hg. v. Horst D. Brandt und Heiner Klemme, Hamburg 2003. Hier: AA 5, Vorr. 3. 45 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, Vorr. 4. Die sog. „Reziprozitäts-These“, wie sie Allison nennt: „the claim that freedom of the will and the moral law are reciprocal concepts“. Dadurch wird Kants Behauptung bezeichnet, dass Willensfreiheit und das moralische Gesetz einander gegenseitig bedingende Begriffe sind, eine These, die er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft zum Ausdruck bringt. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, Vorr. 4, Anm. Dort differenziert Kant dieses Verhältnis, da er erklärt, Freiheit sei ratio essendi des moralischen Gesetzes, während das moralische Gesetz ratio cognoscendi der Freiheit darstellt; Vgl. Henry E. Allison, Morality and Freedom: Kant’s Reciprocity Thesis, in: The Philosophical Review 95/3 (1986), 393–425, 394.

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und Frieden immer wieder den aufeinander bezogenen Fragen, wie der Entschluss des Einzelnen mit der Notwendigkeit der Natur und der Bedingtheit durch geschichtliche Ereignisse, wie das Schicksal von Völkern mit dem angeblich freien Willensentschluss des Einzelnen, zusammenhängen. Seine Darstellungen der unaufhaltsamen Entfaltung der schrecklichen Ereignisse des Kriegs, bei denen Menschen mehr wie Werkzeuge einer höheren Macht oder gar Räder eines Triebwerks denn wie selbstständige Akteure erscheinen, scheinen einem durchgehenden Determinismus den Vorzug zu geben. Doch stehen trotz des Eindrucks der überwältigenden Gewalt von Natur und Geschichte im Leben des Einzelnen die zentralen Figuren des Romans immer wieder in einem heldenhaften Licht da, wie sie durch eigenen Entschluss in die Gestaltung des eigenen Schicksals einzugreifen versuchen und auch darauf Einfluss zu nehmen scheinen. Kant verbindet ebenfalls die Frage, wie Freiheit mit Naturnotwendigkeit zusammenbestehen könne, mit der Frage, wie individuelle Freiheit mit dem Gang geschichtlicher Ereignisse zusammenhänge. Er stellte in dieser Hinsicht in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht46 die Hypothese auf, die Menschheit werde als Gattung das erreichen, was die Menschen als Individuen nicht erreichen können, nämlich einerseits die vollständige Entwicklung ihrer Naturveranlagung, beziehungsweise die Vervollkommnung eines Lebens gemäß der Vernunft aufgrund der Moralität, sowie andererseits die Moralisierung der Menschheit insgesamt. Kants Hauptanliegen in der genannten Schrift ist es allerdings nicht, wie Kleingeld betont, eine theoretische Erklärung des Verhältnisses von Freiheit und Geschichte zu geben – wiewohl der Inhalt „eine theoretische Frage“, nämlich die „Systematisierbarkeit der Geschichte“, betrifft. Die teleologische Naturbetrachtung, die der Schrift zugrunde gelegt wird, habe eben regulativen und nicht konstitutiven Status. Von daher meint Kleingeld, wenn auch Kant im Hinblick auf seine geschichtsphilosophischen Überlegungen oft Dogmatismus vorgeworfen werde, sei deren „kognitiver Anspruch“ nicht so stark. Der geschichtsphilosophische Entwurf Kants solle sich eben nicht durch empirische Daten und nicht als wahr, sondern nur durch dessen „Brauchbarkeit“ als „Regulativ für die Ordnung des historischen Materials“ erweisen.47 Wie schon in der Ersten Kritik setzt Kant in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte voraus, menschliche Handlungen als Erscheinungen seien „eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturgesetzen be46 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Berlin 1912. Im Folgenden zitiert als Idee. Hier: AA 8, 18. Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte ist nach Kleingeld „der erste umfassende geschichtsphilosophische Text Kants“. In ihm werden „die Leitgedanken von Kants Geschichtsvorstellung eingeführt“. Kleingeld, Fortschritt und Vernunft, 12f. 47 Kleingeld, Fortschritt und Vernunft, 16f, 19f; vgl. 20, Kant, Idee, AA 8, 29.

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stimmt“.48 In der Kritik der reinen Vernunft wird aufgrund des „Bedürfnisses“ der Vernunft, Erkenntnis insgesamt als systematische Einheit zu sehen, Natur als „Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach […] [gemäß] nothwendigen Regeln, d.i. nach Gesetzen“49 aufgefasst – wenn auch das Bestehen einer solchen systematischen Einheit nicht empirisch nachgewiesen werden kann. Dasselbe müsse man eben aufgrund eines analogen Vernunftbedürfnisses auch für die Erscheinungen der Geschichte voraussetzen, denn die scheinbare Regellosigkeit der geschichtlichen Ereignisse erregt „Unwillen“ beim Betrachter. Die systematische Einheit der Naturerkenntnis, die in der Kritik der reinen Vernunft die „Form eines Ganzen“ annehmen sollte, der die einzelnen Teile der Erkenntnis untergeordnet und von der sie bedingt sein sollten, wird in der Idee einer allgemeinen Geschichte zu der einer teleologischen Ordnung, in der alle Individuen durch ihre Handlungen, ohne sich dessen bewusst zu sein, die überindividuelle „Naturabsicht“ zu erfüllen streben.50 Angesichts der Tatsache, dass Menschen bei ihrem Tun und Lassen selten genug nach einem vernünftig ausgedachten Plan verfahren, sondern zumeist „aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht“ handeln, bleibt dem Philosophen nach der Auffassung Kants eben nichts übrig, als eine solche Naturabsicht anzunehmen, die die Geschichte nach einem bestimmten Plane sich entfalten lässt. Diese Absicht der Natur sieht Kant in der „Entwicklung der Naturanlagen der Menschheit“, wobei „ihr wichtigstes Mittel“ der natürliche und zwischendurch auch zweckwidrig erscheinende „Antagonismus“ der Menschen in Bezug aufeinander ist. Kant entwickelt seine Gedanken in einer Reihe von Sätzen, die jeweils grundlegende Voraussetzungen ausdrücken, hinter die nicht zurückgefragt werden kann, obwohl sie einer erläuternden Auslegung fähig sind. Für den Anfang stellt er fest, dass erstens „[a]lle Naturanlagen eines Geschöpfes […] bestimmt [sind], sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.“ Das Korollarium dieser Proposition ist ein Gedanke, der sich auch bei Spinoza vorfindet, nämlich: es ist die Naturanlage des Menschen, seine Vervollkommnung durch den Gebrauch seiner Vernunft zu erzielen. Nur sei dies kaum im Leben des Einzelnen realisierbar. Letzteres führt zu dem Schluss, wonach zweitens „[a]m Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) […] sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln [sollten].“51

48 49 50 51

Kant, Idee, AA 8, 17. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 263. Kant, Idee, AA 8, 17f. Vgl. Kleingeld, Fortschritt und Vernunft, 16, 17f. Kant, Idee, AA 8, 18.

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Das Paradoxe an dieser Lage ist, dass die Vernunft, indem sie – die ja selber eine Naturanlage ist – die Naturanlagen des Menschen zu vervollkommnen sucht, das Instinktmäßige, das ist die Natur im üblichen Sinne, übersteigt: „Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern.“ Die Vernunft als solche wirkt eben nicht instinktmäßig, und der Mensch kann nicht, um seine Vervollkommnung zu erreichen, sich bloß gemäß der Naturnotwendigkeit entfalten. Vielmehr muss er erzogen werden und erziehen, sich bilden und andere Menschen bilden, Erkenntnis durch „Versuche, Übung und Unterricht“ erringen, „um von einer Stufe zur anderen allmählig fortzuschreiten“.52 Ein Mensch müsste jedoch „unmäßig lange leben […] um zu lernen, wie er von allen seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle“, dies ist aber unmöglich. Dennoch stellt sich Kant vor, wie die Kürze des Menschenlebens durch „eine unendliche Reihe von Zeugungen“ aufgewogen wird, die „endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung […] treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist“. Denn sonst müssten, was für Kant unannehmbar wäre, die Naturanlagen größtentheils als vergeblich und zwecklos angesehen werden […]; welches alle praktischen Principien aufheben und dadurch die Natur, deren Weisheit in Beurtheilung aller übrigen Anstalten sonst zum Grundsatze dienen muß, am Menschen allein eines kindischen Spiels verdächtig machen würde.53

Kant erwartet also, dass die Vervollkommnung der menschlichen Naturanlagen erst im Menschengeschlecht, nicht im Leben des Einzelnen realisiert wird, während wir durch unsere Handlungen – ob diese gemäß vernünftiger Absicht motiviert sind oder nicht – auch ohne unser Wissen an der Verwirklichung jenes Ziels mitarbeiten. Dieser Standpunkt ist, wie sich im Folgenden zeigen wird, von Tolstois Standpunkt in Krieg und Frieden grundsätzlich verschieden. Tolstoi drückt nämlich in Krieg und Frieden seine tiefen Zweifel an einem kollektiven Fortschritt der Menschheit aus, während er das Ziel einer individuellen Vervollkommnung des Menschen als Ausgang der eigenen Suche nach dem Lebenssinn, sowie der seiner Hauptfiguren, letztendlich bejahen wird. In Krieg und Frieden schildert Tolstoi den Gegensatz zwischen dem Versuch seiner zentralen Figuren, die eigene Lebensgeschichte durch willentlichen Entschluss sinnvoll zu gestalten, und dem unaufhaltsamen Gang geschichtlicher Ereignisse, dessen Sinn, wenn er einen haben soll, schwer zu ergründen ist. Im Unterschied zu Kant scheinen seine Schilderungen, sobald die Sinnfrage auf größere Gruppen von Menschen übertragen werden soll, von einem bedrü52 Kant, Idee, AA 8, 18f. 53 Kant, Idee, AA 8, 19.

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ckenden Pessimismus gekennzeichnet zu sein. Der starke Unterschied zu Kant, vor allem hinsichtlich der Idee des Fortschritts, lässt sich anhand von gewissen Details aus der von Tolstoi erlebten, Jahrzehnte lang andauernden Glaubenskrise illustrieren, von der er in seiner 1879 verfassten Schrift Meine Beichte54 berichtet. Diese Glaubenskrise wurde schon in jüngeren Jahren durch Tolstois Ablehnung traditioneller Autoritäten zugunsten eines Vertrauens auf den eigenen Verstand eingeleitet. Tolstoi spricht zunächst in allgemeiner und unpersönlicher Weise vom Glaubensverlust:55 Man nehme eben als Kind häufig auf bloßes Vertrauen und durch äußerliche Umstände gezwungen die religiöse Doktrin an, die man durch seine Geburt und Umgebung vermittelt bekommt. Dieser Kindesglauben schmilzt aber allmählich unter dem Einfluss der Erkenntnis und der Erfahrung des Lebens, die mit dem Inhalt jenes Glaubens häufig in Konflikt stehen. Nachdem er in seiner Jugend Abschied vom Kindesglauben nimmt, lebt Tolstoi nach eigenem Bericht bis zu seiner Heirat ein ausschweifendes Leben, glaubt aber trotzdem, wie damals die vorherrschende Meinung in gelehrten Kreisen war, an die Perfektibilität des Menschen.56 Sein Leben in Europa und seine „Annäherung 54 Meine Beichte (russisch: Исповедь [Ispoved]) ist ein kurzes Werk, das zwischen 1879 und 1880 geschrieben wurde, in dem Tolstoi über seinen verzweifelten Zustand nach Verlust seines ursprünglichen Glaubens und über seine Suche nach dem Sinn des Lebens berichtet. Er erzählt, wie er vergeblich in Wissenschaft, Philosophie, östlicher Weisheit, sowie in den Ideen gelehrter Menschen nach dem Lebenssinn suchte und dadurch in tiefe Melancholie und Selbstmordgedanken gestürzt wurde. Er bekennt, die Antwort auf seine Zweifel schließlich in den Überzeugungen einfacher Menschen gefunden zu haben. Die Schrift schildert jedoch nur einen Teil, eigentlich nur die erste Phase des andauernden Prozesses von Tolstois „langer Bekehrung“ und bildet, wie Medzhibovskaya berichtet, einen Teil einer Art Trilogie, die aus drei Phasen bestehe: „Eine Beichte, die ein vorkritisches Stadium der Suche darstellt; Harmonisierung und Übersetzung der vier Evangelien (1880–1881) und Kritik dogmatischer Theologie (1879–1880; abgeschlossen 1884), welche die kritische Phase der Suche darstellt; und Was ich glaube? (V chem moia vera? 1882–1884), die die positive Phase vertritt.“ Meine Beichte endet „mit der Hoffnung darauf, Glauben zu finden“ und wird von daher „als Einführung in die noch nicht geschriebene definitive Version der gefundenen Wahrheit“ dargeboten, so Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 238. 55 Meine Beichte entfaltet sich, nach der Beschreibung Medzhibovskayas, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 243, nicht als chronologische, autobiographische Darstellung, sondern in der Form einer „suspendierten Art von Temporalität, einer ‚gefrorenen Zeit‘“, „in der das Gedächtnis zurückblendet, um in seiner ausgedehnten Krise Augenblicke der Verbindung mit dem Ewigen darzustellen“. 56 Dies war die Meinung von Denkern wie Herzen, mit dem Tolstoi in den 1860er Jahren korrespondierte. Alexander Herzen, „christlicher Sozialist, Schriftsteller, Revolutionär, und Verleger“, sowie persönlicher Freund Tolstois seit 1860, war Anhänger der Idee eines Fortschritts der Menschheit in Richtung einer harmonischen Organisation des Lebens, bei dem „Du und ich eine Rolle spielen werden“, während Tolstoi Herzens „Ersatzreligion des Fortschritts“ eher skeptisch gegenüberstand und sich stattdessen für ein Anerkennen des Strebens des Menschen nach und seiner Hoffnung auf Unsterblichkeit, ewige Selbstvervollkommnung, angesichts geschichtlicher Gesetze einsetzte. Vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 12, 72f.

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an die den Ton angebenden und gelehrten europäischen Köpfe“ befestigen diesen Glauben „an die allgemeine Veredelung“ des Menschen. Damit denkt er offenbar zunächst an eine überindividuelle, fortschreitende Entwicklung der Menschheit gemäß der Vernunft.57 Dieser vernunftmäßige Glaube an Fortschritt, beziehungsweise Glaube an ein vernunftmäßiges Fortschreiten und an die fortschreitende moralische Entwicklung der Menschheit, erscheint Tolstoi später als Aberglaube. Erstens sieht Tolstoi nicht ein, warum man einen vernunftmäßigen, allgemeinen Fortschritt der Menschheit, dem alles Vernunftwidrige, ob in der Natur oder im menschlichen Handeln, irgendwie untergeordnet werden wird, annehmen sollte. Zweitens, bietet nach seiner Ansicht der Begriff eines solchen Fortschritts keine richtige Antwort auf die Frage, wie man leben sollte. Eigentlich sei das so, wie wenn man einem Menschen, „der in einem Kahn vom Wind über die Wellen getragen wird“, auf die für ihn wichtigste und gar einzige Frage: wohin man steuern sollte, antworten würde: „Es treibt uns irgendwohin.“ Wenn er sich ehemals nur selten gegen diesen Aberglauben aufgelehnt hat, untergraben ein paar erschütternde Erlebnisse Tolstois Glauben an einen etwaigen Fortschritt der Menschheit endgültig. Als er einmal in Paris einer Hinrichtung beiwohnt, wird ihm klar: die Bosheit und Absurdität dieses Ereignisses könne mit keiner Theorie eines der Vernunft gemäß sich entfaltenden Fortschritts in Einklang gebracht werden: Ich sah, wie der Kopf sich vom Körper trennte, und hörte, wie erst der Kopf und dann der Rumpf im Kasten aufschlugen, und ich begriff nicht mit dem Verstand, sondern mit meinem ganzen Wesen, daß keine Theorie über das Vernunftgemäße des Existierenden und des Progresses diese Tat rechtfertigen könnte. Und wenn auch alle Menschen der Welt, aufgrund irgendwelcher Theorien, seit der Welterschaffung gefunden hätten, daß dies notwendig sei – ich weiß, daß dies nicht notwendig, daß dies schlecht ist.58

Tolstoi sieht also ein: Das radikale Böse dieses Ereignisses passt zu keinem Begriff eines allgemeinen Fortschritts; außerdem könne keine Theorie, sondern allein er selbst und sein eigenes Herz, darüber entscheiden, was gut und böse sei. Ein weiterer Fall, der diese Erfahrung bestätigt, und Tolstoi von der Unhaltbarkeit des Fortschrittsaberglaubens überzeugt, ist der Tod seines Bruders Nikolen’ka gewesen: Er, der kluge, gute, ernste Mann, erkrankte in jungen Jahren, litt aber ein Jahr und starb unter großen Qualen, ohne verstanden zu haben, wozu er lebte, und noch weniger begreifend, weshalb er sterben musste.59

57 Lew Tolstoi, Meine Beichte, Berlin 2010, „Kap. III“, 20. 58 Tolstoi, Meine Beichte, 20f. 59 Tolstoi, Meine Beichte, 21.

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Auf die Frage nach dem Grund „seines langsamen und qualvollen Hinsterbens“ kann Tolstoi keine Theorie eines vernunftmäßig sich entfaltenden Fortschritts eine Antwort bieten.60 Und dennoch veranlassten derartige „nur seltene Fälle des Zweifelns“ Tolstoi nicht dazu, den Glauben an Fortschritt jeglicher Art aufzugeben. Er lebt weiterhin gemäß dem Glauben an irgendeine Art Fortschritt – nur welcher Art dieser Fortschritt sein könnte, ist aus dem Kontext nicht unmittelbar erkennbar. Tolstoi bekennt, dass sich alles entwickele, und dass er sich selber entwickele, wenn auch erst später erkennbar werden mag, wohin diese Entwicklung führe.61 Damit scheint er nicht mehr den Glauben an einen allgemeinen, sich notwendig durchsetzenden Sieg der Vernunft in der Geschichte der Menschheit zu meinen, sondern seine Überzeugung von der Möglichkeit einer schrittweise voranschreitenden, durch immer wieder neu gefassten freien Entschluss motivierten, persönlichen Vervollkommnung des Individuums, deren Ablauf nicht rational vorhersehbar ist. Der Unterschied liegt für Tolstoi in der Unmöglichkeit, durch den „Gang des Räsonnements“ über die einfache Gleichung x ist x – Endliches ist Endliches, „Kraft ist Kraft, Materie ist Materie, Wille ist Wille, Unendlichkeit ist Unendlichkeit“, also über bloße Tautologien hinauszukommen.62 Eine „streng-vernünftige Erkenntnis“ könne unmöglich eine bestimmte Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, sondern nur eine unbestimmte geben. Die vom Glauben gegebene Antwort müsste vom Standpunkt der Vernunft aus gesehen ungeheuerlich erscheinen. Vernünftige Erkenntnis führt nur zur Einsicht, dass das Leben sinnlos sei, wonach es unmöglich sei, weiter zu leben. Der Glaube sei dagegen eine unvernünftige Erkenntnis; in ihm allein seien Sinn und Möglichkeit des Lebens zu finden. Erkenntnis der Wahrheit könne nur durch „echtes Leben“, und nur bei einfachen Menschen gefunden werden.63 Medzhibovskaya weist auf das Gleichnis des Müllers aus der späten religionsphilosophischen Schrift Über das Leben hin, in dem der Müller sich für die Mechanik und Logik der Mühle so zu faszinieren anfängt, dass er darüber seine Aufgabe vergisst und sein eigenes Geschäft zugrunde richtet.64 Aus diesem Beispiel wird klar: Die Erkenntnis der göttlichen Gesetze, die über dem natürlichen 60 Zum Tode Nikolen’kas an Tuberkulose und seiner Auswirkung auf Tolstoi vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 71f. 61 Tolstoi, Meine Beichte, 71. 62 Tolstoi, Meine Beichte, 64f. 63 Tolstoi, Meine Beichte, 64ff, 65, 66f; vgl. „Kap. VIII“, 60ff. Diese Ansicht bildet gewissermaßen einen Gegensatz zum Begriff „vernünftigen Bewußtseins“ (razumenie), den Medzhibovskaya als Wendepunkt in der Bekehrung Tolstois kennzeichnet. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 28, Vgl. 23, 201, 203, 205, 210, 228, 341. 64 Vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 341.

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und geschichtlichen Geschehen walten, mag eine durchaus korrekte Logik bieten. Doch gibt die auf Notwendigkeit und Gesetzlichkeit der Natur und der Geschichte aufbauende Logik keine Einsicht in das Verhältnis des Menschen zu jener Gesetzlichkeit und keine Einsicht in den Sinn jenes Verhältnisses. Die Einsicht in die Unfähigkeit der räsonierenden Vernunfterkenntnis, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu geben, bringt Tolstoi dazu, an der Richtigkeit des eigenen Lebens zu zweifeln. Ein ganzes Jahr lang überlegt er sich fast andauernd, „ob ich mit einem Strick oder mit der Kugel mein Leben enden sollte“. Er wird dabei von einem bedrückenden Gefühl begleitet, das er nur als ein „Suchen nach Gott“ bezeichnen könne. Doch ist dieses Suchen nicht Ergebnis eines rational sich entwickelnden Gedankengangs, sondern es beruht auf einem Gefühl, das „aus dem Herzen“ entsprungen und Gedanken sogar entgegengesetzt sei. Dieses Gefühl beschreibt Tolstoi als „sowohl ein Gefühl der Furcht, des Verlassenseins, der Einsamkeit inmitten alles des Fremden als auch der Hoffnung auf irgendeine mir bevorstehende Hilfe“. Dass er sich auf ein solches Gefühl zu verlassen hat, sieht Tolstoi überraschenderweise von niemand anderem als Kant bestätigt, der ihn lehrte, dass Gottes Existenz nicht bewiesen werden könne.65 Gleichzeitig sträubt sich aber Tolstoi gegen Kants Position und versucht, Kants Argumente für die Unmöglichkeit eines Gottesbeweises zu widerlegen. Dabei hält er sich nicht an die Denkund Redeweise der Transzendentalphilosophie, sondern er geht ganz unkritisch vor; denn es geht ihm um die Frage nach dem Sinn des Lebens und nicht um eine philosophische Rechtfertigung der Begriffe. So überlegt sich Tolstoi, was es mit der Kategorie der „Ursache“ auf sich hat. Er gebraucht dabei das Wort „Kategorie“ in einem eindeutig nicht-Kantischen Sinne, wenn er meint, Ursache sei keine „Kategorie“ wie Zeit oder Raum. Ausgehend von der Frage der eigenen Existenz geht Tolstoi offensichtlich ganz im Sinne der traditionellen Gottesbeweise vor, wenn er meint, es müsse dafür eine Ursache geben, und dazu „eine Ursache der Ursachen“. Letztere sei das, was die Menschen Gott nannten. Doch nicht das theoretische Ergebnis eines solchen Beweisgangs steht ihm dabei im Vordergrund, sondern die damit verbundene existentielle Frage. Denn der Versuch, die Ursache zu erkennen, zu ihr eine Beziehung zu erstellen, führt immer wieder zu Fragen, die unbeantwortet bleiben müssen – und führt Tolstoi selbst immer wieder in Verzweiflung. Solange in ihm das Bewusstsein vorherrscht, es gebe eine Macht, durch deren Kraft er sei, glaubt er leben zu können. Sobald er aber anfängt sich zu fragen, was jene Ursache sei und wie er sein Verhältnis zu ihr zu denken habe, kommt er nicht über den bloßen Namen „Schöpfer“, „Erhalter“ hinaus und meint, den inneren Halt verlieren zu müssen. Sicher ist er jedenfalls, dass der Begriff

65 Tolstoi, Meine Beichte, „Kap. XII“, 81ff.

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Gottes nicht selber Gott sei.66 All die Begriffe, „durch welche das Endliche dem Unendlichen beigeordnet wird und welche dem Leben einen Sinn geben,“ nämlich „Gott, Freiheit, Gut“, hielten der logischen Erforschung und der Kritik der Vernunft nicht stand. Dennoch scheint es ihm notwendig und wertvoll, sich den Widerspruch des Endlichen und des Unendlichen vor Augen zu führen.67 Denn dies ermöglicht erst den durchdachten Schluss, dass nur der Glaube eine Antwort auf die Sinnfrage bieten kann, wenn es sich für Tolstoi auch nicht mehr um den eigenen Kindesglauben an die christliche Glaubenslehre und nicht um die Glaubenslehren anderer Religionen handeln kann. Diesen würden „viele unnötige und unvernünftige Dinge“ beigemengt, die keine „Erklärung, sondern eine Verdunkelung des Sinns des Lebens“ erwirken.68 Dazu lebten die Anhänger solcher Glaubenslehren nicht deren Prinzipien entsprechend, sondern „ebenso schlecht, wenn nicht schlimmer“ als alle Ungläubigen, da sie „im Überfluß“ und nur „für die Befriedigung ihrer Lüste“ lebten. Dennoch trägt in Tolstois Abrechnung der Glaube vor dem vernünftigen Räsonnement, was den Lebenssinn betrifft, den Sieg davon. Denn egal, wie es mit den einzelnen Glaubenslehren bestellt sein mag und was für Antworten sie bieten, „jede dieser Antworten verleiht dem endlichen Dasein des Menschen den Sinn des unendlichen, den Sinn, der von Leiden, Entbehrungen oder Tod nicht vernichtet wird“. Denn Glaube sei „nicht nur die Kunde von den unsichtbaren Dingen“, sondern „Erkenntnis des Sinns des menschlichen Lebens, dank welchem der Mensch sich nicht vernichtet, sondern lebt“.69

3.

Freiheit und Geschichte in Krieg und Frieden: Die Schlacht von Borodino

Nach Tolstois Überlegungen in Meine Beichte sind „der Begriff des unendlichen Gottes, der Göttlichkeit der Seele, der Beziehungen der menschlichen Taten zu Gott, die Begriffe des ethischen Guten und Bösen“ nicht rational begründbar, sondern „Begriffe, welche in der verborgenen historischen Unendlichkeit des Lebens der Menschheit ausgearbeitet worden sind“.70 Ohne ein rational begründetes Model der menschlichen Natur, der moralischen Aufgabe des Menschen und seines Verhältnisses zum überzeitlichen und überindividuellen Prinzip seines Lebens, bleibt es jedoch fragwürdig, wie einem die Verantwortung für seine Taten zugeschrieben werden könnte. Denn unsere Handlungen werden 66 67 68 69 70

Tolstoi, Meine Beichte, 82ff. Tolstoi, Meine Beichte, 69. Tolstoi, Meine Beichte, 72f. Tolstoi, Meine Beichte, 67. Tolstoi, Meine Beichte, 70.

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als richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht im Hinblick auf das ihnen zugrunde gelegte Verhältnis zwischen natürlicher Motivation und rationalem Willensentschluss, selbstbewusster Reflexion und geschichtlich-gesellschaftlicher Bedingungen, beurteilt. Der Begriff einer vernunftmäßig fortschreitenden Vervollkommnung des Individuums und der eines allgemeinen Fortschritts der Menschheit insgesamt scheinen dabei gleichermaßen fragwürdig zu sein. Inwieweit können sich die Menschen durch freien Entschluss entwickeln, wenn sie von Geburt an geschichtlichen Umständen und Einflüssen ausgesetzt sind, die nicht in ihrer Macht stehen? Wie sollte sich im Hinblick auf die durchgehende Verkettung von Ursache und Wirkung in Natur und Geschichte aus dem fortschreitenden Leben der Menschheit ein ethisch bedeutsamer Sinn ergeben? Dieses Dilemma beschäftigte Tolstoi bei seiner Schilderung der Ereignisse um den Aufmarsch der Napoleonischen Truppen gegen die russische Armee im Feldzug gegen Moskau im Jahre 1812 sehr. Im Vorfeld der Schlacht oder angesichts der verheerenden Zerstörung und des schrecklichen Mordens schildert Tolstoi abwechselnd Truppenbewegungen und individuelle Menschenhandlungen übergreifende Ereignisse auf der einen Seite, den inneren Zustand und die Handlungen einzelner Mitwirkender, allen voran Napoleons, des Fürsten Andrej Bolkonskis und des Grafen Besuchows auf der anderen. Dabei entfaltet sich das Geschehen als etwas, was insgesamt „gegen die menschliche Vernunft und wider alle menschliche Natur“ zu sein scheint.71 Man bildet sich ein, die Verursachung geschichtlicher Ereignisse zu überblicken oder sie erklären zu können. Trotz der Meinungen der Historiker müssen nach Tolstoi die wahren Ursachen jener Ereignisse im Dunkeln bleiben, denn Je tiefer wir bei der Erforschung der Ursachen vordringen, desto größer die Zahl derer, die sich uns erschließen, und jede Ursache oder jede Reihe von Ursachen für sich genommen scheint uns gleich richtig und gleich falsch in ihrer Geringfügigkeit, verglichen mit der enormen Tragweite des Geschehens, gleich falsch nämlich in ihrer Unfähigkeit, allein (ohne Beteiligung all der anderen damit zusammenfallenden Ursachen) so ein Geschehen hervorzubringen.72

Alle mitwirkenden Ursachen, die zur sinnlosen Zerstörung des Krieges und auch zu den Handlungen der einzelnen Mitwirkenden führen, werden dennoch durch eine Art Notwendigkeit verwaltet, sogar [d]ie Handlungsweise Napoleons und Alexanders, von deren Wort doch scheinbar abhing, ob das Geschehen sich vollzog oder nicht, war ebensowenig willkürlich wie die Handlungsweise eines jeden Soldaten, der aufgrund eines Loses oder der Aushebung ins Feld gezogen war.73 71 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, Buch 3, Teil I, Kapitel 1, 7. 72 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 9. 73 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 10.

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In Wahrheit hätten die Ereignisse nicht anders geschehen können: weil dazu, dass der Wille Napoleons und Alexanders ( jener Menschen, von denen das Geschehen scheinbar abhing) erfüllt wurde, das Zusammentreffen von einer Unzahl an Umständen notwendig war, und beim Fehlen auch nur eines einzigen davon das Geschehen sich nicht hätte vollziehen können.74

Der Krieg war demnach nicht das Ergebnis frei gewählter Taten eines Individuums oder auch einer Anzahl einzelner Individuen, vielmehr war es notwendig, daß Millionen Menschen, die wirklich Macht in Händen hatten – Soldaten, die schossen, Proviant und Kanonen transportierten – es musste sein, dass sie einverstanden waren, diesen Willen einzelner schwacher Menschen auszuführen, und dass sie durch eine Unzahl komplizierter, vielfältiger Beweggründe dazu gebracht wurden.75

Derartige „irrationale Phänomene“, d.i. „Phänomene, deren Sinn wir nicht begreifen können“, verlangen nach einer Erklärung. Erklärung aber führt zum Fatalismus, indem wir alles aus vorhergehenden Umständen abzuleiten suchen. Dennoch: „Je mehr wir uns bemühen, diese Phänomene […] rational zu erklären, desto sinnloser und unverständlicher werden sie.“ Auf der Oberfläche nämlich lebt „[e]in jeder Mensch […] für sich, nutzt seine Freiheit, um seine persönlichen Ziele zu erreichen, und empfindet mit seiner ganzen Existenz, dass er jede beliebige Handlung auf der Stelle ausführen oder auch lassen könnte.“ Doch sobald eine gewisse Handlung ausgeführt wird, wird sie „unwiederbringlich zum Bestandteil der Geschichte, wo sie nichts Freies mehr bedeutet, sondern etwas Prädestiniertes“. Wie Kant sieht Tolstoi dabei „zwei Seiten im Leben eines jeden Menschen: das persönliche Leben, das um so freier ist, je abstrakter seine Interessen sind, und das elementare Leben, das Leben der Masse […], wo der einzelne nicht anders kann, als die ihm vorgeschriebenen Gesetze erfüllen“. Mit anderen Worten: „Bewußt lebt der Mensch für sich, doch unbewußt dient er als Werkzeug, um historische, allgemeinmenschliche Ziele zu erreichen.“76 Kant hatte einen ähnlichen Gesichtspunkt in seiner Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht an den Tag gelegt, als er zwischen einem Begriff, den man „in metaphysischer Absicht“ vom menschlichen Wollen machen könne, und dessen „Erscheinungen“ im Bereich unserer Erfahrung differenzierte. Da zeigte sich, dass menschliche Handlungen als empirisch erfahrbare Erscheinungen nicht weniger als andere Naturereignisse „durch universelle Naturgesetze bestimmt“ sind, wenn auch solche Handlungen im Einzelnen betrachtet „regellos“ oder frei zu sein erscheinen.77 Kant hatte die Hoffnung geäußert, dass 74 75 76 77

Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 10. Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 10f. Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 11. Kant, Idee, AA 8, 16ff.

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Geschichte, „welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen beschäftigt, so tief auch deren Ursachen verborgen sein mögen […], wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Großen betrachtet […], einen regelmäßigen Gang derselben entdecken könne“.78 Er erwartete, dass das, was bei den einzelnen „Subjekten“ regellos zu sein scheint, „an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können“. Eine solche langsame Entwicklung der ursprünglichen Veranlagung des Menschen bezieht sich in spezifischer Weise auf die Entwicklung seiner Vernunft, durch die er sich von den Tieren unterscheidet. Die Natur habe die Menschen mit Vernunft und einer darauf sich gründenden Freiheit des Willens ausgestattet, mit der scheinbaren Absicht, er solle sich dadurch leiten lassen. Denn der Mensch sollte seiner Naturanlage gemäß das, was er zum Überleben und zu seinem Glück benötigt, d.i. alles, „was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe[n], und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde[n], als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat“.79 Wenngleich sich jedoch die Menschen nicht bloß instinktmäßig wie die Tiere verhalten, verhalten sie sich auch nicht „wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen“. Demnach wäre es nicht zu erwarten, dass die Menschen gemäß eigener vernünftiger Zielsetzung jemals die Vervollkommnung ihrer Naturanlagen erreichen werden. Wenn die menschliche Veranlagung nicht umsonst sein sollte – was für Kant unannehmbar wäre, da die Natur, seiner Annahme gemäß, „nichts Überflüssiges“ tut – müsse man eine „Naturabsicht in diesem widersinnigen Gang menschlicher Dinge“ voraussetzen, gemäß der im Laufe der Geschichte in der Gattung das erreicht wird, was beim einzelnen Menschen und im Laufe eines einzelnen Menschenlebens selten oder gar niemals vorkommt.80 Kants mäßigen Optimismus hinsichtlich der Naturabsicht und der allmählich fortschreitenden Vervollkommnung der Naturanlagen der menschlichen Gattung im Laufe der Geschichte mag Tolstoi in Krieg und Frieden nicht teilen. Dennoch schildert er in erzählerisch-reflektierender Weise dasselbe Dilemma hinsichtlich des Wechselspiels von Notwendigkeit und Freiheit im Leben ausgewählter Figuren sowie im Panoptikum der dargestellten historischen Ereignisse und versucht der spezifischen Wahrheit über diese Verhältnisse auf den Grund zu gehen. Für Tolstoi ist unsere Überzeugung von der Abhängigkeit von Weltereignissen vom Wollen des Einzelnen nur eine Illusion. Historische Ereignisse und die Handlungen der Menschen, die von ihnen mitgerissen werden, 78 Kant, Idee, AA 8, 17. 79 Kant, Idee, 19. 80 Kant, Idee, 18, 19.

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sind gleichermaßen vorherbestimmt. In diesem Sinne vergleicht Tolstoi im 3. Buch von Krieg und Frieden die „Millionen und Abermillionen“ gleichzeitiger Bedingungen und Ursachen, die beim Zustandekommen des unheilvollen Feldzugs von 1812 zusammenwirkten, mit dem Fall eines reifen Apfels. [W]eshalb fällt er? Etwa, weil er von der Erde angezogen wird oder weil sein Stiel verdorrt, oder weil er in der Sonne trocknet, weil er zu schwer wird, weil der Wind ihn abschüttelt oder weil der Junge, der unten steht, ihn essen will? Nicht etwas allein ist Ursache. All das ist nur das Zusammentreffen jener Bedingungen, unter denen sich jedes organische, elementare Geschehen des Lebens vollzieht. Und der Botaniker, der herausfindet, daß der Apfel fällt, weil sich sein Zellgewebe zersetzt und ähnliches mehr, hat genauso recht und genauso unrecht wie das Kind, das unten steht und behauptet, der Apfel sei gefallen, weil es ihn essen wollte und darum gebeten habe. Genauso recht und unrecht hat auch derjenige, der behauptet, Napoleon sei nach Moskau gezogen, weil er es gerne wollte, und untergegangen, weil Alexander seinen Untergang wollte, genauso recht und unrecht hat derjenige, der behauptet, dass ein untergrabener Berg, der Millionen Pud schwer war, nur einstürzte, weil der letzte Arbeiter ein letztes Mal den Keil unter ihn getrieben hatte.81

Jede menschliche Tat, die den Menschen selber frei zu sein scheint, ist also im historischen Sinne überhaupt nicht frei, sondern „mit dem ganzen Verlauf der Geschichte und von Ewigkeit her vorherbestimmt“.82 Kant meint, wiewohl im Hinblick auf einzelne Handlungen der Menschen „keine planmäßige Geschichte“ der Menschheit auszumachen ist, arbeiten sie, ohne es selbst zu merken, daran, die „Naturabsicht“ beziehungsweise den „Plan“ der Natur zu befördern.83 Tolstoi dagegen lehnt es ab, in den Schlachten, die sich Russen und Franzosen bei Schewardino und Borodino liefern, irgendwas Sinnvolles zu sehen. Wenn die Historiker auch meinten, in den Willensentschlüssen der Feldherren und Anführer der beiden Armeen irgendeine Begründung für die Geschehnisse zu finden, ist das für Tolstoi ein nur nachträglich aufoktroyierter, die Sache nicht treffender Erklärungsversuch: Am 24. war die Schlacht an der Schewardino-Redoute, am 25. wurde kein einziger Schuß abgegeben, weder von der einen noch von der anderen Seite, am 26. fand die Schlacht bei Borodino statt. Weshalb und wie wurden die Schlachten bei Schewardino und bei Borodino geboten und angenommen? Weshalb wurde die Schlacht bei Borodino geliefert? Weder für die Franzosen noch für die Russen hatte sie auch nur den geringsten Sinn. […] Dieses Ergebnis lag damals klar auf der Hand, und doch hat Napoleon diese Schlacht angeboten, und Kutusow hat sie angenommen.

81 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, Buch 3, Teil I, Kapitel I, 13. 82 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 13. 83 Kant, Idee, AA 8, 17.

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[…] Vor der Schlacht bei Borodino war das Verhältnis von unseren Streitkräften zu den französischen etwa fünf zu sechs und nach der Schlacht eins zu zwei […] und doch nahm der kluge und erfahrene Kutusow die Schlacht an. Und Napoleon, der geniale Feldherr, wie sie ihn nennen, lieferte die Schlacht, verlor ein Viertel seiner Armee, und dehnte seine Linie noch weiter aus. Wenn behauptet wird, er habe geglaubt, mit der Besetzung Moskaus die Kampagne zu beenden, wie einst mit der Besetzung Wiens, so gibt es viele Argumente dagegen. Selbst Napoleons Historiker erzählen, dass er schon seit Smolensk habe haltmachen wollen, daß er die Gefahr seiner ausgedehnten Stellung kannte und wusste, daß die Einnahme Moskaus nicht das Ende der Kampagne bedeuten würde, denn seit Smolensk hatte er gesehen, in welchem Zustand ihm die russischen Städte überlassen wurden, und doch nicht eine einzige Antwort auf die wiederholte Ankündigung seines Wunsches bekommen, er wolle verhandeln. Indem sie bei Borodino eine Schlacht anboten und annahmen, handelten Kutusow und Napoleon unwillkürlich und unsinnig. Doch später unterlegten Historiker das faktische Geschehen mit schlau fabrizierten Beweisen für die Voraussicht und Genialität der Feldherren, die doch die sklavischsten und verblendetsten unter den blinden Werkzeugen des Weltgeschehens waren.84

Konfrontiert mit der Niederlage der französischen Armee in der Schlacht von Borodino, naht sich Napoleon für ein kurzes Intervall der Erkenntnis seiner eigenen Selbsttäuschung und seines unglücklichen Wahns angesichts des großen Übels, dessen Ursache zu sein er sonst glauben und sich als Verdienst anrechnen würde. Indem er die Vorgänge auf dem Schlachtfeld in seinem Geist betrachtet, überkommt ihn ein schreckliches Gefühl und eine Vision der eigenen Ohnmacht. Der „schreckliche Anblick des Schlachtfeldes, das mit Leichen und Verwundeten bedeckt war, in Verbindung mit dem schweren Druck im Kopf, den Nachrichten über die zwanzig gefallenen oder verwundeten Generäle, die er kannte, und mit dem Bewusstsein der Kraftlosigkeit seiner früher so starken Hand“, hat auf ihn eine unerwartete Wirkung: Mit schmerzlicher Sehnsucht erwartete er das Ende dieser Angelegenheit, für deren Ursache er sich hielt, die er aber nicht anhalten konnte. Das persönliche menschliche Gefühl erlangte für einen kurzen Moment die Oberhand über jene künstliche Schimäre von Leben, der er so lange gedient hatte. Er übertrug Leiden und Tod, wie er es auf dem Schlachtfeld gesehen hatte, auf sich selbst. Der Druck in Kopf und Brust erinnerte ihn an die Möglichkeit von Leiden und Tod auch für ihn. In diesem Moment wünschte er für sich weder Moskau noch Sieg, noch Ruhm […]. Das einzige, was er jetzt wünschte, war Erholung, Ruhe und Freiheit.85

Als er aber erfährt, dass die Russen, trotz des geballten Angriffs von zweihundert französischen Artilleriestücken, nicht zurückweichen, befiehlt Napoleon, den Angriff zu verstärken. Er kehrt zu seiner ehemaligen Gemütsverfassung zurück. Nun 84 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, Buch 3, Teil II, XIX, 273f. 85 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, Buch 3, Teil I, Kap. XXXVIII, 379f.

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„versetzte er sich in seine frühere künstliche Welt der Schimären von irgendeiner Größe zurück, und wieder (wie das Pferd, das auf der sich drehenden Tretmühle geht und sich einbildet, es mache etwas für sich) fügte er sich in jene grausame, traurige und schwere, unmenschliche Rolle, die ihm vorherbestimmt war“.86 Durch „Vorsehung für die unfreiwillige, traurige Rolle eines Henkers der Völker“ bestimmt, betrachtet Napoleon den Russlandfeldzug als einen seiner größten Erfolge und überzeugt sich, das Motiv seiner Taten sei das Wohlergehen der Völker gewesen, während er in der Tat keine Einsicht in die wahre Verursachung der Dinge besitzt und ihnen machtlos gegenübersteht, da er die Bedeutung seiner Handlungen nicht begreift: [N]icht nur in dieser Stunde und an diesem Tag waren Geist und Gewissen dieses Mannes getrübt, der mehr als alle anderen an dieser Schlacht Beteiligten die ganze Last dessen trug, was da geschah; sondern niemals […] bis ans Ende seines Lebens konnte er das Gute, die Schönheit, die Wahrheit verstehen oder die Bedeutung seiner Taten, die dem Guten und der Wahrheit viel zu sehr entgegengesetzt waren, allem Menschlichen viel zu fern, als daß er ihre Bedeutung hätte verstehen können. Er konnte sich nicht lossagen von seinen Handlungen, die von der halben Welt in den Himmel gehoben wurden, und deshalb musste er sich von der Wahrheit und dem Guten und allem Menschlichen lossagen.87

In Tolstois Darstellung erscheint Napoleons „Zurückweisung alles dessen, was menschlich ist“, als das Gegenteil einer Macht des Geistes, welche vom Verstand stammt – der Macht der Barmherzigkeit, des Mitgefühls, des Edelmuts und der Liebe, welche Gefühle bei Spinoza als Ergebnis der Einsicht in die wahre Verursachung der Dinge beschrieben sind, die auf der höchsten Stufe der Erkenntnis erreicht wird und damit als Ausdruck der höchsten Freiheit erscheint.88 Mit Spinoza müsste man schließen, dass Napoleon gerade deswegen seine Rolle in der unaufhaltsamen Entfaltung der von Tolstoi geschilderten geschichtlichen Ereignisse spielen kann, weil er keine adäquate Erkenntnis der wahren Ursachen seiner Gedanken, Gefühle und Handlungen hat und sich dadurch zum Glauben verleiten lässt, dass er frei handelt, wenn er in der Tat nur der „gemeinsamen Ordnung der Natur“ folgt, d.i. unfrei wirkt. Dementsprechend würde wahre Freiheit für Tolstoi, wie für Spinoza, nicht von der angeblichen Willkür von Handlungen, sondern von Einsicht in deren notwendige Verursachung abhängen – und könnte sich nur als solche realisieren. Die Frage bleibt, ob sich daraus ein annehmbarer Sinn oder Zweck fürs Leben des Einzelnen und fürs Leben der Menschheit insgesamt im Kontext natürlichen und geschichtlichen Geschehens ergibt. 86 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 380f. 87 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 381, 383. 88 Vgl. Marie-Élise Zovko, Involved in Humankind: Nature, Virtue and the Good We Desire for Ourselves and for Others, in: Knowledge Cultures 1/2 (2013), 264–300, 290f.

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4.

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Zwecklosigkeit im Einzelnen, Zweckmäßigkeit im Ganzen?

Die zentrale Frage, die sich Kant angesichts der Idee einer weltbürgerlichen Verfassung stellt, ist dieselbe, die Tolstoi im gesamten Verlauf seines Romans Krieg und Frieden beschäftigt: ob man Zwecklosigkeit in Teilen der Geschichte und Zweckmäßigkeit des Ganzen annehmen sollte. Immerhin geschieht nach Ansicht Kants „Nichts […] durch ein blindes Ungefähr (in mundo non datur casus).“ Dies ist Kant ein „Naturgesetz a priori“.89 Zufall wäre die Auffassung, wonach es möglich sei, dass etwas sich ereignet, das der Naturgesetzlichkeit nicht unterliegt, das ohne Grund und Ursache geschieht. Die Möglichkeit der Erfahrung setzt jedoch den ununterbrochenen Zusammenhang der Erscheinungen voraus, in dem „nichts ohne Grund“ entsteht. Dementsprechend sieht es Kant als ausgeschlossen, dass die Geschichte der Menschheit durch Zufall sich entfaltet, und legt der scheinbaren Zwecklosigkeit oder Zufälligkeit des Geschehens im Einzelnen eine zweckgerichtete Entfaltung der Geschichte im Ganzen zugrunde. Kants Ansicht von Fortschritt und Vervollkommnung der Menschengattung ist nicht so naiv optimistisch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.90 Er sieht zum Beispiel ein, dass es der Antagonismus, die „ungesellige Geselligkeit“ ist, der den Menschen zur höchsten Entfaltung seiner Naturanlagen, und nicht nur ihn, sondern letztendlich auch die Menschengattung im Staat und im Völkerbund vorantreibt. Diesen Antagonismus sieht er aber wiederum als in unserer Natur selbst angelegt und obwohl sein Ausdruck in mancher Hinsicht zweckwidrig erscheinen mag, wirkt sich der Antagonismus langfristig zweckmäßig aus. Dadurch wird er als unentbehrliches, bewegendes Prinzip in die zweckmäßige und letztendlich positive Entwicklung der Menschheit als Ganzes integriert – etwas, was der Ansicht Tolstois über Erscheinungen von Bösem und Zweckwidrigem in Natur und Geschichte diametral entgegengesetzt zu sein scheint.

89 Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA III, 194. Vgl. Eric Watkins, Kant and the Sciences, Oxford 2001, 72. 90 Eine Rechtfertigung für eine gewissermaßen optimistische Auffassung der Geschichte bilden zum Beispiel Kants Ideen der Entwicklung und des Fortschreitens der Menschheit in Richtung auf eine Moralisierung der Gesellschaft. Deren Bestätigung sah Kant in gewissen geschichtlichen Erscheinungen, die von Kleingeld aufgezählt werden, etwa im Zuwachs an bürgerlicher Freiheit, der fortschreitenden Verbesserung der Staatsverfassungen seit den Griechen, der durch Friedrich den Großen bewirkten Befreiung der Menschheit von Unmündigkeit, der Umwandlung der Metaphysik in eine progressive Wissenschaft und in der Formulierung des wahren Prinzips der Sittlichkeit, eingeleitet durch seine kritische Philosophie, ferner in der Aufklärung hinsichtlich der Prinzipien eines wahren philosophischen Glaubens sowie der anhaltenden Annäherung der Kirche an das unsichtbare Reich Gottes und die dadurch bewirkte Einigung der Menschheit, vgl. Kleingeld, Kant, History, and the Idea of Moral Development, 61f. Dennoch leugnet Kant negative Erscheinungen, die zum allgemeinen Fortschritt beitragen, nicht. Siehe dazu das Folgende.

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Unter Antagonismus oder „ungeselliger Geselligkeit“ versteht Kant etwas Spezifisches am menschlichen Verhalten, nämlich den Hang der Menschen „in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist“.91 Der Antagonismus hat daher im Kantischen Sinne eine zivilisierende Wirkung. Alle Kultur und Kunst sowie „die schönste gesellschaftliche Ordnung“ sind Früchte jener Ungeselligkeit. Der natürliche Antagonismus werde durch sich selbst gezwungen sich zu „disciplinieren“, indem die selbstsüchtigen Anmaßungen eines jeden Individuums notwendig Widerstand gegen sich erregen. Ohne eine solche zwischenmenschliche Unverträglichkeit würde der Mensch sich überhaupt nicht entwickeln, sondern er würde in „einem arkadischen Schäferleben“ vor sich hinschlummern, in dem „bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben“. Es ist „die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit“, „die nicht zu befriedigende Begierde“ nach Besitz und Herrschaft, durch die erst „alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit“ ihrem Zweck gemäß entwickelt werden. Nicht Eintracht, sondern Zwietracht erstrebt also die Natur; sie stürzt den Menschen in Arbeit und Mühseligkeit, und zwingt ihn dadurch Mittel zu finden, um sich wieder herauszuziehen.92 In den Zustand einer bürgerlichen Verfassung tritt der Mensch aus Not, „wegen seines selbstsüchtigen Hangs, seine Freiheit zu mißbrauchen“; denn er braucht einen Herrn über sich, „ein Gesetz, welches der Freiheit aller Schranken“ setzt. In der „vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung“ besteht die Freiheit zusammen mit Gesetzen, durch die der individuellen Freiheit Grenzen gesetzt werden, die zugleich die Ausübung der Freiheit überhaupt erst ermöglichen. Eine solche Verfassung zu realisieren ist für Kant jedoch die schwerste Aufgabe, die „von der Menschengattung am spätesten aufgelöst wird“. Wenn sich auch der Mensch seiner Vernunft gemäß solche Gesetze und eine solche Verfassung wünscht, wird er nach Kant doch durch selbstsüchtige tierische Neigung dazu verleitet, sich aus den Verordnungen des Gesetzes auszunehmen. Deswegen bedarf der Mensch noch eines Herrn, der ihn nötigen könne, dem allgemeinen Willen zu gehorchen. Dieser ist die Menschengattung, die Kant aber wiederum als Tier kennzeichnet, das selbst noch einmal einen Herrn braucht. So schreitet dieses Verhältnis weiter fort bis ins Unendliche, ohne je ein letztes Oberhaupt der Gerechtigkeit anzutreffen, das gerecht für sich und doch ein Mensch sein soll. Dennoch ist die Annäherung an jene Idee „uns von der Natur auferlegt“.93 Derselbe natürliche Antagonismus, welcher die Menschen zum Zusammenschluss unter eine bürgerliche Verfassung zwingt, zwingt nach Kant ebenfalls die 91 Kant, Idee, AA 8, 20. 92 Kant, Idee, AA 8, 19. 93 Kant, Idee, AA 8, 23.

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Staaten zum Zusammenschluss in einen Völkerbund. Denn auch hier hat die Natur die gegenseitige Unverträglichkeit der Menschen wie der Staaten als Mittel benützt, um aus dem Antagonismus, selbst durch Kriege, einen Zustand der Ruhe und Sicherheit herauszubilden: [S]ie treibt durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Noth, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muß, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte.94

Für Kant kommt es also nicht in Frage, Zweckmäßigkeit im Einzelnen und Zwecklosigkeit im Ganzen anzunehmen. Vor die Frage gestellt, ob die unserer Gattung natürliche Zwietracht „am Ende für uns eine Hölle von Übeln in einem noch so gesitteten Zustande vorbereite, indem sie […] diesen Zustand selbst und alle bisherigen Fortschritte in der Cultur durch barbarische Verwüstung wieder vernichten werde“, entscheidet sich Kant für eine zweckmäßige Entwicklung im Ganzen. Wie „der zwecklose Zustand der wilden That“, der die Entwicklung unserer Naturanlagen zurückhält, letztendlich durch die Übel, die er verursacht, zur Herstellung der bürgerlichen Verfassung führt, so führt auch „die barbarische Freiheit der schon gestifteten Staaten“ letztendlich zum zweckmäßigen Zustand des Völkerbunds, indem durch die Verwendung aller Kräfte der gemeinen Wesen auf Rüstungen gegen einander, durch die Verwüstungen, die der Krieg anrichtet, noch mehr aber durch die Nothwendigkeit sich beständig in Bereitschaft dazu zu erhalten zwar die völlige Entwicklung der Naturanlagen in ihrem Fortgange gehemmt wird, dagegen aber auch die Übel, die daraus entspringen, unsere Gattung nöthigen, zu dem an sich heilsamen Widerstande vieler Staaten neben einander, der aus ihrer Freiheit entspringt, ein Gesetz des Gleichgewichts auszufinden und eine vereinigte Gewalt, die demselben Nachdruck giebt, mithin einen weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit einzuführen.95

In Krieg und Frieden scheint Tolstoi ein ähnlicher „philosophischer Versuch“, über Zweckmäßigkeit oder Zwecklosigkeit geschichtlicher Ereignisse zu reflektieren, geleitet zu haben, obwohl er diesen, zumindest in den erzählerischen Teilen des Romans, nicht theoretisch, sondern künstlerisch zu entfalten suchte. Med94 Kant, Idee, AA 8, 24. 95 Kant, Idee, AA 8, 25.

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zhibovskaya sieht Tolstoi im Roman schwebend zwischen Freiheit und Notwendigkeit.96 Wie Tolstoi im Zusammenhange seiner geschichtsphilosophischen Überlegungen aus dem Zweiten Epilog formuliert, drückt „[d]er Verstand […] die Gesetze der Notwendigkeit aus“, während „[d]as Bewußtsein […] das Wesen der Freiheit“ ausdrückt.97 In der Gegenüberstellung des unmittelbaren Bewusstseins des eigenen Willens und der Einsicht in die höhere Gesetzlichkeit, die in der Entfaltung natürlicher und geschichtlicher Ereignisse waltet, scheint Tolstoi in Krieg und Frieden letzterer den Vorzug geben zu wollen.98 Wenn man jedoch annehmen würde, das menschliche Leben könne allein durch Verstand, und das bedeutet für Tolstoi: nach einer notwendigen, wenn auch durch eine höhere Teleologie bestimmten Gesetzlichkeit, regiert werden, würde damit die Möglichkeit des Lebens und des Menschseins selbst aufgehoben werden.99 In der Zeit der Abfassung von Krieg und Frieden setzte Tolstoi seine Untersuchung „der ausgedehnten Wirkung von radikalem Bösen auf Massen und Individuen fort, während er gleichzeitig auf alte Fragen wie die des Gesetzes der Notwendigkeit und der Vernunftmäßigkeit des Daseins, das mit dem Tode endet“, zu antworten versucht.100 In Bezug auf letztere Frage meinte Tolstoi um 1857 es gebe „zwei Weisheiten“: „nach der einen, logischen und kleinen, schreitet die Zivilisation fort, und dies ist gut, während es nach der anderen, der ‚Vogelperspektive‘“ aufs Gleiche hinauskommt, wenn es keinen zivilisatorischen Fortschritt gibt, sondern nur ein notwendiges Fortschreiten des Naturgeschehens.101 Seit 1869 beschäftigte sich Tolstoi nach Medzhibovskaya mit Vorstellungen wie der des Menschen als eines Werkzeugs der Geschichte und des Universums, oder der eines Lebens, das im Schwarm tierischen Lebens oder des gesellschaftlichen Bienenstocks untergeht. Ein solcher Mensch vermag sich nur augenblicklich und als Einzelner von der Begrenzung der Zeit und des Raums zu befreien.102 Eine solch augenblickliche Befreiung wird in den Grenzerlebnissen des Fürsten Bol96 97 98 99

Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 83. Tolstoi, Krieg und Frieden, „Epilog II, X“, 1073. Vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 341, 338, 337. Tolstoi, Krieg und Frieden, Epilog I, I, 931. Vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 71f. und die dort zitierten Briefstellen, zum Beispiel den Brief Tolstois an Fet, von der Zeit unmittelbar nach dem Tode seines Bruders, wo er sein Entsetzen über „dieses Absorbieren des Selbsts in das Nichts“ ausspricht: „Du kannst den Stein nicht beeinflussen, daß er nach oben statt nach unten, wohin er gezogen wird, fällt […]. [D]ieser Zustand, in den wir durch jemanden gestellt worden sind, ist die schrecklichste Lüge und Bosheit, für welche wir (die Liberalen) keine Worte finden würden, wenn es ein Mensch wäre, der einen anderen Menschen in diese Situation hineintut.“ Später meinte Tolstoi dagegen, „Die Natur hat ihr Ziel überschritten, wenn sie dem Menschen das Bedürfnis nach Poesie und Liebe gewährt hat, wenn ihr einziges Ziel Teleologie wäre.“ 100 Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 83f. 101 Zitiert nach Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 84. 102 Vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 337.

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konski bei seiner ersten lebensgefährlichen Verletzung in der Schlacht von Austerlitz und bei seinem Abschied von Maria und Natascha vor seinem Tod, sowie in den Erlebnissen Pierres am Vorabend seiner Befreiung aus der Gefangenschaft und nach seiner Genesung aus der langen Krankheit geschildert. Jeff Love erkennt in seiner Untersuchung The Overcoming of History in War and Peace im Roman eine „dynamische Auseinandersetzung zwischen zwei radikal unterschiedlichen Arten der Erkenntnis, einer rationalen und vermittelten und einer anderen, nicht-rationalen und unmittelbaren“, und befindet, Tolstoi stelle sich auf die Seite der Rationalität und Notwendigkeit der Geschichte.103 Wenngleich der Roman sich nicht wie Kant für die Idee einer „allgemeinen Weltgeschichte“ entscheiden kann, die „nach einem Plane der Natur […] auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele“, entfalten sich die geschilderten geschichtlichen Ereignisse nicht zufällig oder regellos, sondern notwendig und werden durch eine höhere göttliche Gesetzlichkeit regiert. Tolstoi scheint dennoch, statt des zu erwartenden Fatalismus angesichts einer solchen durchgreifenden notwendigen Verursachung natürlichen und geschichtlichen Geschehens, das Heldenhafte seiner zentralen Figuren, die durch ihr Handeln und Denken Einsicht in den Sinn der eigenen Lebensgeschichte und das Leben der Menschheit insgesamt erstreben, bewundert zu haben und dem Leser auch empfehlen zu wollen.104 So wird zum Schluss des Romans der idealistische Pierre von dem jugendlichen Nikolai Bolkonski, als lebendige Verkörperung des Ideals von dessen verstorbenem Vater, dem Prinzen Andrej Bolkonski, bewundert.105 Es ist dabei eine mehr gefühlsmäßig, persönlich, aber noch im Einklang mit vernunftmäßigen Idealen erfasste Freiheit, die in Pierres Handlungen zum Ausdruck kommt, und die das Heldenhafte seiner Figur ausmacht. Es handelt sich also nicht um eine Freiheit der Willkür und des Zufalls, sondern um ein intellektuell durchleuchtetes, durch Ideen geleitetes Handeln. Bevor er sich für die Abfassung von Krieg und Frieden entschied, war es die ursprüngliche Absicht Tolstois, einen Roman über den Dekabristenaufstand zu 103 Jeff Love, The Overcoming of History in War and Peace, Amsterdam/New York 2004, 2, 17, 40. Zitiert nach Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 85. 104 Nach Medzhibovskaya sind die besten Studien von Krieg und Frieden die, welche die Gültigkeit üblicher „romanhafter“ Einschätzungen in Frage stellen. Stattdessen sei der Roman als Prozess aufzufassen, durch den Tolstois Geist in den unseren hineintritt, um „das ganze Gebäude unserer eigenen Normen, Annahmen, Vorurteile und Wahrnehmungen“ in den dauerhaft sich entfaltenden „Polyphonien der Gegenwart“ zu restrukturieren, indem er „durch das Bewußtsein des Autors, der Figuren und der Leser dieses Zentrum, wo Endlichkeit und Unendlichkeit zusammenstoßen“, sichtet. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 84. 105 Nikolai Bolkonski ist der Neffe Nikolai Rostovs, von Pierres Freund und Schwager, durch dessen Heirat mit Maria Bolkonski, Schwester des an den Folgen seiner schweren Kriegsverletzung verstorbenen Prinzen Andrej Bolkonski.

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schreiben.106 Um 1863 herum hatte Tolstoi diesen Entwurf durch die Fragmenten für „1805“, sein „Studium der reichen geschichtlichen Periode, die den mystischen Glauben der Dekabristen formte“, ersetzt.107 Zum Schluss des erzählerischen Teils des Epilogs zu Krieg und Frieden unterbreitet Pierre, der eigentliche Held des Romans, seinem eher ein „arkadisches Schäferleben“ lebenden Schwager Nikolai Rostow die Gründung eines geheimen Tugendbunds, die auf das Vorfeld jenes Aufstands hindeuten sollte. In diesem Kontext bietet Tolstois Darstellung von Pierre Besuchow und Nikolai Rostow, sowie vom unterschiedlichen Verhältnis Nikolai Bolkonskis zu den beiden, eine Gelegenheit, konkrete Verkörperungen der entgegengesetzten Mächte, die einander im Leben des Menschen gegenüberstehen, sowie archetypische Bilder der Möglichkeiten eines Umgangs mit diesen, zu veranschaulichen. Pierre ist für Nikolai Bolkonski, den Sohn des gefallenen Fürsten Andrej Bolkonski, „Gegenstand seiner Schwärmerei und leidenschaftlicher Liebe“. Die Tante versucht Nikolen’ka Liebe zu ihrem Mann, Nikolai Rostow, einzuflößen. Wenngleich er seinen Onkel auch liebt, so doch „mit einem leisen Anflug von Geringschätzung“, wogegen er Pierre vergöttert. Interessant ist die Erklärung, warum es sich so verhält: Er wollte nämlich „weder Husar noch St.-GeorgensRitter werden wie Onkel Nikolai, er wollte Gelehrter werden, klug und gütig wie Pierre“. Da scheint eben ein an erster Stelle durch Vernunft regiertes Verhalten beim jungen Nikolai größere Bewunderung zu erwecken als eine vor allem körperlich bedingte Tapferkeit. Die ganze Lebensgeschichte Pierres, angefangen mit den „Mißgeschicken“ vor 1812, über seine „Abenteuer in Moskau, die Gefangenschaft, Platon Karatajew […], seine Liebe zu Natascha“, aber insbesondere seine Freundschaft mit Nikolen’kas Vater, dem Fürsten Andrej Bolkonksy, „all das machte Pierre für ihn zum Helden“ und „Idol“.108 Als nach der Heimkunft Pierres aus Sankt Petersburg die jüngeren Kinder ins Bett geschickt werden, bittet Nikolen’ka aufbleiben zu dürfen, um dem Gespräch zwischen Pierre und seinem Onkel Nikolai beizuwohnen. Der junge Nikolai möchte zugegen sein, während sich die Männer über Pierres Reise nach St. Petersburg unterhalten, sowie über Pierres Idee, einen geheimen Tugendbund zu 106 Vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 9f, 72f. Der Roman blieb unrealisiert, obwohl Teile davon erhalten sind. Dekabristen (russisch dekabr, ‚Dezember‘) waren „adlige Revolutionäre“ (nach Lenin), vor allem Offiziere der russischen Armee, die am 14. Dezember ( jul.) beziehungsweise 26. Dezember (greg.) 1825 auf dem Platz vor Senat und Synode in Sankt Petersburg den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I. verweigerten. Sie protestierten gegen das autokratische Zarenregime, Leibeigenschaft, Polizeiwillkür und Zen sur, und verlangten eine konstitutionelle Monarchie. Die Anführer wurden gehängt, einige de gradiert und rund 600 nach Sibirien verbannt, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Dekabristen, abgerufen am 13. September 2016. 107 Vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 83. 108 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, Epilog, Teil I, XII, 983f.

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begründen, um der Korruption und dem Nichtstun der Regierung und den schlechten Verhältnissen in der Armee entgegenzuwirken. Er freut sich, dass Pierre ihn seinem Vater ähnlich findet. Er fühlt sich – wie sein zum Abschluss des Romans erzählter Traum erweist – durch Pierre am meisten seinem Vater verbunden, und durch dieses sein Ersatzvorbild zum Erstreben höherer Ziele angeregt. Die Gegenüberstellung von Nikolai Rostow und Pierre in Nikolen’kas Empfindung verbildlicht das, was zum Beispiel in Spinozas Ethik als Gegenüberstellung eines Handelns gemäß der „natürlichen Ordnung“ (ordo naturalis) und eines Handelns aus Freiheit beziehungsweise gemäß der „intellektuellen Ordnung“ (ordo intellectualis) der Dinge erscheint.109 Nikolai Rostow wirkt, ohne sich auf irgendwelche höheren Ziele zu besinnen, ohne die wahren Ursachen seiner Handlungen zu erkennen, den Anregungen seiner Natur gemäß, um die eigenen Bedürfnisse und die seiner Familie zu erfüllen, während Pierre, wie einst sein verstorbener Freund Andrej Bolkonski, bestrebt ist, mit adäquater Erkenntnis der Ursachen seiner Handlungen, d.i. von adäquaten Ideen geleitet und daher in echtem Sinne frei zu handeln. Immerhin steht Pierre durch die Bewunderung, Nikolen’kas sowie aufgrund seiner Ideen bezüglich einer durch Tugend geleiteten Zukunft für die Menschheit, als die heldenhaftere der beiden Figuren da. Damit wird auch durch Tolstois erzählerische Kraft der Wirklichkeit einer nach Idealen der Vernunft handelnden Freiheit des Individuums vor der unerbittlichen Notwendigkeit geschichtlicher Ereignisse eine höhere Stellung und Wert erteilt. Trotz seiner scharfen Kritik an der Historiographie im zweiten Teil des Epilogs zu Krieg und Frieden sind Tolstoi die Fragen, auf die die Geschichtsschreibung zu antworten versucht, durchwegs „instinktive, einfache und höchst legitime Fragen“. Denn sie sind Ausdruck des Versuchs und der Neigung des gesunden Verstands, sich selbst – ob als individueller Mensch oder als Nation – erkennen zu wollen. Nicht weniger als die Intelligibilität der Geschichte steht dabei auf dem Spiel. Denn ohne das Bestehen eines Erklärungsgrunds für den Zusammenhang geschichtlicher Ereignisse und das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und Geschichte voraussetzen zu können, drohen Leben und Handeln einzelner Menschen und der Menschheit insgesamt Sinn und Ordnung zu verlieren. Medzhibovskaya verfolgt diesen Prozess einer „Selbstentdeckung der Vernunft“, durch die diese die Möglichkeit der Selbstbestimmung und der wahren Moralität erringt, in Tolstois Leben und Werk. Wenn Tolstoi auch das Ideal gesellschaftlichen und geschichtlichen Fortschritts ablehnt, hält er am Ideal individueller 109 Vgl. M.-É Zovko, Naturalism and Intellectualism in Plato and Spinoza. Das Ziel eines Handelns gemäß der intellektuellen Ordnung ist nach Spinoza eine Harmonisierung der menschlichen Natur mit der ganzen Ordnung der Natur (vgl. Ethica 4, XXXII, App.), wobei der Mensch von Natur immer über die „gemeine Ordnung der Natur“ und zu einem Leben nach der Leitung der Vernunft und zur Vervollkommnung des Intellekts (der eigentlichen menschlichen Natur und des Menschen „höchster Tugend“) hinausstrebt.

