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German Pages 386 Year 2012
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1202
Verwaltung der Grundsicherung für Arbeitsuchende Aufgabenzuständigkeit und Verwaltungsverantwortung nach dem Grundgesetz und dem SGB II
Von Christoph Worms
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTOPH WORMS
Verwaltung der Grundsicherung für Arbeitsuchende
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1202
Verwaltung der Grundsicherung für Arbeitsuchende Aufgabenzuständigkeit und Verwaltungsverantwortung nach dem Grundgesetz und dem SGB II
Von Christoph Worms
Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld hat diese Arbeit im Jahre 2010 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2010 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Dass diese Arbeit zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden konnte, habe ich zahlreichen Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen zu verdanken: Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Christoph Gusy, der es mir in einer Atmosphäre großer wissenschaftlicher Freiheit und menschlicher Verbundenheit stets ermöglicht hat, eigene Positionen zu finden und zu festigen. Ihm danke ich für sein Vertrauen und seine großartige Förderung. Frau Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein, die das Zweitgutachten erstellte und Hilfreiches anmerkte. Meinen Eltern, die mir zu jeder Zeit bedingungslos zur Seite stehen. Sie gaben mir Wurzeln und Flügel. Meinen Freunden, allen voran Ilkay und Peter, Simon und Keilys, Jana, Nina und Björn, Christian, Michael, Julia und Kai, die mich oft genug über Wasser hielten. Sie sind mir sehr wertvoll. Meinen Kollegen vom Lehrstuhl meines Doktorvaters, insbesondere Anett Röder und Christoph Ebeling, die mir auch in redaktioneller Hinsicht eine große Hilfe waren. Barbara und Henning danke ich für zahlreiche anregende Diskussionen und meiner Schwester Mirjam für ihre verlässliche Hilfsbereitschaft. Wichtige Einblicke in die Praxis der Sozialverwaltung erhielt ich von den Mitarbeiterinnen des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie des Landes Rheinland-Pfalz. Am meisten danke ich Hannah; ihr widme ich diese Arbeit. Bielefeld, im Mai 2011
Christoph Worms
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1 Kompetenz und Aufgabe
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A. Auslegung von Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Auslegung von Kompetenznormen als Methodenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auslegungsprämissen und Argumentationsfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20 20 25 28
B. Entstehung und Einordnung von Verwaltungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff der Verwaltungsaufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entstehung und Zuweisung von Verwaltungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 31
C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Kapitel 2 Die historische Perspektive
34
A. Beginn öffentlicher Armenfürsorge in „Deutschland“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
B. Armenfürsorge im Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
C. Armenfürsorge im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Politische und soziale Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entstehung moderner „Sozialwissenschaften“ und Sozialpolitik 2. Soziale Umbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Öffentliche Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kommunale Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatliche Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 45 45 48 52 52 56 60
D. Sozialpolitik in der Weimarer Republik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gründungshypotheken und Vorbedingungen – Der Weltkrieg . . . . . . . . . . II. Die Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Politische und ökonomische Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozialpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sozialpolitik in der wissenschaftlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . .
61 61 64 64 67 67 69
8
Inhaltsverzeichnis c) Sozialpolitik in Aufbau- und Stabilitätsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sozialpolitik in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72 78
E. Sozialpolitik im NS-Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
F. Sozialpolitik in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I. Politische und ökonomische Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 II. Grundgesetz und Politik – Sozialpolitische Weichenstellungen . . . . . . . . . 82 III. Sozialpolitik in der wissenschaftlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 IV. Sozialpolitische Epochen der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. 1950–1965 Sozialpolitik im Aufbau; das „Wirtschaftswunder“ . . . . . . 89 2. 1966–1989 Ausbau, Höhepunkt und Umkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. 1990–2002 Sozialpolitik im Zeichen von Wiedervereinigung und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Kapitel 3 Hartz IV
105
A. Hartz-Konzept und erster Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 I. Das Grundkonzept der Hartz-Kommission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 II. Der Regierungsentwurf zum SGB II (SGB II-Reg). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 B. Der Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Existenzgrundlagen (EGG) . . 113 C. Der Kompromiss (SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende) . . . . . . . . . . I. Das neue Leitbild – Der aktivierende Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende – Hartz IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhalt der Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Träger der Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Getrennte Kompetenzen/gemeinsame Wahrnehmung – Die Arbeitsgemeinschaft (ARGE). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Option . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Getrennte Aufgabenwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Finanzierungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Evaluationen der Trägermodelle nach § 6c SGB II . . . . . . . . . . . . . . . . .
116 116 118 119 120 121 126 129 130 134
Kapitel 4 Bundesexekutive A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entstehungsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bestimmungen des Art. 87 GG im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Obligatorische Bundesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materieller Bezugsrahmen des Art. 87 Abs. 2 GG – Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137 138 138 143 143 143
Inhaltsverzeichnis
9
aa) Sozialversicherung als Typus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Deckungsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beitragsfinanzierung und das Solidarprinzip. . . . . . . . . . . . bb) Einordnung von Verwaltungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Organisatorischer und funktionaler Gehalt des Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Organisationsverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Funktionale Selbstverwaltung und Organisationsform . . . . . . . 2. Fakultative Bundesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materieller Bezugsrahmen des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG. . . . bb) Begrenzung des materiellen Bezugsrahmens durch Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Organisatorischer und funktionaler Gehalt des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verhältnis zu Art. 87 Abs. 2 GG – materielle und organisatorisch-funktionale Subsidiarität?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materieller Bezugsrahmen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG. . . . (1) Neue Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Dringender Bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Organisatorischer und funktionaler Gehalt des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144 150 153 154
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Exekutivkompetenz aus Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sozialversicherung als materieller Bezugsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitsvermittlung als Aufgabe der Sozialversicherung. . . . . . . . . . aa) Historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konkreter normativer Zuschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Aufgabeneinordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Regelsatzmodalitäten als Aufgabe der Sozialversicherung . . . . . . . aa) Historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konkreter normativer Zuschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Aufgabeneinordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bundesunmittelbare Körperschaft – organisatorische Vorgaben . . . . . . II. Exekutivkompetenz aus Art. 87 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zentrale Aufgaben und Bedürfnis nach Bundesexekutive als materieller Bezugsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kein Verwaltungsunterbau – organisatorische Vorgaben . . . . . . . . . 2. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelleistungen als neue Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193 194 194 194 194 200 202 207 207 210 212 215 216 217
156 156 160 163 164 164 165 168 169 172 176 176 181 191
217 220 221 221
10
Inhaltsverzeichnis b) Dringender Bedarf für eine Bundesexekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 c) Bundeseigene Behörden – organisatorische Vorgaben . . . . . . . . . . . . 225 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Kapitel 5 Kommunale Selbstverwaltung
227
A. Kompetenzverteilung zwischen Staat und Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die kommunale Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . 1. Die Garantie gemeindlicher Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft als materieller Bezugsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gewährleistungsgehalt gemeindlicher Selbstverwaltung . . . . . . . . . . aa) Subjektive Rechtsstellungsgarantie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Institutionelle Rechtssubjektsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Objektive Rechtsinstitutionsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allzuständigkeit der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Eigenverantwortlichkeit in der Wahrnehmung . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstverwaltungsgarantie der Gemeindeverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subjektive Rechtsstellungsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Institutionelle Rechtssubjektsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Objektive Rechtsinstitutionsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Keine Allzuständigkeit der Gemeindeverbände. . . . . . . . . . . . . . bb) Eigenverantwortlichkeit der Gemeindeverbände im gesetzlichen Aufgabenbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Interkommunale Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 bei freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben . . . . . . (2) Spezialgesetzliche Zuweisung örtlicher Angelegenheiten II. Finanzielle Folgen der Aufgabenwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen der Finanzbeziehungen des Bundes zu Ländern und Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Finanzbeziehung von Ländern und Kommunen – vor allem die Konnexitätsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufgabendurchgriff des Bundes bis 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227 229
B. Kommunale Aufgabenträgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aufgabenentzug gegenüber den Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Örtliche Angelegenheiten als materieller Bezugsrahmen . . . . . . . . . . . . a) Arbeitsvermittlung als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft b) Regelleistungen als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft . . . 2. Verstoß gegen die gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie . . . . . . . . . .
280 280 280 280 283 284
231 234 239 239 240 241 243 248 253 254 256 256 256 257 259 259 266 269 269 272 274
Inhaltsverzeichnis a) Eingriff in den Kern- oder Randbereich kommunaler Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtfertigung des Entzugs der Regelleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unmittelbarer Bundesdurchgriff auf die Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verstoß gegen die kommunale Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 GG 1. Eingriff in die gemeindliche Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kommunale Grundsicherungsaufgaben als solche der örtlichen Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
285 286 291 291 295 296 297 299
Kapitel 6 Mischverwaltung
300
A. Über das Verhältnis von Aufgabenbestand und -verantwortung . . . . . . . . . . . . 300 B. Das grds. Verbot der Mischverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Begriff Mischverwaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mischverwaltung als strukturelles Problem unklarer Verantwortung . . . . 1. Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kommunale Selbstverwaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Annex: Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zulässigkeit von Mischverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ziele von Verwaltungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mischverwaltungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303 303 307 307 309 310 316 318 319 321 322 325 327
C. Mischverwaltung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende . . . . . . . . . . . . . . I. Verwaltungsform ARGEn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die ARGEn als Mischverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eng umgrenzte Verwaltungsmaterie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besondere sachliche Begründung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
328 328 330 331 333 335
Kapitel 7 Grundgesetzänderung, Art. 91e GG
336
A. Aufgabenzuständigkeit des Bundes für die Regelleistungen. . . . . . . . . . . . . . . . 337 B. Aufgabenzuweisung zur Bundesagentur für Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 C. Legalisierung der Mischverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
12
Inhaltsverzeichnis
D. Unzulässiger Aufgabendurchgriff des Bundes, Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG . . . I. Im Allgemeinen: Das Aufgabenübertragungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Im Besonderen: Das Übertragungsverbot im Rahmen des Art. 91e GG 1. Aufgabendurchgriff im Rahmen gemeinsamer Wahrnehmung . . . . . . . 2. Aufgabendurchgriff im Rahmen der ausgeweiteten Option . . . . . . . . . .
342 343 349 349 350
E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
Abkürzungsverzeichnis ABlEU AGSGB ARGE BayVerfGHE n. F. BeckOK BMAS BR-Drs. bspw. BT-Drs. CDU CSU DDP DIW DNVP DVP FDP GG-E ggf. grds. GSP HChE IAJ IAQ IAW i. d. S. i. E. ifo-Institut ISR KPD KWI m. E. Mio. Mrd.
Amtsblatt der Europäischen Union Ausführungsgesetz zum Sozialgesetzbuch Arbeitsgemeinschaft Entscheidungssammlung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs in neuer Fassung Beck’scher Onlinekommentar Bundesministerium für Arbeit und Soziales Drucksachen des Deutschen Bundesrates beispielsweise Drucksachen des Deutschen Bundestages Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich Soziale Union Deutschlands Deutsche Demokratische Partei Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volkspartei Freie Demokratische Partei Deutschlands Entwurfsfassung des Grundgesetzes gegebenenfalls grundsätzlich Gesundheits- und Sozialpolitik (Zeitschrift) Entwurf des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe Institut Arbeit und Qualifikation der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen Institut Arbeit und Wirtschaft in diesem Sinne im Ergebnis Institut für Wirtschaftsforschung e. V. Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin Kommunistische Partei Deutschlands Kommunalwissenschaftliches Institut meines Erachtens Millionen Milliarden
14 (M)SPD NSDAP Parl. PlPr RV SA SGB II SGB II-2010 SGB II-Reg SPD TNS Emnid (U)SPD UWG ZEW
Abkürzungsverzeichnis Mehrheitliche Sozialdemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Das Parlament (Zeitschrift) Plenarprotokoll Reichsverfassung Sturmabteilung der NSDAP Sozialgesetzbuch II in der ursprünglichen Fassung aus dem Jahr 2005 Sozialgesetzbuch II in der Fassung bis zur Reform 2010 Regierungsentwurf zum SGB II aus dem Jahre 2003 Sozialdemokratische Partei Deutschlands Taylor Nelson Sofres Emnid Medien- und Sozialforschung GmbH Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Unterstützungswohnsitzgesetz Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH
Hinsichtlich der übrigen Abkürzungen wird verwiesen auf Kirchner, Hildebert (Hrsg.), Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 6. Auflage 2008.
Einführung Die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Form der Verwaltung ist häufig (auch) eine politische.1 Und sie ist nicht selten umstrittener als die materielle Ausgestaltung der zu verwaltenden Angelegenheit. Am 20. Dezember 2007 hat das BVerfG die damalige Exekutive der Grundsicherung für Arbeitsuchende für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber Zeit gegeben, bis zum 31. Dezember 2010 diese verfassungskonform neu zu gestalten.2 Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist 2005 im Rahmen der Hartz Reformen als IV. Gesetz entstanden und führte die ehemalige Arbeitslosenhilfe und Teile der Sozialhilfe zusammen.3 Zur Realisierung dieses Projekts benötigte die damalige Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Zustimmung des von CDU/CSU und FDP dominierten Bundesrates. Dabei war das Vorhaben in der Sache politisch nicht einmal besonders umstritten, selbst viele konkrete inhaltliche Fragen nicht. Wenngleich die Bundesregierung und CDU/CSU jeweils eigene Reformkonzepte vorlegten, konnte im Vermittlungsausschuss insoweit recht zügig ein Konsens hergestellt werden. Anders stellte sich dies bzgl. der Exekutive dar. Die Bundesregierung wollte die alleinige Trägerschaft der Bundesagentur für Arbeit und damit die Zuständigkeit des Bundes. CDU/CSU wiederum traten für eine solche der Kommunen (Kreise und kreisfreie Städte) ein.4 Gleichzeitig waren sich beide Seiten darüber einig, dass die Nutzung synergetischer Effekte einer Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gerade im Bereich der Verwaltung zentrales Reformanliegen sein musste (One-Stop-Agency). Am Ende des Vermittlungsverfahrens stand ein in sich hoch komplexes Verwaltungskonstrukt. Kernpunkte waren die geteilte Aufgabenträgerschaft von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen und deren organisatorische Zusammenführung in einer gemeinsamen Einrichtung, der Arbeitsgemeinschaft 1 Vgl. Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 10 Rn. 10, 44; Schuppert, ebd., § 16 Rn. 1 ff. 2 BVerfGE 119, 331 ff. 3 Art. 61 des Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BGBl I 2003, S. 2954, 2999. 4 Genauer zu den Konzepten in Kapitel 3.
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Einführung
(ARGE).5 Diese grundlegende Reform der bundesrepublikanischen Arbeitsund Sozialverwaltung führte zwangsläufig zu zahlreichen Veränderungen in den Aufgabenbeständen und Verantwortungsbereichen der Verwaltungsebenen, besonders derer von Bund und Kommunen, die hier tradierte Kompetenzen für sich in Anspruch nehmen können.6 So hat die eine Verwaltungsebene zu Lasten7 der anderen Aufgaben und Verantwortlichkeiten hinzugewonnen und umgekehrt. Beide sahen sich in den gemeinsamen Einrichtungen wiederum mit den Ingerenzrechten des anderen konfrontiert und wurden gesetzlich zur Kooperation verpflichtet. Diese Vorgänge warfen grundsätzliche, in der Staatsrechtswissenschaft bekannte Fragen auf, stellten diese aber unter gewandelten Rahmenbedingungen neu. So diejenigen nach der Abgrenzung von Kompetenzbereichen des Staates und der Kommunen, der Begründung bundeseigener Exekutive gerade über fakultative Kompetenzgrundlagen und der kooperativen u. U. verschränkenden Begegnung der Verwaltungsebenen auf der Organisationsebene. Diese Fragen sind teils relativ jung wie die Mischverwaltungsdebatte, die vor allem in den 1960er Jahren diskutiert und in den 1970er Jahren durch prominente Arbeiten entscheidende Impulse bekam.8 Teils sind sie relativ alt wie die Abgrenzung von kommunaler Selbstverwaltung und staatlicher Exekutivbefugnisse.9 Deren Diskurs wird aber wiederum durch neue Fragen – bspw. nach der faktischen Aushöhlung von Selbstverwaltungsrechten durch normative Überformung (formelle Selbstverwaltung) – ergänzt.10 Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Arbeit der verfassungsrechtlichen Analyse der SGB II-Verwaltung in ihrer Gestalt bis 2010, um daraus entscheidende Rückschlüsse für die Analyse ihrer Reform zu gewinnen. 5
Daneben wurde ein Optionsmodell für eine alleinige kommunale Trägerschaft etabliert und praktisch entstanden auch geteilte Organisationsformen dort, wo sich BA und Kommunen nicht auf die Gründung einer ARGE einigen konnten. Zu alledem Kapitel 3. 6 Ausführlich dazu Kapitel 2. 7 Wobei die Perspektive hier durchaus entscheidend sein kann, ob etwas zu Lasten oder zu Gunsten abgegeben bzw. übernommen wird. Gewinnt man eine Aufgabe, wird man regelmäßig auch mit den Ausgaben belastet, dazu aber später ausführlich. 8 1974: Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat; 1976: Loeser, Theorie und Praxis der Mischverwaltung. 9 Vgl. Heffer, Die Deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, S. 84 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte, Band 1, S. 172 ff.; Schwab, Selbstverwaltungsidee, S. 11 f. 10 Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 62 ff.; Henneke, LKV 1994, 330 ff.
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Insbesondere im Anschluss an das Urteil des BVerfG zu den ARGEn bereitete die Literatur zahlreich die aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen für die Grundsicherung auf.11 Dabei konnten zwei Bereiche logisch unterschieden werden: Aufgabenträgerschaft (ob) und Verwaltungsorganisation (wie).12 Das BVerfG befasste sich in seinem Urteil mit letztgenanntem Aspekt, obwohl die ihm zugrundeliegende Beschwerde von elf Landkreisen das Ob jedenfalls gleichrangig problematisierte.13 Die Landkreise sahen sich durch die bundesunmittelbare Aufgabenzuweisung in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung unzulässig beschränkt. Außerdem wandten sie sich gegen die verordnete gemeinsame Aufgabenwahrnehmung in den ARGEn. Aus prozessualen Gründen war es den Landkreisen – anders als den Gemeinden14 – versperrt, sich gegen den unmittelbaren Bundesdurchgriff zu wehren.15 Daher hat sich das BVerfG allein mit der gemeinsamen Einrichtung befasst und diese für eine unzulässige Form der Mischverwaltung erklärt. Fragen der Aufgabenzuständigkeit von Bund und Kommunen wurden vom BVerfG nicht diskutiert, sie wurden ausdrücklich offen gelassen.16 Wichtige Impulse und zum Teil neue, jedenfalls neu gewichtete Argumente hat das BVerfG wiederum in die Debatte um organisatorische Kooperation und Verschränkung von Verwaltungsebenen (Mischverwaltung) eingebracht, die es sowohl hinsichtlich der konkreten Reform wie auch allgemein für bestehende und künftig etablierte Verwaltungsstrukturen zugrunde zu le11 Knigge, ZFSH/SGB 2009, 526 ff.; Meyer, NVwZ 2008, 275 ff.; Schnapp, Jura 2008, 241 ff.; Schulz, DÖV 2008, 1028 ff.; A. von Mutius/F. von Mutius, KommJur 2008, 201 ff.; Wieland, Landkreis 2008, 184 ff.; Wapler, ZfF 2008, 169 ff.; Korioth, DVBl 2008, 812 ff.; Peters, NDV 2008, 53 ff.; Wahrendorf/Karmanski, NZS 2008, 281 ff.; Huber, DÖV 2008, 844 ff.; Wenner, SozSich 2008, 34 ff.; Trapp, DÖV 2008, 277 ff.; Loos, NVwZ 2008, 514 ff.; Henneke, Landkreis 2008, 196 ff.; ders., Landkreis 2008, 163 ff.; ders., Landkreis 2008, 167 ff.; Lange, GdS 2008, 16 ff.; Winkler, VerwArch 2008, 509 ff.; Schwendy, TuP 2008, Heft 3, 204 ff.; Klaus, jurisPR-SozR 5/2008, Anm. 2; Gusy/Worms, RuP 2008, 146 ff.; Schoch, DVBl 2008, 937 ff.; Mempel, ArchsozArb 2008, Nr. 1, 114 ff.; Kluth, ZG 2008, 292 ff.; monografische Arbeiten vor dem Urteil des BVerfG Mempel, Hartz IV-Organisation; Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger; Lühmann, Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe; aus dem Schrifttum ansonsten Henneke, DÖV 2006, 726 ff.; Kersten, ZfPR 2005, 130 ff.; Bauer, KWI-Arbeitshefte, 2005, 28 ff.; Albers, Loccumer Protokolle 2004, 95 ff. 12 Was wiederum zu unterscheiden ist von Aufgabenzuständigkeit und Verwaltungsverantwortung. Letztere reicht sowohl in die Bereiche des Ob wie auch des Wie entscheidend hinein. Dazu ausführlich in den folgenden Kapiteln. 13 Vgl. Henneke, Landkreis 2008, 167 ff. 14 Föderalismusreform 2006, Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006, BGBl I, S. 2034 ff. 15 Vgl. BVerfGE 119, 331 (354 ff.). 16 Vgl. BVerfGE 119, 331 (371).