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Vervollkommnung als dem eigentlichen Ziel des Fortschritts und der Geschichte fest. Wie Poole hervorhebt, entdeckt Tolstoi in Meine Beichte die Rolle des Glaubens bei der Entdeckung eines unendlichen Sinns im Leben des Menschen. Dabei dient das Leben selbst als Grundlage für den Glauben an die „unendliche Bedeutung des Lebens“. Mit anderen Worten, in Tolstois „kreisartigem“ Ansatz stellt sich heraus, dass „die Suche nach Sinn […] dem bewußten Leben gerade deswegen inhärent ist, weil die Suche sich gemäß einem unendlichen Ideal vollzieht, das das Selbstbewußtsein konstituiert“; und umgekehrt ist die Suche nach Sinn selber „Grund für den Glauben, daß das Leben […] unendliche Bedeutung“ besitzt.110 Diese Einsicht gründet ihrerseits in der menschlichen Assimilierung eines noch zu entdeckenden, innewohnenden göttlichen Logos, wodurch nach der Deutung Medzhibovskayas Tolstoi bis 1878 oder 1879 die innere Spaltung zwischen dem Bewusstsein des individuellen Willens und der Vernunft beziehungsweise der Erkenntnis der notwendigen Gesetze, die im natürlichen und geschichtlichen Geschehen walten, überwinden wird.111 Berlin würde sagen (und so urteilt auch Poole), dass Tolstois Übergang vom künstlerischen und pluralistischen Realismus der Darstellung des RusslandFeldzugs in Krieg und Frieden zum vereinigenden Idealismus der philosophischen Schriften, beziehungsweise von der „spontanen Tätigkeit“ der Hauptfiguren seines großen Romans zum lebensfernen System abstrakter Ideen, zu weit ging, indem Tolstoi die im Roman dargestellten Problemen verdinglicht und zur Grundlage einer „idealen historischen Wissenschaft“ macht.112 Im Roman wirkte dieser Idealismus wirklich authentischer, insofern das vereinigende Prinzip als immanentes Prinzip im Bewußtsein vom Individuum selbst entdeckt wurde, statt als bloßer Begriff dargestellt zu werden.113 Schließlich wird nach Poole der Idealismus Tolstois (in seiner Schrift Über das Leben) in Richtung auf einen „monistischen Spiritualismus oder Panpsychismus“ hin überdehnt. Obwohl Tolstoi dabei seinen neuen Begriff „Leben“ nenne, habe er viel vom in Krieg und Frieden so beeindruckenden, künstlerischen Realismus und Pluralismus verloren. Dennoch habe er mit Kant den Weg einer Bekehrung von einem pessimistischen Realismus zur optimistischen Annahme des Wegs einer Selbstentdeckung und Selbstvervollkommnung der sich selbst bestimmenden, individuellen Vernunft gezeigt. In älteren Jahren führt Tolstoi eine Zeit lang eine „philosophische“ Korrespondenz beziehungsweise einen philosophischen Dialog mit Nikolai N. Strachow.114 Darin setzt er sich mit der Frage auseinander, ob das Leben einen Sinn 110 111 112 113 114

Vgl. Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 106f. Vgl. Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 107. Vgl. Berlin, The Hedgehog and the Fox, 32, 44. Vgl. Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 105. Vgl. Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 105. Vgl. Irina Paperno, Leo Tolstoy’s correspondence with Strakhov: the dialogue on faith, in: Donna Tussing Orwin (Hg.): Anniversary Essays on Tolstoy, Cambridge 2010, 96–119; 98. Vgl.

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habe, und sieht den Zweck seines Schreibens darin „zu erzählen, wie [er] vom Zustand der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung zu einer Erklärung des Sinns des Lebens“ fortgeschritten sei. Er redet von einem „noch ungeschriebenen philosophischen Werk“, dem er eine Einführung mit dem Titel „Warum ich schreibe?“ vorausschicken werde. Den Ausgang seiner Korrespondenz mit Strachow machen die drei Kantischen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?115 In einem zweiten philosophischen Brief vom 14./15. Februar 1876 schreibt Tolstoi von der Seele, die einer Definition trotzt. Er sieht sich darin als Gegner der Materialisten und nicht einig mit Descartes, dessen Satz: ich denke, daher bin ich, er durch den Satz: ich weiß von mir selber am meisten, dass ich lebe, ersetzt. Strachow vergleicht Tolstois philosophische Reflexionen mit Descartes, Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer, findet aber, dass, während Tolstoi versuche, seine Ansichten in Formeln des allgemeinen Wissens zu halten, er sicherlich hundert Mal ärmlichere Resultate dabei erhalten werde als an den Inhalten seiner dichterischen Meditationen. Wie Paperno bemerkt, ist der Versuch der beiden Korrespondenten, ihre Glaubensbekenntnisse durch einen philosophischen Austausch zu erläutern, schließlich in eine Sackgasse geraten: „Philosophieren schien Tolstoi einer Antwort auf die Fragen über die Bedeutung von Leben und Tod nicht näher zu bringen.“116 Am 27. Jänner des Jahres 1878 fasst Tolstoi die drei Kantischen Fragen in die einzige zusammen: „Was bin ich?“ und bestätigt dabei seine Überzeugung, die Vernunft habe nichts dazu zu sagen und könne nichts dazu sagen. In der Religion läge die Antwort. Versuche man aber, solche Antworten zu formulieren, werden sie sinnlos, nicht ihrem Inhalt nach, der allein wahr ist, sondern in ihrer Form. Die Frage sei, wie man zur Wahrheit, die jenseits aller Worte liegt, Zugang erhalten wolle. Menschen würden ihre Antworte „nicht durch das Wort, das Instrument der Vernunft, sondern durch ihr ganzes Leben geben“.117 In diesem Sinne ist es Tolstoi der Romanschriftsteller, der in der Auseinandersetzung um die Darstellung des Verhältnisses von Freiheit und Geschichte den Sieg davonträgt, weil er es leisten kann, systematische Gedanken sowohl zu formulieren, als auch zu relativieren; weil er durch die Konkretisierung, die allein Poole, ‚Russia’s First Modern Man‘, 106. Nikolai Nikolajewitsch Strachow (Russisch: Никола´ й Никола´ евич Стра´ хов, 16. Oktober 1828–24. Januar 1896), langjähriger Freund und Korrespondent Tolstois, war russischer Philosoph, Publizist und Literaturkritiker, der die Ideale des Pochvennichestvo, einer ultra-nationalistischen Bewegung des späten 19. Jahrhunderts und der Slawophilen-Bewegung unterstützte. Zur Freundschaft Tolstois mit Strachow, die in der Zeit des Erscheinens von Krieg und Frieden anfing, vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 140ff. 115 Für eine Diskussion dieses Teils der Korrespondenz zwischen Tolstoi und Strachow vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 162f, mit Stellenangaben. 116 Vgl. Paperno, Correspondence with Strakhov, 101. 117 Vgl. Paperno, Correspondence with Strakhov, 108f.

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die künstlerische Darstellung der Notwendigkeit der Geschichte und der Freiheit des Individuums ermöglicht, diese beiden „am wahrsten“ wiederzugeben vermag. Die Wirklichkeit der Freiheit in ihrem geschichtlichen Kontext, die durch einmalige Individuen und einmalige zeitliche und geschichtliche Ereignisse verkörpert wird, verlangt die empirische Sicht des Romanschriftstellers, um im selbstbewussten, reflektierenden Erlebnis des Lesers wieder entstehen zu können. Denn der Zusammenhang einmaliger Ereignisse, aus denen sich das Erlebnis und die Wirklichkeit der menschlichen Freiheit zusammensetzen, ist an sich unbeschreiblich und auf keine begriffliche Erklärung reduzierbar. Jene Ereignisse und jenen Zusammenhang begrifflich erfassen zu wollen, bedeutete notwendig deren Wirklichkeit zu verstellen. Das Werk des Künstlers kann von daher nicht in einer bloßen Wiederholung oder Imitierung solcher Ereignisse bestehen. Doch er tut das, was der Philosoph nicht tut: Er transformiert das Einmalige der individuellen Freiheit und der Geschichte in das Einmalige des Kunstwerks, das nur in der Weise des einmaligen, wenn auch mitteilbaren Erlebnisses derjenigen, die das Kunstwerk genießen, – und nicht in der Weise eines allgemein-gültigen, diskursiv geführten Beweisgangs – erfahrbar wird. Mit dem intimen Gespräch von Natalie und Pierre gegen Ende des ersten Epilogs, als die beiden Eheleute nach dem abendlichen Zusammensein in der Familie endlich alleine sind, bildet Tolstoi bewusst-unbewusst das Vorgehen und die Fähigkeit des Romanschriftstellers ab, der seinem Publikum tiefste Einblicke in die wichtigsten, den Menschen angehenden Fragen mitteilt, ohne dabei vernünftig zu argumentieren, und ohne dabei zwingende Schlüsse zu ziehen: Auch Natascha redete mit ihrem Mann, als sie allein geblieben waren, wie nur Mann und Frau miteinander reden, nämlich indem sie ihre Gedanken mit außerordentlicher Klarheit und Schnelligkeit erfassten und einander mitteilten, gegen alle Regeln der Logik, ohne zu überlegen, zu folgern und Schlüße zu ziehen, auf ihre vollkommen besondere Art eben […]. Von dem Moment an, wo sie allein geblieben waren […], begann dieses Gespräch, gegen alle Gesetze der Logik, dagegen schon deshalb, weil zu ein und derselben Zeit von vollkommen unterschiedlichen Dingen geredet wurde. Dieses geleichzeitige Besprechen von vielem war nicht nur kein Hindernis, dass sie einander genau verstanden, sondern, im Gegenteil, das sicherste Zeichen, daß sie einander vollkommen verstanden. So wie im Traum alles ungenau, unsinnig und widersprüchlich ist, außer dem Gefühl, das den Traum leitet, so war auch in dieser allen Gesetzen der Vernunft zuwiderlaufenden Kommunikation nicht das, was gesagt wurde, folgerichtig und klar, sondern allein das Gefühl, das sie leitete.118

Man könnte sagen, Tolstoi der Romanschriftsteller und sein Publikum seien wie zwei Eheleute, die zusammen ein intimes Gespräch führen. Von Gefühl und nicht 118 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, Epilog, Teil I, XVI, 1007f.

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Marie-Élise Zovko

von Begriffen und logischer Argumentationsweise geleitet, finden sie instinktiv den Weg zu den wichtigsten Fragen und Einsichten. Vielleicht fanden sich deswegen so viele von Tolstois Zeitgenossen und späteren Lesern unwillig, wenn sich Tolstoi, wie im Zweiten Epilog und in seinen späteren Schriften zu religionsphilosophischen Thematiken, auf eine mehr argumentierende Denkweise einließ. Da erging es ihnen wie Natascha mit Pierre: Natascha war es derart gewohnt, mit ihrem Mann so zu reden, dass es für sie das sicherste Zeichen war, dass etwas nicht stimmte zwischen ihr und ihrem Mann, wenn Pierre seine Gedanken logisch entwickelte. Wenn er zu argumentieren, vernünftig und ruhig zu reden begann, und wenn sie, von seinem Beispiel mitgerissen, dasselbe zu machen begann, dann wusste sie, dass es unweigerlich zum Streit führen musste.

Die Logik des Gefühls ist die Logik des Romanschriftstellers, die sich so fundamental von der Art des Philosophen unterscheidet und wegen deren unterschiedlicher Begabung und Aufgabe unterscheiden muss. Da scheint Tolstoi selber zu verstehen, dass er seine Berufung als Künstler in gewisser Weise verrät, wenn er seine Position begrifflich festlegen und argumentativ zu verteidigen sucht.119 Im Gespräch der Eheleute spiegelt sich jedoch nicht die Tragödie, sondern das höchste Glück des Romanschriftstellers, seine dichterische Freiheit wider. Es ist ein Liebesverhältnis höchsten Rangs, das den Romanschriftsteller mit seinen Lesern verbindet, ein Gespräch, das allen Regeln der Logik zuwiderlaufen darf, schon deshalb weil zu gleicher Zeit von ganz unterschiedlichen Gegenständen die Rede ist. Diese gleichzeitige Zusammenschau von Unterschiedlichem hindert aber keineswegs die Klarheit des Verständnisses, sondern, im Gegenteil, sie ist „das sicherste Zeichen“ dafür, dass der Dichter und sein Publikum einander vollkommen verstehen. Dem ist so, weil die Entdeckungsweise des Romans und des Kunstwerks überhaupt, „wie in einem Traumgesicht“, wo alles „ungenau, unsinnig und widersprüchlich ist, außer dem Gefühl, das den Traum leitet“, eine Art Mitteilung ist, die den Gesetzen der Vernunft widersprechen darf, weil es nicht die Gesetze der Vernunft sind, sondern das Gefühl, das das Gesprochene leitet. Alles andere wäre eine Leugnung der künstlerischen Wirklichkeit, und der künstlerischen Wahrheit.

119 In Übers Leben lehnt Tolstoi jegliche Logik als verrückt ab, die vom Endzweck vernünftigen Überlegens abgeschnitten ist. Die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit, Gesetzmäßigkeit und Endzweck, wird dabei erst in der subjektiven Harmonisierung unserer Vermögen der Erkenntnis, des Gefühls und des Begehrens gemäß dem Prinzip einer von uns unerwarteten, aber ebenso unbeabsichtigten oder unvorhergesehenen Zweckmäßigkeit überwunden, die unter gewissen Bedingungen unserer Erfahrung der Dinge unserer inneren und äußeren Erscheinungswelt anhaftet. Die endgültige Aussöhnung von Freiheit und Notwendigkeit wird Tolstoi entsprechend dem Ergebnis der eigenen Suche nach dem Lebenssinn in einer Verbindung des Kantischen Imperativs mit dem Gesetz der Liebe, sowie dies im Johannesevangelium zum Ausdruck kommt, sehen. Vgl. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, 340.

Philipp Schaller

Autonomie oder Vorbild? Kant und der Erlöser in Dostojewskijs ‚Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke‘ Stuck around St. Petersburg When I saw it was a time for a change Killed Tsar and his ministers Anastasia screamed in vain I rode a tank Held a general’s rank When the blitzkrieg raged And the bodies stank Sympathy for the Devil, The Rolling Stones

1.

Vorbemerkungen über Dostojewskijs Verhältnis zu Kant

Eingedenk dessen, dass es fraglich ist, ob Fjodor M. Dostojewskij (1821–1881) die Werke Immanuel Kants gelesen hat, und eine Lektüre sogar unwahrscheinlich, kann die Beliebtheit des Unterfangens, sich mit dem Verhältnis beider Autoren zu befassen, fast schon erstaunen. Dostojewskijs bedeutender Schriftstellerkollege Lew N. Tolstoi (1828–1910) hat sich für die interdisziplinären Interpreten und Interpretinnen in dieser Beziehung als ein vergleichsweise dankbarer Gegenstand erwiesen: Er hinterließ ihnen nicht nur eine Bibliothek, in welcher sich Kants Werke mit Unterstreichungen im Text und handschriftlichen Kommentaren versehen fanden, sondern auch einige eigene Versuche auf dem Felde der Philosophie. Diese mögen zwar von vergleichsweise bescheidener Qualität sein, bezeugen aber deutlich die intensive Auseinandersetzung mit dem deutschen Denker.1 In Dostojewskijs Fall fand sich demgegenüber nicht mehr als bloß der eindringlich formulierte Wunsch nach einer Lektüre. Der Schriftsteller äußerte ihn zu einer Zeit als er sich, gerade frisch aus dem Straflager entlassen, noch in der sibirischen Verbannung befand, sich aber endlich wieder Bücher konnte

1 Zu Tolstois Kant-Rezeption siehe: Alexei Krouglov, Leo Nikolaevicˇ Tolstoj als Leser Kants. Zur Wirkungsgeschichte Kants in Russland, in: Kant-Studien, Bd. 99/3 (2008), 361–386. und: Derselbe: Das Problem des Friedens bei I. Kant und L. N. Tolstoj, in: Soraya Nour and Olivier Remaud (Hg.): War and Peace: the Role of Science and Art, Berlin 2010, 257–264.

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schicken lassen.2 Es fehlen jedoch deutliche Hinweise darauf, dass er sich diesen Wunsch auch wirklich erfüllte. Philosophische Abhandlungen hat Dostojewskij keine veröffentlicht. Nun ist es zwar gewiss so, dass philosophischen Fragen und der Beschäftigung mit ihnen eine zentrale Bedeutung in seinem Schreiben zukommt – sie stehen im Zentrum nicht nur von Dostojewskijs literarischer Darstellung weltanschaulicher Gegensätze, wie sie sich in den geistigen Auseinandersetzungen seiner eigenen Zeit bemerkbar machen, sondern auch seiner persönlichen publizistischen Stellungnahmen dazu; doch finden sich nur wenige direkte Erwähnungen des Philosophen aus Königsberg, dieser damals noch deutschen, aber nahe an Russland gelegenen Stadt. Was wirklich aufschlussreiche und interessante Bezugnahmen angeht – solche, die das Denken betreffen, für das Kant steht –, gibt es in Dostojewskijs gesamtem Werk nur eine einzige. Der zeitgenössische Experte für die Kant-Rezeption in Russland und der russischen Literatur, Alexei Krouglov, listet in dem Dostojewskij gewidmeten Kapitel seines Buches die wenigen Erwähnungen des Denkers im Werk des Schriftstellers auf.3 Eine davon findet sich in einer Erzählung des Jahres 1858 namens Onkelchens Traum. Darin stellt eine der Figuren, ein Fürst, aber bloß einen humorigen Vergleich zwischen Kants Erscheinungsbild und dem eines Dieners an, welcher so „wichtig“ aussähe, „als wenn er eine Dis-ser-tation schriebe“, „genau so wie der deutsche Philosoph Kant, oder richtiger, wie ein gemästeter Truthahn. Absolut comme-il-faut für einen Bedienten! …“4 Zwei weitere Erwähnungen erfolgen nicht im Rahmen einer Erzählung und als Teil der Äußerungen einer Figur, sondern in eigener Sache. Sie sind im Tagebuch eines Schriftstellers enthalten, dem publizistischen Organ, durch welches Dostojewskij seine persönlichen Ansichten zum Zeitgeschehen unters Volk brachte, und fallen in die Jahrgänge 1880 und 1881 kurz vor seinem Tod. Einmal erscheint Kant hier, gleichsam als Repräsentant der Philosophie, in der ehrenvollen Gesellschaft eines bedeutenden neuzeitlichen Naturwissenschafters und eines Dichters. Dostojewskij beteuert nämlich in einer Polemik gegen einen seiner Kritiker, dass sich, wenn es in einer künftigen, wahrhaft christlichen Gesellschaft „einen Kepler, einen Kant, einen Shakespeare“5 geben sollte, der wertgeschätzte Diener eines solch großen Mannes keineswegs als Sklave sehen würde, sondern als wichtiger Teil des bedeutenden Werks, das sein 2 Vgl. dazu Dostojewskijs Brief an den Bruder Michail aus Omsk vom 22. Februar 1854, in: Fjodor M. Dostojewskij, Briefe, hg. v. Ralf Schröder, übers. v. Waltraud und Wolfram Schröder, Leipzig 1981, 108f. 3 Alexei Krouglov, Кант и кантовская философия в русской художественной литературе [Kant und die Kantische Philosophie in der russischen Literatur, PS], Moskau 2012, 81ff. 4 Fjodor M. Dostojewskij, Onkelchens Traum, übers. v. E. K. Rahsin, München 1996, 39. 5 Fjodor M. Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. E. K. Rahsin, München 1996, 536.

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Arbeitgeber vollbringt. In einem anderen Zusammenhang, in welchem es, wie so oft, um das Ansehen Russlands in Europa geht, behauptet der Schriftsteller, man hätte dort zwar mittlerweile eine beginnende Achtung für „die russische Wissenschaft“, „so jung sie auch sei“, wäre aber keineswegs bereit zu glauben, dass Russland auch „Genies, Führer der Menschheit von der Bedeutung eines Aristoteles, Bacon, Kant hervorzubringen vermag.“6 Die angesprochene einzige Bezugnahme nicht auf Kant als Person, seine äußere Erscheinung oder seine von Dostojewskij offenbar hoch eingeschätzte menschheitsgeschichtliche Bedeutung, sondern auf das Denken, dem sich dieselbe verdankt, gehört in die Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke (auch übersetzt mit: Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke) aus dem Jahre 1863. Einer ausführlicheren Betrachtung dieser aussagekräftigen Erwähnung ist aber noch ein kurzer Blick auf die unterschiedlichen Einschätzungen voranzuschicken, die das sachliche Verhältnis Dostojewskijs zu Kant im Urteil der Forschung erfahren hat. Die Literatur, die sich dem Verhältnis zwischen Dostojewskij und Kant widmet oder dazu sich äußert, hat Krouglov ebenfalls ausgewertet und zwar vor dem Hintergrund der eingangs angesprochenen zweifelhaften Rezeptionslage. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass sich Spekulationen über eine direkte Auseinandersetzung Dostojewskijs mit Kants Philosophie im Rahmen seiner großen Romanerzählungen als grundlos erweisen, obwohl es namhafte Interpreten gewesen waren, darunter auch Dmitrij Mereschkowskij, die sie angestellt hatten. Eine genaue Kenntnis von Kants Lehren, die dergleichen zweifellos voraussetzen würde, lässt sich, wie gesagt, auf Seiten des Schriftstellers nicht belegen. Aus dieser Lage muss man aber weder schließen, dass Dostojewskijs künstlerisches Schaffen in keinerlei bemerkenswerter Beziehung zum Denken Kants und seiner Nachfolger stünde, noch dass es keinen Wert hätte, sachliche Fragen unter der gemeinschaftlichen Inanspruchnahme der Werke des deutschen Philosophen und des russischen Schriftstellers zu behandeln. Was Letzteres angeht, hat Evgenia Cherkasova, eine russische Philosophin, die in den Vereinigten Staaten lebt und wirkt, in einer Reihe von Essays den Gegenbeweis angetreten. Sie bringt Dostojewskij und Kant darin in eine Art philosophisch-literarisches Zwiegespräch, das sich um die Leistungsfähigkeit eines deontologischen Ansatzes dreht, wie Kant ihn mit Argumenten vertritt und wie Dostojewskij ihn mit erzählerischen Mitteln als denjenigen auszeichnet, der allein sich in ethischen Belangen als zielführend erweist. Beide Autoren befürworten, wie Cherkasova hervorhebt, eine Gesinnungsethik, die das menschliche Handeln nicht, wie konsequenzialistische Ansätze es tun, durch die Beziehung des Willens auf absehbare Folgen einer bestimmten Handlungsweise anleitet, 6 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 588.

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sondern durch seine Beziehung auf transzendente moralische Werte: Dies verlangt, in den Individuen das Bewusstsein einer Pflicht zu stiften, die es unbedingt zu erfüllen gilt. An der Herausforderung, einen argumentierenden und einen erzählenden Zugang über dieser Grundfrage der Ethik zusammenzuführen, erblickt Cherkasova die Chance, dem deontologischen Ansatz einen neuen Impuls zu verleihen.7 Eine weitere Autorin, die Kants philosophisches und Dostojewskijs literarisches Schaffen im Rahmen einer übergeordneten Fragestellung betrachtet, ist die in Deutschland lebende russische Philosophin Ekaterina Poljakova, die in ihrem Buch Fragen der Kunst und der Moral mit Kant, Nietzsche, Dostojewskij und Tolstoi erörtert.8 Poljakova streicht in ihren Überlegungen eher die Differenzen heraus, die sich im Schaffen beider Autoren feststellen lassen. So bedarf die Frage nach Dostojewskijs Verhältnis zu Kant, welche die sachliche Zusammenführung ihrer Werke aufwirft, allen bisher erbrachten Leistungen zum Trotz noch einer befriedigenden Beantwortung und Klärung. Ungeachtet der eben bezeichneten Gemeinsamkeit bleibt offen, ob und inwiefern der deutsche Philosoph und der russische Schriftsteller in der Sache tatsächlich einig sind: Genau betrachtet macht sich unter der eben bezeichneten Übereinstimmung, ihrer beider Bevorzugung eines gesinnungsethischen Ansatzes, zugleich ein Gegensatz über der näheren Art und Weise seiner Verfolgung bemerkbar, der das Problem der Begründung moralischer Normen und Werte betrifft und es in all seiner Weitläufigkeit zu entfalten und zu behandeln erlaubt. Bisherige Bemühungen, Dostojewskijs literarisches Schaffen daraufhin zu befragen, wie es sich zu Kants Philosophie verhält, haben das Gewicht stets entweder auf die eben bezeichnete Gemeinsamkeit gelegt oder auf die sich darin bemerkbar machende Differenz. Gezeigt hat sich das etwa als der russische Philosoph Arsenij Gulyga in seiner Kant-Biographie auf die These des ukrainischen Literaturwissenschafters Jakov Golosovker zu sprechen gekommen war: Golosovker wollte in Dostojewskijs letztem großen Roman eine intensive literarische Auseinandersetzung mit Kant entdeckt haben, die einem philosophischliterarischen Duell zwischen zwei der bedeutendsten Vertreter ihrer jeweiligen Disziplin gleichkäme.9 Gulyga indessen wies die behauptete Gegnerschaft Dos-

7 Evgenia Cherkasova, Dostoevsky and Kant. Dialogues on Ethics, Amsterdam/New York 2009. 8 Ekaterina Poljakova, Differente Plausibilitäten. Kant und Nietzsche, Tolstoi und Dostojewski über Vernunft, Moral und Kunst, Berlin 2013. 9 Vgl. Jakov E. Golosovker, Достоевский и Кант: Размышления читателя о романе Ф. М. Достоевского „Братья Карамазовы“ и трактате И. Канта „Критика чистого разума“ [Dostojewskij und Kant: Gedanken eines Lesers über F. M. Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasow“ und I. Kants Abhandlung „Kritik der reinen Vernunft“, PS], Moskau 1963. Gleich in einer Vorbemerkung (3) ist die Rede von einer „Polemik des Schriftstellers Dostojewskji gegen den Philosophen Kant“, einem „unentwegten Duell zwischen den Romanhelden“ und einem solchen „Duell“ auch „zwischen dem im Roman personifizierten Dostojewskij und

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tojewskijs und Kants unter dem Hinweis zurück, dass beide Autoren im Wesentlichen für dasselbe Anliegen einträten: Es ginge ihnen darum, die sittliche Freiheit der Persönlichkeit zu behaupten.10 In der Tat halten Dostojewskij und Kant deren möglichst vollkommene Entfaltung für das vorrangige ethische Ziel, da ihrer Ansicht nach allein auf deren Grundlage beides gelingen könne: sowohl jene Erfüllung seiner moralischen Bestimmung, die vom Individuum zu fordern ist, als auch die politische Regelung des Zusammenlebens vieler solcher Individuen innerhalb menschlicher Gemeinwesen. Das Urteil Gulygas liegt ganz auf der Linie von Cherkasovas Unterfangen und im Grunde trifft es, wie bereits gesagt, der Sache nach wohl auch zu. Dessen ungeachtet lässt sich aber auf das verweisen, was der deutsche Literaturwissenschafter Dirk Kemper mit Blick auf Dostojewskijs Verhältnis zu Kants Philosophie ins Treffen geführt hat: In seinem literarischen Werk finden sich tatsächlich Spuren einer gewissen Zurückweisung der Art und Weise, wie Kant die moralische Gesinnung in menschlichen Wesen zu stiften und zu festigen strebt.11 Kemper bezieht sich dabei zugleich auf einen weiteren Autor, über den Dostojewskij die Philosophie Kants indirekt rezipiert hat: Friedrich Schiller und sein Werk bilden einen ständigen Bezugspunkt in Dostojewskijs literarischem Schaffen.12 Das betrifft auch jene moralästhetischen und dichtungstheoretischen Schriften, in denen sich Schiller wiederum – teils zustimmend, teils unter modifizierenden Vorbehalten – an Kant und sein Denken anschließt. Daher lässt sich sagen, dass Dostojewskijs Auseinandersetzung mit Kants Philosophie im Rahmen seiner intensiven Auseinandersetzung mit Schiller erfolgt, die für sein eigenes Schaffen äußerst bedeutsam ist. Nun ist es gewiss nicht möglich, sich durch Schillers philosophische Schriften, so sehr sie auch an Kants Lehre anknüpfen, gründlich mit dessen Denkweise vertraut zu machen: Weder referiert Schiller jene transzendentale Fragestellung, in deren Verfolgung Kant zu den theoretischen und praktischen Resultaten seines Kants Lehrsätzen über die Antinomien“, das heißt: über den vierfachen inneren Widerstreit der reinen Vernunft mit sich selbst. 10 Arsenij Gulyga, Immanuel Kant. Eine Biographie, übers. v. Sigrun Bielfeldt, Frankfurt am Main 2004, 145, 334ff. 11 Dirk Kemper, Die Karamazovs gegen Schiller und Kant. Zur Dekonstruktion des deutschen Idealismus in Dmitrij Karamazovs ‚Beichte eines heißen Herzens. In Versen‘, in: Dirk Kemper, Aleksej I. Zˇerebin und Iris Bäcker (Hg.): Eigen- und fremdkulturelle Literaturwissenschaft. München 2011, 161–178. 12 Vgl. dazu und für weiterführende Literatur vom Verfasser: Die Freiheit im Spiegel der Natur. Kant, Schiller, Dostojewskij, in: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen KantKongresses, hg. v. Violetta L. Waibel und Margit Ruffing, Bd. 5, Berlin 2018, 3331–3341 und: Die Wiederaneignung der menschlichen Natur. Zum Verhältnis von Philosophie und Dichtung bei Kant, Schiller und Dostojewskij, in: Christian Danz, Lore Hühn, Violetta Waibel u. a. (Hg.), Ausgehend von Kant. Wegmarken der Klassischen Deutschen Philosophie, Würzburg 2016, 287–304.

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kritischen Denkens gelangt, noch lässt sich Kants Vorgehensweise an dessen eigenen Ausführungen studieren. Gleichwohl sind diese kritischen Resultate in Schillers philosophischen Schriften als anerkannte Voraussetzungen präsent: Der Dichter schließt sich Kants Lehre an, wonach die für unser Handeln verbindlichen Normen und Werte ihre Grundlage in der reinen Ausübung unseres intellektuellen Vermögens haben und nicht, wie alle Welt, Schiller eingeschlossen, zuvor gedacht hatte, in dem geoffenbarten Willen eines allmächtigen Gottes. Schillers eigenes philosophisches Anliegen besteht darin, unter dieser neuen Voraussetzung zu zeigen, dass dem Schönheitsempfinden – und mit ihm der Dichtkunst, die selbiges kultiviert – ein bedeutenderer Anteil an der sittlichen Vervollkommnung menschlicher Wesen zukommt als Kants Lehre ursprünglich vorsah. So lässt sich mit Kemper festhalten, dass Dostojewskij im Zuge seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit Schiller auch auf Kants praktische Lehre antwortet, wonach die sittlichen Gebote und Verbote, die für alles menschliche Handeln gelten sollen, nicht auf dem Glauben an die christliche Heilserzählung beruhen, sondern auf unserem logischen Vermögen zu urteilen, ob sich eine Handlungsweise zum allgemeinen Gesetz eignete oder nicht. Anhand von Dostojewskijs letztem Roman legt Kemper schlüssig dar, wie sein Erzählen – bei aller Verehrung für Schiller, von welcher der intensive Bezug auf ihn und sein Werk zweifellos kündet – vor allem Schillers Kantianismus in Frage stellt: Er ortet darin eine literarische Dekonstruktion der Annahme, dass es unser eigenes natürliches Begehren wäre, welches sich selbst sittlich beschränkt, bloß durch die praktische Ausübung unseres intellektuellen Vermögens und ganz ohne dass es dazu des Glaubens an die Wahrheit der christlichen Heilserzählung bedürfte – an einen höheren, jenseitigen Sinn, welchen sie unserem Handeln und Dasein unterstellt und verleiht.13 Freilich ist zu beachten, dass Kant die Religion nicht einfach verabschiedet. Vielmehr kehrt er das Begründungsverhältnis um, wie es zwischen Glaube und Moral vormals bestanden hatte: Dieselbe Vernunft, aus der sich Kant zufolge alle willens- und verhaltensbeschränkenden Normen ergeben und an der sie die wahre Grundlage ihrer Verbindlichkeit haben, erkennt auch die praktische Notwendigkeit, das Dasein eines Gottes zu postulieren. Wer sich seines Urteilsvermögens auf die richtige Weise bedient, beachtet daher nicht nur das allgemeine Sittengesetz der reinen Vernunft. Er oder sie hegt zudem auch noch einen 13 Mit Blick auf die Äußerungen Dmitrij Karamasows, einer der Romanfiguren Dostojewskijs (des ältesten der drei Brüder Karamasow aus dem nach ihnen benannten Roman), bemerkt Kemper: „Was hier durch Dmitrij dekonstruiert wird, ist der philosophisch zwar hehre, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts jedoch psychologisch naiv wirkende Versuch des deutschen Idealismus, eine Ethik ‚innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ zu stiften, eine Ethik ohne bindende Autorität außerhalb dieser Grenzen, ohne das Gebot Gottes und die innere Nachfolge Christi.“ Kemper, Die Karamazovs gegen Schiller und Kant, 176.

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Vernunftglauben: Der oder die Betreffende wird einen moralischen Weltschöpfer annehmen und ein Leben nach dem Tode. So strebt Kant, beides vor dem gründlichen methodischen Zweifel neuzeitlichen Denkens zu retten: vor allem das Moralgesetz, mit ihm aber auch jenen Transzendenzglauben, der die Sinnhaftigkeit seiner Befolgung gewährleistet. Ebendiese Umkehrung aber macht Dostojewskij in seinen Erzählungen nicht mit: An seinen atheistischen Romanfiguren stellt er das Denken der Europäischen Aufklärung, wie es sich von allen dogmatischen Vorgaben befreit, in jenen Folgerungen, zu denen es tatsächlich gelangt, als nihilistisch und immoralistisch dar: Zusammen mit der religiösen Heilserzählung bezweifeln seine ungläubigen Helden auch die sittlichen Normen und Werte, die auf ihr beruhen, also die unbedingte Geltung der Unterscheidung des Guten und Bösen. Im Sinne des berühmten Satzes: ‚Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt‘,14 streben sie nicht mehr danach, die Moral neu zu begründen. Sie schicken sich an, sie durch die Tat zu überwinden, das heißt: durch den vorsätzlichen Bruch mit ihrem Gesetz. Um diesen zwischen Philosophie und Religion aufbrechenden Gegensatz, wie ihn der soeben genannte hypothetische Schluss markiert, entspinnt und gestaltet sich die Handlung von Dostojewskijs großen Romanen: Seine ungläubigen Helden treiben das Prinzip der neuzeitlichen Philosophie kühn auf die Spitze, davon ausgehend, dass der methodische Zweifel an allem seine folgerichtige Durchführung erst dort fände, wo das Individuum das Sittengesetz missachtet und seinen eigenen Willen an die Stelle des göttlichen setzt. Ihre Gegenspieler, Dostojewskijs gläubige Heldinnen und Helden, folgen unterdessen – im festen Vertrauen auf die Verheißung des Ewigen Lebens – dem sittlichen Vorbild Christi und seinem Gebot der tätigen Liebe zum Nächsten. In den Schriften der beiden Autoren spiegelt sich jeweils der Geist eines ganzen Zeitalters wider. In Kants Fall künden sie noch vom Fortschrittsdenken des achtzehnten Jahrhunderts der Aufklärung, welches die Zuversicht hegte, die Überwindung des Offenbarungsglaubens würde ein Vernunftzeitalter einläuten, worin Gerechtigkeit kein jenseitiges Versprechen mehr bleibt, da sie sich schon im sinnlichen Diesseits realisieren wird.15 Dostojewskijs Texte vermitteln indessen die dunkle Vorahnung eines Unheils, wie sie sich im neunzehnten Jahrhundert am Vorabend jener Schrecken einstellt, welche die Menschheit im zwan14 Siehe Fjodor M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, übers. v. Swetlana Geier, 2008, Elftes Buch, IV, VIII und IX, 937, 994, 1035. 15 Von Kants Lehre, dass die Vorstellung einer gerechten Welt keine göttliche Verheißung sei, sondern eine ihr zum praktischen Zweck der Selbstbestimmung dienende Idee der Vernunft, führt eine philosophiegeschichtliche Entwicklung über das Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels bis zu der Lehre von Karl Marx, dass das Ziel der Menschheitsgeschichte in einer Klassenlosen Gesellschaft bestehe und alles darauf ankomme, die vorgefundene Welt nicht nur zu deuten, sondern sie zu verändern.

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zigsten heimsuchten: des Ersten Weltkriegs, der sozialistischen Revolutionen und der totalitären Regime. So lesen viele Dostojewskijs Erzählwerk im Rückblick als hellsichtige Warnung vor den gravierenden Folgen, welche der sich abzeichnende Niedergang eines Glaubens haben würde, auf dem nicht weniger als die bestehende politische Ordnung in Europa beruhte – Folgen, die von den Zeitgenossen des Schriftstellers vielfach unterschätzt worden waren. Wie sich zeigen lässt, ist Dostojewskijs Schaffen auch als Erwiderung auf die Philosophie Kants und seiner Nachfolger zu lesen, genauer gesagt: auf deren Anspruch, die herrschenden guten Sitten von ihrer traditionellen, mythisch-religiösen Grundlage zu trennen und ihnen eine neue, vermeintlich unanzweifelbare Grundlage an der reinen Vernunft zu verleihen. Sein Erzählen bekräftigt nicht nur, durchaus im Einklang mit Kants Denken, die Unverzichtbarkeit moralischer Werte. Es bestätigt auch die von Kant dargelegte Unmöglichkeit einer theoretischen Vergewisserung über das Dasein Gottes und über unsere eigene Unsterblichkeit. Zugleich unterläuft es dabei jedoch auch Kants idealistische Lehre, moralische Normen und die Notwendigkeit ihrer Befolgung ließen sich rein logisch begründen. An ihrer Statt propagiert es einen religiösen Glauben, der alle Vernunft übersteigt. Selbigen kann, zumal nach Kants kritischer Erledigung der klassischen Metaphysik, nur noch das Erzählen vermitteln: Menschen vergewissern sich seiner Wahrheit, also des wirklichen Daseins anderer Welten, nicht diskursiv – durch das Denken oder mittels rationaler Argumentation –, sondern intuitiv, im Gefühl. Es obliegt somit einem realistischen Erzählen, das selbiges anzusprechen und auf diese Weise den altehrwürdigen Glauben unter modernen Bedingungen zu aktualisieren vermag, eine moralische Gesinnung in ihnen zu stiften. In diesem Sinne lässt sich Dostojewskijs Verhältnis zu Kant weder als das einer sachlichen Gegnerschaft bestimmen noch als Partnerschaft oder Gemeinschaft. Es zeugt vielmehr von einer Rivalität: Der Schriftsteller wetteifert in seinem literarischen Schaffen mit der Philosophie Kants und seiner Nachfolger über dem Vorrang bei der ethischen Anleitung menschlichen Handelns durch die Stiftung einer moralischen Gesinnung in den Einzelnen. Darüber, dass es einer solchen bedarf, sind sich beide Autoren einig. Uneinig aber sind sie in Betreff der Frage, worauf sie beruht und wie sich die Notwendigkeit der Beachtung moralischer Normen vermitteln lässt. Kant lässt sie im reinen Denken oder im logischen Urteilen über die gesetzmäßige Form einer beabsichtigten Handlung gründen, Dostojewskij im Glauben an einen höheren Sinn des Daseins, wie ihn allein das religiöse Erzählen vermitteln kann. Um wenigstens andeutungsweise eine Vorstellung davon zu geben, wie sich diese philosophisch-literarische Rivalität im Schaffen des Philosophen und des Schriftstellers zuträgt, wird das Folgende einen Blick auf die bereits erwähnte kurze Erzählung aus Dostojewskijs Feder werfen, in welcher dieser sein ErzählerIch auf Kants Philosophie Bezug nehmen lässt. Krouglov bemerkt in seiner

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Besprechung der betreffenden Stelle, dass sich des Schriftstellers eigene Haltung zu Kant aus ihr nicht ablesen lasse. Das trifft zumindest insoweit zu als es im Falle literarischer Texte ohnedies nicht geboten ist, die Ansichten eines Erzählers als die eigenen des Autors zu behandeln. Indessen deckt sich das Urteil, welches Dostojewskij den seinigen über die sittlichen Zustände in der westlichen Zivilisation fällen lässt, bis in einzelne Formulierungen hinein mit demjenigen, das er in eigener Person vertritt – etwa wenn er, auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Ruhms angelangt, als Wortführer der von ihm bevorzugten politischen Ideologie auftritt. Auf dieser Grundlage lässt sich dann doch wieder recht gut auch über Dostojewskijs eigenes Verhältnis zu Kant urteilen. Die Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, die im Jahre 1863 erscheinen, fallen etwa in die Mitte jener vier Jahrzehnte, über die sich Dostojewskijs schriftstellerische Laufbahn erstreckt. Er verfasst sie wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Sibirien, die ihm Ende des Jahres 1859 gestattet worden war, und vor dem Erscheinen seiner fünf großen Romane zwischen 1866 und 1880. Das Thema, das er in letzteren mit großem künstlerischen Aufwand gestaltet, kündigt sich in dieser kurzen Erzählung schon an: Dostojewskij lässt seinen Erzähler hier die Beobachtung anstellen, dass das Denken der Europäischen Aufklärung, das seinen methodischen Zweifel an allen dogmatischen Vorgaben übt, mittlerweile von sich aus jenen Anspruch verwirft, den Kant mit ihm noch eigens verbunden hatte, als er der Moral in seinen Schriften eine neue Grundlage an der reinen Vernunft verlieh. Es nähert sich jenem hypothetischen Schluss, der Kants kategorischem Imperativ widerspricht: Kündigt man den Glauben an das Offenbarungsgeschehen auf, von dem die religiöse Heilserzählung handelt – an die Verkündigung des göttlichen Willens durch Moses und durch Gottes Sohn Jesus Christus –, folgt daraus, dass dem Menschen alles erlaubt ist. Das natürliche selbstsüchtige Begehren des Individuums wird zum obersten Bestimmungsgrund alles Handelns.

2.

Eine Geschichte zweier Städte, erzählt von einem russischen Besucher

Anders als in den großen Romanen Dostojewskijs, deren Vielstimmigkeit Michail Bachtin als ihr gestalterisches Novum gegenüber dem bisherigen monologischen Roman gekennzeichnet hat,16 äußert sich in den Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke nur der von seiner Europa-Reise berichtende Erzähler, in dessen Gedankenwelt die Leserschaft eintaucht. Seine Denkweise

16 Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, Frankfurt am Main/Berlin/Wien, 1985.

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entspricht merklich dem Standpunkt der Slawophilen, also jener politischen Ausrichtung, die im Zusammenhang der Frage nach Russlands Zukunft dafür eintrat, die Suche nach dem eigenen russischen Weg der Orientierung am Vorbild der westlichen Zivilisation vorzuziehen, nach welcher die europhile Gegenpartei verlangte. Dostojewskij selbst ergriff als Person des öffentlichen Lebens leidenschaftlich Partei für die slawophile Sache. Die in der Erzählung begegnende Anspielung auf Kants Philosophie ist daher nicht nur textimmanent aussagekräftig, also im Rahmen jener Gedanken, die Dostojewskij seinen Erzähler vortragen lässt. Aus ihr lässt sich auch ableiten, wie sich Kants philosophisches Unterfangen vom Standpunkt jener konservativen politischen Ideologie aus darstellt, der Dostojewskij selbst anhing – und die sich im postsozialistischen, nationalistischen Russland spätestens seit dem jüngsten Konflikt mit dem europäischen Westen wieder im Aufwind befindet. Die Winteraufzeichnungen handeln von einer zweimonatigen Europareise. Eine solche hatte ihr Verfasser im Jahre 1862 in ebendieselben Städte und sogar in derselben Reihenfolge unternommen, die auch der Bericht seines Erzählers angibt. Anders als übliche Reisebericht lesen sie sich aber nicht als bloße Beschreibung der Orte, die der Reisende besucht hat. Vielmehr handelt es sich um eine Schilderung des allgemeinen sittlichen und geistigen Zustandes der westeuropäischen Zivilisation. Da es eine beträchtliche Zahl von Städten ist, die Dostojewskijs Erzähler in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum besucht zu haben berichtet, weilte er in den meisten davon auch nicht lange. Während er seine Eindrücke von Berlin, Köln, Heidelberg und Dresden, wo Dostojewskij später selbst eine Zeit lang wohnen sollte, sehr knapp bespricht, werden es, nebst der Bahnreise, hauptsächlich London und Paris, die ihm zum Anlass dienen, ein bedenkliches Zivilisations- und Sittengemälde zu entwerfen. In Dostojewskijs literarischer Schilderung weist die westliche Zivilisation durch die Mängel, die sie erkennen lässt, über sich selbst hinaus. Teils zeigen sich an ihr entfremdete, unheimliche oder einfach unmenschliche Verhältnisse, teils einfach nur oberflächliche und lächerliche. Was der Reisende gesehen hat und wovon er berichtet kommt deshalb kaum dafür in Frage, der Geschichte und der Weisheit letzter Schluss zu sein, wie die europhile Ideologie es glauben machen möchte. Ist das Gesellschaftsmodell, das sich im Westen – im Gefolge der bürgerlichen Revolutionen, unter dem Anspruch der Aufklärung auf intellektuelle Selbstbestimmung und unter der Loslösung von den mythischen Vorgaben der Religion – entwickelt, wirklich wünschenswert oder sollte Russland einen eigenen Weg verfolgen, treu dem Offenbarungsglauben und dem Feudalismus?

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London Im Falle Londons ist der Eindruck, welchen die Stadt auf Dostojewskijs Erzähler gemacht hat, die eines riesenhaften Gebildes, das in der Zweideutigkeit zwischen Manifestation einer Gottheit und Ungetüm schwebt. Der Besucher findet sich konfrontiert mit dem triumphalen Walten einer Ordnung, die sich in einer scheinbaren Unordnung bekundet. Sie herrscht über das Leben der sich in der Stadt tummelnden Menschen auf einer doppelten Grundlage: erstens auf der Grundlage des allgemeinen Prinzips der westlichen Zivilisation, die nämlich den Eigennutzen des Individuums und dessen möglichst uneingeschränkte Verfolgung an die erste oder höchste Stelle setzt; und zweitens auf jener der Notwendigkeit, dabei in einer großen arbeitsteiligen Masse doch irgendwie ein Auskommen miteinander zu finden. Der Erzähler berichtet: Indessen geht auch hier derselbe hartnäckige, dumpfe und schon veraltete Kampf vor sich, der Kampf auf Tod oder Leben, des allgemein westlichen persönlichen Prinzips mit der Notwendigkeit, sich doch irgendwie miteinander einzuleben; irgendwie eine Gemeinschaft zu bilden und sich in einem einzigen Ameisenhaufen einzurichten; ja, meinetwegen sich in einen Ameisenhaufen zu verwandeln, aber sich einzurichten, ohne einander aufzufressen, denn sonst – ist die Verwandlung in Menschenfresser da! […] Diese Tag und Nacht hastende und wie ein Meer unumfaßbare Stadt, dieses Gepfeif und Geheul der Maschinen, diese über den Häusern (und bald auch unter ihnen) hinjagenden Eisenbahnen, diese Dreistigkeit des Unternehmungsgeistes, diese scheinbare Unordnung, die im Grunde die bourgeoise Ordnung in höchster Entwicklung ist, diese vergiftete Themse, diese mit Kohlenstaub durchsetzte Luft, diese großartigen Squares und Parks, diese unheimlichen Stadtwinkel wie Whitechapel mit seiner halbnackten, wilden und hungrigen Bevölkerung, die City mit ihren Millionen und dem Welthandel, der Kristallpalast, die Weltausstellung … Ja, die Ausstellung kann einen stutzig machen. Man spürt die furchtbare Kraft, die hier alle diese unzähligen Menschen aus der ganzen Welt zu einer einzigen Herde zusammengetrieben hat; man erkennt einen Riesengedanken; man fühlt, daß hier bereits etwas erreicht ist: ein Sieg, ein Triumph. Und eine Angst vor irgend etwas beginnt sich in einem zu erheben. Wie frei und unabhängig man auch sein mag, um irgend etwas überkommt einen doch Angst.17

Unverkennbar ist in dieser wortgewaltigen Schilderung das Zusammenbestehen von beidem zu spüren: ein Staunen über die entfesselte Gewalt der Mächte des angebrochenen Technikzeitalters wird überlagert von einer wachsenden Beunruhigung darüber, welch ein Geist hier tatsächlich waltet – ein Verdacht, der einen zögern lässt, das Geschaute, so sehr es sich auch dafür ausgeben mag, als etwas anzuerkennen, das sich auf dem Weg zu einer Art von Vollendung befände. Was diesem gemischten Empfinden Ausdruck zu verleihen erlaubt, ist die Bezugnahme auf biblische Bilder: 17 Fjodor M. Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 779f.

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‚Sollte am Ende dies das erreichte Ideal sein?‘ denkt man bei sich, ‚ist hier nicht das Ende? Ist das nicht doch schon die verwirklichte ‚eine Herde‘ der Weissagung? Wird man dies nicht wirklich als die ganze Wahrheit annehmen und endgültig verstummen müssen?‘ All das ist so herrschend, so siegesbewußt und stolz, daß es Ihnen den Atem zu beengen anfängt. Sie sehen diese Hunderttausende, diese Millionen von Menschen, die gehorsam aus der ganzen Welt hierher zusammenströmen, – Menschen, die alle mit einem einzigen Gedanken gekommen sind, die still, unablässig und stumm sich in diesem riesenhaften Palast umherdrängen, und Sie fühlen, daß sich hier etwas Endgültiges vollzogen, vollzogen und vollendet hat. Das ist wie irgendein biblisches Bild, irgend etwas von Babylon, ist wie eine Prophezeiung aus der Apokalypse, die sich leibhaftig verwirklicht hat. Sie fühlen, daß es viel ewiger geistiger Gegenwehr und Verneinung bedarf, um standzuhalten und dem Eindruck nicht zu erliegen, sich nicht vor der Tatsache zu beugen und Baal nicht für Gott zu halten, das heißt, das Verwirklichte nicht anzuerkennen als unser eigenes Ideal …18

Schon die apokalyptischen Bilder der Johannes-Offenbarung im Neuen Testament erzählten von einer Stadt, die trotz all ihrer Imposanz und Größe untergegangen war, vom Schicksal Babylons. Sie meinen aber wohl, wie heute allgemein angenommen wird, in drohend ankündigender Weise noch eine andere Stadt, die zur Zeit des Frühchristentums und der Abfassung der Apokalypse groß und weltbeherrschend war, für die Christen jedoch – wenigstens zur Zeit ihrer Verfolgung (im Sinne des genitivus objectivus) – ein Feindbild abgab: Wie das schon gestürzte Babylon konnte das mächtige Rom den Anschein erwecken, als sei es in seiner Macht und organisierten Größe bereits die Vollendung dessen, wozu die Menschheit bestimmt ist. Der christliche Verfasser dieser endzeitlichen Visionen beschwor also die Vergänglichkeit weltlicher Reiche und Herrschaften als ein Schicksal, welches einst das stolze Babylon ereilt hatte und auch das stolze Rom nicht verschonen wird. Überdies aber deutet die Apokalypse den Untergang Babylons moralisch, das heißt: als Folge sittlicher Verderbnis.19 Der sie verkündende Visionär erachtet die sittliche Überlegenheit der Christen für den Grund, warum das Reich, auf welches die Gläubigen warten, im Gegensatz zu Babylon und Rom ein unvergängliches sein wird.

18 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 780. 19 Die Wiedergabe (vermeintlicher) Visionen und Auditionen von der kommenden Apokalypse in der Johannesoffenbarung schließt auch die Schilderung (Offenbarung des Johannes, 17, 1– 18) davon ein, wie einer der sieben Engel Gottes demjenigen, der das Gesehene verkündet, „das Strafgericht über die große Hure“ zeigt, von der es dort heißt: „Auf ihrer Stirn stand ein geheimnisvoller Name: Babylon, die Große, die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde. Und ich sah, dass die Frau betrunken war vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu.“ Anlass zur Vermutung eines Rom-Bezuges gibt vor allem eine Stelle (17, 9), in der es heißt: „Hier braucht man Verstand und Kenntnis“ und: „Die sieben Köpfe bedeuten die sieben Berge, auf denen die Frau sitzt.“ Zitiert nach: Die Bibel. In der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Klosterneuburg 1986, 1389f.

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Die Rede von Dostojewskijs Erzähler knüpft an jene der Johannesoffenbarung an: Unter dem mächtigen Eindruck, den sie auf den Betrachter machen, lassen sich kolossale Gebilde und riesige Städte leicht mit der Verwirklichung eines (oder des) göttlichen Willens verwechseln. Diejenigen aber, die Gott und Götzenbild zu unterscheiden wissen, können die Angst nicht verdrängen. Sie ahnen das Unheil und halten sich fern.20 Das kommende Reich Gottes erst wäre die Verwirklichung ihres eigenen Ideals und von einer ehrfurchtgebietenden Macht und Schönheit, ohne dass eine untergründige Angst zugleich davor warnte, sich dem Treiben, das man erblickt, mit Leib und Seele hinzugeben. Seiner Erinnerung an die neutestamentarische Prophezeiung, durch welche sich nun auch London in die Traditionslinie von Babylon und Rom einfügt, stellt der russische Reisende auch noch den Baals-Kult zur Seite, also die Anbetung von Lokalgottheiten, von welcher im Alten Testament berichtet wird, dass sie anstelle der Verehrung des einzig wahren Gottes Jahwe erfolgte. Der Text der Bibel schildert dessen Unwillen sowohl darüber, dass das Volk Israel Baal an seiner Statt verehrte,21 als auch über die Tatsache, dass es ihn selbst gelegentlich mit diesem Namen ansprach.22 Dostojewskij bedient sich bisweilen des Mittels, sein Erzähler-Ich wie im Zwiegespräch mit seiner Leserschaft interagieren zu lassen. Das erlaubt selbigem, in eine gewisse ironische Distanz zu den gewichtigen religiösen Bildern zu treten, die er bemüht hat, was den bedeutungsschwangeren Ton der Erzählung ein wenig auflockert und den Erzählenden reflektiert erscheinen lässt. Auf diese Weise kommt kein Zweifel auf, dass es sich bei ihm nicht etwa um einen religiösen 20 Vor der dem Untergang geweihten großen Stadt Babylon warnt in der Apokalypse eine „Stimme vom Himmel her“ (Offenbarung des Johannes, 18, 4–6): „Verlass die Stadt, mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihren Plagen mitgetroffen wirst. Denn ihre Sünden haben sich bis zum Himmel aufgetürmt und Gott hat ihre Schandtaten nicht vergessen.“ Die Könige werden ausrufen „Wehe! Wehe, du große Stadt Babylon, du mächtige Stadt! In einer einzigen Stunde ist das Gericht über dich gekommen“ und die Kaufleute schließen sich ihren Klagen deshalb an, „weil niemand mehr ihre Waren kauft“ (18, 9–11). 21 Im Vierten der Bücher Mose heißt es (Numeri, 25, 1–9): „Als sich Israel in Schittim aufhielt, begann das Volk mit den Moabiterinnen Unzucht zu treiben. Sie luden das Volk zu den Opferfesten ihrer Götter ein, das Volk aß mit ihnen und fiel vor ihren Göttern nieder. So ließ sich Israel mit Baal-Pegor ein. Da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Israel und der Herr sprach zu Mose: Nimm alle Anführer des Volkes und spieße sie für den Herrn im Angesicht der Sonne auf Pfähle, damit sich der glühende Zorn des Herrn von Israel abwendet. Da sagte Mose zu den Richtern Israels: Jeder soll die von seinen Leuten töten, die sich mit Baal-Pegor eingelassen haben.“ Zitiert nach: Die Bibel, 164. 22 Der Prophet Hosea lässt den einen und einzigen wahren Gott sich in Metaphern von Liebesbeziehung und Vermählung über die Untreue und die künftige Treue aussprechen, mit welcher sich das Volk Israel zu ihm verhält. Dabei heißt es (Hosea, 2, 18–19): „An jenem Tag – Spruch des Herrn – / wirst du zu mir sagen: Mein Mann!, / und nicht mehr: Mein Baal! [/] Ich lasse die Namen der Baale aus ihrem Mund verschwinden, / sodass niemand mehr ihren Namen anruft.“ Zitiert nach: Die Bibel, 1017.

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Fanatiker handelt, sondern um einen modernen Menschen, der die Weisheit der Bibel zum Beobachteten in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen und die Wirklichkeit mit all ihren Mängeln im Lichte dieser Weisheit auszuleuchten vermag: Nun, das ist Unsinn, werden Sie sagen, krankhafter Unsinn, Nerven, Übertreibung. Hierbei wird doch niemand stehen bleiben, und ebenso wird niemand das für sein verwirklichtes Ideal halten. Zudem sind doch Hunger und Sklaverei nicht jedermanns Sache, und die werden schon Verneinung einflüstern und Skepsis zeugen. Satte Dilettanten aber, die zu ihrem Vergnügen umherspazieren, die können natürlich Bilder aus der Apokalypse zu sehen sich einbilden und ihre Nerven kitzeln, indem sie, um sich selbst anzuregen, aus jeder Erscheinung durch Übertreibung starke Empfindungen zu erpressen suchen … Schön, antworte ich, nehmen wir an, daß ich mich von der Dekoration habe hinreißen lassen, mag es so sein. Doch wenn Sie gesehen hätten, wie stolz jener mächtige Geist ist, der diese kolossale Dekoration geschaffen hat, und wie stolz dieser Geist von seinem Sieg und seinem Triumph überzeugt ist, Sie wären erschauert ob seines Stolzes, seines Starrsinnes und seiner Blindheit, und Sie wären erschauert auch für jene, über denen dieser stolze Geist schwebt und die er regiert. Angesichts dieser Kolossalheit, dieses riesenhaften Stolzes des alle beherrschenden Geistes, angesichts dieser feierlichen Vollendung der Schöpfungen dieses Geistes verstummt nicht selten auch die hungrige Seele, ergibt sich, unterwirft sich, sucht Rettung im Gin und in der Ausschweifung und beginnt zu glauben, daß alles gerade so sein müsse.23

Es ist schwer, dem weltlichen (und westlichen) Geist zu widerstehen, das Bestehende und Wirkliche, so schlecht es auch ist, nicht schon für notwendig, unvermeidlich, vernünftig oder gar – mit welchem Wort sich die heutige Politik gern selbst zu kompromittieren pflegt – für „alternativlos“ zu halten. Der Erzähler tritt für ebendies ein: Andere Verhältnisse sind möglich, müssen möglich sein. Es fehlt denn auch nicht an Gründen dafür, die Realität dieses Geistes für alles andere als das schon verwirklichte eigene Ideal zu erachten. Denn sogleich geht der Reisebericht dazu über, die abgründigen Seiten dieser modernen Sklaverei zu schildern, die sich den Hunger, die Not, den Überlebenskampf der Einzelnen zunutze macht. Es heißt, daß sich jeden Samstagabend eine halbe Million Arbeiter und Arbeiterinnen mit ihren Kindern wie ein Meer in die Straßen der Stadt ergießt, sich besonders in gewisse Stadtteile drängend, um dann die ganze Nacht bis fünf Uhr morgens Feiertag zu halten, das heißt, sich viehisch satt zu essen und voll zu trinken nach der ganzen durchhungerten Woche. Diese Millionenmasse trägt ihren gesamten Wochenlohn bei sich, alles, was sie mit schwerer Arbeit fluchend verdient hat.24

Alles „beeilt sich, zu trinken“, Frauen und Männer, während die Kinder zwischen den Erwachsenen umherkriechen, „sich bis zur Bewußtlosigkeit zu betrinken …“ 23 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 780f. 24 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 782f.

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und so ist man denn „betrunken, doch ohne Fröhlichkeit, ist vielmehr finster, schwer, und alles ist irgendwie eigentümlich stumm. Nur hin und wieder“, so schildert Dostojewskijs Erzähler, „wird diese verdächtige und auf Sie schaurig wirkende Schweigsamkeit von Schimpfwörtern und blutigen Prügeleien unterbrochen.“ An dieser Menge sieht man nicht einmal mehr Volk, sondern Verlust des Bewußtseins, systematischen, gehorsamen, geförderten. Und man fühlt, wenn man all diese Parias der Gesellschaft sieht, daß für sie die Prophezeiung noch lange nicht in Erfüllung gehen wird, daß sie noch lange keine Palmzweige und weißen Gewänder erhalten werden und immer noch vergeblich zum Throne des Höchsten emporseufzen müssen: ‚Wie lange noch, Herr?‘ Und sie wissen das selbst, und inzwischen nehmen sie für sich Rache an der Gesellschaft mit irgendwelchen unterirdischen Mormonen, Sekten, Wanderpredigern … Wir wundern uns über die Dummheit, sich solchen Sekten anzuschließen, und erraten nicht, daß es – eine Absonderung von unserer gesellschaftlichen Formel ist, eine hartnäckige, unbewußte Absonderung; eine instinktive Absonderung um jeden Preis, da man seine Seele retten will, eine Absonderung mit Ekel vor uns und Entsetzen. Diese Millionen von Menschen, die vom Fest der Menschheit ausgeschlossen und verjagt worden sind, die nun in unterirdischer Finsternis einander stoßen und drücken, in dieser Finsternis, in die sie von ihren älteren Brüdern geworfen wurden, und in der sie nun tastend nach einem Ausgang suchen und an jede erste beste Tür pochen, um in dem dunklen Kellergewölbe nicht zu verrecken.25

Wieder sind es biblische Bilder, die aufgerufen werden, um die bestehende sinnliche Wirklichkeit im Geiste auf eine höhere hin zu überschreiten. Allein vor jenem jenseitigen sittlichen Ideal, wie es die Heilige Schrift am verwirklichten Reiche Gottes vorstellt, erscheint unsere Wirklichkeit, die sich sonst wie etwas darstellen würde, das so sein muss und gar nicht anders sein kann, als etwas Unvollendetes, wenn nicht gar Verdorbenes und dem Untergange Geweihtes. Die Palmzweige, die in der christlichen Ikonographie als das Erkennungsmerkmal der Märtyrer gelten, und die erwähnten weißen Gewänder werden der Offenbarung des Johannes zufolge diejenigen tragen, die vor den Thron Gottes und vor das Lamm treten, das die Sünde der Welt hinwegnimmt und sie erlöst.26 Die Worte „Wie lange noch Herr?“27 richtet David in einem Psalm des Alten Testaments an seinen Gott.

25 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 782f. 26 „Danach sah ich: eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen in weißen Gewändern vor dem Thron und vor dem Lamm und trugen Palmzweige in den Händen. Sie riefen mit lauter Stimme: Die Rettung kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm.“ (Offenbarung des Johannes, 7, 9–10) 27 „Wie lange noch, Herr, vergisst du mich ganz? / Wie lange noch verbirgst du dein Gesicht vor mir? / Wie lange noch muss ich Schmerzen ertragen in meiner Seele, / in meinem Herzen Kummer Tag für Tag / Wie lange noch darf mein Feind über mich triumphieren?“ (Psalmen, 13, 2–3)

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Die wohlsituierten westlichen Bürgerlichen indessen geben sich mit dem Bestehenden zufrieden. Sie wollen sich in trügerischer Sicherheit einrichten. Den Kampf für die Ideale der Befreiung der Menschheit haben sie längst aufgegeben. Anstatt an das mögliche Wohl aller zu glauben und dafür einzutreten, erliegen sie der kleinlichen Sorge um das eigene. Sie verfallen der Angst, das Erreichte wieder zu verlieren, und wollen den prekären Zustand deshalb auf Dauer erhalten. Denjenigen aber, die zu einem Leben in harter Arbeit, Knechtschaft und Armut gezwungen sind, fehlt es an Grund, das, was ist, für das Vollendete auszugeben. Ihr Leiden lässt die Arbeiter jene Ordnung transzendieren, die das Bürgertum, das vom revolutionären zum gesättigten übergegangen ist, bereits für eine sittliche halten möchte. Darin gleichen sie dem in der Heiligen Schrift bewanderten Betrachter der europäischen Zustände. Aus Sicht der Ausgeschlossenen stellt sich die gesellschaftliche Ordnung als eine selbst- und ungerechte dar, ihre Verfechter als dekadent und verdorben. Wahrhaft gut ist das Leben auf keiner der beiden Seiten: Die Bürgerlichen sind in diesem gesellschaftlichen Zustand auf die bange Hoffnung zusammengestaucht, das Erreichte, ihr vergängliches materielles Wohl, möge doch, so lange dies irgendwie möglich ist, noch so bestehen bleiben. Unterdessen kreisen die seelischen Regungen der Besitzlosen, denen bloß jene dumpfe und finstere Sinnenlust vergönnt ist, ihr Bewusstsein mit dem hart erarbeiteten Geld einmal in der Woche in maßlosem Fraß und Suff zu betäuben, in dem genau entgegengesetzten, aber immerzu unerfüllten Verlangen, alles möge endlich einmal enden und etwas Neues beginnen – und gerade sie sind es, die nach dem christlichen Glauben dem Heile näher stehen, da sie dem Götzen zumindest nicht auch noch huldigen, sondern unfreiwillig in diesen unsittlichen Kreislauf gezwungen sind. Die Warnung wird glaubhafter, demütiger, eindringlicher dadurch, dass der Erzähler sich selbst unter diejenigen zählt, an die sie sich richtet: Uns, den Bessergestellten, stünde es besser an, die desorientierten Volksmassen nicht dafür zu verlachen, dass sie sich falschen Heilsverkündern anschließen, weil dies zumindest noch von einem rudimentären Bewusstsein zeugt, worum man sich zuoberst zu sorgen hätte, während die materialistische Hingabe an die geschäftige Sorge bloß für den eigenen Vorteil und Wohlstand aufseiten der Reichen alles Streben nach dem Heil der Seele erstickt. Der Eindruck des gesellschaftlichen Verderbens verdichtet sich noch unter der Berührung mit jenem Stadtteil, in dem das Gewerbe der Prostitution floriert. Reich und Arm, „kostbare Gewänder“ und „Lumpen“, „Festsäle“ und „Absteigequartiere“, „Greisinnen“ und „junge Schönheiten“ drängen sich, wie Dostojewskijs Erzähler berichtet, hier in einer alle Gegensätze versammelnden Menge zusammen. „Die Straßen sind von Gasflammen erhellt, von einem Licht, von dem

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man bei uns in Rußland noch gar keine Vorstellung hat.“28 Der Besucher der englischen Hauptstadt sieht „in Hay-Market“ nicht nur Prostituierte, sondern auch Mütter, „die ihre eigenen kleinen Töchter zu diesem Gewerbe anleiten. Und diese kleinen, vielleicht zwölfjährigen Mädchen fassen einen an der Hand und bitten einen, doch mit ihnen zu gehen.“29 Ein verwahrlostes, in Lumpen gehülltes und von irgendjemandem blaugeschlagenes Mädchen, dem der Erzähler eine Silbermünze schenkt, flüchtet mit dieser als ob es fürchtete, durch einen Irrtum an sie gekommen zu sein und sie wieder hergeben zu müssen. Zuletzt wendet sich der Erzähler noch der anglikanischen Kirche als einer Institution und Auslegung der christlichen Religion zu, die das Bestehen solch entsetzlicher Zustände im eigenen Lande offenbar nicht bekümmert. Während sich die Katholiken bemühen, durch fürsorgliche Umwerbung der Armen auf der Insel wieder fußzufassen, „[sind] die anglikanischen Pfarrer und Bischöfe […] stolz und reich, leben in reichen Pfarreien und werden dick in vollkommenster Gewissensruhe. […] Das ist die Religion der Reichen, und zwar schon ohne jede Maske“, kommentiert der Besucher. Während die Geistlichen unerschütterlich „an ihr Recht“ glauben, „ruhige und selbstgerechte Moral zu predigen, fett zu werden und nur für die Reichen da zu sein“, haben sie eine Liebhaberei von eigener Art: das ist die Mission. Sie durchziehen als Missionare die ganze Welt, sie dringen ins innerste Afrikas vor, um einen Wilden zu bekehren, und vergessen darüber eine Million Wilder in London, weil diese nichts besitzen, womit sie zahlen könnten. Doch die reichen Engländer und überhaupt alle dortigen goldenen Ochsen sind überaus religiös, sind es auf eine finstere, mißmutige und eigentümliche Art. Die englischen Dichter aber besingen von jeher mit Vorliebe die Schönheit der Pfarrhäuser in der Provinz, die im Schatten hundertjähriger Eichen und Weiden stehen, besingen ihre tugendhaften Frauen und idealschönen blonden, blauäugigen Töchter.30

Man würde sich, so scheint der letzte Satz es zu fordern, von der englischen Dichtung bisweilen mehr Ausschöpfung ihres sozialkritischen Potenzials wünschen. Zuletzt endet die Schilderung Londons wieder bei dem Bilde des Baal, der eine gottähnliche Herrschaft über die Menschen ausübt, die aber weder von Ewigkeit ist noch Glückseligkeit für die Beherrschten mit sich bringt. Gleichwohl herrscht er scheinbar unangefochten in vermeintlicher Vollendung: Doch wenn die Nacht vergeht und der Tag beginnt, erhebt sich jener stolze finstere Geist von neuem herrscherhaft über der Riesenstadt. Der regt sich nicht darüber auf, was in der Nacht war, ihn stört auch das nicht, was er am Tage ringsum sieht. Baal herrscht und verlangt nicht einmal Unterwerfung, denn er ist ihrer auch so schon sicher.31

28 29 30 31

Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 783. Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 785. Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 787f. Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 788.

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Paris Die Schilderung von Paris ist derjenigen Londons insofern komplementär, als dort nach der Einschätzung von Dostojewskijs Erzähler – „wenn auch in einer anderen Richtung“ – doch „dasselbe“ vor sich geht. Dasselbe – das heißt: Auch dort entsteht nur ein großer Ameisenhaufen aus dem Zusammenwirken des westlich-bürgerlichen Prinzips, dass jeder seinen Eigennutzen suchen solle, und der natürlichen Notwendigkeit, sich dabei irgendwie miteinander zu arrangieren; in einer anderen Richtung geschieht dies dort aber, weil der englische Baalskult „allen diesen verdächtigen, unheilkündenden Erscheinungen“ voll „Verachtung erlaubt“, „Seite an Seite neben seinem Leben als Wirklichkeit sichtbar zu bestehen.“ Demgegenüber ist der Pariser – und alle Franzosen sind im Urteil des Erzählers im Grunde Pariser – „ängstlich […] und krampfhaft“ darum bemüht, sich „zu beruhigen, zu ermutigen und sich selbst die Meldung zu erstatten, daß alles ruhig und in Ordnung sei. […] Der Pariser liebt es, wie der Vogel Strauß, seinen Kopf in den Sand zu stecken, um die Jäger, die ihm schon auf den Fersen sind, einfach nicht zu sehen.“32 Neben dem in der betreffenden Frage offen verachtungsvoll, ignorant und zynisch auftretenden Engländer, der jenes Elend, das seine vermeintliche Sittlichkeit als unechte entlarvt, in sorgloser Selbstgerechtigkeit einfach neben sich existieren lässt, erscheint der Franzose als einer, der es aus seinem Gesichtsfeld verbannen muss. Nur so kann er in dem Zustand der Überzeugung verbleiben, dass alles, wie es jetzt ist, so auch schon am besten sei. Er versteckt „die Armen irgendwohin, wo man sie nicht sieht, damit sie nicht unnütz seinen Schlaf beunruhigen.“33 Beide aber verfolgen „dasselbe verzweifelte Bestreben, auf dem status quo stehen zu bleiben – aus Verzweiflung wenigstens stehen zu bleiben.“34 Weil der Franzose den krassen und lauten Widerspruch nicht erträgt, bedarf er weniger der Bestätigung seiner eigenen überlegenen Macht, ungestört davon neben dem existieren zu können, was er verachtet. Er sehnt sich viel eher nach Beruhigung durch das Aussperren dessen, was seiner Ordnung widerstrebt, und durch die unentwegte Versicherung, dass es nicht eindringt. Diese Spießigkeit ist wohl auch ein Grund dafür, warum das Portrait des Franzosen zugleich als „Ein Versuch über den Bourgeois“35 gelten kann. Schon bevor er diesen beginnt, hatte der Europa-Reisende berichtet, dass ganz Frankreich wie ein Spitzel- und Informationsapparat funktioniert. Hat der Zug auf der Einreise die Grenze passiert, setzen sich als Mitreisende getarnte staatliche Spione ins Abteil dazu, um die 32 33 34 35

Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 788. Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 788. Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 779. Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 789.

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verdächtigen Ausländer zu mustern. In den Herbergen sind die Rezeptionisten angehalten, regelrechte Steckbriefe von ihren Gästen zu erstellen: Man hat sich aufwändig darüber zu beruhigen, dass der Unmut, den die bürgerliche Ordnung erzeugt, diese nicht über den Haufen wirft, weil sie keineswegs gerecht, mitnichten das verwirklichte Ideal der Menschheit ist. Wie um die Gründe für die unterschwellige Unruhe auszuloten, denen das Bedürfnis nach Selbstversicherung entspringt, fragt der Erzähler, warum der Bourgeois mittlerweile die Tendenz erkennen lasse, kleinlaut zu sein, sich zusammen zu kauern und sich hinter der Obrigkeit zu verstecken, da er einst doch solch ein unabhängiger, stolzer Verfechter seiner Ideen und der Menschheitsrechte gewesen war: Warum hat er denn in seiner Abgeordnetenkammer die hochtrabenden Phrasen vergessen, die er früher so liebte? Warum will er sich an nichts erinnern, und warum winkt er mit beiden Händen ab, wenn man ihn an irgend etwas, das in alten Zeiten war, erinnert? Warum ist bei ihm im Sinn und Blick und auf der Zunge sogleich Alarm, wenn andere in seiner Gegenwart noch irgendeinen Zukunftswunsch zu äußern wagen? Und wenn er selber einmal aus reiner Einfalt übermütig wird und plötzlich auch in sich noch einen Wunsch verspürt, warum erschrickt er dann gleich und bekreuzigt sich, um den Einfluß des Bösen zu bannen: „Herrgott, was hab ich da … was fällt mir überhaupt ein!“ und warum bemüht er sich danach noch lange, sein törichtes Benehmen durch Fleiß und Artigkeit gewissenhaft wiedergutzumachen? Warum sieht er immer so aus, als sage er fast wortwörtlich: „Heute mache ich wieder ein paar Geschäftchen in meinem Laden und, so Gott will, morgen auch und vielleicht auch noch übermorgen, wenn Gott mir gnädig ist … Nun und dann, dann aber … wenn man nur schneller ein Sümmchen in Sicherheit hätte, und“ … und weiter denkt er nicht; – après moi le déluge.36

Der Bürgerliche ahnt, dass seine Herrschaft auf tönernen Füßen steht. Der russische Besucher des europäischen Westen indessen durchschaut die auf bloßer Verleugnung und krampfhafter Selbstvergewisserung beruhende Sittlichkeit des Parisers. Die Kunst, die dieser konsumiert und die ihm nur zeigt, was er sehen will, zeugt davon ebenso wie das Verhältnis, das er zu seiner Gattin unterhält, die er „Epouse“ nennt und der es fast schon zur selbstverständlichen Gepflogenheit geworden ist, ihrem Ehemann die Hörner aufzusetzen. Dabei fällt die Andeutung, dass es genau der oberflächliche Reiz des von der wohlhabenden Französin gepflegten Lebensstiles sei, die dort am vermeintlichen Nabel der gegenwärtigen Welt lebt, worin sie von jener Russin beneidet wird, die aus dem immer schon dem Westen zugewandten Sankt Petersburg zu ihr herüberschielt: Warum werden auf den Bühnen seiner Theater [denen des Bourgeois, PS] die Ehemänner immer als so edle und mit Geld und Gütern wohlversehene Herren dargestellt, die Liebhaber dagegen immer als irgendsolche armselige, verlumpte Habenichtse ohne 36 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 789f.

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Stellung und ohne Protektion, als irgendsolche Kommis oder Künstler, jedenfalls als im höchsten Grade lumpige Leutchen? Warum gaukelt er sich vor, daß die Epousen alle ohne Ausnahme bis zum Äußersten ihren Gatten treu seien, daß sein Heim in Wohlbehagen still gedeihe, der pot-au-feu in tugendvollster Hitze brodele und die Kopfzier seines eigenen Hauptes in einer so tadellosen Verfassung sei, wie man sie sich besser gar nicht denken könnte? […] Ja, aber: wenn das nicht wäre, dann könnte man ja womöglich denken, das Ideal sei noch nicht erreicht, Paris sei noch nicht das vollendete irdische Paradies, könnte denken, daß man schließlich doch noch etwas wünschen dürfe, daß folglich der Bourgeois auch selber noch nicht ganz zufrieden sei mit dieser Ordnung, für die er einsteht, und die er allen aufbinden will. Man könnte glauben, daß es in dieser Gesellschaft doch irgendwelche Sprünge und Risse gibt, die man ausbessern müßte. Sehen Sie, deshalb schwärzt der Bourgeois die Risse in seinen Stiefeln mit Tinte, damit man nur ja nicht, Gott behüte, etwas bemerke! Die Epousen aber naschen derweil Süßigkeiten, sind behandschuht, daß die russischen Damen im fernen Petersburg sie bis zur Hysterie beneiden, zeigen ihre Füßchen und raffen auf den Boulevards überaus graziös die Röcke. Was will man denn noch zum vollkommenen Glück?37

Die Botschaft ist klar: Es ist nur die Eitelkeit, die dem Westen nachzueifern wünscht. Gute Sitten und ein entsprechendes Leben sind dort nicht zu finden. Besser besinnt man sich auf das Eigene. Die bürgerliche Doppelmoral kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass auf der einen Seite das Geschäftemachen, Übervorteilen und gar Übers-Ohr-Hauen seiner Mitmenschen zu einem regelrechten sittlichen Gebot erhoben wird – Wohlstand und Sachen anzuhäufen ist schließlich das von allen zu verfolgende Prinzip des Strebens, nach dem allein sich die Gesellschaft vermeintlich organisieren lässt. Andererseits gilt nichts für verwerflicher als echter Diebstahl, wo er sich nicht als gutes Geschäftemachen derer ausgeben lässt, die ohnedies schon wohlhabend sind, mag er auch bloß aus Not geschehen. Unter der bürgerlichen Scheintugend, Wohlstand anzuhäufen, halten es, wie der Erzähler schildert, die gut betuchten Frauen in den Einkaufsmeilen von Paris für ihre Pflicht, um zehn Franken mehr oder weniger zu feilschen. Die bürgerlichen Kaufmänner auf der anderen Seite des Ladentisches aber drehen ihnen ohnedies einen Schal im Wert von tausendfünfhundert für zwölftausend Franken an. Zugleich muss – diesen Zusammenhang kehrt der Reisebericht besonders deutlich hervor –, das Theater dem Bourgeois zum Zwecke seiner Verblendung dienen. Überhaupt liebt der Bourgeois bis zur Leidenschaft unaussprechlichen Edelmut. Auf der Bühne zeige ihm unbedingt nur Uneigennützigkeit. Gustave, der Held, muß nur so strahlen vor lauter edlen Eigenschaften, und der Bourgeois weint vor Rührung. Ohne unaussprechlichen Edelmut kann er nun einmal nicht ruhig schlafen. Daß er aber zwölftausend statt tausendfünfhundert Franken genommen hat, das war ja einfach seine Pflicht: er hat sie doch nur aus Tugend genommen. Stehlen ist schändlich, ist gemein, – 37 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 790f.

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dafür kommt man auf die Galeeren; der Bourgeois ist bereit, vieles zu verzeihen, doch nie und nimmer Diebstahl, und sollten Sie auch mitsamt Ihren Kindern Hungers sterben. Doch wenn Sie aus besagtem Pflichtgefühl, also aus Tugendhaftigkeit stehlen, oh, dann wird Ihnen alles und ohne weiteres verziehen. Dann wollen Sie eben faire fortune und sich viele Sachen anschaffen, also die Natur und Menschheitspflicht erfüllen. Deshalb sind denn auch in seinem Kodex ganz genau die Punkte angegeben, die Diebstahl aus niedrigen Gründen, also etwa um ein Stück Brot, von Diebstahl aus hoher Tugendhaftigkeit unterscheiden. Letzterer wird sogar sehr gefördert, ist im höchsten Maße sichergestellt und ungemein zweckmäßig organisiert.38

Für gewöhnlich herrschen Unsitten nicht in der Form, dass die Handelnden die Verwerflichkeit ihres eigenen Handelns offen eingestehen. Sie verlangen, um sich halten zu können, vielmehr nach einer Doppelmoral: Je exzessiver man es selbst betreibt, desto heftiger muss das Stehlen verurteilt und verteufelt werden, und dazu bieten oberflächliche Unterscheidungen den Vorwand. Dass sich das Übervorteilen als gesunder Geschäftssinn tarnen lässt, erlaubt es, das schlechte Gewissen ganz auf jenen offensichtlicheren Diebstahl zu projizieren, zu welchem man diejenigen nötigt, die durch das bürgerliche Gesetz zu bestrafen sind. Reich zu sein und tugendhaft zu sein sind dem Bourgeois gleichbedeutend. Wahre Tugend, die eine entsprechende Lebensweise forderte, ist allerhöchstens noch Sache einer eigens für das Bürgertum abgezweckten Bühnenkunst, die sich nach den Erfahrungen des Erzählers nicht mehr darum bemüht, die Realität in Frage zu stellen, wie sie es tun sollte, da sie selbige zu beschönigen und zu feiern hat. Sie bestätigt dem Bourgeois den Schein eigener Vortrefflichkeit: „Ein armer Sokrates ist nur ein dummer und schädlicher Phraseur und wird höchstens im Theater geachtet, dieweil nämlich der Bourgeois im Theater die Tugend immer noch zu achten liebt.“39

3.

Ein Auftritt für die reine Vernunft und ihre Beweise

Dostojewskijs kleine Erzählung vom Besuch des großen Westen ließ die Philosophie zuletzt in jener Rolle auftreten, welche sie schon in der Antike beansprucht hatte: als Hüterin der wahren Tugend. Sokrates, das gute beziehungsweise schlechte Gewissen von Athen, pflegte schon von seiner Frau Xanthippe seines mangelnden Geschäftssinnes wegen gescholten zu werden. Im modernen kapitalistischen Paris, wo das Geschäftemachen zum Endzweck allen Lebens und Strebens geraten ist, würde die Bühnenkunst den griechischen Weisen höchstens noch missbrauchen, um dem Europäer seine vermeintliche Liebe zur Tugend vorzugaukeln. 38 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 795. 39 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 792.

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Gleich im Anschluss erinnert der Europa bereisende Erzähler aber noch an einen anderen Philosophen, einen der jüngeren Vergangenheit, oder vielmehr an sein Denken. Der Name Immanuel Kants selbst fällt hier nicht. Es kann aber kein anderer gemeint sein, wenn der Reisende, angesichts der aufwändigen Organisation, die er überall beobachtet, die subversive Fragestellung wiederholt, welche die scheinbare und zusammengekauerte Selbstsicherheit des Bourgeois entlarvt, und mögliche Antworten erwägt: Warum also, frage ich – ich komme immer wieder darauf zurück –, warum ist denn dem Bourgeois bei alledem auch heute noch so bänglich zumute, ganz als säße er nicht auf seinem eigenen Stuhl? Weswegen fühlt er sich denn noch beunruhigt? Wegen der Parleure und Phraseure etwa? Aber die kann er doch jetzt mit einem einzigen Fußtritt zum Teufel jagen. Oder ist er es wegen der Beweise der reinen Vernunft? Aber die Vernunft hat sich doch vor der Wirklichkeit als bankrott erwiesen, und überdies fangen ja die Vernünftler, die Gelehrten, jetzt selber an zu erklären, es gäbe überhaupt keine Beweise der reinen Vernunft, die reine Vernunft sei in der Welt überhaupt nicht vorhanden, die abstrakte Logik sei auf die Menschheit nicht anwendbar, es gäbe eine Vernunft von Iwan, von Peter, von Gustave, doch eine reine Vernunft habe es noch nie gegeben; das sei nur eine unbegründete Erdichtung des achtzehnten Jahrhunderts. – Wen also hat er zu fürchten?40

Die Urheberschaft der „Beweise der reinen Vernunft“ wird hier stellvertretend einfach dem vorigen Jahrhundert zugeschrieben, in welchem jener deutsche Philosoph lebte und schuf, der sie geführt hatte. Doch steht außer Zweifel, dass es Kants Denken ist, auf das Dostojewskijs Erzähler hier anspielt. Der Sinn dieser Bezugnahme ist dabei offensichtlich zwiespältig: Einerseits würden sich die von Kant aufgestellten Beweise durch den klaren und strengen Moralbegriff, den sie geben, in der Tat dazu eignen, die herrschende Scheinmoral des westlichen Bürgertums zu entlarven. So sehr der Bourgeois sich auch einreden wollte, dass die Lebensweise und soziale Ordnung, worin er sich eingerichtet hat, schon das verwirklichte Ideal gelebter Tugend sei, würde diese falsche Überzeugung vor Kants Vernunftbeweisen doch niemals bestehen. Andererseits stellen diese sich aus der Sicht der westlichen Bourgeoisie aber als eine schon wieder gebannte Gefahr dar: Der selbstgerechte Bourgeois darf sich in Anbetracht ihrer schon längst wieder sicher fühlen. Grund dafür ist die intellektuelle Entwicklung, die sich seit Kants Zeiten in Europa vollzogen hat. Dostojewskij lässt seinen Erzähler also das Zugeständnis machen, dass Kant einen authentischen Begriff von der Tugend gegeben hatte, der die Scheinmoral des zeitgenössischen Bourgeois als solche entlarvt. Der Grund, aus dem der Reisende Kants praktische Philosophie gleichwohl als echte Bedrohung für selbige ausscheidet, liegt also nicht darin, dass seine Sittenlehre den Anspruch nicht 40 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 795f.

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erfüllte, untrüglich zu bestimmen, worin ein wahrhaft gutes Handeln bestünde, um es all jenen Vorwänden entgegenzuhalten, die dazu dienen, das Falsche zum Richtigen zu erklären. Er findet diesen Grund vielmehr in der Fragwürdigkeit jener Instanz, die Kant zufolge den Ursprung der Verbindlichkeit moralischer Pflichten abgeben soll: Die reine Vernunft gilt den Gelehrten der Gegenwart mittlerweile ebenfalls als bloße Erdichtung. Kant hatte den „Gelehrten“ seiner Zeit (der Schulphilosophie und Metaphysik) demonstriert, dass die traditionellen transzendenten Grundlagen der Moral, das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit, ungewiss bleiben, dass sich aber deren wahre, rationale Grundlage entdecken lasse, wenn man transzendental zu Werke geht: Die reine Vernunft würde sich demnach selbst ein sittliches Gesetz ihres Handelns auferlegen und zwar indem sie urteilt, ob eine begehrte Handlungsweise denn auch als allgemeines Gesetz gewollt werden kann. Selbst ein großer Gelehrter – und absehend, dass der Glaube an transzendente Wahrheiten dem gründlichen Zweifel des modernen Denkens nicht standhalten wird – hatte Kant versucht, den Geltungsgrund des moralischen Wertunterschiedes von Gut und Böse ins reine Denken hinein zu verlegen: Die wirkliche praktische Ausübung ihres Vernunftvermögens, zu welcher menschliche Wesen fähig sind, sei auf eine reine Vernunft zurückzuführen, die zugleich der Grund dafür sei, dass sie sich moralischer Normen und Pflichten bewusst sind. Man darf Dostojewskijs Erzähler wohl so verstehen: Kant mag es durch seine Vernunftkritik gelungen sein zu zeigen, dass die Wahrheit der Heilsgeschichte, mithin das bisherige Fundament der Moral, zweifelhaft und ungewiss bleiben muss, da weder die vermeintlichen Beweise für das Dasein Gottes noch für das einer unsterblichen Seele einem gründlichen Zweifel und einer kritischen Prüfung standhalten. Weniger erfolgreich war er indessen darin, jene reine Vernunft, die sich ihre eigenen Grenzen gezogen hat und ihr Erkennen auf die sinnliche Welt beschränkt, gleichsam an Gottes Stelle zum Ursprung der Geltung sittlicher Werte zu machen. Der Rest der gelehrten Welt hat sich davon nicht überzeugen lassen. Anstatt Kant zu folgen und jede besondere (moralisch verbesserungsbedürftige) Ausübung des Vernunftvermögens im realen und konkreten Individuum auf eine reine Vernunft zurückzuführen, hat man sich vielmehr darauf verständigt, dass es in Wirklichkeit nur die jeweilige besondere Vernunft gibt, die es dem einzelnen Individuum ermöglicht, seine besonderen Zwecke zu erreichen und seine privaten Begierden zu befriedigen. Eine allgemeine Vernunft, die ihm in Form eines kategorischen Imperativs irgendwelche inneren Vorschriften machen würde, ihm also ein unbedingtes moralisches Gesetz auferlegte, existiert in Wirklichkeit nicht. Die einzigen Gesetze, an die sich der Bourgeois zu halten bereit ist, sind äußere, pragmatische: die Gesetze jenes Staates, den er, nachdem er den feudal organisierten als kühner Streiter für die Rechte der Menschheit

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gestürzt hatte, an dessen Stelle setzte, um nun selbst zu herrschen wie einst der entmachtete Adel. Nicht selten verkünden Gelehrte das, was gerne gehört wird. Dostojewskijs Erzähler zufolge kommt es der nicht ganz ungefährdeten Behaglichkeit des westlichen Bourgeois auch sehr entgegen, dass das moderne Denken inzwischen zu einem Positivismus übergegangen ist: Die Gelehrten messen nicht mehr die Wirklichkeit an der reinen Vernunft, wie es die idealistische Philosophie am Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts getan hatte. Sie gehen stets von der vorgefundenen Wirklichkeit aus und erklären dabei den transzendentalen Ansatz für verfehlt, eine reine Vernunft zur Grundlage des Urteils über sie machen zu wollen: Das positivistische Denken ist nicht mehr bereit, vom reinen Denkvollzug eines transzendentalen Subjekts auszugehen, von der Selbsterkenntnis eines allgemeinen intellektuellen Vermögens. Es bezieht sich auf die Vernunft, wie sie sich empirisch zeigt, als etwas Gegebenes, und da ist sie stets nur das Werkzeug des Individuums zur Erlangung seiner Zwecke, das somit, im Sinne der kapitalistisch-egoistischen Erwerbstugend, auch seinen Eigenwillen als obersten Bestimmungsgrund alles Handelns ansehen darf, mithin sein nur noch durch weltliche Gesetze eingeschränktes individuelles Begehren. So viel hat Dostojewskijs Erzähler von Kants Vernunftkritik offenkundig verstanden: Wie die Vernunft selbst so sind auch ihre Beweise insofern rein, als sie sich ohne jede Beziehung auf irgendwelche Inhalte der Erfahrung sollten darstellen lassen. Darin besteht der erhebliche Unterschied zwischen den Denkweisen der beiden Zeitalter: Für Kant kommt die empirische Wirklichkeit, die vorgefundene, uns positiv gegebene, erst auf einer zweiten Ebene in Betracht – der transzendentale Ansatz verlangt, sich auf einer ersten und grundlegenden mit den allgemeinen und notwendigen Bedingungen dafür zu befassen, dass wir überhaupt eine Wirklichkeit erfahren und erkennen. Diese wirklichkeitskonstitutiven Bedingungen bilden das reine Vernunftvermögen. Wirklich ist für Kant primär der Vollzug unserer intellektuellen und sinnlichen Vermögen. Was durch ihn allein überhaupt erst bestehen kann und folglich von ihm abhängt, ist erst auf zweiter Ebene wirklich, als etwas Bedingtes. Auf diese Einsicht stützt sich Kants Anspruch, nicht nur die theoretischen Gesetze des Erkennens, die reinen Verstandes- und Naturgesetze, sondern auch die praktischen Gesetze des Handelns aus dem bloßen Vollzug des Denkvermögens heraus zu bestimmen. Ob nun aber zu recht oder zu unrecht: In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt sich der Zeitgeist davon weitgehend unbeeindruckt. Man meint, der Wahrheit dadurch am nächsten zu kommen, dass man sämtliche Lehren, auch die praktischen, auf das Erfassen und Erforschen jener für Kant zweitrangigen Wirklichkeit gründet, die uns empirisch gegeben und zugänglich ist.

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Der von Kant gewählte transzendentale Ansatz schließt bei der Begründung der Normen, denen Verbindlichkeit für unser Wollen zukommt, alles aus, was sich nicht durch den reinen Vollzug des Denkvermögens erweisen lässt, das heißt: allein durch das logische Urteilen über die gesetzestaugliche oder -untaugliche Form des Willens zu einer bestimmten Handlung. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass Geboten und Verboten eine notwendige und unbedingte Geltung zukommt, ohne dass es dafür der Beweise für das Dasein noch irgendeines höheren Willens und Verstandes bedarf als des menschlichen. Einerseits fielen dadurch alle traditionellen Bezugsgegenstände der Willensbestimmung fort: sämtliche Bilder des mythischen Erzählens, derer sich die Religion bei der Begründung ihrer moralischen Gebote und Verbote bediente und auf die sich auch Dostojewskijs Erzähler-Ich bezieht. An die Stelle einer Vielzahl willkürlich erscheinender, Zwietracht säender religiöser Erzählungen, die sich in der moralischen Anleitung des Handelns der menschlichen Leidenschaften bedienen, tritt ein Prüfverfahren, das durch seine begriffliche Strenge dem universellen Anspruch auch wirklich gerecht zu werden verspricht, den die Moral auch schon in ihrer religiösen Begründung erhebt, ohne ihn aber, wie religiöser Eifer, Terror und Religionskriege zeigen, auch wirklich einzulösen. Andererseits waren dadurch aber auch alle Gründe als unzulänglich bestimmt, welche die bloße Klugheit mit ihren Regeln unter Berufung auf empirisches Wissen geltend machen könnte: Für Kant sind alle Versuche ungenügend, das Handeln dadurch anzuleiten, dass man, wie es in utilitaristischen Ansätzen geschieht, seine absehbaren Folgen einschätzt oder Experimente mit ihm veranstaltet. Was Dostojewskijs Erzähler zur Grundlage seines moralischen Be- und Verurteilens der realen Zustände macht, nämlich die Beziehung auf die Verheißungen und die bildlichen Inhalte der Heiligen Schrift, schließt Kant als möglichen Bestimmungsgrund eines wahrhaft sittlichen Wollens grundsätzlich aus: Nichts anderes als das logische Urteilen über die Form der Handlung darf der Grund für ihre Ausführung oder Unterlassung sein. Kein Wunder also, dass dieser Erzähler Kants Vernunftbeweise nicht für das geeignete Mittel hält, der sittlichen Verderbnis im kapitalistischen Westen beizukommen. Dabei erkennt er sogar an, dass man mit ihnen durchaus richtig unterscheiden würde, welches Handeln moralisch gut oder richtig ist und welches nicht. Bloß hat sich das moderne, an allem zweifelnde Denken faktisch nicht davon überzeugen lassen, dass die Verbindlichkeit dieser sittlichen Normen in Kraft bleibt, wenn man den Gott der Offenbarung als deren bisherige Voraussetzung durch eine abstrakte Vernunft ersetzt … Die Beobachtungen von Dostojewskijs Erzähler treffen mit jenem Gedanken der hypothetischen Erlaubnis zusammen, die Kants kategorischem Imperativ widerspricht, sofern dieser, als ein das Begehren beschränkendes Gebot, weiter

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nichts als die Fähigkeit zu denken voraussetzt: Wenn Gott nicht existiert, ist dem Menschen alles erlaubt. Als französischer Bourgeois bestiehlt er in Verfolgung seines eigenen Vorteils die eigenen Mitmenschen und lässt sie elends zugrundegehen. Indessen bringt er es, halbherziger Feigling, der er ist, in seinem Immoralismus noch nicht bis zur folgerichtigen Überwindung des schlechten Gewissens: Er hat es immer noch nötig, sich im Theater seine eigene Liebe zu jener Tugend vorspielen zu lassen, die er draußen in der wirklichen Welt mit Füßen tritt. Wenn der moderne Mensch des neunzehnten Jahrhunderts Gott nicht fürchtet – so lässt sich Dostojewskijs Erzähler verstehen – fürchtet er eine reine Vernunft erst recht nicht, mögen die Pflichten, Gebote und Verbote, die Kant aus letzterer ableiten wollte, sonst auch mit jenen weitgehend deckungsgleich sein, die der christliche Glaube und die Heilige Schrift aufgestellt hatten. Denn darüber, dass lügen, stehlen und töten strikt verboten sind und die Tugend keine doppelmoralischen Ausnahmen oder Grauzonen kennt, sind sich Dostojewskijs reisender Held und der deutsche Philosoph durchaus einig. Dieser kommt sogar auf dieselbe Handlungssituation zu sprechen, die im Reisebericht als für das Pariser Geschäftsleben typisch beschrieben wird: Kant zieht das geschilderte Geschäftsverhalten in der Absicht heran, den Unterschied zwischen einem Handeln zu erörtern, das bloß klug auf den eigenen Vorteil bedacht ist, und einem wahrhaft sittlichen Handeln, das von echter Tugend zeugt. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 kündigt er zunächst die genauere Entwicklung der Begriffe des guten Willens und der Pflicht an: Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen Werths unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber doch, weit gefehlt daß sie ihn verstecken und unkenntlich machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und desto heller hervorscheinen lassen.41

In der Ausführung dieser Absicht, den Pflichtbegriff zu erläutern, kommt Kant nun auf die Unsitte zu sprechen, sich an seinen Mitmenschen zu bereichern, indem man sie bei Geschäften übervorteilt: Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig erkannt werden, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht nützlich sein mögen; denn bei denen ist gar nicht 41 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 4, Berlin 1911 (in der Folge zitiert als Grundlegung), 397.

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einmal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten. Ich setze auch die Handlungen bei Seite, die wirklich pflichtmäßig sind, zu denen aber Menschen unmittelbar keine Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie durch eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn da läßt sich leicht unterscheiden, ob die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüchtiger Absicht geschehen sei. Weit schwerer ist dieser Unterschied zu bemerken, wo die Handlung pflichtmäßig ist und das Subject noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat. Z. B. es ist allerdings pflichtmäßig, daß der Krämer seinen unerfahrnen Käufer nicht übertheure, und, wo viel Verkehr ist, thut dieses auch der kluge Kaufmann nicht, sondern hält einen festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann, so daß ein Kind eben so gut bei ihm kauft, als jeder andere. Man wird also ehrlich bedient; allein das ist lange nicht genug, um deswegen zu glauben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vortheil erforderte es; daß er aber überdem noch eine unmittelbare Neigung zu den Käufern haben sollte, um gleichsam aus Liebe keinem vor dem andern im Preise den Vorzug zu geben, läßt sich hier nicht annehmen. Also war die Handlung weder aus Pflicht, noch aus unmittelbarer Neigung, sondern bloß in eigennütziger Absicht geschehen.42

Der öffentliche Handel mit Waren ist – wenigstens dort, „wo viel Verkehr ist“ – nach Kants Verständnis grundsätzlich nichts, was Gelegenheit gibt, die Moralität seiner Gesinnung unter Beweis zu stellen. Das ist natürlich keine Verurteilung der Kaufmannsgilde: Dieses Gewerbe verlangt es ganz einfach, dass man „in eigennütziger Absicht“ handelt. Es ist also schon diese selbst, nicht erst die Moral, welche gebietet, dass man nicht verschiedene Preise für unterschiedliche Kunden bereithält und dass man etwa einem Kind, das den Wert der Dinge und des Geldes noch nicht kennt, also noch „unerfahren“ ist, nicht das Vielfache dessen abnimmt, was man von einem Erwachsenen für dieselbe Ware verlangen würde. Ein solches Verhalten würde sich herumsprechen und die begründete Sorge, über den Tisch gezogen zu werden, würde die Kunden bald ganz fernhalten. Für Kant ist dieses Verzichten auf Wucher aber deshalb noch kein Verhalten, das mit einiger Wahrscheinlichkeit auf eine moralische Gesinnung schließen ließe. Der Grund dafür besteht darin, dass uns schon unsere Klugheit, welche die Folgen und Nützlichkeit unseres Handelns abschätzt, von dem fraglichen abrät. Aus Pflicht zu handeln wird überhaupt erst dann nötig, wenn uns die über unseren eigenen Nutzen und Vorteil urteilende Klugheit zu einer Handlung zuraten würde, während die Vernunft, die auch noch darüber zu urteilen vermag, ob sich die betreffende Handlungsweise denn zu einem allgemeinen Gesetz erheben ließe, darin einen Widerspruch erkennt und deshalb zu einem verneinenden Urteil gelangt. Erst in solchen Fällen müsste ein Akt der moralischen Selbstbeschränkung im Begehren erfolgen, im Zuge dessen die Vernunft als das 42 Kant, Grundlegung, AA 4, 397.

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Vermögen, über die Gesetzmäßigkeit des Handelns zu urteilen, selbiges durch das Bewusstsein einer unbedingten Pflicht anders bestimmt als es die Selbstsucht sonst täte. Es ist Kant zufolge freilich nicht das Wesentliche am sittlichen Handeln, dass es wider unsere natürliche Neigung und Klugheit erfolgt. Sonst wären wir verpflichtet, unentwegt jede Neigung zu unterdrücken und möglichst dumm zu handeln, was ein suizidales und genau darin unsittliches Handeln wäre. Es verhält sich lediglich so, dass die Moralität der Gesinnung dort am deutlichsten zur Geltung kommt, wo uns Klugheit und natürliche Neigung zu einem anderen Handeln verleiten würden als zu jenem, das wir als unsere Pflicht anerkennen. Deshalb ist fairer gewerblicher Handel ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen einem pflichtgemäßen Handeln, welches bloß legal ist, und einem Handeln aus Pflicht, das moralisch ist, weil es um der Pflicht willen erfolgt. Der gewerbliche Betrug, das Verlangen von Fabelpreisen für Produkte, deren Wert ihrem Preis nicht entspricht, ist im Umkehrschluss beides: dumm, weil kurzsichtig, und unsittlich. Wer aus kurzsichtiger Gier so dumm wäre, seine Kunden zu übervorteilen, obwohl er oder sie sich langfristig dadurch nur schädigt (den eigenen guten Ruf als Geschäftsfrau oder -mann), sollte immer noch durch das eigene Gewissen an solchem Handeln gehindert werden, da man noch nicht einmal klug sein muss, um zu urteilen, dass es keinesfalls Beispiel eines allgemeinen Gesetzes sein könnte: Zu wollen, dass nicht nur man selbst in dieser Situation betrügt, sondern alle einander, würde sich widersprechen. Was Dostojewskij seinen Erzähler als „faire fortune“ beschreiben lässt, ist also auch nach Kant ein Zeichen sittlicher Verderbnis. Da es obendrein unklug ist, kündete es, wo dergleichen in einer Gesellschaft zu einer verbreiteten Unsitte geworden wäre, von völlig missratenen Zuständen. Damit die Reichen einander – wie im Beispiel von Dostojewskijs Erzählung – übervorteilen können, ohne dass dies ruchbar würde (weil es den Wohlstandsverwahrlosten einerlei ist, ob man sie ein Vielfaches über Wert bezahlen lässt), müssen die Güter derart ungerecht verteilt sein, dass dies wenigstens von großer politischer Kurzsichtigkeit zeugte. Von der Frage nach der moralischen Seite dieses Treibens ganz abgesehen, ist es aus Sicht des Bürgertums aus rein pragmatischer Sicht unratsam, sich gemäß dem Prinzip ‚Nach uns die Sintflut‘, an dessen Befolgung schon der von ihm entthronte Adel zugrunde gegangen war, jenen Staat kaputt zu machen, in welchem es das Sagen hat. Der Doppelmoral, welche die französische Bourgeoisie in Sachen Diebstahl an den Tag legt – gerade weil sich ihr Reichtum zum Teil auf einen solchen gründet –, ließe sich mit Kants nächstem Beispiel zu Leibe rücken. Er erläutert den guten Willen, die Moralität der Gesinnung, nämlich auch noch anhand des Beispiels der Selbsterhaltung: „[S]ein Leben zu erhalten“, urteilt er, „ist Pflicht, und überdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung.“ Unter den gewöhnlichen Umständen ist es deshalb nicht moralisch verdienstlich, den eigenen Tod nicht

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herbeizuführen. So hat „die oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Theil der Menschen dafür trägt, doch keinen innern Werth und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt.“ Wohl aber wäre dem so, wenn „Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben“, sodass die oder der Betreffende „den Tod wünscht und sein Leben dennoch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“43 Gesellschaftliche Zustände, in welchen diese beiden strengen moralischen Pflichten kollidierten, nämlich einerseits das Verbot des Diebstahls, andererseits das Gebot der Erhaltung des eigenen Lebens, würden auf der Grundlage der „Beweise der reinen Vernunft“ des achtzehnten Jahrhunderts also ganz klar nach ihrer eigenen Aufhebung schreien. Eine solche Politik ist zutiefst unmoralisch und soll nicht sein. Der Franzose des neunzehnten Jahrhunderts aber, wie Dostojewskijs Erzähler ihn beschreibt, betreibt sie. Er versucht sich – was ihn vom Engländer äußerlich unterscheidet – dadurch, dass er das Elend einfach aussperrt, sowohl über die Verwerflichkeit als auch über die Gefährlichkeit dieses Handelns zu täuschen. Dringt das Elend in seine scheinbar heile Welt ein, schickt er es auf die Galeeren, derweil er gute Miene zum bösen Spiel macht und im Theater über die Tugend der Helden Tränen der Rührung vergießt. Der Sache nach liegt das Urteil, das Dostojewskij seinen Reiseberichterstatter fällen lässt, also ganz auf Kants Linie: Die bloße Verbindung pragmatischer Klugheitsregeln mit einer staatlichen Gesetzgebung reicht nicht aus, um das menschliche Handeln gelingend anzuleiten. Dazu bedarf es vielmehr einer sittlichen Gesinnung der Individuen, der Beschränkung ihres natürlichen Begehrens durch unbedingte Gebote. Für Dostojewskijs Erzähler aber kann diese Gesinnung nur auf dem offenbarungsreligiösen Glauben beruhen. Dessen Aufkündigung fiele mit der Aufhebung aller moralischen Beschränkungen zusammen und mit der Bejahung des selbststüchtigen Eigenwillens. Es wurde bereits angedeutet: Der Schriftsteller selbst gebraucht die Bilder, mit denen sein Reisender den europäischen Westen in den Winteraufzeichnungen des Jahres 1863 charakterisiert, in seinen publizistischen Texten. Sie kehren im Tagebuch eines Schriftstellers des Jahres 1881 wieder. Dostojewskij vergleicht dort – in einem Streit mit dem Gelehrten Alexander Gradowskij (1841–1889) über den Inhalt seiner Puschkin-Rede – die westlichen Staaten einem bloßen Ameisenhaufen, in dem eine Denkweise bestehe, die auf die soziale Formel „nach mir die Sintflut“ („aprés moi le déluge“) hinauslaufe. Er warnt davor, dass sich die Russen mit der von Gradowskij geforderten „Aufklärung“, wenn sie aus „westeuropäischen Quellen“ bezogen würde, „womöglich auch solche sozialen Formeln einschleppen“ könnten „wie zum Beispiel: ‚Chacun pour soi et Dieu pour 43 Kant, Grundlegung, AA 4, 398.

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tous‘ [ jeder für sich und Gott für alle, PS] oder ‚aprés moi le déluge.‘“44 Er verkündet außerdem: Dieses Europa ist doch schon am Vorabend seines Zusammenbruchs, der ausnahmslos allgemein und furchtbar sein wird. Der Ameisenbau ohne Kirche und ohne Christum (denn die Kirche, die ihr Ideal getrübt hat, hat sich dort allerorten schon längst in den Staat verwandelt) mit seinem bis auf den Grund erschütterten sittlichen Prinzip, dieser Ameisenbau, der alles Gemeinsame und alles Absolute eingebüßt hat – dieser Ameisenbau ist, behaupte ich, bereits so gut wie untergraben.45

Beide Einschätzungen des kapitalistischen Westen, sowohl die in den Winteraufzeichnungen von 1863 als auch die im Tagebuch eines Schriftstellers von 1880/ 81, erinnern frappierend an die von Karl Marx, der im Ersten Band des Kapitals von 1867 urteilt: „Après moi le déluge! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation.“46 Der Ausspruch selbst wird allerdings auf die Maitresse Ludwigs des XV. von Frankreich, die Marquise de Pompadour, zurückgeführt. Sie soll ihn bei einer Feier anlässlich der Nachricht von der Niederlage der französischen Armee in einer Schlacht des Siebenjährigen Krieges gegen die preußischen Truppen Friedrichs des Großen geäußert haben.47 Die westliche Aufklärung ist Dostojewskij wohl aus denselben Gründe verdächtig wie schon seinem Reiseerzähler: Sie hat Kants Bestreben aufgegeben, die Vernunft als ein Vermögen darzustellen, welches die Menschen unter einem allgemeinen Gesetz zu einem sittlichen Reich der Zwecke eint. Sie versteht selbige vielmehr als Werkzeug, welches den isolierten, atomistisch verstandenen Einzelnen zur Maximierung ihres Nutzens dient. Da die Philosophie mit ihrem moralischen Latein am Ende ist und den Anspruch gar nicht mehr stellt, eine höhere Verbindlichkeit zu behaupten als die des positiven Rechts und der erfahrungsbasierten praktischen Klugheit, obliegt es einem religiösen Erzählen, das sich der Bilder des Alten und Neuen Testaments bedient, die Aufgabe der sittlichen Vervollkommnung der Individuen eines Gemeinwesens zu übernehmen. Sie beugt der Gefahr ihres Sich-Verlierens im selbstsüchtigen Eigensinn vor, der kein höheres Ziel mehr kennt als die Verfolgung des privaten Vorteils. Dazu spannt sie den transzendenten Bezugsraum eines sittlichen Willens auf, der sich mit nicht weniger zufrieden gibt als mit universeller Gerechtigkeit. Wie sich sogleich zeigen wird, hält der Schriftsteller selbst (nicht weniger als das Erzähler-Ich seiner Winteraufzeichnungen) daran fest, dass sich sittliche Ideen in der Gesinnung der Menschen nur durch die Beziehung ihres Denkens 44 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 516. 45 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 543. 46 Karl Marx, Das Kapital, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, hg. v. der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bd. 1, Berlin 2017, III, 8, 5, 285. 47 Vgl. Der Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/apres_nous_le_deluge, 15. 8. 2022.

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und Begehrens auf das stiften lassen, was Kant – ganz im Sinne der Aufklärung als Wegbereiterin von Mündigkeit und Selbstbestimmung – vom Prozess der Willensbestimmung auszuschließen bemüht war: Das Bezugsobjekt eines sittlichen Willens ist bei und für Dostojewskij nicht dieser selbst, nicht die bloße Form eines vernünftigen Begehrens, sondern ein alle Vernunft übersteigendes Vorbild und Ideal, Christus, der Held des religiösen Mythos und der christlichen Heilsgeschichte sowie die schon angeklungene Vorstellung und Erwartung einer künftigen Vereinigung mit ihm.48 Kants Philosophie war im Wesentlichen der Versuch zu beweisen, dass ein wahrhaft moralisches Handeln nur einem Willen entspringen kann, der sich auf keine äußere und fremde Autorität bezieht, da er (in theoretischen Belangen) keine höhere mehr zu erkennen wähnt und (in praktischen Belangen) auch keine höhere mehr anerkennt als die der Vernunft, die uns logisch über die Verallgemeinerbarkeit einer Handlungsweise zu urteilen erlaubt. Die Umkehrung des Begründungsverhältnisses zwischen Religion und Moral suspendiert jeden Transzendenzbezug im Prozess der Willensbestimmung, sofern der Glaube an einen Welturheber und ein künftiges Leben nur noch die Denkmöglichkeit des Sinnziels moralischen Handelns gewährleistet.49 Dostojewskijs Erzählen stellt 48 Kant selbst unternimmt in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Berlin 1914, 75f., den Versuch, die Vorbildfunktion, die Christus im Offenbarungsglauben zukommt, mit der reinrational begründeten Moralität der Gesinnung in Deckung zu bringen: „Der Ausgang aus der verderbten Gesinnung in die gute ist (als ‚das Absterben am alten Menschen‘, ‚Kreuzigung des Fleisches‘) an sich schon Aufopferung und Antretung einer langen Reihe von Übeln des Lebens, die der neue Mensch in der Gesinnung des Sohnes Gottes, nämlich bloß um des Guten willen, übernimmt; die aber doch eigentlich einem andern, nämlich dem alten (denn dieser ist moralisch ein anderer), als Strafe gebührten. Ob er also gleich physisch (seinem empirischen Charakter als Sinnenwesen nach betrachtet) eben derselbe strafbare Mensch ist und als ein solcher vor einem moralischen Gerichtshofe, mithin auch von ihm selbst gerichtet werden muß, so ist er doch in seiner neuen Gesinnung (als intelligibles Wesen) vor einem göttlichen Richter, vor welchem diese die That vertritt, moralisch ein anderer, und diese in ihrer Reinigkeit, wie die des Sohnes Gottes, welche er in sich aufgenommen hat, oder (wenn wir diese Idee personificiren) dieser selbst trägt für ihn und so auch für alle, die an ihn (praktisch) glauben, als Stellvertreter die Sündenschuld, thut durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit als Erlöser genug und macht als Sachverwalter, daß sie hoffen können, vor ihrem Richter als gerechtfertigt zu erscheinen, nur daß (in dieser Vorstellungsart) jenes Leiden, was der neue Mensch, indem er dem alten abstirbt, im Leben fortwährend übernehmen muß, an dem Repräsentanten der Menschheit als ein für allemal erlittener Tod vorgestellt wird.“ Christus ist für Kant, wie sich diesen Zeilen entnehmen lässt, als Vorbild zugleich doch nur Sinnbild jener moralischen Autorität, welche der Vernunft selbst zukommt, und nicht, wie für den Offenbarungsglauben und für Dostojewskij, eine höhere jenseitige Autorität, der sich die menschliche Vernunft zu unterwerfen hätte. 49 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Berlin 1913, Zweites Hauptstück, IV., „Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft“ und V., „Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft“, 122–131.

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sich dagegen in die Tradition der Heiligen Schrift und bedient sich, um das menschliche Wollen zur Beachtung moralischer Gebote und Verbote anzuhalten, ihrer verheißungsvollen Bilder von der Unsterblichkeit in einer jenseitigen Gemeinschaft mit Gott. Es dreht sich um den Gedanken, dass die Aufkündigung der gläubigen Beziehung auf eine höhere Autorität in Wahrheit vielmehr das durch nichts – jedenfalls durch keinerlei unbedingte moralische Normen – mehr beschränkte selbstsüchtige Begehren des Individuums zum obersten Prinzip alles Handelns erhebt: seine Lust, seinen Vorteil und seine Fähigkeit, sich selbigen zu verschaffen. Die Winteraufzeichnungen nehmen das Thema der großen Romane vorweg: Jene ungläubigen Helden, die Dostojewskij in den beiden wohl bekanntesten davon, Verbrechen und Strafe von 1866 und Die Brüder Karamasow von 1880, auftreten lässt, treiben das Denken der westlichen Aufklärung bis auf die Spitze. Die verwegenen russischen Zweifler gehen die entscheidenden Schritte weiter als die trägen und selbstgerechten Vertreter einer westlichen bourgeoisen Scheinmoral. Da sie sich über den Wert der Tugend nichts mehr vormachen, brauchen sie auch keine scheinheilige Religion und kein schlechtes Theater mehr, das sie dabei unterstützt. Rodion Raskolnikow gelangt zu dem Schluss, dass über jedem Gesetz steht, wer etwas zu wagen bereit ist und wer, kein Mittel scheuend, anstatt vor der Macht zu zittern, entschlossen nach selbiger greift. Er hat das höhere Recht, selbst über richtig und falsch, Leben und Tod zu bestimmen. Iwan Karamasow behauptet vollends, dass die Aufkündigung des Gottesglaubens folgerichtiger Weise zu der uneingeschränkten Erlaubnis zu allem führt. Der äußerste Egoismus wird ihm zu jener neuen Pflicht, die zu erfüllen man sich selbst schuldig ist, wo es weder Gott noch Teufel gibt, sondern nur dieses eine endliche Leben.

4.

Die richtigen Ideale auf dem falschen Boden

So mangelhaft die soziale Realität, zu welcher die Entwicklung im europäischen Westen geführt hat, in der Darstellung von Dostojewskijs Winteraufzeichnungen auch erscheint: Es lässt sich doch daran erinnern, dass der Anspruch, den das westliche Bürgertum im neunzehnten Jahrhundert so gründlich verfehlt, ursprünglich ein anderer und edler gewesen war. Nicht nur das Denken des achtzehnten Jahrhunderts, Kants Vernunftbeweise, zielten auf die Verwirklichung von Tugend und Gerechtigkeit ab. Auch die Französische Revolution, von welcher Kant nur einmal in einer vorsichtig zustimmenden Weise bemerkte: „ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr“,50 hatte 50 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Berlin 1917, 88.

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ein anderes Ziel als die in der bestehenden Gesellschaft erreichten Zustände. Es stellt sich also die Frage, warum dieses Ziel verfehlt wurde, warum das von der deutschen Philosophie und vom französischen revolutionären Bürgertum aufgestellte Ideal nicht weiter verfolgt wird. Nachdem er beteuert hat, dass der Bourgeois die Kantischen Vernunftbeweise nicht mehr fürchten muss, wiederholt Dostojewskijs Erzähler seine Frage: „Wen also hat er zu fürchten?“ In der Suche nach einer Antwort erwägt er zunächst die „Arbeiter“ und die „Landbevölkerung“ als Kandidaten. Indessen seien die Arbeiter hier in Frankreich doch „in der Seele gleichfalls Besitzer“, deren „Ideal“ ebenfalls darin bestünde, „sich möglichst viel Sachen anzuschaffen: so ist nun einmal ihre Natur“, bekräftigt der russische Besucher sein Urteil über Nationalcharaktere; und die „französischen Landleute sind ja“, wie er feststellt, „der Erztypus der Besitzer, sind die stumpfsinnigsten Besitzer, also das beste, das vollkommenste Ideal des Besitzers, das man sich nur vorstellen kann.“ Dieses Bestreben, Besitzer zu sein, sei „von Jahrhunderten großgezogen und von Jahrhunderten gezüchtet. Nationalität läßt sich nicht mit Leichtigkeit umwandeln; es ist nicht leicht, von Gewohnheiten abzulassen, die schon Jahrhunderte alt und in Fleisch und Blut übergegangen sind.“ Von dieser Seite hat der Bourgeois also erst einmal auch nichts zu fürchten. Anders ist es da schon mit den Verfechtern progressiver politischer Ideologien. Denn die nächste Frage lautet: Oder fürchtet er die Kommunisten? Oder schließlich die Sozialisten? Aber diese Leutchen haben ja ihre Sache seinerzeit gewaltig verspielt, und im Grunde seiner Seele verachtet der Bourgeois sie tief, – verachtet sie und dabei fürchtet er sie doch. Ja, eben diese Leute fürchtet er. Und doch sollte man meinen: Warum denn, weshalb?51

Diese Frage beantwortet Dostojewskijs Erzähler auf Umwegen. Im Anschluss an seine nun ans Ziel gelangte Ermittlung der Quelle jener Furcht, die man dem Bourgeois anmerkt, geht er erst einmal zu geschichtlichen und philosophischen Betrachtungen über. Dazu wendet er sich der Französischen Revolution, ihren Folgen und ihren Idealen zu und erinnert an die berühmten Worte des „Abbé Sieyès“, der einst in prophezeiender Weise fragte: „Was ist der tiers état? Nichts. Was müsste er sein? Alles.“ Im Rückblick darauf lässt sich urteilen: Nun, es ist so gekommen, wie er gesagt hat. Von allen Worten, die damals gesagt worden sind, sind nur diese in Erfüllung gegangen; nur sie allein sind geblieben. Der Bourgeois aber scheint es immer noch nicht so recht glauben zu wollen, ungeachtet dessen, daß alles andere, was nach diesen Worten des Abbé gesagt worden ist, vergangen und verschwunden ist wie eine geplatzte Seifenblase. In der Tat: bald nach ihm verkündete man ja: liberté, égalité, fraternité. Wunderbar.52 51 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 796. 52 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 796.

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Während sich die implizite Vorhersage einer sich deutlich abzeichnenden Machtübernahme durch das Bürgertum restlos erfüllt hat, gilt Gleiches nicht für die bekannten großen Ideale, die im Zuge derselben ausgerufen worden waren. Der Paris-Besucher aus dem Osten unternimmt nun in seinen Reiseaufzeichnungen eine Analyse des genauen Verständnisses der revolutionären Ideale des Westen und der Gründe für das Scheitern an ihrer Verwirklichung: Freiheit – Was für eine Freiheit? – Die gleiche Freiheit aller, alles zu tun, was man will, sofern das Wollen innerhalb der Grenzen der Gesetze bleibt. Wann aber kann man alles tun, was man will? – Wenn man eine Million hat. Gibt die Freiheit jedem Menschen diese Million? – Nein. Was ist ein Mensch ohne eine Million? – Ein Mensch ohne eine Million ist nicht jemand, der alles macht, was er will, sondern jemand, mit dem man macht, was man will. Was folgt daraus? – Daraus folgt, daß es außer der Freiheit noch Gleichheit gibt, und zwar Gleichheit vor dem Gesetz. Von dieser Gleichheit vor dem Gesetz läßt sich freilich nur das eine sagen, nämlich: daß in der Form, wie sie jetzt angewandt wird, jeder Franzose sie nur für eine persönliche Beleidigung halten kann und muß. Was verbleibt nun noch von der Formel? – Brüderlichkeit. Nun, dieses Kapitel ist das Allerkurioseste; und man muß schon zugeben, daß es im Westen noch bis auf den heutigen Tag der größte Stein des Anstoßes ist. Der Westeuropäer redet von Brüderlichkeit wie von einer großen, die Menschheit bewegenden Kraft und verfällt überhaupt nicht darauf, daß Brüderlichkeit sich von nirgendwoher nehmen läßt, wenn sie nicht als Wirklichkeit einfach vorhanden ist. Also, was tun? – Ja, da muß man Brüderlichkeit eben irgendwie herstellen, denn zur Stelle schaffen muß man sie um jeden Preis. Aber da zeigt es sich, daß Brüderlichkeit überhaupt nicht herzustellen ist, weil sie nämlich von selbst entsteht, weil sie gegeben sein, in der Natur liegen muß. In der französischen Natur aber, ja, in der westeuropäischen überhaupt, hat sich das wirkliche Vorhandensein der Brüderlichkeit nicht gezeigt, sondern statt ihrer das Vorhandensein des Prinzips der Einzelperson, der Persönlichkeit, der betonten Selbsterhaltung, Selbstbehauptung, des Selbstbetriebs, der Selbstbestimmung innerhalb des eigenen Ich, das Prinzip, dieses Ich der ganzen Natur und allen übrigen Menschen entgegenzustellen als ein befugtes Element für sich, das der Gesamtheit alles anderen, das außer ihm in der Welt vorhanden ist, als vollkommen gleichberechtigt und gleichwertig gegenübersteht.53

Das Ideal der Freiheit wird im Westen also verstanden als die Freiheit dazu, dem eigenen Begehren im Rahmen bürgerlicher Gesetze uneingeschränkt zu folgen. Eine solche ‚Freiheit‘ ist aber an die materielle Bedingung ihrer Verwirklichung gebunden. Wer Millionär ist, kann in der kapitalistischen Ordnung innerhalb gewisser gesetzlicher Grenzen tun, was er oder sie will. Wer keiner ist, muss sich für seinen Lebensunterhalt in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben, in welchem man über sie oder ihn und seine Arbeitskraft ‚frei‘ verfügen kann. Wie zur Eindämmung und zur gleichzeitigen Rechtfertigung dieser Ungerechtigkeit muss es deshalb auch noch Gleichheit geben. Wer sich selbst benachteiligt und es

53 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 796.

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deshalb ungerecht findet, dass nur einige frei sind, die anderen aber von ihnen abhängig, darf sich damit trösten, dass vor dem staatlichen Gesetz alle gleich sind: Niemand darf, wie dies ehedem der Fall war, einen anderen besitzen, ungestraft misshandeln oder töten. Das ist auch gar nicht mehr nötig, wo der Zwang materieller ökonomischer Notwendigkeit perfide dafür sorgt, dass die Menge der vermeintlich Gleichen in Lohnherren und Lohn- oder Galeerensklaven zerfällt. Was genau mit der nun folgenden Behauptung des Erzählers gemeint ist, „jeder Franzose“ könne und müsse besagte Gleichheit, „wie sie jetzt angewandt wird, […] nur für eine persönliche Beleidigung halten“, überlässt Dostojewskijs Text weitgehend der Deutung seiner Leserschaft. Sehr wahrscheinlich ist sie so zu verstehen, dass es die Franzosen in jener falschen Sittlichkeit, welche die Selbstbehauptung und das Streben nach Besitz zuoberst stellt, als eine regelrechte Beleidigung verstehen müssen, mit jedem Habenichts – und sei es auch nur symbolisch – für gleichrangig erklärt zu werden. Erst recht gilt das für die Gleichstellung mit den Armen, welche die Wohlhabenden wegsperren, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Diese Lesart legt sich nicht zuletzt deshalb nahe, weil auch Dostojewskij selbst, wenn er für die slawophile Ideologie eintritt, den westlich gebildeten Ständen Russlands empfiehlt, sich demütig mit dem einfachen russischen Volk zu vereinigen.54 Dessen Natur und nationalen Charakter sieht er nicht in Selbstbehauptung und Besitzstreben, sondern in der Bereitschaft zur Selbsthingabe und in der bedingungslosen Liebe zum Nächsten.55 Für die Vertreter der 54 In seiner Rede zu Ehren Puschkins behauptet Dostojewskij, dieser erste bedeutende Dichter Russlands hätte nicht nur den Typus des Müßigen und des Ruhelosen – genauer: des vom westlichen Einfluss und Denken ruhelos gemachten Russen – dargestellt, sondern auch „schon die russische Lösung der Frage, der ‚verdammten Frage‘ im Sinne des russischen Volksglaubens und der Volkswahrheit angedeutet: ‚Bezähme dich, stolzer Mensch, und zerbrich erst einmal deinen Hochmut. Demütige dich, müßiger Mensch, und arbeite erst einmal auf deinem heimatlichen Acker!‘“, Tagebuch eines Schriftstellers, 489. 55 Man mag halten was man will von den nationalistischen Gedanken seines Erzählers oder auch Dostojewskijs selbst, das heißt: von seiner Überzeugung, es sei einem besonderen Volk bestimmt, die Ideale zu verwirklichen, welche die westlichen Völker nur aufstellen, ihrer natürlichen Denk- und Empfindungsweise wegen aber nicht erreichen konnten: Es gibt für sie zumindest linguistische Anhaltspunkte. Swetlana Geier, die Übersetzerin von Dostojewskijs Werken, bemerkt Folgendes über eine tatsächlich auffällige Eigenart der russischen Sprache: „‚Ich habe zwei Kinder.‘ Ein klassischer Hauptsatz: Subjekt – Prädikat – Akkusativobjekt. Das Akkusativobjekt ist eben ein Objekt, das heißt, es ist nicht souverän. Es ist abhängig von dem Verb und dem Subjekt. Wenn ich den Sachverhalt auf Russisch wiedergeben will, dann stülpe ich diesen Satz um. Das, was im Deutschen ein Akkusativobjekt ist, wird das Subjekt; es wird souverän. Und es bestimmt mein Sein: Ich komme in den Genitiv. U menja dwa rebjonka: Bei mir – im Russischen verlangt die Präposition ‚bei‘ den Genitiv – sind zwei Kinder. – Man braucht doch überhaupt nichts mehr zu erklären! Machen Sie mit einem solchen Volk ein Wirtschaftswunder – es ist unmöglich! Daran ist nicht Putin schuld oder Stalin oder Lenin oder Karl Marx – das Volk kann es nicht. Ihm fehlen die sprachlichen Voraussetzungen. Wenn es etwas hat, verliert es die Souveränität.“ Swetlana Geier, Ein Leben zwischen den Sprachen, aufgezeichnet von Taja Gut, Frankfurt am Main 2012, 112.

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höheren Stände eines Volks, das nicht so empfindet, hat Gleichheit eben noch etwas unweigerlich Beleidigendes. Anders könnte es nur bei einem Volk sein, in welchem jene wahre christliche Sittlichkeit herrscht, die auf gar keinen bewussten Überlegungen beruht, sondern auf einem unbewussten Empfinden. Das Ideal der Gleichheit könnte darin in Form einer alle Stände übergreifenden nationalen Einheit verwirklicht werden. Die westliche Bourgeoisie aber versteht, nach der Einschätzung von Dostojewskijs Erzähler, alle drei revolutionären Ideale auf eine äußerst seltsame Weise, da sie auf dem halben Wege zu ihrer Verwirklichung stehengeblieben ist, um das Ziel für schon erreicht auszugeben und es sich nun möglichst bequem einzurichten. Das vorherrschende Verständnis des Ideals der Brüderlichkeit löst bei ihm das größte Befremden aus: Sie wird wie etwas behandelt, das sich einfordern lässt. Dabei zeigt sich doch gerade an diesem Punkt, dass das westliche Bürgertum – mangels natürlicher Bestimmung (oder weil es nicht dazu auserwählt ist) – für sein Scheitern zuletzt gar nichts kann: Offenbar ist die Brüderlichkeit (die heute vielleicht Geschwisterlichkeit hieße) etwas, das es unbedingt bräuchte, damit die Gerechtigkeit oder die soziale Idee, die der bürgerlichen Revolution einst zugrunde gelegen hatte, Wirklichkeit würde. In Westeuropa und Frankreich fehlt es an dieser Brüderlichkeit, durch die in einer gerechten Gesellschaft auch die anderen Ideale zur Verwirklichung gelangten. Die dortige nationale Eigentümlichkeit, das in Europa so stark hervorgetretene Prinzip, ist das der Selbsterhaltung und „der Selbstbestimmung innerhalb des eigenen Ich“. Tatsächlich war das erwähnte Prinzip der Selbstbestimmung eines Ich, das sich selbst der Außenwelt gegenüberstellt, im Werk Descartes’, des Vaters der modernen westlichen Philosophie, wirkmächtig zur Geltung gelangt. Doch auch Kants praktische Philosophie ist im Grunde ein Versuch, die Moral auf dieses Prinzip zu gründen: Die Autonomie des denkenden Subjekts sollte der Ursprung sämtlicher Verhaltensnormen sein. Die Welt, von der sich das vernünftige Subjekt unterscheidet, und die sinnlich vermittelte Beziehung zu ihr, seine natürlichen Antriebe und Gefühle, können für Kant lediglich der Grund jener Fremdbestimmung sein, die es zu unfreien, mitunter zu bloß legalen oder gar zu unmoralischen Handlungen veranlasst. Ferner kann man sich durch die Bezeichnung jener Tendenz, „dieses Ich der ganzen Natur“ gegenüberzustellen, welche dadurch gleichsam zum Nicht-Ich wird, an den von Kants Denken inspirierten Ansatz Fichtes erinnert fühlen. Fichte macht aus dem Ich gar ein absolutes und gibt so den Startschuss zu den großen Systemen des Deutschen Idealismus. Die französische und deutsche Philosophiegeschichte zeugt so gesehen in der Tat von der behaupteten Vorherrschaft des Strebens nach Selbstbehauptung und -bestimmung des Ich im westeuropäischen Denken. Sie trifft somit überein mit jener Begründung, welche Dostojewskijs Erzähler dafür gibt, dass die so sehr

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ersehnte Brüderlichkeit „in der westeuropäischen“ Welt, im geschichtlich kultivierten unwillkürlichen Empfinden der westlichen Völker, nicht vorhanden sei. In seiner jetzigen Verfassung kann der Westen deshalb nicht der Ort sein, an welchem sich die Verwirklichung der Gerechtigkeit vollziehen und von wo aus diese die ganze Welt erfassen wird können. Die dazu erforderliche Bedingung, das Bestehen der Brüderlichkeit, ist nämlich keine, die sich so einfach herstellen ließe. Sie muss lange gewachsen und herangereift sein. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass ausgerechnet der bekennende Kantianer Schiller unfreiwillig Pate für diese gegenaufklärerische Position steht: Dostojewskij bedient sich merklich jener Gedanken, die Schiller in seiner zurückhaltenden Kritik an Kant geltend gemacht hatte, wonach auch der unwillkürliche Teil des Handelns, das natürliche Empfinden, durch ästhetische Erziehung sittlich kultiviert werden müsse, um dem Guten im Handeln der Menschen zur Durchsetzung zu verhelfen. Dies gegen jene aufklärerische Intention kehrend, die Schiller selbst noch damit verband, macht Dostojewskijs Beobachter des Westens deutlich, worin die ersehnte Brüderlichkeit tatsächlich bestehen würde und von welchen Zeiträumen man sprechen müsste, damit sie als verlässliche Wirklichkeit vorhanden wäre. Zu der im Westen vorherrschenden Denkweise bemerkt er: Nun, und aus einer solchen Selbsteinschätzung hat Brüderlichkeit eben nicht hervorgehen können. Warum nicht? Weil in der Brüderlichkeit, in der wirklichen Brüderlichkeit nicht der einzelne Mensch, nicht das Ich für das Recht seiner Gleichwertigkeit und Gleichwichtigkeit gegenüber allem Übrigen sorgen soll, sondern dieses Übrige von selbst zu diesem einzelnen Ich kommen und von selbst, ohne von ihm darum gebeten zu sein, dieses einzelne Ich als sich (das heißt allem übrigen auf der Welt Vorhandenen) gleichwertig und gleichberechtigt anerkennen müßte. […] Allerdings: man kann sich ja umwandeln! Aber eine solche Umwandlung vollzieht sich erst in Jahrtausenden, denn Ideen von dieser Art müssen erst in Fleisch und Blut übergehen, um Wirklichkeit werden zu können.56

Das westliche Prinzip der Selbstbestimmung und das Ideal der Brüderlichkeit schließen einander dieser Einschätzung zufolge also darum aus, weil nicht die Selbstbehauptung, sondern nur die völlige Selbsthingabe zu letzterer führt. Es ist erst der freie Gebrauch der Selbstbestimmung zur Entsagung, der, wenn sie allseitig erfolgte, wahre Brüderlichkeit realisierte. Das muss in bedingungsloser Hingabe geschehen, auf die völlig ungebannte Gefahr des Missbrauchs durch die anderen hin. Die wahre, nämlich sittliche Freiheit ist die Freiheit zur Verneinung des Eigenwillens. Sie bedingt Brüderlichkeit. Auf dieser wahrhaften Brüderlichkeit als ihrer Grundlage könnte dann eine gerechte Gesellschaft errichtet werden, bestehend aus lauter Freien und Gleichen. 56 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 797f.

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Die Brüderlichkeit lässt sich nicht institutionell realisieren wie die Gleichheit57 und sie ist nur zu erreichen durch einen gemeinschaftlichen Akt der Erhebung aller Einzelnen zur persönlichen sittlichen Freiheit der Selbsthingabe. Sie besteht nur, wo sie dem vereinzelten Ich am Anderen von sich aus entgegentritt, was aber nicht eher der Fall sein kann als bis das einzelne Ich beginnt, sein selbstsüchtiges Streben und damit sich selbst aufzugeben, weil seine leidenschaftliche Liebe ganz seinen Nächsten gilt. Ein anderes als das im Westen vorherrschende Empfinden müsste die Grundlage wahrhaft gerechter Verhältnisse sein. Die so gedachte Brüderlichkeit scheint, wenn sie die freie Überwindung nicht nur der Selbstsucht verlangt – das fordert Kants Moral gleichfalls –, sondern gar noch der Selbstbehauptung, um dadurch allseitige Selbstaufgabe zu bewirken, der Freiheit zuwiderzulaufen – wenigstens wie man sie im Westen versteht. Dostojewskij lässt seinen Erzähler diesen wahrscheinlichen Einwand seiner Leserschaft auf die eben ausgeführten Gedanken antizipieren und auch sogleich darauf antworten: „Ja, wie“, fragen Sie mich, „muß man denn unpersönlich sein, um glücklich zu sein? Liegt denn in der Unpersönlichkeit das Heil?“ Im Gegenteil, ganz im Gegenteil, antworte ich, man muß nicht nur nicht unpersönlich sein, sondern muß gerade erst zu einer Persönlichkeit werden, und das sogar in weit höherem Grade als es jener Grad ist, der sich in Westeuropa jetzt festgesetzt hat. Verstehen Sie mich richtig: ein freiwilliges, vollkommen bewußtes, durch niemand und nichts erzwungenes Opfer seiner selbst zugunsten aller – ist meiner Ansicht nach das Anzeichen der höchsten Entwicklung der Persönlichkeit, ihrer höchsten Macht, ihrer größten Selbstbeherrschung, ist das Anzeichen der größten Freiheit des persönlichen Willens. Freiwillig sein Leben für alle hingeben, für alle den Kreuzestod sterben oder den Scheiterhaufen besteigen, das kann man nur bei der stärksten Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.58

Die in einer Gesellschaft oder einem Volk bestehende Bereitschaft zu leidenschaftlicher Selbsthingabe würde also nicht davon zeugen, dass dessen Individuen es noch gar nicht bis zur Selbstbehauptung brächten, sondern bereits von ihrer Überwindung auf der nächsthöheren Stufe der Persönlichkeit. Bei der 57 Das ist einmal mehr auch Dostojewskijs persönliche Überzeugung. In seinem späteren Streit mit Gradowskij behauptet er so, wie es in den Winteraufzeichnungen sein Erzähler tut: „Gäbe es Brüder, so gäbe es auch eine Brüderlichkeit. Wenn es aber keine Brüderlichkeit gibt, so können Sie durch keine einzige ‚Institution‘ Brüderlichkeit erzielen. Was für einen Sinn hat es, überhaupt eine ‚Institution‘ zu schaffen und mit der Aufschrift ‚Liberté, Egalité, Fraternité‘ zu versehen? Erreichen werden Sie mit einer solchen Institution entschieden nichts, so daß man dann wohl – oder vielmehr unfehlbar, oder sogar unbedingt – zu den drei Worten noch etwas als viertes hinzufügen müßte, nämlich: ‚ou la mort‘. ‚Fraternité ou la mort‘ – und die Brüder werden den Brüdern die Köpfe einschlagen, um durch eine ‚bürgerliche Institution‘ Brüderlichkeit einzuführen“, Tagebuch eines Schriftstellers, 542. 58 Dostojewskij, Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, 798.