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gen gilt. Die verfassungsrechtlichen Implikationen für die Reform der SGB II-Verwaltung waren allerdings nicht allein organisatorischer Art. Die Frage der Aufgabenzuständigkeit musste notwendig in die Betrachtung einbezogen werden. Denn bereits grds. gilt, dass beide Bereiche zwar logisch, aber nicht stets rechtlich voneinander trennbar sind. Sie beziehen ihre Antworten wesentlich aus denselben verfassungsrechtlichen Normen und unterliegen grds. den gleichen systematischen Determinanten. Verfassungsrechtliche Kompetenznormen im Bereich der Exekutive enthalten regelmäßig explizit Vorgaben in beide Richtungen, sie verteilen Aufgaben und spezifizieren die sich grds. anschließenden Verantwortlichkeiten.17 Teilweise können Zuständigkeitsbereiche auch erst verfassungssystematisch abgegrenzt werden.18 Derjenigen Verwaltungsebene, in deren Bestand die Aufgabe fällt, stehen Wahrnehmung bzw. Organisation usw., mithin die Verantwortung zwar grds. vollständig zu, sie wird aber bereits entweder durch die jeweilige verfassungsrechtliche Kompetenznorm selbst oder jedenfalls durch allgemeine verfassungssystematische Erwägungen bzgl. einzelner Verantwortlichkeiten modifiziert. Nur wer eine Aufgabe überhaupt zulässig trägt, hat zwar das Recht und ebenso die Pflicht diese eigenverantwortlich wahrzunehmen, aber eben nur im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die Auslegung von Kompetenznormen, mithin die Abgrenzung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, rückt in den Fokus einer verfassungsrechtlichen Beurteilung von Verwaltung in allgemeiner und der Reform in konkreter Hinsicht. Ihr kommt insofern eine Art Klammerfunktion zu (Kapitel 1). Die historische Perspektive spielt neben systematischen Erwägungen bei Kompetenznormen eine vergleichsweise entscheidende Rolle. Die komplexen, teils expliziten teils impliziten Aussagegehalte der jeweiligen Vorschriften lassen sich vielfach überhaupt nur historisch nachvollziehen. Kontinuität und Wandel bzgl. der Kompetenzen der Verwaltungsebenen hinsichtlich bestimmter Sachbereiche nachzuzeichnen, verspricht insofern wichtige Erkenntnisse. Die historische Perspektive der Grundsicherung für Arbeitsuchende, der Verteilung der Verwaltungsaufgaben und Verantwortlichkeiten (Kapitel 2) wird einschließlich der Hartz-Gesetzgebung von 2005 (Kapitel 3) daher eigens dargestellt. Die konkreten verfassungsrechtlichen Kompetenznormen von Bund und Kommunen, welche für die Exekutive der Grundsicherung in Betracht kom17
Vgl. dazu Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 164 ff.; Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 10 Rn. 10 ff., 44 ff.; Jestaedt, ebd., § 14 Rn. 43. 18 Ausführlich dazu Kapitel 1.
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men, sind daran anschließend zu untersuchen. Sie sind zunächst für die Verwaltung in der Zeit von 2005–2010 fruchtbar zu machen (Kapitel 4 und 5). Dabei folgt die Erläuterung den im Rahmen der allgemeinen Analyse von Auslegung und Struktur verfassungsrechtlicher Kompetenznormen erarbeiteten Merkmalen, Prämissen und Vorgaben. Im Anschluss daran sind die allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an Verwaltungsorganisation für den spezifischen Bereich der Mischverwaltung zu diskutieren, um die SGB II-Exekutive bis zur Reform insoweit einzuordnen (Kapitel 6). Für die Ausgestaltung von Verwaltung ergeben sich daraus nicht nur konkrete Erkenntnisse für die damalige SGB II-Exekutive, sondern ebenso solche allgemeine und für die reformierte Verwaltung der Grundsicherung wiederum konkretisierungsfähige. Von Beginn des Jahres 2008 an waren zahlreiche Vorschläge für eine Verwaltungsreform aufgekommen, die bereits in ihren Ansätzen teilweise grundlegend unterschiedliche Wege zu beschreiten suchten.19 Neben einfachgesetzlichen Reformvorschlägen, die mal mehr mal weniger weitreichend waren, haben sich die Bundesregierung (seit 2009 CDU/CSU und FDP) und SPD und Bündnis 90/Die Grünen letztlich auf eine Verfassungsänderung verständigt (Einführung des Art. 91e GG),20 begleitet durch eine Reform des SGB II.21 Diese gilt es schließlich mit den zuvor erzielten Erkenntnissen abzugleichen (Kapitel 7).
19 Dazu zahlreiche Vorschläge von BMAS und Ländern zu sog. kooperativen Jobcentern, Zentren für Arbeit (ZAG), dazu eingehend Dyllick/Lörincz/Neubauer, ZFSH/SGB 2009, 204 ff.; Gusy/Worms, RuP 2008, 146 ff.; http://www.bmas.de/ portal/41722/2010__01__26__jobcenter.html (Januar 2010). 20 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Juli 2010, BGBl I 2010, S. 944; BT-Drs. 17/1939 und 17/1554. 21 BT-Drs. 17/1940 und 17/1555.
Kapitel 1
Kompetenz und Aufgabe Die Frage, ob und inwieweit einer Verwaltungsebene Aufgaben bzw. Verantwortlichkeiten zustehen, beantwortet die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung. Unter dem Grundgesetz stehen Bund, Ländern (Art. 83 ff. GG) und Kommunen (Art. 28 Abs. 2 GG) jeweils eigene Aufgaben zu.1 Um einer dieser Ebenen eine Aufgabe zuweisen zu können, muss diese in ihren Kompetenzbereich einzuordnen sein. Eine solche Einordnung setzt voraus, dass die Kompetenzbereiche der Ebenen hinreichend klar bestimmbar und unterscheidbar sind. Dies ist wesentlich durch Auslegung zu gewährleisten. Verfassungsrechtliche Kompetenznormen – das gilt für Gesetzes- ebenso wie für Verwaltungskompetenzen – sind dabei im Rahmen der allgemeinen Methoden auszulegen;2 gleichzeitig sind sie aber eigenartig. Sie unterscheiden sich durchaus wesentlich von anderen Verfassungsnormen.
A. Auslegung von Kompetenznormen I. Auslegung von Kompetenznormen als Methodenfrage So wurzeln verfassungsrechtliche Kompetenznormen häufig in hohem Maße in den konkreten Vorstellungen und Gegebenheiten ihrer Entstehungszeit.3 Für Verwaltungskompetenzen gilt dies in besonderer Weise und in zweifacher Hinsicht. Dort wo Verwaltungsstrukturen neu entstehen, werden sie auch nach politischen Aspekten ausgerichtet. Verwaltung wird regel1 Insofern kann von drei Verwaltungsebenen gesprochen werden, so auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, Art. 28 Rn. 95 mit Verweis auf Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 53, 59, 93. 2 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 381 f. 3 BVerfGE 26, 338 (396); Dittmann, Bundesverwaltung, S. 15; ablehnend Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, S. 146 f., der die Aussagekraft der historischen Perspektive für gering hält. Das mag sich u. a. dadurch erklären, dass er weder die kommunale Selbstverwaltung noch den Art. 87 GG näher betrachtet, bei denen die Bedeutung jener Perspektive – aus unterschiedlichen Gründen – besonders deutlich wird, vgl. dazu später Kapitel 3 C. II.
A. Auslegung von Kompetenznormen
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mäßig so konzipiert, dass sie möglichst effektiv4 und praktikabel die politischen bzw. normativen Ziele umsetzen kann.5 So entwickeln sich gerade in organisatorischer Hinsicht im Laufe der Zeit teils hoch komplexe Verwaltungsstrukturen, die sich in ihren Details nicht immer präzise „auf den Begriff“ bringen lassen. Teilweise entstehen solche Strukturen auch praktisch ohne rechtlichen Rahmen und werden erst im Nachhinein in einen solchen eingeordnet oder sollen in einen solchen eingeordnet werden.6 Die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung stellt dies vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Wenn bspw. der Abgeordnete Dr. Hoch im Parlamentarischen Rat anmerkte: „Wir können nicht alles, was in der Praxis anerkannt ist, durch eine Formulierung in das Grundgesetz aufnehmen. Darüber sind wir uns einig“7, bedeutet das letztlich nichts anderes, als den Verweis auf die historische Perspektive als (mit)entscheidenden teleologischen Referenzrahmen für die Auslegung. Der historische Wille zur Fortführung vorgefundener Verwaltungsformen und -kompetenzen, ebenso wie derjenige zum Bruch mit diesen (objektivierter Wille des historischen Gesetzgebers) und zur Übernahme oder Abkehr von Motiven der Entstehungszeit, ist nicht immer expliziert und kann häufig nur in Anbetracht der historischen Umstände verstanden werden. Dafür ist zunächst notwendig festzustellen, welche Kompetenzbestände vorgefunden wurden.8 Eine teils erkennbare, eigentümliche Schwäche des Wortlauts von Kompetenzvorschriften kann dabei partiell kompensiert werden,9 indem „dem historisch gewachsenen Kompetenzbestand, d.h. den Auslegungsmerkmalen des ‚Traditionellen‘ und ‚Herkömmlichen‘ eine wesentliche Bedeutung“10 beigemessen wird. Die im Rahmen von Kompetenznor4 Effektivität, das sei an dieser Stelle bereits klargestellt, wird hier nicht in einem „absoluten“ bspw. ökonomischen Sinne verstanden, sondern relativ in Beziehung zur konkreten Norm und ihrer jeweiligen Zielrichtung. Dabei ist durchaus klar, dass die konkrete Feststellung jener Zielrichtung äußerst schwierig sein kann. 5 Vgl. Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 10 Rn. 10, 44; Schuppert, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 16 Rn. 1 ff. 6 Beispiele dazu folgen in Kapitel 2. 7 Zuständigkeitsausschuss, 16. Sitzung vom 18. November 1948, in: Wernicke/ Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Band 3, S. 639. 8 Daher sogleich in Kapitel 2. 9 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 378; Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 40 beide m. w. N.; vgl. BVerfGE 97, 198 (219); 42, 20 (29); 48, 367 (373); 67, 299 (320). 10 BVerfGE 97, 198 (219); mit Verweis auf BVerfGE 3, 407 (415); 7, 29 (44); 12, 205 (226); 33, 52 (61); 33, 125 (152 f.); 41, 205 (220); 42, 20 (29); 48, 367 (373); 67, 299 (320).
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Kap. 1: Kompetenz und Aufgabe
men damit vergleichsweise hervorgehobene Bedeutung der historischen Perspektive relativiert ihre ansonsten – zu Gunsten einer tendenziell dynamischen Verfassungsinterpretation – eher zurückgedrängte Stellung.11 Die Identifikation solch herkömmlicher bzw. traditioneller oder gewachsener Kompetenzbereiche vollzieht sich auf einer eher abstrakten Ebene, das gilt zumal je weiter die Betrachtung zurück reicht. Denn für die Untersuchung muss ein „Begriff“ gefunden werden, der den Kompetenzbereich umschreibt. Dieser ist, angesichts des stetigen Wandels konkreter staatlicher Aufgabenbestände, deren Bezeichnung und Verständnis,12 notwendig abstrakt zu fassen, um ihn überhaupt für eine historische Betrachtung operationalisierbar zu machen.13 Eine Konkretisierung des historischen Befundes erfolgt dann ganz wesentlich anhand des spezifischen Verfassungsgefüges, mithin systematisch.14 Das gilt zum einen für das unmittelbare normative Umfeld. Die unterschiedlichen Gehalte der jeweiligen Kompetenznormen bauen teils aufeinander auf, sind häufig zumindest nur im Zusammenhang verständlich. Zum anderen stehen verschiedene Kompetenzvorschriften der selben oder unterschiedlicher Verwaltungsebenen untereinander in einem Spannungsverhältnis. Geht man davon aus, dass ein und dieselbe Aufgabe grds. nur einer Verwaltungsebene der Sache nach zugeteilt werden kann,15 erfordert dies jedenfalls ein 11 Instruktiv und mit weiteren Nachweisen Sachs, Jura 1984, 519 ff.; s. außerdem Worms, RuP 2009, 138 ff.; Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 38 ff.; Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, S. 145 ff. 12 Später wird dies bereits für die Begriffe Armenrecht, Fürsorge, Sozialhilfe und Grundsicherung deutlich, die in der Sache die gleichen Aufgabenbereiche meinen, sie aber anders politisch konnotieren und entsprechend formen. Bleibt der Träger der Fürsorge auch der Träger der Sozialhilfe nach der Reform, kann hier sicher nicht von einer Veränderung der Kompetenzordnung gesprochen werden. Beides unterfällt dem Titel Fürsorge, weil es nicht um den Begriff, sondern um deren strukturelle Merkmale geht. 13 Vgl. dazu Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 40, der von einer „entstehungsgeschichtlichen Rückversicherung der Interpretationshypothese“ spricht und so den Schwierigkeiten einer abstrakten Betrachtung Rechung trägt. Hierbei ist sicher nicht das konkrete Verständnis des jeweiligen Kompetenztitels unter dem GG streng maßgeblich; es ist eher der Ausgangspunkt der Betrachtung. Denn auch dessen Auslegung unterliegt der Anpassung und Veränderung. Daher kann es bei der historischen Betrachtung nur um eine strukturelle Vergleichbarkeit gehen. 14 Das wird bereits in der Formulierung des Art. 83 GG deutlich, der den Ländern den Vollzug von Aufgaben zuweist, wenn nicht das GG etwas anderes bestimmt oder zulässt und insoweit eine sachbereichsorientierte anderweitige Zuweisung vornimmt. Dazu Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 6 f. (Januar 2009).
A. Auslegung von Kompetenznormen
23
hinreichendes Maß an Umgrenzung ihrer Zuständigkeitsbereiche;16 sie lassen sich häufig sogar erst in Abgrenzung zueinander bestimmen. Unter dem Grundgesetz fordert das Bundesstaatsprinzip von Kompetenzbestimmungen bereits ein solch hinreichendes Maß an Klarheit und Bestimmtheit.17 Kompetenzen des Bundes müssen von denjenigen der Länder abgrenzbar sein, damit die Zuordnung einer Aufgabe in den jeweiligen Kompetenzbereich gelingen kann.18 Der Verwaltungsaufgabe folgt dann grds. die Verwaltungsverantwortung. Das bedeutet, dass für den Bund oder die Länder aus einer kompetenzgerecht zugewiesenen Aufgabe (sie erfüllt insoweit die Tatbestandsmerkmale der Kompetenzvorschrift) das Recht, aber auch die Pflicht zu einer eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung folgt.19 Die grundsätzliche Trennung der Exekutivstrukturen von Bund und Ländern dient auch der Sicherstellung einer effektiven Kontrolle und Transparenz staatlichen Handelns.20 Der Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung weist so dogmatische Bezüge auch zum Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG auf. Für jene Klarheit und Transparenz streitet auch das Demokratieprinzip.21 Der Bürger kann seine demokratischen Partizipationsrechte nur dann effek15 Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 37 ff. (Januar 2009); Jestaedt, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 14 Rn. 42 ff. 16 Jestaedt, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 14 Rn. 42 ff. 17 Wilke, DÖV 1975, 509 ff.; Schmidt-Aßmann, VVDStRL 1976, 221 (227 f.); Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 4, § 98 Rn. 178 ff. 18 Vgl. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 254 ff.; Jestaedt, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 14 Rn. 42 ff. 19 BVerfGE 119, 331 (366); Grawert, Verwaltungsabkommen, S. 195; ausführlich später in Kapitel 6. 20 Als Elemente materieller Rechtsstaatlichkeit beschreibt sie Herzog, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 20 Abs. 1 Rn. 50 ff. (November 2006). Als Unterfütterung gilt dies auch für den Typenzwang und die Begrenzung der Ingerenzrechte. Die verfassungsrechtlich ausdrücklich normierten Exekutivformen mit ihren Ingerenzrechten sind auch deshalb abschließend, weil daraus ein Gewinn an Verlässlichkeit und Klarheit zu erwarten ist, im Vergleich zu einer willkürlichen Festlegung jener Strukturen. Vgl. außerdem Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 254 ff.; Wilke, DÖV 1975, 509 ff.; Schmidt-Aßmann, VVDStRL 1976, 221 (227 f.); Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 4, § 98 Rn. 178 ff. 21 Grundlegend Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24; Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 20 Abs. 1 (November 2006); ausführlich später in Kapitel 6.
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Kap. 1: Kompetenz und Aufgabe
tiv wahrnehmen, wenn er mit hinreichender Klarheit weiß, worüber er personell und inhaltlich abstimmen soll.22 Transparenz auch hinsichtlich staatlicher Kompetenzverteilung ist damit Voraussetzung für Partizipation.23 Sie ist gleichzeitig aus dem Blickwinkel demokratischer Legitimation erheblich. Der Bürger bewertet im Rahmen seiner demokratischen Rechte Erfolg und Misserfolg der politischen Mandatsträger. Dies impliziert aber gleichsam, dass der Bürger davon ausgehen können muss, dass staatliches Handeln durch die demokratisch legitimierten Institutionen auch tatsächlich gesteuert wird, Kompetenzen insofern ein gewisses Maß an demokratischer Konsequenz aufweisen, dass die grundsätzliche Identität von Aufgabenzuständigkeit und Verwaltungsverantwortung gewahrt bleibt, etwaige Verschiebungen – soweit sie überhaupt zulässig sind – jedenfalls offengelegt und damit nachvollziehbar werden.24 Ähnlich sind die Art. 30, 83 GG zu verstehen. Sie formulieren den verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass (auch) Bundesgesetze von den Ländern, als eigene Aufgaben (Art. 84 GG) oder als fremde Aufgaben im Auftrag (Art. 85 GG), erfüllt werden. Örtliche Angelegenheiten haben die Länder, dem Vorrang dezentraler Aufgabenwahrnehmung25 entsprechend, wiederum den Kommunen zu überantworten, haben aber gerade auch das Recht dazu, diese selbst zuzuweisen. Die Kommunen unterliegen dem Zugriff der Länder, nicht des Bundes. Das bedeutet gleichsam auch, dass der Bundesgesetzgeber bei der Zuweisung einer Aufgabe auf die Optionen verwiesen ist, welche ihm Art. 83 ff. GG bieten. Kann der Bund keine eigene Verwaltungskompetenz begründen, bleibt es bei der Grundregel des Art. 83 GG und die Länder können oder müssen dann die Kommunen in die Verwaltung einbeziehen.26 Dieser Ablauf wurde vom verfassungsändernden Gesetzgeber zuletzt durch die Etablierung des Aufgabengabenübertragungsverbots (Art. 87 Abs. 1 Satz 7, 85 Abs. 1 Satz 2 GG) eindrucksvoll bestätigt.27 22 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 7 ff. 23 Vgl. BVerfGE 47, 253 (275); 52, 95 (130); 77, 2 (40); 83, 60 (72); 93, 37 (66); 107, 59 (87); 119, 331 (366); s. außerdem Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 269 ff. 24 „Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann.“ BVerfGE 119, 331 (366). 25 Vgl. BVerfGE 79, 127 (135 ff.); Magen, JuS 2006, 404 ff. 26 Deutlich erläutert BVerfGE 119, 331 (371), dass die Alternativen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende Art. 87 GG auf der einen und Art. 83 GG auf der anderen Seite waren. 27 Dazu später genauer Kapitel 7 D. I.