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westlichen Selbstsetzung einerseits und andererseits bei jener Selbsthingabe, die man sich von einem anderen Volk jenseits der westlichen Welt zu erwarten hätte, handelt es sich folglich auch nicht einfach um zwei solche völkische Eigenarten, die einfach so nebeneinander bestünden. Vielmehr zeigte sich hier eine gewisse Reihenfolge sittlicher Entwicklungsstufen, die nicht mit dem zivilisatorischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritt zusammenhängen. Ein Volk kann, ohne auf dem letzteren Gebiet führend zu sein, doch Träger eines höheren sittlichen Prinzips sein und durch sein Vorbild zur Erlösung der anderen bestimmt – dazu, die westlichen Mängel und Widersprüche zu überwinden, um jene Menschheitsideale zu verwirklichen, welche die Völker der westlichen Nationen nur aufzustellen, aber nicht zu erreichen vermochten.59 Die Anspielung auf den Kreuzestod gibt zu verstehen: Was innerhalb eines Volkes oder einer Gesellschaft die erforderliche Brüderlichkeit zu stiften vermag, ist das Vorbild Christi, das Ideal der Selbstaufopferung, das den Mittelpunkt der großen Erzählung der christlichen Religion bildet. Die dauerhafte gläubige Beziehung auf dieses Vorbild und seine tätige Liebe zum Nächsten, die ihren vollendeten Ausdruck in der freiwilligen Selbstaufopferung für die Menschheit gefunden hat, kann ein Volk diese Selbstlosigkeit ausbilden lassen als unwillkürlichen Zug seines sittlichen Empfindens.

5.

Jesus von Nazareth gegen den kategorischen Imperativ – Beantwortung der Frage: Was genau war doch gleich Aufklärung?

Die in den Winteraufzeichnungen angesprochenen Mängel der westlichen Zivilisation weisen ostwärts, obgleich dies eher zwischen ihren Zeilen deutlich wird – insbesondere aus dem Umstand, dass hier ein Russe zu seinen Landsleuten spricht. Sie deuten auf das russische Volk als dasjenige hin, das sich in der Begegnung mit dem Westen einer großen Aufgabe stellen muss. Umso deutlicher ausgesprochen findet sich dies aber dort, wo Dostojewskij selbst zu und mit 59 Offenkundig lehnt sich Dostojewskij hier stark an das hegelsche Geschichtsdenkens an, den stufenweisen Fortschritt des einen Weltgeistes, der sich durch eine Abfolge verschiedener Volksgeister verwirklicht, die nacheinander ihr jeweiliges Prinzip zur Geltung bringen: Völker, die später an der Reihe sind, müssen sich die Errungenschaften der früheren erst aneignen, können aber doch zu Trägern eines zu verwirklichenden höheren sittlichen Prinzips werden, welches die vormaligen Widersprüche aufhebt. In russischen intellektuellen Kreisen war dieses Denken gewiss verbreitet und wenn Dostojewskij es sich zu eigen macht, liegt darin die Ironie, dass Hegel mit seinem immanenten Weltbild und Anspruch, „alles durch die Philosophie versöhnen“ zu wollen, geradezu der prädestinierte Widersacher von Dostojewskijs Transzendenzglauben war und von diesem dafür als „deutscher Knirps“ geschmäht wurde. Vgl. Arsenij Gulyga: Immanuel Kant. Eine Biographie, 334.

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seinen Landsleuten spricht: in jenen publizistischen Texten, in denen er gleichlautende Ansichten vertritt wie sein früherer Erzähler, etwa in jener berühmten Puschkin-Rede, worin der Schriftsteller das Vermächtnis seines wohl wichtigsten poetischen Vorgängers thematisiert, wie auch in den sich daran anschließenden Polemiken gegen seine Kritiker. Besagtes Vermächtnis des ersten großen russischen Dichters Alexander S. Puschkin (1799–1837) will Dostojewskij in der prophetischen Art und Weise entdeckt haben, mit welcher sich in dessen Werk beides bereits andeutet: erstens dass seine seelische Veranlagung zum allmenschlichen Verstehen das Russenvolk zum Erlöser aller übrigen Völker bestimme und zweitens was es selbst zu leisten hätte, um dieser ihm schicksalhaft zufallenden Aufgabe gerecht zu werden.60 Nach Dostojewskijs Deutung hätte Puschkin an dem Gegensatzpaar einerseits der Ruhelosen, andererseits der Sittlich-Schönen unter seinen Helden und Heldinnen gleichsam den Zweck bestimmt, zu dessen Verwirklichung die russische Literatur beizutragen habe: eine Auflösung der inneren Widersprüche, die in den modernen westlichen Gesellschaften zur Geltung gelangen. Während Dostojewskijs Rede in ihrer unmittelbaren Wirkung – er hielt sie anlässlich der Einweihung des Moskauer Puschkin-Denkmals am 8. Juni 1880 – regelrechte Begeisterungsstürme auslöste, stieß sie nach ihrer Veröffentlichung auf erhebliche Kritik. So wandte etwa der schon erwähnte Rechtsgelehrte Gradowskij ein, das russische Volk sei in all seiner Rückständigkeit doch weit davon entfernt, eine solche Aufgabe im Dienste der gesamten Menschheit übernehmen zu können. Es mangle ihm bereits an dem, was der benachbarte Westen unter der Bezeichnung der Aufklärung hervorgebracht hätte. Folglich müsse, so Gradowskij, „jeder Russe, dem es um seine Aufklärung zu tun ist, sich diese Aufklärung unbedingt aus einer westeuropäischen Quelle holen […], eben infolge absoluten Nichtvorhandenseins russischer Quellen“.61 Dostojewskij erwidert darauf: Erlauben Sie, daß ich Sie frage, was Sie unter diesem Wort verstehen: die Wissenschaft des Westens, die Technik, die handwerklichen Fertigkeiten oder die – Aufklärung des Geistes? Was die ersteren betrifft, das heißt: die Wissenschaften und die Techniken, so müssen wir die allerdings vom Westen übernehmen; uns in dieser Beziehung von Europa abzuwenden, dazu haben wir gar keinen Grund, abgesehen davon, daß es keine anderen Lehrmeister gibt als die westeuropäischen, wofür Europa von uns Dank sei ewiglich. Aber unter Aufklärung verstehe ich (und ich denke, daß niemand sie anders auffassen kann), verstehe ich – das, was das Wort buchstäblich besagt: Erhellung, also das geistige Licht, das die Seele erhellt, im Herzen Klarheit schafft, den Geist lenkt und ihm den Weg des Lebens weist. Wenn das Wort aber dies bedeutet, so gestatten Sie mir die Bemerkung, daß wir durchaus keine Veranlassung haben, eine solche Aufklärung 60 Vgl. Dostojewskij, „Puschkin. Eine Skizze“, in: Derselbe, Tagebuch eines Schriftstellers, 484– 506. 61 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 509.

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aus westeuropäischen Quellen zu beziehen, eben infolge des vollkommenen Vorhandenseins (und keineswegs Nichtvorhandenseins) russischer Quellen.62

Dostojewskijs Behauptung, dass „niemand“ das, was Aufklärung sei, „anders auffassen kann“, muss man widersprechen. An der von ihm angebotenen Alternative verwischt er eher jenes Verständnis, das Kant in einer seither mustergültigen Weise von ihr gegeben hatte, als er sie zum „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bestimmte, wozu man ihrem „Wahlspruch“ zu folgen hätte: „habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“63 Diese Forderung betrifft gar nicht so sehr den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, auf welchen Dostojewskij hier das geistige Verdienst des europäischen Westen zusammenstaucht, als vielmehr den Anspruch, das eigene Urteil von jeder der Vernunft äußerlichen höheren Autorität zu lösen. Diese letzte Bedeutung ist Dostojewskij aber keineswegs unbekannt. Die Folgen der so verstandenen Aufklärung, die er anders einschätzt als Kant, sind das Thema seiner großen Romane. Hier umgeht der Schriftsteller sie rhetorisch, indem er die Frage nach dem richtigen Verständnis der Aufklärung auf die scheinbare Alternative festlegt, darunter entweder bloß den Fortschritt im theoretischen Wissen über die Welt zu verstehen oder aber eine durch Bilder zu umschreibende Art von Geisteshaltung, die sich einem ganzen Volk zuschreiben ließe: „Ich behaupte“, so fährt er fort, „daß unser Volk schon seit langem aufgeklärt ist, da es Christus und die Lehre Christi in sein Wesen aufgenommen hat.“64 Dem Zusammentreffen prägender geschichtlicher Umstände mit der passenden Religion verdanken sich, Dostojewskijs konservativer, nationalistischreligiöser Ideologie zufolge, der Nationalcharakter und damit die höhere Berufung des russischen Volks: [D]ie Hauptschule des Christentums, die das Volk durchgemacht hat, das sind die Jahrhunderte der zahllosen Bedrückungen und Heimsuchungen, von denen seine Geschichte berichtet, die Jahrhunderte, in denen es von allen verlassen und niedergetreten war, dabei für alle und alles arbeitete, in Christus aber seinen einzigen Tröster behielt, den es denn auch auf ewig in sein Herz schloß und der dafür seine Seele vor der Verzweiflung bewahrte.65

Dieser Hoffnung auf die im Glauben wurzelnde sittliche Kraft der russischen Volksseele, die es zur Entfaltung zu bringen gälte, entsprechen Gedanken, die sich Dostojewskij zu einer nicht mehr vollendeten Antwort auf einen weiteren Kritiker notierte. In seinem Entwurf zu einer Erwiderung auf Konstantin Ka62 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 509. 63 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Berlin 1912, 35. 64 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 510. 65 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 511.

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welins (1818–1885) Einwürfe spricht er deutlich aus, worin für ihn selbst die Grundlage einer moralischen Gesinnung liegt: „Es ist unzureichend“, so hält er seinem Widersacher entgegen, „Sittlichkeit als Überzeugungstreue zu definieren. Man muß sich auch noch fortwährend fragen: Sind meine Überzeugungen richtig? Ihr Prüfstein aber ist – Christus. Doch hier kommt nicht mehr Philosophie in Frage, sondern Glaube. Glaube jedoch ist wie eine Farbe.“66 Die deutlichste Absage an das Kantische Aufklärungsverständnis findet sich aber an folgender Bemerkung: „Wenn wir nicht im Glauben und in Christus eine Autorität hätten, würden wir uns in allem verirren. Es gibt sittliche Ideen. Sie erwachsen aus dem religiösen Gefühl, aber mit der Logik allein sind sie niemals zu rechtfertigen.“67 Dass die sittlichen Ideen durch „Logik allein“ zu rechtfertigen sind, war genau das Beweisanliegen von Kants praktischer Philosophie gewesen. Während der deutsche Denker den kategorischen Imperativ, die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime, zum Prüfstein der Sittlichkeit menschlichen Handelns erhebt, bleibt es für den russischen Schriftsteller die Beziehung auf den gottmenschlichen Erlöser, auf die Autorität und das Vorbild Christi, was diese Aufgabe erfüllt. – Die geradezu gegenaufklärerische Position, die Dostojewskij vertritt, erschien bereits vielen seiner Zeitgenossen als rückständig. Heute, zweihundert Jahre nach seiner Geburt und einhundertvierzig Jahre nach dem Tode des russischen Schriftstellers, erweckt sie diesen Eindruck nur desto stärker. Er verteidigte sich gegen entsprechende Vorwürfe durch den Hinweis, an seinen philosophierenden Helden doch ein Denken dargestellt zu haben, das alles, was die westliche Philosophie bislang geliefert hätte, in seiner Kühnheit noch überträfe. So betonte er, in der Folgerichtigkeit und in der literarischen Macht des Ausdrucks, welche er dem Atheismus verliehen hatte, viel weiter gegangen zu sein als all die ihn belehren wollenden Besserwisser selbst es jemals zu träumen gewagt hätten.68 Ahnungs- und Gedankenlosigkeit waren jedenfalls nicht die Gründe für Dostojewskijs erzkonservative Überzeugungen. Für ihn war längst ersichtlich, dass das kritische Denken, das sich durch Kant von den dogmatischen Vorgaben der Religion befreit hatte, nicht bei den zurückhaltenden Folgerungen stehen blieb, die der bedeutende Denker des achtzehnten Jahrhunderts selbst daraus gezogen hatte. Es schritt zu ganz anderen fort, nicht nur im positivistischen Denken, sondern auch im Denken Hegels und seiner linkshegelianischen Nachfolger. Oft genug wurde auch auf die auffällige Nähe verwiesen, die zwischen den Schlüssen von Dostojewskijs atheistischen Helden besteht und denjenigen, zu denen Friedrich Nietzsche (1844–1900) fast zeitgleich gelangte – ein Philosoph, 66 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 616. 67 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 619. 68 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 612f.

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der Kant für die Inkonsequenz zu tadeln pflegte, mit welcher er seine Vernunftkritik vor der Moral haltmachen ließ.69 Tatsächlich hat die Kraft, die der russische Schriftsteller jenem Zweifel verleiht, den seine philosophierenden Helden an der Wahrheit des Glaubens und der Geltung der Moral üben, bei manchen Interpreten einen Verdacht geweckt. Sie vermuteten, Dostojewskij mochte womöglich gar nicht so fest im eigenen christlichen Glauben gewesen sein wie er sich selbst den Anschein gab.70 Die frommen Heldinnen und Helden müssen den Zweiflern das Feld der Argumente stets überlassen, um für die Wahrheit ihres Glaubens allein mit der bedingungslosen tätigen Liebe zu ihren Mitmenschen einzustehen. Tatsache ist und bleibt aber, dass Dostojewskij in öffentlichen Debatten selbst stets für seine religiöse Ideologie eintrat und dem Zaren jene uneingeschränkte Herrschaft zugestand, welche dieser von Gottes Gnaden und mit dem heiligen Segen der russisch-orthodoxen Kirche ausübte. Was immer ihn dazu veranlasst haben mag – ein gewisser Opportunismus des rehabilitierten Sträflings, der vom Monarchen zuerst zum Tode verurteilt, dann begnadigt und nach jahrelanger Zwangsarbeit rehabilitiert worden war, die Folgen einer Erlösungserfahrung, welche ihm, wie Freud meinte, seine Scheinhinrichtung und die anschließende Strafe verschafft hatten, indem sie ihn vom ödipalen Schuldkomplex über den realisierten Wunsch der Vatertötung befreiten,71 eine bewusst gewählte politische Strategie angesichts der Gewissheit, in einer immer bedrohlicher erscheinenden Lage zu irgendetwas Farbe bekennen zu müssen, vielleicht sogar ein aufrichtiger Wunsch danach, wirklich zu glauben, oder aber (man kann es nicht ausschließen) ganz einfach wahrhaftiger Glaube –: Dostojewskij vertrat seinen reaktionären Standpunkt mit einer Vehemenz, die dazu angetan schien, jeden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der bestehenden Ordnung schon im Keim zu ersticken. Vor seinen Widersachern rechtfertigte der Schriftsteller das Misstrauen, mit welchem er der Verbreitung westlichen Gedankenguts in Russland begegnete, durch den Hinweis, Europa sei selbst doch denkbar weit davon entfernt, zu einem guten Zusammenleben in einer gerechten Gesellschaft zu finden. Woran auch immer Dostojewskij nun tatsächlich glaubte: An jene kontinuierliche Verbesserung, die seine optimistischen Zeitgenossen vorhersahen, an ein bruchloses allmähliches Fortschreiten der Menschheit zu Bildung, allgemeinem Wohlstand, 69 So etwa in Abschnitt 3 der „Vorrede“ zur Morgenröte und unter dem Punkt 335 der fortlaufenden Nummerierung im Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft. 70 Vgl. Reinhard Lauth, „Ich habe die Wahrheit gesehen“. Die Philosophie Dostojewskis. In systematischer Darstellung, München 1950, 11f. Janko Lavrin, Fjodor M. Dostojevskij, Hamburg 2010, 148ff. 71 Vgl. Sigmund Freud, Dostojewskij und die Vatertötung, in: Derselbe, Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, Bd. 14, Werke aus den Jahren 1925–1931, Frankfurt am Main/London, 399–418.

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Gerechtigkeit und Frieden, welches sich unter der Anleitung des Handelns sowohl der Einzelnen als auch ganzer Nationen durch die Einsicht in rationale Gründe vollzöge, glaubte er jedenfalls nicht. Vielmehr sah er einen großen gesamteuropäischen Krieg heraufziehen, in dessen Gefolge es dann zu einem blutigen revolutionären Aufbegehren im Namen des Sozialismus und des Vierten Standes kommen würde.72 Wie wir heute wissen, lag Dostojewskij mit seiner Einschätzung vollkommen richtig. Gründlich getäuscht hat er sich in der Hoffnung, ausgerechnet Russland würde von dem drohenden Unheil verschont bleiben, um, wenn das Spektakel vorüber wäre, die verheerten Völker Europas zu ihrem gemeinschaftlichen Heil anzuführen. So mächtig die Literatur in Gestalt seines Werkes auch war: Das Volk auf einen Glauben einzuschwören, der es seit Kants kritischer Philosophie verschmähen muss, sich vor der Vernunft auszuweisen, vermochte sie nicht. Die philosophischen Beweise der reinen Vernunft des achtzehnten Jahrhunderts konnten die sich anbahnende Katastrophe nicht abwenden, die über die Menschheit im zwanzigsten tatsächlich hereinbrechen sollte. Dem literarischen Versuch, den Dostojewskij im neunzehnten unternahm, sie noch einmal im Glauben an die Heilserzählung und ihren Erlöser zu einigen, erging es nicht besser.

72 Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, 543ff.

Kant in ironischen Brechungen gelesen

Andreas Arndt

„Der kategorische Imperatif auf Reisen“. Johann Daniel Falks Kant-Satire 1797: ‚Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire. Herausgegeben von J.D. Falk. Nebst einem saubern Conterfey auf die Kantische Philosophie‘

„Der kategorische Imperatif auf Reisen“, so lautet die Überschrift des elften Kapitels von Johann(es) Daniel Falks Reisen zu Wasser und zu Lande von Scaramuz, welches den zweiten Teil dieser 1797 und 1800 erschienenen Satire eröffnet.1 Was zunächst als mäßig witzig erscheint, verweist bei näherer Betrachtung auf eine ambivalente Haltung Falks zu Kant. Falk, der durch den Mund seines Helden Scaramuz im ersten Teil die unhaltbaren hygienischen und medizinischen Zustände an der Berliner Charité enthüllt und angeprangert hatte, was eine heftige öffentliche Debatte auslöste und den Preußischen König schließlich zum Einschreiten veranlasste,2 war in seiner Kritik bestehender Zustände kompromisslos. In dieser Hinsicht konnte er sich an den Rigorismus der Kantischen Moral anschließen. „Der glückliche Erfolg meiner Freymüthigkeit, im Betreff der Berliner Charité“, so beginnt der zweite Teil der Reisen, „bestätigte mich mehr als jemahls in den Grundsätzen der neusten Philosophie. Dem kategorischen Imperatif zu Folge hielt ich demnach nicht nur jedwede Lüge für unerlaubt, sondern ging auch noch einen Schritt weiter. Ich beschloß nemlich die Welt zu durchreisen, und allen Potentaten und Großen der Erde die Wahrheit ohne Rückhalt gerad in’s Gesicht zu sagen.“3 Mit dieser Maxime tritt Falks Held den Mächtigen entgegen und erntet Verfolgung, Schläge und Gefängnis. An Bord eines briti-

1 Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, hg. v. Johannes Daniel Falk, Leipzig 1797, 55–112 und 1800, 281–351; Skaramuz ist eine Gestalt der Commedia dell’Arte und des fran˙ Prahlhans. zösischen Lustspiels und meint einen 2 Vgl. die ausführliche Schilderung in der „Historischen Einführung“ von Günter Meckenstock in: Friedrich Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, in: Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 2, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, XXXVIII–L. Schleiermacher verfertigte als Prediger an der Charité aus diesem Anlass seine Aufzeichnungen „Zum Armenwesen“ (Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796– 1799, 157–161). Vgl. auch Johannes Demandt, Johannes Daniel Falk. Sein Weg von Danzig über Halle nach Weimar (1768–1799), Göttingen 1999, 276ff. 3 Falk (Hg.), Taschenbuch, 1800, 283f.

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schen Schiffes, das ihn auf eine australische Gefängnisinsel bringt, resümiert er schließlich: „O Schicksal! O Kant! O Wahrheit! O kategorischer Imperatif!“4 Dass Satire Waffe der Kritik und deshalb der Wahrheit unbedingt verpflichtet sein müsse, wie auch die Wahrheit unbedingt dazu verpflichte, sie auszusprechen, dies war Falks tiefe Überzeugung, und diese Überzeugung brachte ihn, trotz aller Vorbehalte, in die Nähe Kants. Falk selbst lebte seine Überzeugung und war durch seine rückhaltlose Kritik an Fürsten, sozialen Verhältnissen und immer wieder am Militarismus Verboten und Verfolgungen ausgesetzt. Der Dissens mit Kant tritt bei der theoretischen Philosophie ein. Doch bevor ich dazu komme, möchte ich zunächst etwas zu Falk selbst sagen.

1. Auch wer von Johann Daniel Falk noch nie etwas gehört hat, kennt wahrscheinlich eine seiner vielleicht schönsten Dichtungen. Es ist die erste Strophe des in viele Sprachen übersetzten und weltweit gesungenen Weihnachtsliedes „O du fröhliche“. Johann beziehungsweise Johannes Daniel Falk (1768–1826), aus Danzig gebürtig, war der Sohn eines armen Perückenmachers. Er wurde streng calvinistisch erzogen und musste schon seit seinem 10. Lebensjahr zum Erwerb der Familie mit beitragen, weshalb er seine wissenschaftlichen und literarischen Interessen, die seine strenggläubige Mutter ohnehin als sündhaft ansah, zunächst unterdrücken musste.5 Sein Förderer wurde der reformierte Prediger an der Danziger Petrikirche, Samuel Ludwig Majewski (1736–1801), durch dessen Vermittlung Falk seit 1785 ein Gymnasium besuchen konnte und ab 1791 Stipendien des Rates und der Bürgerschaft der Stadt Danzig erhielt, um in Halle an der Saale Theologie zu studieren. Schon bald wandte er sich jedoch von der Theologie ab und philosophischen, philologischen und literarischen Studien zu. Seine akademischen Lehrer waren unter anderem Johann August Eberhard (1739–1809), als Repräsentant der Schulphilosophie ein Kritiker Kants, und der Altphilologe Friedrich August Wolf (1759–1824), der Falk die antike Literatur erschloss. 1792, schon entschlossen, die Schriftstellerei zum Beruf zu machen, reiste Falk erstmals nach Weimar und machte dort die Bekanntschaft Schillers (1759–1805) und Goethes (1749–1832); Schiller verhalf Falk in der Folge zu einer ersten Publikation in der Neuen Thalia. Zu seinem Förderer in Weimar wurde 4 Falk (Hg.), Taschenbuch, 1800, 350. 5 Vgl. das gründliche, auch aus archivalischen Quellen geschöpfte Werk von Demandt, Falk, 1999. – Die Literatur zu Falk ist schmal; vgl. zuletzt Gerhard Heufert, Johannes Daniel Falk. Satiriker, Diplomat und Sozialpädagoge, Weimar 2008. Eine kommentierte Auswahl aus den seit Falks Lebzeiten größtenteils nie wieder gedruckten Schriften bietet Johann Daniel Falk, Die Prinzessin mit dem Schweinerüssel. Lustspiele, Gedichte, Publizistik, Berlin 1998.

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aber Christoph Martin Wieland (1733–1813), der Falk nach anfänglicher Skepsis für ein Ausnahmetalent hielt und seit 1795 mit ihm regelrecht befreundet war. In einer späteren Rezension im Teutschen Merkur heißt es über Falk: „Auf diesen sind – oder ich müßte mich mächtig irren – die Geister des Aristophanes, Horaz, Lukian’s, Juvenal’s und Swift’s, zugleich mit dem Geiste des Satyren-Malers Hogarth herabgestiegen, um ihn zum Satyrendichter einzuweihen.“6 Inzwischen als freier Schriftsteller etabliert und auch verehelicht, siedelt Falk 1797 nach Weimar über, wo er zum Kreis um Herder (1744–1803) und Wieland gehört, aber sich zunehmend auch Goethe nähert. Seit 1806 ist Falk als Übersetzer und Berater der französischen Besatzer und als Diplomat in Weimarischen Diensten tätig. 1813 gründete er, nach dem Verlust mehrerer seiner eigenen zahlreichen Kinder, von denen nur vier den Vater überlebten, die „Gesellschaft der Freunde in der Not“, um den durch die Napoleonischen Kriege verwaisten und entwurzelten Kindern zu helfen. Falk, seit 1824 Ehrenbürger Weimars, stirbt 1826; sein Kinderheim wird Vorbild für zahlreiche sozialpädagogische Einrichtungen über Deutschland hinaus. Der Ruhm des Philanthropen und Pädagogen Falk hat in der Nachwelt schließlich den des Satirikers überschattet. Bereits auf seiner Reise von Danzig nach Halle 1791 machte Falk die Bekanntschaft eines nicht näher zu identifizierenden Kantischen Philosophen und zugleich des Berliner Aufklärers Johann Jakob Engel (1741–1802), worüber er offenbar seinem Gönner, dem Prediger Majewski, berichtet hatte.7 In seiner überlieferten Antwort an Falk nimmt Majewski Partei für Engel und warnt ausdrücklich vor der „transcendentalen Philosophie“, die den natürlichen Empfindungen des Menschen entgegengesetzt sei. Anzunehmen ist daher, dass Falk durch seinen Förderer für die Kantische Philosophie nicht eben gerade eingenommen war und diese Haltung durch seinen akademischen Lehrer Johann August Eberhard in Halle noch verstärkt wurde. Ob die Bekanntschaft mit Schiller und später mit August Wilhelm Schlegel (1767– 1845)8 hieran etwas änderte, lässt sich nur vermuten. Falks Urteil über Kant scheint von Anfang an zwiespältig gewesen zu sein. Aus dem Beginn seines Hallenser Studiums ist die Äußerung überliefert, er habe „vor Herrn Cant alle Ehrerbietung, die man einem Genie der ersten Größe schuldig ist“, halte dessen Philosophie jedoch für verwirrend.9 Welche philosophischen Positionen für Falks Urteil maßgebend sind, wird noch zu zeigen sein.

6 Zit. bei Demandt, Falk, 202. – Freilich verwies Wieland auch darauf, dass Falk seine Einbildungskraft nur schwer zügeln könne, was seine Dichtungen beeinträchtige. 7 Vgl. Demandt, Falk, 122ff. 8 Falk, der zunächst gegen die Romantiker agierte, änderte später sein Urteil. 9 Zit. bei Demandt, Falk, 151.

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2. Im September 1796 wurde in Weimar Falks Schauspiel Die Uhu’. Eine dramatisch-satirische Rhapsodie, mit Chören von Uhu’n, Raben und Nachteulen als Puppenspiel aufgeführt.10 Die stark beachtete und besuchte Aufführung zog eine Denunziation nach sich, da Falk „Ehrwürdigste Gegenstände der Religion und der Staats Verfassung Lächerlich“11 gemacht habe. Verse wie die folgenden, die charakteristisch für Falks schneidende Kritik sind, mögen der Anlass gewesen sein: Raritäten seynd zu sehn, / Schöne Raritäten! Bis an’s Knie im Blute gehn / Ihro Majestäten. / Kräht darnach nicht Hund, nicht Hahn, / Stimmen ein Te Deum an! / Schöne Raritäten!12

In dem Stück, das Falk in sein Taschenbuch mit dem Conterfey auf die Kantische Philosophie aufnahm, erfolgt auch der Auftritt eines Kantianers mit Namen Knipperdolling,13 der in ein Gespräch mit einem ehemaligen französischen Marquis, der vor der Revolution geflüchtet ist, und mit einem Kammerjunker verwickelt wird. Auf die Bemerkung des Kammerjunkers „Sie kommen eben recht, Herr Knipperdolling!“ antwortet der Kantianer: „Ewr. Gnaden scheinen ein wenig zu affirmativ zu sprechen. Muß heissen: Es scheint mir, daß Sie eben recht kommen“. Auf die verblüffte Feststellung des Kammerjunkers „Aber Sie sind ja gekommen; Sie sind ja hier!“ reagiert Knipperdolling mit einer Erläuterung der Kritik der reinen Vernunft: Es scheint Ewr. Gnaden also, daß ich gekommen und daß ich hier bin. Im Grunde aber lehrt uns die Kritik der reinen Vernunft, daß wir hier kein Ding an sich erkennen, sondern lediglich die Erscheinungen der Dinge. – Der Gegenstand, der vorgestellt wird, ist nicht die Vorstellung selbst. In wie fern die Receptivität und Spontaneität des Vorstellungsvermögens im vorstellenden Subjecte an sich gegründet sind, in so fern sind sie schlechterdings nicht vorstellbar.

Offenbar beeindruckt von dieser Darlegung formuliert der Kammerjunker sein Anliegen: „Wir wollen Sie also bitten, ob es Ihnen nicht gelegen schiene, nach kritischen Prinzipien, zwischen mir und diesem Herrn [dem Exmarquis] zu entscheiden: wer von uns beyden Recht zu haben scheint oder nicht!“14 10 11 12 13

Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 215–316. – Vgl. zum Folgenden Demandt, Falk, 208ff. Anonymus an Falk, 1796; zitiert nach Demandt, Falk, 209. Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 221. Knipperdolling verweist auf Bernd Knipperdolling (um 1495 bis 1536), der einer der Führer der Wiedertäufer-Bewegung in Münster in Westfalen und dort seit dem Februar 1534 Bürgermeister war. Offenbar will Falk den alle bisherige Metaphysik umstürzenden Charakter der Philosophie Kants in seiner Radikalität mit dem Traditionsbruch durch die Wiedertäufer vergleichen. 14 Alle Zitate: Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 231f.

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Dass die Vorstellung sich nicht auf etwas außerhalb des Vorstellungsvermögens beziehe, war der skeptische Einwand Gottlob Ernst Schulzes (1761–1833), bekannt als Aenesidemus-Schulze, gegen Reinhold und Kant. In seiner Schrift Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik (1792) hat Schulze in diesem Sinne erklärt, „Kategorien und Noumena“ könnten durch die „Anwendung auf Anschauungen und auf die Merkmale derselben unmöglich anfangen, etwas außer unsern Vorstellungen realiter Vorhandenes zu werden oder zu bezeichnen“; sie seien „etwas Subjektives und bloß in uns Vorhandenes“.15 Werde, so Schulze weiter, eine Vorstellung auf den Stoff der Anschauung eines Gegenstandes bezogen, so bleibe „auch nach dieser Anwendung noch ungewiß, ob er sich wirklich auf etwas außer uns beziehe“, und der Stoff werde „nur mit mehreren Prädikaten, als vorher gedacht, nämlich mit dem Prädikat einer denkbaren Beziehung auf ein absolutes Subjekt, das selbst wieder außer unsern Gedanken nichts ist“.16 Die Beziehung dieser Position zu der Falks ist offenkundig. Dass die kritische Philosophie entgegen ihrem Anspruch kein objektiv gültiges Wissen begründen könne, ist auch die Pointe dessen, was Falk durch Knipperdolling mitteilen lässt. Und ebenso stimmt er mit Aenesidemus darin überein, dass die Vorstellung aufgrund des fehlenden Realitätsbezuges nur auf ein vorstellendes „Subject an sich“ (Falk) beziehungsweise „absolutes Subjekt“ (Schulze) zurückverweisen könne. Dieses „Subject an sich“ beziehungsweise „reine Ich“ wird, wie gleich noch zu zeigen ist, ein weiterer Gegenstand der Falkschen Polemik sein. Und schließlich: wie Schulze aus der Kritik an Reinhold (1757–1823) und Kant eine skeptizistische Konsequenz ziehen will, so wird der kritischen Philosophie in der satirischen Darstellung Knipperdollings auch eine skeptizistische Konsequenz zugeschrieben, wenn es immer wieder heißt, es „scheine“ so oder so zu sein beziehungsweise es sei „möglich, dass…“, aber eine affirmative Aussage über Sachverhalte könne nicht gerechtfertigt werden. An einer Stelle übt Knipperdolling sogar die skeptizistische Epoché, wenn er auf eine Problemschilderung antwortet „Suspendire mein Urtheil!“17 Aenesidemus übrigens ist dann auch ausdrücklich auf dem „Conterfey“ dargestellt. Der Sache nach käme natürlich auch Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) als Gewährsmann für Falks Sicht auf den Kantianismus in Frage. Der transzendentale Idealist, so heißt es in der bekannten Beilage „Ueber den Transscen15 [Gottlob Ernst Schulze], Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik, Neuausgabe, hg. v. Manfred Frank, Hamburg 1996, 210. 16 Schulze, Aenesidemus, 211. 17 Taschenbuch 1797, 233.

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dentalen Idealismus“ zu der Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787), könne es „nicht einmal wahrscheinlich finden wollen, daß Dinge, die im transscendentalen Verstande ausser uns wären, vorhanden sind, und Beziehungen auf uns haben, die wir auf irgend eine Weise wahrzunehmen im Stande seyn könnten“.18 Er müsse daher „den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist“, behaupten, „und selbst vor dem Vorwurfe des spekulativen Egoismus sich nicht […] fürchten“.19 Die Konsequenz des Kantianismus sei – neben dem Solipsismus – eine „durchgängige absolute Unwissenheit“. Diese Unwissenheit bedeutet mehr als die von Schulze festgestellte Ungewissheit. Für Jacobi hat sie einen Nihilismus zur Folge, dem gegenüber die Position des Skeptizismus geradezu als moderat erscheint. Nun gibt es in Falks Taschenbuch (1798) ein Gedicht „An das Nichts“, das von Jacobis Nihilismus-Vorwurf inspiriert zu sein scheint und auch so verstanden wurde.20 Tatsächlich geht es um die creatio ex nihilo, das Göttliche „Es werde! / Da ward die ganze Welt aus Nichts.“21 Weil der Mensch als sterbliches Wesen nur „der halbe Weg von Gott zum Werde“ sei, gehe er in den Schoß dieses Nichts zurück. Was dazwischen liegt – die Werke der Menschen – ist so gesehen ein Nichts. Vorbild ist hier nicht Jacobi, sondern offenkundig das alttestamentarische Buch Kohelet. Aufschlussreich für Falks Kant-Verständnis ist das Gedicht aus einem anderen Grund; die fünfte Strophe lautet: Selbst philosophische Systeme – / Kant’s Lieblingsjünger, Reinhold, spricht’s – / Von Plato bis auf Jacob Böhme, / Sie waren samt und sonders – Nichts.

Offenbar richtet sich Falks Kritik – wie auch diejenige Schulzes – vor allem gegen Reinhold und, wie wir noch sehen werden, auch gegen Fichte (1762–1814), das heißt gegen deren Versuche, den Kantianismus zu einem in sich konsequenten System umzugestalten, und weniger gegen Kant selbst, den Falk als zwiespältig wahrnahm. Auch in dem Taschenbuch von 1797 wird im Allgemeinen die Kantische praktische Philosophie positiv dargestellt und die Kritik geht ausschließlich auf die theoretische Philosophie: Auch liegt eine Stadt in Preußenland – / Den Leuten d’rinnen gar wohl bekannt – / Ein Weiser lebt in dieser Stadt; / Derselbe viel geschrieben hat. / Ein Buch von diesem Autor, Kant / „Zum ewigen Frieden“ ist genannt. / Und wenn’s nach Kants Prinzipien ging, / Kein Potentat mehr Krieg anfing, / Beglückte nur sein Volk daheim.22

18 Friedrich Heinrich Jacobi, Schriften zum Transzendentalen Idealismus, in: Derselbe, Werke. Gesamtausgabe, Bd. 2,1, unter Mitarb. v. Catia Goretzki hg. v. Walter Jaeschke und IrmgardMaria Piske, Hamburg 2004, 112. 19 Jacobi, Schriften zum Transzendentalen Idealismus, 112; auch das Folgende. 20 Vgl. Demandt, Falk, 271. 21 Falk (Hg.), Taschenbuch 1798, 1–6, hier 1; das folgende Zitat 5. 22 Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 117.

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Dies ist, angesichts seiner massiven Kritik aller Kriege und an den in Blut watenden Majestäten, als eine uneingeschränkt positive Stellungnahme Falks zu werten. An einer Stelle freilich scheint dieses positive Urteil eingeschränkt zu sein. Einen Zornausbruch des Exmarquis nimmt Knipperdolling zum Anlass, ihn wie folgt zu belehren: „Das ist ein böses Zeichen; ein Zeichen, daß der categorische Imperativ noch gar wenig über Sie vermag, und daß Ihr reines Ich dem Nicht-Ich noch gar sehr subordinirt ist.“23 Dies bezieht sich auf Fichtes Fassung des kategorischen Imperativs: „es wird die Uebereinstimmung des Objects mit dem Ich gefordert; und das absolute Ich, gerade um seines absoluten Seyns willen, ist es, welches sie fordert“.24 Indem Fichte die Absolutheit des Ich zum Grund und zur Befugnis des kategorischen Imperativs erklärt, macht er ihn im Grunde zu einem Problem der theoretischen Philosophie. Hierauf, nämlich auf die Annahme eines reinen im Unterschied vom empirischen Ich, bezieht sich denn auch durchgängig Falks Kritik und nicht auf Kants Fassung des Imperativs. Die Kritik Falks an der theoretischen Philosophie Kants und der Kantianer wird im weiteren Verlauf des Gesprächs zwischen dem Exmarquis, Knipperdolling und dem Kammerjunker entfaltet. Der Kammerjunker legt ein Bekenntnis ab „für das dogmatische System und für den Optimismus“,25 also für Leibniz und die Leibniz-Wolffische Schule, während der Exmarquis für Spinoza Partei ergreift. Der Kammerjunker, der in dieselbe Frau verliebt ist wie der Franzose, will das nutzen, um den Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Er habe keinen Grund zur Eifersucht, da es gleichgültig sei, ob „das Universum bei Mamsell Babe durch mich oder durch Sie sich modificiert […], da Kinder im Grunde doch nichts weiter sind, als verschiedne Modificationen von einer und derselben Grundursache“.26 Knipperdolling widerspricht energisch: alles in der Welt sei nicht Modifikation, sondern Apperzeption: „Sie selbst, gnädiger Herr, sind eine Apperception! Dero künftige Frau Gemahlin ist die zweyte Apperception, und das, was wir Abkömmlinge nennen, sind weiter nichts, als ganz kleine Apperceptionen.“27 Nachdem der Kantianer Leibniz (1646–1716) als „Narr“ und Spinoza (1632–1677) als „Tollhäusler“ geschmäht hat, fallen seine Gesprächspartner über ihn her, werden aber von Knipperdolling verprügelt. Der hingegen wäscht seine Hände in Unschuld und verweist den Spinozisten an seine eigene Lehre: „Was kann ich dafür, daß die erste Grundursache sich selbst so

23 Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 233f. 24 Johann Gottlieb Fichte, Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Neudruck Berlin 1971, Bd. 1, 260 („Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“). In einer Anmerkung identifiziert Fichte diese Aussage mit Kants kategorischem Imperativ. 25 Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 234. 26 Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 237. 27 Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 237f.

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nachdrücklich an Ihrer Nase modificierte.“28 Der Leibnizianer wird entsprechend beschieden: „Alles, was geschieht, geschieht auf ’s beste.“29 Damit ist das Fass zum Überlaufen gebracht und der Kammerjunker und der Exmarquis verprügeln den Kantianer, der über die Schmerzen und blauen Flecken wehklagt. „Nicks als Apperception, mon ami“,30 sagt der Franzose, der dem flüchtenden Knipperdolling schließlich nachruft: „Sie muß sick nit fluch’! Muß sick sein denk’ an die Moralgesetz in die Formel von die Realität: Menschen-Ich, du sollst nit seyn Nicht-Ick!“31

Johann Daniel Falks Kant-Satire 1797, in: Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, Nebst einem saubern Conterfey auf die Kantische Philosophie, hg. v. demselben, Leipzig 1797. https://www.musenalm.de/bilder/alm-2823/alm-2823-72914.jpg (Letzter Zugriff 09. 04. 2021).

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Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 240. Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 240. Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 241. Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 242.

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Detail aus: Johann Daniel Falks Kant-Satire 1797.

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3. Das Verhältnis des Menschen-Ich zum reinen Ich ist in dem Taschenbuch eigens Gegenstand eines Gedichtes in Knittelversen mit dem Titel: „Versuch einer neuen Art von Dedication nach kritischen Prinzipien von Casparus Dominicus an Ebendenselben“:32 Dem Herrn Casparus Dominik, / Magister der Metaphysik, / Der Zier des deutschen Vaterland’s, / Dem allergrößten Schüler Kant’s, / Dem ersten Denker in Ingolstadt / In allertiefster Ehrfurcht naht / Mit diesem kleinen Büchlein sich / Des Herrn Magisters / reines / Ich.33

Falk spielt hierbei mit einer Verkehrung, denn das reine Ich ist der Bewunderer des Magisters, so dass das empirische Ich zum Ideal des reinen Ich gemacht wird und das reine Ich nicht als das zu erstrebende Ziel und der Grund des empirischen Ich erscheint, sondern als dessen Projektion zum Zwecke eitler Selbstbespiegelung. Der Spiegel erweist sich jedoch, wie im Märchen, als eigensinnig. Er sagt nicht nur das, was der Magister hören will. Denn das reine Ich bekennt sich sogleich zu Christian Wolffs (1679–1754) Theorie der angeborenen Ideen und ist auch mit den Grundsätzen der theoretischen Philosophie Kants nicht im Reinen: Die Achtung – die ich vor Dir hatte – / Und Ehrfurcht sind, mich dünkt, innatae; / Denn von dem ersten Lebenstag / Gar wohl ich sie datiren mag: / Drob folg’ ich hierin Wolfs System, / Sieht jeder leicht das Quam ob Rem. / Noch giebt es einen Punkt im Kant, / An den nicht reichet mein Verstand. / Da lehrt Er mich geflissentlich: / ‚Man kenne hier kein Ding an sich / Und das, was man davon erkennt, / Er Phänomen, Erscheinung‘ nennt. / Wie, Dominik, ich kennte Dich, / Dein Ich, nicht als ein Ding an sich? / Wär’st – risum teneas amice!34 – / Dir selbst Erscheinung, Dominice! / So käm’ ja ohn’ ein ‚reines Ich‘ / Und ‚Nicht Ich‘ noch ein drittes ‚Ich‘ / Und viertes gar zuletzt heraus. – / Da wird kein Teufel klug daraus. / Sonst hab’ ich brav, wie sich’s gebührt, / Mich in’s System hineinstudiert. / Absonderlich ich gut gefaßt, / Was Du von Kant geschrieben hast. – / Ich läugn’ es nicht, dein Kommentar / Ist außer Mir – sonst Niemand klar.35

Das reine Ich des Magister Dominik erweist sich als transzendentale Verdoppelung seines empirischen Ich. Es schleppt nicht nur die Zweifel mit, die Dominik offenbar mit seinen nur ihm selbst verständlichen Kommentaren abzutöten versuchte, es potenziert die Eitelkeit seines empirischen Grundes, des Dominikschen Menschen-Ichs, auch dadurch, dass es sich selbst bespiegelt und in reine Selbstliebe verfällt, die wiederum das empirische Ich verklärt:

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Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 87–99; hier 87. Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 89f. „Halte das Lachen, Freund!“ (Anspielung auf Horaz, Ars poetica, 5) Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 92f.

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Bald spürt’ ich einen Liebestrieb / In mir, trotz dem Moralprinzip. / Doch war das Phänomen nicht thierisch, / Wie bey dem Pöbel! und empirisch. / Was mich versetzt in Liebesqual, / War geistig-rein-transcendental. / In meinem reinen Ich entdeckt’ / Ich meiner Leidenschaft Object. / Was half es? Mit dem Imp’rativ / Der Sittlichkeit ging’s dennoch schief. / Ihr wißt, Gelegenheit macht Diebe; / Die Liebe ward zur Eigenliebe. […] Im Sonnen- und Planetenkreis / Hängt kein Geschöpf so liebeheiß / An Dir, und so inbrünstiglich, / Als Dein getreues, reines – / Ich.36

In der zeitgenössischen Rezeption dieser Knittelverse wird das Gedicht nicht so sehr als Angriff auf Kant, sondern auf den Missbrauch Kantischer Prinzipien wahrgenommen. August Wilhelm Schlegel bezeichnete das Gedicht in seiner lobenden Rezension des Taschenbuchs als „eine drollige Parodie auf den Unfug, der hier und da mit der Kunstsprache des kritischen Systems getrieben wird“.37 Auch die der damals „neuesten“ Philosophie feindliche Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek schreibt, der Missbrauch der Prinzipien Kants habe Falk die Nahrung verschafft.38

4. Auch das „Conterfey“ selbst, zu dem ich abschließend komme, scheint sich mehr gegen die Kantianer als gegen Kant zu richten. Ihm ist ein erläuternder Bänkelgesang beigegeben, der das Geschehen unter Bezug auf die im Bild sichtbaren Ziffern erläutert. Dieser Gesang trägt den barocken Titel: „Die anmuthige Historia von den Affen, dem dicken Manne und einem gewaltigen Drachen; wie auch von dem großen Philosophus, genannt Wolf, und dessen Begräbniß; item, von einem, genannt Immanuel Kant, zum gemeinsamen Nutz der liebenden Jugend. Nebst einem saubern Conterfey. Zu singen nach der Melodey: Es ist gewißlich an der Zeit.“39 Zur Rechten ist ein Haus zu sehen, das von einem „mördrischen Barbier“ bewohnt wird; es „regnet Nasenstüber“ und Vorübergehende werden festgehalten und von Lehrlingen „über den Löffel balbiert“, das heißt betrogen und übervorteilt. Dieses Schicksal ereilt den mit der Nr. 3 bezeichneten Herrn, der offenbar Johann August Eberhard darstellt: „Wie zappelt nicht der arme Wicht / Von hällischem Professor, / Mit halbzerfetztem Angesicht, / Dort unter seinem Messer!“ Ihm wird ein Intelligenzblatt der Jenaischen Litteraturzeitung als Löschblatt hingehalten, also dasjenige Organ, das nicht unerheblich an der Verbreitung des Kantianismus beteiligt war. Ein Packen der frisch gedruckten Literaturzeitung 36 37 38 39

Falk (Hg.), Taschenbuch 1797, 92f. August Wilhelm Schlegel in der Allgemeinen Literatur-Zeitung 2/103 (1797), Sp. 4–6; hier 5. Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek (1797), 156. Taschenbuch 1797, 201. – Die folgenden Zitate 203–214 ohne Einzelnachweis.

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wird gerade aus dem Haus getragen, während man unter dem Dach alte Kleider ausklopft und einen großen Blasebalg betätigt, also im sprichwörtlichen Sinne viel Wind macht, der von dem Lärm der Trompeter auf dem Turm begleitet wird. Das Haus ist die große Fabrik zur Verbreitung des Kantianismus und zur Herabsetzung seiner Kritiker. „Drey schiefe Säulen stützen es; / Vir summus, Aristoteles / Hat olim sie gegründet.“ Es sind die drei Einheiten der Kantischen Kritik: Die Einheit der Handlung, des Ortes (beziehungsweise Raums) und der Zeit, die hier auf Bestimmungen der Aristotelischen Poetik zurückgeführt werden. Die drei Säulen, die wohl zugleich auch für die drei Kritiken stehen, finden eine Entsprechung in den drei Barbierbecken, die am Haus hängen. Das Gleichnis mit den Säulen ist vielleicht so zu deuten, dass das Gebäude des Kantianismus noch ein Aristotelisches Fundament hat (wenngleich ein schiefes) und ihm insofern jedenfalls noch ein Wahrheitsmoment zugrundeliegt. Das Gegenbild zum Haus, in dem viel Wind und Lärm um Kants Lehre gemacht wird, ist links zu sehen: Kant steigt in einem Luftballon / Zu höheren Regionen. / Ihm winken Zeno, Mendelssohn / Und Wolf und die Platonen. / Seht dort an des Olympus Fuß, / Wie Kant, verklärt zum Genius, / In ihre Arme gleitet. Beck, Reinhold, Jacob, Heydenreich, / Die Schiller, Fichte, Schütze – / Da schreiten sie, mit Kant zugleich / Verklärt, zum Göttersitze.

Die Ambivalenz dieser Verse ist deutlich. Kant und mit ihm prominente Repräsentanten des Kantianismus entschweben in höhere Regionen und nehmen ihren Platz unter den Göttern ein, während seine Lehre (und auch die seiner mit ihm auf den Olymp versetzten Nachfolger) unter den Sterblichen Unheil anrichtet. Der große Papierdrachen, der offenbar nur durch die Windmaschine der Nachbeter Kants in der Luft gehalten wird, ist aus den drei Kritiken Kants zusammengeleimt: es ist – aus der Sicht Falks – der vergebliche Versuch einer Systematisierung: Dem Hause gegen über steigt / Aus Druckpapier ein Drache, / Den flickte sich die Jüngerschaft / Aus Kants Kritik der Urtheilskraft / Und der Vernunft zusammen. Im Schweife schimmern hell – obgleich / Mit halberborgtem Lichte – / Schulz, Reinhold, Jacob, Heydenreich, / Schmidt, Fülleborn und Fichte.

Die Namen weiterer Repräsentanten der neueren und neuesten Philosophie – bis hin zu Schelling – sind zu lesen, am Ende sehen wir die vier Kategorien; ein „dicker Mann“, „Der die Categorien / Sich anzugreifen unterstand“ wird, an der Kategorie der Quantität hängend, dem „Erdreich […] enthoben“, Symbol dafür, dass es sich nicht mehr um eine bodenständige Philosophie handelt, aber auch nicht um eine in höheren Regionen sich frei bewegende, denn der Drachen fliegt, wie gesagt, nur durch den Wind, den die Jünger Kants selbst erzeugen. Es hilft

Johann Daniel Falks Kant-Satire

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auch nichts, dass am anderen Ende des Schwanzes, gegenüber dem dicken Mann, eine große Blendlaterne hängt, die von dem herbeigelaufenen Volk bewundert wird, aber – zum Leidwesen der Kantianer – kein Licht mehr spendet. Auf der Laterne steht: „Commentar zu Kant, / Nebst einem Wortregister“. Trotz Wind, Lärm und Geschrei der Kantianer ist abzusehen, dass sich ihr Flickwerk nicht halten kann. Mit einer an den Griffen verlängerten Schere wird der Drachen zum Absturz gebracht, und der dies tut, ist kein Geringerer als Aenesidemus-Schulze: Wie heißt er, der den kühnsten Streich / Geführt? – – Aenesidemus. / Die Herr’n Magister werden bleich; / Die Patres schreyn: Oremus! / Schon hängt der luft’ge Drache schief, / Schau „Sittlichkeit und Imp’rativ / Und Nicht-Ich“ dort am Boden!

Kants Genius – seine Person und der Geist seiner Philosophie – hat, so scheint es, mit alledem nichts zu schaffen. Das wird noch einmal dadurch unterstrichen, dass er ein „Affenvölkchen“, das mit auf den Olymp wollte, zurück auf die Erde warf: Doch ließ, zum Trost im Herzeleid, / Kants Genius Perücke, / Haarbeutel und Professorenkleid / Dem Affenvolk zurücke. / Seht dort am Sumpf den kleinen Troß, Und wie geschäftig klein und groß / Sich damit ausstaffieret!

Dieses Bild bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Während die Affen sich der von Kant hinterlassenen Äußerlichkeiten annehmen, wird im Hintergrund die Schulphilosophie zu Grabe getragen: „‚Hier ruht in Gott der Freyherr Wolf!‘ / steht auf des Sarges Deckel.“ Der Leichenzug, begleitet von einem Schwarm Raben, die dem „abgeschiedenen System“ ein „heis’res Requiem“ singen, bewegt sich zu dem, was Falk den „kleinen Golf“ nennt, zu dem der Abort der Zugang ist. Anders gesagt: Christian Wolffs System landet nach dem Willen der Kantianer in der Jauchegrube, während Wolff selbst Kant auf dem Olymp erwartet. Nicht weniger drastisch geht es im Vordergrund des Bildes zu: Abseiten des geheimen Golfs / Ein Herr und Mönch sich zanken. / Der Herr versetzt ihm eins mit: ‚Wolfs / Vernünftigen Gedanken.‘ Der Mönch hingegen schnürt ihm fest / Den Hals zu, und gibt ihm den Rest / Mit: ‚Kant, zum ew’gen Frieden.‘

5. Es scheint, als kritisiere Falk im Allgemeinen die System- und Jüngersucht, denn die Genien Kants und Wolffs werden durch das, was aus ihren Gedanken gemacht wurde, nicht beschädigt: Nur das abgeschiedene System Wolffs wird zu Grabe getragen, und der Absturz des von Kants Jüngern zusammengeleimten Systems

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Andreas Arndt

ist schon absehbar. Was bleibt, ist eine gesunde Skepsis, für die AenesidemusSchulze steht, und die ebenso wie das Kantische auch das Wolffische und alle möglichen anderen Systeme trifft. Im Blick auf Johannes Daniel Falks Verhältnis zu Kant besteht die Pointe aber darin, dass Schulze den Skeptizismus als eine seiner Auffassung nach immanente Konsequenz des Kantianismus entwickelt hat; Falk kann daher, mit Schulze, der Kantischen Philosophie auch auf theoretischem Gebiet etwas abgewinnen. Was darüber hinaus von Kant für Falk Bestand hat, ist der moralische Rigorismus, der für ihn die unbedingte Aufforderung einschließt, furchtlos immer und überall die Wahrheit zu sagen. Der Kritiker Falk ist der lebendige kategorische Imperativ auf Reisen.

Christian Strasser

„Das Nichts im Wiederhalle“. Die ‚Nachtwachen von Bonaventura‘ als transzendentalpoetisches Echo auf die Philosophie Kants Life’s but a walking shadow; a poor player, That struts and frets his hour upon the stage, And then is heard no more: it is a tale Told by an idiot, full of sound and fury, Signifying nothing. Macbeth, William Shakespeare1 The most ingenious way of becoming foolish is by a system. Lord Shaftesbury2 Das […] Physische des Lebens bleibt demnach eine Kleinigkeit. Geburth und Tod sind Anfang und Ende eines Auftritts, in dem nur die Moralitaet erheblich ist, und zwar auch nur so, daß […] man ihr nicht entgegen handle. Immanuel Kant3 „Pfeifen will ich,“ sagte der Mann trozig, „hätte mich nur der Dichter nicht selbst mit ins Stück verflochten als handelnde Person; das verzeih ich ihm nimmer!“ „Um so besser!“ rief ich, „da giebt es wohl gar noch zu guter lezt eine Revolte im Stücke selbst, und der erste Held empört sich gegen seinen Verfasser.“ Bonaventura / Ernst August Klingemann4

1.

Wie man das Andenken Kants ehrt

Die Textgeschichte der Nachtwachen. Von Bonaventura beginnt justament in dem Jahr, in dem Kants Lebensgeschichte ihr Ende fand. Als der „Prolog des Hanswurstes zu einer Tragödie: der Mensch *)“5 am Sonnabend des 21. Juli 1804 in der 1 William Shakespeare, Macbeth, Zweisprachige Ausgabe. Neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther, München 62006, Akt 5, Szene 5, Verse 24–28. 2 Lord Shaftesbury zit. n. Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, Gloucestershire 1999, 291. 3 Immanuel Kant, Reflexionen zur Metaphysik, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 17, Berlin 1914, 473. 4 Ernst August Klingemann, Nachtwachen. Von Bonaventura, Göttingen 2012, 37. 5 Das Sternchen beim Mensch*) weist den Prolog des Hanswurstes aus als „Fragment aus einem noch ungedruckten Roman: Nachtwachen von Bonaventura“. Vgl. Karl Spazier (Hg.), Zeitung für die Elegante Welt, 21. Juli 1804, Sp. 691.

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Leipziger Zeitung für die Elegante Welt erscheint, liegt Immanuel Kant bereits 5 Monate im kalten Grab. Merkwürdigerweise findet sich in derselben Ausgabe der Eleganten, unmittelbar nach dem Prolog des Hanswurstes, eine kurze Notiz aus Königsberg, deren Titel die Leser darüber informiert: „Wie man Kants Andenken ehrt.“ Worüber man sich darin empört, ist die Tatsache, dass das Haus, in dem Kant den Großteil seines Lebens verbracht hatte, binnen weniger Monate an einen „Kaffetier“ verkauft worden war, der die Wohnstätte desjenigen, vom dem „die philosophische Reform der Erde ausging“, in ein Billardlokal umfunktionierte, in dem statt gedacht, gesoffen wird und auf dem statt einer sein Andenken ehrenden Inschrift die Aufschrift steht: „Au Billiard royal“. Ob Kant, der angeblich sein Studium durch Billardturniere finanziert hatte, die „Schmach dieser Entheiligung“ auch so tragisch genommen hätte, sei dahingestellt. Ich erwähne diese Notiz jedenfalls deshalb, weil der Dichter der Nachtwachen durchaus jemand war, der einerseits Kants Andenken in Ehre und vor allem dessen Gedanken in Erinnerung hält und der andererseits nicht davor zurückschreckt, dieser Ehre den Nimbus des Sakralen zu nehmen und sie zu profanieren. Um sich der Worte des Protagonisten der Nachtwachen zu bedienen, lässt sich das ambivalente Verhältnis der Nachtwachen zu Kant als das einer andächtigen Blasphemie oder als fromme Lästerung beschreiben, wenn dieser von sich sagt, „dass z. B. der Papst selbst beim Beten nicht andächtiger sein kann, als ich beim blasphemiren“.6 Es ist nicht nur das zeitliche Naheverhältnis zwischen der Niederschrift der Nachtwachen und dem Ableben Kants, das bei einem abergläubisch gestimmten Leser den Eindruck erwecken könnte, als habe sich, während der Himmelfahrt in das Pantheon philosophierender Geister, ein böser Dämon von Kants unsterblicher Seele abgespalten, um in den bangen, nachtdurchwachten Stunden seiner Läuterung in grotesk verzerrter Weise zu Papier zu bringen, was den Genius Kant zu Lebzeiten beschäftigte. Als eine Art philosophischer Albtraum, geboren aus den Zerwürfnissen, in die das Selbstbewusstsein durch die zermürbenden Reflexionen des Königsbergers gestürzt worden war, legen die Nachtwachen ein beredtes Zeugnis von dem in Kants Philosophie latent schlummernden Nihilismus ab. Hier werden die Nachtwachen jedenfalls les- beziehungsweise hörbar gemacht werden als ein Echo, das gleichzeitig ehrenbezeugender Nachruf als auch nachträglicher Widerruf ist: „weiß man doch nicht zu unterscheiden ob es bloß äfft, oder ob wirklich geredet wird“.7 Der kritische Modus, in dem Kant die überkommene Metaphysik abschätzt,8 findet in den Nachtwachen seine Wiederkehr als regelrechte Endzeitstimmung, 6 Klingemann, Nachtwachen, 51. 7 Klingemann, Nachtwachen, 128. 8 „Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen, gewesen sei.“ Immanuel Kant, Kritik der reinen Ver-

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in der sich das apokalyptische9 Gedankengut des Aufklärers in grotesker Weise verdichtet, gegen sich selbst wendet und – pervertiert – als Enthüllung des Nichts sich offenbart, das am Ende aller entlarvenden Aufklärung übrigbleibt. In solcher (post-)apokalyptischen Nacht, in der selbst das Ende aller Tage nur als „pseudojüngster Tag“10 inszeniert wird, findet sich ihr völlig entzauberter Wächter, der über das leere Versprechen der Aufklärung wacht: „Gebt der Wahrheit die Ehre, was habt ihr vollbracht, das der Mühe werth wäre? Ihr Philosophen z. B. habt ihr bis jezt etwas Wichtigers gesagt, als daß ihr nichts zu sagen wüßtet? – das eigentliche und am meisten einleuchtende Resultat aller bisherigen Philosophien!“11 Indes bildet dieser das sokratische Diktum vom wissenden Nichtwissen unprätentiös beim Wort nehmende Affront lediglich die Spitze einer das ganze Buch durchziehenden fulminanten Absage an alle sinnstiftenden Instanzen universalistischen Anspruchs. Damit platzieren sich die Nachtwachen im Fundament einer literarischen Moderne, die sich anschickt, den Menschen, wie er sich zu kennen glaubte, aus den Angeln seines Selbstverständnisses zu heben. Vollkommen desillusioniert geht ihr Blick auf eine „von aller behaupteten Glorie verlassene menschliche Kreatur“12 und sonst: Nichts! Literaturgeschichtlich markiert das Jahr 1804 das Ende der Frühromantik und tatsächlich bilden die Nachtwachen das poetische Symptom einer entscheidenden Zäsur, an dem sich das realgeschichtliche Scheitern der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und ihrer philosophischen Entsprechung, der Aufklärung wie in den Splittern eines Scherbenspiegels ablesen lässt. Das Zeitalter der Aufklärung zeigt sich hier vor allem als Zeitalter der großen Enttäuschungen. Während Kant 1798, in einer seiner letzten Veröffentlichungen, den Enthusiasmus vieler Deutscher für die Französische Revolution noch als Symbol des Fortschritts deuten konnte und sich mit Blick auf die politischen Umwälzungen der Zeit dafür entschied, die Frage, „ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“,13 mit ‚Ja‘ beantworten zu können, verfiel dieser Enthusiasmus, spätestens nachdem die Revolte in Terror und Gewalt-

9 10 11 12

13

nunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998. Im Folgenden nach der Paginierung der ersten Auflage 1781 (A) und der zweiten Auflage 1787 (B) zitiert. Hier: B XV. ‚Apokalypse‘ bedeutet wörtlich: ‚Enthüllung‘, ‚Entschleierung‘, ‚Offenbarung‘ und bezeichnet in diesem Sinne ein grundlegendes Interesse der Aufklärung. Klingemann, Nachtwachen, 54. Klingemann, Nachtwachen, 51. [Anonymus], Die Narrenkappe des Autors, in: Neue Zürcher Zeitung, 21. Mai 2005,URL: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleCM35P-1.138043, Zugriff: 14. 8. 2022. (Der Autor dieses Artikels scheint es dem der Nachtwachen gleichzutun und hat es offenbar vorgezogen, unerkannt zu bleiben.) Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, AA 7, Berlin 1914. Im Folgenden zitiert als Fakultäten. Hier: AA 7, 14.

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herrschaft eskaliert war, schon bald in Resignation über die Hoffnungslosigkeit der Zustände. In dem zynischen Realismus der Nachtwachen wird, was ein paar Jahre zuvor von Kant noch als aussichtsreiches „Geschichtszeichen“14 gedeutet werden konnte, jetzt als groteske Farce sichtbar: „Wir hatten unsere Bühne […] nahe an der französischen Grenze, aufgeschlagen. Sie gaben drüben grade die große Tragikomödie, in der ein König unglücklich debütirte, und der Hanswurst, als Freiheit und Gleichheit, lustig Menschenköpfe, statt der Schellen, schüttelte.“15 Das optimistische Bild, das aufklärerische Perfektibilitätsvisionen und der geschichtsphilosophische Fortschrittsoptimismus eines Immanuel Kant von der vielversprechenden Zukunft einer rational sich selbst verwaltenden Gesellschaft zeichneten, hatte deutliche Risse bekommen. Und diese Risse zu kitten und inmitten der soziopolitischen Missstände eine finale Rettung der Welt zu bewahren, vermochten jetzt auch die frühromantischen Versprechen der Universalpoesie nicht mehr. Anstatt in ihr sein „Unterkommen“ zu suchen, geht der Nachtwächter „blos noch um die Poesie herum“16 und stellt sich mit seinem „antipoeticum“17 auf das leer gewordene Piedestal des philosophisch-literarisch beschworenen Fortschritts. In einem Aufwasch erledigen die Nachtwachen den „Heiligenschein moderner Kunstreligion und einen in dessen Licht sich sonnenden und bespiegelnden Menschen“.18 Die Nachtwachen, das dürfte mittlerweile klar geworden sein, wollen keine schöne Poesie mehr sein, die „poetische Leuchtkugeln zum Vorschein“ bringen, um in mimetischer Absprache mit der Wirklichkeit „das Terrain zu rekognosciren“, sondern sie verstehen sich als, „Bomben um zu zersprengen und verheeren“.19 Sie sind, wie Feger bündig zusammenfasst, „ein Werk der Verneinung: antichristlich, antistaatlich, antibürgerlich“.20

2.

Kurzer Überblick über die Rezeptionsgeschichte

Gemeinhin werden die Nachtwachen wegen ihrer rücksichtslosen und vor nichts zurückschreckenden Klarheit als ein Schlüsseltext des poetischen Nihilismus betrachtet,21 in dem ein sehr frühes Zeugnis davon abgelegt wird, wie die Exzesse des 14 15 16 17 18 19 20

Kant, Fakultäten, AA 7, 84. Klingemann, Nachtwachen, 122. Klingemann, Nachtwachen, 15. Klingemann, Nachtwachen, 14. [Anonymus], Die Narrenkappe des Autors, 1. Klingemann, Nachtwachen, 59. Hans Feger, Das Groteske in Bonaventuras ‚Nachtwachen‘, in: Ulrich Breuer und Nikolaus Wegmann (Hg.), Athenaeum, Berlin 2007, 51–77, 55. 21 Sie sind etwa nach Engel „eine sehr frühe Abrechnung mit dem Weltbild und der Ästhetik der Romantik“ (Manfred Engel, Auf der Suche nach dem Positiven. Die Kritik an Subjektivismus

Bonaventuras ‚Nachtwachen‘ als transzendentalpoetisches Echo

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Deutschen Idealismus und die prätentiösen Ansprüche romantischer Weltbewältigung im Getriebe einer grundlegend verkehrten Wirklichkeit zerbersten. Doch greifen sie durch ihre progressive Desillusionierung einer von jeglichem Sinn und Zweck radikal entleerten Welt und ihrer Bewohner, die dadurch die Absurdität ihrer Existenz erfahren haben, zu weit in die Moderne vor, als dass sie sich auf einen „nur nihilistischen oder grotesken Gelegenheitstext von der ‚Nachtseite‘ romantischer Weltanschauung“22 beschränken ließen. Auch sind sie für eine derartige Schubladisierung schlichtweg zu enigmatisch23 und so wurde dieser sogenannte Roman zu Recht als „eine der rätselhaftesten Dichtungen der […] Literaturgeschichte“24 bezeichnet, die die Interpretation seit ihrem Erscheinen vor gut 200 Jahren in hermeneutische Verlegenheiten bringt.25 Dabei liegt vielleicht gerade

22 23

24 25

und romantischer Romanform in Klingemanns ‚Nachtwachen‘ und Immermanns ‚Münchhausen‘, in: Günter Blamberger, Manfred Engel und Monika Ritzer (Hg.), Studien zur Literatur des Frührealismus, Frankfurt am Main 1991, 17–44, 17). Auch nach Arendt firmieren die Nachtwachen als eine negativ verlaufende „Inventur […] des frühromantischen Enthusiasmus“ unter dem Schlagwort des Nihilismus (Dieter Arendt, Der ‚poetische Nihilismus‘ in der Romantik, Tübingen 1972, 45). [Anonymus], Die Narrenkappe des Autors, 1. Denn sie widerstreben laut Küpper „der historischen Einordnung ebenso wie dem eindeutigen ästhetischen Urteil. Ihr geschichtlicher Ort ist die Schwelle zwischen Früh- und Spätromantik, und doch ist es zweifelhaft, ob ihr Verfasser im engeren Sinne ‚Romantiker’ war.“ (Peter Küpper, Unfromme Vigilien. Bonaventuras ‚Nachtwachen‘, in: Herbert Singer und Benno von Wiese (Hg.), Festschrift für Richard Alewyn, Köln 1967, 309–327, 309.) Thomas Böning, Widersprüche. Zu den ‚Nachtwachen. Von Bonaventura‘ und zur Theoriedebatte, Freiburg 1996, 97. Vielleicht liegt hier bloß das abstruse Machwerk eines Dilettanten vor und die Nachtwachen wären in ihrer „kunstlosen, ja gedankenlosen Ungebundenheit und schülerhaften Unausgeglichenheit“ als das bloße Gelegenheitsprodukt eines erhitzten Grillenfängers zu betrachten (Franz Schultz, Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. Untersuchungen zur deutschen Romantik, Berlin 1909, 130). Vielleicht aber sind sie, einer konträren Einschätzung zu Folge eines der „besten und aufregendsten poetischen Prosawerke der Frühromantik“ (Richard Brinkmann, Nachtwachen von Bonaventura: Kehrseite der Frühromantik?, Stuttgart 1966, 3). Kein Wunder also, dass die zahlreichen Versuche, sich dieser viel umrätselten Dichtung literaturtheoretisch zu bemächtigen und sie auf einen einhelligen Bezugspunkt hin zu fixieren, sich in eklatante Widersprüche verlaufen: Während Schillemeit die Nachtwachen als schlecht ausgeführte Satire betrachtet und in dem „wie Scherben durcheinanderliegenden Haufen“ von Motiven nicht „irgendein eigentümliches Kompositionsgeheimnis“ (Jost Schillemeit, Studien zur Goethezeit, Göttingen 2006, 402) zu finden geneigt ist, hält Katritzky die Nachtwachen für das Paradebeispiel einer „menippean satire“ (Linde Katritzky, Defining The Genre Of Bonaventura’s Nachtwachen, in: German Life and Letters 52 (1999), 13–27, 26), die sich der systematischen Frage nach ultimativen Wahrheiten verschrieben habe. Für Sammons hingegen bedeutet „the reduction of the text to satire“ eine „devaluation“ (Jeffrey L. Sammons, In Search of Bonaventura: The Nachtwachen Riddle 1965–1985, in: The Germanic Review 61 (1986), 50–56, 54) und auch bei Barbara Rösser geraten die Nachtwachen als Anti-Satire und als Beispiel „nihilistischer Weltflucht und subjektivistischer Innerlichkeit“ (Barbara Rösser, Satire und Humor bei ETA Hoffmann. Eine Untersuchung der historischen und poetologischen Grundlagen und die Realisation im Werk, München 1976, 76) unter den Generalverdacht des Nihilismus, den so viele Interpreten bereitwillig teilen. Dem wiederum widerspricht Mielke und ihm zufolge ist

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darin ihre unverbrauchte Attraktionskraft für die heutige Leserschaft. Als provozierender Text voller Widersprüche versperren sich die Nachtwachen jedenfalls einer literaturhistorischen Beschränkung auf einen internen Kommentar ihrer Zeit und stehen mit ihrer bis dato unbekannten Irritation des Menschen in seinem bürgerlichen Selbstverständnis am Beginn einer literarischen Entwicklung, die sich über den Surrealismus bis zu Beckett (1906–1989) nachverfolgen ließe. Die Unstimmigkeit der Einschätzungen ist frappierend und rührt nicht zuletzt daher, dass das größte Rätsel, welches als mysteriöse Aura die Nachtwachen umgab, die längste Zeit ungelöst blieb. Wie Hans Feger herausgearbeitet hat, hätte es der Literaturwissenschaft fast zum neuen Lehrstuhl einer „Kriminalphilologie“26 verholfen und es ist der skandalöse Dorn im Auge des Hermeneutikers, dass etwas (zumal für die Beurteilung einer Dichtung scheinbar ganz Unentbehrliches) fehlt: der Name des Dichters. Zum Kopfzerbrechen der Interpreten erscheint auf dem Titelblatt, anstelle des bürgerlichen Namens eines sich verantwortlich zeichnenden Subjekts, nur ein mysteriöses: von Bonaventura, was nicht einmal ein richtiger Name, sondern selbst schon ein mehrdeutiges, auf alles Mögliche verweisendes „Textchen“27 ist. Mit der pseudonymen Herausgabe erfüllte der Dichter der Nachtwachen, was der Hanswurst in seinem Prolog den „handelnden Personen“ der „Tragödie: der Mensch“ verspricht: sie nämlich alle „recht toll in einander zu verwirren, daß sie gar nicht klug aus sich werden“.28

eine Interpretation der Nachtwachen „als nihilistisch a priori unmöglich“ (Andreas Mielke, Zeitgenosse Bonaventura, Stuttgart 1984, 1). Auch für Brinkmann wird der potentiell durchaus vorhandene Nihilismus von der „entschiedensten Praktizierung der Ironie“ (Brinkmann, Kehrseite, 26) noch überwunden. Ironie aber, so hält Gillespie es für ausgemacht, darf bei der Deutung dieses rätselhaften Textes nicht die „rationale“ (Gerald Gillespie, Bonaventura’s Romantic Agony: Prevision of an Art of Existential Despair, in: MLN 85 (1970), 697–726, 704) sein. Denn, folgt man der Einsicht Fegers, handelt es sich um eine „Ironie, die, statt sich zu überbieten, nicht mehr Ironie sein will.“ (Feger, Das Groteske, 60) Auch hinsichtlich einer philosophischen Interpretation entzweien sich die Geister. Während Engel glaubt, dass die Nachtwachen ganz „offensichtlich […] die klassische Fragestellung der Transzendentalphilosophie“ (Engel, Auf der Suche, 21) zum Thema haben und auch Katritzky davon überzeugt ist, es handle sich um eine „philosophical survey“ (Katritzky, A Guide, 213), ist es für Kohl wiederum unmöglich, „ein unphilosophisches Werk wie die ‚Nachtwachen‘“ (Peter Kohl, Der freie Spielraum im Nichts. Eine kritische Betrachtung der ‚Nachtwachen‘ von Bonaventura, Frankfurt 1986, 8) mit derart schwergewichtigem theoretischen Hintergrund zu belasten und auch Sammons zweifelt daran, „whether systematic philosophy should be imposed on“ (Sammons, Riddle, 51) die Nachtwachen. 26 Feger, Das Groteske, 53. 27 Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik, Paderborn 2001, 44. 28 Klingemann, Nachtwachen, 72.