A. Auslegung von Kompetenznormen
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II. Auslegungsprämissen und Argumentationsfiguren Vor dem Hintergrund eines in methodischer Hinsicht vor allem historisch-systematischen Vorgehens sind in Literatur und Rechtsprechung im Laufe der Zeit zahlreiche Auslegungsprämissen und Argumentationsfiguren entwickelt worden, welche der Sache nach als anerkannt gelten können. Häufig findet sich in diesem Zusammenhang das sog. Gebot strikter Kompetenzauslegung.28 Dogmatischer Ausgangspunkt ist das Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Hieraus folgt zunächst allgemein eine Trennung von Kompetenzen, wie diejenige im Bereich der Gesetzgebung oder der Exekutive. Jene Trennung, namentlich im Bereich der Exekutive, kann als historisch tradiert bezeichnet werden.29 Das Grundgesetz formt das Prinzip des Bundesstaates in unterschiedlichen Zusammenhängen näher aus. Wie bspw. die Art. 70 ff. GG im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen, schaffen die Art. 83 ff. GG im Bereich der Verwaltungskompetenzen ein differenziertes System von Kompetenzen. Das Bundesstaatsprinzip bildet dabei die Klammer um die jeweiligen bereichsspezifischen Ausformungen und determiniert in verschiedener Hinsicht die Auslegung der einzelnen Vorschriften. Hierauf gründet sich der viel zitierte Topos strikter Auslegung von Kompetenznormen.30 Für den Bereich der Exekutivkompetenzen folgen daraus bspw. die Auslegungsmaximen des Typenzwangs und der Abgeschlossenheit der Ingerenzrechte. Sie stehen nicht zur Disposition von Bund und Ländern.31 Art. 30, 83 GG tragen unter anderem dazu bei, dass es keine Lücken im System der Verwaltungszuständigkeiten gibt, indem eine Verwaltungsebene jedenfalls die „subsidiäre“ Zuständigkeit besitzt und es grds. zu einer exklusiven Zuordnung in den Kompetenzbereich einer Ebene kommt. Dass die Länder grds. und die Kommunen bei örtlichen Angelegenheiten die Verwaltungszuständigkeit inne haben, kann darauf zurückgeführt werden, dass Verwaltung regelmäßig die Transformation von Recht auf den Einzelfall bedeu28
BVerfGE 32, 145 (156); 39, 96 (120); 41, 291 (311); Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 48 ff.; Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 20 Rn. 162 (März 2006). 29 Dazu ausführlich Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 83 Rn. 1 ff., der auch auf die Unterschiede hinweist. Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 27 ff. (Dezember 1992). 30 Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 20 Rn. 162 ff. (März 2006). 31 BVerfGE 4, 115 (139); 12, 205 (221); 32, 145 (156); 63, 1 (39); vgl. Kenntner, Justiziabler Föderalismus, S. 18 f., auch Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 35 ff. beide m. w. N.
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Kap. 1: Kompetenz und Aufgabe
tet und eine dezentrale Verwaltung (durch Länder/Kommunen) hier sachnäher ist.32 Sie verfügen über einen entsprechenden Apparat und kennen die örtlichen Strukturen und Erfordernisse regelmäßig besser.33 Dies ist aber eben nur grds. zutreffend und dort, wo es sachnäher scheint, dass der Bund Verwaltungsaufgaben (selbst) erfüllt, weist die Verfassung der Bundesebene jene Aufgaben (Art. 87 ff. GG) zu und erkennt damit einen aufgabenspezifischen Vorrang der Bundesexekutive an.34 Sachnäher kann bspw. eine Bundesexekutive dort sein, wo die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse auch ein stärkeres Maß an bundeseinheitlicher Verwaltungssteuerung erfordert. Augenfällig ist das insbesondere im Bereich obligatorischer Bundesverwaltung, in dem die Vermutung sachnäherer Bundesverwaltung geradezu angelegt ist, während sie im Bereich der fakultativen Bundesverwaltung für wahrscheinlich, jedenfalls aber für möglich gehalten wird.35 Insoweit kann von einem „Gebot sachgemäßer und funktionsgerechter Auslegung der Kompetenzvorschriften“36 gesprochen werden. In diesem Sinne ist dann auch der Vorrang dezentraler Leistungserbringung als Grundsatzentscheidung der Verfassung und in bewusster Fortführung tradierter Strukturen zu verstehen. Einer sachgemäßen und funktionsgerechten Auslegung folgt auch die Auslegungsmaxime der Effektivität bzw. Effizienz. Dabei richtet sich der Maßstab vor allem an den Funktionserfordernissen der jeweiligen Aufgabe aus, können dabei z. T. auch ökonomischen oder sonstigen Ursprungs sein (New Public Management37). Das hängt davon ab, inwieweit sich der konkrete rechtliche Zusammenhang hierfür offen zeigt.38 Die Verfassung kann selbstverständlich auch eine bspw. unter ökonomischen Gesichtspunkten wenig effiziente oder gar völlig ineffiziente Verwaltung fordern oder zulassen, wenn die öffentliche Aufgabe eine abweichende, zumal teleologische Fokussierung hat. Politische oder ökonomische Erwägungen bzgl. der Ausgestaltung haben sich an dem verfassungsrechtlich Möglichen zu orientieren, nicht umgekehrt.39 32 Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 5 (Januar 2009). 33 Vgl. hierzu auch die Erwägungen zum EGG, BT-Drs. 15/1523, S. 72. 34 Kenntner, Justiziabler Föderalismus, S. 19. Daraus folgen systematische bzw. dogmatische Konsequenzen, dazu später Kapitel 4 B. II. 2. 35 Rinck, Zur Abgrenzung und Auslegung der Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern, in: Ritterspach (Hrsg.), FS Müller, S. 289 (300); Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 391. 36 BVerfGE 36, 193 (209). 37 Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 1 Rn. 50. 38 Genauer später Kapitel 6 B. II.
A. Auslegung von Kompetenznormen
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Verwaltungskompetenzen werden jenseits der Generalklausel häufig – zumal für den Bund – anhand von Sachmaterien zugeordnet, was sie mit den Gesetzgebungskompetenzen stark verbindet.40 Werden Verwaltungsaufgaben vom Gesetzgeber einer Ebene zugeteilt, müssen diese der Sachmaterie der Verwaltungskompetenz entsprechend zuordenbar sein. Das gelingt – je nach (gesetzlichem) Aufgabenzuschnitt – mal mehr mal weniger eindeutig. Was eine Zuordnung regelmäßig erleichtern kann, sind zwei Dinge: Eine Aufgabe erfüllt deshalb die sachlichen Vorgaben einer Kompetenznorm besonders deutlich, weil sie überhaupt nur dieser in Abgrenzung zu Kompetenznormen anderer Verwaltungsebenen definitorisch zugeordnet werden kann oder bzw. und die Aufgabe ist in historischer Perspektive stets der einen oder anderen Verwaltungsebene im Rahmen der einen oder anderen Sachmaterie zugeordnet gewesen. Diese skizzierten Faktoren aus einer systematischen und historischen Betrachtung kumulieren im Rahmen einzelner Kompetenzvorschriften zu einer Typisierung in Form einer Kern- und Randbereichsdogmatik.41 Je klarer eine Aufgabe in der einen wie in der anderen methodischen Hinsicht dem Kernbereich zuzuordnen ist, desto weniger zusätzlicher Begründungsaufwand ist zu betreiben, um eine kompetenzgerechte Zuweisung anzunehmen. Hierbei ist allerdings zu beachten: Auch wenn gerade die Bundesverwaltungskompetenzen den Gesetzgebungskompetenzen häufig dem Titel und auch dem Verständnis nach entsprechen, kann für eine Aufgabe die Annahme einer bestimmten Gesetzgebungskompetenz nicht gleichsam automatisch zur Annahme der entsprechenden Verwaltungskompetenz für alle Aufgaben führen, die sich aus dem Gesetz ergeben. Hier kann es zu einem Auseinanderfallen kommen. Die Begründung der Verwaltungskompetenz erfolgt eigenständig. So ist insbesondere im Randbereich einer Kompetenznorm durchaus denkbar, dass Aufgaben über eine sog. „Annexkompetenz“ aus verwaltungsspezifischen Gründen einer Ebene zugewiesen werden. Ebenso ist es möglich, dass nur ein untergeordneter Teil der Aufgaben eines Gesetzes einer im Verhältnis zur Gesetzgebungskompetenz anderen Verwaltungskompetenz unterfällt und entsprechend zugeordnet werden kann. Nicht einzusehen ist, es dem Gesetzgeber von vornherein zu verwehren, ein Gesetz, welches mehrere Verwaltungsaufgaben bündelt und auf der 39 Besonders deutlich zeigt sich das in hier bedeutsamen Zusammenhang der Mischverwaltung, deren politische Beurteilung in der BRD historisch different war. Dazu später in Kapitel 6. 40 Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 5 (Januar 2009). 41 Für die kommunale Selbstverwaltung bspw. Hellermann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 28 Rn. 43 ff. (November 2009). Für die Bundesverwaltung bspw. Ibler, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 86 Rn. 103 ff. (Mai 2008).
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Kap. 1: Kompetenz und Aufgabe
Grundlage eines Gesetzgebungstitels erlassen wurde und werden durfte, in exekutiver Hinsicht partiell aufzutrennen und dabei unterschiedliche Kompetenzgrundlagen in Anspruch zu nehmen.42 Die organisatorischen und funktionalen Elemente von Verwaltungskompetenznormen bestimmen schließlich die ebeneninterne Aufgabenverteilung. Wenn eine Aufgabe sachlich einer Verwaltungsebene zugewiesen ist, steht ihr grds. das Recht eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung zu.43 Insofern folgt der Aufgabe die Verwaltungsverantwortung in all ihren Facetten.44 Verfassungsrechtliche Kompetenznormen selbst oder das Kompetenzgefüge ansonsten modifizieren diese Verantwortlichkeiten allerdings vielfach. Die Organisationsverantwortlichkeit wird durch entsprechende Anforderungen wie bspw. die Vorgabe einer bestimmten Verwaltungsform ebenso möglicherweise modifiziert bzw. eingeschränkt wie die Erfüllungsverantwortlichkeit bspw. dadurch, dass eine andere Verwaltungsebene die Aufgabe mit- oder partiell sogar allein erfüllt.45
III. Zusammenfassung All diese Aspekte, die Auslegung von Kompetenznormen ebenso wie die auf diesen aufbauenden Auslegungsfiguren, sind ihrerseits nicht statisch. Sie unterliegen einer gewissen – wenngleich im Verhältnis zum einfachen Recht eher reduzierten – Dynamik.46 Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt fordern auch den Strukturbestimmungen eine solche unmittelbar ab, damit eine Verfassung ihre Steuerungsfähigkeit bewahrt. Für Strukturbestimmungen einer Verfassung gilt dies verstärkt, weil diese ihrer Eigenart nach dem Grundsätzlichen verhaftet sind. Sie sind damit der Auslegung bzw. Spezifizierung in besonderer Weise zugänglich.47 Aufgrund der skizzierten systematischen 42
Vgl. dazu die Schwerpunktrechtsprechung des BVerfG, für welche dies notwendige Voraussetzung für diese Annahme ist, dazu BVerfGE 106, 61 (114 f.). Denn hier wird besonders klar: Wenn auch „andersartige“ Aufgaben über eine Kompetenz mitabgehandelt werden können, blieben diese „andersartig“ und tauchen in anderem (exekutiven) Zusammenhang schließlich möglicherweise ihrem eigentlichen Charakter entsprechend kompetentiell wieder auf. 43 BVerfGE 119, 331 (366); Grawert, Verwaltungsabkommen, S. 195. 44 Vgl. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 170 ff. 45 Das ist bereits in Art. 85 GG angelegt, wenn der Bund u. U. konkrete Entscheidungen selbst trifft. Besonders deutlich aber wird dies sicher im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsaufgaben der Art. 91a ff. GG und im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung bei den Aufgaben im übertragenen Wirkungskreis. 46 Dazu Worms, RuP 2009, 138 ff. m. w. N. 47 Vgl. Schuppert, AöR 1995, 76 f.
B. Entstehung und Einordnung von Verwaltungsaufgaben
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Determinierung der Kompetenznormen gerade durch die Strukturbestimmungen wirken diese auch hinsichtlich ihrer Dynamik auf jene zurück und eine gewandelte Auffassung hier kann zu Anpassungen im Verständnis dort führen. Es zeigt sich also, dass die Kompetenznormen zum einen dem Traditionellen und Herkömmlichen verhaftet sind, mithin einer gewissen Statik unterliegen. Im konkreten systematischen Gefüge einer Verfassung dynamisiert sich ihr Verständnis dann aber wiederum vor allem durch die sie determinierenden Strukturbestimmungen.
B. Entstehung und Einordnung von Verwaltungsaufgaben Um Verwaltungsaufgaben dem Kompetenzbereich einer Ebene zuordnen zu können, ist es erforderlich, kurz darzustellen, was unter Verwaltungsaufgaben zu verstehen ist, wie diese entstehen und schließlich zugewiesen werden.
I. Begriff der Verwaltungsaufgabe Als konsensfähig kann allgemein angenommen werden, dass Aufgaben einen prospektiven Charakter haben und dass eine gewisse Handlungstendenz in dem Begriff angelegt ist.48 Darüber hinausgehende, allgemeingültige positive Definitionsversuche sind schwer zu entwickeln. Zu zahlreich und vielfältig wird der Begriff verwendet. Allein im Grundgesetz taucht der Begriff „Aufgabe“ in verschiedener Ausführung an achtundvierzig Stellen in acht48
Baer, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 11 Rn. 11 ff.; allgemein zu dem Begriff der Aufgabe ausführlich Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 23 ff. m. w. N.; er versucht allgemeine Merkmale der Aufgabe zu entwickeln und findet die Zielgerichtetheit, die Sollens-Anordnung und die Trägerzuordnung. Ob sich diese Merkmale auf alle (seien es auch nur die rechtlich formulierten) Aufgaben beziehen, ist allerdings fraglich. So kann bei Verwaltungsaufgaben (dazu später) – zumindest teilweise – bereits die Zielgerichtetheit angezweifelt werden. Diese ergibt sich oft aus dem materiellen Zusammenhang, mithin aus dem materiellen Gesetz. Die reine Verwaltungsaufgabe hat jenseits des bloßen Erfüllungsbedarfs zunächst keinen allgemein normativen Gehalt. So sind die von Falk angeführten Beispiele auch stets solche materieller Aufgaben (Artenschutz, Umweltschutz, Sicherheit und Ordnung usw., S. 24 f.). Dieser schlichte Vollzugscharakter wird von Falk (ohne Konsequenz) auch gesehen, ders., Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 45 f.
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Kap. 1: Kompetenz und Aufgabe
undzwanzig Artikeln auf.49 Regelmäßig wird der Aufgabenbegriff dort jeweils näher spezifiziert. Üblicherweise durch die Hinzunahme eines Bezugsobjekts (bspw. „Aufgabe des Bundes“)50 oder eines Adjektivs (bspw. „polizeilicher Aufgaben“)51. Zwar herrscht hier rege Vielfalt, auffällig jedoch ist, dass sich bestimmte Gattungsbegriffe häufen. So werden Staatsaufgaben bzw. staatliche Aufgaben gleich mehrfach erwähnt.52 Der Grundbegriff Aufgabe taucht außerdem in den einzelnen Abschnitten des Grundgesetzes unterschiedlich häufig auf. So finden sich sechsundzwanzig der achtundvierzig Erwähnungen in den Abschnitten II., VIII. und VIIIa.53 Siebzehn der achtundzwanzig einschlägigen Artikel sind hier anzutreffen. Die genannten Abschnitte befassen sich im Wesentlichen mit der Abgrenzung von Bundesund Landeskompetenzen, -rechten und -befugnissen. Während es dabei im II. Abschnitt des Grundgesetzes im Kern um staatsorganisatorische Fragen geht,54 beschäftigen sich die Abschnitte VIII. und VIIIa. im Wesentlichen mit Verwaltungskompetenzen, also mit Bund und Ländern als staatliche Verwaltungsebenen. Daran könnte sich regelmäßig auch der verwendete Aufgabenbegriff orientieren. Es ließen sich also dann aus dem systematischen Umfeld Rückschlüsse insoweit ziehen, als zwischen Staatsaufgaben und Verwaltungsaufgaben gattungsbegrifflich unterschieden werden könnte. Nach dem Bundesverfassungsgericht handelt es sich bei Staatsaufgaben um solche hoheitlichen Aufgaben, die der Staat selbst wahrnimmt und im Rahmen und nach Maßgabe der Verfassung wahrnehmen darf.55 Verwaltungsaufgaben können wiederum Teile dieser Aufgaben sein, wenn es um jene im Bereich der Staatsverwaltung geht.56 Verwaltungsaufgaben können jedoch auch außerhalb der Staatsverwaltung im Bereich anderweitiger öffentlicher Verwaltung liegen, so namentlich bei der kommunalen Selbstverwaltung.57 Staatsund Verwaltungsaufgaben sind also nicht deckungsgleich und finden sich 49
Art. 12a Abs. 3 Satz 1; 22 Abs. 1 Satz 1; 24 Abs. 1a; 28 Abs. 2 Satz 2; 29 Abs. 1 Satz 1; 30, 33 Abs. 4; 35 Abs. 2 Satz 1; 84 Abs. 1 Satz 7; 85 Abs. 1 Satz 2; 87a Abs. 3 Satz 1; 87b Abs. 1 Satz 1, 2; 87d Abs. 2; 87e Abs. 1 Satz 2, Abs. 2; 87f Abs. 2 Satz 2; 88 Satz 2; 89 Abs. 2 Satz 1; 91a Abs. 1, 2; 104a Abs. 1; 115g; 120 Abs. 1 Satz 3; 134 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3; 135 Abs. 2; 135a Abs. 1 Nr. 3; 143a Abs. 3 Satz 1, 2; 143c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 GG; 137 WRV. 50 Art. 22 GG. 51 Art. 12a GG. 52 Art. 24 Abs. 1a GG; Art. 89 GG; vgl. Art. 22 GG; 30 GG; 91a Abs. 1 GG; Art. 134 GG. 53 Der Abschnitt VIIIa. trägt den Begriff Aufgabe bereits im Titel: „Gemeinschaftsaufgaben“. 54 Der II. Abschnitt ist überschrieben mit „Der Bund und die Länder“. 55 Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 3, § 57 Rn. 137. 56 BVerfGE 12, 205 (246); 31, 314 (329). 57 Kirchhof, in: Isensee/ders. (Hrsg.), HStR, Band 3, § 59 Rn. 23.
B. Entstehung und Einordnung von Verwaltungsaufgaben
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unter dem Oberbegriff der öffentlichen, in Abgrenzung zu gesellschaftlichen, Aufgaben wieder.58 Staatsverwaltung setzt demzufolge eine Staatsaufgabe voraus. Wenn das BVerfG formuliert: „Wenn sich der Staat mit dieser Aufgabe in irgendeiner Form befaßt, wird sie zu einer staatlichen Aufgabe“59, gilt dies freilich nur, wenn sich der Staat innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen bewegt. Er ist demnach nicht in der Lage, verfassungsrechtlich nichtstaatliche Aufgaben gleichsam beliebig umzuwidmen, es bedarf dazu einer Kompetenzgrundlage. Zu Verwaltungsaufgaben werden öffentliche Aufgaben, indem sie der Verwaltung als öffentlicher Gewalt neben Rechtsprechung und Gesetzgebung funktional zuzuweisen sind.60 Innerhalb einer öffentlichen Aufgabe können Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen Verwaltungsaufgaben wahrnehmen.61 Es zeigt sich, dass Verwaltungsaufgaben nicht nur einen rein operativen Charakter haben, sondern – allein schon wegen ihres Bezugs zu öffentlichen Aufgaben – auch einen materiellen bzw. inhaltlichen Bezug aufweisen. Dieser Bezug korrespondiert mit dem Begriff der Verantwortung. Die sachlich zuständige Ebene ist grds. auch die verantwortliche. Das gilt in rechtstaatlicher, demokratischer usw. Hinsicht. Im Rahmen dieser Verantwortung kann die zuständige Ebene einzelne Bereiche abgeben bzw. delegieren, wenn und soweit dies verfassungsrechtlich zulässig ist.
II. Entstehung und Zuweisung von Verwaltungsaufgaben Verwaltungsaufgaben entstehen – jedenfalls im Zusammenhang mit gesetzesakzessorischer Verwaltung – durch Gesetz. Weist das Gesetz einen vollzugserforderlichen Teil auf, erfolgt die Zuweisung dieser Verwaltungsaufgabe(n) durch ein aufgabenübertragendes Gesetz oder, im Falle eines Bundesgesetzes möglicherweise über Art. 83 GG verfassungsunmittelbar. Weist der Gesetzgeber die Aufgabe dem Bund zu und erfüllt sie (Aufgabe und Zuweisung) die Voraussetzungen einer entsprechenden Kompetenznorm (vor allem Art. 86 ff. GG), ist dies zur Kompetenzbegründung des Bundes notwendig aber auch hinreichend. Daraus leitet sich auch der 58
Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 3, § 57 Rn. 136. BVerfGE 12, 205 (243). 60 Baer, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 11 Rn. 13 f. 61 s. für den Bereich der Inneren Sicherheit bspw. Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG für den Bund. Grds. erfüllen die Länder über Art. 30, 83 ff. auch die Aufgaben, welche durch Bundesgesetz begründet werden. 59
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Kap. 1: Kompetenz und Aufgabe
Grundsatz ab, dass die äußerste Grenze möglicher Verwaltungskompetenzen des Bundes seine Gesetzgebungskompetenzen sind.62 Bundesverwaltungsaufgaben ergeben sich demzufolge aus materiellen Bundesgesetzen und werden wiederum durch ein Gesetz auf den Bund übertragen (aufgabenübertragendes Gesetz). Die Kommunen erzielen ihre Verwaltungsaufgaben entweder durch spezifische Zuweisung im Rahmen von Landesgesetzen, teilweise wurden ihnen auch unmittelbar durch Bundesgesetz Aufgaben zugewiesen.63 Außerdem konstruieren die Kommunen im Rahmen ihrer Allzuständigkeit nach Art. 28 Abs. 2 GG eigene Aufgaben. Eine Aufgabenübertragung hat zwei mögliche Dimensionen: Sie verteilt die Aufgabe in den Zuständigkeitsbereich einer Verwaltungsebene und weist dabei die Aufgabe entweder vollständig in der Sache (Aufgabenübertragung i. e. S.) oder nur einzelne Verantwortlichkeiten im Rahmen dieser Aufgabe (Aufgabenübertragung i. w. S.) bestimmten Trägern oder Institutionen innerhalb dieser Ebene zu. Verfassungsunmittelbar wird diese Unterscheidung im Rahmen der Art. 84 f. GG deutlich. Dort tragen über Art. 84 GG die Länder die Aufgabe „als eigene“, d.h. in der Sache sind es Verwaltungsaufgaben der Länder. Im Rahmen von Art. 85 GG handelt es sich für diese um „sachfremde“ Aufgaben.64 Bei letztgenannten Aufgaben kommt den Ländern die Wahrnehmungskompetenz zu, sie nehmen die Aufgaben also insofern „als eigene Aufgaben“65 wahr, dass es sich um Aufgaben der Landesverwaltung handelt. Der Sache nach (materiell) handelt es sich aber um Bundesaufgaben, weil der Bund, ähnlich der Bundesverwaltung, inhaltlich maßgeblich die Ausführung der Aufgaben beeinflussen kann und damit – vor allem in demokratischer Hinsicht – verantwortlich ist bzw. bleibt.66 Der Struktur nach vergleichbar und sogar noch deutlicher findet sich die Unterscheidung im Rahmen kommunaler Aufgabenwahrnehmung im eigenen und übertragenen Wirkungskreis.67 62 Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 58 (Januar 2009). 63 Vgl. nunmehr aber Art. 87 Abs. 1 Satz 7; 85 Abs. 1 Satz 2 GG. Später zu dieser Frage ausführlich. 64 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 85 Rn. 16 f. (Dezember 1992); Dittmann, Bundesverwaltung, S. 84 f. 65 So BVerfGE 63, 1 (42). 66 Vgl. dazu Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 85 Rn. 16 f. (Dezember 1992); Dittmann, Bundesverwaltung, S. 84 f. 67 Dazu ausführlich in Kapitel 5.
C. Zusammenfassung
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Erfüllt die übertragene Aufgabe die sachlichen Anforderungen, die eine Kompetenznorm aufstellt, kann die Aufgabe entsprechend zugewiesen werden bzw. ist eine erfolgte Zuweisung zulässig. Abgesehen von der Frage, ob sich an ihrer Erfüllung, Finanzierung, Aufsicht usw. andere beteiligen können, insoweit also bestimmte Verantwortlichkeiten modifiziert werden, kann ein und dieselbe Aufgabe der Sache nach nur einer Verwaltungsebene zugewiesen werden. Der Adressat der Zuweisung ist dabei für den Gesetzgeber nicht stets zwingend vorgegeben. Sogar typischerweise nicht eindeutig zuordnen lassen sich Aufgaben, die einen ebenenübergreifenden Charakter haben (Querschnittsaufgaben), weil sie Bezugspunkte zu mehren Sachbereichen aufweisen und so weder historisch noch nach dem konkreten Zuschnitt eindeutig zugeordnet waren bzw. werden können. Hierzu zählen vor allem Aufgaben, die politisch häufig als gesamt-gesellschaftliche oder gesamt-staatliche Aufgaben bezeichnet werden. Für solche Aufgaben erhöht sich dementsprechend der gesetzgeberische Spielraum bereits bei der Zuweisung zu einer Verwaltungsebene. Denn die entsprechende Aufgabe kann nicht als traditionell, herkömmlich oder gewachsen der einen oder anderen Ebene zugehörig dargestellt werden und auch dem konkreten normativen Zuschnitt nach erfüllt sie die sachlichen Anforderungen mehrerer Kompetenznormen.
C. Zusammenfassung Kompetenznormen verteilen Aufgaben und regeln Verantwortlichkeiten. Verwaltungsaufgaben sind vom Gesetzgeber konzipiert und in einer insoweit zulässigen Weise auf eine Verwaltungsebene zu verteilen. Hinsichtlich der grds. folgenden (umfassenden) Verantwortung der zuständigen Ebene für die Ausgestaltung der Verwaltung, modifizieren Kompetenznorm und Kompetenzgefüge die konkrete administrative Struktur der Aufgabenwahrnehmung.
Kapitel 2
Die historische Perspektive Die Verwaltungskompetenzen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) in historischer Perspektive zu untersuchen, bedeutet die Entstehung und Entwicklung der öffentlichen Verwaltung im Bereich der Armut(-sicherung) auf der einen Seite und diejenige im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite zu betrachten. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist das entscheidende Referenzgebiet öffentlicher Armenfürsorge. Sie erfasst gegenwärtig mit Abstand die meisten Personen, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind und hat insofern durch ihre Entstehung die Sozialhilfe (vormals Armenfürsorge) auch begrifflich (Hartz IV) weitgehend abgelöst. Sie unterscheidet sich von dieser gerade dadurch, dass sie allein die erwerbsfähigen Personen umfasst und die Arbeitsvermittlung neben die Armutssicherung als zweite, mindestens gleichbedeutende Säule (fördern und fordern) platziert. Insofern bilden beide gemeinsam auch den materiellen Rahmen der zu untersuchenden historischen Entwicklung im Bereich der Exekutive. Zu jeder Zeit gab es Menschen, die als arm angesehen wurden. Armut kann zwar begrifflich durch vielerlei zum Ausdruck kommen. In dem hier zu erörternden Zusammenhang ist zunächst die Armut im Sinne einer materiellen Bedürftigkeit interessant. Dies entspricht auch der heutigen sozialrechtlichen Logik. Zwar wird man nicht sagen können, dass in der kapitalistischen Gesellschaft materielle Armut mit kultureller oder sozialer Armut gleichsam notwendig zusammenfällt. Durch die weitgehende Zahlung von Regelsätzen in Sozialhilfe und Grundsicherung kommt aber auch gesetzlich zum Ausdruck, dass durch die Gewährleistung oder Anhebung des finanziellen Status zumindest die Voraussetzung geschaffen werden kann, auch den sozialen Status durch Teilhabe zu verbessern oder zu erhalten.1 Wer nämlich als arm in einer Gesellschaft beschrieben wird, ist dies immer im Verhältnis zu anderen. Er kann in einem anderen Kontext, einer anderen Gemeinschaft oder Gesellschaft als reich, zumindest aber als nicht arm gelten. Armut ist also ein gesellschaftlicher Status, der sich erst im Vergleich zu anderen ausdrückt. Bei der Ermittlung solch relativer Armut2 bilden konsequenterweise heute materielle Standards die wesent1
Vgl. eingehend bspw. Böhnke, Soziale Ausgrenzung, m. w. N.
Kap. 2: Die historische Perspektive
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liche zugrundeliegende Referenzgröße, anhand derer in negativer Abweichung zur „Norm“3 Personen als arm bezeichnet werden können. Der so gegenwärtig oder auch rückblickend festgestellte gesellschaftliche Status einer Person als arm, enthält durch diese komparative Methodik bereits normative Elemente. Bzgl. der hinter der festgestellten Armut liegenden Ursachen wiederum ist diese Festlegung deskriptiv; sie unterscheidet erst auf der Folgeseite normativ, nämlich durch die Anerkennung der Armut als zu lindernde Bedürftigkeit (positive Anerkennung) oder als legitimierender Faktor für Ausgrenzung und Restriktion (negative Anerkennung) durch die betroffene Gemeinschaft. Hierdurch erhält das Stigma der Armut seinen normativen Gehalt hinsichtlich ihrer Ursachen. Jene Anerkennung basiert auf unterschiedlichen Annahmen, Prognosen und Wertungen, die vor allem den jeweiligen historischen Kontext einer Gesellschaft mit seinen spezifischen Strukturen und Herausforderungen widerspiegelt und insoweit eine politische ist. Dabei kommt es vielfach auch zu Überschneidungen beider Formen der Anerkennung. Gleichwohl hilft jene Kategorisierung, Armut und ihr jeweils spezifisches Risiko bzw. ihre Ursache im historischen Kontext zu konturieren und gesellschaftliche und staatliche Wertungen einzufangen. Von diesen Wertungen hängt vielfach nämlich auch die Ausgestaltung der Verwaltung ab, sie orientiert sich nicht zuletzt an politischen Leitbildern. In diesem Sinne gab es zu allen Zeiten anerkannte Armut. Auch positive Anerkennung ist keine „Errungenschaft“ der Neuzeit.4 Die privaten Gemeinschaften (bspw. Familie, Sippe) haben sich um Schwache und Kranke stets gekümmert. Lediglich die Anfänge einer öffentlich organisierten Hilfeleistung liegen später. Im Athen des 6. Jahrhunderts vor Christi Geburt sorgte sich die Polis um die Versorgung von Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen.5 Im 4. Jahrhundert vor Christi Geburt, unmittelbar nach den Perserkriegen, wurde jene Versorgung zu einer recht allgemeinen Armenfürsorge fortentwickelt.6 Inhalt dieser Fürsorge war dabei neben finanzieller 2 Der absolute Armutsbegriff orientiert sich hingegen an allgemein gültigen Standards und lässt kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Spezifika unbeachtet. Üblicherweise gilt als absolut arm, wer das zur physischen Existenz Notwendige nicht zur Verfügung hat. Dazu wird häufig die Armuts-Schwelle dort angesetzt, wo eine Person weniger als einen Dollar täglich zur Verfügung hat. Dazu Tomandl/Schrammel (Hrsg.), Sicherung von Grundbedürfnissen, m. w. N. 3 In der kapitalistischen Marktwirtschaft wird regelmäßig ein Grundeinkommen bestimmt, anhand dessen dann die unterhalb der Schwelle liegenden Personen als „arm“ oder als von Armut bedroht beschrieben werden. Einer solchen Bestimmung liegen dabei stets (auch) normative Aspekte zugrunde. Vgl. Tomandl/Schrammel (Hrsg.), Sicherung von Grundbedürfnissen. 4 Vgl. den historischen Überblick bei Frerich/Frey, Handbuch Sozialpolitik, Band 1. 5 Haubenwallner, Behindertenrecht 1993, 104 ff.; Schoch, Sozialhilfe, S. 7.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
Hilfe bereits Arbeitsvermittlung im weitesten Sinne und kostenfreie Krankenbehandlung. Im Römischen Reich wurde nach dem 3. Punischen Krieg (149–146 vor Christi Geburt) eine öffentliche Armenfürsorge errichtet, die sich insbesondere auf die Verteilung von Nahrung konzentrierte.7 Die Versorgung der Kriegsbetroffenen oblag im Römischen Reich traditionell den Feldherren, für welche die Soldaten in den Krieg zogen. Später (um 240 nach Christi Geburt) übernahm das Reich diese Aufgabe. Bei der Betrachtung der frühen Anfänge öffentlich organisierter Armenfürsorge fallen insbesondere drei Aspekte auf: Sie korrelierten stets mit einem spezifischen Armutsrisiko: dem Krieg. Von Polis oder Reich wurde Armut positiv erst anerkannt, als sie massiv und spürbar auftrat und alte Sicherungen versagten. Wo private, insbesondere familiäre Strukturen durch den Krieg zerbrachen, konnte von ihnen Fürsorge nicht mehr geleistet werden. Also trat die nächst höhere, kraft ihrer Organisation dazu fähige Gemeinschaft ein.
A. Beginn öffentlicher Armenfürsorge in „Deutschland“ Für Deutschland müssen die Entwicklungslinien entsprechend dort angefangen nachgezeichnet zu werden, wo sich ähnliche Strukturen zu bilden begannen, also die ursprüngliche Gemeinschaft – Sippe, Stamm oder Familie – abgelöst und durch mehr oder weniger ausgeprägte öffentliche Strukturen ersetzt wurde. In Spätantike und frühem Mittelalter sorgten in „Deutschland“ Private und vor allem die Kirche für die Armen. Im Lehnswesen bspw. übernahm der Lehnsherr die soziale Sicherung seiner Lehnsleute, die patriarchalisch organisierten Großfamilien diejenige ihrer Mitglieder. Wo entsprechende private Sicherungssysteme nicht bestanden, traten Kirche und Klöster ein. Die Absicherung eigener Angehöriger bildete sich daneben auch in Zünften und Gilden heraus.8 Die Wendemarke hin zu einer allgemeinen öffentlichen Armenfürsorge findet sich in Deutschland dort, wo die bürgerliche Gesellschaft begann: in den urbanen Zentren des späten Mittelalters (13.–16. Jahrhundert). Die Sicherungsformen der Vergangenheit taugten in den Städten nicht vollends, bildeten sich doch neue gesellschaftliche Strukturen, Berufsfelder und Schichten heraus. Während die antike Polis noch wesentlich landwirtschaftlich geprägt war, fanden sich in der spätmittelalterlichen Stadt vor allem Handwerker und Kaufleute. Gleichzei6 7 8
Schoch, Sozialhilfe, S. 7. Haubenwallner, Behindertenrecht 1993, 104 (108 f.). Jecht, Studien zur sozialen Struktur der mittelalterlichen Städte, S. 217 ff.
A. Beginn öffentlicher Armenfürsorge in „Deutschland“
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tig bildeten sich in zahlreichen Städten die Anfänge einer Struktur der bürgerlich geprägten kommunalen Selbstverwaltung in Auseinandersetzung mit der Kirche heraus.9 Zunehmend griff jene im 15. und 16. Jahrhundert auch im Bereich der Armenfürsorge Platz. Insgesamt wurde der Dualismus im Bereich der Fürsorge durch Private und Kirche durch das Hinzutreten der öffentlichen Hand allmählich zur Trias weiterentwickelt. Dieser Prozess vollzog sich freilich nicht innerhalb einiger Jahre, sondern zeigte sich mal dynamischer mal zurückgenommener über viele Jahrzehnte. Solange die Kirche im Wesentlichen allein die Armenfürsorge bestimmte, wurden Armut und Bettelei keineswegs negativ konnotiert. In der gottgewollten Armut läge die Nähe zu Christus.10 Wer sich also barmherzig und mildtätig den Armen und Bettlern gegenüber zeige, gewinne Gottes Wohlwollen und Seelenheil, so die damals verbreitete Auffassung. So waren die Bettler verpflichtet, für das Seelenheil des Spenders von Almosen zu beten. Zwar wurden bereits von der Kirche Kriterien aufgestellt, nach denen die Almosen zu erbringen waren,11 doch eine auch nur in Ansätzen effektive Kontrolle fehlte und wurde auch gar nicht angestrebt. Wer als bedürftig angesehen wurde, dem wurde im Rahmen des Vorhandenen gegeben; das Betteln als legitime Möglichkeit anerkannt, seinen Unterhalt zu bestreiten. Dies änderte sich im 15. und 16. Jahrhundert durch die zunehmende Kommunalisierung bzw. Verweltlichung in diesem Bereich.12 Erstmals nahmen die Räte zahlreicher Städte die Armenfürsorge als öffentliche Aufgabe wahr. Die bisher kirchlich unterhaltenen Hospitäler und Stiftungen wurden mehr und mehr in das Eigentum der Städte überführt, zumindest aber die Administration jener Einrichtungen übernommen. Daneben wurden eigene kommunale Einrichtungen für die geschlossene Armenfürsorge geschaffen und Stiftungen für deren Finanzierung errichtet. Die Kommunalisierung der Armenfürsorge i. d. S.13 folgte nun anderen Leitbildern und brachte eine neue Praxis mit sich. Kommunalisierung bedeutete die Übernahme der Auf9 Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (53); Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 23 ff. 10 Kick, Armenpflege, S. 16; Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (55 f.). 11 Seit Thomas von Aquin war die Unterstützung arbeitsunfähiger Personen ebenso statthaft wie jene hinsichtlich derer, die arbeiteten, aber mit dem Erarbeiteten nicht auskamen. Vgl. Fischer, Städtische Armut, S. 44 ff. 12 In diesem Zusammenhang ist umstritten, ob von Säkularisierung gesprochen werden kann, dafür bspw. Kick, Armenpflege, S. 17 mit dem Hinweis auf die Begriffsbedeutung einer eher allgemeinen Verweltlichung. Dagegen aufgrund fortbestehender religiöser Bezüge am Beispiel kommunalisierter Spitäler bspw. Reicke, Das deutsche Spital, Band 1, S. 198. 13 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 30.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
gabe in kommunale Hand und zumeist auch jene aller Verantwortungsbereiche, partiell blieb die Erfüllung kirchlichen Trägern unter kommunaler Aufsicht erhalten.14 Zu den wichtigsten Instrumenten kommunaler Armenfürsorge dieser Zeit wurden die Bettel-, Armen- und Almosenordnungen.15 Zunächst wurden die vorgefundenen Strukturen verrechtlicht und modifiziert, das Betteln bspw. eingeschränkt. Später machte der Paradigmenwechsel innerhalb der Armenfürsorge auch vor den gewachsenen Strukturen keinen Halt, das Betteln wurde völlig verboten und an die Stelle eine kommunale Unterstützungspflicht gesetzt. Die immer stärker verdrängte kirchliche Armenfürsorge hatte sich aufgrund ihres grenzüberschreitenden Tätigkeitsgebiets allerdings an alle Bedürftigen gerichtet. Die kommunale Armenfürsorge differenzierte hingegen als Ausfluss des lediglich eingeschränkten Wirkungskreises zwischen den eigenen und den fremden Armen (Heimatprinzip). So fanden sich in den Städten zwar je spezifische Formen der Armenfürsorge, Fremde hatten praktisch aber nirgendwo eine Möglichkeit, hieran teilzuhaben.16 Die gewandelte Zielsetzung und Funktion der Armenfürsorge als öffentliche Aufgabe ist, soweit bislang nachvollzogen, in sämtlichen deutschen Städten wiederzufinden.17 Die städtischen Räte richteten Ämter und Stellen ein, um den ordnungsgemäßen Vollzug der Armenfürsorge zu kontrollieren. Erstmals wurden die auch schon in der kirchlichen Armenfürsorge genutzten Kriterien der Bedürftigkeit und jene neu etablierten von der öffentliche Gewalt kontrolliert. Durch die Präsenz und Kontrolle der städtischen „Policey“ kam auch das Misstrauen des sich bildenden frühmodernen Staates18 vor den Armen zum Ausdruck und seine Furcht vor ihrem „sozialrevolutionären Potenzial“.19 Es wurde außerdem nicht nur zwischen den eigenen und den fremden Bettlern unterschieden, sondern auch zwischen den arbeitsfähigen und den arbeitsunfähigen. Die Entstehung der deutschen öffentlichen Armenfürsorge fiel also – anders als in anderen Gebieten Euro14 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 25 ff.; Schoch, Sozialhilfe, S. 8. 15 Die – soweit datiert und niedergeschrieben – älteste Bettelordnung stammt aus Nürnberg (1370), dazu Endres, Nürnberg, S. 194 (199). 16 Vgl. Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (57). Insbesondere die Frage nach der Erhebung einer Armensteuer wurde hingegen unterschiedlich beantwortet. 17 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 32 f. 18 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 30 ff.; Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (210). 19 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (210).