Bonaventuras ‚Nachtwachen‘ als transzendentalpoetisches Echo

3.

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Klingemann als Leser Kants

Lange Zeit wurde das Pseudonym Bonaventura als Versteck gewertet,29 hinter dem sich der wahre Autor verschanzt halte und dem es gelte, mit detektivischem Gespür auf die Schliche zu kommen.30 Und ohne die Anwesenheit einer zurechnungsfähigen Autorinstanz, die den Sinn des Textes intentional überwacht, scheinen die Nachtwachen auf keinen kohärenten Fluchtpunkt hinauszulaufen. Sie wurden daher schon für „unzurechnungsfähig“ erklärt und zwangen die Literaturwissenschaft beinahe zum Eingeständnis hermeneutischer Kapitulation: Ohne einen Autor haben wir interpretatives Chaos.31 Und das Chaos, in das eine von der Autorfunktion beherrschte Interpretation gezogen wurde, zeigt sich vor allem an der verhängnisvollen Koppelung der Qualitäts- an die Autorfrage.32 „Literarische Anonymität ist uns unerträglich“33 und die Rezeptionsgeschichte der Nachtwachen sagt uns auch wieso. Erst 1987, nach fast 200 Jahren, stellte sich der Dichter der Nachtwachen endlich durch nachträgliche Selbstanzeige den Behörden der „Kriminalphilologie“. Es handelt sich um den eher zufällig in einem Amsterdamer Archiv aufgestöberten handschriftlichen Eintrag eines gewissen Ernst August Klingemann (1777–1831), der dem Verzeichnis seiner Werke eigenhändig hinzufügt: Nachtwachen. Von Bonaventura und sie damit sein eigen nennt. Hinter der Maske des Bonaventura ist also letztlich dieser klingende Name zum Vorschein gekommen, 29 In aller Klarheit etwa Arendt: „Der Dichter hält sich versteckt hinter einem Pseudonym.“ Arendt, Der ‚poetische Nihilismus‘, 497. 30 So beschäftigte sich die Rezeption der Nachtwachen die meiste Zeit über mit der rastlosen Suche nach der bürgerlichen Identität des Dichters hinter der Maske Bonaventura. Das Fehlen eines Bekennerschreibens wurde meist nur als Mangel gewertet und machte die hermeneutisch ohnehin schon unzugänglichen Nachtwachen zum Tatort eines philologischen Verbrechens. Im Versuch, den Täter anhand von Indizienbeweisen zu identifizieren, förderten die philologischen Detektive einen dementsprechend breit gestreuten Kreis von Verdächtigen zutage. Und so wollte man hinter dem Pseudonym Bonaventura zunächst lange Zeit das Gesicht von Schelling (1775–1854) gesehen haben, aber auch Caroline Schlegel (1763– 1809), E.T.A. Hoffmann (1776–1822), Karl Friedrich Gottlob Wetzel (1779–1819), Clemens Brentano (1778–1842), Jean Paul (1763–1825), Johann Benjamin Erhard (1766–1827), Jens Immanuel Baggesen (1764–1826), Wolfgang Adolph Gerle, Johann Karl Wezel (1747–1819), August Arnold (1789–1860), Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) und sogar Goethe (1749–1832) wurden aufgerufen, die Leerstelle des Pseudonyms zu besetzen. (Diese keineswegs erschöpfende Auflistung möglicher Kandidaten für das Gesicht hinter der Maske des Bonaventura stützt sich auf: Böning, Widersprüche, 97.) 31 „Without an author we have interpretative chaos.“ Sammons, Riddle, 54. 32 Katritzky etwa spricht von den „subtle and largly subconscious ways, in which facts known about an author decisively, if intuitively infiltrate work-reception.“ Linde Katritzky, Decoding Anonymous Texts: The Case of the ‘Nightwatches’ of Bonaventura, in: Monatshefte 95 (2003), 442–457, 443. 33 Michel Foucault, Was ist ein Autor? in: Derselbe, Schriften zur Literatur, München 1974, 7–31, 19.

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der aber – zum Leidwesen mancher Interpreten – hinsichtlich seines sonstigen Schaffens lediglich als poeta minor in Betracht kommt. Aber auch diese nachträgliche Richtigstellung der wahren Autorschaft macht aus den „Nachtwachen von Bonaventura keine Nachtwachen von Klingemann“34 und sie wehren sich schon auf syntaktischer Ebene des Titels gegen eine immer schon zu spät kommende Usurpation ihrer Verfasserschaft. Die urheberrechtliche Zuordnung des Textes von Bonaventura zu dem bürgerlichen Schriftsteller Klingemann wird auch auf inhaltlicher Ebene widerrufen, und zwar von der Behauptung, dass außer der Maske nichts bleibt. Die abgründig-ironische Pointe bestünde demnach darin, dass das Spiel von Verbergung und Enthüllung ein tödliches ist, denn in den Nachtwachen kommt es auch zuletzt zu keiner Aufhellung über das von trügerischen Masken verstellte Antlitz des Menschen. Der Tod gehört vielmehr zur „lezten verfestigten“ Maske, „die nicht mehr lacht und weint – dem Schädel ohne Schopf und Zopf, mit dem der Tragikomiker am Ende abläuft“.35 Nur als Totenmaske wird dem Tragikomiker Klingemann die zweifelhafte Ehre zuteil, Autor der Nachtwachen. Von Bonaventura gewesen zu sein. Doch wer war dieser Klingemann?36 Es ist sicherlich erwähnenswert, dass er zwischen 1798 und 1801 in Jena Jura und Philosophie studierte und durch Vorlesungen bei Schelling, Fichte (1762–1814) und Schlegel (1772–1829) mit dem Denken Kants in Berührung gekommen war.37 Um eindeutige Belege hinsichtlich einer nachweisbaren Kant-Lektüre Klingemanns ist es jedoch sehr dürftig be34 Feger, Das Groteske, 61. 35 Klingemann, Nachtwachen, 73. 36 Schon zur damaligen Zeit, als die heimlichen Nachtaktivitäten dieses Klingemanns noch unbekannt waren, notiert Goethe – der, wie ich erinnern möchte, selbst als Verfasser in Betracht kam – dass dieser Klingemann wohl „zu den merkwürdigen Erscheinungen und Zeichen der Zeit gerechnet werden“ müsse (Johann Wolfgang von Goethe, Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, in 4 Abteilungen, Abt. IV, Bd. 15, Weimar 1912, 93). Wäre man ihm nicht als Autor der Nachtwachen auf die Schliche gekommen und hätte er sich nicht als Theatermann einen respektablen Namen gemacht, würde er als Schriftsteller wohl schon gänzlich der Vergessenheit anheimgefallen sein. Es ist denn auch niemand geringerer als Ernst August Klingemann, der es als erster wagte, Goethes Faust – der lange Zeit als unaufführbar galt – auf die Bühne zu bringen (Uraufführung am 19. Januar 1829). 37 Auch die bekannte Nähe zum Hause Schlegel, wo sich der Kreis der Frühromantiker des Öfteren gesellte, muss für die Skizze einer intellektuellen Biographie in Betracht gezogen werden. Nach dem Auseinanderflattern des Kreises der Jenaer Romantiker, als der Versuch einer künstlerischen Weltbewältigung an der Weltlichkeit der Künstler zerbrach, die Ehen scheiterten und sich die vielversprechende Avantgarde mit dem Weggang ihrer führenden Köpfe endgültig zerstreute, fiel auch Klingemann aus der Traumburg der Jenaer Romantik in die schnöde Wirklichkeit des Philistertums zu Braunschweig zurück (vgl.: Hugo Burath, August Klingemann und die deutsche Romantik, Braunschweig 1948, 76). Damit war 1804 sicherlich die geeignete Ausgangslage geschaffen, um ein so makabres und entzaubertes Werk wie die Nachtwachen entstehen zu lassen.

Bonaventuras ‚Nachtwachen‘ als transzendentalpoetisches Echo

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stellt. Obwohl einige Jahre nach Erscheinen der Nachtwachen datierend, ist folgende Briefstelle von 1810 nichtsdestotrotz von besonderer Charakteristik für den Kant-Bezug Klingemanns, respektive der Nachtwachen. Ich hatte Lust, mich der derben Posse zu unterziehen, die in Deutschland ganz untergegangen ist, aber das feinfühlende und ekele moderne Volk kann über das bloß Lächerliche (das nach Kant in einer in Nichts aufgelösten Erwartung besteht) nicht lachen, ohne nachher zu schimpfen und dummes Zeug! zu rufen. […] Das schwache zerbrechliche Zeitvolk!38

In der entsprechenden Stelle aus der Kritik der Urteilskraft bestimmt Kant tatsächlich das Lachen – und nicht das Lächerliche, wie Klingemann ungenau zitiert – als einen „Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“.39 Es ist für die Nihilismus-Problematik der Nachtwachen durchaus nicht ohne Pikanterie, dass Klingemann ausgerechnet Kants Lachen im Gedächtnis behält, wird dessen Affektlogik darin doch bis zur finalen Konsequenz getrieben.40 Das Nichts, in dem die Nachtwachen münden (wortwörtlich und inhaltlich), ist eben auch ein solches Nichts, in das sich zuletzt alles, vor allem die romantischen Erwartungen, auflösen und verwandeln. Der einzige handfeste Hinweis auf Klingemanns Kant-Lektüre, wie ich sie zeitlich vor dem Erscheinen der Nachtwachen nachweisen konnte, findet sich jedenfalls in der Zeitung für die Elegante Welt, bei der Klingemann nach seinem Studienabbruch in Jena nach 1801 als Schreiberling tätig war. Und auch dieser Beleg ist von geradezu paradigmatischer Komik: Beiläufig gesagt, da Kant den Frauen auch vom Hörensagen bekannt ist, verdient dieser große Verstorbene schon allein durch das eben genannte Werk [die Kritik der Urteilskraft] die Unsterblichkeit da er darin seine Abhandlung über die Schönheit auf eine fast unbegreifliche Weise, ohne allen Kunstsinn, der ihm durchaus mangelte, und blos durch eine in Erstaunen setzende Algebra des Verstandes vollendet hat.41 38 Ernst August Klingemann an Friedrich Ludwig Schmidt, Brief vom 24. April 1810, in: Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg FLS: 172–173. Denkwürdigkeiten des Schauspielers, Schauspieldichters und Schauspieldirectors Friedrich Ludwig Schmidt (1772–1841), nach hinterlassenen Entwürfen zusammengestellt und hg. v. Hermann Uhde. Zweite Ausgabe. Erster Theil, Stuttgart 1878, 297. (Mit freundlicher Genehmigung von Alexander Kosenina, der mir bei der Recherche zu Klingemanns Kant-Bezug von entscheidender Hilfe war und bei dem ich mich an dieser Stelle für seine Mühe bedanken möchte.) 39 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2001. Hier: § 54, AA 5, 332. 40 Denn vom sterbenden Freigeist der ersten Nachtwache, der „blaß und ruhig in das leere Nichts“ (Klingemann, Nachtwachen, 10) schaut, bis zur finalen Friedhofszene der 16. Nachtwache behält das „Nichts“ (Klingemann, Nachtwachen, 136), das sämtliche Sinngebungsversuche durchquert und in das sich die „gespannten“ Erwartungen des „schwache[n] zerbrechliche[n] Zeitvolk[s]“ auflösen, im wahrsten Sinne das letzte Wort. 41 Ernst August Klingemann, in: Karl Spazier (Hg.), Zeitung für die Elegante Welt, 7. Juni 1804, Sp. 542.

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Die „fast unbegreifliche Weise“, in der Kant seine Texte schrieb, entspricht nicht zuletzt den fast unbegreiflichen Problemen, mit denen er sich darin auseinandersetzte und mit denen er – wie wir gleich sehen werden auch in den Nachtwachen – seine Nachwelt konfrontierte.

4.

Auftritt Immanuel Kant! – oder drei Arten von Unsterblichkeit

Anhand der Stellen, an denen Kant expressis verbis in den Nachtwachen vorkommt, wird greifbar werden, wie schwierig es um seine laut Klingemann verdiente Unsterblichkeit bestellt ist. „In der letzen Stunde des Säkulums“ kam dem Nachtwächter Kreuzgang, der von Berufswegen professioneller Vergänglichkeitsapostel ist, die Idee, „mit dem jüngsten Tage vorzuspuken und statt der Zeit die Ewigkeit auszurufen“.42 Im Zuge dieses „falschen jüngsten Tages Lerm“43 beruft sich Kreuzgang dann auf niemand anderen als auf Immanuel Kant, der ihm nolens volens als philosophischer Gerichtsgutachter der „himmlischen Kriminaljustiz“44 zur Seite stehen muss, um alle Träume von Unsterblichkeit durch die Erinnerung an die Zeit beziehungsweise an die transzendentale Ästhetik Kants, zu unterbrechen. Thue jemand unter euch auch nur einen einzigen vernünftigen Vorschlag, wohin man euch [nach dem Ende der Zeit] plaziren soll! Schon der seelige Kant hat es euch dargethan, wie Zeit und Raum nur bloße Formen der sinnlichen Anschauung sind; nun wißt ihr aber daß beide in der Geisterwelt nicht mehr vorkommen; jezt bitte ich euch, die ihr nur allein in der Sinnlichkeit lebt und webt, wie wollt ihr Raum finden, da wo es keinen Raum mehr giebt? – Ja, was wollt ihr gar beginnen, wenn es mit der Zeit zu Ende geht?45

Ob Kant mit dieser Anwendung seiner revolutionären Ästhetik einverstanden gewesen wäre, ist eine jenseitige Frage, denn der „seelige“ Kant war, als die Nachtwachen erschienen, gerade eben aus der Zeit in die Ewigkeit hinübergetreten und wird also posthum herbeizitiert. Doch wird die Seligkeit Kants im selben Satz widerrufen, indem Kreuzgang sie ausspricht, und er vollzieht diesen Widerspruch mit Verweis auf dessen kritische Philosophie. Denn die für das afterlife vorausgesagte Aufhebung von Zeit und Raum erweist sich auf Grundlage der transzendentalen Ästhetik als theoretisch inkommensurables und alle Einbildungskraft empörendes Konzept. Wie soll der für selig erklärte Kant der himmlischen Wonnen teilhaftig sein können, wo es doch gerade nach seiner eigenen Philosophie eine so prekäre Sache mit der Unsterblichkeit ist? Konsequent votiert der Nachtwächter 42 43 44 45

Klingemann, Nachtwachen, 48. Klingemann, Nachtwachen, 49. Klingemann, Nachtwachen, 50. Klingemann, Nachtwachen, 53.

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deshalb für eine um vieles irdischere Art des Fortlebens nach dem Tod, zu deren Beweis wiederum Kant herhalten muss. In seiner „Apologie des Lebens“46 bestimmt Kreuzgang, wo andere „den Kopf oder das Herz“ annehmen, den Magen als „den Sitz des Lebens“47 und leitet aus diesem gastroenterologischen Realismus sogleich eine Unsterblichkeitslehre ganz eigener Art ab: Giebt es eine Seelenwanderung, woran ich nicht zweifle, und fahren die abgeschiedenen Geister […] eben so gut in Blumen und Früchte u. s. w. als in Thiere – wo liegt denn noch anders dieser Verbindungskanal der Geister, als in dem sie verschlingenden Magen, durch ihn steigen sie, nachdem das animalische wieder abgegangen ist, verflüchtigt in den Kopf empor, und es liegt so am Tage, daß wir die größten Weisen, einen Plato, Hemsterhuis, Kant u. s. w. blos durch behagliches Hineinessen in uns aufnehmen können.48

Doch hat auch diese kuriose Seelenwanderungslehre einen Haken. Sie stellt nämlich das Fortleben nach dem Tod unter die heikle Bedingung, dass es nur denjenigen zu Teil wird, deren verschriftlichte Seele sich in Publikationen einen ruhmreichen Namen gemacht hat. Mit dieser Schwierigkeit hat auch jener der „Zweideutigkeit halber“ vom Nachtwächter festgehaltene Poet zu tun, der ihm gegenüber sein Dilemma offen bekundet: „Mein Freund! […] Ich seze der Unsterblichkeit nach, und werde von ihr nachgesezt! Er selbst wird es wissen, wie schwer es ist berühmt zu werden, wie noch unendlich schwerer aber zu leben.“49 Gemessen an seinen Unsterblichkeitsphantasien, hat es dieser ehrgeizige Poet „durchaus zu nichts bringen“50 können, was seiner Nachwelt hingereicht hätte, ihn als unsterblich zu verklären. Aber anstatt an den Aporien einer postulierten Unsterblichkeit zu verzweifeln, macht dieser Poet seinen für die Unvergänglichkeit leider nicht hinreichenden Bestand an redlicher Originalität zur Tugend einer versierten Kunst der Nachahmung, um zuletzt wenigstens über die abgelegten Hüllen großer Geister einen Anschein von Ruhm zu verwalten. Ich hab’s auf alle Weise versucht mich fortzubringen, aber immer vergeblich; bis ich endlich fand ich habe Kants Nase, Göthens Augen, Lessings Stirn, Schillers Mund und den Hintern mehrerer berühmter Männer; […] Jetzt trieb ich’s weiter, ich schrieb an große Geister um alten abgelegten Trödel, und das Glück wollte mir wohl, daß ich jetzt in Schuhen einherschreite in denen einst Kant eigenfüßig ging, am Tage Göthens Hut auf Lessings Perücke setze, und zu Abends Schillers Schlafmütze trage.51 46 47 48 49 50 51

Klingemann, Nachtwachen, 98. Klingemann, Nachtwachen, 99. Klingemann, Nachtwachen, 100. Klingemann, Nachtwachen, 95. Klingemann, Nachtwachen, 96. Klingemann, Nachtwachen, 96; Es darf kurz auf die reale Anekdote eingegangen werden, die den Dichter der Nachtwachen zu dieser Geschichte inspiriert haben mag. So kam der „echte“ Kant der skurrilen Bitte eines weltlichen Reliquiensammlers entgegen und schickte tatsächlich zwei seiner eigenfüßigen Schuhe eigenhändig nach Dresden, wo sie Teil eines Kuriositätenkabinetts werden sollten. Es ist wiederum die Zeitung für die elegante Welt vom

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Am Ende dieser immer wieder auf Kant rekurrierenden, satirisch verfassten Dekonstruktion von Unsterblichkeitsphantasien, entdeckt der Nachtwächter – neben den theoretischen, zumal durch Kant selbst aufgezeigten Inkonsistenzen des moralisch motivierten Postulats – die allzu irdische Herkunft des frommen Wunsches nach Immortalität: „Freund was hat man von dieser Unsterblichkeit, wenn nach dem Tode die Perücke [oder eben der Schuh] unsterblicher ist, als der Mann der sie trug?“,52 bringt der Nachtwächter die Sache auf den Punkt und resümiert abschließend über diesen „falschen Haarzopf“ der Unsterblichkeit, dass diese „selbst auf eure größten Weisen und Dichter angewandt […] zulezt doch auch nur ein uneigentlicher Ausdruck“53 bleibt. Dass Kants Name in den Nachtwachen immer und ausgerechnet im Kontext einer mehr und mehr an lebensweltlicher Verbindlichkeit verlierenden Unsterblichkeit auftaucht, kann kein Zufall sein. Tatsächlich ist Kant jener Denker, der die Endlichkeit des Subjekts in allen Belangen konstitutiv macht und damit als Philosoph entscheidend zur allgemeinen Dämmerung des spezifisch modernen Bewusstseins beiträgt, in dessen (Morgen-) Grauen der Mensch aus seinem Traum von Unsterblichkeit erwacht. „Ich […] unterbreche deine Träume von Unsterblichkeit, die du da oben in der Luft träumst, hier unten auf der Erde regelmäßig durch die Erinnerung an die Zeit und Vergänglichkeit.“54 Diese an den Stadtpoeten gerichtete Ansage des Nachtwächters könnte in dieser Hinsicht durchaus von Kant sein, sind es doch gerade dessen kritische Reflexionen über die Unmöglichkeit, sich über seinen Tod hinaus vorzustellen, die die diesbezüglichen metaphysischen Träumereien einer spekulativen Theologie beziehungsweise Psychologie nachhaltig unterbrechen. Deren rationale Engfassung hat denn auch das Uneigentlich-Werden des Ausdrucks ‚Unsterblichkeit‘ zur Folge und sie überlebt die Kritik nur als theoretisches Postulat für die praktische Vernunft. So jedenfalls lautet die Konsequenz, die Kant aus den „fruchtlosen überschwenglichen Spekulationen“ betreffs einer letztgültigen Auskunft über die „Beschaffenheit unserer Seele“ (und die Möglichkeit ihrer vom sinnlichen Dasein abgesonderten Fortexistenz qua Unsterblichkeit) zieht, wenn er uns rät, unsere Selbsterkenntnis „zum fruchtbaren praktischen Gebrauch anzuwenden“ und sie 28. Mai 1803, die uns berichtet: „Jeder Schuh war von dem Philosophen besonders versiegelt und hatte die Aufschrift: manu propia, Kant.“ (Zum Kapitel seltsamer Liebhabereien, in: Karl Spazier (Hg.), Zeitung für die elegante Welt, 28. Mai 1803.) Der philologischen Exaktheit halber müsste das ohnehin schon 23 Bände umfassende Werk des Philosophen um ein Paar seiner auf berühmten Spaziergängen abgetragener Schuhe erweitert werden, womit das kantsche Oeuvre mitsamt der Kategorie Autor einer Revision zu unterziehen wäre. 52 Klingemann, Nachtwachen, 97. 53 Klingemann, Nachtwachen, 53. 54 Klingemann, Nachtwachen, 10.

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also dahingehend einzuschränken, unser Verhalten trotz allem so zu bestimmen, „als ob unsere Bestimmung unendlich weit über die Erfahrung, mithin über dieses Leben hinaus reiche“.55 Am Ende, so die keineswegs unpräzise Formulierung, kann man nur noch so tun – und tatsächlich auch so handeln – als ob man unsterblich wäre.

5.

Aufstand der Narrenkolonie – oder vom vernünftig abgehandelten Wahnsinn

So sehr diese satirische Dekonstruktion von Unsterblichkeitsphantasien durch den Nachtwächter bislang den Anschein erweckt haben mag, dass dieser sich der desillusionierenden Bestimmung der kritischen Vernunft alias Kant widerstandslos unterstellt, so sehr weigert sich seine Kritik konsequent, in Form von rational nachvollziehbaren Argumenten vorgetragen beziehungsweise nacherzählt zu werden. Vernunft ist nicht die rationale dieses Unterfangens. Nebst den wie beiläufig abgehandelten Entzauberungen und Unterbrechungen transzendentaler Illusionen unter Zuhilfenahme einer vorgeblich aufgeklärten Vernunft, ist es vor allem diese selbst und ihr kommunikativer Monolog, den die Nachtwachen unterbrechen wollen. Es ist das unter dem Diktat der Vernunft stehende gesamtgesellschaftliche Projekt rationaler Selbstlimitierung, das hier als beengende Parenthese registriert und in seinen disziplinierenden, normalisierenden und pathologisierenden Nebenwirkungen erfahren wird. Mehr als Satire und Kritik sind Sabotage und Subversion die passablen Kommunikationsstrategien beziehungsweise -verweigerungen. Dafür spricht nicht nur der „Haß gegen alle Vernünftige […] mit ihren platten nichtssagenden Physiognomien“,56 den Kreuzgang aus seinen wiederholten Aufenthalten im Tollhaus mitgebracht hat, sondern auch seine Liebe äußert sich „nicht in den gewöhnlichen Symptomen, als Vorliebe für Mondschein, poetischen Andrangs zum Kopfe und dergleichen; sondern vielmehr in dem heftigen Bestreben zur Errichtung einer Narrenpropaganda und einer ausgebreiteten Kolonie von Verrückten, um sie zum Schrecken der andern vernünftigen Menschen plözlich anlanden zu lassen“.57 Laut Kreuzgangs Diagnose laborieren wir alle „blos an verschiedenen fixen Ideen, wo nicht an einem totalen Wahnsinn bloß mit kleinen Nuanzen“.58 Mit dieser Vorwegnahme der normalpathologischen Relativitätstheorie situiert sich Kreuzgang als Antipode zu Kants Laudatio auf die 55 56 57 58

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 421f. Klingemann, Nachtwachen, 119. Klingemann, Nachtwachen, 109. Klingemann, Nachtwachen, 80.

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Vernunft, über die letzterem zufolge nämlich „nichts Höheres in uns angetroffen“59 werden kann. Wenn sich Kant dazu anschickt, aus diesem Höchsten in uns den kategorischen Universalitätsanspruch allgemeiner Zuständigkeit der Vernunft herabzudeduzieren, führt Kreuzgang die Vernünftigkeit der Vernunft abermals ad absurdum, indem er kommentiert, dass es eben seine „fixe Idee“ sei, dass ich mich selbst für vernünftiger halte als die in Systemen deducirte Vernunft. […] Ja, wer entscheidet es zulezt, ob wir Narren hier in dem Irrhause meisterhafter irren, oder die Fakultisten in den Hörsälen? Ob vielleicht nicht gar Irrthum, Wahrheit; Narrheit, Weisheit; Tod, Leben ist – wie man vernünftigerweise es dermalen gerade im Gegentheile nimmt! – O ich bin inkurabel, das sehe ich selbst ein.60

Indem Kreuzgang die doppelte Buchführung des dichotomisierenden Rationalismus durchkreuzt, kündigt er das grundlegende Konsistenzversprechen vernünftiger Realitätsbewältigung auf und entschlägt sich präzise jenes primordialen Orientierungssinns, mittels dessen der Vernünftige an einem gemeinsam geteilten Gemeinsinn partizipiert.61 Doch lassen wir die Vernunft selbst, sprich: Kant zu Wort kommen. Die Grenzziehung zwischen Wahnsinn und Vernunft ist spätestens seit den Träumen eines Geistersehers von äußerster Brisanz und die große Ernüchterung der Kritik der reinen Vernunft besteht unter anderem darin, dass Kant jetzt alle bisherigen philosophischen Bemühungen unter den Generalverdacht stellt, „sich in Wahn und Blendwerke verirrt“62 zu haben. Die Kritik ist folglich das Geschäft dieser Grenzziehung, die mittels interner Selbstkritik des obersten Denkvermögens zu Wege gebracht werden soll.63 Zu dieser Absicht

59 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 298/B 355. 60 Klingemann, Nachtwachen, 81f. 61 Gewiss müsste man psychopathologisch gesprochen diesen sich allemal selbst durchkreuzenden „Standpunkt“ als Symptom psychotischer Desorientierung klassifizieren, wäre da nicht jene feine Klinge der Ironie: „O ich bin inkurabel, das sehe ich selbst ein“. Inkurabel, in dem ambivalenten Zwischenraum zwischen Vernunft und Wahnsinn, ist er genau deshalb, weil er seinen Wahnsinn reflexiv einsehen kann. 62 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 238/B 297. 63 Kant kennt – neben der allein hinreichenden immanenten Kritik – auch andere, sozusagen präambulante Mittel und Wege, die Vernunft rein zu halten. Gemäß einer verstreuten Anmerkung aus § 53 der Anthropologie, wo von verrückten Subjekten die Rede ist, hält Kant es für „gefährlich, in Familien zu heurathen, wo auch nur ein einziges solches [verrücktes] Subject vorgekommen ist.“ (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, Berlin 1914. Im Folgenden zitiert als Anthropologie. Hier: AA 7, 217). Womöglich ist diese Vorsicht mit daran schuld, dass Kant zeitlebens Junggeselle blieb, denn konsequent zu Ende gedacht müsste die von Kant als zweckmäßig und gut vorausgesetzte „Naturanlage unserer Vernunft“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 669/B 697) damit doch apriori von Wahn kontaminiert sein. Der zumindest partielle Wahnsinn der menschlichen Gattung scheint durch einen genetisch lokalisierbaren „Keim der Verrückung“ (Kant, Anthropologie, AA 7, 217) auf biologischer Ebene präfundiert zu sein. Umso dringlicher stellt sich die Frage, ob es reine Vernunft überhaupt geben kann, oder ob sie nicht immer schon gekreuzt ist mit

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unterzieht sich das sich als vernünftig deduzierende Subjekt einer transzendentaltopologischen Epoché, in der der Gegenstand seines Bewusstseins als bloßer Begriff und in vorläufiger Unentschiedenheit „so problematisch“ genommen wird, dass hinsichtlich seiner Realität zunächst „unausgemacht“ bleibt, ob er „Etwas oder Nichts sei.“64 In dieser Ausgangslage der sich als vernünftig konstituierenden Vernunft rückt das Subjekt dieser Konstitution in gefährliche Nähe zum logischen Eigensinn des Wahnsinnigen und muss in einer sich reflexiv unendlich perpetuierenden Ambiguität beständig prüfen, ob es nicht tatsächlich wahnsinnig ist, indem es durch voreilige Analogien hingehalten wird.65 Der Ausschluss des Wahnsinns aus dem sensus communis der Vernunft würde dann aber nicht anders vollzogen werden können als über den Einschluss der reinen Vernunft in den sensus privatus als dem ambivalenten Raum ihrer selbst gewählten Isolation. Während Kant jedoch, mit erkenntnistheoretischer Zuversicht gesegnet, aus dieser Ambivalenz allemal herausfindet, erhärtet sich das normalpathologische Votum absolut relativen Wahnsinns für Kreuzgang durch die ontologisch fundierte Kohärenz einer Agonie, in der die Unentscheidbarkeit – „Etwas oder Nichts“ – erst mit dem Tod und also nie zur Auflösung kommt: Es ist Alles Nichts und würgt sich selbst auf und schlingt sich gierig hinunter, und eben dieses Selbstverschlingen ist die tückische Spiegelfechterei als gäbe es Etwas, da doch wenn das Würgen einmal inne halten wollte eben das Nichts recht deutlich zur Erscheinung käme, […] das eigentliche Nichts und der absolute Tod, da das Leben […] nur durch ein fortlaufendes Sterben entsteht.66

Creatio ex nihilo ad nihilum. Nicht „Etwas oder Nichts“, sondern Nichts als Etwas. Die Welt: eine sich selbst organisierende Vanitas, ein produktives Nichts, das uns nur vorgaukelt, Etwas zu sein.67 Dabei könnte dieser philosophische Harakiri – als

64 65

66 67

Wahnsinn? Man bräuchte jedenfalls ein sicheres Kriterium, das es – schon aus Gründen vernünftiger Partnerwahl – erlaubt, sich vom Wahnsinnigen unterscheiden zu können. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 290/B 346. Inwiefern sich der transzendentaltopologische Standpunkt aus der Kritik der reinen Vernunft und Kants Psychopathologie wechselseitig dekonstruieren, wird von Vardoulakis in seiner minutiösen Analyse herausgestellt. Darin kommt der Verfasser zu dem Schluss, dass das Subjekt der Transzendentalphilosophie letztlich genau demjenigen Wahnwitz (insania) unterliegen müsste, den Kant in der Anthropologie als unheilbar definiert: „If a characteristic of madness is arbitrary analogy, then the transcendental subject is mad, since all its analogies are arbitrated by conjectures.“ (Dimitris Vardoulakis, The Critique of Loneliness. Towards the Political Motives of the Doppelgänger, in: Angelaki: Journal of Theoretical Humanities 9 (2002), 81–101, 86ff. Vgl. auch: Kapitel 1: Harrington’s ‚Flies‘: Kant’s Madness, in: Vardoulakis, The Doppelgänger: Literature’s Philosophy, New York 2010) Klingemann, Nachtwachen, 72. Mathematisch könnte ein „Alles gebärendes Nichts“ in der diabolischen und (warum wohl?) verbotenen Division: 1/0 seine Entsprechung finden, deren indeterminierbarer Gegenwert ein unendliches Chaos ist (vgl: Bianca Theisen, [chi] [alpha] Absolute chaos: The Early Romantic Poetics of Complex Form, in: Studies in Romanticism 42 (2003), 301–316, 301).

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der „Messerstoß aus dem Zentrum ins Zentrum, aus dem Neinsager in den Verneinten“ – durchaus von Kants Vernunftkritik inspiriert worden sein, die – aus Perspektive der Nachtwachen – die universale „Spiegelfechterei“ nicht explizieren kann, ohne ihr im nächsten Moment selbst zu verfallen.68 „Hierauf aber kommt man bald, wenn man sich besinnt, daß Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern das bloße Spiel unserer Vorstellungen sind, die am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinns auslaufen.“69 Folgt man den Nachtwachen geht es dabei um ein einzig auf sich selbst sich beziehendes Spiel, in dem sich ein „Nichts“ verhüllt, um ein „zu enthüllendes erkennbares ‚Etwas‘ vorzutäuschen“.70 Kant variiert diese „Nichtung“ der Welt, ihre Reduktion auf das „bloße Spiel unserer Vorstellungen“ in mannigfaltiger Weise. Am illustrativsten wäre vielleicht jene Stelle, an der Kant die kopernikanische Wende in aller Deutlichkeit anhand der Erscheinung eines Regenbogens bespricht und zu dem Schluss kommt, dass „nicht allein diese Tropfen […] bloße Erscheinungen [sind], sondern selbst ihre runde Gestalt, ja so gar der Raum, in welchem sie fallen, sind nichts an sich selbst, sondern bloße Modifikationen […] unserer sinnlichen Anschauung, das transzendentale Objekt aber bleibt uns unbekannt“.71 68 Nun bezieht Kant das „Mannigfaltige in der Erscheinung“, die „doch nichts an sich selbst ist“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 191/B 236), nicht auf eine reale Entität in der Außenwelt, sondern auf den transzendentalen Gegenstand als dem gänzlich unbestimmten Gedanken von „Etwas überhaupt.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 285/B 341) Was man gemeinhin äußere Gegenstände nennt, (im Glauben, sich damit auf ein reales Etwas zu beziehen) sind „bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit […] deren wahres Correlatum aber, d.i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird, noch erkannt werden kann.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 30/B 45) Als „etwas überhaupt = X“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 104) ist das solchermaßen als Noumenon anvisierte transzendentale Objekt unserer Vorstellungen, dem „gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert, = Nichts.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 290/B 346) „Es ist Alles Nichts“ zieht der Nachtwächter das Fazit eines in der Dynamik systematischer Selbsttäuschung verfangenen Welt- beziehungsweise Nichtsbezugs, wie er durchaus auf (eine haltlose Ausbeutung) transzendentalphilosophische(r) Reflexionen zurückzuführen ist. Und wenn Kant sich getrost anschickt, die von ihm herausgestellte monströse Quadratur eines vierfachen Nichts „nach der Ordnung und Anweisung der Kategorien“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 290/B 346) derselben Autorität zu unterwerfen – man werfe einen Blick auf die „Tafel dieser Einteilung des Begriffs von Nichts“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 291/B 347) – würde ihm Kreuzgang entgegnen, dass er in diesem Versuch, das trügerische Blendwerk unserer in Antinomien verstrickte Vernunft zu durchstoßen, nur einer weiteren „Spiegelfechterei“ zum Opfer fällt: „als ob etwas darin abgehandelt würde“ (Klingemann, Nachtwachen, 79), wo es doch Nichts ist, das sich selbst abhandelt. 69 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 101. 70 Böning, Widersprüche, 145. 71 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 46/B 63. Und auch von anderer Seite her lässt sich in dieser bizarren Zusammenführung des barocken Topos der Vanitas mit dem idealistisch-romantischen Theorem unaufhörlicher Selbstschöpfung und Selbstzerstörung eine Verbindung zu Kantischem Gedankengut aufspüren. Es handelt sich um das Motiv der Phönix aus Kants Frühschrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, mit dem Kant in visionärer

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Nun gerät aber der Satz totaler Nihilität – „Alles ist Nichts“ – selbst in den Sog der von ihm ausgesprochenen Abgründigkeit, geht an den Bedingungen seiner Äußerung zu Grunde und implodiert in dem logischen Unterdruck eines alles konsumierenden ‚schwarzen Lochs‘. Von dem Nichts widerrufen, welches er ausspricht, wird dieser Satz zwar vom Widerspruchsverbot durchkreuzt, unterminiert aber im Gegenzug wiederum diesen (göttlichen) Satz vom Widerspruch – der eigentlich der Satz gegen den Widerspruch heißen müsste – auf dem letztlich alle kohärenten Begründungsversuche des Denkens beruhen. Ohne ein Mindestpensum an epistemologischem Optimismus ist der Ernsthaftigkeit aber, mit der man sich diesem „Problem“ stellen mag, selbst die Grundlage entzogen. Und so kommt Kreuzgang der patho-logischen Polizei zuvor und scheint die Vehemenz seiner Thesen entschärfen zu wollen: „Wollte man dergleichen ernsthaft nehmen, so mögte es leicht zum Tollhause führen, ich aber nehme es blos als Hanswurst.“72 Allein aus dem Munde eines Narren ist die Aussage der Haltlosigkeit aller Aussagen (einigermaßen) haltbar. Zuletzt muss aber auch der Hanswurst bekennen, dass „das Alles […] so sonderbar [ist], daß man schlechterdings nicht weiß, ob man’s ernsthaft oder lustig nehmen soll; einige gescheute Leute […] halten’s gar für toll“.73 Und so verläuft sich auch dieser „einzig vernünftige“ Welt- beziehungsweise Nichts-Bewältigungsversuch durch Hanswurstigkeit in den tragikomischen Unentscheidbarkeitssatz eines Spaßhaftseins „bis zum Todtlachen“,74 Weise die Theorie eines selbstschöpferischen Universums grundgelegt hat. (Aus diesem Motiv glaubt Ulshöfer „Inhalt und Form der Erzählung [der Nachtwachen] ableiten“ zu können (Robert Ulshöfer, Die Literatur des 18. Jahrhunderts und der Romantik in neuer Sicht. Der Anstoß der Naturwissenschaften des 17./18. Jahrhunderts zur Entstehung der Literatur der Moderne und zum Entwurf eines Weltfriedensplans, Würzburg 2010, 193). Das von Kant eingesetzte Sinnbild schöpferischen Lebens: der „Phönix der Natur, der sich nur darum verbrennet, um aus seiner Asche wiederum verjüngt aufzuleben“ (Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, AA 1, Berlin 1914. Im Folgenden zitiert als Naturgeschichte. Hier: AA 1, 217), mutiert in den Nachtwachen zum Trugbild des Lebens, das „nur durch ein fortlaufendes Sterben entsteht“. Das Leben wäre dann die trügerische Bewegung eines kontinuierlichen Sterbens, in dem sich wiederum ein „Nichts“ verhüllt, um ein begehrens- und lebenswertes „Etwas“ vorzutäuschen; womit die Unterscheidung zwischen Leben und Tod selbst ein Trug würde. Die grundlegendste aller Täuschungen wäre allemal jene: zu glauben, dass sie sich durch Kritik beseitigen ließe, wo sie doch darin erst ihre Vollendung findet. 72 Klingemann, Nachtwachen, 72. 73 Klingemann, Nachtwachen, 36; In diese Unentscheidbarkeit zwischen Lachen und Weinen, wo man ebensogut imstande ist „über das Weinen zu lachen und über das Lachen zu weinen“ (Michael Wetzel, Die Raesonanz des Ego, oder: Wann und worüber im Königsberg des 18. Jahrhunderts gelacht wurde, in: Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hg.), Lachen – Gelächter – Lächeln: Reflexionen in drei Spiegeln, Frankfurt am Main 1986, 170–183, 181) wird auch die Interpretation hineingezogen und windet sich in reflexionslogisch schwer einholbaren Schleifen angesichts einer „satirischen Schreibart, deren aporetischer Aussagestatus die ‚ernsthafte‘ Lesart braucht, um lesen zu können, dass man sie ‚närrisch‘ nehmen muss.“ (Böning, Widersprüche, 530) 74 Klingemann, Nachtwachen, 71.

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womit der komödiantische Hanswurst wiederum tragisch wird und als ein „tragischer Hanswurst, eine groteske und furchtbare Maske“75 sein Publikum verstört.

6.

Wie man das letzte Wort gegen das Echo behält, indem man nichts sagt

Das dem nihilistischen Extremwert des Kantischen Grundgedankens entsprechende Motiv ist das Echo, in dem statt einer richtigen Antwort nur der Widerhall der eigenen Rede zu hören ist. Anhand des Echos als Sinnbild lässt sich die Kritik als eine fundamentale Störung transzendenter Kommunikationsmöglichkeit pointieren, die durch die Reflexion auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit jene Grundlagen erodiert, auf denen eine bruchlose Kommunikation möglich war. Mit dem Ende des dialogischen Zeitalters vernimmt die Vernunft, jetzt primär nicht mehr die Welt, sondern sich selbst. Das Echo, auf das der Nachtwächter immer wieder zurückgeworfen wird, fasst die wesentlichen Argumente der Kritik der reinen Vernunft in brillanter Schlichtheit zusammen. Auf dem Friedhof der letzten Nachtwache sieht man den Nachtwächter Kreuzgang, wie dieser einen Poeten beobachtet, der sich wieder einmal vergeblich bemüht, ein „Gedicht über die Unsterblichkeit“76 zu verfassen, „doch die Schriftzüge kamen nicht zum Vorscheine“. Verzweifelt blickt er zum Himmel: ‚Wie, ist denn kein Gott!‘ rief er wild aus, und das Echo gab ihm das Wort ‚Gott!‘ laut und vernehmlich zurück. Jezt stand er ganz einfältig da und käuete an der Feder. ‚Der Teufel hat das Echo erschaffen!‘ sagte er zulezt – ‚Weiß man doch nicht zu unterscheiden ob es bloß äfft, oder ob wirklich geredet wird!‘77

Der einzige Inhalt des Gedichts über die Unsterblichkeit bleibt der Versuch, es zu schreiben. Ganz ähnlich bleibt nach Kants metaphysischem Exorzismus vom bislang unhinterfragten Sein der göttlichen Eminenz bloß ein rationalistisch eng gefasstes Regulativ, das nur noch als Idee notwendig ist. Diese referiert zwar immer noch auf das höchste Wesen, steht aber als ein „bloßes Selbstgeschöpf“78 der Vernunft unter dem Generalverdacht, nichts weiter als transzendentales Scheingebilde zu sein. Das Urbild Gottes, und sein menschliches Abbild als unsterbliche Seele, kommen nach dem kritischen Verlust epistemologischer

75 76 77 78

Klingemann, Nachtwachen, 64. Klingemann, Nachtwachen, 127. Klingemann, Nachtwachen, 128. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 584/B 612.

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Naivität nicht mehr als kommunizierende Größen in Betracht, sondern als rationelle Regulatoren einer überfliegenden Einbildungskraft.79 Die Selbstbezüglichkeit, die im Echo liegt, ist also nicht beiläufiges Resultat von Kants Kritik, sondern ein „konstitutives Strukturmerkmal transzendentaler Diskurse“.80 Mit der Kopernikanischen Umkehrung der tradierten Begründungsverhältnisse wird der Mensch zur „selbstbezogenen Bezugsmitte“81 der Welt, die in die Innen-Welt des damit weltschöpferisch werdenden Subjekts übersetzt wird. Der von Kant in aller Ausführlichkeit entwickelte Kohäsionsverlust der Triade Gott-Seele-Welt wird nur noch durch die synthetische Funktion des transzendentalen Ichs abgefangen, wodurch das von Gott und Welt verlassene Selbst qua subjectum als die alle Realität fundierende Instanz eingesetzt wird. Dabei liefert die Instanz des transzendentalen Subjekts aus lebensweltlicher Sicht keinerlei stabilen Anhaltspunkt und wird empirisch gesehen flankiert von Ich-Verlust und Identitätskrise. Die in dieser Hinsicht vielleicht radikalste Stelle aus der Kritik der reinen Vernunft mag diesen Zusammenhang verdeutlichen: Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, nie-

79 Als transzendentale Ideen, die „niemals von konstitutivem Gebrauche“ sind, bieten sie dem Subjekt vielmehr einen imaginären Fluchtpunkt – „focus imaginarius“ – um den auf sich selbst limitierten Verstand „zu einem gewissen Ziele zu richten“, welches er doch nicht erreichen kann. Kant macht von dieser vernünftigen Illusionstätigkeit noch einen „vortrefflichen […] regulativen Gebrauch“ und sieht den Triumph der Vernunft immerhin darin, dass sie ihre eigene Illusionstätigkeit zwar nicht abschaffen, so aber doch „hindern kann, daß sie nicht betriegt“. Kant verwendet zwar nicht die Echo-Metapher, greift aber auf das systematisch äquivalente Bild der Spiegelung zurück, wo die vom Subjekt auf die Welt projizierten Ideen als „Objekte hinter der Spiegelfläche gesehen werden“, (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 644/B 672) und mithin so, als ob sie außerhalb seiner Vorstellungen tatsächlich gegeben wären. „Euer Gegenstand“ – weist Kant nicht nur den religiösen Enthusiasten zurück – „ist bloß in eurem Gehirne, und kann außer demselben gar nicht gegeben werden; daher ihr nur dafür zu sorgen habt, mit euch selbst einig zu werden, und die Amphibolie zu verhüten.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 484/B 512) Was von Kant noch als zuversichtliche Bescheidung empfohlen wird, erfährt der Nachtwächter in existentieller Verschärfung als horror vacui einer selbstbezüglichen Rationalität, in deren Grenzen das klaustrophobische Subjekt eingeschlossen bleibt, ohne doch die Amphibolie verhüten zu können: „Weiß man doch nicht zu unterscheiden, ob es bloß äfft, oder ob wirklich geredet wird.“ Aus Mangel einer objektiven Metaebene bleibt dem Subjekt nichts anderes übrig als sich, anstatt um einen geglückten Bezug zur Welt, um die Kohärenz seiner gedanklichen Konstruktionen zu kümmern. 80 Marcel Niquet, Evidenz, Selbstbezüglichkeit, Diskurs, zur Architektonik des Transzendentalen, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Anknüpfungen an Kant: Konzeptionen der Transzendentalphilosophie, Würzburg 2001, 107. 81 Böning, Widersprüche, 172. Damit transformiert sich die „Objektivität des Inhaltes in eine Funktion der kognitiven Fähigkeiten des Subjektes.“ Hans-Jürgen Gawoll, Nihilismus und Metaphysik: entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger, Stuttgart 1989, 23.

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mals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen.82

Das Ich ist sich in ständig wechselnden Zuständen zwar gegeben, aber gegeben als etwas, das „abgesondert“ von diesen Zuständen, als „Ich an sich“ nicht gegeben werden kann. Vergeblich bemüht sich der Nachtwächter im „Lauf durch die Skala“83 hinter den „Masken“ von „Zorn“, „Freude“, „Schmerz“ sein Ich sich anzuschauen und „eine der Masken zu umarmen und ihr die Larve vom wahren Antlize wegzureißen“.84 Dabei widerfährt ihm sein Ich nur als dieses allgegenwärtige, aber stets sich entziehende Phantom einer logischen Funktion = x, um welches er sich „in einem beständigen Zirkel herumdrehen“ muss: Steht kein Ich im Spiegel wenn ich davor trete – bin ich nur der Gedanke eines Gedanken, der Traum eines Traumes – könnt ihr mir nicht zu meinem Leibe verhelfen, und schüttelt ihr nur immer Eure Schellen, wenn ich denke es sind die meinigen? – Hu! Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, wenn ich euch zuhalte ihr Masken, und ich mich selbst anschauen will – alles verhallender Schall ohne den verschwundenen Ton – nirgends Gegenstand, und ich sehe doch – – das ist wohl das Nichts das ich sehe! – Weg, weg vom Ich – tanzt nur wieder fort ihr Larven!85

Das Ich des Protagonisten zeigt sich hier als körperloses Gespenst, als von aller gegenständlichen Realität entfremdetes Gedankending, gedacht von einem dislozierten Bewusstsein, dessen Mitte ein Abgrund ist – Nichts. Der Raum der transzendentalphilosophischen Überlegung erscheint hier als ortloses Schweben einer nur auf sich selbst bezogenen und in diesem Selbstbezug sich selbst entzogenen Einsamkeit. Die Nachtwachen demonstrieren eindrücklich, wie durch die verstärkte Reflexion auf das Subjekt, durch die einmal in Gang gekommen unaufhaltsame Bewegung des sich-selbst-über-die-Schulter-Schauens, sich der Kern des Menschen paradoxerweise in reflektorische Brechungen aufzulösen droht. Die reflexive Zuspitzung auf das eigene Selbst wird hier in ihrem selbstzerstörerischen Effekt von Identitätsauflösung erfahren. „Im Spiegelkabinett seiner Reflexivität lösen die Konturen des fragenden Ichs sich vollständig auf“86 und das Konzept des transzendentalen Ichs desintegriert in einem Spiel von Rollen und Masken. Die paradigmatische Rückwendung auf das Subjekt, um sich aus ihm die Welt zu erklären, verliert sich hier in einem „Vexierspiel im Spiegel

82 83 84 85 86

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 345/B 403. Klingemann, Nachtwachen, 88. Klingemann, Nachtwachen, 88. Klingemann, Nachtwachen, 88. Detlef Kremer, Identität und Selbstauflösung. Klinger und die ‚Nachtwachen von Bonaventura‘, in: Harro Zimmermann (Hg.), Der deutsche Roman der Spätaufklärung, Heidelberg 1990, 285–311, 289.

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der Selbstfixierung“,87 wo das Ich im Schatten seiner Doppelgänger zu verschwinden droht. „Willst du aus der Rolle dich herauslesen, bis zum Ich? – Sieh dort steht das Gerippe […] und fällt jezt selbst zusammen; – aber hinterdrein wird höhnisch gelacht. Das ist der Weltgeist, oder der Teufel – oder das Nichts im Wiederhalle!“88 Vermutlich ist diese vehement betriebene Annihilation des Ich – dem Fundamentalbegriff der damaligen Philosophie – ein wenig überzogen und es fragt sich, ob der auf Kant zurückgehende und vom Deutschen Idealismus ins Extrem getriebene Entwurf konstituierender Subjektivität denn tatsächlich auf so wackeligen Beinen steht.89 Sicherlich ist es so einfach nicht, den Königsberger Egologen der Nichtigkeit seines transzendentalen Gegenstandes geständig zu machen und vielleicht unterliegt Kreuzgang einem gewaltigen Kategorienfehler.90 Denn eigentlich kann Kreuzgang gar nicht anders, als sich den Kopf einzurennen an der unhintergehbaren Einheit seines Selbstbewusstseins, die unbeschadet all der verstörten Variationen von Ich-Verlust besteht, ja gewissermaßen durch sie, als deren Ermöglichungsgrund, erwiesen wird. Denn wie kann einer nach seinem Ich fragen, ohne es in diesem selbstbezüglichen Fragen schon vorauszusetzen als diejenige Einheit des Bewusstseins, die sich in schlichter Selbstevidenz damit je schon bewiesen hat? Allerdings kann diese „Einheit, die 87 Wetzel, Die Raesonanz des Ego, 171. 88 Klingemann, Nachtwachen, 115. 89 Um einiges prägnanter ließe sich das Grauen einer sich als philosophisches Erklärungsmodell verabsolutierenden Selbstbezüglichkeit in Auseinandersetzung mit dem Idealismus Fichtes darstellen, der hier leider nur in einer Fußnote Gehör finden kann. Fichte: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn.“ Dennoch sind seine Voraussetzungen schon mit Kants Kritizismus gegeben. Wenn – mit einigem philosophischen Wohlwollen – „Alles Nichts“ ist, ein Nichts, das sich in sich selbst verhüllt um ein erkennbares, entzifferbares, erreichbares Etwas vorzutäuschen, dann müsste der, die oder das Getäuschte konsequent selbst diesem Nichts angehören, mehr noch: selbst – das Nichts – sein, das sich im Widerhall seiner Fragen als Etwas vernimmt. Was die Vernunft aber dann von einer Welt vernimmt, die durch ihre Limitation auf das „bloße Spiel unserer Vorstellungen“ ohnehin schon ephemer erscheint, ist – folgt man der kreuzgängerischen Aushebelung der Transzendentalphilosophie – nichts anderes als der (reflexive) Bannkreis des einzig sich selbst und damit Nichts bespiegelnden Selbstbewusstseins, oder um es mit Kant zu sagen: nichts anderes „als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 105) 90 Denn das „Ich denke“, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131) muss, hat in Kants Kritik weder den Status eines Konzepts, noch gar den einer Substanz, sondern ist als transzendentale Apperzeption zwar die „an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich; von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, dass alle Begriffe begleitet.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 345f/B 403) Als „Vehikel aller Begriffe“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 341/B 399) resultiert das „Ich denke“ aus einem „Actus der Spontaneität“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132), von dem das Subjekt tatsächlich keine wirkliche Erfahrung haben kann, da es jeder Erfahrung als deren Einheit stiftende Synthese uneinholbar vorausliegt.

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den empirischen Fluss allererst als Sukzession vorstellbar macht, […] nicht selbst empirisch sein“91 und nach Art eines empirischen Gegenstandes innerhalb dieses Flusses vorstellig werden. „Sofern also im Ich-Bewusstsein Mannigfaltigkeit gegeben ist, kann diese Mannigfaltigkeit nur dann für das Ich sein, wenn es unter den notwendigen Bedingungen der Einheit der transzendentalen Apperzeption steht.“92 Kreuzgang, in einer vom Boden der Transzendentalphilosophie Kants aus betrachtet fatalen Verwechslung von empirischem und transzendentalem Ich, kann also nur ins Leere treten, wenn er am transzendentalen Subjekt der Gedanken – „oder Es (das Ding), welches denket“ – die Züge personaler Identität verzweifelt sucht und dabei komischerweise absolut blind zu sein scheint für die Superevidenz dieses Ichs, das als unhintergehbares Zeugenbewusstsein all seine Hysterie begleitet.93 Im Rahmen des Bewusstseins seiner selbst – im stream of consciousness – kann es eben „kein stehendes und bleibendes Selbst in diesem Flusse innrer Erscheinungen geben“.94 An der internen Kohärenz des Kantischen Systems ist also nur schwer zu rütteln. Allenfalls als poetische Unverträglichkeitsstudie der transzendentalen Egologie, wenn man sie als Gebrauchsanweisung fürs alltägliche Selbstverhältnis liest, manifestieren die Nachtwachen die lebensweltliche Unverkraftbarkeit, sich selbst nicht mehr als Substanz, sondern als relationalen Prozess erkennen zu müssen.

91 Violetta L. Waibel, Die A- und B-Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft und die negative Deduktion der teleologischen Urteilskraft (§§ 75–78), in: Valerio Rohden et al. (Hg.), Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. II, Berlin 2008, 805–816, 808. 92 Waibel, A- und B-Deduktion, 813f. 93 Kant selbst gibt in der ersten Auflage der Kritik an, dass man niemals ausmachen könne, „ob dieses Ich (ein bloßer Gedanke) nicht eben sowohl fließe als die übrigen Gedanken, die dadurch an einander gekettet werden.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 364) Denn als die synthetische Verknüpfungstätigkeit jener Gedanken, Affekte und Vorstellungsbilder, die durch den an sich leeren Raum des Bewusstseins fließen, ist das „Ich denke“ substantiell gesehen Nichts weiter als eben dieser Akt des Aneinanderkettens, wodurch allemal der trügerische Anschein eines beharrlichen Ichs entsteht, aber nie eingelöst werden kann. Ohnehin könnte man in der absoluten Verweigerung der Syntheseleistung – die aus der Unfähigkeit, die basalsten Gegensätze des Lebens auseinanderzuhalten, nur durch eine groteske Verneinung der Gesamtsituation herausfindet – die Anzeichen einer schizophrenen Gemütsstörung erkennen. (vgl. Eugen Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, Wien 1911, 110). Für wen Leben Tod, Vernunft Wahnsinn, Realität Fiktion, Wahrheit Irrtum und Ich ein anderer ist, mit dem ist nicht gut (zumal über Kant) philosophieren. 94 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 107.

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„Was gäbe ich doch darum, so recht zusammenhängend und schlechtweg erzählen zu können“95 beklagt der Erzähler sein Unvermögen, eine geordnete Erzählung zustande zu bringen. Von den meisten Begebenheiten erfährt er nur „Unzusammenhängendes, das ich eben so unzusammenhängend mittheilen will“96 und reagiert damit lakonisch auf Friedrich Schlegels Definition der Ironie, die sich als „ein Gefühl […] der Unmöglichkeit und der Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung“97 bemerkbar mache. Die Weigerung dieses Romans, Roman zu werden und seine Geschichte in „klare langweilige Prosa zu übersetzen“ wird von einer immer wieder sich selbst unterbrechenden Erzählstimme narrativ in Szene gesetzt. Das einzige, was sie „recht motivirt und vernünftig zu Papiere“ bringt, ist das „Leben des Wahnsinnigen.“ Der Überdruss des Erzählers (mit „der Prosa und dem Tage mich einlassen zu müssen“98), läuft, wie Kaminski bemerkt, auf eine „prinzipielle Infragestellung des narrativen Kommunikationsaktes überhaupt“99 hinaus. Der Dichter spielt förmlich – und inhaltlich – mit dem zwischen Sinnbedürfnis und Sinnentzug aufgeriebenen Leser, der zwar explizit als „du stiller Begleiter“ angeredet, aber nur um seine hermeneutische Gefolgschaft sogleich in Frage zu stellen: „wenn du anders den Faden meiner Geschichte – die sich still und verborgen, wie ein schmaler Strom, durch die Felsund Waldstücke, die ich umher aufhäufte, schlingt – nicht verloren hast.“100 Diese exzessive Art, im Buch ständig über das Buch zu reden, dieser immer wiederkehrende Selbstkommentar des Schreibens, dieses ständige Thematisieren der Möglichkeitsbedingungen narrativer Kommunikation, machen die Nachtwachen zur Transzendentalpoesie. Kants transzendentale Reflexion also im Medium der Dichtung? – ohnehin ein Wahnsinn, der nur schiefgehen kann.101 Folgende Stelle, an der der Protagonist Kreuzgang sich wieder einmal vergeblich bemüht, sein zerstreutes Ich aufzulesen, wird – transzendentalpoetisch gewen-

95 Klingemann, Nachtwachen, 48. 96 Klingemann, Nachtwachen, 19. 97 Vgl. Friedrich Schlegel, Lyceumsfragment 108, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Gesamtausgabe, hg. v. Ernst Behler, Erste Abteilung, Bd. 2, München/Paderborn/Wien/Zürich 1967, 160. 98 Klingemann, Nachtwachen, 41. 99 Kaminski, Kreuz-Gänge, 36. 100 Klingemann, Nachtwachen, 108. 101 Während Kant in der Kritik lediglich das Zustandekommen von Erkenntnis problematisch nimmt, den Akt des Erzählens davon aber von dieser Problematisierung ausnimmt, verschiebt sich dieser Modus in den Nachtwachen auf den narrativen Akt selbst. Das methodische Handwerkszeug der Transzendentalphilosophie beziehungsweise -poesie ist Selbstreflexion, die als „Autorreflexivität“ aber zugleich „das wichtigste Gestaltungsmittel romantischer Ironie“ ist. Engel, Frührealismus, 20.

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det – durchaus als hermeneutische Herausforderung an die Leser der Nachtwachen lesbar. Ich bin schon oft daran gegangen vor dem Spiegel meiner Einbildungskraft sizend, mich selbst leidlich zu portraitiren, habe aber immer in das verdammte Antliz hineingeschlagen, wenn ich zulezt fand, daß es einem Vexirgemälde glich […] Da bin ich denn über mich verwirrt geworden, und habe als den lezten Grund meines Daseins hypothetisch angenommen, daß eben der Teufel selbst, um dem Himmel einen Possen zu spielen, sich während einer dunkeln Nacht in das Bette einer eben kanonisirten Heiligen geschlichen, und da mich gleichsam als eine lex cruciata für unsern Herrgott niedergeschrieben habe, bei der er sich am Weltgerichtstage den Kopf zerbrechen solle.102

Niedergeschrieben als eine lex cruciata, wird Kreuzgang plötzlich nicht mehr nur lesbar als ein Nachtwächter, der von seinen nächtlichen Streifzügen erzählt, sondern zugleich als selbst nur erzählte Figur eines Autors, der ihn zum Kopfzerbrechen des Interpreten – wenn man diesen als Herrgott des Textes in Anschlag bringen will – niedergeschrieben hat. Die Grenzen zwischen biologischer und literarischer Schöpfung beziehungsweise Zeugung werden dadurch verwischt und versetzen Kreuzgangs Identität in ein unaufhörliches Oszillieren zwischen einem erzählenden Menschen aus Fleisch und Blut, der seine Identität sucht, und der erzählten Figur eines Romans, die ihren Autor sucht: eine Romanfigur, die auf ihre bloß fiktive Existenz reflektiert und damit gleichsam aus den Buchdeckeln herausspringt. Diese Grenzverwischung zwischen Erzähler und Autor lässt die Möglichkeit neuer Schreibinstanzen anklingen: Der Teufel als Autor einer für Gott unleserlichen Schrift. Oder Bonaventuras diabolische Aushebelung der Instanz Autor durch einen für den Interpreten unzurechenbaren Text? Die Nachtwachen adaptieren die konstitutive Voraussetzung transzendentaler Reflexion, nicht aber ohne deren Intention zu hintertreiben. Wiederum handelt es sich um das transzendentale Subjekt, das, als Autorfunktion verstanden,103 im Medium einer grenzwertigen Poesie virulent wird und im reflexionsinduzierten Überschuss an Selbstbezüglichkeit verloren zu gehen droht. Dies wirft eine völlig andere Perspektive auf die an Kant anschließende Krise des Selbstbewusstseins, wie sie in den Nachtwachen bislang auf inhaltlicher beziehungsweise empirischer 102 Klingemann, Nachtwachen, 56. 103 Für Schnädelbach handelt es sich bei Kants Formulierung des transzendentalen Subjekts letztlich um ein Indexwort, mit dem jemand „auf sich als den Autor seiner Äußerungen und Handlungen verweist.“ (Schnädelbach, Kant, 128) Dabei ist dieser auktoriale Verweis auf sich selbst die „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131), aus der die Verknüpfung des Mannigfaltigen nach einer Regel und in einem Ganzen fließt. Das transzendentale Subjekt stiftet demzufolge durch seine Syntheseleistung als Autor den Zusammenhang der Erkenntnisse beziehungsweise in diesem Fall der Narration.

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Ebene als existentieller Verlust einer greifbaren Identität thematisiert wurde. Auf der transzendentalen Ebene der Narration erschließt sich damit der Blick auf einen Text, der performativ inszeniert, was mit einem Text passiert, wenn er nicht mehr durch eine – dem Text gegenüber transzendentale, ihn allererst ermöglichende – Autorinstanz beherrscht wird. Er wird unverständlich, verweigert sich einer kohärenten Interpretation beziehungsweise Erkenntnis. Einerseits verflüchtigt sich die Erzählerstimme Kreuzgang für sich selbst wie für die Leser zum ungreifbaren Phantom eines ‚Ich denke‘ beziehungsweise ‚Ich erzähle‘, das alle seine Nachtwachen begleitet. Andererseits wird die gebrochene Einheit der Erzählung von der Regie eines anonymen Selbstbewusstseins garantiert, eines nur formal identischen Ichs, das transzendentalerweise den Zusammenhang der Erzählung (der Repräsentation) zwar garantiert, selbst aber nicht erzählt (repräsentierbar) werden kann. Diese paradoxe Leerstelle, die vom uneinnehmbaren Hintergrund aus die Regie der Nachtwachen führt, ohne die Bühne je zu betreten, heißt: Bonaventura, ein Signum, das – wenn man so will – exakt die Differenz markiert, durch welche das Ich zwischen empirischer und transzendentaler Subjektivität aufgerieben wird. Denn obschon es die Nachtwachen. Von Bonaventura heißt, ist von diesem Bonaventura im ganzen Buch nie die Rede. Es sind, im Vollzug der erzählten Zeit, die Nachtwachen von Kreuzgang, dessen mit sich identische Vollständigkeit als empirisches Ich von der gespensterhaften Omnipräsenz des außerhalb der erzählten Zeit liegenden, transzendentalen Ichs alias Bonaventura durchkreuzt wird. Die Konstellation Bonaventura-Kreuzgang illustriert in dieser Perspektive das unumgängliche Paradox konstituierender Subjektivität,104 deren Präsuppositionsdilemma darin besteht, dass sich das zeitlose „Ich denke“ nur über den Umweg des „Ich erscheine“ (in der Zeit) gegeben ist, mithin gegeben ist als etwas, das nicht gegeben werden kann. „Die Zeit ist in mir und ich bin in der Zeit“105 bedeutet demnach, dass ich mir nur im Modus des Entzugs gegeben bin beziehungsweise im Modus des Gegebenseins entzogen bin. „Time is out of joint“,106 ließe sich mit Hamlet diese aus den Fugen geratene Zeit bildlich fassen. Die Zeit 104 „Hier ist nun der Ort, das Paradoxe, was jedermann bei der Exposition der Form des inneren Sinnes (§6) auffallen mußte, verständlich zu machen: nämlich wie dieser auch sogar uns selbst, nur wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns selbst sind, dem Bewußtsein darstelle, weil wir nämlich uns nur anschauen, wie wir innerlich affiziert werden.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 152f. 105 Immanuel Kant, Metaphysik, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 18 (Handschriftlicher Nachlass), Berlin 1914. Hier: AA 18, 314. „Es heißt auch soviel als: ich bin in der Zeit, aber die Zeitverhältnisse sind blos in mir.“ (ibid.) Doch schon in der Kritik der reinen Vernunft ist es Kant zufolge „einerlei, ob ich sage: diese ganze Zeit ist in mir […] oder: ich bin […] in aller dieser Zeit“. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 362. 106 William Shakespeare, Hamlet, Zweisprachige Ausgabe. Neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther, München 82010, Akt 1, Szene 5, Vers 196.