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pas – unmittelbar mit dem Arbeitsgedanken zusammen.20 Der Faktor Arbeitsfähigkeit trat als Differenzierungskriterium der Armenfürsorge in Erscheinung.21 Während Arbeitsunfähige die Unterstützung einzig aufgrund ihres Status als Bürger erhielten, wurden Arbeitsfähige mit weiteren Restriktionen belegt.22 So wurde ihnen unter Drohung mit Unterstützungsentzug ein moralischer Verhaltenskodex auferlegt. Sie sollten an Werktagen nicht zechen, spielen, sich dem Müßiggang oder der Völlerei hingeben oder betteln und hatten mögliche Arbeit anzunehmen.23 Anzumerken ist dabei, dass dies nur diejenigen nicht betraf, die in keiner Weise Arbeit verrichten konnten, wobei auch den Kranken und Verkrüppelten nach der damaligen Vorstellung regelmäßig irgendeine zu berücksichtigende Arbeitskraft verblieb. Dem hierin liegenden Arbeitsgedanken kam allerdings noch nicht der Charakter einer Arbeitspflicht i. e. S. zu. Eine Zwangsvollstreckung gab es nicht. Die negative Anerkennung originärer Arbeitslosigkeit als Armutsgrund äußerte sich vielmehr in Form des sanktionsbewährten Verhaltenskodexes, der an den (vermeintlichen) Symptomen der Arbeitslosigkeit – Müßiggang, Völlerei, Zecherei, Spielsucht – anknüpfte. Die von den Städten vergebenen Bettelzeichen verkamen in der Folge von Symbolen der anerkannten Bedürftigkeit zunehmend zum Stigma der Ausgrenzung. Die städtische Verwaltung begann Akten anzulegen und Kontrollen durchzuführen, welche zum prägenden Merkmal der öffentlichen Armenfürsorge wurde.24 Die Kategorisierung von Armut folgte dem Schuldprinzip. Danach wurde als Armutsrisiko nur positiv anerkannt, was als fremdverschuldet, zumindest als nicht selbstverschuldet angesehen wurde.25 Mittellosigkeit aufgrund von Kriegen oder Naturkatastrophen, Krankheit oder Behinderung wurden dem folgend positiv anerkannt, Arbeitslosigkeit trotz Arbeitsfähigkeit (originäre Arbeitslosigkeit) gerade nicht. Allgemein wird jene Differenzierung von Armut im Sinne einer positiven und negativen Anerkennung zumindest auch als Folge der Kommunalisierung und der gewandelten sozialen Struktur der mittelalterlichen Stadt angesehen.26 20
Zu Europa Geremek. Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa; Haubenwallner, Behindertenrecht 1993, 104 ff.; Schoch, Sozialhilfe, S. 7 beide m. w. N. 21 Wagner, in: Schmidt/Aspelmeier (Hrsg.), Armenfürsorge, S. 21 (33). 22 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 34. 23 Ehrle, Armenpflege, S. 29 f. 24 Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (58 f.). 25 Vgl. Kick, Armenpflege, S. 18. 26 Fischer, Städtische Armut, S. 155, 166; Scherner, ZfR 1979, 55 (58 f.); Scherpner, in: dies. (Hrsg.), Theorie der Fürsorge, S. 45 ff.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
Nicht zufällig fiel diese Entwicklung – zumindest ihre Dynamisierung – aber auch in die Zeit der Reformation.27 Sei es doch Luther gewesen, der 1520 in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nationen“ aus Paulus’ zweitem Thessalonikerbrief zitierte: „Wer nit arbeytet, szol auch nit essenn.“28 Die Reformation kann aber sicher nicht allein die Veränderungen erklären. Die Tendenz zur Kommunalisierung der Armenfürsorge bspw. durch Überführung von kirchlichem Vermögen oder privaten Stiftungen in kommunales Eigentum, zeigte sich überall und weitgehend unabhängig von dem Einfluss der Reformation, war sie doch regelmäßig der religiösen Bewegung vorgelagert.29 Jedenfalls war die Armenfürsorge viel stärker als zuvor auf dem Boden der Weltlichkeit angekommen.30 Die Erbringung von Hilfe für die Armen war hier wie dort nicht länger (primär) das Substrat christlicher Nächstenliebe. Das Interesse an einer finanzkräftigen Bevölkerung, die Abgaben zu zahlen fähig war, stand im Vordergrund. Das christliche Menschenbild tauchte allenfalls noch als vermeintlich legitimierender Faktor auf.31 Gegenleistungen für erbrachte Almosen oder Unterstützung waren dementsprechend nicht länger Bitten und Gebete durch den Empfänger oder bloß mittelbar das Seelenheil. Vielmehr ging es um ganz weltliche Leistungen wie Arbeit und Sozialverhalten.32 Die Gewährung von Almosen erfolgte nicht mehr unorganisiert und unkontrolliert, sondern durch eine beachtlich aufstrebende Verwaltung und befugnisreiche „Policey“.33 Die von ihr durchgeführten Kontrollen dienten vor allem der Überprüfung tatsächlicher Bedürftigkeit und der Einhaltung der Verhaltensregeln sowie der Feststellung der Bedarfshöhe; auch der Sanktionierung freilich, welche vor allem im Hilfeentzug, der Freiheitsentziehung, der Ausweisung und der Prügel lag. Die Armenfürsorge erfüllte im späten Mittelalter danach als Folge der Kommunalisierung vor allem zwei Funktionen: Ordnung und soziale Disziplinierung, erstmals auch durch das Anhalten zur Arbeit. Die Mittel zur Erfüllung dieser Funktionen lassen sich als Bürokratisierung, Rationalisierung und Kontrolle zusammenfassen.
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Dazu Battenberg, ZHF 1991, 33 (39). Luther, Band 6, S. 381 (451). 29 Kick, Armenpflege, S. 18 f. 30 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 25 ff. 31 Vgl. dazu Ehrle, Armenpflege, S. 29 f. 32 Wagner, in: Schmidt/Aspelmeier (Hrsg.), Armenfürsorge, S. 21 (31). 33 Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (59 ff.); Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 38. 28
B. Armenfürsorge im Absolutismus
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B. Armenfürsorge im Absolutismus Jene Funktionen, ihre Organisation und Durchsetzung standen nach dem 30-jährigen Krieg auf dem Prüfstand. Das Deutsche Reich war technologisch rückständig und wirtschaftlich sowie politisch am Ende. Wenngleich es rechtlich bis 1806 fortbestand, wurde es durch den Westfälischen Frieden von 1648 faktisch in seinen Funktionen aufgelöst.34 Die folgende Zeit stand ganz im Zeichen absolutistischer Territorialstaaten. Es bildeten sich über 300 verschiedene staatliche Gebilde von teilweise geringster Flächengröße. Innerhalb dieses deutschen Flickenteppichs herrschten absolutistische Landesherren mit ihrem Verwaltungsapparat. Die sich seit der beginnenden Urbanisierung herausbildende öffentliche Gewalt wurde verfestigt und dem Alleinherrschaftsanspruch des Landesherrn entsprechend ausgeweitet; dem Reich gegenüber als Zeichen der Abgrenzung und Souveränität, den intern vorhandenen Mächten wie Ständen oder Kirchen zur Demonstration des Alleingestaltungsanspruchs und zum Machterhalt und -ausbau.35 Die öffentliche Armenfürsorge unterfiel der absolutistischen Herrschaftslogik entsprechend dem Aufgabenbereich des Territorialstaates und folgte so auch in ihren Maximen – noch stärker als zuvor – dieser statt einer religiösen Logik (Rationalisierung).36 Die städtischen Bettel-, Armen- und Almosenordnungen wurden von territorialen Polizeiordnungen abgelöst. Die Kommunen übernahmen weiterhin die Erfüllungsverantwortung der Aufgabe vor Ort, unterfielen aber Weisungen und Ordnungen des absolutistischen Landesherren. Der formale Charakter der Aufgabe änderte sich infolge der Eingliederung der Kommunen in den territorialen Staatsaufbau – in der heutigen Terminologie – von einer solchen der freiwilligen Selbstverwaltung hin zur übertragenen Aufgabe. Die Regelungsverantwortung lag beim Staat, die Organisationsverantwortung theoretisch auch. Faktisch aber organisierten die Kommunen die Verwaltung vor Ort weitgehend selbstständig.37 Durch die weitergeführte kommunale Erfüllungsverantwortung blieb es hingegen bei dem Heimatprinzip, welches bereits in den Reichspolizeiverordnungen von 1530, 1548 und 1570 niedergelegt war. Der Territorialstaat bemühte sich inhaltlich um eine Vereinheitlichung von Vollzugsleitbildern und Zugangsvoraussetzungen im Staatsgebiet.38 Adressaten der staatlich 34 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 85 ff.; Schoch, Sozialhilfe, S. 9. 35 Vgl. grundlegend hierzu und zum Folgenden Weber, Staatssoziologie. 36 Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 36 ff.; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 128. 37 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 75 ff. 38 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 85 ff.; Kick, Armenpflege, S. 21 f.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
normierten Armenfürsorge waren zunächst die Personen, die aufgrund der klassischen Risikofälle verarmten. Neben diese Witwen, Waisen, Kranken und Verkrüppelten traten nun auch Soldaten, des in dieser Zeit vielerorts etablierten stehenden Heeres und Arbeiter als erstmals wahrnehmbare gesellschaftliche Gruppe.39 Sie verdienten ihren Lohn in Manufakturen – den Vorboten der Industrialisierung – und hatten (in ökonomischer Hinsicht) nichts anzubieten und konnten auf nichts zurückgreifen als ihre Arbeitskraft. Die Manufakturen sollten aufgrund ihrer im Vergleich zu den kleinen Handwerksbetrieben und Werkstätten höheren Produktivität, dem Wohlstand des Territorialstaates dienen. Nach damaligem Verständnis genoss die Produktivität der Manufakturen Vorrang vor der Armutsfestigkeit des gezahlten Arbeitslohns. Man ging sogar davon aus, dass die Arbeiter bei zu hoher Bezahlung müßig und faul würden. So wurden zum Teil staatliche Vorgaben für die maximal zu zahlenden Löhne erlassen.40 Neben der daraus folgenden zumindest drohenden Armut der Arbeiter, produzierten die neuen Manufakturen jene auch bei den Handwerkern, welche mit der Produktionssteigerung nicht Schritt halten konnten. Die Anzahl derer, die auf Unterstützung angewiesen waren, stieg infolge dieser Entwicklung teilweise dramatisch an.41 Die Reaktion auf die steigende Armut stand zunächst in Kontinuität zu den repressiven Instrumenten der spätmittelalterlichen Städte.42 Differenzierung und Diskriminierung standen dabei im Vordergrund. Dem Heimatprinzip entsprechend unterschied man weiter zwischen eigenen und fremden Armen. Erstere wurden wiederum in arbeitsfähige und arbeitsunfähige unterteilt. Die Gruppe der Arbeitsunfähigen, vor allem Kranke und Verkrüppelte, wurde weiterhin privilegiert.43 Die Arbeitsfähigen stellte man unter den Generalverdacht der Faulheit und des Betrugs. Die weiter zunehmenden Kontrollen des absolutistischen Verwaltungsapparats dienten nun immer weniger der Feststellung des tatsächlichen Bedarfs als vielmehr der Enttarnung der Schwindler. Die ortsfremden Armen galten zwar insgesamt als unerwünscht, doch erkannte man auch bei ihnen bestimmte Armutsgründe positiv an und teilte ihnen zumindest ein Almosen zu. Dies war bspw. bei individuellen „unverschuldeten“ Schicksalsschlägen, bei Vertriebenen und Gebrechlichen der Fall. Die Differenzierung anhand des Schuldprinzips wurde fortgeführt, Vollzug und Kontrolle mit dem ausgeweiteten Verwaltungsappa39
Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 98 ff. Stavenhagen, Geschichte der Wirtschaftstheorie, S. 103 m. w. N. 41 Kick, Armenpflege, S. 18 f.; Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 99 ff. 42 Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (61 ff.). 43 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 107. 40
B. Armenfürsorge im Absolutismus
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rat professionalisiert und den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen angepasst. Arbeitslosigkeit trotz Arbeitsfähigkeit, Trunk- oder Spielsucht wurden als individuelles Versagen nicht der Verantwortung der Gemeinschaft unterstellt. Die absolutistische Verwaltung war zu einem Großteil in Zeiten steigender Bedürftigerzahlen mit dieser Differenzierungsarbeit im Bereich der öffentlichen Armenfürsorge beschäftigt, ohne damit jedoch einen Rückgang der Armenzahl zu bewirken.44 Es zeigt sich, dass das Zeitalter der absolutistischen Territorialstaaten vielfach Leitmotive und Instrumente der städtischen Bettel-, Armen- und Almosenordnungen aus dem Spätmittelalter fortführte und fortentwickelte. Bürokratisierung und Kontrolle nahmen zu, die Differenzierung anhand des Heimat- und Schuldprinzips wurde systematischer und unter dem Vorzeichen eines herrschenden Generalverdachts vorangetrieben. In dieser Linie stand auch die Ausbreitung der kommunalen Zucht- oder Arbeitshäuser als neues Instrument öffentlicher Armenfürsorge. Nach internationalem Vorbild45 errichteten zunächst Lübeck (1613), Hamburg (1620) und Danzig (1629) derartige Einrichtungen.46 In ihnen kamen Hilfsbedürftige aller denkbarer Gruppen zusammen. Vormalige Klöster oder Hospitäler wurden leidlich hinreichend umgebaut um Straftäter, Kranke, Verarmte und ungehörige Kinder unter einem Dach zusammenzubringen. Prägender Gedanke dieser Einrichtung war die bekannte Sozialdisziplinierung. Neu war, dass jene im Wesentlichen durch Arbeit erreicht werden sollte. Arbeit galt im Absolutismus als heilend und förderlich, so dass der Schluss nahe lag, die Armen durch sie umzuerziehen, zu heilen und zu disziplinieren (Pädagogisierung und Disziplinierung).47 Dass daneben durch die Einrichtungen auch Wertschöpfung betrieben werden konnte, war ein zumindest nicht unwesentlicher Nebengedanke bei der Schaffung derartiger Einrichtungen (Ökonomisierung).48 Die tatsächliche Bedeutung der Anstalten lag im Absolutismus weniger in der Anzahl ihrer „Insassen“ oder ihrer wirtschaftlichen Kraft, als vielmehr in ihrer pädagogisierenden Wirkung innerhalb und außerhalb der Anstalten und den Wirkungszusammenhängen mit entstehenden Manufakturen und der „Präformierung“49 des Arbeits- und Arbeiterbildes der anstehenden industriellen Zeit. 44
Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 120 ff. Vor allem England und die Niederlande, dazu Traphagen, Arbeitshäuser, S. 61 ff.; Mahrzahn, Das Zucht- und Arbeitshaus. 46 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 107 ff. 47 Dazu die Ordnungen der Arbeitshäuser Stettin und Berlin, abgedruckt bei Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 160 ff., 164 ff. 48 Schulze, ZFH 1987, 265 ff.; Schmidt, Freiheitsstrafe in Brandenburg-Preußen, S. 89 ff.; vgl. auch Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (68 ff.). 45
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Kap. 2: Die historische Perspektive
Der Arbeitsgedanke wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert zur Arbeitspflicht fortentwickelt. Wer ihr nicht nachkam, konnte zwangsweise in das Arbeitshaus eingewiesen werden. Arbeitsfähige mussten – ob in einer Anstalt oder zuhause – zugewiesene Arbeit erledigen. Anders als noch in der spätmittelalterlichen Stadt wurde nicht mehr nur von jedem, unter Androhung des Leistungsentzugs und anderer Sanktionen50 erwartet, dass er sich Arbeit sucht, vielmehr schufen Staat und Stadt nun selbst Arbeit.51 Die Sanktionierung der vermeintlichen Symptome von Arbeitslosigkeit stand nicht mehr im Vordergrund der Verwaltungsarbeit, sondern die Kontrolle der Einhaltung der Arbeitspflicht. Die zur Arbeitsbeschaffung eingerichteten Arbeitshäuser standen schnell vor dem Problem der Unwirtschaftlichkeit. Die äußerst heterogene Zusammensetzung der Insassen erwies sich zunehmend nicht als Garant von Produktivität und Qualität. Absatzschwierigkeiten oder Wettbewerbsausfälle in Gebieten mit Monopol- oder Abnahmegarantien waren die Folge. Trotz dieser allein „betriebswirtschaftlichen“ Probleme, hielt sich die Einweisung in das Arbeitshaus als Maßregel noch bis 1969. Daneben wurden auch „Weiterbildungsmaßnahmen“ geschaffen, um die notwendigen Kenntnisse zur Durchführung der nachgefragten Tätigkeit in Einrichtungen erlernen zu können.52 Auch im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge griff der Arbeitsgedanke durch, die Kinder der Armen sollten durch Arbeit zur Arbeit erzogen werden. Die gewährte Hilfe innerhalb und außerhalb von Einrichtungen folgte vor allem ordnungspolitischen Motiven. Die auferlegten Restriktionen wie Internierung, Kontrolle und Arbeitspflicht überwogen in der Gesamtbetrachtung. Durch originäre Arbeitslosigkeit ausgelöste Armut wurde demnach staatlich vor allem negativ anerkannt. Linderung der Bedürftigkeit stand hinter Disziplinierung, Pädagogisierung und nicht zuletzt Ökonomisierung der Betroffenen zurück.
49 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (215). 50 s. o. Kapitel 2 A. 51 Es gab kommunale und staatliche Arbeitshäuser, die auch mit unterschiedlichen Aufsichtsbehörden ausgestattet waren. Dazu Schmidt, Freiheitsstrafe in Brandenburg-Preußen, S. 30 ff.; Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 117. 52 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 125 ff.
C. Armenfürsorge im 19. Jahrhundert
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C. Armenfürsorge im 19. Jahrhundert I. Politische und soziale Ausgangslage 1. Die Entstehung moderner „Sozialwissenschaften“ und Sozialpolitik Liegen die Wurzeln der öffentlichen Armenfürsorge im Spätmittelalter, liegen diejenigen des modernen Wohlfahrtsstaates53 im 19. Jahrhundert, einem Jahrhundert der Umbrüche. Die absolutistischen Territorialstaaten gingen zunächst in Flächenstaaten, schließlich im Deutschen Reich (1871) überwiegend auf, wodurch das preußische „Staatsmodell“ weitgehend ein gesamtdeutsches wurde. Die Ideale der Aufklärung griffen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert auch in den deutschen Staaten Platz und lösten das mythologisierte Staatsbild des Absolutismus zunehmend ab. Die Rezeption dieser Ideale war auf deutschem Gebiet allerdings hoch different. Disziplinierende und pädagogisierende Faktoren der eigenen – auch jüngeren – Geschichte, wenig bis gar nicht entwickeltes Nationalgefühl oder -bewusstsein und nicht zuletzt der Blick von außen auf die Grausamkeiten der französischen Revolution hemmten mancherorts den Aufbruch zwar, verhinderten strukturelle Veränderungen allerdings nicht.54 Die Aufnahme der Armenfürsorge in das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) versprach, dass es dem Staate zukomme „für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen, und denselben auch von andern Privatpersonen, welche nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können.“ (2. Teil, 19. Titel § 1 ALR). Hierbei handelte es sich zunächst einmal um eine sehr allgemeine Formulierung, welche die Frage nach Aufgaben- oder Verantwortungsbereichen zumindest nicht eindeutig beantwortete. Was „sorgen“ meinte und ob sich „Staat“ in Abgrenzung zu einer sich nach heutigem Verständnis herausbildenden kommunalen Selbstverwaltung oder zu Privaten definieren sollte, blieb offen. Das ALR spezifizierte in der Folge zumindest materiell, indem Arbeitszwang, Bettelverbot, Verschwendungsverhinderung und Verbot des Müßiggangs in das normative Programm aufgenommen wurden (2. Teil, 19. Titel §§ 3, 5, 6, 7 ALR). Insoweit wurde jedenfalls ein Rahmen vorgegeben und der Staat, verstanden als preußischer Staat, übernahm die Normativverantwortung. Für die Organisation und Erfüllung wiederum galt das nicht gleichsam auch. Die preußischen Reformen 53 54
„Sozialstaat“ als Begriff bevorzugt Ritter, Sozialstaat. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 2, S. 42 ff.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
in der Zeit der französischen Besatzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Karl August von Hardenberg und Karl Freiherr vom Stein brachten zwar bereits erste persönliche Freiheiten – wie die zunehmende Auflösung der Zünfte und Gilden – mit sich, trugen in der Folge zur Mobilität der Bevölkerung bei, ließen aber Anpassungen im Bereich der Armenfürsorge aus. Das migrationfeindliche Heimatprinzip blieb unberührt. Preußen übernahm es ausdrücklich in das ALR (2. Teil, 19. Titel §§ 1, 5, 16 ALR). Die Gemeinden versorgten weiterhin „ihre“ Armen, der preußische Staat wiederum die gemeindelosen Armen, zumeist durch Einweisung in Landesarmenhäuser. Wenn in diesem Zusammenhang behauptet wird, die Kommunen seien von nun an „nicht mehr Ausgangspunkt, sondern der Durchgangspunkt der Fürsorge“55, muss dies präzisiert werden. Gerade im Bereich der Aufgabenwahrnehmung, einschließlich der Organisation vor Ort und der konkreten Ausgestaltung der Unterstützung, blieben die Kommunen weitgehend frei. Im Übrigen trugen sie auch die Kosten der Fürsorge.56 Nach dem Ende der napoleonischen Besatzung und seiner einschneidenden Reformen, insbesondere im Bereich der Verwaltung, setzten sich restaurative Elemente politisch durch.57 Die angekündigte Demokratisierung Preußens blieb ebenso Desiderat wie Reformen im Bereich der Armenfürsorge. Allzu offensichtlich knüpfte man verstärkt wieder an die Traditionen des korporativen, feudalen Ständestaates des 18. Jahrhunderts an. Gleichzeitig bot jene Form der Staatlichkeit angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse jedoch keine adäquaten Lösungen (mehr). Pauperismus, Mobilisierung und Proletarisierung kamen verstärkt auf und wurden politisch und erstmals wissenschaftlich als „soziale Frage“ intensiv diskutiert.58 Auffällig hierbei ist, dass die Armutsfrage bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der „Arbeiterfrage“ weitgehend abgelöst wurde. Dabei ging es primär nicht um originäre Arbeitslosigkeit, sondern um den Umgang mit und der Analyse der neu entstehenden „Klasse“ und ihrer sozialen, hygienischen und politischen Lage. Die hierzu in der Wissenschaft entwickelten Leitideen lassen sich aber weitgehend auch auf den Umgang mit originärer Arbeitslosigkeit und Armut übertragen, sie wurzeln in ganz grundsätzlich divergierenden Entwürfen für eine gesellschaftliche und politische Ordnung. Das 19. Jahrhundert wird häufig als Geburtsstunde der modernen Sozialwissenschaften in Deutschland angesehen.59 Die wissenschaftlichen Ansätze 55
Simmel, Der Arme, S. 345 (374). Redder, Armenhilfe, S. 21 ff. 57 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 2, S. 58 ff., 76 ff. 58 Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (69 ff.). Zur Entwicklung der Lohnarbeit sogleich. 59 Ritter, Soziale Frage, S. 9. 56
C. Armenfürsorge im 19. Jahrhundert
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waren dabei angesichts ihrer grundlegenden Unterschiede stark politisch präformiert. Der Liberalismus des Vormärz folgte teilweise dem Ideal einer „klassenlosen Bürgergesellschaft“.60 Das Proletariat sollte im Wesentlichen durch Instrumente der Erziehung und der Selbsthilfe in die bürgerliche Gesellschaft integriert werden. Zwar verabschiedete man sich später zunehmend von dem Ideal einer harmonischen Gesellschaft,61 doch blieben die Liberalen insgesamt überwiegend Gegner staatlicher Einflussnahme auf die Wirtschaftsordnung. Das galt auch für andere Richtungen innerhalb des Liberalismus jener Zeit.62 Auf der anderen Seite forderten die Sozialisten um Karl Marx die revolutionäre Beseitigung des Staates, der zu echten Reformen nicht in der Lage sei, da er als Instrument der herrschenden Klasse die vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse stütze. Protagonist dieses Umsturzes sollte das Proletariat sein, welches in der Folge das Privateigentum abschaffen und so letztlich eine Klassenherrschaft überwinden würde.63 Teile der konservativen Wissenschaftler standen in der Tradition der „Restaurateure“. Sie bemühten sich um eine Rückkehr in den Ständestaat, wobei die Arbeiter einen eigenen, freilich wenig privilegierten Stand bilden sollten.64 Andere – wie Lorenz von Stein – forderten staatliche Intervention als ordnungspolitische Maßnahme zur Vermeidung von Klassenkämpfen. Der Staat als neutraler Vermittler zwischen den Arbeitsmarktparteien sollte dementsprechend Reformen zur Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter auf den Weg bringen.65 In diese Richtung entwickelte sich auch die bürgerliche Sozialwissenschaft, in der sich Konservative und Liberale wiederfanden. Sie folgten der sich Mitte des 19. Jahrhunderts in der Nationalökonomie zur herrschenden Auffassung entwickelten historischen Schule um Gustav Schmoller. Hier orientierte man sich an einem idealtypischen, ethisch determinierten Soll-Zustand und richtete sein analytisches Vorgehen daran aus. Diesen Zustand sollte die „Einheit der Kulturnation“ bilden.66 Das Gemeinwohl erfordere dementsprechend die Integration der Arbeiter. Ein Anliegen, das nicht zufällig in eine Zeit fiel, in der die Arbeiterbewegung für viele 60 Gall, HZ 1975, 324 (353); Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 2, S. 176 ff. 61 Ritter, Soziale Frage, S. 12. 62 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 2, S. 156 ff. 63 Vgl. bspw. Engels, Entwicklung des Sozialismus, S. 193 ff. 64 Ritter, Soziale Frage, S. 9 mit Nachweisen hierzu. 65 Vgl. Böckenförde, Lorenz von Stein als Theoretiker, in: Universität Hamburg (Hrsg.), FS Brunner, S. 248 (253 ff.). 66 Stein, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen, S. 50 ff.; Parallelen zu England verdeutlicht Schulze-Gävernitz, Zum sozialen Frieden.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
die Spaltung der Nation befürchten ließ, nicht zufällig aber auch ihre Protagonisten (des Anliegens) im liberalen und konservativen Bürgertum fand. Revolutionäre Umstöße würde jene wohl am schwersten treffen. Dieser integrative Ansatz der Nationalökonomie und der bürgerlichen Sozialreform im 19. Jahrhundert kann politisch der „bürgerlichen“ Mitte als Skalenpunkt zwischen Sozialismus bzw. Sozialdemokratie und Restauration bzw. Teilen des Liberalismus67 zugeordnet werden und wurde als „Kathedersozialismus“68 berühmt. Maßgeblicher politischer und wissenschaftlicher „Akteur“ dieser Schule war der Verein für Socialpolitik, welcher sich 1873 gründete. Neben Schmoller waren vor allem Lujo Brentano und Adolph Wagner die herausragenden Gründungspersönlichkeiten, welche die Aktivitäten des Vereins maßgeblich prägten.69 Nachdem die liberale Revolution 1848 endgültig scheiterte, breitete sich der integrative Ansatz der Nationalökonomie in den Sozialwissenschaften zur überwiegenden Auffassung aus. Dies korrelierte mit der immer dynamischer daherkommenden Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Erst hier begannen die wissenschaftlichen Vorarbeiten in staatliche Aktivität zu münden. Durch die moderne Sozialwissenschaft kam so die moderne Sozialpolitik,70 wenngleich die Sozialwissenschaft i. d. S. selbst vielfach politisch überformt war. Die „Arbeiterfrage“ war Dreh- und Angelpunkt der Diskussionen in beiden Bereichen. 2. Soziale Umbrüche Einer der wesentlichen Motoren der Reformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die „größte Massenbewegung“71 der deutschen Geschichte: die Landflucht. Angesichts steigender Landarmut72 folgten viele dem verlockenden Ruf der Industriebetriebe in der Hoffnung auf Arbeit und Lohn. Um 1867/68 lebten knapp 50% der Menschen außerhalb ihrer Heimat67
In der klassisch liberalen Wirtschaftstheorie galt Armut prinzipiell als Resultat persönlicher Unzulänglichkeit und so zunächst auch als individuelles und nicht als gesellschaftliches Problem. So blieb auch für eine positive Anerkennung des Armutsfaktors originärer Arbeitslosigkeit bei ihr kein Raum. Vgl. Cohn, Arbeit und Armut, S. 3 ff.; Lipowsky, ZStW 1912, 583 ff. 68 Völkerling, Der deutsche Kathedersozialismus; Wittrock, Die Kathedersozialisten bis zur Eisenacher Versammlung 1872, S. 16 ff. 69 Tennstedt, Der politische Ökonom Gustav Schönberg, S. 257 (259). Zur Prägung des Begriffs der Sozialpolitik Kaufmann, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 7 (7 f.). 70 Zu Begriff, Entstehung etc. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken. 71 Köllmann, Bevölkerungsgeschichte, S. 20. 72 Zu den Gründen Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 199.
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gemeinden. Fast ein Drittel aller in Großstädten Lebenden war um 1900 zugezogen. Halten konnten sich in den Städten jedoch vielfach nur diejenigen, die vollständig arbeitsfähig waren. Aufgrund extremer Arbeitsbedingungen und damit einhergehendem Krankheitsrisiko73 wurden diejenigen in den Industriebetrieben der Städte nicht gebraucht, die wenig belastbar waren. Häufig zogen sie zurück aufs Land. Armutsrisiken verteilten sich durch diese Segregation stärker denn je regional zwischen Stadt und Land. Hier fand man die „neuen“ Armen, die von ihrem Lohn nicht leben konnten oder arbeitslos, trotzdem arbeitsfähig waren; dort die klassisch von Armut Bedrohten wie Kranke und Gebrechliche.74 Angesichts dieser Wanderbewegungen im 19. Jahrhunderts war die Anknüpfung der Armenfürsorge an das Heimatprinzip nicht mehr aufrechtzuerhalten. Diese Erkenntnis setzte sich auch in der staatlichen Armenpolitik zunehmend durch. Die Gesetze der Jahre 1842 und 1855 bezüglich der Aufnahme neu anziehender Personen75 seien dafür Beleg. Die hier begonnene Hinwendung zum Wohnsitzprinzip gipfelte in dem Gesetz über den Unterstützungswohnsitz des Norddeutschen Bundes von 1870 (UWG), auf das Reich 1871 übertragen. Organisatorisch bekamen die Gemeinden die Bezeichnung Ortsarmenverbände, blieben dabei aber primäre Erfüllungsverantwortliche der Fürsorge sowie Trägerinnen der Finanzlast. Die Landarmenverbände wurden zur subsidiär zuständigen Ebene für gemeindelose Arme.76 Die Armen mussten nun grundsätzlich an dem Ort unterstützt werden, an dem sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nahmen. Wohnsitz konnte durch den Erwerb eines eigenen Hausstandes genommen werden, was freilich nur für diejenigen in Frage kam, die über ein ausreichendes Maß an Lohn oder Vermögen verfügten. Diejenigen, die eine Wohnsitznahme nicht erreichen konnten, mussten, wenn sie in einer anderen Gemeinde Unterstützung erhalten wollten, dort für einen gewissen Zeitraum, zunächst (1842) wurden drei Jahre, später (1870) wurde ein Jahr verlangt, gewöhnlich, nicht ununterbrochen, gelebt haben. Der Wechsel vom Heimatzum Wohnsitzprinzip beendete die Diskriminierung der Heimatlosen und Fremden, welche teilweise bis zu ihrem Tod von einer Gemeinde in die nächste verbracht wurden, zumindest partiell. In vielen Ländern setzte sich die Diskriminierung der Armen allerdings insoweit fort, als der Empfang öffentlicher Hilfeleistung mit dem Verlust staatsbürgerlicher Rechte ver73 Übersicht zu den Armutsrisiken dieser Zeit bei Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 261. 74 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 198 ff.; Köllmann, Bevölkerungsgeschichte, S. 20. 75 Abgedruckt bei Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 276 ff. 76 Redder, Armenhilfe, S. 21 ff.
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knüpft war. Hier ist insbesondere der Verlust des – aktiven und passiven – Wahlrechts nach § 3 des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes (1869) zu nennen.77 Daneben schränkte es die Freizügigkeit der Armen erheblich ein, konnten sie doch die Unterstützungsgemeinde dauerhaft nicht verlassen, ohne auch die Unterstützung zu verlieren. Die Einführung des Wohnsitzprinzips führte zu einem regional unterschiedlichen Anstieg der öffentlichen Hilfeempfänger, wurde doch der Verweis auf die Zuständigkeit einer anderen Kommune deutlich schwerer. Die Finanzbelastung für die Zuzugsgemeinden – regelmäßig die Städte – stieg entsprechend an. In der Praxis hatten die von Armut bedrohten Schichten durch diese Entwicklung wiederum Schwierigkeiten. Die Bürger einer Gemeinde wollten sich vor erhöhten Steuern angesichts steigender Armenausgaben schützen und ließen vielfach vermietbare Wohnungen lieber leer stehen, als sie Angehörigen jener Schichten zur Verfügung zu stellen.78 Das UWG begleitete den Prozess der Proletarisierung mit notwendigen rechtlichen Anpassungen, dynamisierte ihn aber gleichsam auch. Während 1871 immerhin bereits 28,9% der Bevölkerung im industriellen Sektor beschäftigt waren und 21,8% im Dienstleistungssektor, waren es 1913 schon 37,9% bzw. 27,6%.79 Solange Arbeit vorhanden war, war der Ab- und Zuzug im Rahmen dieses Prozesses für die einzelnen Regionen noch verkraftbar. Das sich schnell etablierende System industrieller Marktwirtschaft, welches vor allem auf Lohnarbeit ausgerichtet ist, unterlag aber eigenen, insbesondere konjunkturellen Gesetzen, mit deren Umgang wenig bis keine Erfahrung bestand. Die zyklisch wiederkehrende Zunahme der Arbeitslosenzahlen in den Wintermonaten war dabei die zunächst offensichtlichste Regelmäßigkeit. So lag die Arbeitslosenquote 1895 im Juni bei 1,89% und im Dezember bei 4,88%.80 Wobei diese Zahlen gravierende statistische Ungenauigkeiten aufwiesen und nur eine ungefähre Einschätzung der Arbeitslosenquote erlaubt. Außerdem erfassten die Quoten keine regionalen Unter77 Gesetz vom 31. Mai 1869, RGBl I 1869, S. 145 ff. Weitere Sanktionen bzgl. der Freizügigkeit waren in den §§ 4, 5 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 vorgesehen, RGBl I 1867, S. 55, abgedruckt bei Huber, Verfassungsgeschichte, Band 2, S. 304 ff. In § 3 hieß es: „[. . .] kann der Aufenthalt in jedem anderen Bundesstaate von der Landespolizeibehörde verweigert werden“. 78 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 275 ff. 79 Zahlen aus Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 9. 80 Statistik des Deutschen Reichs, in: Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs 1899, S. 260 ff. Diesen Zahlen gegenüber ist sicher Vorsicht geboten. Immerhin sind die Erhebungsmethoden – willkürliche Befragungen in den Fußgängerzonen – eher wenig repräsentativ. Vermutlich lag die Quote insgesamt deutlich höher. Immerhin aber belegen die Zahlen den deutlichen Anstieg in den Wintermonaten. Vgl. dazu auch Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 283 ff.
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schiede. Die Arbeitslosenquote in den Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern bspw. lag deutlich über dem ermittelten Reichsdurchschnitt.81 Die von alledem Betroffenen konnten, solange sie noch zahlenmäßig überschaubar oder zumindest unorganisiert waren, mehr oder weniger erfolgreich vom Staat ignoriert werden.82 Als ihr Bevölkerungsanteil und Organisationsgrad in Gewerkschaften rapide zunahm, waren die Auswirkungen einer konjunkturellen Krise jedoch nicht mehr nur auf sie begrenzt, sondern beinahe überall spürbar. Dies galt insbesondere für die Zuzugsgemeinden. Auf- und Abschwung einzelner industrieller Sektoren, jahreszeitliche, konjunkturelle Veränderungen produzierten vor allem eins: Arbeitslosigkeit. Sie wurde in dieser Zeit zum durchdringenden Begriff der (sozial)politischen Diskussion.83 Zwar lebten viele trotz Arbeit in bescheidensten, ärmlichen und zum Teil katastrophalen hygienischen Verhältnissen,84 doch fing die Lohnarbeit Landarmut und Ausbreitung des Pauperismus zumindest partiell auf. Angesichts der neuen Gesetzmäßigkeiten des Marktes kam bot die Lohnarbeit nur bedingt Schutz vor Armut. Stets drohte bei Arbeitslosigkeit der Absturz in Armut und regelmäßig nicht nur des Einzelnen, sondern gleich ganzer Gruppen. Einen Kündigungsschutz gab es nicht. Die Folgen waren offensichtlich: Ausbreitung der Armut in industriell erschlossenen Gebieten; erheblich unterschiedliche, regionale Lastenverteilung; Anstieg der Steuerlast und fehlende Kaufkraft. Armut durch Arbeitslosigkeit wurde zu einem Massenphänomen. Die Angst der Arbeiter vor Arbeitslosigkeit war auch deshalb so groß, weil die öffentliche Armenfürsorge Arbeitslose kaum unterstützte.85 Sich gründende Arbeitervereine konnten die fehlende soziale Sicherung ihrer Mitglieder nur teilweise auffangen.86 Arbeitslosigkeit sah man staatlicherseits weiterhin als selbstverschuldet an. Die Linderung von Armut kraft originärer Arbeitslosigkeit legte man dementsprechend primär in die Verantwortung des Einzelnen. 81 In den Wintermonaten bis zu 11% (Königsberg). Dazu Kaiserliches Statistisches Amt (Hrsg.), Die bestehenden Einrichtungen zur Versicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit im Ausland und im Deutschen Reich, Band 1, 1906, S. 381. 82 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (220). 83 So veranstaltete der Freie Deutsche Hochstift – Sektion Volkswirtschaft am 8. und 9. Oktober 1893 in Frankfurt/M. einen Kongress über „Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung“. Das ist umso erstaunlicher, als der Veranstalter anlässlich des hundertjährigen Geburtstags Friedrich Schillers zum Zwecke der nationalen Einheit und des Erhalts des kulturellen Erbes gegründet wurde und in der Sache diesem Thema eher fernstand. Dazu Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 34. 84 Dazu leistete die wissenschaftliche Disziplin der Hygiene wichtige Erkenntnisse, vgl. dazu Baader, Von der Sozialen Medizin und Hygiene. 85 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 15. 86 Herzig, Der Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein.