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nämlich wird Kant zufolge durch die sich selbst affizierende Syntheseleistung der transzendentalen Apperzeption (Ich denke) konstituiert als diejenige Form der inneren Anschauung, durch welche ich mir überhaupt als empirische Erscheinung zugänglich bin. Gegeben bin ich mir dadurch aber als dem Fluss der Zeit übergebene Erscheinung eines Subjekts, das den spontanen actus seiner synthetischen Selbstaffektion selbst nur passiv erleidet. Die Konsequenzen, die sich aus diesem vertrackten Selbstbezug ergeben, sind unabsehbar. Zwar beharrt Kant darauf, dass die Identität der Person stets gewahrt bleibt und „in meinem eigenen Bewußtsein unausbleiblich anzutreffen“107 ist, doch ist sie das nur als sozusagen transzendentale Formalität, die meine volle Selbstpräsenz im selben Augenblick widerruft, in dem sie sie stiftet. Mens momentanea bin ich mir selbst in stets unterbrochener Kontinuität oder kontinuierlicher Unterbrechung gegeben als Bruchstück des Ganzen, als Fragment einer Totalität, die nur in Anbetracht der Ewigkeit präsent wäre, was den Gedanken von Unsterblichkeit so reizvoll macht. (M)eine Geschichte wird daher stets „ein Bruchstück aus der Geschichte des Unbekannten“ sein, als der ich mir selbst erscheine. „Ich liebe das Selbst – drum mag er selbst reden!“108 bringt Kreuzgang die epistemologisch motivierte Sezession zum Ausdruck, durch die man unweigerlich ver-rückt, von sich abrückt, verschoben und unterbrochen wird und auf sich selbst niemals anders trifft als auf uneinholbaren Verweis auf sich selbst als ein anderer. „Car Je est un autre“, so die saloppe Formulierung Rimbauds (1854–1891) 70 Jahre später .109 Die „ins Unendliche fortgehende Linie“110 der Zeit, die ein Leben zieht, erweist sich damit als unüberbrückbare Verzögerung autonomer Selbstsetzung,111 als Riss im Ego.112 „Willst du aus der Rolle dich herauslesen, bis zum Ich?“113 Der Weg, der aus der Rolle – dem empirischen Dasein als in der Zeit erscheinendem Ich – zum tran107 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 362. 108 Klingemann, Nachtwachen, 91. 109 Arthur Rimbaud an Paul Demeny, Brief vom 15. Mai 1871. Vgl. Arthur Rimbaud, Lettre dite du Voyant à Paul Demeny du 15 Mai 1871 avec le facsimilé de l’autographe, Paris 1954. 110 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 33/B 50. 111 Nun ist diese Interpretation gewiss gegen den Strich der Intention Kants gelesen, der stets schon derartige Bedenken (einer Verdopplung des Ichs) mitbedacht und als unlauter abgewiesen hat. Dennoch hat ihn das Paradox des inneren Sinnes und die Aporien zeitkonstituierender Subjektivität bis ins hohe Alter in den losen Blättern seiner fragmentarischen Hinterlassenschaft beschäftigt: „Daß ich in der Zeit bin, welche doch ein bloßes Verhältnis in mir ist, folglich das continens ein contentum und ich in mir selber bin, daß zeigt schon an, daß daß ich wenn ich mich in die Zeit setze mich als ich mich in Zwiefacher Bedeutung setze denke.“ (Kant, Metaphysik, 314) 112 Vergleiche Deleuzes (1925–1995) Interpretation des Kantischen Paradoxons vom inneren Sinn als „Riss im Ego“. Siehe: Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl, München 1992, 118f. 113 Klingemann, Nachtwachen, 115.

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szendentalen Selbst als Autor der (Lebens-)zeit führt, ist, wie der Name des Protagonisten bezeichnenderweise nahelegt, ein Kreuzgang, ein beschwerlicher, aussichtsloser Weg. Von diesem Kreuzgang, der (als Protagonist) stets außer sich ist, führt kein Weg zum wahren Selbst seines Autors. Das Außer-sich-Sein Kreuzgangs wiederholt damit die in der Rezeption als so unerträglich empfundene Abwesenheit einer zurechnungsfähigen Autorinstanz, deren Leerstelle vom Pseudonym Bonaventura gleichzeitig markiert und maskiert wird. Ich habe versucht zu zeigen, inwiefern die Suspension von Autorschaft durch das Pseudonym Bonaventura, sowie die konstitutive Exzentrizität des Protagonisten Kreuzgangs, durchaus als poetisches Experiment mit Kants Konzeption transzendentaler Subjektivität gelesen werden kann. Diese wird hier gewissermaßen zum Zerspringen gebracht wird. Am ground zero autonomer Subjektivität ließe sich so mit den Nachtwachen ein außer sich geratenes Ich entdecken. Dieses Außer-sich-Sein ist nun in mancherlei Hinsicht wiederum ein Aspekt romantischer Ironie.

8.

Ironie als permanente Parekbase – oder wie ein Autor sich selbst abschafft

Als „permanente Parekbase“,114 wie Schlegel die Ironie an einer Stelle bezeichnet, bedeutet sie eine Praxis des permanenten sich-Distanzierens von den eigenen Aussagen und das förmliche „‚Heraustreten‘ des Sprechers aus seinem Text“.115 Solches „Heraustreten“ ereignet sich als ein Aufstieg in das Schweben des ironischen Nichtfestgelegtseins, in dem das romantische Bewusstsein sich anschickt, den unaufhörlichen (und in aller Ausführlichkeit von Kant durchbuchstabierten) Widerstreit – zwischen Bedingtem und Unbedingtem, realen und idealen Interessen, Sinnlichkeit und Moral et cetera – einer Vermittlung beziehungsweise Versöhnung zuzuführen.116 Das ironieinduzierte Schweben der Einbildungskraft ist jedenfalls die „Zentralmetapher der Frühromantiker, mit der sie – die haltlose Subjektivität zum Ausgangspunkt nehmend – dieses verlorene Zentrum virtuell wieder in Besitz nehmen“.117 In den Nachtwachen ist es bezeichnenderweise der

114 Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre, Wien 1963, 575. Griechisch parabasis meint soviel wie Abschweifung, Danebentreten und bezeichnet eine alte dramatische Technik, in der der Chor die Handlung auf der Bühne unterbricht, aus ihrem Zusammenhang heraustritt und sich direkt ans Publikum wendet. 115 Albert Meier, Klassik – Romantik, Stuttgart 2008, 149. 116 Angezeigt ist dadurch ein ästhetischer Zustand von universeller Tragweite, in dem die Leiden des einzelnen Weltmenschen im dionysischen Taumel des All-Einen aufgehoben würden, in dem das Ich, frei geworden von allen bürgerlichen Interessen, sich im Kunstwerk verliert um das Leben selbst zu erkennen als das Kunstwerk per se. 117 Feger, Das Groteske, 72.

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hoch über den Dächern der Stadt vegetierende Poet, der die aporetische Struktur selbstbewusster Existenz durch ein „Heraustreten“ und „Schweben“ ganz anderer Art „gelöst“ hat. Zwar „schwebte [er] recht leicht und mit abgeworfenem Erdenballast über seinem Werke“,118 aber in diesem Schweben hängt er an der Schnur, worin sein vom Verleger abgewiesenes Manuskript eingewickelt war. Dessen Titel lautet: „das Trauerspiel, der Mensch“. Ihm beigelegt findet sich der „Absagebrief an das Leben“, den dieser Poet verwirklicht hat, indem er sich an den Fäden seines Manuskripts als dem Insignum von Autorschaft erhängte. Mit dieser abgründig realen Parekbase entledigt sich der Autor der Nachtwachen gleich auf dreifache Weise seiner Souveränität als Autor und unterminiert damit „hellsichtig und präzise eben diese moderne Autorfunktion“,119 auf die Kant das ganze Gewicht seiner Systematik abgestellt hat: einmal im die Ironie realiter ironisierenden Freitod des Poeten, sodann im Pseudonym seines Autors und zuletzt im Ausstreichen des Trauerspiels: der „Mensch“. Denn der „Absagebrief an das Leben“ ist nicht nur der Nekrolog auf die Vernunft und der Suizid der Romantik. Das eigentliche Pseudonym ist der Mensch selbst: „Der Mensch taugt nichts, darum streiche ich ihn aus.“120 Diese Ironie hat, wie Arendt anmerkt, nicht mehr die „mäeutische Funktion der Epideisis des Unendlichen, sondern Mäeutik des Nichts“.121 Sie wird in makabrer Weise als die Agonie sichtbar, die ihr immer schon zu Grunde lag. Damit realisiert der Autor der Nachtwachen eine Transzendental-Poesie, die nicht mehr ein harmonisches Wechselspiel von Philosophie und Poesie zelebriert, sondern die unter genau entgegengesetztem Vorzeichen die Standpunkte der Dichter und Philosophen hinter sich lässt. „Er stellt beide nicht in ein Begründungsverhältnis, sondern konterkariert ihre Ansprüche.“122 Mit einem Autor, der sich selbst abschafft, gerät der Text außer sich und durchkreuzt unbeirrt – von einer grotesken Welt eines Schlechteren belehrt – jegliche Ansprüche auf Auto(r)nomie als Selbstbetrug. Mehr als eine allgemeine Resignation an der Sinnlosigkeit der Welt sind die Nachtwachen demzufolge eine immanente Selbstkritik an den Dichtern und Denkern seiner Zeit.

118 119 120 121 122

Klingemann, Nachtwachen, 66. [Anonymus], Die Narrenkappe des Autors, 1. Klingemann, Nachtwachen, 68. Arendt, Der ‚poetische Nihilismus‘, 503. Feger, Das Groteske, 56.

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Kant als Begründer des europäischen Regietheaters

Valentin Hauck notiert in seiner Monographie über Klingemann, dass „eine Geschichte des deutschen Theaters […] ohne seinen Namen undenkbar“123 wäre. Die Zeit des Theaters ist die einer je zerfallenden Gegenwart, in der jeder Tag der Jüngste ist und es den Akteuren auf der Bühne nicht erlaubt ist, den Sinn ihres Sprechens und Tuns auf morgen zu vertagen.124 Spätestens am Friedhof jedenfalls hat sich auch der Theoretiker der Endlichkeit seiner Präsenz gestellt. Der Nachtwächter Kreuzgang verkörpert in dieser Hinsicht die (agonistische) Theatralik eschatologischer Existenz. Seine „Erinnerung an Zeit und Vergänglichkeit“125 unterbricht die unaufhörliche Illusionsbildung des „Sonnenstäubchen[s]“126 Mensch, der „doch oft gar so angenehm von der Unsterblichkeit [träumt], und meint, eben weil er so etwas träume, müsse es ihm werden“. Doch als „das eigentliche Nichts“ durchkreuzt der Tod schon im Leben dessen Anspruch auf dauerhafte Selbstständigkeit, „da das Leben im Gegentheile nur durch ein fortlaufendes Sterben entsteht.“127 Leben, das seine unwiderrufliche Sterblichkeit verleugnet, das sich der Ausgesetztheit in der konkreten Raumzeit einer bestimmten Situation verweigert und sich über das Provisorische seiner Sinnkonstrukte hinwegtäuscht, so mahnt uns der Nachtwächter, erstarrt dadurch zur Maske, hinter der der Totenkopf auf seinen souveränen Auftritt wartet. Hier gewinnt das Theater die Funktion einer „Demütigung narzisstischer Allmachtsphantasien der philosophischen Reflexion und ihres Agenten, des Selbstbewusstseins“.128 Der Tod zwingt auch diese spätestens am Jüngsten Tag zu radikaler Bescheidung: „Was ist die Welt, wenn dasjenige, was sie dachte, nichts ist?“ fragt Kreuzgang am Friedhof der letzten Nachtwache: „Rühmt mir nichts von der Selbständigkeit des Geistes, hier liegt seine zerschlagene Werkstatt und die tausenden Fäden, mit denen er das Gewebe der Welt nähte, sind alle zerrissen und die Welt mit ihnen.“129 Die Welt zerfällt mit dem Tod in das substanzlose Nichts, zu dem sie durch das Phantasma konstituierender Subjektivität geworden ist. Die Welt des transzendentalen Idealismus: ein synthetisches Gewebe aus

123 Valentin Hauck, Ernst August Klingemann als Dramatiker, Würzburg 1926, 3. 124 Liegt das Bewegende des Theaters nicht vielleicht genau in dieser geteilten Erfahrung des Sterbenmüssens, in dem Spiel, in dem die Subjekte sich an ihre Präsenz verlieren? Und besteht die Souveränität des Theaters nicht auch darin, dass es darauf verzichtet, der Darstellung einen repräsentativen Wahrheitsgehalt zuzuweisen? 125 Klingemann, Nachtwachen, 10. 126 Klingemann, Nachtwachen, 77. 127 Klingemann, Nachtwachen, 78. 128 Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik: Vorlesungen, Frankfurt am Main 1991, 335. 129 Klingemann, Nachtwachen, 133.

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Vorstellungen, dessen Lesbarkeit einzig vermöge der kolossalen Autorschaft des „Ich denke“ garantiert ist.130 Aber der Jüngste Tag, an dem die Fäden dieses weltumspannenden Gewebes reißen werden, ist immer schon gekommen. Es ist Kreuzgangs Szenario einer fingierten Apokalypse, in der „das Trauerspiel: der Mensch“ an seinen hyperbolischen Verfasser retourniert wird. „Heute war der Tag an dem das imprimatur des wichtigsten Zensors, des Verlegers, hatte einlaufen müssen.“131 Nur leider war dem debütierenden Autor kein Glück beschieden und sein „Mensch hat keinen Verleger gefunden weder als persona vera noch ficta.“ Als persona vera gastiert der Mensch auf der Bühne des Lebens, nicht ohne sich im Handumdrehen als persona ficta in die welthistorischen Entwürfe der Geschichtsphilosophen verflochten zu sehen. In Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht gibt der Verfasser zunächst zu, dass es „zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag [ist], nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müsste, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen“.132 Doch erfindet sich der Autor einen plausiblen Reim darauf. Er wählt einen sehr besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung, von dem aus die vernünftige Einheitlichkeit der gesamten Geschichte sichtbar wird. Der utopische Gehalt eines „vernünftigen Zwecken angemessen[en]“ Geschichtsverlauf, wie er sodann konstruiert wird, soll dem Menschen eine „tröstende Aussicht in die Zukunft“ eröffnen und es dem historischen Subjekt erlauben, sich sinnvoll in den Gang der Dinge einzubringen. Die Geschichte muss sich als ein sinnvoll geordnetes Ganzes bestimmten lassen, „weil sonst die praktische Philosophie Kants keinen Ort mehr in ihr fände“.133 130 Tatsächlich spielt sich das Kantische Subjekt zum hypertrophen Autor der Welt auf, wenn es behauptet, „daß alle diese Erscheinungen, mithin alle Gegenstände, womit wir uns beschäftigen können, insgesamt in mir, d. i. Bestimmungen meines identischen Selbst sind.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 129) Tatsächlich wird die gesetzmäßige Einheit der Welt qua Erscheinung einzig autorisiert durch die Einheit der transzendentalen Apperzeption Ich denke, die mit „tausenden Fäden […] das Gewebe der Welt“ näht. Ein unscheinbares Ich denke installiert sich über Kants Konzeption der transzendentalen Apperzeption als Autor schlechthin. Züge hypertrophen Wahnsinns ließen sich von Kants vorkritischen Schriften bis hin zu manch rätselhafter Bemerkung aus den nachgelassenen Konvoluten feststellen: „Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos“ (Kant, Naturgeschichte, AA 1, 225), geriert sich Kant als Weltschöpfer. „Wir entlehnen nicht von den Sinnenvorstellungen […] die data der Anschauung: sondern wir stellen zuerst die data woraus Erkenntnisse gewebt werden können“, bemerkt er zuletzt in einem seiner Convolute (Immanuel Kant, Handschriftlicher Nachlass, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erstes Convolut, Bd. 21 , Berlin 1914, 41). 131 Klingemann, Nachtwachen, 65. 132 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA 8, Berlin 1914. Im Folgenden zitiert als Idee. Hier: AA 8, 29. 133 Pauen, Pessimismus, 69.

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Doch am „Jüngsten Tage“134 macht Kreuzgang dieser Idee einen Strich durch die Rechnung. Im Zuge seines Rückblicks auf die nun abzuschließende Weltgeschichte – freilich nur „kurz und summarisch“135 – fragt der sich als Weltrichter aufspielende Kreuzgang: „Was haben wir aber darin [in der Weltgeschichte] vollbracht? […] Ich behaupte: Gar Nichts! […] Hinter Euch liegt die ganze Weltgeschichte wie ein alberner Roman.“136 Wider Erwarten ist das Weltengericht früher eingebrochen als erst am Ende aller Tage – dem Jüngsten – und so ist dem Menschen keine Zeit geblieben, seine Identität als vernünftiges Subjekt der Weltgeschichte zu verifizieren. Die menschliche Gattung als vernunftfähiges Autorenkollektiv der Weltgeschichte hat versagt und der göttliche Ratschluss, den Universal-Roman der Weltgeschichte nicht selbst zu bearbeiten, entpuppte sich aus postapokalyptischer Perspektive als fataler Fehler. Kants eigenes Szenario einer Post-Apokalypse ist uns durch seine Überlegungen zum Ende aller Dinge überliefert. In diesem kuriosen Aufsatz erweist sich Kant als fast noch gnadenloserer Weltrichter als Kreuzgang. Denn wenn sich am Jüngsten Tag zeigen sollte, dass die Menschheit ihrer moralischen Pflicht als Endzweck der Schöpfung nicht gerecht geworden ist, so wäre „kein rechtfertigender Grund da […], warum sie [die Menschen] überhaupt wären erschaffen worden.“ Bei solcher Lage der Dinge wäre der Weltaufenthalt auch für Kant ein lächerliches „Schauspiel […] das gar keinen Ausgang hat und keine vernünftige Absicht zu erkennen giebt“.137 Aber Kant bemüht sich redlich – um mit Kreuzgang zu reden – „das verpfuschte Ding in eine höhere Sprache zu übersetzen“138 und schickt sich an, eine „moralische Theaterordnung“ einzuführen, „nach der Alles zulezt sich gut auflösen müsse“.139 Er kann die Faktizität des lächerlichen Schauspiels überblenden, indem er den tatsächlichen Verlauf der Geschichte auf eine Finalursache hin literarisch konstruiert und so tut, als ob es sich bei diesem Possenspiel um die „sukzessive Realisation vernünftiger Verhältnisse“140 handle. Um also „ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen“,141 entwirft Kant den Plan einer Weltgeschichte, und setzt vor deren reale Ereignung einen simulierten Werdegang.

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Klingemann, Nachtwachen, 48. Klingemann, Nachtwachen, 51. Klingemann, Nachtwachen, 51f. Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 8, Berlin 1914. Hier: AA 8, 331. Klingemann, Nachtwachen, 52. Klingemann, Nachtwachen, 37. Arno Böhler, Nietzsches virtuelle Wanderung im Sprachzeitraum des Gefährlichen Vielleicht, in: Volker Gerhardt und Renate Reschke (Hg.), Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 11 (2003), 251–264, 260. Kant, Idee, AA 8, 29.

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Dem „falschen jüngsten Tages Lerm“142 Kreuzgangs entspricht sodann spiegelverkehrt die weltbürgerliche Absicht einer vernünftigen Geschichtssimulation. Denn mit ihrer Hilfe ersetzt Kant das faktisch besehen lächerliche Schauspiel, „das gar keinen Ausgang hat“, durch ein transzendentales Regietheater, indem es alsdann zum Beispiel heißt: „die Dinge der Welt müssen so betrachtet werden, als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten“.143 Da aus intellektueller Redlichkeit kein objektiver Trost mehr greifbar ist, bedarf es einer praktisch-appelativen Restauration derjenigen Glaubenssätze, die zuvor der theoretischen Destruktion zum Opfer gefallen waren. Es bedarf einer weltgeschichtlichen Quasi-Teleologie, um sich darüber hinwegzutäuschen, „wie es doch in den ursprünglichen Verhältnissen wirklich ist“, nämlich: „alles recht erhaben unmotivirt“.144 Und so transformiert Kant die christlichen Erlösungsdogmen mit viel Ironie und dem Konjunktiv irrealis als der grammatischen Entsprechung des romantischen Prinzips Sehnsucht in die virtuelle Realität des als-ob.145 Der Hanswurst kann Kant dafür nur gratulieren, „daß er das griechische Fatum abgeschaft und dafür eine moralische Theaterordnung eingeführt habe, nach der Alles zulezt sich gut auflösen müsse“.146 Zuletzt kann also auch dieser Verfasser seinen „albernen Roman“ einer vernünftigen Weltgeschichte nicht in eigenem Namen unterzeichnen; muss den Unsinn der Welt auf einen intelligenten Autor, sich selbst als Pseudonym auf den wahren Dichter zurückführen und an „eine Concurrenz göttlicher Weisheit zum Laufe der Natur auf praktische Art glauben, wenn man seinen Endzweck nicht lieber gar aufgeben will“.147 „Es gibt ein weites Feld für die Teleologen“, mokiert sich der damit angesprochene „wahnsinnige Weltschöpfer“ über seine postulierte Konkurrenz. „O das Sonnenstäubchen hat eine erstaunliche Vernunft, und bringt selbst in das Willkührlichste und Verworrenste etwas systematisches“,148 konstatiert derselbe die Farce einer Autorschaft, die sich angesichts des schlichten Zuvorgekommenseins

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Klingemann, Nachtwachen, 48. Kant, Kritik der reinen Vernunft; A 671/B 699. Klingemann, Nachtwachen, 39. Wenn er nicht hinter seine eigene Kritik zurückfallen will, kann Kant nämlich den Erfolg moralischen Handelns (und das faktische Erreichen des Endzwecks durch einen tatsächlich vernünftigen Gang der Geschichte) von sich aus nicht versprechen. Da das Ideal einen Zweck gebietet, der „theoretisch betrachtet, ohne eine darauf hinwirkende Macht eines Weltherrschers, durch meine Kräfte allein, unausführbar ist (das höchste Gut)“, postuliert Kant die virtual reality einer göttlichen Weltregierung, die den Sinn pflichtbewussten Handelns unter der Annahme sicherstellt, dabei so zu tun, „als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre.“ (Immanuel Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA 8, Berlin 1914, 396) 146 Klingemann, Nachtwachen, 37. 147 Kant, Das Ende aller Dinge, AA 8, 337. 148 Klingemann, Nachtwachen, 79.

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des Textes / der Welt nur in Nachträglichkeit als souveräne Kontrollinstanz simulieren kann. Das verirrte Subjekt der Autonomie führt forthin eine phantasmatische Parallellexistenz – „weder als persona vera noch victa“ – in der es wie der „von Natur“ aus hinkende Kreuzgang immer ein Stück hinter demjenigen herhinkt, was es als das Versprechen seiner vollkommenen Identität vor sich herschiebt: das höchste Gut, den Sinn der Geschichte, Unsterblichkeit etc.: – Bonaventura: das gute Geschick.

Sarah Caroline Jakobsohn

Der Robespierre der Deutschen. Kants Zerstörungswerk in Heines Traum von der Revolution Dem Andenken an Klaus Dethloff gewidmet Bei dem traurigen Anblick nicht sowohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich untereinander antun, erheitert sich doch das Gemüt durch die Aussicht, es könne künftig besser werden; und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein und die Früchte, die wir zum Teil selbst gesät haben, nicht einernten werden. Immanuel Kant1 Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge die Gegenwart versteht, so lassen die Völker sich nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristokratie zu Haß und Krieg verhetzen, das große Völkerbündniß, die heilige Allianz der Nazionen, kommt zu Stande, wir brauchen aus wechselseitigem Mißtrauen keine stehenden Heere von vielen hunderttausend Mördern mehr zu füttern, wir benutzen zum Pflug ihre Schwerter und Rosse, und wir erlangen Friede und Wohlstand und Freyheit. Heinrich Heine2

Der selbst ernannte Kosmopolit Heinrich Heine und der konsequent sesshafte Immanuel Kant bleiben auch auf den zweiten Blick zwei Denker, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Während Kant ein ordnungs- und strukturliebender Denker war, widersetzt sich Heines Werk beharrlich jedem systematischen Zugriff. Wenn auch bei der Lektüre des späten Heine das Gefühl anhält, einen heranwachsenden Tausendsassa zu lesen, der mit ungebremster Agilität von Gebiet zu Gebiet hinüberwechselt, Fragmente fabriziert, sich neue Textgattungen erschließt und diese innovativ exploriert, drängt sich spätestens beim Kant der Kritiken der Eindruck auf, es weniger mit einem Menschen, als mit einer 1 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 8, Berlin 1912, 309. Interessanterweise bezieht sich Karl Kraus auf dieses Zitat in seiner Rezeption der Friedensschrift Kants. Vgl. Karl Kraus, Zum ewigen Frieden, in: Die Fackel 474, Wien 1918, 159. 2 Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. v. Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf, Bd. I–XVI, Hamburg 1973–1997 (DHA); Französische Zustände, DHA XII/1, Hamburg 1980, Vorwort, 65.

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gefestigten philosophischen „Entität“ zu tun zu haben. Oder wie der Heinebewunderer Nietzsche (1844–1900) es ausdrückte: Kants „Gedanken machen nicht eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte aus, es gibt da keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu erraten“, sein „Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele, sondern […] eines Kopfes“.3 Dennoch würde der Heine-Kritiker Karl Kraus (1874–1936) wohl ohne Umschweife konstatieren, dass Kant in seinem Königsberg „kosmischer“ gewesen sei, „als Heine im Weltall.“ Denn, so folgert er, es „werden doch die, welche nie aus ihrem Bezirk herauskamen, weiter kommen als die, die nie in ihren Bezirk hineinkamen.“4 Auf diese Kritik wird im Folgenden noch einzugehen sein, weil sie für das Verhältnis von Kant und Heine in Hinblick auf ihren jeweiligen Umgang mit Sprache erhellend sein kann. Neben allen Unterschieden in Lebensund Arbeitsweise finden sich auch Übereinstimmungen im Denken beider, die eine genauere Betrachtung verdienen. Heine macht einzelne Motive der Philosophie Kants für sein Denken fruchtbar, beziehungsweise nascht er hier und da an ihren Früchten, an denen er insbesondere seine Träume von der Revolution zu berauschen weiß. Zwar selbst kein Kantianer, aber durchaus Kenner von Kants Philosophie, denkt er dessen Diktum, dass in der Kritik der reinen Vernunft lediglich das Wissen aufgehoben werden musste, „um zum Glauben Platz zu bekommen“,5 weiter, indem er das Augenmerk auf die praktischen Implikationen der im Bereich des Theoretischen geleisteten Vernunftkritik richtet: dass nämlich ihre Langzeitwirkung darin bestünde, den Glauben zu überwinden, um zum Handeln Platz zu bekommen. Seine Hoffnung auf eine gesellschaftliche Revolution in Deutschland, als deren Vorbild er die französische ansah, speiste sich aus der Überzeugung, dass zunächst der Deismus aufgehoben werden müsse zugunsten einer Hinwendung zur Diesseitigkeit, die in letzter Konsequenz mit einer „Gottwerdung des Menschen“ einhergehen werde und die er als eine Entwicklung zur radikalen Selbstermächtigung und Demokratisierung auslegte. Eben diese Überwindung des Deismus habe Kant mit der Kritik der reinen Vernunft, wenn nicht geleistet, dann zumindest in entscheidender Weise vorbereitet. Die Kant-Passage aus der Geschichte über die Religion und Philosophie in Deutschland ist vielfach zitiert, gedeutet und auf ihren philosophischen Gehalt 3 Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, Bd. 3: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881), Fünftes Buch, 481, Zwei Deutsche, 285f. 4 Karl Kraus, Heine und die Folgen, 77–110, in: Derselbe, Heine und die Folgen: Schriften zur Literatur, Göttingen 2014, 101. 5 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998. Im Folgenden nach der Paginierung der ersten Auflage 1787 (B). Hier: B XXX.

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hin geprüft worden,6 weswegen es mir lohnenswert erscheint, eine umfänglichere Spurensuche nach Sedimenten von Kants Philosophie in Heines Werk zu unternehmen. Gleichsam wie eines Requisits, das er mitunter an mehr oder weniger sorgsam ausgewählter Stelle über die Bühne trägt, bedient sich Heine Kants. Dieser funktional tendenziöse Gebrauch der Kantischen Philosophie tut dabei der Originalität und literarischen Finesse ihrer Heineschen Gestalt keinen Abbruch, und ist zugleich exemplarisch für seine Arbeitsweise. So verfolgt dieser Text zwei divergierende Erkenntnisinteressen: einerseits wird anhand seiner Kant-Rezeption Heines methodischer Umgang mit Quellen exemplarisch illustriert, andererseits wird eine historisch-kritische Lektüre dieser Rezeption unternommen und auf den Topos der Revolution hin, der sowohl für Kant als auch Heine Fluchtpunkt ihrer aufklärerischen Sehnsüchte bildete, verdichtet. Anhand dreier thematischer Beispiele zeige ich Heines Lektüreinteresse an Kants Schriften. Will man sich mit Heines Kantrezeption befassen, so führt freilich kein Weg an seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland vorbei, in der Kant als „Terrorist“ in Reiche der Gedanken seinen prominenten Auftritt hat und sich Heine letztlich an der Frage der Beziehung von Theorie und Praxis am für ihn zentralen Beispiel der Revolution abarbeitet. Es finden sich bei Heine aber auch vereinzelte Reminiszenzen an Kantische Argumente, die über die berühmte Terrorgroteske aus der Deutschlandschrift hinausgehen. In einem zweiten Beispiel zeige ich eine Parallele zwischen Kant und Heine auf, anhand der Themen Publikationsfreiheit und Lügenverbot als Ermöglichungsbedingungen einer „Verbesserung der Menschheit“. Ein drittes Beispiel bezieht sich auf die Frage einer möglichen Überwindung transzendenter Bedürfnisse auf dem Wege der Vernunftkritik und ihrem notwendigen Scheitern an den realen Existenzbedingungen des Menschen. Nachdem der Heine der Deutschlandschrift für eine radikale Überwindung des Deismus eingetreten war, wendet sich der späte Heine einem theistischen Synkretismus zu, der vielfach auf Unverständnis gestoßen ist. In einem abschließenden Kapitel wird daher versucht, diese Wandlung Heines anhand seiner revidierten Lesart von Kants Philosophie, wie sie in der Vorrede zur zweiten Auflage der Deutschlandschrift von 1852 zu finden ist, in einen Zusammenhang zu stellen mit seinen früheren Ambitionen, die Autorität der Religion zugunsten einer gesellschaftlichen Emanzipation zu überwinden, für die er nicht zuletzt seine emphatische KantInterpretation ins Treffen führte.

6 Siehe zum Beispiel Rudolf Malter, Heine und Kant, in: Heine Jahrbuch 1979, 18. Jahrgang, hg. v. Joseph A. Kruse, Hamburg 1979, 35–64; Wolfgang Wieland, Heinrich Heine und die Philosophie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVJS) 1963 Vol. 37, 232–248 und Ruth Saueracker-Ritter, Heinrich Heines Verhältnis zur Philosophie, München 1974, 72–82.

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Prolog: Kraus’ „Kantische“ Heine-Kritik – der Sprache (nicht) verpflichtet Es mag überraschen, dass Karl Kraus’ kontroverse Heine-Kritik hier vorangestellt wird. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sie einen Einstieg in die Causa Heine, wie ich hoffe, erleichtern kann. Denn ebenso wie Kraus Heines Umgang mit Sprache primär auf seine gesellschaftspolitischen Implikationen hin kritisiert, kritisiert auch Heine Kants Umgang mit Sprache – wie ich zeigen werden – in ähnlicher Absicht. Wie Heine an Kants Philosophie in erster Linie ihre „sociale Bedeutung“7 interessiert, kritisiert Kraus in seinem furiosen Essay Heine und die Folgen nicht so sehr Heine selbst als vielmehr über dessen Kopf hinweg, eine für ihn in der deutschen Literatur seiner Zeit symptomatisch gewordene Verkommenheit des Stils und einen leichtfertigen Umgang mit Sprache, der anstatt ihr zu dienen, sich ihrer distanzlos bediene; eine Tendenz, die er in Heine, einem frühen Repräsentanten des deutschen Feuilleton, in besonderer Prägnanz verkörpert sieht. Die Auswirkungen dieser Entwicklung beschränken sich nun Kraus zufolge keineswegs auf stilistische Fragen, sondern kongruieren mit Veränderungen in der Tiefenstruktur einer Gesellschaft, die der Entzweiung von Stoff und Form zugunsten einer leichteren Verdaulichkeit und Konsumierbarkeit nur scheinbar gewichtiger Gedanken sowie der Nutzbarmachung von Sprache für die öffentliche „Meinungsbildung“ sehr entgegen kommen. Die Tiefe des Gedankens gehe Heine ebenso ab wie die Redlichkeit ernsthafter Denkarbeit.8 Wie gründlich Kraus Heines Werk gekannt hat, sei dahingestellt, auch verzichte ich auf eine eingehende Berechtigungsprüfung der harsch formulierten Kritik – der wesentliche und in diesem Zusammenhang wie mir scheint berechtigte Grund, sie hier anzuführen, besteht in einer nicht abzustreitenden allzu großen Wendigkeit im Denken, bei mitunter fehlender Gründlichkeit desselben, die sich bei Heine allenthalben nachweisen lassen und deren Folgen Kraus jedenfalls zu Recht anprangert. Selten kann er einer sich offerierenden Pointe widerstehen und sei sie auch mitunter geschmacklos oder zumindest abgeschmackt. Wortgewaltig klagt Kraus diesen Umgang mit Sprache an, der mehr

7 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, DHA VIII, Hamburg 1979, 84. Im Folgenden wird der in der Forschung gängige Kurztitel Deutschlandschrift verwendet. 8 Solcherart hageln da die Krausschen Vorwürfe auf den liebsten Schmetterling deutscher Bürgerstuben nieder, dessen Buch der Lieder zu deren fixem Inventar um die Jahrhundertwende zählte und das auch nach den Bücherverbrennungen zur Zeit des Naziterrors in Neuauflage stante pede seinen Weg aufs Bücherregal zurückfand. Als wäre nichts geschehen drückten die Deutschen ihren Heine wieder an die entnazifizierte Brust und schwelgten wie eh und je in ihrer Lorelei, deren keineswegs „unbekannter deutscher Dichter“ nun wieder bei seinem Namen genannt werden konnte.

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ihrem Unterhaltungswert als ihrem Eigenwert, Kantisch gesprochen: ihrem Wert „an sich“ verpflichtet ist: Heine war nur ein Draufgänger der Sprache; nie hat er die Augen vor ihr niedergeschlagen. Er schreibt das Bekenntnis hin: „Der Grundsatz, daß man den Charakter eines Schriftstellers aus seiner Schreibweise erkenne, ist nicht unbedingt richtig; er ist bloß anwendbar bei jener Masse von Autoren, denen beim Schreiben nur die augenblickliche Inspiration die Feder führt, und die mehr dem Worte gehorchen, als befehlen. Bei Artisten ist jener Grundsatz unzulässig, denn diese sind Meister des Wortes, handhaben es zu jedem beliebigen Zwecke, prägen es nach Willkür, schreiben objektiv, und ihr Charakter verrät sich nicht in ihrem Stil.“ So war er: ein Talent, weil kein Charakter; bloß daß er die Artisten mit den Journalisten verwechselt hat. Und die Masse von Autoren, die dem Wort gehorchen, gibt es leider nur spärlich. Das sind die Künstler. Talent haben die andern: denn es ist ein Charakterdefekt.9

Wo immer dieser Vorwurf zutrifft und soweit er dies tut, hätte das auch Implikationen für Heines Inanspruchnahme des Kantischen Denkens. Denn Kant, der als Lichtgestalt der Aufklärung für eine dem kritischen Denken verpflichtete Sprache steht, war, obgleich er durchaus Humor besaß, doch keineswegs bereit, Späße mit ihr zu treiben. Vielmehr ist er als einer jener seltenen Autoren zu rühmen, die dem Wort, wie Kraus es fordert, aus tiefster Überzeugung gehorchten. Ein glühender Verfechter der Aufrichtigkeit, der zum Schutze der Sprache vielfacher Kritik zum Trotz ein rigoristisches Lügenverbot vertrat, kann einen solchen Aufruf zur artistisch-manipulativen Sprachkunst, wie Heine sie praktizierte, nur ablehnen.10 Selbst durchaus nicht als Draufgänger bekannt, war er stets darauf bedacht, ihr – der Sprache – gerecht zu werden, das heißt in ihrem Gebrauch, ihrer Funktion zu dienen, das Denken auszudrücken. Da sie diesem edelsten Geschäft vernunftbegabter Wesen dient und gleichsam Bedingung der Möglichkeit zur Befähigung ethischen Handelns ist, gilt es, sie vor Missbrauch zu schützen. Kraus stellt die deutsche Sprache als eine Gefährtin dar, „die nur für den dichtet und denkt, der ihr Kinder machen“ könne. Ihr gegenüber stellt er die leichtfertige Pariserin, also die französische, die „nichts zu sagen“ brauche „als im entscheidenden Augenblick très joli“, und man glaube ihr alles. „Und hätte ihr Partner dazu die Schönheit im Gehirn, das romantische Leben wäre nicht bloß très joli, sondern fruchtbar, nicht von Niedlichkeiten und Nippes umstellt, sondern von Taten und Monumenten.“11 Heine, der den französischen Stil ins Deutsche eingeführt habe, sei der deutschen Sprache ein impotenter Partner 9 Kraus, Heine und die Folgen, 103. 10 Heine indes sieht in Kants „unerbittliche[r], schneidende[r], poesielose[r], nüchterne[r] Ehrlichkeit“ einen Charakterzug, der ihn Robespierre ähnlich mache. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 82. 11 Kraus, Heine und die Folgen, 79.

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gewesen, denn er habe, so lässt sich schließen, die Schönheit im Gehirn vermissen lassen, ihr aber „so sehr das Mieder gelockert […], daß heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können.“12 Dieses Bedenken, das Kraus gegen Heines Haltung zur Sprache äußert, lässt sich durchaus für die sozialrevolutionäre Sache ins Treffen führen, um die es dem Dichter doch selbst Zeit seines Lebens ging: Wenn die Sprache ihre gewichtige Rolle als Emanze des Menschengeschlechts, als kämpferische Amazone für Freiheit und Gleichheit unter den Menschen nicht einzunehmen vermag, bleibt sie eine kokette Pariserin, der wenig zugetraut und noch weniger abverlangt wird, während ihre grenzenlosen und stets fruchtbaren Potenziale ungenutzt bleiben. Es ist fraglich, ob Kant sein Heinesches Konterfei amüsiert hätte, obgleich sein ausgeprägter Sinn für Humor, vielfach – unter anderem durch Heine selbst – verbrieft ist. So findet sich eine bemerkenswerte Stelle, an der Heine Kants Witz in seinen Frühschriften kommentiert: „Der Witz rankt da an dem Gedanken, und trotz seiner Schwäche erreicht er dadurch eine erquickliche Höhe. Ohne solche Stütze freylich kann der reichste Witz nicht gedeihen; gleich der Weinrebe, die eines Staabes entbehrt, muß er alsdann kümmerlich am Boden hinkriechen und mit seinen kostbarsten Früchten vermodern.“13 Während Heines Bild für die Gedeihensbedingungen von Kants Witz überaus treffend ist, bezeichnet es doch zugleich, was sich an dem seinen bemäkeln lässt: Kraus würde Heine ohne Umschweife attestieren, in Ermangelung erhebender Gedankentiefe selbst kübelweise Fallobst produziert zu haben.

1.

Heine liest Kant

In diesem ersten Kapitel wende ich mich zunächst Heines Kant-Lektüre im Allgemeinen zu und lasse daran anschließend auf Kraus’ Heine- nun Heines Kantkritik folgen, um zu illustrieren, mit welchem Impetus er dessen Sprache und in weiterer Folge den Sprachgebrauch des gesamten Deutschen Idealismus zugunsten einer Popularisierung der Bildung kritisiert. Heines Lehrer am Düsseldorfer Lyzeum, Aegidius Jacob Schalmayer und Joseph Schram, waren überzeugte Kantianer.14 Es kann davon ausgegangen werden, dass bereits Heines früheste Berührungen mit der Philosophie unter einer kräftigen Einfärbung mit Kantischen Aufklärungsgedanken erfolgten. In seinen Memoiren schreibt Heine, es sei „bedeutsam, daß mir bereits in meinem dreyzehnten 12 Kraus, Heine und die Folgen, 82. 13 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 83. 14 Malter, Heine und Kant, 44; vgl. auch Manfred Windfuhr, Heinrich Heine. Revolution und Reflexion, Stuttgart 1969, 4ff.

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Lebensjahr alle Systeme der freyen Denker vorgetragen wurden und zwar durch einen ehrwürdigen Geistlichen ( jenen Schalmayer, S. J.), der seine sacerdotalen Amtspflichten nicht im Geringsten vernachläßigte, so daß ich hier frühe sah wie ohne Heucheley Religion und Zweifel ruhig neben einander gingen“.15 So kann der junge Heine zweifellos auf einige profunde philosophische Kenntnisse zurückgreifen, strebt jedoch nie selbst in diese Richtung. Sein Selbstverständnis als Dichter mag seinen mitunter leichtfertig anmutenden Umgang mit philosophischen Gedanken erklären, sollte zugleich aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heine bei aller Ironie seiner Darstellungsweise ein – wie Wolfgang Wieland es formuliert –„sehr bewußtes Verhältnis zur philosophischen Tradition“ hatte, „auf deren Verständnis er große Mühe gewendet hat“.16 Welche Schriften Kants Heine tatsächlich gelesen hat und wie gründlich, ist meines Wissens nicht genau belegt. Bekannt ist, dass er sich in der Deutschlandschrift recht ausführlich, wenn auch vorsichtig selektiv, auf die Kritik der reinen Vernunft bezieht und auch die anderen beiden Kritiken dort Erwähnung finden. Es ist davon auszugehen, dass er die drei Kritiken gelesen, die Kritik der reinen Vernunft nach eigenen Angaben sogar ‚mehrmals durchstudiert‘ hat.17 Aber er nennt auch weitere Schriften, wenn er etwa Kants „schlechte Schreibart“ in der Kritik der reinen Vernunft tadelt und sie seinen früheren Schriften gegenüberstellt, die dieser gleichsam „vor sich hingeträllert“ habe, so zum Beispiel Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen und die Träume eines Geistersehers.18 Über 15 Heinrich Heine, Memoiren, DHA XV, Hamburg 1982, 60f. 16 Wolfgang Wieland, Heinrich Heine und die Philosophie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVJS) 1963 Vol. 37, 232–248, 233. Der Frage nach dem philosophischen Stellenwert Heines sind neben Wieland unter anderem auch Heinz Pepperle (Heinrich Heine als Philosoph, in: Gerhard Höhn (Hg.), Heinrich Heine Ästhetisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1991, 155–175) und Wolfgang Harich (Heinrich Heine und das Schulgeheimnis der deutschen Philosophie, in: Sinn und Form 8 (1956), Hefte 1–3, 27–59) nachgegangen. Die Deutschlandschrift ist ein Beispiel für Heines Ambitionen auf dem Gebiet der gemeinverständlichen Darstellung philosophischer Systeme, ein weiteres stellt sein Versuch einer ebenfalls für das französische Publikum verfassten Darstellung der Hegelschen Philosophie dar, der allerdings nie veröffentlicht und Heine zufolge von ihm selbst nach der Fertigstellung vernichtet wurde. Vgl. Heine, Geständnisse, DHA XV, 35ff.: „Ich beschäftigte mich während zwey Jahren mit dieser Arbeit, und es gelang mit nur mit Noth und Anstrengung, den spröden Stoff zu bewältigen und die abstraktesten Parthien so populär als möglich vorzutragen. Doch als das Werk endlich fertig war, erfaßte mich bey seinem Anblick ein unheimliches Grauen […] Ich sah gründlich ein, daß der Druck derselben weder dem Publikum noch dem Autor heilsam seyn konnte, […] und an einem stillen Winterabend, als eben in meinem Kamin ein starkes Feuer brannte, benutzte ich die schöne Gelegenheit, und ich warf mein Manuskipt über die Hegelsche Philosophie in die lodernde Glut“. 17 Vgl. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 87. 18 Vgl. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 82.

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die Kritik der reinen Vernunft heißt es: „Keine von allen Schriften Kants hat größere Wichtigkeit.“19 Er geht sogar noch weiter und schreibt lapidar, alle anderen Werke Kants seien „einigermaßen als entbehrlich oder allenfalls als Kommentar zu betrachten“20, woraus sich wohl, da ein solches Urteil diese voraussetzt, auf Heines Kenntnis vieler oder der meisten davon schließen lässt. Der Kritik der reinen Vernunft habe Kant, so Heine, eine „steife, abstrakte Form“ verliehen, „die alle Vertraulichkeit der niederen Geistesklassen kalt ablehnte. Er wollte sich von den damaligen Popularphilosophen, die nach bürgerlichster Deutlichkeit strebten, vornehm absondern, und er kleidete seine Gedanken in eine hofmännisch abgeklärte Kanzeleysprache.“21 Dieser Vorwurf des Elitären verweist auf Heines eigenes Primat des Popularen in der Philosophie wie in der Literatur,22 das ihm Karl Kraus unter anderen Vorzeichen zum Vorwurf machte. Im Vorwort zur Deutschlandschrift fragt Heine: „Was helfen dem Volke die verschlossenen Kornkammern, wozu es keinen Schlüssel hat? Das Volk hungert nach Wissen“ und er fährt fort: „Ich glaube, es ist nicht Talentlosigkeit, was die meisten deutschen Gelehrten davon abhält, über Religion und Philosophie sich populär auszusprechen. Ich glaube es ist Scheu vor den Resultaten ihres eigenen Denkens, die sie nicht wagen dem Volke mitzutheilen.“23 Dieser Ausspruch lässt sich durchaus als Erwiderung auf Kants Erklärung in den Vorreden zur Kritik der reinen Vernunft lesen, in der dieser zugibt, dass Mängel in der Art seiner Darstellung bestehen, er selbst sich aber außer Stande sah, diese zu beheben.24 Diese Entzweiung von Form und Inhalt macht Heine Kant berechtigterweise zum Vorwurf. Liest man die Vorreden, so erweckt es in der Tat den Anschein, als sähe Kant in der Form allein eine ästhetische Ingredienz, die dem soliden Inhalt seiner Gedanken keinen Abbruch tun könne – um die Form könnten sich getrost seine Nachfolger verdient machen, so Kant. Ein von Heine zitierter Brief Fichtes, in dem sich dieser über Kants vermeintlich unbeabsichtigte Obskurität äußert, die ihn vor Verfolgung und seine Philosophie weitestgehend vor Zensur geschützt habe (ein Glück, das weder Fichte noch Heine beschieden sein sollte), scheint in eine ähnliche Richtung zu weisen: „Ich habe nie geglaubt, dass sie meinen vorgeblichen Atheismus verfolgen; sie verfolgen in mir einen Freydenker, der anfängt sich verständlich zu machen, (Kants Glück war 19 20 21 22

Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 82. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 84. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 83. Vgl. dazu Röllis Darstellung von Heines Verständnis einer Popularphilosophie: Marc Rölli, Wer denkt abstrakt? Heine, Hegel und die Popularphilosophie, 15–39, in: Derselbe und Tim Trzaskalik (Hg.), Heinrich Heine und die Philosophie. Vier Beiträge zur Popularität des Denkens, Wien 2007. 23 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 13. 24 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A XVIIf./B XXXVIIff.

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seine Obscurität) und einen verschrienen Demokraten; es erschreckt sie, wie ein Gespenst, die Selbstständigkeit, die, wie sie dunkel ahnen, meine Philosophie weckt.“25 Heine nun betätigt sich als Maieutiker, um die emanzipatorischen Potenziale der deutschen Philosophie mit oder gegen deren Absichten offenzulegen. Kants Schreibart, die seine „geistlosen Nachahmer“ nachgeäfft haben, macht er für den in Deutschland verbreiteten Aberglauben mitverantwortlich, „daß man kein Philosoph sey wenn man gut schriebe.“26 Dass diese Missbilligung darauf abzielt, sich selbst in die Reihen der Philosophen einreihen zu wollen, ist weniger wahrscheinlich, als dass sie Heines innerer Überzeugung entsprach, wonach sich selbst die tiefsten Gedanken in verständlicher Form mitteilen lassen, die Form selbst aber von entscheidender Bedeutung für die Integrität der in ihr zum Ausdruck gebrachten Gedanken ist. Im Gegensatz zu Kant wendet sich Heine „gegen die Vorstellung, dass die Essenz philosophischer Wahrheiten im Reich des reinen Geistes liegt, und von dort aus langsam ins gesellschaftliche Leben einsickert, indem sie verwässert.“27 Jene Geistlosen hätten sich zwar nicht darauf verstanden, Kants Gedankentiefe nachzuahmen, aber zumindest die „Aeußerlichkeit“ des „steifleinenen Styl[s]“ sei ihnen geglückt.28 Während Kant seine tiefen Gedanken hinter seinem schlechten Schreibstil verbarg, hätten seine Nachahmer ihre fehlenden Gedanken mit Kantischem Schreibstil mimetisch umhüllt, um deren Blöße zu bedecken. Eine interessante Äußerung zu Heines Selbstverständnis als Dichter findet sich im Vorwort zu Atta Troll, wo er auf eine missverstandene Popularität hinweist, die sich in einer schlechten Schreibart äußere: Seine Sprachkritik richtet sich hier gegen die von ihm identifizierte Antithese von Talent und Charakter, wie er sie im Deutschland der 1840er Jahre anprangert, und die aus jener missverstandenen Popularität resultiere. Als neue Dimension kommt bei dieser später verfassten Sprachkritik zur Wurzel des Übels eine Moralisierung hinzu, dank derer die Beschränktheit des Denkens ihr beschämendes Moment einbüße und ihre stilistische Bemäntelung somit überflüssig werden ließ. Schämen sollte sich fortan, wer schreiben konnte, denn ihm drohte es, in den Verruf der Charakterlosigkeit zu geraten. Die „rechte Gesinnung, das volle Herz“ ersetzten die analytische Klarsicht, das kritische Instrumentarium geistiger Arbeit, den Wortwitz und sprachlichen Schliff: Das Talent war damals eine sehr mißliche Begabung, denn es brachte in den Verdacht der Charakterlosigkeit. Die scheelsüchtige Impotenz hatte endlich, nach tausendjäh25 26 27 28

Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 106. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 83. Rölli, Wer denkt abstrakt?, 43f. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 83.

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rigem Nachgrübeln, ihre große Waffe gefunden gegen die Uebermüthen des Genius; sie fand nemlich die Antithese von Talent und Charakter. Es war fast persönlich schmeichelhaft für die große Menge, wenn sie behaupten hörte: die braven Leute seyen freylich in der Regel schlechte Musikanten, dafür jedoch seyen die guten Musikanten gewöhnlich nichts weniger als brave Leute, die Bravheit aber sei in der Welt die Hauptsache, nicht die Musik. Der leere Kopf pochte jetzt mit Fug auf sein volles Herz, und die Gesinnung war Trumpf.29

Heine wendet sich scharf gegen diese zwei Extreme: einerseits lehnt er den verstiegenen Philosophenjargon des Deutschen Idealismus ab, der sich vor seiner potenziell praktischen Wirkmacht in eine formale Unverständlichkeit flüchtet, andererseits bezieht er Stellung gegen sprachliche Vulgarisierungstendenzen, die Gedankentiefe durch wohlfeiles Gesinnungsgeschwätz ersetzen. Beide Entwicklungen vermögen die „fortschreitende Macht des Nachdenkens“30 wohl nicht zu vereiteln, behindern sie jedoch allemal. Seine eigene Aufgabe sieht Heine darin, diese Hindernisse zu identifizieren, als solche anzuprangern und zu ihrer Beseitigung beizutragen, indem er sich als Dolmetsch und Anwalt der Aufklärung engagiert. In dieser Funktion enthüllt er das Eigenleben, welches das Kantische Denken – einmal auf die Menschheit losgelassen – ohne Regie seines Meisters zu führen beginnt. Obgleich Heine spitzbübisch betont, dass Kant kein Genie gewesen sei,31 – wobei er sich allerdings parodistisch auf dessen eigene Definition eines solchen bezieht, wie sie in der Kritik der Urteilskraft zu finden ist –, hätte er ihm weder Talent noch Charakter abgesprochen. Ganz im Gegenteil: Auch wenn Heine Kant (und nicht nur ihm) in der Deutschlandschrift eine Behandlung zuteilwerden lässt, die nicht mit Spott und Unverschämtheit geizt, bleiben die fast liebevollen Untertöne hörbar. Seine Hochachtung, wenn nicht gar Bewunderung kommt in überraschender Deutlichkeit zum Ausdruck, wenn man bedenkt, dass Heine ein genuines Talent dafür hatte, seine eigenen Ansichten in ironischen Nebel zu tränken und Farbe möglichst wenig zu bekennen.32 An unterschiedlichen Stellen 29 Heinrich Heine, Atta Troll. Ein Sommernachtstraum, DHA IV, Hamburg 1985, Vorwort, 10. 30 Vgl. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 32. 31 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 83: „Nur das Genie hat für den neuen Gedanken auch das neue Wort. Immanuel Kant war aber kein Genie. Im Gefühl dieses Mangels […] war Kant um so mißtrauischer gegen das Genie, und in seiner Critik der Urtheilskraft behauptete er sogar, das Genie habe nichts in der Wissenschaft zu schaffen, seine Wirksamkeit gehöre ins Gebieth der Kunst.“ In der Kritik der Urteilskraft heißt es: „Daß die Natur durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vorschreibe“. (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2009. Hier: § 47, AA 5, 308) 32 Wolfgang Preisendanz spricht sehr treffend von „kommunikativer Ambiguität“. Siehe Derselbe, Der Ironiker Heine. Ambivalenzerfahrung und kommunikative Ambiguität, 101–115, in: Gerhard Höhn (Hg.), Heinrich Heine. Ästhetisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1991.

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betont er die revolutionäre Leistung Kants auf dem Gebiet der Philosophie. Wo sein Lobeswort aufrichtig ist, wo nur Schall und Rauch und wo es sich etwa auf frühadoleszente Prägung gründet, darf unentschieden bleiben. Jedenfalls fällt ins Auge, dass Heine mit Kant Ähnliches widerfahren zu sein scheint, wie Karl Kraus es all jenen Verehrern Heines attestiert, die allzu früh mit dessen Lyrik in Berührung gekommen seien: „Man hat die Masern, man hat Heine, und man wird heiß in der Erinnerung an jedes Fieber der Jugend.“33 Mag Heines spezifische Wertschätzung für den Königsberger Philosophen wenigstens zum Teil auch einem Kantischen Jugendfieber geschuldet sein, so fasziniert ihn in der Deutschlandschrift in erster Linie die „sociale Bedeutung“34 von dessen Erster Kritik. Er liest ihn daher unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt: Heine konzentriert sich, wenn er Kants Hauptwerk im Zusammenhang der Darstellung der deutschen Philosophie und ihrer Geschichte behandelt, fast ausschließlich auf die Unterscheidung in Phänomena und Noumena und deren Konsequenz für die Gottesbeweise. Diesen Punkt bespricht er treffend, indem er betont, dass Kant die Gesamtheit der Gegenstände nicht in Dinge, „welche für uns existieren, und in Dinge, welche für uns nicht existieren“, unterschieden habe, sondern nur einen „Grenzbegriff“ geben wollte.35 Aus dem Abschnitt „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phänomena und Noumena“ leitet er die soziale Bedeutung der Kantischen Kritik ab, indem er sie als das wesentliche Moment für die gerechtfertigte Zurückweisung jeglichen deistischen Autoritarismus identifiziert, der die Grenzen der Erkenntnis überschreitet. Provokant verkürzt Heine Kants Analyse: „Gott ist, nach Kant, ein Noumen. In Folge seiner Argumentazion, ist jenes transzendentale Idealwesen, welches wir bisher Gott genannt, nichts anders als eine Erdichtung.“36 Ruth Saueracker-Ritter hebt hervor, dass an dieser Stelle besonders gut zum Ausdruck komme, wie Heine kurzerhand „‚theoretisch Gemeintes‘ in ‚A-Theoretisches‘“ umwandelt. Das „transzendentale Ideal“, von dem Kant im Zusammengang mit Gott spricht, gerät ihm zu einem „transzendentalen Idealwesen“.37 Bei Kant heißt es: „Denn die Vernunft legte sie [die transzendentale Idee, S.J.] nur, als den Begriff von aller Realität, der durchgängigen Bestimmung der Dinge überhaupt zum Grunde, ohne zu verlangen, daß alle diese Realität objektiv gegeben sei und selbst ein Ding ausmache. Dieses letztere ist eine bloße Erdichtung“.38 Da es Heine aber keineswegs darum ging, Kants Philosophie dem Buchstaben nach Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, verzichte ich darauf, 33 34 35 36 37 38

Kraus, Heine und die Folgen, 87. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 84. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 86. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 86. Saueracker-Ritter, Heinrich Heines Verhältnis zur Philosophie, 78. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 580/B 608.

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dieser offenbar „falschen“ Kantauslegung weiter nachzugehen. Obgleich sich annehmen lässt, dass Heine diese Lesart ganz bewusst verfolgt und sie keinem fehlenden Verständnis des Kantischen Textes geschuldet ist, würde auch im letzteren Fall das Missverständnis oder vielmehr die Ungenauigkeit seiner Auslegung davon zeugen, aus welchem spezifischen Interesse heraus sich Heine mit Kants Vernunftkritik befasst.

2.

Kant als Mittel zum Zweck einer deutschen Revolutionsgeschichte

Als erstes thematisches Beispiel von Heines Kantrezeption wende ich mich der vielzitierten Kant-Passage aus der Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland zu. Um diese ungewöhnliche Interpretation, in der Kant als Konterfei eines Robespierre in Erscheinung tritt, in ihrer ganzen Bedeutung für den Aufbau dieser Schrift ermessen zu können, folgen zunächst einige Hinweise zu ihrer generellen Intention und Heines Hoffnung auf eine politische Revolution in Deutschland nach französischem Vorbild, die für sein Denken zeitlebens konstitutiv geblieben ist. Der Ironiker Heine unterzieht den Vater der sogenannten Kopernikanischen Wende in der Philosophie einer Radikalkur in Sachen angewandter Revolution. Er stattet dessen Vernunftkritik im Bereich der Sozialpolitik mit einer Schlagkraft und Brisanz aus, die sich dieser im Allgemeinen für sein Hauptwerk, über dem er ganze 11 Jahre gebrütet, zunächst erwartet, dann zeitlebens erhofft hatte. Heine entwirft in seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland einen farbenprächtigen Schlachtplan, durch den er ausgehend von Kant auf den verschlungenen Pfaden des Deutschen Idealismus in ein politisch geläutertes Deutschland zu gelangen sich erträumte: Er träumt von einem Deutschland frei von Gottesunterwürfigkeit, Obrigkeitshörigkeit, Standesdünkel, Nationalismus und Zensur, einem freien Deutschland, frei für die Werte der französischen Revolution. Dass dieser Traum sich jederzeit in einen Alp verwandeln konnte und wie diese deutsche Revolution näherhin beschaffen sein würde, bleibt unausgesprochen zwischen den Zeilen erahnbar. Heine lässt seine Deutschlandschrift kryptisch und bedrohlich enden. Zentral für sein Verhältnis zur Philosophie ist sein Diktum: „Der Gedanke will That, das Wort will Fleisch werden.“39 Er beschwört eine künftige deutsche Revolution aus der „Gewalt des fortschreitenden Nachdenkens“.40 Eine „Dialektik der Aufklärung“, bei der sich 39 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 79. 40 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 32. Siehe dazu auch Hegels Philosophie der Geschichte, die Heine gekannt hat, vgl. beispielsweise Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über

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die Vernunft gegen sich selbst wendet, ist dabei der Möglichkeit nach in seinem Denken schon angelegt.41 So erklärt sich auch die blutrünstige Darstellung der Wirkmacht von Kants Vernunftkritik, wie sie in der Deutschlandschrift zu finden ist. Für Heine stehen Philosophie- und Religionsgeschichte in determinanter Verbindung zur politischen Entwicklung, die für ihn als sozialrevolutionär gesinnten Dichter von primärem Interesse war. Dementsprechend liegt seinen theoretischen Schriften der Leitgedanke zugrunde aufzudecken, welche gesellschaftlichen Folgen sich aus dem Denken einflussreicher Vertreter der Geistesgeschichte erklären oder prognostizieren lassen. Diese Überlegung leitet den Aufbau seiner Deutschlandschrift und schlägt sich dort in dem Narrativ einer Parallelisierung der französischen Revolution mit der deutschen Geistesgeschichte nieder. Bereits im Jahre 1831 findet sich diese Deutung in der Einleitung zu Kahldorf über den Adel, wo es heißt: Seltsam ist es, daß das praktische Treiben unserer Nachbarn jenseits des Rheins dennoch eine eigene Wahlverwandtschaft hatte mit unseren philosophischen Träumen im geruhsamen Deutschland. Man vergleiche nur die Geschichte der französischen Revolution mit der Geschichte der deutschen Philosophie, und man sollte glauben, die Franzosen, denen so viel wirkliche Geschäfte oblagen, wobei sie durchaus wach bleiben mußten, hätten uns Deutschen ersucht, unterdessen für sie zu schlafen und zu träumen, und unsere deutsche Philosophie sei nichts anderes als der Traum der französischen Revolution. So hatten wir den Bruch mit dem Bestehenden und der Überlieferung im Reiche des Gedankens, eben so wie die Franzosen im Gebiete der Gesellschaft, um die Kritik der reinen Vernunft sammelten sich unsere philosophischen Jakobiner, die nichts gelten ließen, als was jener Kritik standhielt. Kant war unser Robespierre.42

Schon in dieser kleinen Schrift findet sich der Vergleich zwischen Kant und Robespierre (1758–1794), den er in seiner 1834 erschienenen Deutschlandschrift wieder aufgreift. In beiden Schriften fährt er damit fort, Fichte mit Napoleon, Schelling mit der Restauration, Hegel mit Louis Philippe zu vergleichen. Wie ernst es ihm mit diesen Gegenüberstellungen war, darf in Zweifel gezogen werden, nicht hingegen, dass Heine in der Abfolge Reformation – Philosophie – politische Revolution eine Folgerichtigkeit sah, die dem „methodischen Volk“43 der Deutschen ganz und gar entsprach. Einem Wandel im Politischen musste seiner Überzeugung nach, anders als in Frankreich, eine Überwindung der Hodie Philosophie der Weltgeschichte, in: Derselbe: Gesammelte Werke, hg. v. Bernadette Collenberg-Plotnikov, Düsseldorf 2015, Bd. 27/1, 460. 41 Vgl. Christian Liedtke, „Die Gewalt des fortschreitenden Nachdenkens“ Heinrich Heine und die Philosophie, 15–39, 26, in: Marc Rölli und Tim Trzaskali (Hg.), Heinrich Heine und die Philosophie. Vier Beiträge zur Popularität des Denkens, Wien 2007. 42 Heinrich Heine, Kahldorf über den Adel, DHA XI, Hamburg 1978, Einleitung, 134. 43 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 117.

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heitsansprüche von Kirche und Klerus vorangehen, die dort nur mit Hilfe der Philosophie bewältigt werden konnte. Heine hat es sich zur Aufgabe gesetzt, das wohlgehütete „Schulgeheimniß“44 der deutschen Philosophie, die er als eine sukzessive Revolutionsgeschichte auslegt, auszuplaudern. Dieses bestünde in ihrer allmählichen Hinwendung zum Pantheismus. Zu einem näheren Verständnis dieser Auslegung ist es wichtig, die politische Bedeutung zu kennen, die Heine dieser Entwicklung beimaß: den Pantheismus versteht er als theologische Grundlage der Demokratie.45 Einer Verbreitung des Pantheismus als Ermöglichungsbedingung der Demokratie musste die Überwindung des Deismus vorausgehen, den Heine als theologische Chiffre weltlicher Despotie verwendet. Da eine umfänglichere Einordnung dieser politischen Lesart des Pantheismus in Heines Emanzipationstheorie hier nicht geleistet werden kann, belasse ich es bei dem Hinweis, dass dieser wesentliche Punkt die vorrangig sozialpolitische Auswertung der Resultate der Kantischen Philosophie in ihrer Heineschen Fasson begründet. Heine setzt sich damit scharf von ihrer Darstellung in Madame de Staëls (1766–1817) 1813 erschienenen, einflussreichen Abhandlung Über Deutschland ab. Heine verstand sich als einen politischen Dichter mit interkulturellem Auftrag: er schrieb seine zunächst für ein französisches Publikum verfassten Texte über Deutschland in der Absicht den Franzosen ein Bild seines Herkunftslands zu vermitteln, das die vorherrschende Sicht der Madame de Staël, deren Schrift bis dahin die Primärquelle der Franzosen über deutsche Literatur, Religion und Philosophie gewesen war, herauszufordern. Obgleich Kant in Heines philosophiehistorischer Schrift nicht die Hauptrolle einnimmt, – diese machen einander vielmehr Spinoza mit seinem frühkonzipierten, wirkmächtigen Pantheismus und Hegel, in dessen Erbe stehend, streitig – kommt ihm dort doch eine Schlüsselrolle zu. So statuiert er in seiner Respons auf Madame de Staël ein Exempel in Sachen konträrer Interpretation:46 während Kant in de Staëls Darstellung primär über seine Sittenlehre 44 Heine, Geständnisse, DHA XV, 29. 45 Dass Heine den Pantheismus als theologische Grundlage der Demokratie versteht, ist ein Gedanke, der sich bei Spinoza und Hegel in dieser Form nicht findet, obgleich er sich besonders in Spinozas Fall aus seinem Urteil über theologische Belange folgern lässt sowie aus dem Umstand, dass dieses in Spinozas Lehre für die Bestimmung der Praxis und jeder gelingenden Politik konstitutiv ist. Indem er primär darum bemüht ist, den Pantheismus auf politischem Terrain weiterzudenken, entwickelt er in diesem Punkt eine eigene Lesart der modernen Philosophie, die ihn zwar als Hegelschüler ausweist und in seiner Nähe zum frühen Linkshegelianismus zu erkennen gibt, zugleich aber auch die Exzentrik und Unabhängigkeit seiner eigenen Position verdeutlicht. 46 Heine widmete den fünften Band der Oeuvres, also der zwischen 1834 und 1835 erschienen französischen Ausgabe seiner bisherigen Werke, in der die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland abgedruckt wurde, Prosper Enfantin (1796–1864), dem damaligen Anführer der Saint-Simonisten (vgl. Giorgio Tonelli, Heinrich Heines politische Philosophie (1830–1845), Hildesheim/New York 1975, 97). In einem öffentlichen Brief rief dieser

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in Erscheinung tritt, als konservativer Vertreter des deutschen Geistes, den de Staël als vermeintlich antimaterialistisch, religiös verinnerlicht und politisch desinteressiert schildert, und dem französischen, von Revolution und Napoleonischen Kriegen geprägten gegenüberstellt, gelingt Heine eine vollständige Inversion dieses Bildes.47 Kants revolutionäre Tat, die vermeintliche Überwindung des Deismus, ist in der Geschichte, die Heine den Franzosen von der Entwicklung der Religion und Philosophie in Deutschland erzählt, ein bedeutsamer Meilenstein auf einem Weg, der sich als ein Kreislauf der Philosophie erweist und erst in Hegels Denken beschließt. Die in Deutschland sich bereits vollziehenden Revolutionsetappen auf den Gebieten der Religion und Philosophie sieht Heine als Wegbereiterinnen einer künftigen politischen Revolution, die er in seinem Deutschlandbuch mit der Gewissheit einer sich als notwendig abzeichnenden Konsequenz voraussagt: Die politische Revoluzion, die sich auf die Prinzipien des französischen Materialismus stützt, wird in den Pantheisten keine Gegner finden, sondern Gehülfe, aber Gehülfe, die ihre Ueberzeugungen aus einer tieferen Quelle, aus einer religiösen Synthese, geschöpft haben. Wir befördern das Wohlseyn der Materie, das materielle Glück der Völker, nicht weil wir gleich den Materialisten den Geist mißachten, sondern weil wir wissen, daß die Göttlichkeit des Menschen sich auch in seiner leiblichen Erscheinung kund giebt, und das Elend den Leib, das Bild Gottes, zerstört oder avilirt, und der Geist dadurch ebenfalls zu Grunde geht. Das große Wort der Revoluzion, das Saint-Just ausgesprochen: le pain est le droit du peuple, lautet bey uns: le pain est le droit divin de l’homme. Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Menschen. Hierin, und in noch manchen andern Dingen, unterscheiden wir uns von den Männern der Revoluzion.48

Der vom Pantheismus geleitete Sozialrevolutionär, in welchem für Heine die deutsche Philosophie schließlich praktisch würde, unterscheidet sich von seinen Vorgängern darin, dass er nicht mehr bloß „für die Menschenrechte des Volkes“ Heine zur Parteiarbeit auf und nannte ihn einen politischen Apostel Deutschlands (vgl. Windfuhr, Revolution und Reflexion, 114f.) Seine enge Verbindung zu den Saint-Simonisten, die Heine seit Beginn seiner Zeit in Paris aufgenommen hatte, hielt sich bis in seine letzten Lebensjahre. Auch die Art und Weise wie Heine religiöse und soziale Probleme als Synthese versteht, weist auf seine Nähe zu den Saint-Simonisten hin. Vgl. Windfuhr, Revolution und Reflexion, 147f. 47 Vgl. Malter, Heine und Kant, 36; vgl. Tonelli, Heinrich Heines politische Philosophie, 27ff. Nur unter der Bedingung, auf eine Madame de Staëls akademischem Schulstil entgegengesetzte Weise über Deutschland schreiben zu dürfen, nahm Heine diese Auftragsarbeit Victor Bohains, des Herausgebers einer der führenden französischen Zeitschriften, der Europe littéraire, an. Nicht geringer war sein Anspruch als dem „herrschenden Buch der Frau von Staël den Krieg“ zu machen (zitiert nach Windfuhr, Revolution und Reflexion, 143). Bohain ließ Heine freie Hand, wies ihn nur dazu an, „ja nicht langweilig“ zu schreiben (vgl. Windfuhr, Revolution und Reflexion, 142) – ein Auftrag, den zu erfüllen Heine sich durchaus im Stande sah. 48 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 61.