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Daneben bestand aber durchaus auch die Angst „des Staates“ vor dem radikalisierbaren Potential der Arbeiter, welches sich bei dem Bergarbeiterstreik in Niederschlesien (1869) zeigte. Durch die zunehmende auch politische Organisation der Arbeiter drang dieser Aspekt immer stärker in den Vordergrund. Die Sozialistengesetze sind in diesem Kontext ebenso zu sehen wie die sozialpolitische Entwicklung dieser Zeit.87
II. Öffentliche Sozialpolitik 1. Kommunale Sozialpolitik Zwar gab das Reich am Ende des 19. Jahrhunderts die ersten statistischen Erhebungen darüber in Auftrag, wie hoch der Anteil der originär Arbeitslosen in der Armenstatistik war,88 doch scheute man sich, Arbeitsvermittlung und Fürsorge zentral zu verantworten. Das galt normativ ebenso wie exekutiv. Gründe dafür waren der erwartete Widerstand der Arbeitgeber, aufgrund einer drohenden Bürokratisierung der Arbeitsvermittlung und mögliche Eingriffe in die bestehenden Machtverhältnisse der Arbeitsmarktparteien sowie derjenige der Gewerkschaften, die den Bedeutungsverlust eigener Vermittlungsbemühungen befürchteten. Hinzu kamen die anstehenden Kosten bei einer Verstaatlichung der Arbeitsvermittlung. Dementsprechend entwickelte sich die Arbeitsvermittlung auf kommunaler Ebene teilweise auf der Basis fürsorgerechtlicher Tätigkeit, teilweise als neue sozialpolitische Aufgabe neben dieser. Die zuständigen Ortsarmenverbände hatten nach § 1 des preußischen Ausführungsgesetzes zum UWG vom 8. März 1871 Obdach, unentbehrlichen Lebensunterhalt und erforderliche Pflege im Krankheitsfall zu gewähren.89 Die Ausfüllung dieser weitgehend unbestimmten Vorgaben eröffnete den Gemeinden weitreichende Handlungsmöglichkeiten und -pflichten, letztlich vergleichbar mit den Vorgaben des ALR von 1794. Dementsprechend different zeigte sich – auch aufgrund der höchst unterschiedlichen Leistungsfähigkeit – die kommunale Aufgabenerfüllung. Finanzielle Hilfen sollten von den Landarmenverbänden (den Landkreisen) für die Gemeinden erbracht werden, welche die Armenlast allein nicht zu tragen imstande waren.90 Wie es die 87 Vgl. Kampffmeyer, Vor dem Sozialistengesetz; Kampffmeyer, Unter dem Sozialistengesetz. 88 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 17. 89 Preußisches Ausführungsgesetz zum UWG, Gesetz vom 8. März 1871, Gesetzessammlung 1871, S. 130 ff. Abgedruckt und mit weiteren aufschlussreichen Ausführungen versehen bei Arnoldt, Freizügigkeit; s. a. Redder, Armenhilfe, S. 21 ff. 90 Siehe § 36 des Preußischen Ausführungsgesetzes zum UWG.
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Unbestimmtheit der Vorschrift vermuten ließ, war der tatsächliche Finanzaufwand der Landarmenverbände äußerst gering.91 Diese Verteilung wurde auch durch das Armengesetz von 1869 im Wesentlichen fortgeschrieben. Zwar bemühte sich das Reich finanzielle Ausgleiche innerhalb der unterschiedlich belasteten Kommunen und stärkere Hilfen durch die Landarmenverbände zu etablieren, doch blieb der Anteil der kommunalen Eigenfinanzierung ihrer Armenlast nach wie vor weit überwiegend.92 So lagen die Erfüllung sowie die Finanzierung nahezu vollständig in kommunaler Verantwortung. Wichtige Impulse und Vorarbeiten zu den anstehenden kommunalen Sozialreformen, mithin für die beginnende kommunale Sozialpolitik, kamen dabei aus der Wissenschaft, umgesetzt vielfach von Liberalen, die sich nach dem Scheitern der Revolution von 1848 vermehrt auf kommunale Politik konzentrierten.93 Die Kommunen erschlossen zu dieser Zeit zunehmend die örtliche Daseinsvorsorge bspw. in den Bereichen Elektrizität, Wasserver- und -entsorgung oder Verkehr und kamen damit Forderungen der Hygiene entgegen, die erstmals einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheitsrisiken nachweisen konnte.94 Die örtliche Daseinsvorsorge stellte sich in diesem Licht als aktive, präventive Sozialpolitik der Kommunen dar. Nach anfänglichem Zögern nahmen sich die Kommunen auch der Arbeitslosigkeit verstärkt an. Mangels breiter, aussagekräftiger statistischer Daten konnte originäre Arbeitslosigkeit als Armutsfaktor nicht eindeutig bemessen werden, sondern jene zeigte sich zunächst eher als diffus wahrnehmbare Größe. Die Präsenz der Arbeitslosigkeit auch im Alltag der Menschen stieg mit der Gründerkrise der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts an, deren Auswirkungen noch weit in die 80er Jahre hinein spürbar blieben. Statistisch erfasst wurde die Rolle der Arbeitslosigkeit im Rahmen der Armenfürsorge erstmals 1885.95 Danach lag die Quote derer, die Armenfürsorge aufgrund originärer Arbeitslosigkeit in Anspruch nahmen in Preußen bei 4,4% (in Bayern gar bei 8%). Wiederum aber lag die Quote in den Städten deutlich höher, zumeist zwischen 11–13%.96 Diese Zahlen wiesen 91
Redder, Armenhilfe, S. 39. Redder, Armenhilfe, S. 71 ff. 93 Frie, Katholische Wohlfahrtskultur, S. 184; auch Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 18; vgl. Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien (Hrsg.), S. 51 (74 f.). 94 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (266). 95 Statistik des Deutschen Reichs, in: Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs 1895, S. 156 ff. 96 So in Magdeburg oder Elberfeld. Dazu Redder, Armenhilfe, S. 139; Roscher, Armenpflege, S. 30. Der Aussagegehalt der Quote unterliegt wiederum Bedenken. 92
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aber nur aus, wie hoch der Anteil originär Arbeitsloser an den Fürsorgeempfängern war. Vielfach aber erreichte die Fürsorge die Arbeitslosen gar nicht. Sie blieben unversorgt oder auf die Unterstützung der Arbeitervereine angewiesen.97 Dass es in der Folge die Städte waren, die Instrumente zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entwickelten, kann nicht verwundern. Ihre Armenkassen waren es, die durch Arbeitslosigkeit besonders stark belastet wurden. Hier konkurrierten verschiedene Modelle kommunaler Sozialreformen miteinander.98 Bereits 1853 entstand in Elberfeld ein System öffentlicher Armenfürsorge, welches sich partiell bereits der neuen Herausforderungen annahm. Neben einer – der gesellschaftlichen Anbindung dienenden – stark ausgeweiteten ehrenamtlichen Armenfürsorge, trat die Gemeinde in den Wintermonaten und zu konjunkturellen Krisenzeiten als kommunaler Arbeitgeber auf.99 Dieses sog. „Elberfelder-System“ setzte sich nach und nach, mehr oder weniger in zahlreichen, vor allem industriell geprägten Kommunen des Deutschen Reichs durch.100 Die bislang primär in Form von Naturalien im Rahmen des Vorhandenen geleistete Hilfe zum Lebensunterhalt wurde vielfach durch die Zahlung von Richtsätzen objektiviert. Die damit einhergehende erstmalige finanzielle Konkretisierung des Lebensnotwendigen fand meist auf niedrigem Niveau statt, eröffnete aber eine flexible Handhabung. Die Überschreitung der Sätze war eher Regel als Ausnahme.101 Im Bereich der Arbeitsvermittlung wagte Dresden die ersten zaghaften Schritte.102 Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts breiteten sich kommunale Arbeitsnachweise – später Arbeitsämter – in beachtlicher Geschwindigkeit über das Reichsgebiet aus.103 Ihre kommunalen Instrumente von Prävention und Privilegierung lassen sich trotz regional höchst unterschiedlicher Anwendungsart und -intensität wie folgt zusammenfassen: Antizyklische, präventive Arbeitsmarktpolitik – bspw. Verschiebung von kommunalen Projekten in die Wintermonate –; Privilegierung durch erhöhten LeisArbeitslosigkeit war partiell das Auffangbecken unterschiedlicher, nicht erfasster anderer Armutsfaktoren. So auch Münsterberg, Das Elberfelder System, S. 411. 97 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 26 m. w. N. 98 So das Genter Modell, nach dem die Kommune unmittelbar die Berufsverbände der Arbeiter unterstützen. Vgl. ausführlich insbesondere in vergleichender Perspektive Münsterberg, Das Elberfelder System. 99 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 216. 100 Hier sind insbesondere die Unterschiede zwischen den Städten und den ländlichen Regionen auffällig. Dazu Redder, Armenhilfe, S. 29. Im Folgenden stehen die industriell erschlossenen Städte im Fokus der Betrachtung. 101 Redder, Armenhilfe, S. 25. 102 Dazu näher Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 20 f. 103 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 33; skeptisch Redder, Armenhilfe, S. 141.
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tungsumfang im Vergleich zur allgemeinen Armenfürsorge; vereinzelte Einrichtung von kommunalen Versorgungskassen für die Wintermonate und die Unterstützung gewerkschaftlicher oder privater Hilfskassen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das „Elberfelder-System“ zum „Straßburger-System“ fortentwickelt, dessen Auswirkungen aber im Wesentlichen erst in der Weimarer Republik sichtbar wurden. Das „Straßburger-System“ ergänzte das „Elberfelder-System“ um die Dezentralisierung und Individualisierung. Die behördlichen Zuständigkeits-Bezirke wurden so eingeteilt, dass sie nicht mehr als 600 Bedürftige umfassten. Die hier geleistete Armenfürsorge sollte so effizienter und am individuellen Bedarf orientiert werden. In zahlreichen Kommunen – meist in den Städten – wurde darüber hinaus versucht, die Ausgliederung der Arbeitslosen aus der Armenfürsorge zu erreichen. Dazu wurden auch regionale Versicherungsmodelle diskutiert.104 Praktisch wurden dabei aber nur wenige und scheiterten an koordinativen Unzulänglichkeiten oder finanziell an der Konzentration der Versicherungsfälle, mithin einer ungünstigen Risikostruktur. Aus den konkurrierenden Modellen der kommunalen Träger setzten sich zwar die erfolgreichsten durch, doch bekamen auch diese viele Probleme der neuen industriellen Marktwirtschaft nicht in den Griff.105 Vielfach lag dies an dem erbitterten Widerstand der Arbeitsmarktparteien, entscheidend aber auch an dem fehlenden politischen Konsens. Wirtschaftsliberale und Konservative kämpften mit sozialistischen Ansätzen um das bestimmende Merkmal politischen Handelns und lähmten die kommunale und auch die Arbeitsmarktpolitik des Reichs. Die Verantwortung – und sei es auch nur eine koordinative – wollte das Reich im Bereich der Arbeitsvermittlung nicht übernehmen. Zu sehr waren die Entscheidungsträger dem Bild eigenverantwortlicher Arbeitslosigkeit und dem Ständedenken verhaftet. Die Kommunen konnten aber Notwendiges nicht allein leisten. Auch was sie leisteten war nicht überall Ausdruck politischer Überzeugung, sondern häufig genug Ergebnis nüchterner Kalkulation und der unmittelbaren Konfrontation mit einem auch ordnungspolitischen Risiko. Eine klare Ausgliederung der Arbeitslosen aus der Armenfürsorge oder die Disziplinierung der Arbeitsmarktparteien sowie koordinative Arbeiten im Bereich der Arbeitsmarktstatistik wären Aufgaben des Reichs gewesen. Die kommunale Sozialpolitik bzgl. der Arbeitslosen dieser Zeit hatte trotz vieler Unzulänglichkeiten durchaus ihre Verdienste. Sie lagen in der 104
Redder, Armenhilfe, S. 145 f. Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 30 ff.; Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (250 ff.). 105
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partiellen Umsetzung einer Differenzierung zwischen Armutsrisiken einerseits und in der positiven Anerkennung der Arbeitslosigkeit als unverschuldeter Armutsgrund – zumindest soweit sie unfreiwillig war – andererseits. 2. Staatliche Sozialpolitik Diese Erkenntnisse und Entwicklungen standen aber erst am Anfang und gipfelten noch nicht in der Errichtung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung, was zunächst überraschen mag. Immerhin waren die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts die Geburtsjahre der Sozialversicherung. Und tatsächlich war diese Ausdruck der dargelegten sozialpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Die nun wissenschaftlich belegbare, teilweise katastrophale soziale Lage der Arbeiter, der überwiegend vertretene integrative Ansatz in den Sozialwissenschaften und die daraus resultierende Erkenntnis einer Handlungsnotwendigkeit im Bereich spezifischer Armutsrisiken, bildeten – neben gewichtigen ordnungspolitischen Erwägungen – als positive Flankierung der Repressionen gegen die Sozialisten die wesentlichen Motive der Bismarckschen Antworten auf die „Arbeiterfrage“. Bereits in der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 kündigte Kaiser Wilhelm II. das anstehende Versicherungswerk an.106 Dabei spielte Arbeitslosigkeit eine entscheidende Rolle, nämlich als Erwerbsunfähigkeit. Wer aufgrund spezifischer Risiken, namentlich Krankheit107, Unfall108, Invalidität und Alter109 erwerbsunfähig werden würde, dem sollte „ein höheres Maß staatlicher Fürsorge“110 zu Teil werden. Jenes höhere Maß war freilich immer noch bescheiden, im Vergleich zur Armenfürsorge aber eine erhebliche soziale Verbesserung. Das Krankengeld sicherte den Verlust des Arbeitsplatzes bspw. zumeist für 13 Wochen ab und entsprach 50% des bisher erzielten Einkommens. Wer aber wegen Unfalls oder Krankheit oder aus sonstigen Gründen dauerhaft ohne Arbeit war, war durch das Versicherungsmodell nicht mehr abgesichert. Außerdem konzentrierten sich die Re106 Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881; zur Begriffsdebatte Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 17 ff. Überwiegend wurde die Sozialversicherung damals als Fürsorgeleistung verstanden. Die folgende Darstellung orientiert sich am Begriffsverständnis der Gegenwart, dazu wiederum Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 43 ff. 107 Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883, RGBl I 1883, S. 73 ff. 108 Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, RGBl I 1884, S. 69 ff. 109 Gesetz betreffend der Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889, RGBl I 1889, S. 97 ff. 110 Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881, zitiert nach: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 1882, S. 1 f.
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formen auf die klassischen Risiken von Armut und Arbeitslosigkeit. Obgleich der innovative Charakter der Bismarckschen Reformen sowie ihre sozialpolitische Bedeutung nicht unterschätzt oder in Frage gestellt werden kann, ist Bismarcks konservative politische Herkunft nicht zu verkennen. Die Anerkennung der „neuen“ Risiken111 blieb aus. Der Paradigmenwechsel, der von dem neuen Modell sozialer Sicherheit ausging, lag woanders: Erstmals wurde in nennenswertem Umfang ein Anspruch des Einzelnen (jedenfalls mittelbar) gegen den Staat auf eine Sozialleistung konstruiert, welche ein Armutsrisiko absichert. Die Betroffenen hatten sich die Sozialleistung durch eigene Beiträge „erkauft“. Die Gewährung oblag nicht dem guten Willen des Staates, sondern war im Zweifel auch gegen ihn durchsetzbar.112 Die Versicherungsleistungen stellten sich außerdem nicht nur (partiell) als Surrogat eigener Leistungen dar, sondern wurden vom Arbeitgeber mitgetragen. Teils anteilig wie in der Krankenund Altersversicherung, teils sogar vollumfänglich wie in der Unfallversicherung. Das Risiko originärer Arbeitslosigkeit wurde im Rahmen einer Versicherungslösung zwar nicht spezifisch abgesichert, der Ansatz einer solchen kann darin aber wohl bereits gesehen werden. Der Reichstag konnte sich politisch nicht über ein grundsätzliches Votum für oder gegen eine Absicherung des spezifischen Risikos Arbeitslosigkeit im Rahmen der Sozialversicherung einigen.113 Die liberalen Kräfte hielten teilweise an klassischen Ansätzen fest und weigerten sich, Armutsrisiken überhaupt positiv staatlich anzuerkennen. Teilweise waren sie – wie auch einige Konservative – skeptisch, ob eine Versicherung gegen wirtschaftliche Funktionsweisen zum einen praktisch überhaupt machbar sein würde, zum anderen, ob jene Funktionsweisen tatsächlich „quasi natur-gesetzlich“ vorgegeben seien. Im Übrigen wollte man verhindern, dass auch diejenigen privilegiert würden, die freiwillig in die Arbeitslosigkeit, bspw. Kraft Eigen-Kündigung gingen.114 Im Ergebnis brauchte es noch einige Jahre, bis es zu einer einheitlichen, staatlichen Versicherungslösung auch für das Risiko der Arbeitslosigkeit kam. Dennoch: In einer Zeit, in der die Realisierung klassischer Armutsrisiken regelmäßig auch den Verlust des Arbeitsplatzes bedeutete, war der Absicherung jener Risiken auch eine solche gegen Arbeitslosigkeit immanent. Der bis zur Industrialisierung geltenden Kausalkette – Realisierung eines klassi111 Unverschuldete Arbeitslosigkeit, als neue Gedankenfigur bezeichnet sie Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 16. 112 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (233 ff.). 113 Redder, Armenhilfe, S. 50 ff. 114 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 50 ff.
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schen Risikos führte zur Armut – wurde im 19. Jahrhundert – zumindest was das Proletariat anging – ein Baustein hinzugefügt. Realisierung eines klassischen Risikos führte zur Arbeitslosigkeit und diese führte zu Armut. Das Hinzufügen des Faktors Arbeitslosigkeit offenbarte seine Auswirkungen auf der Rechtsfolgenseite. Fehlte er, erhielt der Betroffene Armenfürsorge; lag er vor, Sozialversicherungsleistungen. Die Privilegierung der Arbeiter war demnach der relevante Fortschritt jener Zeit. Praktisch hatte sich ein Dualismus der öffentlichen Sozialleistungen gebildet. Auf der einen Seite die privilegierten Armutsgründe der Arbeiter innerhalb der staatlichen Sozialversicherung. Auf der anderen Seite der „Rest“, der weiter auf die soziale Aktivität vor allem der Kommunen vertrauen musste. Dieser Dualismus stellt sich dabei als nebeneinander dar. Zwar war die Armenfürsorge das unterste Netz sozialer Sicherheit und insoweit auch für die Versicherten nach Ende der Bezugsdauer das relevante Leistungssystem. Doch im erstmaligen Bedarfsfall wurde der Betroffene, abhängig vom Armutsgrund, einem der Systeme zugeteilt. Dabei schlossen sich beide nicht aus, sondern ergänzten sich vielfach. Der aufstockende Bezug von Fürsorge war keine Seltenheit.115 Dass beide Leistungssysteme unterschiedlich ausgestaltet waren, führte insbesondere bei den „Aufstockern“ zu teilweise absurden Ergebnissen: Auf der einen Seite bezog der Betroffene aufgrund seines durch Beiträge erworbenen, subjektiven Rechts Leistungen aus der Versicherung und wählte die Organe der Selbstverwaltungskörperschaft mit. Auf der anderen Seite war er auf die „Gaben“ der Armenfürsorge angewiesen und verlor sein Wahlrecht zu Reichs- oder Landtag.116 Die Verantwortungsbereiche im Zusammenhang mit der Verwaltung jener Sozialleistungen waren eng mit dem Begriff der Selbstverwaltung verbunden. Im Bereich der Sozialversicherung als immanente Antithese zum staatlichen Zwang,117 im Bereich der Fürsorge mit der kommunalen Selbstverwaltung. Die Idee der Selbstverwaltung entsprang dabei im Grundsatz aus der Trennung von Staat und Gesellschaft. Wo sie besonders stark war, nämlich im Absolutismus, versprach sie besonders verlockend gesellschaftliche Beteiligung gleichsam als Korrektiv. Für Bismarck war die Selbstverwal115 Gerade heute sind die sog. „Aufstocker“ wieder in der Diskussion. Vgl. Knickrehm, Bilanz der ersten Jahre „Grundsicherung für Arbeitsuchende“, in: Bender/Eicher (Hrsg.), S. 193 ff. 116 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 50 ff.; Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (233 ff.). 117 Hierzu und zum Folgenden Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (244).