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kämpfe, sondern „für die Gottesrechte des Menschen“49. Zwar hat Kant mit seiner Kritik die von Heine prophezeite Götterdemokratie auch in Gedanken noch nicht erreicht, der Philosophie aber in entscheidender Weise den Weg dahin geebnet. Wie Heine dies argumentiert wird im folgenden Kapitel darzustellen sein. Heine schießt hier, wie er später selbst feststellt, wohl ein wenig über das Ziel hinaus, denn eine rechtliche Absicherung und faktische Umsetzung der „Menschenrechte des Volkes“ wäre vor der Etablierung jeder Götterdemokratie ein durchaus würdiges Etappenziel.

3.

Heines Hoffnung auf eine Revolution der Denkungsart als Wegbereiterin der Freiheit: Kant als „Terrorist“

Die Religion, die sich oft genug aus Herrschaftsmündern in säkular bemäntelter Rhetorik kundtut und in ihren Repräsentanten alter Ordnung auf Gottes Gnaden zu berufen weiß, hindere als mächtiger Widerpart im Kampf um Freiheit und Gleichheit in Deutschland die politische Revolution am Fortkommen: „denn auch wir können keine politische Revoluzion machen so lange es bey uns eine Religion giebt, welche verlangt daß man auch die linke Wange hinreicht wenn die rechte beorfeigt worden“.50 Aus diesem Gedanken heraus, dass sich nämlich der Despotismus in Deutschland nicht aus dem Land jagen lasse, wenn nicht vorher der alte Glaube überwunden worden sei, erklärt sich Heines Hoffnung auf die in die Zukunft projizierte durchschlagende Wirkung der von Kant vollzogenen Revolution der Denkungsart in ihrer Funktion als Überwinderin kirchlicher Hoheitsansprüche im Denken und Handeln der Menschen, die zugleich ihrer politischen Instrumentalisierung Vorschub leisten könne. In seinen Fragmenten schreibt er: „Die Vernichtung des Glaubens an den Himmel hat nicht bloß eine moralische, sondern auch eine politische Wichtigkeit: die Massen tragen nicht mehr mit christlicher Geduld ihr irdisches Elend, und lechzen nach Glückseligkeit auf Erden. Der Kommunismus ist eine natürliche Folge dieser veränderten Weltanschauung, und er verbreitet sich über ganz Deutschland.“51 Vor diesem Hintergrund gerät Kant Heine zu einem „Terroristen“ im Reich des Denkens, der dem Deismus selbst den Garaus gemacht habe mit seiner intellektuellen Ausgabe eines Todeswerkzeuges, das im Übrigen – worauf Heine an anderer Stelle süffisant verweist52 – seiner heutigen Bezeichnung zum Trotz ursprünglich eine 49 50 51 52

Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 61. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 453. Heine, Fragmente 1844, DHA XV, 170. „Wer nur im mindesten etwas gegen Jahn oder überhaupt gegen altdeutsche Lächerlichkeiten geschrieben hatte, konnte sich auf den Tod gefaßt machen, und zwar auf den Tod durchs Beil, nicht durch die Guillotine, obgleich diese ursprünglich eine deutsche Erfindung und schon

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deutsche Erfindung gewesen sei: In der Kritik der reinen Vernunft sieht er eine philosophische Guillotine. Kant hat seinen Auftritt als Alter Ego eines Robespierre mit Scharfrichterrock und Hackebeil, mit dem er dem alten Jehova zu Leibe rückt: Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte. Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben, in einem stillen abgelegenen Gäßchen zu Königsberg […]. Ich glaube nicht, daß die große Uhr der dortigen Kathedrale leidenschaftsloser und regelmäßiger ihr äußeres Tagewerk vollbrachte wie ihr Landsmann Immanuel Kant. […] [D]ie Nachbarn wußten ganz genau, daß die Glocke halb vier sey, wenn Immanuel Kant, in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand, aus seiner Hausthüre trat, und nach der kleinen Lindenallee wandelte, die man seinetwegen noch jetzt den Philosophengang nennt. Achtmal spazierte er dort auf und ab, in jeder Jahreszeit, und wenn das Wetter trübe war oder die grauen Wolken einen Regen verkündigten, sah man seinen Diener, den alten Lampe, ängstlich besorgt hinter ihm drein wandeln, mit einem langen Regenschirm unter dem Arm, wie ein Bild der Vorsehung. Sonderbarer Contrast zwischen dem äußeren Leben des Mannes und seinen zerstörenden, weltzermalmenden Gedanken! Wahrlich, hätten die Bürger von Königsberg die ganze Bedeutung dieses Gedankens geahnt, sie würden vor jenem Manne eine weit grauenhaftere Scheu empfunden haben als vor einem Scharfrichter, vor einem Scharfrichter, der nur Menschen hinrichtet – aber die guten Leute sahen in ihm nichts anderes als einen Professor der Philosophie, und wenn er zur bestimmten Stunde vorbeywandelte, grüßten sie freundlich, und richteten etwa nach ihm ihre Taschenuhr. Wenn aber Immanuel Kant, dieser große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf, so hat er doch mit diesem manche Aehnlichkeiten, die zu einer Vergleichung beider Männer auffordern. Zunächst finden wir in beiden dieselbe unerbittliche, schneidende, poesielose, nüchterne Ehrlichkeit. Dann finden wir in beiden dasselbe Talent des Mißtrauens, nur daß es der Eine gegen Gedanken ausübt und Critik nennt, während der Andere es gegen Menschen anwendet und republikanische Tugend betitelt. Im höchsten Grade jedoch zeigt sich in beiden der Typus des Spießbürgertums – die Natur hatte sie bestimmt Kaffee und Zucker zu wiegen, aber das Schicksal wollte daß sie andere Dinge abwögen, und legte dem Einen einen König und dem Anderen einen Gott auf die Waagschaale… Und sie gaben das richtige Gewicht!53

Heine besetzt Kant mit einer der Hauptrollen im geschichtlichen Drama des revolutionären Wandels: nach Martin Luther, durch den es möglich geworden war, die Bibel frei von aller Autorität zu deuten,54 und Ephraim Lessing, der die im Mittelalter bekannt war, unter dem Namen ‚die welsche Falle.‘“, Heinrich Heine, Ludwig Börne. Eine Denkschrift, DHA XI, Buch IV, 84. 53 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 81f. 54 Es sei zumindest in einer Fußnote darauf hingewiesen, dass Heine auch nicht verabsäumt, Moses Mendelssohns Leistung zu rühmen, für das Judentum Vergleichbares geleistet zu haben wie Luther für das Christentum: „Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er nemlich die Tradizion verwarf, die Bibel

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Autorität des Buchstaben zugunsten des Geistes in Frage stellte, – den Gewährsmännern der von Heine identifizierten vorangegangenen Revolutionsetappen, deren Essenz in einer fortschreitenden Denkfreiheit liegt – tritt Immanuel Kant als Scharfrichter im Reich der Gedanken auf, der in seiner Kritik der reinen Vernunft den Deismus aufs Schafott führt wie die Männer der Revolution den König, nachdem er ihm zwar nicht ganz so kurz, dafür aber umso gründlicher den Prozess gemacht hat. Der von Heine erzielte Kontrast zwischen dem pflichtbewussten, scheinbar braven Königsberger Philosophen und seinem revolutionären Wiedergänger, der abgewandelt in der Gestalt des Liktors aus Deutschland. Ein Wintermärchen wiederkehrt, begründet den besonderen Witz der Darstellung. Über letzteren heißt es dort an einer Stelle: Ich bin von praktischer Natur, Und immer schweigsam und ruhig, Doch wisse: was du ersonnen im Geist‘, Das führ’ ich aus, das thu’ ich Und gehen auch Jahre drüber hin, ich raste nicht bis ich verwandle in Wirklichkeit was du gedacht; Du denkst, und ich, ich handle.55

Dieses Motiv des Gedankens, der zur Tat wird, durchzieht Heines Werk und wird auf Kants Philosophie lediglich in besonders einprägsamer Weise appliziert.56 Der Liktor im Wintermärchen begleitet den Dichter auf einem Teil seiner Deutschlandreise als dämonischer Vollstrecker seiner Gedanken: Dem Consul trug man ein Beil voran, Zu Rom, in alten Tagen. Auch du hast deinen Liktor, doch wird Das Beil dir nachgetragen. für die Quelle der Religion erklärte, und den wichtigsten Theil derselben übersetzte. Er zerstörte hierdurch den jüdischen, wie Luther den christlichen Katholizismus. In der That, der Talmud, ist der Katholizismus der Juden.“ Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 71. 55 Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, DHA IV, Caput VI, 105. 56 Heine selbst hatte für sich eine Trennung vorgenommen zwischen politischem Denker und politischem Vollstrecker. Diese Trennung begründet er unter anderem in seinem Börnebuch, in dem er sich politischen Grundsatzfragen zuwandte und vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Ludwig Börne die Frage nach dem Verhältnis zwischen öffentlicher Situation und politischem Verhalten aufwirft. (Vgl. Windfuhr, Revolution und Reflexion, 173) Auch wenn es vielfach und von unterschiedlichen Seiten von ihm eingefordert worden war, konnte und wollte Heine nicht die Rolle des Politikers übernehmen. Zum einen war diese Trennung seinem Glauben an die Macht des Wortes, Liktoren zu mobilisieren, geschuldet, zum anderen seiner Überzeugung, dass sich Handeln und Denken nicht optimal in einer Person realisieren lassen. Vgl. Windfuhr, Revolution und Reflexion, 232.

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Ich bin dein Liktor, und ich geh’ Beständig mit dem blanken Richtbeile hinter dir – ich bin Die That von deinem Gedanken.57

Die Parallele zu der Konstruktion Kant–Robespierre lässt sich kaum übersehen und verweist auf die wiederholbare Anwendbarkeit der motivischen Instrumente Heines. Über seine Gegenüberstellung von Kant und Robespierre äußert sich Heine folgendermaßen: „Es ist freylich ein Unterschied zwischen Theorie und Praxis, und der Terrorismus ist vielleicht leichter im Reiche des Gedankens […] Die Franzosen werden freylich der Meinung seyn, daß ihrem Landsmann eine weit höhere Schätzung gebürt. Sie werden vielleicht über den Deutschen lächeln der ihren sanglantesten Bergmann mit einem friedlichen Professor der Philosophie in gleiche Linie stellt.“58 Bei Kant selbst finden sich hinsichtlich der Einschätzung des Verhältnisses von Theorie und Praxis in seiner Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis bemerkenswerte Impulse, indem er dort die These vertritt, dass eine auf dem Pflichtbegriff begründete Theorie bereits Praxis sei und die Unbedingtheit eines Sollens ein Können immer schon einschließe.59 Auf dieser Überzeugung gründet Kants eigene optimistische Einschätzung hinsichtlich der von ihm auf dem Gebiet der Theorie geleisteten Vorarbeit als Ermöglichungsbedingung einer progressiv-fortschrittlichen Evolution der Menschengemeinschaft auf ihrem Weg zu einem ewigen Frieden.60 Heine nun enthält sich jeder Sozialkritik an Kant, indem er dessen Leistung im Theoretischen kurzerhand aufs Praktische überträgt, und überhöht dessen revolutionäre Leistung mit voller Absicht, indem er sie in den grellen Farben eines terroristischen Aktes zeichnet. Was ihn einzig interessiert, ist das emanzipatorische Moment in seiner gesellschaftlichen Relevanz hervorzuheben. Ohne zu zaudern, isoliert er die dafür relevanten Versatzstücke von Kants Philosophie und übergeht den Rest – erstaunlicherweise, ohne ihr allzu sehr Gewalt anzutun, denn Heines Lesart kann trotz ihrer Selektivität durchaus als solide bezeichnet werden. Die Figur des Robespierre verwendet er auch in anderen Zusammenhängen, ähnlich wie mit dem Motiv des Liktors begegnet uns auch hier eine Austausch57 58 59 60

Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, DHA IV, 105. Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII/2, 721–722. Vgl. Kant, Gemeinspruch, AA 8, 276–277. Eine Einschätzung, die Heines Freund und Zeitgenosse Marx so durchaus nicht teilte. Dieser sah in Kants Philosophie das Pendant der deutschen Bourgeoisie zur Französischen Revolution. Vgl. Peter Burg, Kant und die Französische Revolution, Berlin 1974, 16. „Kants Unterscheidung von reinem und empirischem Willen und die Abwertung des letzteren entspreche“, so ein Kommentator von Marx’ Kant-Interpretation „dem Verzicht der Bourgeoisie, seine [das heißt wohl: ihre, S.J.] materiellen Interessen zu verwirklichen.“ Burg, Kant und die Französische Revolution, 14.

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barkeit seiner Protagonisten je nach aktueller Motivlage, ich werde darauf im folgenden Kapitel kurz zurückkommen am Beispiel von Robespierre und Börne. Damit soll keine Beliebigkeit behauptet werden, aber auf eine Flexibilität und Doppelsinnigkeit hingewiesen sein, die sich in Heines Denken allenthalben manifestieren. Kant hat als Zinnsoldat in einem ihm selbst wohl recht unbehaglichen Geschehen der Weltgeschichte herzuhalten. Es ist ein interessantes, viel diskutiertes Geheimnis, was Kant mit seinen Gottesbeweisen nun tatsächlich im Schilde geführt hat, ob ihm die praktischen Implikationen seiner vermeintlichen Überwindung jeder theoretischen Beweisgrundlage für Gott in ihren Konsequenzen bewusst waren. Heine ist zuzustimmen, dass die Wiedereinführung des durch die praktische Vernunft gedeckten Gottesbeweises ein irritierender Winkelzug des Königsbergers war.61 Diese erklärt sich Heine schelmisch als rührendes Zugeständnis an den Diener Lampe, denn Kant habe bei sich gedacht, „der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich seyn“.62 Heine schreibt: Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen tragirt, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es giebt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe steht dabey […] als betrübter Zuschauer und Angstschweiß und Thränen rinnen ihm vom Gesichte. […] [W]ie mit einem Zauberstäbchen belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getödtet,

denn Kant sei „nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch“63 gewesen. Kants praktische Philosophie ist durchdrungen von philosophisch argumentierter Scheinnotwendigkeit, die sich geschmeidig an die christliche Lehre anzuschmiegen versteht. Es überrascht daher keineswegs, dass Heine die Aufmerksamkeit in seiner Darstellung von Kants Philosophie auf die Erste Kritik und fort von der praktischen Philosophie lenken will, die ihm wie ein feiges Einknicken vor der Übermacht der eigenen Gedanken erscheinen musste. Er resümiert: „Kant ist der Critik der reinen Vernunft schon gleich untreu geworden indem er die Critik der praktischen Vernunft schrieb.“64

61 Dieser Punkt ist in der Forschung konträr diskutiert worden, vgl. Saueracker-Ritter, Heinrich Heines Verhältnis zur Philosophie, 81; Odo Marquard, Skeptische Methode mit Blick auf Kant, Freiburg (Breisgau) 1958, 42ff.; Joe H. Hicks, Old Lampe’s Consolation: Ruminations on Kantian Piety, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 6.–10. 4. 1974, Berlin 1974, Teil II, I, 381. 62 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 89. 63 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 89. 64 Heine, Deutschlandschrift, DHA VIII, 114.

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So liest er ihn bewusst verkürzend, um das Kantische Verdikt, dass in der Kritik der reinen Vernunft lediglich das Wissen aufgehoben werden musste, „um zum Glauben Platz zu bekommen“,65 mit der schrecklichen Freudennachricht vom (theoretischen) Tode Gottes zu überblenden.66 Wenn Heine schreibt: „Die Danteschen Worte ‚Laßt die Hoffnung zurück!‘ schreiben wir über diese Abtheilung der Kritik der reinen Vernunft“, so schreibt er dies nur scheinbar mit Zähneklappern, in Wahrheit vielmehr aus seiner eigenen Hoffnung heraus, dass der Deismus mithilfe der Philosophie überwunden werden könne als erster Schritt auf einer sich in weiterer Folge einstellenden Revolution der Gesellschaftsverhältnisse, die aus einem vom Jenseits bereinigten Weltbild und seinen in Folge dessen den Menschen zufallenden „Götterrechten“ resultieren werde. Kant ist ihm ein Hoffnungsträger, dem er die herkuleische Aufgabe einer endgültigen Überwindung des Deismus auf den Buckel lädt. Diese Hoffnung muss Heine in Folge mit Ernüchterung aufgeben. In seinen politischen Versepen Atta Troll und Deutschland. Ein Wintermärchen setzt er sich mit der politischen Situation Deutschlands auseinander, die keineswegs auf eine dritte Revolution hoffen ließ, sondern durch einen überall erstarkenden Nationalismus und religiöse wie politische Restauration charakterisiert war. Heine wiederholt in Deutschland. Ein Wintermärchen seine Hoffnungen auf eine Hinwendung zur Diesseitigkeit, die er in der Deutschlandschrift bereits wortgewaltig zum Ausdruck brachte. Auch seine Bekanntschaft und zeitweise Zusammenarbeit mit Karl Marx mag dazu beigetragen haben, dass er sich in seinen Ansichten wieder radikalisierte und die offizielle Politik mit neuer Schärfe kritisierte. In seinem Börnebuch von 1839, das auf allgemeine Ablehnung stieß, von Marx hingegen geschätzt wurde,67 äußert sich Heine pessimistisch über die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland: Die Wissenden unter den Liberalen verhehlten einander nicht, daß ihre Parthey, welche den Grundsätzen der französischen Freyheitslehre huldigte, zwar an Zahl die stärkere, aber an Glaubenseifer und Hülfsmitteln die schwächere sey. In der That, jene regenerirten Deutschthümler bildeten zwar die Minorität, aber ihr Fanatismus, welcher mehr 65 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede B XXX. 66 Wenngleich es paradox erscheinen mag, weist Heine interessanter Weise darauf hin, dass die Aushebelung des ontologischen (anselm’schen) Gottesbeweises ihn bei Kant nicht überzeuge. Erklären mag sich das damit, dass er die sich aus diesem ableitenden, gravierenden Konsequenzen recht spannend im Sinne Hegels einschätzt, nämlich als Fortgang zu einem panoder atheistischen „Weltgeist“. Indessen belässt Heine es bei diesem eingestreuten Hinweis und geht der gewitterten Fährte nicht weiter nach. Vielleicht auch im Vertrauen auf die bei Hegel dazu elaborierten Überlegungen kann er sich damit begnügen, gleichsam im Vorübergehen einen kurzen Seitenhieb gegen Kant auszuteilen und es der Leserin zu überlassen, ob sie diesen weiterzudenken im Stande sein wird. 67 Vgl. Windfuhr, Revolution und Reflexion, 173–182, 219. Heine und Marx lernten sich erst 1843, nach Marx‘ Ankunft in Paris, kennen.

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religiöser Art, überflügelt leicht einen Fanatismus, den nur die Vernunft ausgebrütet hat; ferner stehen ihnen jene mächtigen Formeln zu Geboth, womit man den rohen Pöbel beschwört, die Worte „Vaterland, Deutschland, Glauben der Väter u. s. w.“ elektrisiren die unklaren Volksmassen noch immer weit sicherer als die Worte: „Menschheit, Weltbürgerthum, Vernunft der Söhne, Wahrheit ….!“ Ich will hiermit andeuten, daß jene Repräsentanten der Nazionalität im deutschen Boden weit tiefer wurzeln als die Repräsentanten des Cosmopolitismus, und daß letztere im Kampfe mit jenen wahrscheinlich den Kürzern ziehen, wenn sie ihnen nicht schleunigst zuvorkommen … durch die welsche Falle.68

Heine beschreibt hier den Nationalismus in seiner Eigenschaft, Ersatzreligion zu werden, den Fanatismus der Nationalisten als Glaubenseifer. Er liefert eine präzise Beschreibung der sich in weiterer Folge bewahrheitenden Sorge, dass die Vernunft im Kampf gegen die Religion oder ihre Äquivalente den Kürzeren ziehen werde, weil sie sich als ungeeignet erweist, ähnlich potenten Fanatismus auszulösen. Dieser aber erweist sich am wirkungsvollsten im Mobilisieren denkfauler Massen zu jedwedem Zwecke, weswegen er von den herrschenden Eliten grundsätzlich gern entfacht wird. Dieser frühe Zweifel hinsichtlich der Macht der Vernunft im Kampf mit ihrem mächtigeren Widersacher – der Unvernunft – weist bereits in die Richtung der später vollzogenen Revision der Revolutionspotentiale Kantischer Philosophie, wie Heine sie Anfang der 1850er Jahre formuliert.

4.

Publikationsfreiheit und Lügenverbot als Katalysatoren der Aufklärung

Nachdem Kant seinen großen Auftritt als „Terrorist“ hatte, widme ich mich anhand eines zweiten Beispiels den Ermöglichungsbedingungen von Aufklärung, hinsichtlich derer bei Heine und Kant eine verblüffende Ähnlichkeit besteht. So betonen beide in ihren Texten die bedeutende Rolle der Pressefreiheit für den Prozess der geistigen Emanzipation des Volkes. In seinen politischen Reflexionen weist sich Kant als nicht minder begabter Träumer als Heine aus: Wie dieser an der theoretischen Überwindung des Deismus, hängt jener seine gesellschaftspolitischen Hoffnungen an dem Zutrauen auf, das er in eine Menschheit setzt, die sich – überzeugt von seiner praktischen Philosophie – fortan an ein generelles Lügenverbot halten werde. Auch wenn Kant der Revolution keine eigene Schrift gewidmet hat, finden sich ausreichend Bezugnahmen auf sie, um seine diesbezügliche Haltung rekon-

68 Heine, Ludwig Börne, DHA XI, Viertes Buch, 85.

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struieren zu können.69 Kant war zunächst ein klarer Befürworter der Revolution und setzte große Hoffnungen auf ihren Verlauf. Sein Zeitgenosse Johann Daniel Metzger berichtet von der „Freimütigkeit und Unerschrockenheit, mit welcher Kant seine der französischen Revolution viele Jahre hindurch […] günstigen Grundsätze, gegen jedermann, auch gegen Männer von den höchsten Würden im Staat verfocht.“ Er betont, dass es in Königsberg eine Zeit gewesen sei, „wo jeder, der von der französischen Revolution nicht etwa günstig, sondern nur glimpflich urteilte, unter dem Namen eines Jacobiners ins schwarze Register kam. Kant ließ sich dadurch nicht abschrecken, an den vornehmsten Tafeln der Revolution das Wort zu reden, und man hatte so viel Achtung für den sonst so sehr geschätzten Mann, ihm diese Gesinnungen zu gute zu halten.“70 In Gegensatz zu Fichtes irriger Behauptung, Kant habe von der Revolution keine Notiz genommen, sind dessen teils euphorischen Reaktionen auf die Geschehnisse in Frankreich überliefert.71 Im Streit der Fakultäten beantwortet er die Frage „In welcher Ordnung allein kann der Fortschritt zum Besseren erwartet werden?“ folgendermaßen: „Nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern den von oben herab.“72 und im Losen Blatt Krakau beantwortet er die Frage „Müssen die Menschen besser 69 Peter Burg hat das in seiner Dissertation mit Akribie umgesetzt. Siehe derselbe, Kant und die Französische Revolution. Berlin 1974. Zwei Stellen finden sich in Kants Werk, die als Gesamturteile über die Französische Revolution verstanden werden können: die eine Stelle befindet sich im Streit der Fakultäten, die andere im handschriftlichen Nachlass. Vgl. Peter Burg, Kant und die Französische Revolution, 18ff. Siehe Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 7, Berlin 1917, 85–94 sowie Immanuel Kant, Reflexion zur Rechtsphilosophie [Nr. 8077], in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 19, Berlin 1979, 603–609.) Kants Äußerungen über die Französische Revolution variieren: während er zur Zeit der konstitutionellen Monarchie (1789–1792) positiv zu bestimmten Einzelerscheinungen, wie der Verwaltungsorganisation in Frankreich, Stellung nimmt, urteilt er zur Zeit der demokratischen Republik (1792–1794) vorwiegend negativ. Die Hinrichtung Ludwig XVI. am 21. Januar 1793 verurteilt er in einer Fußnote zur Metaphysik der Sitten. Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 6, Berlin 1914, 320, Fn. An dieser Stelle formuliert er auch das Verbot eines Widerstands des Volkes gegenüber dem Souverän. Die Tätigkeit des Wohlfahrtsausschusses, zur Zeit der revolutionären Diktatur unter Robespierre, wird von Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als Unrecht dargestellt. Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 7, Berlin 1917, 259. Seine ambivalente Haltung zur Revolution schlägt sich insbesondere in zwei Schriften nieder, in denen er sich zwischen 1793 und 1795 mit der Frage beschäftigte, in welcher Form gesellschaftlicher Wandel stattfinden kann beziehungsweise darf. Und weiter, welche Aussichten es hinsichtlich der Idee eines ewigen Friedens auf einen sittlichen Fortschritt der Menschheit geben kann, welche Voraussetzungen für einen solchen bereitet werden müssen: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis und Zum ewigen Frieden. 70 Johann Daniel Metzger, Äußerungen über Kant. 1804, 14f., zitiert nach Rudolf Malter (Hg.), Immanuel Kant in Rede und Gespräch, Hamburg 1990, 351. 71 Vgl. Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie, München 2003, 395. 72 Kant, Fakultäten, AA 7, 92.

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werden ehe der Staat gut wird oder umgekehrt?“73 zu Gunsten des letzteren und begründet: An den Fortschritt sei erst dann zu denken, wenn die Staaten sich innerlich so reformiert haben, dass sie ihr Interesse daran, Krieg zu führen, verlieren und sich in einem freien Staatenbund zusammenschließen. Erst dann nämlich seien die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Staaten anstatt in ihre Rüstungsindustrie in die Bildung und sittliche Entwicklung ihrer Völker investierten, wodurch allein eine „Verbesserung der Menschen“ erwirkt werden könne. Kants Vorstellung zufolge ist das Projekt „Verbesserung der Menschheit“ vorrangig eine Frage der Bildungspolitik. Offen bleibt, wie genau die Staaten ihr Interesse an kriegerischen Auseinandersetzungen verlieren sollten und woher dieses Interesse der Machthaber an einer „Verbesserung“ der Volksmassen erwachsen soll. Kant scheint in Sachen Aufklärung eine Art Trickle-down-Effekt zu erwarten: eine zunehmende Menschenfreundlichkeit der Mächtigen wird nach und nach eine Freundlichkeit der Menschen den Mächtigen gegenüber erwirken, so dass eine Revolution gar nicht von Nöten ist, sondern stattdessen eine gemächliche Evolution der Kräfteverhältnisse auf friedvolle Weise vollzogen werden kann. Der Vater des Wahlspruchs der Aufklärung: „sapere aude! habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“74, vertraute keineswegs vorbehaltlos auf die Verstandeskräfte des gemeinen Volkes und dessen Unmündigkeit sah er nur zum Teil als selbstverschuldet an. So heißt es im Streit der Fakultäten: „Man muß, sagen sie [die Politiker, S.J.], die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht wie der Welt unkundige Pedanten oder gutmüthige Phantasten träumen, daß sie sein sollten. Das wie sie sind aber sollte heißen: wozu wir sie durch ungerechten Zwang, durch verrätherische, der Regierung an die Hand gegebene Anschläge gemacht haben, nämlich halsstarrig und zur Empörung geneigt“.75 Der Mensch als Produkt seines soziopolitischen Milieus unterliegt den hegemonialen Witterungen seiner Obrigkeit. Wie gut oder schlecht sich die Untertanen regieren lassen, hängt wesentlich davon ab, wie gut oder schlecht diese regiert. Gewiss war Kant kein großer Demokrat: sah er in der Herrschaft des Volkes doch mehr die Gefahr des Chaos als einen Gewinn für die Gesellschaftsordnung. So faszinierten ihn einerseits die Ereignisse rund um die Französische Revolution, die er mit größtem Interesse aus seinem fernen Königsberg verfolgte, andererseits schreckten ihn diese wilden Versuche zur Selbstermächtigung, die in ihren Ausmaßen kaum abzusehen waren. Wenn für Kant der Schlüssel zur Selbstermäch73 Immanuel Kant, Vorarbeiten zu Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Loses Blatt, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, AA 23, Berlin 1956, 140. 74 Vgl. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 8, Berlin 1912, 35. 75 Kant, Fakultäten, AA 7, 80.

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tigung der Menschen in einer fortschreitenden Entwicklung zur Freiheit lag, so verstand er darunter in erster Linie, die Freiheit „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“76 – nicht aber Königshäupter abzuschlagen. Kant war zutiefst von der Öffentlichkeitstauglichkeit der Vernunft im Dienste der Aufklärung überzeugt, mehr noch: er sah sie als Bedingung ihrer Möglichkeit an. So ging er auch davon aus, dass sich alles, was rechtens ist, mit der Publikationsfreiheit vertrüge: ein Prüfstein der Rechtmäßigkeit politischer Verdikte sei ihre Publizierbarkeit. Lassen sie sich unzensiert publizieren und mitteilen, halten sie der öffentlichen Diskussion stand, so kann davon ausgegangen werden, dass sie auch mit den Erfordernissen der Vernunft übereinstimmen. Im Umkehrschluss lässt sich die Mangelhaftigkeit einer politischen Entscheidung an der Notwendigkeit ihrer Geheimhaltung, der Intransparenz ihres Zustandekommens und ihres näheren Inhalts ablesen. Man mag Kant in diesem Punkt Naivität vorwerfen, ganz unironisch hing er der vermeintlich schönen Vorstellung einer Welt der Eindeutigkeiten an, in der die Wahrheit sich in ihren Verkünderinnen und Verkündern objektiviert und die Menschheit langsam, aber unbeirrbar auf ihrem Weg zu Freiheit und Frieden voranschreitet. Heines Einschätzung hinsichtlich der Bedeutung von Bildung insbesondere aber auch der Pressefreiheit für die Aufklärung fallen ähnlich aus. Er stellt in der Einleitung zu Kahldorf über den Adel interessante Überlegungen in Bezug auf die Heftigkeit und Brutalität der Revolution von 1789 an: so erklärt er sich diese aus den Versuchen der Obrigkeit, das Volk unmündig zu halten, es gegen politische Bildung abzuschirmen, es mit Hilfe der Zensur uninformiert und ignorant zu belassen. Dadurch konnten sich die Volksmassen mit umso größerer Heftigkeit aufwiegeln und lenken lassen: Daß aber die Franzosen so theures Schulgeld bezahlen mußten, das war die Schuld jener blödsinnig lichtscheuen Despotie, die […] das Volk in geistiger Unmündigkeit zu erhalten gesucht, alle staatswissenschaftliche Belehrung hintertrieben, den Jesuiten und Obscuranten der Sorbonne die Bücher-Censur übertragen, und gar die periodische Presse, das mächtige Beförderungsmittel der Volksintelligenz, aufs lächerlichste unterdrückt hatte.77

Heines Pendant zu Kants Überlegungen in puncto Pressefreiheit schließt hier gut an: Das ist ja eben der Seegen der Preßfreyheit, sie raubt der kühnen Sprache des Demagogen allen Zauber der Neuheit, das leidenschaftlichste Wort neutralisirt sie durch ebenso leidenschaftliche Gegenrede, und sie erstickt in der Geburt schon die Lügengerüchte, die, von Zufall oder Boßheit gesät, so tödtlich frech emporwuchern im Verborgenen […]. Freylich, das helle Sonnenlicht der Preßfreyheit ist für den Sklaven, der 76 Kant, Aufklärung, AA 8, 36. 77 Heine, Kahldorf über den Adel, DHA XI, Einleitung, 136.

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lieber im Dunkeln die allerhöchsten Fußtritte hinnimmt, eben so fatal wie für den Despoten, der seine einsame Ohnmacht nicht gern beleuchtet sieht.78

Heine betont den in Folge der Pressefreiheit ertönenden Aufruf an alle Menschen, sich zu ermächtigen, zu informieren, Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen, kurzum: politisch zu werden. Er berücksichtigt hierbei sowohl die Perspektive des „Sklaven“, der sich unter dem Vorwand, der fehlenden Selbstwirksamkeit, oder – um mit Kant zu sprechen – seiner unverschuldeten „Unmündigkeit“, jeder Partizipation verschließt, als auch jene des Despoten, der einmal zum Sprechen gebracht, seine monolithische Autorität einbüßen muss.79 Die weniger blutige Fortsetzung der Revolution von 1830 erklärt sich Heine als Resultat der ersten Früchte der erweiterten Pressefreiheit: seit jener Zeit, schaurigen Angedenkens, hatte die französische Presse das Volk von Paris für bessere Gefühle und minder blutige Witze empfänglich gemacht, sie hatte die Ignoranz ausgegätet aus den Herzen und Intelligenz hineingesät, die Frucht eines solchen Samens war die edle, legendenartige Mäßigung und rührende Menschlichkeit des pariser Volks in der großen Woche – und in der That! wenn Polignac späterhin nicht auch physisch den Kopf verlor, so verdankt er es einzig und allein den milden Nachwirkungen derselben Preßfreyheit, die er thörigterweise unterdrücken wollte.80

Hinsichtlich einer künftigen Revolution in Deutschland setzt Heine seine Hoffnung in Anlehnung an das französische Beispiel auf eine fortschreitende Pressefreiheit, von der er sich verspricht, dass sie dazu beitragen werde, dass die Menschen allmählich ein politisches Bewusstsein entwickeln und folglich auch gewisse Resistenzen wider die demagogischen Versuche, sie für restaurative Verirrungen zu instrumentalisieren: Ich glaube mit diesen flüchtigen Bemerkungen genugsam angedeutet zu haben, wie jede Frage über den Charakter den die Revoluzion in Deutschland annehmen möchte, sich in eine Frage über den Zustand der Civilisazion und der politischen Bildung des deutschen Volks verwandeln muß, wie diese Bildung ganz abhängig ist von der Preßfreyheit, und wie es unser ängstlichster Wunsch seyn muß, daß durch letztere bald recht viel Licht verbreitet werde, ehe die Stunde kommt, wo die Dunkelheit mehr Unheil stiftet als die Leidenschaft, und Ansichten und Meinungen, je weniger sie vorher erörtert und be-

78 Heine, Kahldorf über den Adel, DHA XI, Einleitung, 137. 79 Vgl. dazu Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 2019, 648f: „Die Religion, wie jeder Absolutismus, darf sich nicht justifizieren. Prometheus wird an den Felsen gefesselt von der schweigenden Gewalt.“ 80 Heine, Kahldorf über den Adel, DHA XI, Einleitung, 138. Heine lässt hier unberücksichtigt, dass das Proletariat anders als 1789 eine vollkommen untergeordnete Rolle bei der Revolution von 1830 spielte. Es war primär eine Revolution des Großbürgertums, weswegen wohl bezweifelt werden kann, dass der veränderte Ablauf auf die ersten Wirkungen zunehmender Pressefreiheit und nicht vielmehr auf einen Wandel der Protagonisten zurückzuführen ist.

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sprochen worden, um so grauenhaft stürmischer, auf die blinde Menge wirken und von den Partheyen als Losungsworte benutzt werden.81

Die Bedeutung der Pressefreiheit steht bei Kant in engem Zusammenhang zu einem generellen Lügenverbot, wie er es in seiner praktischen Philosophie argumentiert. Weitestgehend unberücksichtigt ließ Kant die Machtstrukturen, Eigeninteressen und Unwägbarkeiten der menschlichen Natur, die keineswegs brav dressiert in vernünftigen Bahnen trabt, wenn sie nicht – wie Kant selbst – die Scheuklappen der Vernunft vorgebunden hat oder die eine oder andere Peitsche zu fürchten. Diese großen Unbekannten nahm er in seine politischen Gleichungen kaum mit auf, so dass diese heutzutage wohl eher zum Schmunzeln als zum Diskutieren anregen. Die große „Suppenfrage“82 gar sparte er im Gegensatz zu Heine gänzlich aus oder verfrachtete sie in vereinzelte Fußnoten. Seine eigene revolutionäre Praxis beschränkte er auf die milde Gabe: stets hatte er Münzen im Hosensack, die er gewohnheitsmäßig bei seinem täglichen Spaziergang den Bettlern übereignete.83 Wie bereits angekündigt, findet sich bei Heine auch in einem gänzlich anderen Zusammenhang ein Vergleich mit Robespierre, in dem er eine wie mir scheint Kantische Finte schlägt, die das Thema der Lüge aufgreift und in einen revolutionstheoretischen Zusammenhang stellt: Er bezieht sich auf diesen in seiner Polemik gegen Ludwig Börne (1786–1837), der von einem einstigen Mitstreiter zum erbitterten Gegner im Politischen avanciert war. Hier wiederholt er sein Bild von der Sprachguillotine, die Börne allerdings nicht im Sinne des Kantischen Aufklärungsgedankens, sondern in Form von Verunglimpfung gegen Heine einsetzte. Heine stellt die ironische Behauptung auf, dass auch das Lügen um einer gerechten Sache Willen durchaus verzeihlich sei. Börne habe ihn nach eigenem Empfinden in bester Absicht verleumdet, nimmt er seinen Gegner vordergründig in Schutz: er vergleicht die Verlogenheit von Jesuiten und Jakobinern miteinander, die dieses „Kriegsmittel“ beide im Glauben für die „höchsten Zwecke“ einzustehen als gerechtfertigt angesehen hätten: Der Vorwurf in den Worten „argwöhnischer Kleingeist“ soll hier weniger das Individuum als vielmehr die ganze Gattung treffen, die in Maximilian Robespierre, glorreichen Andenkens, ihren vollkommensten Repräsentanten gefunden. Mit diesem hatte Börne zuletzt die größte Aehnlichkeit: im Gesichte lauerndes Mißtrauen, im Herzen 81 Heine, Kahldorf über den Adel, DHA XI, Einleitung, 138. 82 Heine, William Ratcliff. Tragödie in einem Akte, DHA V, Erläuterungen, 485. Heine versteht darunter die soziale Frage, der sich zuspitzenden Gegensätze von arm und reich. Im seinem Schauspiel William Ratcliff unterteilt er sie Menschen in „zwey Nazionen, die sich wild bekriegen;/ Nemlich in Satte und in Hungerleider.“ (Heine, Ratcliffe, DHA V, 82. 83 Es ist die Anekdote überliefert, dass er sich schließlich auf Grund dieser Angewohnheit dazu gezwungen sah, seine Spazierroute zu ändern, weil ihn mit der Zeit immer mehr Bettler abpassten. Vgl. Rink, zit. n. Malter: Kant in Rede und Gespräch, 242.

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eine blutdürstige Sentimentalität, im Kopfe nüchterne Begriffe…Nur stand ihm keine Guillotine zu Gebothe, und er mußte zu Worten seine Zuflucht nehmen und bloß verläumden. Auch dieser Vorwurf trifft mehr die Gattung; denn sonderbar! eben so wie die Jesuiten, haben die Jakobiner das Lügen als ein erlaubtes Kriegsmittel adoptirt, vielleicht weil sich beide der höchsten Zwecke bewußt waren: jene stritten für die Sache Gottes, diese für die Sache der Menschheit… Wir wollen ihnen daher ihre Verläumdungen verzeihen!84

So unternimmt Heine gewissermaßen einen Kantischen Winkelzug, um seinen Gegner äußerst elegant zu diffamieren: ist es doch Kant zufolge niemals gerechtfertigt zu lügen, auch nicht um einer guten Sache willen85 und argumentiert er dieses Verbot unter anderem in Hinblick auf das größte zu vermeidende Übel der Menschheit: den Krieg. Der Krieg nämlich ist es, der der Sache der Aufklärung diametral entgegensteht. Kant zufolge ist es ein klares Indiz für die Unrechtmäßigkeit einer Sache, wenn sie sich nicht mit der Publikationsfreiheit vertrage, sprich, wenn es zu ihrem Erfolg erforderlich sei, sie zu verheimlichen. Positiv formuliert: „Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.“86 Die Lüge als probates Kriegsmittel ist damit offenbar ein Ding der Unmöglichkeit, Kant dient ihm als verlässlicher Gegenspieler in der Auseinandersetzung mit einem Robespierre, der hier keineswegs für gesellschaftlichen Wandel, sondern letzten Endes für dessen Behinderung steht. Im Gegensatz zu Kant räumt Heine der menschlichen Unvernunft in seinen zeitgeschichtlichen Observationen einen prominenten Platz ein, er verleugnet sie nicht, sondern konfrontiert und kontextualisiert sie. Er spricht von der absurden „Weltbühne“87, der „Gottes- und Weltironie“.88 Seine Geschichtsauffassung adaptiert er immer wieder im engagierten Erleben des Zeitgeschehens und kann dafür auf umfassende Kenntnisse der Werke der wichtigsten französischen Revolutionstheoretiker,89 seine eingehenden Studien der Geschichtsphilosophie der Saint-Simonisten und natürlich die Hegelsche Geschichtsdialektik zurückgrei84 Heine, Börne, DHA XI, 87. 85 Man denke hier an sein provokantes Beispiel, in dem es gar geboten sei einen Freund zu verraten, um die Lüge zu vermeiden, wie er es in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen fordert. Vgl. Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 8, Berlin 1912, 425–430. 86 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, AA 8, Berlin 1912, 386. 87 Heinrich Heine, Reisebilder. Zweyter Theil. Ideen. Das Buch Le Grand, DHA VI, Hamburg 1973, Capitel XI, 201. 88 Vgl. Heinrich Heine, Einleitung Zu Miguel Cervantes de Saavedra, „Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha“, 1837, DHA X, Hamburg 1993, 249. 89 Laut Lucien Calvié: Mignet, Thiers, Cabet, Thierry, Guizot, Louis Blanc, Lamartine und Michelet. Lucien Calvié, La Révolution française dans l’œuvre de Henri Heine, in: Littérature et Révolution française, Annales littéraires de l’Université de Besançon, Paris 1987, 234f.

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fen.90 Es findet sich bei ihm neben einem mal lauteren mal leiseren Fortschrittsglauben immer wieder auch die skeptische Auffassung eines ewigen Kreislaufs, in dem das Schicksal der Menschheit „nach den Gesetzen von Ebb und Fluth“ ewig sinnlos hin und her schwappe.91 In dem kleinen Text Verschiedenartige Geschichtsauffassung, entstanden 1832/33, setzt sich Heine mit dem Für und Wider des zyklischen und des progressiven Geschichtsmodells auseinander und lehnt letztlich beide aufgrund ihrer lebenspraktischen Konsequenzen ab, ohne sie jedoch endgültig zu verwerfen.92 Unentschieden und unzureichende Vereinfachungen meidend arbeitet sich Heine bis zu seinem Lebensende an den Topoi der Revolution ab. So nennt Gerhard Höhn Heine einen unverbesserlichen Geschichtsskeptiker und zugleich ebenso unbekehrbaren Fortschrittsoptimisten93 und sieht in seinem Festhalten an zwei widersprüchlichen Auffassungen eine spezifische Stärke und Kompromisslosigkeit in der Beantwortung dieser in der Tat sich jeder Eindeutigkeit entziehenden Problematik. Nach den Erfahrungen der Revolution von 1848 äußert sich Heine zunehmend skeptisch über die revolutionären Potenziale der Volksmassen. Er warnt davor, diese zu überschätzen, denn das Volk sei von der Geschichte geformt und in seiner gegenwärtigen Gestalt weder schön, gut noch intelligent, sondern das Gegenteil von alldem.94 Zweifelnd wirft er die Frage auf, „ob die Angelegenheiten dieser Welt“ wirklich von „einem vernünftigen Gedanken, von der denkenden Vernunft“ gelenkt werden, oder ob nur „ein lachener Gamin, der Gott-Zufall“, regiert.95 Werner Frick weist darauf hin, dass Heine in Überlegungen dieser Art bereits vorbereite, „was Lukács’ Theorie des Romans wenige Jahrzehnte später mit einer epochalen Modernitätsformel als den Schock der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ bezeichnen wird.“96

90 Vgl. Gerhard Höhn, „Blutrosen“ der Freiheit. Heinrich Heines Geschichtsdenken, in: Derselbe (Hg.), Heinrich Heine. Ästhetisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1991, 176–194, 179. 91 Heine, Börne, DHA XI, 47. 92 Vgl. Höhn, „Blutrosen“, 181. 93 Vgl. Höhn, „Blutrosen“, 180. 94 Vgl. Heine, Geständnisse, DHA XV, 31. 95 Heinrich Heine, Artikel vom 22. 3. 1848, DHA XIV/1, Hamburg 1990, 292. 96 Werner Frick, „…ich armer Exgott“: Idealismuskritik und Modernitätsbewusstsein beim späten Heine, 283–307, 304, in: Paolo Chiarini und Walter Hinderer (Hg.), Heinrich Heine. Ein Wegbereiter der Moderne. Würzburg 2009.

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Sarah Caroline Jakobsohn

Revision von Kants Philosophie – Heines später religiöser Synkretismus

Nach zwei Beispielen für inhaltliche Schnittstellen in den Werken Kants und Heines, greife ich zum Abschluss erneut Heines Hoffnung auf eine Überwindung des Deismus zugunsten einer Befreiung der Menschheit auf und stelle sie in einen Kontext mit der späteren Revision seiner eigenen Haltung zum Glauben. In der Tat bekennt sich der späte Heine wieder zu einem persönlichen Gott und korrigiert in der Vorrede zur zweiten Auflage von 1852 seine früheren Ansichten aus der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland hinsichtlich seiner irrigen Annahme, Kants Philosophie habe den Deismus zu einem Ende gebracht. Es heißt dort in aller Klarheit: Ich bekenne […] unumwunden, daß alles, was in diesem Buche namentlich auf die große Gottesfrage Bezug hat, ebenso falsch wie unbesonnen ist. Ebenso unbesonnen wie falsch ist die Behauptung, die ich der Schule nachsprach, daß der Deismus in der Theorie zu Grunde gerichtet sey und sich nur noch in der Erscheinungswelt kümmerlich hinfriste. Nein, es ist nicht wahr, daß die Vernunftkritik, welche die Beweisthümer für das Daseyn Gottes, wie wir dieselben seit Anselm von Canterbury kennen, vernichtet hat, auch dem Daseyn Gottes selber ein Ende gemacht habe. Der Deismus lebt, lebt sein lebendigstes Leben, er ist nicht todt, und am allerwenigsten hat ihn die neueste deutsche Philosophie getödtet.97

Dieser Widerruf erstaunt, irritiert und wirft die Frage nach Heines eigener Neupositionierung in Glaubensfragen auf. Schon im Frühwerk zeigt sich wie bei Heine die notwendige Entzauberung der Welt durch Reformation und Aufklärung zugunsten des Durchbruchs der Denk- und Geistesfreiheit einerseits begrüßt und andererseits in ihrer Verarmung, die sie auf dem Gebiet des SinnlichMystischen mit sich bringt, beklagt wird.98 Diese Ambivalenz bleibt in seinem Denken bis zuletzt bestehen. So wird es ihm möglich sich einem persönlichen Gott zuzuwenden, ohne seine grundsätzliche Religionskritik zu widerrufen oder seine politischen und sozialen Überzeugungen zu verraten. Heines späte Revision der Deutschlandschrift ist häufig missverstanden worden, man unterschätzt ihn, wenn man annimmt, dass ihm durch seine Hinwendung zum Deismus, etwa eine Kantische Inkonsequenz vom Typus der Kritik der praktischen Vernunft oder gar eine à la Diener Lampe zum Vorwurf gemacht werden könne.99 Heine selbst deklariert: „daß [er] als Dichter sterbe, der weder Religion noch Philoso97 Heine, Vorrede zur zweiten Auflage. Zu Salon, 2. Band, 1852, DHA VIII, 497. 98 Vgl. dazu auch Höhn, „Blutrosen“, 182f. 99 Werner Fricks geht der Frage nach dem religiösen Wandel des späten Heine in seinem Beitrag „…ich armer Exgott“: Idealismuskritik und Modernitätsbewusstsein beim späten Heine (2009) in aller Ausführlichkeit nach.

Kants Zerstörungswerk in Heines Traum von der Revolution

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phie braucht und mit beiden nichts zu schaffen hat. […] [W]eder die Herren der Religion noch die der Philosophie werden jemals den Dichter verstehen, dessen Sprache ihnen immer spanisch vorkommen wird, wie dem Maßmann das Latein. Durch diese linguistische Unkenntnis geschah es, daß diese und jene Herren sich einbildeten“, er „sei ein Betbruder geworden.“100 Als Betbruder missverstanden, war es Heine selbst daran gelegen, zu einem neuen Selbstverständnis als einem aus der Illusion der Selbstgöttlichkeit herausgefallenen Menschen zu finden, der die Konsequenzen einer transzendentalen Obdachlosigkeit bereits erahnt. Am Beispiel Nebukadnezars veranschaulicht Heine seine Selbstkritik: er vergleicht sich mit dem babylonischen König, „der sich selbst für den lieben Gott hielt, aber von der Höhe seines Dünkels erbärmlich herabstürzte“.101 Er sei anmaßend gewesen, in seinen übertriebenen Hoffnungen auf eine Überwindung des Deismus. Vergessen scheint der Ruf nach einer Götterdemokratie, seine Hoffnungen auf gesellschaftlichen Wandel sind zwar keineswegs erloschen haben aber ihren Enthusiasmus eingebüßt. Beim frühen Heine bin ich an einer weiteren Stelle fündig geworden, in der Kant verkörpert durch einen Göttinger Professor einen schaurig-charmanten Auftritt hat. Bereits in diesem frühen Text aus der Harzreise bezieht sich Heine auf die in der Deutschlandschrift gründlich thematisierte Unterscheidung von Phänomena und Noumena. Offenbar beschäftigte diese Passage den jungen Dichter über Jahre hinweg. Hier in diesem Text von 1826 dient sie ihm zu einer parodistischen Darstellung der überhöhten Selbstansprüche der Vernunftkritik, die sich anmaße sämtliche Phänomene des Lebens auf ein neues rationales Fundament gestellt, gleichsam der menschlichen Natur das Irrationale ausgetrieben zu haben. Diese Ansprüche treibt er ein paar Jahre später erstaunlicherweise in der Deutschlandschrift selbst noch einmal auf die Spitze, indem er ihr die Aufgabe einer Überwindung transzendenter Bedürfnisse zugunsten einer neuen demokratischen Diesseitigkeit auflastet. Er hat Kants Philosophie also erst nachträglich in seinen Traum von der Revolution eingespannt, indem er eine soziale Bedeutung in sie hineinlas, die in der frühen Auseinandersetzung mit der Kritik der reinen Vernunft, für die die folgende Passage ein Beispiel darstellt, noch fehlte: Ein Kantisches Gespenst tritt auf, das sich selbst mit Hilfe der Vernunftkritik von seiner Inexistenz zu überzeugen versucht, das eigene Erschrecken über die Würmer, die es sich versehentlich aus der Uhrtasche zieht, jedoch nicht ganz zu unterdrücken vermag: ein verzweifelter Versuch sich mit Hilfe der

100 Heinrich Heine an Georg Weerth, Brief Nr. 1371vom 5. November 1851, zitiert nach HeineSäkularausgabe (HSA), hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (heute Stiftung Weimarer Klassik) und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Berlin/Paris 1970–1984, HSA Bd. 23, 147f. 101 Heine, Geständnisse, DHA XV, 39.

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Sarah Caroline Jakobsohn

Potenz des eigenen Denkens darüber hinwegzutäuschen, dass die Phänomene des Lebens sich nicht allein über den Weg der Vernunft bändigen lassen: ‚Fürchten Sie sich nicht, und glauben Sie nicht, daß ich ein Gespenst sei. Es ist Täuschung Ihrer Phantasie, wenn sie mich als Gespenst zu sehen glauben. Was ist ein Gespenst? Geben Sie mir eine Definition? Deduzieren Sie mir die Bedingungen der Möglichkeit eines Gespenstes? In welchem vernünftigen Zusammenhange stände eine solche Erscheinung mit der Vernunft? Die Vernunft, ich sage die Vernunft –‘ Und nun schritt das Gespenst zu einer Analyse der Vernunft, zitierte Kants „Kritik der reinen Vernunft“, 2ter Teil, 1ster Abschnitt 2tes Buch, 3tes Hauptstück, die Unterscheidung von Phänomena und Noumena, konstruierte alsdann den problematischsten Gespensterglauben, setzte einen Syllogismus auf den andern, und schloß mit dem logischen Beweise: daß es durchaus keine Gespenster gibt. Mir unterdessen lief der kalte Schweiß über den Rücken, meine Zähne klapperten wie Kastagnetten, aus Seelenangst nickte ich unbedingte Zustimmung bei jedem Satz, womit der spukende Doktor die Absurdität aller Gespensterfurcht bewies, und derselbe demonstrierte so eifrig, daß er einmal in Zerstreuung, statt seiner goldenen Uhr, eine Hand voll Würmer aus der Uhrtasche zog, und seinen Irrtum bemerkend, mit possierlich ängstlicher Hastigkeit wieder einsteckte. ‚Die Vernunft ist das höchste –‘ da schlug die Glocke Eins und das Gespenst verschwand.102

Der logische Widerspruch, den er dem erschrockenen Heine vor Augen führen will, reicht nicht aus, um den erblassten Geisterseher in seiner Furcht zu trösten, indem er ihn an der mitunter trügerischen Wahrnehmung eben jener Augen zweifeln ließe. Ebenso wenig vermochte es die Kritik der reinen Vernunft offenbar den Gottesglauben oder – allgemeiner gefasst – das Bedürfnis nach Transzendenz zu überwinden. Heine mag seine Kant-Rezeption revidiert haben, seinen Glauben an die Aufklärung und seine Überzeugung, dass es in der Philosophie wie in der Politik letztlich nicht um den rechten Glauben, sondern um das rechte Handeln gehe, um die „sociale Bedeutung“, hat er nie aufgegeben.

102 Heinrich Heine, Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise, DHA VI, 104f.

Sebastian Schneck

Ein „Geistestrio“ und der drohende Verlust des Augenlichts der Vernunft. Thomas Bernhards ‚Immanuel Kant‘

1.

Einleitung

Thomas Bernhard setzt seinen Immanuel Kant in der gleichnamigen, 1978 uraufgeführten Komödie den Strapazen und dem Luxus einer Seereise nach Amerika aus. Der drohende Verlust des Augenlichts veranlasst den Protagonisten dazu, alle Hoffnung auf die besten amerikanischen Augenärzte zu setzen. Es zeichnet diesen Kant aus, dass er sich niemals ohne seinen Papageien Friedrich und ihrer beider Diener Ernst Ludwig auf die Überfahrt begeben haben würde. Eher noch hätte er auf die Begleitung seiner vermeintlich treusorgenden Gattin verzichtet. Dass Kant im Laufe des Stückes von einer Millionärin, dem Kapitän des Schiffes, einem Admiral und einem Kardinal mit Wertschätzung bedacht wird, hat seinen Grund mitnichten in den Äußerungen der Bühnenfigur, denn diese lassen auf einen zerrütteten Geisteszustand schließen. Das Theaterstück ist bei aller Offenheit der Sprachspiele und der intertextuellen und sachlichen Bezüge verhältnismäßig kompakt aufgebaut. Dies bedingt, dass das Drama durch – Kritiken nicht mitgezählt – knapp 20 seit 1980 erschienene und teils sehr überzeugende sowie ausführliche Forschungsbeiträge weitestgehend erschlossen ist.1 Der eher verhaltenen Reaktion anlässlich der Uraufführung in Stuttgart im April 19782 wird bald darauf die wohl etwas überschwängliche Sichtweise entgegengehalten, dass Immanuel Kant „als erkenntnistheoretisches Grundlagenstück für die Interpretation der übrigen Dramen [Thomas Bernhards] dienen könnte“.3 In der späteren Rezeption lässt sich ¨ berblick bietet: Franziska Scho¨ ßler und Ingeborg Villinger: Immanuel Kant, 1 Einen aktuellen U in: Martin Huber und Manfred Mittermayer (Hg.): Bernhard-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Bernhard Judex, Stuttgart 2018, 226f. 2 Vgl. Jens Dittmar, Thomas Bernhard. Werkgeschichte, Frankfurt am Main 1981, 196ff. 3 Dieter Kafitz, Die Problematisierung des individualistischen Menschenbildes im deutschsprachigen Drama der Gegenwart (Franz Xaver Kroetz, Thomas Bernhard, Botho Strauß), in: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 10, 1980, 93–126, 109. Die anschließende Rezeption verhält sich affirmativ zur zitierten Stelle. Vgl. Peter Hodina, Die Karnevalisierung des großen

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Sebastian Schneck

jedenfalls eine Tendenz zur Überinterpretation nicht leugnen. An manchen Stellen scheint es, als diene der Kant auf der Bühne nur noch als Stichwortgeber für Ausführungen der Rezipienten über Irrwege der Vernunft. Der Text selbst lädt dazu ein, denjenigen abschweifen zu lassen, der ihn verstehen will. Die konzentrierte Aneinanderfügung teils knappster Versatzstücke veranlasst dazu, diese auf einen verborgenen Sinn hin auszuloten und mit Bedeutung zu belegen. Diese Suche mündet mitunter in der Zerstreuung.4 Ordnung lässt sich am ehesten durch ein Plädoyer dafür stiften, dem Text seine Offenheit zuzugestehen und ihn nicht nachträglich mit Erklärungen hermetisch abzudichten. In den folgenden Ausführungen soll Bernhards Figur Immanuel Kant auf den historischen Kant bezogen werden. Der Name Kant, die Eigenschaften und Eigenheiten der Bühnenfigur wecken auf vielfa¨ltige Weise Erwartungen beim Zuschauer. Zum anderen kristallisieren sich in der Kant-Figur charakteristische Züge des Werks Thomas Bernhards. Der vorliegende Text gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste Teil wird überschrieben mit: Warum Kant? Bevor später das Bühnengeschehen selbst in den Blick genommen wird, rekonstruiert dieser Teil, wer beziehungsweise was in diesem Stück auf dem Spiel steht. Hierzu werden zwei Fragen gestellt: Was repräsentieren Werk und Person des Philosophen Kant, für Bernhard im Speziellen und für die Nachwelt im Allgemeinen? Und: In welchem Verhältnis stehen die Bühnenfigur und der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant? Der zweite Abschnitt widmet sich der Frage: Welchen Umgang gestattet sich Bernhard mit welchen Werken Kants? Und drittens wird aufgezeigt, wie die im Vorfeld herausgearbeiteten Aspekte im Drama selbst thematisch werden. Im Werk Bernhards nimmt der Typus des von ihm sogennanten „Geistesmenschen“ eine zentrale Position ein. Auch der Kant dieser Komo¨ die ist ein Repra¨ sentant dieser „Geistesmenschen“ und soll als solcher in den Blick genommen werden.

Aufklärers. Thomas Bernhards Komödie Immanuel Kant, in: Peter Csobádi und Gernot Gruber (Hg.), Die lustige Person auf der Bühne. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1993, Bd. 2, Anif, Salzburg 1994, 751–768, 758. 4 Vgl. Hodina, Die Karnevalisierung des großen Aufklärers, 767f: „Für die Suche nach dem versteckten Tiefsinn, gibt es da nur Sackgassen. Was bleibt, ist der Versuch einer Annäherung, die den assoziativen Spielraum des Zitats überprüft“. Vgl. Hans-Jürgen Schings, Die Methode des Equilibrismus. Zu Thomas Bernhards ‚Immanuel Kant‘, in: Hans Dietrich Irmscher und Werner Keller (Hg.), Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck, Göttingen 1983, 432–445, 436.

Thomas Bernhards ‚Immanuel Kant‘

1.1

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Warum Kant? – Der Philosoph Kant als zweifacher Repräsentant

Wenn ganz zu Beginn des Theaterstückes eine Frau Kant das Wort an ein Mitglied der Schiffsbesatzung richtet,5 wird sofort klar, dass hier auf jeder Ebene mit der biographischen Authentizität des Philosophen Immanuel Kant, geboren 1724 in Königsberg, gebrochen wird. Denkbar wäre gewesen, dass Bernhard einen weitgehend lebensnahen Kant aus dessen historischem Ort heraus in eine unerwartete Situation transponiert. Jedoch zeigt bereits das Vorhandensein einer Gattin an, dass den Protagonisten des Dramas komplett abweichende Lebensumstände kennzeichnen. Noch bevor die Hauptfigur auf der Bühne zu sprechen anhebt, weiß der Zuschauer: Dieser sogenannte Kant ist nicht Kant. Eine einschlägige Kritik hält fest, die Bühnenrolle habe „mit dem Philosophen nur den Namen gemein“.6 Auch in der jüngeren Forschung verschwindet die Lesart, die Titelrolle einzig über die Metapher des Augenlichts mit dem Aufklärer verbunden zu sehen, nicht völlig.7 Bernhard selbst stellt in einem Interview auf die Frage, ob man „‚Immanuel Kant‘ auch ersetzen [könne] durch etwaige beliebige Personen“, lakonisch fest, er „hätte auch sagen können ‚Schopenhauer‘“.8 Spätestens seit dem Aufsatz von Hans-Jürgen Schings gilt es jedoch als fahrlässig, die zahlreichen biographischen und textuellen Bezüge zum echten Kant zu übersehen.9 Dieser mag als Vorbild und Materialfundus für den Autor vor der Abfassung des Stückes fungibel gewesen sein. Aus der Entscheidung, Kant als Proponenten und Exponenten deutschsprachiger Philosophie einzusetzen, zieht Bernhard die Konsequenz, der dramatischen Figur Leben und Werk der historischen Person nicht vollständig äußerlich bleiben zu lassen.10 In den Monologen auf Mallorca präzisiert Bernhard auf eine recht unorthodoxe Art, durch welche Merkmale er Schopenhauer und Kant vereint sieht: „Das sind die großen Spaßmacher in der Geschichte […]. Also die Allerernstesten im Grund. Da gehört der Pascal auch dazu, […] das sind eigentlich die großen Lachphiloso-

5 Vgl. Thomas Bernhard, Immanuel Kant, in: Derselbe, Stücke 2, Frankfurt am Main 1988, 251– 340, 255. Im Folgenden verweisen Seitenzahlen im Fließtext sämtlich auf dieses Werk. 6 Helmuth Eisendle, Wo Kant ist, ist Bernhard, in: Theater heute 6/19, 1978, 30–34. Zitiert nach: Dittmar, Thomas Bernhard. Werkgeschichte, 197. 7 Vgl. Oliver Jahraus, Das ‚monomanische‘ Werk. Eine strukturale Werkanalyse des Œuvres von Thomas Bernhard, Frankfurt am Main u. a. 1992, 213: „Kant ist hier eine rein thematische Projektion.“ 8 Brigitte Hofer, Das Ganze ist im Grunde ein Spaß. ORF, 12. April 1978, in: Sepp Dreissinger (Hg.), Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard, Weitra 1992, 49–62, 56. 9 Vgl. Schings, Die Methode des Equilibrimus, 441–444. 10 Vgl. Bernd Seydel, Die Vernunft der Winterkälte. Gleichgültigkeit als Equilibrismus im Werk Thomas Bernhards, Würzburg 1986, 105: „Die Kunstfigur Kant findet sich im Spielraum von Fiktion und historischer Realität.“

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phen.“11 Zurecht wird davor gewarnt, diese provokanten Worte Bernhards, die quasi gegen den Strich der üblichen Lesart gehen, für allzu bare Münze zu nehmen.12 Sie dürfen als Indiz für zweierlei stehen bleiben: Erstens betrachtet Bernhard Kant als Angehörigen eines für ihn selbst bedeutsamen kleinen Kreises von Denkern, deren Namen er auch seine Romanhelden in einer Reihe nennen lässt.13 Zweitens schmälert ironische Brechung für ihn nicht den geistesgeschichtlichen Stellenwert dieser Denker. So wird der Figur Kant schon hinsichtlich ihrer Namensgebung von vornherein ein gewisser Spielraum gewährt, der über die tendenzielle Geschlossenheit der einen historischen Person und ihres Werkes hinausweist. Bernhards literarische Helden nennen immer wieder Philosophen namentlich, ohne auszuführen, welche konkrete Leseerfahrung sie mit den Namen verbinden. Diese erschöpft sich jedenfalls nicht im Aneignen von Inhalten oder im seriellen Eintauchen in verschiedene Lesewelten.14 Das Buch und stellvertretend dafür der Name des Autors sind irgendwo zwischen Talismanen und Objekten unabschließbarer Studien angesiedelt. Und zwar gilt dies nicht für jedes Buch, sondern nur für ganz bestimmte, wie sich anhand der Romane zeigen lässt,15 wie aber auch deutlich wird, wenn Bernhard seine oben zitierten Ausführungen fortsetzt: „Und die Schwächeren, die zweite Kategorie, die sind im Grund fad, weil sie nur das wiederkauen, was diese Spaßphilosophen vorge-

11 Thomas Bernhard und Krista Fleischmann, Monologe auf Mallorca (1981), in: Krista Fleischmann (Hg.), Thomas Bernhard. Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann, Frankfurt am Main 2006, 11–89, 28. 12 Vgl. Martin Huber, Thomas Bernhards philosophisches Lachprogramm. Zur SchopenhauerAufnahme im Werk Thomas Bernhards, Wien 1992, 16f. Für Walter Seitter hat Bernhards Verhältnis zur Philosophie seinen Austragungsort im „unaufhörlichen komisch-tragischen Schlagabtausch zwischen verschiedenen Denkformen und Existenztypen – die wichtigsten vier sind der Stumpfsinn und der Wahnsinn, der Geistesmensch und der Lebensmensch“. (Walter Seitter, Vorführungen. Paraphilosophische Dramatisierung in der Nachkriegsliteratur, in: Michael Benedikt et al. (Hg.), Verdrängter Humanismus – Verzögerte Aufklärung, Bd. 6: Auf der Suche nach authentischem Philosophieren. Philosophie in Österreich 1951–2000, Wien 2010, 808–824, 816). Bernhard inszeniere „ein radikal philosophisches und grausames Figurentheater, in welchem sich die Frage Lebenkönnen oder nicht? mit der Frage Philosophieren oder nicht? überkreuzt“ (ebd.). 13 Vgl. Thomas Bernhard, Auslo¨schung. Ein Zerfall, Frankfurt am Main 1986, 9: „Um wie vieles ho¨ her also, sagte ich zu Gambetti, seien die Leistungen unserer [kursiv im Original, S.Sch.] Philosophen und Schriftsteller einzuscha¨ tzen. […] Plo¨ tzlich habe ich Gambetti einen Schopenhauerschen Satz […] zuerst auf Deutsch, dann auf Italienisch vorgesprochen […] und entwickelte daraus mit der Zeit ein von mir auf die Spitze getriebenes Spiel, das schließlich mit Hegelsa¨ tzen und einem Kantaphorismus endete.“ Vgl. ebd. 150. 14 Vgl. Juliane Vogel, Die Gebetbücher des Philosophen. Lektüren in den Romanen Thomas Bernhards, in: Modern Austrian Literature 21/3–4, 1988, 173–186, 173 und 176. 15 Vgl. Vogel, Die Gebetbücher des Philosophen, 177ff.

Thomas Bernhards ‚Immanuel Kant‘

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schrieben haben schon, und die les’ ich eh nicht, weil wenn ich welche les’, les’ ich ja nur die Großen.“16 Das Auftauchen Kants in Bernhards Lektürekanon, ohne dass inhaltlich begründet würde, warum der Philosoph für ihn zu den größten zählt, interferiert mit eben der Weise, wie die sogenannten „Geistesmenschen“ aus Bernhards Werken diesen oder andere Namen von Denkern fallen lassen. „Im Zentrum aller seiner Werke steht die teils tragische, teils komische Gestalt des ‚Geistesmenschen‘, des Intellektuellen, Künstlers oder Pseudo-Künstlers, des unbedingten Wahrheitsfanatikers, der kompromisslos seinen Weg geht, bis er am Ziel, bei der Realisation seiner grandiosen oder skurrilen Pläne und damit auch: am Ende seiner Existenz angelangt ist.“ 17 Die Thematik der „Geistesmenschen“ ist naheliegenderweise gerade auch in der Komödie Immanuel Kant präsent (303, 307). „In immer wieder neuen Variationen hat sich Bernhard der exponierten und exzentrischen sozialpsychologischen Lage des ,Geistesmenschen‘ in dessen landschaftlichem Ambiente als einem zentralen Motiv neben dem benachbarten Todesthema gestellt; die monomanische Iteration setzt von der Prosa zum dramatischen Werk über und umgekehrt“.18 Die Dramengestalt des Immanuel Kant repräsentiert hier – keinesfalls ausschließlich, sondern durch andere Momente gebrochen – die existentielle Lage des Geistesmenschen. Der Name Kant repräsentiert außerdem ein Element aus dem Bildungsschatz anderer Vertreter der Geistesmenschen. Was für Uneingeweihte wie die zusammenhanglose Rede eines Verrückten klingt, hallt in diesem Kontext nach als „cantus firmus des Untergangsmenschen“19. Ehe eine fertige Bühnenfassung vorliegt, wird mit Kant eine Rolle besetzt – die Rolle des Philosophen, dessen spleenige Lebensführung im Missverhältnis zum Weltrang seines Denkens steht. Bernhard wählt Kant aus für die Rolle des Philosophierenden, der die Schwere der von ihm behandelten Problematik mit den zerbrechlichen Mitteln des Begriffs zu bewältigen versucht. „Kant ist ja doch …, der überragt die alle, nicht, drum hab’ ich ihn genommen.“20 Es ist das Gesamtbild von Werk und Biographie, mit dem sich Kant hervortut – und dieses Gesamtbild wird von Bernhard völlig neu arrangiert werden. Dadurch, dass Kant als Vorlage für den Protagonisten nicht allein zur Disposition steht, spricht die Figur auch stellvertretend für andere. Die Figur des Kant wird auch danach befragt, welches Verhältnis ein vornehmlich über seine intellektuelle Tätigkeit reüssierendes und sich definierendes Selbst einnimmt zu seiner Körperlichkeit, 16 17 18 19

Bernhard und Fleischmann, Monologe auf Mallorca, 28f. Bernhard Sorg, Thomas Bernhard, München 21992, 9. Hodina, Die Karnevalisierung des großen Aufklärers, 757. Schings, Die Methode des Equilibrimus, 441. Schings vergleicht hier die Rede Kants mit dem Monolog des Fürsten Saurau in Verstörung. 20 Thomas Bernhard, zit. n. Hofer, Das Ganze ist im Grunde ein Spaß, 56.

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zur Natur und zu dem gesellschaftlichen Rahmen der Vollzüge dieser Beziehungen. Zudem steht Kant über den Bernhardschen Mikrokosmos hinaus in der Bildungsgesellschaft als Chiffre für die radikalste philosophische Konsequenz, die aus der Epoche der Aufklärung gezogen wurde – oder schlicht für die Aufklärung an sich. Man identifiziert ihn mit dem Vollzug seiner Kopernikanischen Wende und ordnet ihm die Fragestellung zu, inwieweit die Verstandesleistung des Subjekts einer Erfahrung die Erscheinungsweise des Gegenstandes dieser Erfahrung bedingt.21 Bernhard weiß, dass er bei seinem Publikum ein gewisses Allgemeinwissen über Kant abrufen kann. Dieses Wissen existiert auch abgelöst von Kants Werk. Man muss es nicht studiert haben, um etwas über ihn zu wissen. Die meisten Zuschauer werden zudem etwas von ihm wissen. Nahezu sprichwörtliche Geltung besitzt das Bild seiner Pünktlichkeit, nach der die Königsberger Bürger ihre Uhren zu stellen pflegten.22

1.2

Warum Kant? – Die Figur zwischen Authentizität und Fiktion

Der Rezipient von Berhards Stück sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, ein zweifaches Wechselspiel in Rechnung zu stellen. Zum einen besteht eine Spannung zwischen den assoziativen Feldern, für die der Name Kant je nach Wahl des Bezugsrahmens repräsentativ steht.23 Eine brüchige Linie führt vom sozial approbierten außerakademischen Wissen über Kant, über die fortwährende Aktualisierung seines Denkens im kritischen oder affirmativen akademischen Diskurs24 bis hin zu dem Stellenwert, den der Philosoph für Bernhard innehat. Zum anderen bewegt sich die Bühnenfigur jederzeit zwischen authentischen Kant-Bezügen und Fiktion. Dies begründet, dass Interpretationen sich nicht einseitig auf den historischen Kant oder eine theatrale Dichtung, nicht auf die gesellschaftliche Bedeutung der 21 Vgl. Kafitz, Die Problematisierung des individualistischen Menschenbildes, 109f. 22 Vgl. Wilhem Weischedel, Kant oder die Pünktlichkeit des Denkens, in: Derselbe, Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen in Alltag und Denken, München 1997, 177–187, 177. Die Annahme, Bernhard habe Material für seine Kant-Figur aus dieser populären Darstellung bezogen, stammt von Bernd Seydel und findet seither Zuspruch in der Sekundärliteratur. Vgl. Seydel, Die Vernunft der Winterkälte, 142, FN 108. 23 Schings, Die Methode des Equilibrimus, 435. 24 Im Text angezeigt durch das wiederholte „Amerika hat Kant entdeckt“ (283) sowie den Verweis auf die „Columbiauniversität“ (260), dem Austragungsort der akademischen Auseinandersetzung der Pragmatisten mit Kants Philosophie, wie die Forschungsliteratur aufzeigt. Vgl. Franziska Schößler und Ingeborg Villinger, Über den „wahren Abgrund der menschlichen Vernunft“. Thomas Bernhards Einspruch gegen Immanuel Kant, in: Dieselben (Hg.), Politik und Medien bei Thomas Bernhard, Würzburg 2002, 110–147, 120.

Thomas Bernhards ‚Immanuel Kant‘

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Kantischen Philosophie oder den Topos des scheiternden Geistesmenschen25 ausrichten können. Bernhards Titelheld bewegt sich zumindest zwischen vier Bezugspolen: Erstens zwischen der Person des Philosophen Immanuel Kant und einer fiktiven Dramengestalt; zweitens zwischen dem sozialen Fortwirken und Eigenleben von Kants Denken und der Einschreibung des Denkers in Bernhards Vorstellungswelt. Zwischen diesen vier Extrempunkten spannt sich ein Koordinatensystem auf, innerhalb dessen der Rezipient die Bühnenfigur als einen variablen Punkt anvisieren muss. Um ein Bild aus dem vorliegenden Stück anzustrengen: Die „Ideallinie“ – der Begriff wird später noch näher in den Blick genommen – weist nicht vom imaginären Nullpunkt der Interpretation aus geradewegs in eine dieser vier Himmelsrichtungen, sondern weicht stets ab: „West Nordwest“ (259). Hinsichtlich der Bedeutung Kants für Bernhards Werk über das vorliegende Bühnenstück hinaus fördert die Sekundärliteratur so gut wie nichts zu Tage.26 So bleibt in Forschungstexten, die sich eingehend mit den philosophischen Einflüssen auf Bernhard beschäftigen, eine Untersuchung hinsichtlich Kant aus. Namen, die hingegen wiederholt fallen, sind Schopenhauer und Wittgenstein, Kierkegaard und auch Nietzsche.27 Die fehlende Thematisierung des Verhältnisses Bernhard/Kant in der Forschung legt den Schluss nahe, dass es mit dem erkennbaren inhaltlichen Einfluss Kants auf Bernhard nicht sehr weit her ist. Eine tiefgehende Prägung Bernhards durch Kant wird aus seinem sonstigen Werk nicht deutlich. Man kann auch nicht sagen, dass Bernhard sich durch Immanuel Kant als Kantianer ausweist. Dies bekräftigt jedoch die These, dass von einer speziellen, wenn auch marginalen oder bloß repräsentativen Bedeutung Kants

25 Vgl. Hodina, Die Karnevalisierung des großen Aufklärers, 755ff. 26 In diesen Bibliographien wird keine Arbeit, die die Geltung Kants für Bernhard zum Thema hat, verzeichnet: Axel Diller, Personalbibliographie der Forschungsliteratur zu Thomas Bernhard. 1963–2011, Frankfurt am Main 2012 und Willi Huntemann, Kommentierte Bibliographie zu Thomas Bernhard, in: Frauke Meyer-Gosau, Ulrich Schmidt und Michael Töteberg (Hg.): Thomas Bernhard (Text+Kritik 43), München 1991, 125–151. Auch in Monographien zu Bernhard wird auf Kants Einfluss nicht sonders Bezug genommen, außer es geht um Immanuel Kant. 27 Schon seit Frost (1963) ist zudem die Bedeutung Pascals als Wegmarke für Bernhards Denken bekannt. Der starke Einfluss Schopenhauers wird immer wieder geltend gemacht und ist Gegenstand umfänglicher Untersuchungen, ohne dass allerdings ein Rückgriff auf Kant, der ja wiederum eine entscheidende Referenz für Schopenhauers Denken darstellt und insofern im Raum stünde, als ertragreich angezeigt wird. Vgl. Gerald Jurdzinski, Leiden an der Natur. Thomas Bernhards metaphysische Weltdeutung im Spiegel der Philosophie Schopenhauers, Frankfurt am Main u. a. 1984. Vgl. Stephan Atzert, Schopenhauer und Thomas Bernhard. Zur literarischen Verwendung von Philosophie, Freiburg im Breisgau 1999. Einzig Gernot Weiß thematisiert einen Bezug von Korrektur (1975) auf Kants Begriff des Naturschönen. Vgl. Gernot Weiß, Auslöschung der Philosophie. Philosophiekritik bei Thomas Bernhard, Würzburg 1993, 110–114.

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für Bernhard auszugehen ist, die sich mit keiner bestimmten akademischen oder außerakademischen Perspektive28 völlig deckt. Die biographischen Überschneidungen der Bühnenfigur mit dem Philosophen verstecken sich meist en détail. Nachgewiesen sind etwa die Nackenrolle (267), die eingehende Beobachtung des Wetters (255 u. passim) und Zustände geistiger Umnachtung in den letzten Lebensjahren.29 Der Protagonist distanziert sich mehrmals von der wohl populärsten Überzeugung betreffs Kant: „Kant ist aus Königsberg/ nicht herausgekommen/ wird gesagt/ aber wo Kant ist/ ist Königsberg/ Königsberg ist/ wo Kant ist“ (274). Die empirische Person über den Bezug zu Königsberg anzunehmen und zugleich zurückzuweisen, die Bühnenfigur im Rückgriff auf Kant zum Nicht-Kant zu machen, ist hier Programm. Auch für die Thematik der Augenkrankheit findet sich eine Entsprechung in Leben und Werk des Philosophen Kant. In Der Streit der Fakultäten berichtet der Verfasser, er werde von „krankhaften Zufällen der Augen“30 ereilt. Jedoch habe er sich angeblich nicht davon beirren lassen, auf dem linken Auge bereits erblindet gewesen zu sein. Er äußert vielmehr Verwunderung darüber, wie wenig ihn der Funktionsverlust des Auges bekümmert habe.31

2.

Kants Werke in ‚Immanuel Kant’

Bereits die ersten Sätze, die Bernhard seine Figur Immanuel Kant sprechen lässt, sind wortgetreu einem Frühwerk Kants entnommen, das den sperrigen Titel trägt: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt (1755). Wenn Bernhard sich als selbsternannter „philosophischer Aasgeier“32 auf diese Schrift stürzt, beschränkt er sich im Weiteren darauf, Brocken aus dem dritten Hauptstück des zweiten Teils herauszureißen. Dieses ist betitelt: „Von der Excentricität der Planetenkreise und 28 Eigene Worte für die landläufig zugestandene Wirkung Kants auf die Philosophie findet Fürst Saurau in Verstörung. Vgl. Thomas Bernhard, Verstörung, in: Derselbe, Werke, Bd. 2, hg. v. Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Frankfurt am Main 2003, 176: „[I]n Wahrheit ist es seit Kant keinem einzigen mehr gelungen, das Museum zu lüften[…]! Seit Kant ist die Welt eine ungelüftete Welt!“ 29 Vgl. Schings, Die Methode des Equilibrimus, 436–439, 444. Vgl. Hodina, Die Karnevalisierung des großen Aufklärers, 762–766. Die Rezipienten tragen hier aus diversen Kant-Biographien die Belege zusammen für jene Aspekte, die Bernhards Kant mit dem echten gemeinsam hat. 30 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. 7, Berlin 1917, 1–116. Im Folgenden zitiert als Fakultäten. Hier: AA 7, 115. 31 Vgl. Kant, Fakultäten, AA 7, 115f. 32 Bernhard und Fleischmann, Monologe auf Mallorca, 3.

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dem Ursprunge der Komenten“.33 Hat man auch ganz zu Beginn des Stückes zur Kenntnis genommen, dass ein verheirateter Kant nicht der echte Kant ist, so spricht nun gleichwohl dieser durch jenen: „Alle möglichen Stufen/ der Exzentrizität/ von den Planeten/ bis zu den Kometen“ (255).34 Die Verfremdung wird durch das wörtliche Zitat ein Stück weit zurückgeschraubt, zugleich aber komplettiert, denn dieses Satzfragment aus dem Stegreif dem Urheber der drei Kritiken zuordnen zu können, ist auch für Experten alles andere als selbstverständlich. Dem Theaterpublikum wird der Verweis auf den frühen Originaltext wohl mehrheitlich entgangen sein. Überhaupt entfalten sich die Komplexität und Vielschichtigkeit der Bezüge in dieser Komödie erst dem Leser, dem Zuschauer geht es zu schnell.35 Indem der Protagonist etwas von Kant präsentiert, entfernt er sich zugleich von diesem, denn er offenbart nur einen kaum identifizierbaren Fetzen, zudem ohne inhaltlichen Zusammenhang mit dem Bühnengeschehen. Von einem Kant hätte man anderes erwartet. Mit einigem Wohlwollen lässt sich für das angeführte Zitat ein rein assoziativer Bezug zur vorangehenden Äußerung des Stewards finden. Dieser spricht von den „Chefmeteorologen“ (255). Der Rang des Chefs verbindet sich mit den Stufen auf der Leiter der Hierarchien und von den Meteorologen ist es über Meteoriten nicht weit zu den Kometen und Planeten. Diese assoziative Einflechtung der Kant-Stellen lässt sich auch andernorts nachweisen. Kant berichtet etwas weiter unten, seine Frau lese ihm in der Kabine seine „Neue Schätzung der lebendigen Kräfte vor“, was zwar „[e]ine Absurdität/ auf Hoher See“ darstelle, aber, „dadurch ertrage [er] die Turbinen besser“. Das darauffolgende Kant-Zitat klingt wie ein verzweifelter Begründungsversuch: „Die Gesetze gelten nicht/ über alle Bewegungen/ ohne Betrachtung ihrer Geschwindigkeit“ (260).36 Völlig aus dem Originalzusammenhang gerissen ist hier dennoch denkbar, dass der Passagier erklären möchte, dass es unter den besonderen gegebenen Umständen der Fortbewegung angeraten sein kann, sich Ausnah-

33 Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, AA1, Berlin 1910, 215–368. Im Folgenden zitiert als Naturgeschichte. Hier: AA 1, 277–283. 34 Im Original bei Kant (Naturgeschichte, AA 1, 278): „Diese Bestimmung führt durch eine beständige Leiter vermittelst aller möglichen Stufen der Exzentricität von den Planeten endlich bis zu den Kometen“. 35 Vgl. Seydel, Die Vernunft der Winterkälte, 113. 36 Bei Kant heißt es: „Demnach gilt das Gesetz der Quadratschätzung nicht über alle Bewegungen ohne Betrachtung ihrer Geschwindigkeit, sondern diese kommt dabei mit in Anschlag.“ (Immanuel Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen, AA 1, 1–182. Im Folgenden zitiert als Schätzung. Hier: AA 1, 154.

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men von üblichen Verhaltensregeln zuzugestehen, so absurd diese auch scheinen mögen. Mit dem just gebrachten Zitat greift Bernhard auf eine weitere Schrift des jungen Kant zurück, nämlich auf dessen Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen (1746/49). Der Blick auf die vollständigen Titel der herangezogenen Werke lohnt sich insofern, als hier die Namen der zwei Wissenschaftskollegen auftauchen, die der Hauptcharakter des Dramas als maßgeblich für seine persönliche und wissenschaftliche Biographie nennt: „Herr von Leibniz/ Ein guter Bekannter von mir/ mit welchem ich ausgedehnte Spaziergänge machte/ […] Newton/ war unser Brotgeber“ (331). Freilich erblickte Kant erst mehr als sieben Jahre nach Leibniz’ Tod das Licht der Welt und Newton starb kurz vor Kants drittem Geburtstag.37 Bei allem Anachronismus findet sich hier, verknüpft mit dem biographischen Detail des Spaziergangs, besagte Engführung von Authentizität und Fiktion. In deren Zuge verschwimmen auch die Grenzen zwischen schriftlich-wissenschaftlicher Auseinandersetzung und leibhaftiger Begegnung. Die Auflistung der nicht-kanonischen Kant-Texte, aus denen Bernhard sich bedient, ist mit der Nennung eines dritten Frühwerks schon vollständig. Es handelt sich um die Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio. Die Kant-Zitate fänden sich somit sämtlich im ersten Band der im Suhrkamp-Verlag erschienen Werkausgabe, welche sich in Bernhards Privatbibliothek findet, was er in einem Brief an Siegfried Unseld kommentiert: „Hegel steht schon neben Kant. Die Zukunft gehört niemandem.“38 Für die Verwendung dieser Ausgabe durch Bernhard spricht, dass hier eine deutsche Übersetzung der original lateinisch verfassten Abhandlung abgedruckt ist.39 Auch ein Zitat aus dem letztgenannten Werk kommt hybrid und apodiktisch zugleich daher, schmiegt sich bei näherer Betrachtung aber assoziativ an die vorige Äußerung der Bühnenfigur. „Psittacus erithacus/ Die Menschheit/ ist die Einsilbigkeit/ an sich[.]/ Wenn das Gegenteil von etwas/ bejaht wird/ wird es selbst verneint/ Wenn das Gegenteil von etwas/ wahr ist/ ist dieses selbst 37 Die Brotgeberschaft Newtons kann als ironische Anspielung auf den Plagiatsstreit um die Entdeckung der Infinitesimalrechnung zwischen Isaac Newton (1643–1724) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) gelesen werden. 38 Thomas Bernhard an Siegfried Unseld, Brief vom 18. März 1970, in: Thomas Bernhard und Siegfried Unseld, Der Briefwechsel, hg. v. Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer, Frankfurt am Main 2009, 169. 39 Bernhards Verwendung der erstgenannten Texte wird zuerst von Schings nachgewiesen. Vgl. Schings, Die Methode des Equilibrismus, 441f. Ergänzt um das letztere Werk wird die Liste von Christian Klug. Vgl. Christian Klug, Thomas Bernhards Theaterstücke, Stuttgart 1991, 166ff.

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falsch“ (274).40 So unverbunden diese Sätze zunächst aufeinander folgen mögen, stehen sie doch dadurch im Zusammenhang, dass die typischen Fälle wortkarger, einsilbiger Antworten Ja und Nein sind; einsilbige Bejahung und Verneinung.41 Der Ausruf „Psittacus erithacus“ (lat. Graupapagei) triumphiert über die beredte Antwort, die der Papagei Friedrich zuvor gibt und geht weiter zum Verdikt über eine Menschheit, mit der der Protagonist keine vernünftige Kommunikation mehr unterhält. Bernhard lässt seinen Kant nicht nur wider den Kontext, sondern mitunter gegen die Intention des Originalwerks zitieren: „Ich spreche von der genauen Zirkelbewegung/ der Partikel/ des Grundstoffs/ wiewohl von der Zwecklosigkeit/ der Natur/ meine Herrschaften“ (256). Tatsächlich ist der Verfasser der aufgerufenen Stelle gerade darauf bedacht, die Zwecke der Natur gegeneinander abzuwägen.42 Wenn der Philosoph sich hier zeigt, dann von einer unbekannten Seite und ungeachtet seiner Aussageabsichten. Originales Kant-Material wird auf kaum kenntliche Weise präsentiert. Die Bühnenfigur verbarrikadiert sich gewissermaßen hinter Texten – oder besser: hinter einem Trümmerhaufen aus Textteilen, die der Feder Kants entstammen. Die verfremdende Weise, sich auf Kant zu beziehen, bekräftigt, was Schmidt-Dengler als Methode „verschleierte[r] Authentizität“43 bei Bernhard gewahrt, und verschärft es noch, da die Rede von verschleiernder Authentizität gerechtfertigt ist. Das Verbürgte tritt durch die Weise, wie es in den Text eingewoben ist, als Fragwürdiges auf und wirkt an der Hervorbringung einer künstlichen Figur mit. Der Verfasser der Theorie des Himmels verwendet große Sorge darauf, die mechanistische Eigendynamik der Naturprozesse nicht gegen die Wohlgeordnetheit des Weltbaus nach einem göttlichen Plan auszuspielen. Vielmehr spreche es für die Weitsichtigkeit des Schöpfers, dass es dem leichtfertigen Naturforscher so scheinen könnte, als nehme die Natur ganz von allein ihren Lauf.44 In dieser Frühschrift versucht Kant geschickt, die Eisberge kirchlicher Zensur zu um40 Kant schreibt: „[S]i oppositum alicuius est verum, ipsum est falsum; hoc est: si oppositum alicuius affirmatur, ipsum negatur“. Immanuel Kant, Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1, Berlin 1910, 385–416, 388. 41 Dafür spricht, dass Bernhard im Vergleich zur Originalstelle die Reihenfolge der Satzteile vertauscht, so dass Bejahen und Verneinen direkt auf Einsilbigkeit folgen. 42 Vgl. Kant, Naturgeschichte, AA 1, 279. Martin Seel hält für Bernhards Verfahrensweise mit Philosophemen ganz allgemein fest: „Kein Autor – ob Montaigne oder Schopenhauer, Kant oder Nietzsche, Wittgenstein oder Heidegger – wird im genauen Sinn seiner Lehre assoziiert.“ (Martin Seel, Über einige Beziehungen der Vernunft zum Humor, in: Akzente 5/33, 1986, 420– 432, 429.) 43 Wendelin Schmidt-Dengler, Verschleierte Authentizität. Über Thomas Bernhards ‚Der Stimmenimitator‘, in: Kurt Bartsch et al. (Hg.), In Sachen Thomas Bernhard, Königstein/Taunus 1983, 124–147. 44 Vgl. Kant, Naturgeschichte, AA 1, 221f und 225f.

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schiffen, von der die Veröffentlichung seiner Erkenntnisse seinerzeit bedroht war. Über die bereits konstatierte assoziative Einbindung kantischer Werke hinaus kann eine kontextuelle Verdichtung beobachtet werden. Bernhard lässt in seinem Stück einen Vertreter der Kirche auftreten. Jedoch ist der Titelheld weit davon entfernt, eine gesellschaftliche Kontroverse auszulösen. Er erfährt ungebrochene Beifallsbekundungen des mitreisenden Kardinals (312). Die Kant-Zitate sind zu zwei Dritteln auf die erste der – die Landung nicht mitgezählt – drei Etappen des Stückes verteilt. Die Bilder des Stückes reihen sich nach dem Aufbau des Luxusdampfers aneinander und sind in Vorder-, Mittelund Hinterdeck gegliedert. Somit folgt die ohnehin spärliche Handlung einer künstlichen, von außen aufgeprägten Ordnung.45 Bernhards Kant durchmisst den Raum entgegen der Fahrtrichtung des Schiffes, als strebe er innerlich dem entgegen, was ihn mit der Landung erwartet, – und damit auch dem vielbeschworenen Erfüllungsort seiner „einzige[n] Hoffnung“ (259). Dies unterstreicht die Divergenz zwischen der Figur und demjenigen, was sie als eigene Absicht vorweist. Analog präsentiert sie sich als Autor der zitierten Kant-Stellen und zitiert zugleich gegen die Autorenintention. Wer diese Komödie als ausdrückliche Kritik an der Philosophie Kants liest, muss in Rechnung stellen, dass der Philosoph sich nur bruchstückhaft und rearrangiert in den Text einschreibt. Der historische Kant bildet nur einen Bezugspol der Bühnenfigur, diese ist ebensosehr Nicht-Kant. Somit trifft die Kritik, die sich in dem Stück ausspricht, den Philosophen auch nur facettenweise. Darüber hinaus wird Kant hier avant la lettre als Repräsentant eingesetzt, womit jedenfalls eine einseitige Lektüre des Stückes auf Kants Werk hin unterlaufen wird. Der Rückbezug der Fragmente auf Kants Text wird dadurch erschwert, dass diese Brocken durch ihr Auftauchen in Bernhards Text nicht mehr philosophisch sind.46 Es wäre mindestens unredlich zu behaupten, eine Philosophie mit literarischen Mitteln und somit nicht im Medium des Begriffs treffsicher angegriffen und zum Einsturz gebracht zu haben. Ich halte es für sehr fraglich, dass es Bernhard an einer fundamentalen Kant-Kritik gelegen war. Dagegen, dass Bernhard Kants Philosophie im Kern treffen wollte und könnte, spricht, dass er Kants Text über Randbezirke – das Frühwerk – in den seinen integriert.47 45 Vgl. Manfred Mittermayer, Thomas Bernhard, Stuttgart 1995, 141. Vgl. Schößler/Villinger, Über den „wahren Abgrund der menschlichen Vernunft“, 111, FN 8. Die bewusste Künstlichkeit, mit der Bernhard seine Komödie gestaltet und die sich auch in der holzschnittartigen Zeichnung der Figuren um Kant widerspiegelt, ist immer wieder bemerkt wirden. Vgl. Bruno Hannemann, Vernunft auf Irrfahrt – Zu Thomas Bernhards Komödie ‚Immanuel Kant‘, in: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft 27, 1981, 346–359, 350. 46 Vgl. Huber, Thomas Bernhards philosophisches Lachprogramm, 23. 47 Vgl. Klug, Thomas Bernhards Theaterstücke, 164–168. Klug hält fest, dass „Bernhard gerade nicht aus einem der kanonischen, ‚Kritischen Werke‘“ zitiert (ebd., 164); noch weniger re-

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Ein Geistestrio

Halt und Orientierungspunkt des fiktiven Kants in der ihm in Bernhards Stück aufgenötigten Situation48 bildet sein Papagei Friedrich. Sie „gehören zusammen/ gleichgültig/ was die Welt denkt“ (286f). Der Papagei als wesentlicher Bezugspol versinnbildlicht, in welcher radikalen Abgetrenntheit von seiner Mitwelt der vermeintliche Philosoph sich erlebt. Am engsten ist die Titelrolle auf Friedrich bezogen. Ihr körperliches Unvermögen, dessen Käfig zu tragen, bedingt das Angewiesensein beider auf einen Dritten: den Diener Ernst Ludwig. „Ich wollte mit nichts/ nur mit meinem Kopf und mit Friedrich/ und mit Ernst Ludwig natürlich reisen“ (278), erklärt Bernhards Kant. „Ein Geistestrio“ (303), ruft die Millionärin entzückt aus. Des Dieners bedarf es insbesondere, um den Käfig des Papageien zu tragen und zu behüten. Diese alltägliche Verrichtung avanciert zum körperlichen Merkmal des Bediensteten: „Tatsache ist/ daß Ernst Ludwigs rechter Arm/ dicker ist/ als sein linker/ weil er schon dreißig Jahre/ Friedrichs Käfig trägt“ (283). Die leibliche Deformation und die funktionale, verdinglichende Herabsetzung des Bediensteten werden vom Hauptcharakter nicht nur billigend in Kauf genommen. Vielmehr beruhigt ihn dies darüber, dass der Diener seiner völligen Kontrolle immer ein Stück weit entzogen bleiben wird. Dieser kann dem Befehlshaber ja nur vermöge gewisser Freiheitsgrade dienlich sein.49 Über die körperliche Einschreibung der Machtbeziehung versichert der Protagonist sich seiner Herrschaft über den Knecht. Er braucht ihn seiner Körpräsentierten die Zitate „die traditionelle Metaphysik“ (ebd., 168), wie Seydel argumentiert. Vgl. Seydel, Die Vernunft der Winterkälte, 113. 48 Das Flüstern der Frau Kant mit den Schiffsangestellten, denen sie zudem Geldscheine zusteckt (338 u. passim), gibt Hinweis darauf, dass sich hier eine von ihr inszenierte Intrige abspielt, mit dem Ziel, den lästigen Gatten der Obhut des New Yorker Irrenhauses zu überantworten. Vgl. Yasmin Hoffmann, „Die Stimme der Vernunft“. Immanuel Kant von Thomas Bernhard, in: Bernard Banoun et al. (Hg.), Aug’ um Ohr. Medienkämpfe in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, 105–115, 113. Die Taktik, eine Preisverleihung in Aussicht zu stellen, wurde schon angewandt, um Nietzsche nach seinem Zusammenbruch ins Schweizer Sanatorium zu überstellen. Vgl. Hodina, Karnevalisiserung des großen Aufklärers, 762. Auch hier gilt also: Die Figur Kants steht auch für andere Philosophen und nicht nur für den historischen Kant; die Figur Kant trägt Züge anderer Philosophen, nicht allein die Züge Kants. Die Äußerung des Protagonisten, er sei zwar von allen Universitäten Amerikas eingeladen worden, den Einladungen aber nie nachgekommen, spricht jedoch gegen eine vorgegaukelte Ehrenfeier. Darauf, dass Frau Kant hier ein hinterlistiges Spiel treibt, deutet die anschließende Aussage ihres Ehemannes: „Im Grunde ist es allein meine Frau/ die mich auf dieses Schiff gebracht hat“ (334). Andererseits könnten sowohl ihr Drängen zur Reise als auch ihre Zuwendungen an das Bordpersonal nur aus Sorge um ihren Ehemann geschehen. Was immer man favorisieren mag, zu beachten ist, dass Bernhard die andere Option jeweils offen lässt. 49 Manfred Mittermeyer (Thomas Bernhard, 143) schreibt von einem „bedrohlichen Rest an Selbstständigkeit“ bei den Dienern in Bernhards Stücken.

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perkraft wegen und verbraucht ihn ohne Rücksichtnahme auf seine körperliche Unversehrtheit. Dies kommt der klassischen Definition des Eigentumsrechts über eine Sache als eines ius utendi et abutendi gleich. Eine solche verdinglichende Beziehung tendiert in Richtung der größtmöglichen Distanz zu einer Formulierung des Kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“50 Die Dreiecksbeziehung bleibt bei einer Degradierung des Dieners zu einer Sache im Gebrauch des Herrn nicht stehen. Darüber hinaus verwischen die Grenzen zwischen Mensch und Tier. Ernst Ludwig wird als eine „Menschenart“, die „beinahe ausgestorben“ (318) sei, bezeichnet. Gerade indem ihm das Attribut des Menschlichen zugesprochen wird, wird er als Mensch in Frage gestellt, geschieht dies doch auf eine Weise, in der landläufig von Tieren die Rede ist. Der historische Kant stellt in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Rangordnung zwischen Mensch und Tier respektive Mensch und Sache auf. Demzufolge ist der Mensch „vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn das Ich noch nicht sprechen kann“.51 Der Mensch Ernst Ludwig und das Tier Friedrich haben gemessen an dieser Hierarchie die Plätze getauscht. Die Textstellen, an denen der Papagei vermenschlicht wird, sind zahlreich. Auf den Punkt bringt es die Bemerkung des Titelhelden, Friedrich sei „der einzige Mensch/ den [er] jemals zur Gänze gehabt habe“ (337). Ganz und gar nicht „vernunftlos“ sei dieser „das gefiederte Gewissen [s]einer Erkenntnisse“ (337). Dass man mit Friedrich keineswegs „nach Belieben schalten und walten“ kann, bekam Frau Kant zu spüren. Sie „getraute sich Friedrich/ herabzusetzen“, wurde dafür aber von ihrem Gatten „vor Friedrich/ zur Rechenschaft gezogen/ sie mußte sich bei Friedrich entschuldigen“ (278). Freilich qualifiziert Friedrich sich gerade dadurch, dass er sprechen kann, für die Überhöhung. Bemerkenswerterweise gibt es mehrere Stellen, an denen Friedrich nicht nur nachspricht, sondern auf eine Weise antwortet, die ein Verständnis der Frage voraussetzt: „Kant […] zu Friedrich/ Was sagst du/ wenn die Vorlesung abgeschlossen ist[?]/ FRIEDRICH/ Ich danke für ihre Aufmerksamkeit“ (280).52 50 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4, Berlin 1902, 385–464, 429. 51 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin 1917, 117–334. Im Folgenden zitiert als Anthropologie. Hier: AA 7, 127. 52 Offen bleibt, ob Friedrich bloß darauf dressiert ist, an dieser Stelle Ich zu sagen, aber die Gesamttendenz in diese Richtung ist eindeutig. An anderer Stelle erfolgt eine Umkehrung des

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Das Verhältnis zwischen den Figuren Kant, Friedrich und Ernst Ludwig ist ganz klar um den Erstgenannten und seine Bedürfnisse zentriert und wird von ihm gesteuert. Die Figur Kant wird in ihren Konturen überhaupt erst innerhalb dieses Bezogenseins umrissen. Wie jede Figur bleibt sie ein Stück weit ungreifbar, weil sie nicht verlustfrei aus dem Geflect ihrer Beziehungen herauszulösen ist. Ein Ich unabhängig von der sprachlichen Bezugnahme auf andere, wie Kant es kraft angeborener Vernunft unterstellt, ist hier fraglich. Die Identität der Person tritt erst in Relation zu einem Umfeld hervor. Die Hauptfigur braucht ihren festen Bezugsrahmen, um sich ihrer selbst zu versichern. Sprachliche Beziehungen entpuppen sich des Weiteren als Machtbeziehungen.53 Bernhards Kant dringt zu seiner menschlichen Umwelt nur durch, wenn er sich entweder im Modus der Anweisung, der Beschuldigung oder der Sorge um sich selbst oder um Friedrich äußert. Über den unüberwindlichen Bruch zwischen der zentralen Gestalt und den anderen Figuren kann somit auch nicht hinwegtäuschen, wie der Held von Anfang bis Ende von den Seinen umsorgt und von der Gesellschaft hofiert wird. Sämtliche Versuche ein Gespräch anzuknüpfen reißen ab, entweder in der deliriösen Erwiderung Kants oder in einem selbstgefälligen Themenwechsel der Anderen. Zuletzt holt die Verdinglichung auch Friedrich ein, dessen einziger Hinderungsgrund, weshalb er den Monologen oder Vorlesungen Kants nicht aus dem Wege geht beziehungsweise fliegt, wohl sein Käfig ist: Dieser Umstand seiner permanenten Zuhörerschaft mache aus ihm „das größte Kunstwerk der Welt“ (337).

2.2

Sehkrank auf See

Bei allen Angehörigen des Geistestrios sind Sehkraft, Sinnlichkeit und Rezeptibilität zentrale Themen. An Ernst Ludwig wird beklagt, er sei „antisensibilistisch“ (288). Ausgestattet mit den besten Augen, sehe er nicht, dass es seinen Dienstgeber „an den Füßen friert“ (282). Dieser fühlt sich zu der Verallgemeinerung veranlasst: „Die Diener/ leiden an absoluter Blindheit/ während sie/ nachgewiesen/ die besten Augen haben“ (282). Blindheit wird hier gleichgesetzt mit einem Mangel an Verstand. Der Protagonist vergisst, dass man das Frieren der Füße nicht sehen kann, sondern nur das sinnlich gegebene Material begrifflich, also mit Mitteln des Verstandes, dahingehend ordnen kann, dass es den

Verhältnisses von Sprecher und Nachsprecher: „FRAU KANT/ […] Mein Mann sagte[:] Friedrich Friedrich Friedrich/ KANT/ Friedrich“ (257). 53 Vgl. Mittermeyer, Thomas Bernhard, 136.

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Schluss auf frierende Füße zulässt.54 Friedrich hingegen verfüge wie „[d]ie sogenannten Schriftgelehrten“ über „das empfindlichste Augenlicht“. Deshalb sei er „[d]er wahre Philosoph/ in sich selbst“ (256). Es wird deutlich, dass für den Hauptcharakter mit dem Verlust seiner Sehkraft der Identitätsverlust auf dem Spiel steht. Die Bedeutung der Augenkrankheit changiert im Verlauf des Stückes. Klagt Bernhards Kant im ersten Teil des Stückes noch: „[I]ch habe das Glaukom/ nicht verdient/ Das Augenlicht/ ist das Wichtigste/ ohne Augenlicht/ ist auch mein Kopf verloren“ (285), wird im zweiten Teil die Millionärin verkünden: „[D]as Glaukom hat seinen Schrecken verloren“ (301), worin sich der naive Glaube an einen für Geld käuflichen medizinischen Fortschritt verbirgt. Im dritten Teil reklamiert Kant, wenn sein geistiger Verfall sich ins Delirium gesteigert zu haben scheint: „[d]as Glaukom hat mir/ die Augen geöffnet“ (333). Er verweist in diesem Zusammenhang auf den Gewinn einer Einsicht über die Menschheit; an seiner eingangs geäußerten Absicht hält er bis zum Schluss fest: „Ich mache diese Reise/ um mein Augenlicht wiederzufinden/ denn ich bin schon beinahe erblindet/ Wo beinahe nichts ist als Schatten/ hat die Vernunft keinerlei Begründung“ (337). Dem befürchteten Grundloswerden, also dem Fundierungs- und Legitimationsverlust der Vernunft durch Blindheit, gesellt sich ausgerechnet durch das Unterfangen, dieses Übel abzuwenden, ein zweiter Gefahrenpol hinzu – die Hohe See. Bernhard spielt mit dem unhörbaren Unterschied zwischen See- und Sehkrankheit. „Millionärin/ Sind sie seekrank Herr Professor/ Kant/ Das sehen sie ja daß ich sehkrank bin/ das sehen sie ja an meiner Brille/ Millionärin / Ich meine seekrank/ nicht sehkrank/ Frau Kant/ Mein Mann ist nicht seekrank“ (308). Auch die Seekrankheit wird bezogen auf Wahrheit, sie sei „der Beweis für alles“ (275). Die Dramenfigur Kant konstatiert zudem, dass „[a]uf Hoher See/ […] Der Kopf bejaht/ was er verneint hat“ (286). Dies macht die Seekrankheit zum Beweis für jeweils einander sich Widersprechendes und folglich mündet sie in der Indifferenz, in der Haltlosigkeit eines steten Auf-und-Ab, worin sie ihren Ausgang nimmt. So vermutet der echte Kant: „Die Seekrankheit […], mit ihrer Anwandlung zum Erbrechen, kam, wie ich bemerkt zu haben glaube, mir bloß durch die Augen ; da beim Schwanken des Schiffs aus der Kajüte 54 Die einschla¨gige Formulierung, die Anschauung ohne Verstandesleistung mit Blindheit in Beziehung setzt, findet sich bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft: „Ohne Sinnlichkeit wu¨ rde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufu¨ gen), als, seine Anschauungen sich versta¨ ndlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).“ Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten OriginalAusgabe, hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998. Im Folgenden nach der Paginierung der ersten Auflage 1787 (B). Hier: A 52/B 76.

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gesehen, mir bald das Haff, bald die Höhe von Balga in die Augen fiel und das wiederkommende Sinken, nach dem Steigen, vermittels der Einbildungskraft durch die Bauchmuskeln eine antiperistaltische Bewegung der Eingeweide reizte.“55 Bemerkenswert ist, dass Kant, wie Bernhard durch sein Wortspiel, die Seekrankheit auf die Augen bezieht. Kant lässt es jedoch bei ihrer körperlichen Auswirkung bewenden, während Bernhard weiter geht und sie mit Sinnverlust in Verbindung bringt.

2.3

Körper auf hoher See

Die Tatsache, auf Hoher See den Elementargewalten ausgesetzt zu sein, lenkt den Fokus auf Diätetik und Körperlichkeit. Der Körper wird zum Problem und die Sorge um ihn zum Hauptaugenmerk insbesondere der zentralen Person auf der Bühne.56 Jeden Tag muss Bernhards Kant mit dem Schiffskoch sprechen, um sich über eine „Suppenfatalität“ (290) zu beklagen. Die Wortzusammensetzung verbindet das Lächerliche mit dem Unabwendbaren. Aus Furcht vor „Verkühlungen“ (256) wird empfohlen sich „niemals/ ohne Strickmütze an Bord“ (302) eines Schiffes zu begeben, wenngleich diese gemessen an der Gefahr, dass „das Schiff birst“ (292), nur eine dürftige Vorkehrung darstellt. Luxus kulminiert in der Pose, sich noch im Untergang der Wahrung des Komforts und der Gewohnheiten zu versichern. „Kant […]/ alle diese Leute/ mit ihrem Luxus/ untergegangen/ Die Konzertkapelle hat gespielt/ während alles untergegangen ist“ (284). Später mutmaßt die Millionärin: „Ich nehme an meine Großmutter hatte ihre Strickmütze auf/ wie sie mit der Titanic untergegangen ist/ es ist mir nicht anders vorstellbar/ lacht/ Achja man kann sich nicht genug schützen“ (302f). Der Protagonist verlangt des Öfteren danach, dass man sich seiner widme, um ihn zuzudecken, mithin, dass man ihn hinsichtlich seiner Körperlichkeit verdecke, so dass nur der „hochgestellte Geisteskopf“ (305) herausschaue. Der Text symbolisiert hier im Umgang mit der Figur, die zwar nicht den historischen Kant verkörpert, aber auf diesen bezogen ist, seine eigene Verfahrensweise mit dem Philosophen. Dadurch, dass er diesen in den Vordergrund rückt und einwickelt wie ein Präsent, verbirgt er ihn zugleich, indem Person und Werk des Philosophen in den fremden Text wie in einen Kokon eingesponnen werden bis zum Inkognito. Ziel der Selbstsorge des Titelhelden ist die Auffindung der „Ideallinie“. Hierfür ist Friedrich unerlässlich, „und Ernst Ludwig natürlich“ (265), der den 55 Kant, Anthropologie, AA 7, 169. 56 Nach Hodina (Die Karnevalisierung des großen Aufklärers, 759) ist Friedrich „der Götze dieses Fürsorgespektakels“.

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letzteren in die rechte Position zu Kant zu bringen hat. Die ideale Linie bestimmt einerseits die Ausrichtung, die Lagebeziehungen der Körper im Raum, andererseits taucht die Metapher der Linie auch in der Bedeutung von Abgrenzungen auf. Kant bezeichnet Joseph Conrad als einen „unserer größten Schriftsteller“ (306). Schings bezieht dies auf dessen Roman The Shadow Line, also die Grenzlinie zwischen Licht und Schatten.57 Auf dem Hinterdeck entkorkt der Steward Champagner der Marke Chateau Maginot (317), was auf die MaginotLinie, also die ehemals befestigte Grenze Frankreichs zum feindlichen deutschen Nachbarn, hinweist. Der berichtete Aufenthalt des Admirals in den Ardennen (328), einem Teilgebiet des Verlaufs der Maginot-Linie, unterstreicht dies. Die ideale Linie gewinnt darüber hinaus die Bedeutung, sich diesseits des Schattens und der Umnachtung aufhalten zu wollen, ohne je die Grenze aus den Augen zu verlieren, um sich stets vergewissern zu können, dass man sich auf der richtigen Seite befindet. Zitate aus der Theorie des Himmels werden in Relation gestellt zu körperlichen Verrichtungen auf der Bühne. Schößler und Villinger weisen darauf hin, dass in dieser Schrift „der Leib präsent, und zwar kosmologisch erhöht“ sei.58 Himmelssphäre und menschlicher Körper würden in Analogie gedacht.59 Diese Analogie reproduziert Bernhard an der folgenden Stelle, jedoch verhalten die Menschenkörper sich mitnichten so präzise wie Himmelskörper, sondern geben die Figur vielmehr slapstickhafter Lächerlichkeit preis. „Kant / geht zu seinem Klappstuhl/ Je weiter/ die ausgebreiteten Teile des Urstoffs/ von der Sonne entfernt sind/ desto schwächer ist die Kraft/ die sie zum Sinken bringt/ setzt sich in seinen Klappstuhl/ Achnein/ will wieder auf, es gelingt ihm aber nicht allein“ (258).60 Wenn Bernhard Kant hier aus seinen Schriften zitiert, versteht er sich selbst nicht mehr; dieser Satzfetzen markiert lediglich zeichenhaft eine verlorene Beziehung zu seinem nurmehr als unzulänglich erlebten Körper. Bernhard präsentiert mit seinem Kant ein problematisches Körperverhältnis, das mit dem Kollaps der geistigen Vollzüge korreliert. Bernhard unterstellt jedoch kein einseitiges Kausalverhältnis: Weil der Protagonist seinem Körper nur im Modus des Misstrauens begegnet, werde er schließlich verrückt. Die Figur Kant funktioniert körperlich wie geistig vielmehr nur in der Dreierkonstellation mit Ernst Ludwig und Friedrich. Innerhalb dieser Zusammensetzung verfügt die zentrale Gestalt über den eigenen Körper und über den Körper des Bediensteten bloß wie über ein zu kontrollierendes Anhängsel. Den eigenen Körper vermag die Titelrolle nur noch als den verletzlichen Gegenstand der Sorge zu spüren der dem 57 58 59 60

Vgl. Schings, Die Methode des Equilibrismus, 437. Schößler/Villinger, Über den „wahren Abgrund der menschlichen Vernunft“, 129. Vgl. Schößler/Villinger, Über den „wahren Abgrund der menschlichen Vernunft“, 129. Vgl. Kant, Naturgeschichte, AA 1, 258.

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Untergang preisgegeben ist und die Vernunft mit in den Abgrund zu ziehen droht.

2.4

Das Licht der Aufklärung

Die positive Konnotation der Lichtmetapher bei Kant verkehrt Bernhard in ihr Gegenteil: „Bevor die Verfinsterung vollkommen eintritt/ zur Strafe ein paar Aufhellungen für die Leute/ Verhexungen/ Geistesvollstreckungen“ (333). Dies kommt dem Vokabular und der Deutung der Dialektik der Aufklärung nahe. Adorno und Horkheimer unterstellen die Gleichursprünglichkeit magischen und logisch-vernünftigen Denkens und beschreiben, wie Vernunft in ihrer Ausrichtung umschlägt von der Orientierung auf Freiheit hin zu willfähriger Exekution der Sachzwänge des Wirtschaftssystems.61 Wenn Vernunft auch hier auf der Bühne in ihr Gegenteil umschlägt, so verfällt sie doch weniger in Barbarei als in schlichte Narretei. Das Stück trägt der bis in die Gegenwart fortdauernden Wirkung der Aufklärung und ihres Repräsentanten Kant Rechnung – insbesondere eingedenk der im 20. Jahrhundert problematisierten Komplizenschaft von Vernunft mit einer bis zur Brutalität heteronomen Sozialordnung. Die Tischgesellschaft, welche sich aus Kapital, Militär und Kirche zusammensetzt, bekräftigt hingegen unreflektiert den Weltrang von Kants Philosophie.62 Der Admiral stellt fest, dass Kants „Philosophie die einzige ist/ von welcher die Welt sagen muß/ daß sie sie von Grund auf bewegt hat/ […] Das Erstaunliche ist doch/ die ungeheuerliche Wirkung/ aber natürlich ist diese Wirkung/ überhaupt nicht erstaunlich“ (322). Die Millionärin berichtet der Bühnenfigur Kant: „Das Wichtigste, das gedacht worden ist/ ist in ihrem Kopf gedacht worden/ sagt der Kardinal“ (312). Jedoch dringt aus diesem Kopf nichts mehr bis zu den Anderen durch. Es verbleibt im so titulierten „Speicherkopf“ (319) Friedrich. Gehuldigt wird dem Reservoir eines einstigen Vollzugs; ein Nachvollziehen wird nicht länger intendiert.63 Weder kann der 61 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Bd. 3, Frankfurt am Main 2004, 9f und 21f. 62 Die „Gesellschaft akzeptiert diesen zur Unkenntlichkeit entstellten Kant nur dem Namen nach“ (Willi Huntemann, Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard, Würzburg 1990, 91). 63 Kritik daran ist mit Adornos Verdikt, dass Philosophie wesentlich nicht referierbar sei, da sie andernfalls überflüssig würde (vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 2003, 44), ausgesprochen. Als sollten die Folgen einer konsequenten Missachtung dieser Warnung vor einem bloß wiederkäuenden Umgang mit überkommenen Gedanken illustriert werden, klingt das Lob von Bernhards

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Sebastian Schneck

Protagonist sich verständlich machen, noch käme er gegen das an, was sich im gesellschaftlichen Bewusstsein als Geltung seines Denkens festgeschrieben hat. „Kant / Auf die Wirkung kommt es an/ […] durch die ganze Geschichte durch/ verstehen Sie[?]/ Millionärin/ Ach ist das aufregend/ macht einen kräftigen Schluck/ […] Ich möchte mir gleich alles von ihnen kaufen Herr/ Professor Kant“ (310f). Die gesellschaftliche Umgangsweise mit philosophischen Inhalten bedingt, dass die Frage, ob der Hauptcharakter tatsächlich Kant ist oder nicht, während der Überfahrt überhaupt nicht gestellt wird. Die Tischgesellschaft übt sich im Phrasendreschen, die den entkernten Zitaten Kants an Inhaltsleere in nichts nachstehen. Diese illustre Runde treibt die Unfähigkeit zur Empathie bis zur Unmenschlichkeit voran. Während die Millionärin überraschend viel über die Gefühlswelt des Geistesmenschen zu verkünden hat (303, 307, 312), ist es in konkreten Situationen vorbei mit dem Einfühlungsvermögen, ohne dass ihr dies etwa auffiele, wenn sie freimütig berichtet: „Ich hatte eine Nichte/ die erblindete binnen weniger Tage/ rettungslos/ das arme Kind/ Einmal bin ich mit ihr Himbeeren pflücken gegangen/ im Schwarzwald/ aber das arme Kind fand keine einzige Beere“ (307). Später erzählt die Millionärin: „Mich haben diese Lepragesichter in Schiraz/ doch sehr beeindruckt/ diese beinahe zur Gänze/ abgefressenen Gesichter/ Ich habe nicht gewußt/ daß in Persien die Lepra herrschte/ Einerseits dieser überschwengliche Luxus/ andererseits/ diese fürchterliche Armut“ – darauf der Admiral trocken resümierend: „Ein Land der Gegensätze“ (325f). Während Friedrich ganz in Kants Begriffswelt lebt (281), existiert parallel eine reale Welt, in der Elend und luxuriöse Verschwendung nebeneinander bestehen; die Gegensätze werden nicht mehr versöhnt auf Hoher See. Diese Tischgesellschaft zeigt sich unempfindlich für jede Notwendigkeit der Aufklärung, was sich in blindem Fortschrittsglauben äußert, bar jeder Bereitschaft dazuzulernen. So der Admiral: „Es ist absolut unmöglich/ daß ein solches Schiff untergeht/ Es ist so gebaut/ daß es selbst auf einen Eisberg auffahren kann/ ohne unterzugehn/ Es ist nicht mehr die Zeit der Titanic“ (321). Von ebensolcher Arroganz ist die Katastrophe der Titanic einst mitverschuldet worden. Bernhards anachronistisches Arrangement spiegelt sich auch darin wider, dass empirisch falsifizierte Überzeugungen kritiklos fortdauern.

Kant auf Friedrich, „er könnte alles/ was ich jemals gedacht habe/ auf das vorzüglichste referieren“ (280). Gezeigt wird ein Philosophierender, der in einem Papageien würdige Vertretung fände, als tragische Karikatur einer Degradierung des Kantischen sapere aude! zum bloßen Bonmot.

Thomas Bernhards ‚Immanuel Kant‘

3.

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Fazit

Die Figur des Immanuel Kant überhebt sich bei dem Versuch, die für sie charakteristische Konstellation des Geistestrios gegen die Widrigkeiten der Umstände und der eigenen körperlich-sinnlichen Verfasstheit zu behaupten. Die Komödie verwebt Fäden, die quer durch den frühen Text und durch biographische Zeugnisse des Philosophen Kant gespannt sind. Das Stück rankt sich um ihn wie eine Sage oder eine Anekdotensammlung. Kant wird zitiert – er wird anhand seiner Texte herbeizitiert, als Denker heraufbeschworen und zugleich verleugnet. Schließlich wird der Hauptcharakter sogar zum Tanzen gebracht (339), stellvertretend für das Aufbrechen der versteinerten Verhältnisse.64 Diese werden um ihn herum zum Sprechen gebracht und infolgedessen dazu, sich selbst zu entlarven. Das Drama um Kant la¨ sst sich als eine doppelte Warnung in Bezug auf den Umgang mit philosophischen Texten verstehen. Die „Ideallinie“ der Rezeption vermeidet, das Gelesene allzu ernst zu nehmen, es fu¨ r letztgu¨ ltig, unangefochten zu halten. Und doch nimmt sie es ernst genug und gerade deshalb die Anstrengung, es eigensta¨ndig zu durchdenken, in Kauf. Bernhands Immanuel Kant ist eine Warnung vor unkritischer Gleichgu¨ ltigkeit ebenso wie vor dogmatischer Verbissenheit.

64 Vgl. Hodina, Karnevalisierung des großen Aufklärers, 760.

Über die Autorinnen und Autoren

Andreas Arndt ist Projektleiter des Akademienvorhabens „Friedrich Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe. Er ist Ehrenvorsitzender der Internationalen Hegel-Gesellschaft und u. a. Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Er war Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin. Letzte Buchveröffentlichungen: Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit (Berlin 2019); Freiheit (Köln 2019). Weitere Veröffentlichungen zur Klassischen Deutschen Philosophie, der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Marx und dem Marxismus. Zahlreiche Arbeiten wurden weltweit in 16 Sprachen übersetzt. Johannes Epple lebt und arbeitet in Wien. Sein Studium am Institut für Philosophie der Universität Wien schloss er 2019 mit einer Promotion ab. Auswahl aus den Veröffentlichungen: Transformationen schöpferischer Vernunft. Kant – Hölderlin – Nietzsche (Paderborn, 2021); Kants Skizze einer geistreichen Kunst und die Inversion des Erhabenen (in: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant Kongresses, hg. v. V. L. Waibel et al., Berlin 2019); Erhabene Schönheit. Lesarten von Kants ästhetischen Gefühlen in Hölderlins ‚Hyperion‘ und Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘ (in: Ausgehend von Kant. Wegmarken der Klassischen Deutschen Philosophie, hg. v. Violetta L. Waibel u. a. Würzburg 2016). Weitere Beiträge zu Ästhetik und Ethik bei Kant und in der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Gabriele Geml ist Universitätsassistentin am Institut für Philosophie der Universität Wien und Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision in freier Praxis. Gemeinsam mit Han-Gyeol Lie leitet sie den Verein für Ästhetik und angewandte Kulturtheorie (Verein .akut). Ihr Studium der Philosophie an der Universität Wien schloss sie mit einer Promotion zu Adornos Zeittheorie ab. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Sozialphilosophie und Kritische

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Über die Autorinnen und Autoren

Theorie, Zeittheorie, Ästhetik, Musikphilosophie, Geschichte der Philosophie seit der Aufklärung, Subjektivitätstheorie. Auswahl aus den Veröffentlichungen: ‚Durchaus rhapsodisch‘. Theodor Wiesengrund Adorno: Das kompositorische Werk (Hg. mit H.-G. Lie, Stuttgart 2017); Adornos Kritische Theorie der Zeit (Stuttgart 2020). Ralf Gisinger ist seit 2021 DOC-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Wien. Er promoviert mit einem Forschungsprojekt zur Naturphilosophie und Philosophie der Ökologie bei Deleuze und Guattari. 2022–2023 Research Fellow in Paris und Montreal über ein Marietta-Blau-Forschungsstipendium. Veröffentlichungen: Philosophien der Pluralisierung. Begegnungen des Politischen zwischen Gilles Deleuze und Jean-Luc Nancy (Paderborn 2020). Weitere Publikationen (Auswahl): Figuren des Unpersönlichen bei Deleuze: Ein Leben, Haecceïtas, man, homo tantum… (in: Philosophische Dimensionen des Impersonalen, hg. v. R. Lehmann, Baden-Baden 2021); Making (of) Ecology. Philosophical Perspectives on Tim Ingold (in: One World Anthropology and Beyond. A multidisciplinary engagement with the work of Tim Ingold, hg. v. M. Porr und N. Weidtmann, London 2023). Sarah Caroline Jakobsohn hat Philosophie und Internationale Entwicklung an der Universität Wien studiert. Während ihres Studiums war sie von 2014–2017 am Institut für Philosophie als Studienassistentin und Fachtutorin für Violetta L. Waibel tätig. Derzeit arbeitet sie als Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision in freier Praxis und ist in der Lehre tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Politische Philosophie, Sozialethik und Ästhetik. Anna Kontriner hat Philosophie und Katholische Fachtheologie an der Universität Wien studiert mit Schwerpunkten in der Philosophie des Deutschen Idealismus, der Religionsphilosophie und der historisch-kritischen Bibelwissenschaft. Sie hat am Institut für Philosophie und am Forschungszentrum Religion and Transformation in Contemporary Society, beide Universität Wien, gearbeitet. Im Anschluss war sie als Verwaltungspraktikantin für die Stadt Wien tätig. Derzeit schreibt sie an ihrer Diplomarbeit im Fach alttestamentliche Bibelwissenschaft. Barbara Santini ist Lehrbeauftragte für Philosophie der Religion am Institut für Philosophie, Soziologie, Pädagogik und angewandte Psychologie (FISPPA) der Universität Padua und Lehrbeauftragte für Theoretische Philosophie, Moralphilosophie und Ästhetik am Institut für Religionswissenschaft der Theologischen Fakultät von Triveneto Padua. Forschungsschwerpunkte: Subjektivi-

Über die Autorinnen und Autoren

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tätstheorie, Ästhetik, Ethik und Religion in der Klassischen Deutschen Philosophie und im Rahmen der Debatte über Metaphysik und Moderne. Wichtige Veröffentlichungen: Hölderlin und das „spekulative Pro und Contra“ (in: Ausgehend von Kant. Wegmarken der Klassischen Deutschen Philosophie, hg. v. V. L. Waibel et al., Würzburg 2016); Am Rande des Abgrundes. Kant und Hölderlin über die Erhabenheit Gottes (in: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant Kongresses, hg. v. V. L. Waibel et al., Berlin 2019); Zwischen Anlage und Bestimmung. Hölderlin und die Frage nach dem Wesen des Menschen (in: L’homme et la nature: Politique, critique et esthétique dans le romantisme alleman, hg. v. G. Valpione, Münster 2020). Philipp Schaller studierte in Wien Philosophie und Geschichte und schloss sein Studium im Jahr 2012 unter der Betreuung von Herta Nagl-Docekal mit einer Arbeit zu Hegels Behandlung der Religion ab. An der Universität Wien hatte er von 2013–2017 eine Stelle als Universitätsassistent am Fachbereich für Europäische Philosophie/Continental Philosophy inne. Er arbeitet an einer Dissertationsschrift, die sich im Grenzgebiet von Philosophie und Literatur mit Fraugen der Moral bei Kant, Schiller und Dostojewskij befasst. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an den Schnittstellen von Ethik und Ästhetik und in der Beschäftigung mit klassischen Begriffen der neuzeitlichen Philosophie und Metaphysik von Descartes bis Hegel, insbesondere den Begriffen des Geistes und der Freiheit. Wichtigste Publikationen: Kant, Rilke und die allzeit bereiten Geister (gemeinsam mit Christoph Leschanz, in: Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa, hg. v. V. L. Waibel et al., Wien 2015); Die Freiheit im Spiegel der Natur. Kant, Schiller, Dostojewskij (in: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant Kongresses, hg. v. V. L. Waibel et al., Berlin 2019); Wenn der Geist zum Künstler wird. Politik und Kunst in Hegels konkretem Wissen (in: Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie, hg. v. T. S. Hoffmann und H. Neumann, Berlin 2019). Sebastian Schneck arbeitet als Dramaturg am Altonaer Theater in Hamburg. Sein Studium der Philosophie an der Universität Wien schloss er mit der Masterarbeit Repräsentation und dezentrierte Subjektivität ab. Es folgten Lehraufträge an der Universität Hannover. Zu seinen Veröffentlichungen gehört: Thomas Bernhards Immanuel Kant (in: Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa, hg. v. V. L. Waibel et al., Wien 2015). Christian M. Strasser lebt und arbeitet als Yogalehrer und Musiker in Wien, Studium der Philosophie von 2007–2014. Veröffentlichung: Gedächtnisstützen (Co-Autor; Hoa Luo! Letter P. 2014).

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Über die Autorinnen und Autoren

Gabriele Tomasi ist Professor für Philosophie an der Università di Padova. Er verbrachte längere Forschungsaufenthalte vor allem in Münster und Marburg. Zuvor unterrichtete er als Lehrer in Primär- und Sekundärschulen. Er ist Vizepräsident der „Società Italiana di Studi Kantiani“ und Mitglied des Vorstands der „Società Italiana di Estetica“. Forschungsschwerpunkte: Kant und die Geschichte der Ästhetik in der modernen Philosophie. Auswahl aus den Veröffentlichungen: Identità razionale e moralità. Studio sulla ‚Fondazione della metafisica dei costumi‘ di I. Kant (Trento 1991); Il „salvataggio“ kantiano della bellezza, (Trento 1993); Significare con le forme. Valore simbolico del bello e espressività della pittura in Kant, Il lavoro editoriale, (Ancona 1997); Un bicchiere con Hume e Kant. Divertissement estetico-metafisico (Pisa 2010); Gefühl und Erkenntnis in Kants Konzeption der ästhetischen Erfahrung (in: Metaphysik und Gefühlstheorie. Beiträge zur Interpretation der Philosophie Kants, hg. v. A. Falduto, R. Kolisang und C. Gabriel, Würzburg 2011); Wittgenstein and Hegel on Bodies, Souls, and Works of Art (in: Aesthetics Today. Contemporary Approaches to the Aesthetics of Nature and of Arts, hg. v. A. Weiberg und S. Majetschak, Berlin/Boston 2017). Violetta L. Waibel ist Universitätsprofessorin für Europäische Philosophie an der Universität Wien. Sie war von 2010–2014 Institutsvorständin und von 2018– 2020 Doktoratsstudienprogrammleiterin. Auswahl aus den Veröffentlichungen: Hölderlin und Fichte. 1794–1800 (Paderborn 2000); Es gibt Kunstwerke – wie sind sie möglich? (Hg. mit K. P. Liessmann, München 2014); Spinozas Affektenlehre und ihre Rezeption im Deutschen Idealismus, der Romantik und der Moderne (Hg., Hamburg 2012); Fichte und Sartre über Freiheit. Das Ich und der Andere (Hg., Berlin/New York 2015). Organisatorin des 30. Internationalen HegelKongresses in Wien (Hegels Antwort auf Kant) im April 2014 und des 12. Internationalen Kant-Kongresses (Natur und Freiheit) im September 2015 in Wien; Kuratierung der Ausstellung Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa und Hg. des gleichnamigen Buchs zur Ausstellung während des XII. Internationalen Kant-Kongresses; zugleich englisch: Detours. Approaches to Immanuel Kant in Vienna, in Austria and in Eastern Europe (Göttingen 2015). Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses (5 Bände. Hg. mit M. Ruffing und D. Wagner, unter Mitwirkung von Sophie Gerber, Berlin 2019); „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Hölderlin lesen, Ikkyu¯ So¯jun hören, Musik denken (Göttingen 2020). Mitwirkende an der Tagungs- und Buchreihe System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus (bislang 5 Bände im Verlag Meiner). Gemeinsam mit Martin Vöhler und Jörg Robert Mithg. der Hölderlin-Forschungen (Fink-Verlag). Organisatorin von interdisziplinär besetzten Konzert-Symposien (Reihe: Wort – Ton – Gestalt) u. a. mit dem Klangforum Wien; Wien Modern; Wiener Konzerthaus; ESSL Museum Klosterneuburg: 2011 und 2016 zu Hölderlin/So¯jun/Zender; 2015 zu

Über die Autorinnen und Autoren

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Celan/Birtwistle; 2017 zu Kafka/Kurtág; 2018 zur Stimme mit Salome Kammer; 2020 zu Hölderlin/Hegel/Beethoven. Zahlreiche Beiträge zur theoretischen Philosophie (Bewusstsein, Subjektivität, Intersubjektivität, Raum und Zeit), zum Verhältnis von Kognition und Emotion sowie zur Ästhetik bei Kant, dem Deutschen Idealismus, der Romantik und der Moderne. Alexander Wilfing arbeitet als PostDoc-Forscher am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit Schwerpunkt Musikästhetik, Musikkritik und Geschichte der (deutschsprachigen) Musikwissenschaft. Seit 2018 ist er Herausgeber von Musicologica Austriaca – Journal for Austrian Music Studies. Auswahl aus den Veröffentlichungen: Re-Reading Hanslick’s Aesthetics – Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen (Wien 2019); ‚Absolute‘ Aesthetics in Context: The Sociopolitical Fundamentals of Eduard Hanslick’s Scholarly Activities; Towards a Cultural Turn in Hanslick Scholarship (in: International Review for the Aesthetics and Sociology of Music 50/1–2, 2019); ‚Autonomania‘ und ‚Ideology of Autonomy‘: Die Autonomie-Diskussion in der analytischen Musikästhetik und der New Musicology (in: Von der Autonomie des Klangs zur Heteronomie der Musik. Musikwissenschaftliche Antworten auf Musikphilosophie, hg. v. N. Urbanek und M. Wald-Fuhrmann, Stuttgart 2018); Eduard Hanslick und der Hegelianismus (in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 62/2, 2017); Hanslick in Context: Perspectives on the Aesthetics, Musical Criticism, and Historical Setting of Eduard Hanslick (Hg., Wien 2020); The Aesthetic Legacy of Eduard Hanslick: Close Readings and Critical Perspectives (Mitherausgeber; New York 2023). Marie-élise Zovko ist Senior Researcher am Institut für Philosophie der Universität Zagreb. Sie hatte zahlreiche Stipendien und Fellowships, unter anderem am Center for Hellenic Studies der Universität Harvard, der Johns Hopkins Universität und der Universität Cambridge. Auswahl aus den Veröffentlichungen: Heideggerovo i Plotinovo Poimanje Vremena (Zagreb 1991; Übers. d. Magisterarbeit: Der Zeitbegriff bei Heidegger und Plotin. Freiburg 1985). Natur und Gott: Das wirkungsgeschichtliche Verhältnis Schellings und Baaders (Würzburg 1996); Platonism and Forms of Intelligence (Hg. m. J. Dillon, Berlin 2008); Bildung and paideia. Philosophical Models of Education (Hg., m. J. Dillon, London 2018); Der systematische Zusammenhang der Philosophie in Kants Kritik der Urteilskraft. „Zweite Aufmerksamkeit“ und Analogie der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft (in: DZPh 58, 2010/4); Poetry and Play in Kant’s Critique of Judgment (in: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant Kongresses, hg. v. V. L. Waibel et al., Berlin 2019).

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Über die Autorinnen und Autoren

Jure Zovko, ist Ordinarius am Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Universität Zadar. Promotion 1989 an der Universität Freiburg/Br. Seine Forschungsschwerpunkte sind hermeneutische Philosophie, Philosophie der Antike und der Klassischen deutschen Philosophie. Er ist Mitglied des Institut International de Philosophie (Paris), Mitglied des Steering Committee von FISP und ordentliches Mitglied der L’Académie Internationale de Philosophie des Sciences (Bruxelles), Vizepräsident der Internationalen Hegel-Gesellschaft, Mitherausgeber des Hegel-Jahrbuchs. Auswahl aus den Veröffentlichungen: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik (Stuttgart-Bad Cannstatt 1990); Friedrich Schlegel als Philosoph (Paderborn 2010); Europska esteticˇka basˇtina [European aesthetic heritage] (Zagreb 2014); Hegels Anthropologie [Hegel-Jahrbuch Sonderband] (Hg. m. A. Arndt, Berlin 2017); Die Fundierung der Menschenrechte in der Klassischen Deutschen Philosophie (in: Menschenrechte im Vormärz, hg. v. S. Markewitz und J.-C. Merle, Bielefeld 2019); Znanost i prosudba. Uvod u filozofiju znanosti [Science and Judgment] (Zadar 2019); Verstehen „hat eine doppelte Richtung, nach der Sprache und nach den Gedanken“. Bemerkungen zur Relevanz der Schleiermacherschen Hermeneutik (in: Hegel und Schleiermacher, hg. v. A. Arndt und T. Rosenfeldt, Berlin 2020).

Abbildung

Johann Daniel Falks Kant-Satire 1797, in: Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, Nebst einem saubern Conterfey auf die Kantische Philosophie, hg. v. demselben, Leipzig 1797. https://www.musenalm.de/bilder/alm-2823/alm-2823-72914.jpg (Letzter Zugriff 09. 04. 2021).

Verwendete Siglen und Kurztitel der Werke Immanuel Kants

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten (A) und zweiten (B) OriginalAusgabe hg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, mit einer Einleitung hg. v. Horst Brandt und Heiner Klemme, Hamburg 2003 (Seitenangaben nach AA 5). Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Beilage: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Mit Einleitungen und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, mit Sachanmerkungen von Piero Giordanetti, Hamburg 2009 (Seitenangaben nach AA 5). Alle weiteren Werke: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Hg.: Bd. 1–22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff (AA). Anthropologie Aufklärung Fakultäten Frieden Gemeinspruch Grundlegung Idee Prolegomena Naturgeschichte Religion Schätzung

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 7) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (AA 8) Der Streit der Fakultäten (AA 7) Zum ewigen Frieden (AA 8) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis (AA 8) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 4) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA 8) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (AA 4) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (AA 1) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 6) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen (AA 1)