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tung im Bereich der Sozialversicherung auch mit der (vergeblichen) Hoffnung verbunden, die Arbeiter an den Staat zu binden. Während die Idee der Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert zunächst unaufhaltsam schien, wurde sie beginnend mit dem Scheitern der liberalen Revolution 1848 zunehmend hohl. Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Kommunen wurden verstärkt verstaatlicht.118 In der Armenfürsorge nahm der Einfluss des Staates zwar ebenso zu; diese zeigte sich für den Staat aber eher unattraktiv.119 In dieser Zeit bedeutete Selbstverwaltung im Bereich der Sozialversicherung jedenfalls nicht den völligen Verzicht auf staatlichen Einfluss, sondern eher die vorsichtige Mitverwaltung der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen.120 Neben dem Einfluss der Sozialwissenschaften und der politischen Akteure – Staat und Kommunen – soll auch der Einfluss der Kirchen auf die Sozialpolitik zumindest kurz gewürdigt werden. Protestantismus und Katholizismus setzten sich im 19. Jahrhundert intensiv mit der „Arbeiterfrage“ auseinander und entwickelten eigene Konzepte kirchlicher und daran auszurichtender öffentlicher Sozialpolitik. Nur der katholischen Kirche aber stand eine „allgemeinverbindliche Sozialphilosophie“121 zur Seite. Daneben wies die evangelische Kirche eine schon institutionell größere Nähe zu den deutschen Einzelstaaten auf und wurzelte eher im liberalen und konservativen Bürgertum. Die fehlende Distanz erschwerte den Zugang zur „Arbeiterfrage“. Zwar kam den Kirchen in der Armenfürsorge nach 1815 zunächst wieder stärkere Bedeutung zu, doch schaffte es die evangelische Kirche insgesamt nur eher punktuell, durch die Gründung kirchlicher Einrichtungen (bspw. Innere Mission) oder Einflussnahme in einzelnen Unternehmen, ihre Forderung nach „sittlichem Handeln“ der Wirtschaft praktisch umzusetzen.122 Schließlich brachte sie einige, auf je unterschiedliche Art einflussreiche Personen wie Theodor Luhmann oder Friedrich von Bodelschwingh hervor – ohnehin waren viele Vertreter der bürgerlichen Sozialreform Protestanten – doch blieb der politische Einfluss mittelbar.123 118 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (245). 119 Oben Kapitel 2 B. 120 Menger, Entwicklung der Selbstverwaltung im Verfassungsstaat der Neuzeit, in: von Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung, S. 25 ff. 121 Honecker, Evangelische Soziallehre, Sp. 503–516; Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 16. 122 Becker, Sozialpolitische Vorstellungen, in: Pohl (Hrsg.), Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 177 (186). 123 Dazu Ritter, Soziale Frage, S. 31.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
Anders stellt sich das Bild der katholischen Soziallehre dar. Sie bewegte sich zwischen der Propagandierung einer Rückkehr zu ständischen Strukturen einerseits und einer Anerkennung der modernen Industriegesellschaft andererseits. Vom Staat forderte sie die Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiter durch Vorschriften zu Arbeitsbedingungen und Arbeitszeit. Dazu gründeten sich christliche Gewerkschaften und die Caritas. Dabei stand ihnen – anders als den Protestanten – mit dem „Zentrum“ ein politischer Arm zur Seite, der wesentlich auch an der Entstehung der Sozialversicherung beteiligt war.124 Sichtbarster Einfluss auf die Ausgestaltung der Armenfürsorge insgesamt im 19. Jahrhundert nahm die katholische Soziallehre durch die Etablierung des Subsidiaritätsprinzips im ALR (2. Teil 19. Titel, § 1).125 Danach standen dem Einzelnen Leistungen der Armenfürsorge nur zu, wenn und solange vorrangig zur Leistung Verpflichtete (insbesondere Angehörige etc.) nicht zur Leistung imstande waren. Die Subsidiarität ist bis heute eines der prägenden Prinzipien der Sozialhilfe.126
III. Zusammenfassung Das 19. Jahrhundert brachte innovative wohlfahrtsstaatliche Elemente in der nach wie vor überwiegend liberal-konservativ geprägten staatlichen Sozialpolitik hervor, die weniger aus politischer Überzeugung, denn aus sozialem Druck und ordnungspolitischer Motivation erwuchsen. Was hier begonnen wurde, war aber längst nicht am Ende angekommen. Den Umgang mit und die Anerkennung der Privilegierungswürdigkeit unverschuldeter Arbeitslosigkeit überließ der Staat weitgehend der kommunalen Ebene, die zwar durch Dezentralisierung und Individualisierung Grundsteine späterer Sozialpolitik legten, aber ohne staatliche Unterstützung und Koordination mit dem Phänomen der Massenarbeitslosigkeit insgesamt überfordert waren. Der Dualismus der Sozialleistungen wurde durch die Versicherungslösung eingeführt und gilt bis heute fort. Die Herausforderungen des 19. Jahrhunderts brachten zahlreiche Änderungen in Politik und Wissenschaft mit sich. Es kann daher nicht nur von der Geburt des Wohlfahrtsstaates, sondern auch weitgehend von derjenigen der modernen Sozialpolitik und Sozialwissenschaft gesprochen werden. Das Jahrhundert der Umbrüche war so auch ein Jahrhundert der Durchbrüche.
124 125 126
Ritter, Soziale Frage, S. 19. Ritter, Soziale Frage, S. 20. Rothkegel, Strukturprinzipien des Sozialhilferechts, S. 113 ff.
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D. Sozialpolitik in der Weimarer Republik I. Gründungshypotheken und Vorbedingungen – Der Weltkrieg Kriege waren in der Geschichte häufig ein Motor der Sozialpolitik.127 Dies galt für den Ersten Weltkrieg insbesondere und in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Das ökonomische, politische und auch soziale Koordinatensystem verschob sich in dramatischer Weise. Der Erste Weltkrieg war anders als die Kriege zuvor ein Krieg der Völker und Volkswirtschaften. Öffentliche Sozialpolitik bedeutete zu dieser Zeit – wie auch in der gesamten Zeit der Weimarer Republik – vor allem die Bewältigung der Kriegsfolgen. Anders als die militärische Führung vermutete, erwies sich der Krieg als langwierig und brachte eine unvorstellbare Zahl an Opfern und enormen Materialverschleiß mit sich. Die gesamte Volkswirtschaft musste auf Kriegsproduktion umgestellt werden, die Ressourcen dementsprechend eingesetzt werden. Auch die Arbeitskräfte unterlagen diesem Verdikt und der „Krieg wurde so mehr und mehr eine Arbeiterfrage“128. Jener Umstellungsprozess ließ die Arbeitslosigkeit von knapp 3% im Juli 1914 auf 22,4% im August dieses Jahres ansteigen.129 In der Folge stabilisierte sich diese Quote, aufgrund des hohen Arbeiterbedarfs und des sinkenden Arbeitskräfteangebots, bei ca. 1% während der gesamten Kriegszeit. Die Nominallöhne der Arbeiter stiegen zu jener Zeit zumindest in kriegsrelevanten Produktionsbereichen rasant an, standen aber ebenfalls steigenden Lebenshaltungskosten gegenüber, die den Lohnanstieg vollends, zumindest größtenteils auffingen oder sogar überstiegen.130 Jedoch ging dies nicht gleichsam mit dem Einbruch der Lebensverhältnisse der Arbeiter einher. Eher im Gegenteil: Zu einem nicht unerheblichen Teil stieg das Familieneinkommen durch Einbeziehung der Frauen und der Älteren in den Arbeitsmarkt an, so dass es partiell sogar dasjenige der Angestellten und Beamten erreichte oder überstieg, deren Einkommen während des Krieges wiederum kaum an die steigenden Lebensverhältnisse angepasst wurden.131 Die Klassengesellschaft begann sich im Krieg zur Massengesellschaft zu wandeln.132 Neben der einsetzenden faktischen Angleichung der Lebensverhältnisse von Mittelstand und Arbeiter trafen kriegsbedingte Folgen wie die Ausbreitung 127
Dazu oben Kapitel 2 B. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 5. 129 Lorenz, Die gewerbliche Frauenarbeit, S. 318; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 65 ff. 130 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 47. 131 Vgl. Kocka, Klassengesellschaft, S. 86. 132 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 64 f.; Kocka, Klassengesellschaft, S. 86 ff. 128
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Kap. 2: Die historische Perspektive
von Infektionskrankheiten und Nahrungsmittelknappheit nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen weitgehend gleichmäßig.133 So zog der Krieg gesellschaftliche Gruppen in den Dunstkreis der Armut, die mit einem solchen Abstieg zuvor nicht rechneten und wohl auch nicht rechnen mussten. Dies galt in vergleichbarer Weise für die Familien, die durch den Militärdienst das oder zumindest ein Haupteinkommen verloren hatten. Jener Gruppe nahmen sich Reich und Kommunen an. Mit der Kriegsfürsorge, begründet durch das Gesetz bzw. deren Novellierungen „betreffend die Unterstützung von Familien in den Dienst eingetretener Mannschaften“ vom 28. Februar 1888, in der Fassung vom 4. August 1914134 sowie der Reichswochenhilfe135, gewährte das Reich privilegierte Fürsorge und übernahm erstmals fürsorgerechtlich unmittelbar und beachtlich Verantwortung nicht nur im normativen und organisatorischen, sondern auch im finanziellen Bereich. Zwar erfüllten die Kommunen diese Aufgabe vor Ort, sie waren aber in jeder Hinsicht in eine hierarchische Staatsverwaltung eingebunden.136 Die Kriegszeit brachte insoweit Zentralisierung und Verstaatlichung mit sich, welche (auch) Folgen des Verursachungsprinzips im Bereich der Sozialpolitik waren. Die Verantwortung für die Kriegsauswirkungen folgte der Verantwortung für den Krieg selbst. Privilegiert war jene Leistung zum einen hinsichtlich der Höhe. Jenseits der fürsorgerechtlichen Tradition legte das Reich Regelsätze fest, die aufgrund ihrer geringen Höhe überschritten werden konnten und regelmäßig wurden.137 Damit war trotz bestehender Regelsätze eine einigermaßen flexible, individuelle Bemessung möglich. Diese zielte nicht wie die Armenfürsorge auf die Existenzsicherung, sondern auf die Statussicherung. Für den Bereich staatlicher Kriegsfürsorge galt der Schutz vor dem sozialen Abstieg als neues Leitbild.138 Der ausgezahlte Betrag konnte diesem Anspruch regelmäßig jedoch nicht gerecht werden. Privilegierend wirkte die Kriegsfürsorge zum anderen wegen ihrer Bezugsvoraussetzungen. Die der Armenfürsorge nachgebildete Bedarfsprüfung wurde an weniger strengen Maßstäben ausgerichtet. Auch Diskriminierungen, welche mit dem Bezug von Armenfürsorge verbunden waren – wie der Verlust des Wahlrechts – wurden auf die Kriegsfürsorge nicht übertragen. 133
Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 48 f. RGBl I 1888, S. 59 ff.; Änderungsgesetz vom 4. August 1914, RGBl I 1914, S. 332 ff. 135 Gesetz über Wochenhilfe und Wochenfürsorge vom 26. September 1919, RGBl I 1919, S. 1757. 136 Vgl. Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (267 ff.). 137 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 51. 138 Polligkeit, Zeitschrift für das Armenwesen 1917, 23 (24). 134
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Außerdem wurde die Privilegierung auch nach außen durch eine organisatorische Trennung deutlich. Nach § 3 des Familienunterstützungsgesetzes139 oblag die Trägerschaft den besonderen Verwaltungseinheiten – den sog. Lieferungsverbänden – welche die Städte und Landkreise waren. Waren die Träger der Armenfürsorge und der Kriegsfürsorge gleich (in den kreisfreien Städten), wurden trotzdem gesonderte Stellen jeweils für die kommunale und die staatliche Leistung eingerichtet. Außerdem bestand ein Rechtsanspruch auf Kriegsfürsorge. Sie sollte sichtbar möglichst weit weg von der diskriminierenden Armenfürsorge stehen. Das sich die Kriegsfürsorge faktisch aber der Höhe nach nicht wesentlich von der Armenfürsorge abhob, ergänzten die Kommunen jene durch freiwillige Leistungen (Kriegswohlfahrtspflege). Hierzu zählten die Aufstockung der Reichssätze ebenso wie Mietbeihilfen. Wichtiger aber war die kommunale Ausgabe von Naturalien, die Gründung oder Übernahme von Produktionsbetrieben, insbesondere im Bereich Kleidung und Nahrung und die Mittelstandsförderung. Angesichts der steigenden Armut auch im Bereich von Handwerk und Mittelstand gründeten die Kommunen eigene Kreditanstalten zur finanziellen Unterstützung der mittelständischen Betriebe. An den Kosten dieser kommunalen Mittelstandsbeihilfen sowie insgesamt an der kommunalen Kriegswohlfahrtspflege beteiligten sich Länder und Reich.140 Dies galt auch für einen anderen, sich zu Beginn des Krieges herausbildenden, spezifischen Fürsorgebereich: der Erwerbslosenfürsorge. Als die Arbeitslosigkeit gigantische Ausmaße erreichte, differenzierte sich jene aus der allgemeinen Fürsorge heraus. Der Anteil der kommunalen Arbeitsnachweise stieg und hierin wurde die kommunale Arbeitslosenunterstützung erbracht. Abseits einer formal-gesetzlichen Grundlage wurde auch die während des Krieges zunehmende Zahl von Hinterbliebenen und Kriegsbeschädigten von der Armenfürsorge separiert und mit differenzierten sozialpolitischen Maßnahmen der Länder und Kommunen leidlich versorgt.141 Die klassische Armenfürsorge wurde insgesamt während des Krieges so ergänzt, ausdifferenziert und in weiten Teilen abgelöst. Die Aktivitäten des Wohlfahrtsstaats weiteten sich aus. Die damit einhergehende Ausweitung der staatlichen Bürokratie142 platzierte neben die klassische Eingriffsverwaltung ein zunehmendes Maß an Leistungsverwaltung. Auch arbeitsmarktpolitisch zeigten sich wesentliche Veränderungen, die auf den wachsenden Einfluss des Parlaments während des Krieges zu139 RGBl I 1888, S. 59 ff.; Änderungsgesetz vom 4. August 1914, RGBl I 1914, S. 332 ff. 140 Reulecke, Zeitschrift für Stadtgeschichte Stadtsoziologie und Denkmalpflege 1975, 48 ff.; Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (267 ff.). 141 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 54 f. 142 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 565 ff.
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rückzuführen sind. Gewerkschaften wurden ebenso wie die Koalitionsfreiheit staatlich anerkannt, dem folgend Tarifverträge geschlossen und Arbeiter- und Angestelltenausschüsse in größeren Betrieben gegründet.143 Die sich während des Krieges herausgebildete „Veredelung der Klangfarbe“144 der Fürsorge folgte der Annahme privilegierungswürdiger und -unwürdiger Gruppen. Die Unterscheidung wiederum basierte auf dem Grundsatz: Wem durch den Krieg ein „Sonderopfer“ abverlangt wurde, dem soll mehr und Besseres zu Teil werden, als demjenigen, der vom Krieg unabhängig arm und aus sonst keinen tradierten Erwägungen heraus privilegierungswürdig war. Der Deutsche Verein145 sah die drohenden Probleme dieser Privilegierung bereits in den letzten Kriegsjahren deutlich: Konnte eine Differenzierung trennscharf vorgenommen werden? Wer sollte die finanziellen Konsequenzen dieser wohlfahrtsstaatlichen Ausdifferenzierung angesichts des drohenden wirtschaftlichen Kollapses tragen?146 Jene Fragen stellten sich teilweise bereits in den letzten Kriegsjahren – durch die einsetzende Parlamentarisierung – verstärkt dem Reichstag.
II. Die Weimarer Republik 1. Politische und ökonomische Ausgangslage Das Ende des Deutschen Reichs bedeutete für die Weimarer Republik keine „Stunde Null“.147 Nicht nur die Reichswehr führte während der gesamten Zeit der Republik ein weitgehend von Kontinuität geprägtes Eigenleben. Auch der Verwaltungsapparat stand der Weimarer Republik mit seinem professionellen Beamtentum zur Verfügung. Die sog. Weimarer Koalition bestand aus politischen Kräften, denen die politische Mitwirkung im Deutschen Reich weitgehend versperrt wurde. Neben der (M)SPD – die bereits im November 1919 zur Disziplinierung der Revolutionäre beitrug – als Vertreterin der Arbeiter, zählten zu der Koalition die DDP als Vertreterin liberal-demokratischer bürgerlicher Ideen und das der katholischen Lehre verpflichtete Zentrum, das alle poli143 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (267 ff.). 144 Zitiert nach Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 194 f. 145 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. 146 Der Titel der Tagung des Deutschen Vereins aus dem Jahr 1917 lautete „Die öffentliche Armenpflege nach dem Krieg“ 1917; dazu Maier, Zeitschrift für das Armenwesen 1916, 297 ff. 147 Gusy, WRV, S. 17 m. w. N.
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tischen „Klassen“ zu seinem Wählerstamm rechnen konnte. Vermochte es die Koalition 1919 noch rund 76% der Stimmen auf sich zu vereinigen, brach ihr Anteil in der Folgezeit zu Gunsten der radikalen Parteien beider Flügel ein.148 Links die (U)SPD und KPD, verbunden in dem Kampf für eine Räterepublik, rechts die Parteien des Kaiserreichs (DNVP und DVP). Die die Republik tragenden politischen Parteien standen permanent unter dem Druck und dem Terror der radikalen Flügel149 und einer zunehmend instabilen eigenen Mehrheit. Die Berufung auf „das Volk“ als legitimationsstiftende Kraft150, die bereits Kaiser Wilhelm II. für sich nutzen wollte, gelang der Weimarer Koalition immer schlechter, hingen doch nach wie vor weite Teile der Bevölkerung an einem National-Pathos, welches sich insbesondere die rechtsradikalen Parteien in der Folge zu eigen machten. Jenes trug im Selbstverständnis der Republik aber auch zu einer steigenden Inanspruchnahme von Aufgaben und Kompetenzen durch das Reich bei, was Konflikte mit Ländern und vor allem den Kommunen mit sich brachte. Letztere kämpften um den Erhalt ihrer Selbstverwaltung. Neben den Konflikt zwischen den Verwaltungsebenen trat der permanente Vorwurf gegen die Koalition eines angeblichen Verrats, vorgetragen durch die radikalen politischen Kräfte, was eine häufig defensive Haltung der Regierung provozierte. Verrat an der Revolution, am Kaiserreich, am Volk, all dies nicht zuletzt versinnbildlicht durch den Versailler Vertrag, welcher der jungen Republik mit Gebietsverlusten und Reparationszahlungen in immenser Höhe tatsächlich zusätzliche Steine in den demokratischen Weg warf und von geneigter Seite nur allzu bereitwillig gegen die Regierung und das Regierungssystem instrumentalisiert wurde.151 Die Verfassung der Weimarer Republik (WRV) schwächte die parlamentarische Macht partiell außerdem, verlagerte sie doch wesentliche politische Entscheidungen teilweise weg vom Parlament auf das Volk und/oder den Reichspräsidenten. Der vom Volk direkt gewählte Reichspräsident verfügte über ein Notverordnungsrecht, was in der staatlichen Praxis, insbesondere in der Sozialpolitik, eine wesentliche Rolle spielen sollte.152 148
Vgl. umfassend Wirsching, Vom Bürgerkrieg zum Weltkrieg. Attentate auf Rathenau und Erzberger, Kapp-Putsch, Hilter-Putsch. Dazu Gusy, WRV, S. 382; aufschlussreich Sabrow, Die verdrängte Verschwörung; Sabrow, Der Rathenaumord. 150 Gusy, WRV, S. 77 ff. 151 Eingehend bspw. Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik; ders., Weimar – Die wehrlose Republik?; Winkler, Weimar 1918–1933; Wirsching, Vom Bürgerkrieg zum Weltkrieg. 152 Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, S. 50 ff.; Winkler, Weimar 1918–1933, S. 334 ff.; vgl. auch Kersten, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken 149
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Das alles stand nur neben dem dramatischen ökonomischen Erbe, welches das Kaiserreich der Republik hinterließ.153 150 Milliarden Mark Schulden und der Verlust wichtiger Rohstoffe standen einer Halbierung des Volkseinkommens gegenüber. Sechs Millionen Soldaten mussten in die Friedenswirtschaft integriert werden. Die Weltwirtschaft lag am Boden und die bereits im Weltkrieg latente Inflation machte sich mehr und mehr bemerkbar. Politische Maßnahmen zur Geldaufwertung blieben Desiderat. Das Reich sah die Chance zur Reduzierung der Kriegsschulden; die Industrie jene zum Wachstum. Opfer der Inflation war der bereits im Weltkrieg gebeutelte Mittelstand, dessen Sparguthaben, Hypotheken, Kriegsanleihen etc. entwertet wurden. Der Mittelstand wurde so partiell proletarisiert und durchbrach die tradierte, in sich weitgehend abgeschlossene Klassengesellschaft und förderte das sozialrevolutionäre Potenzial neuer Bevölkerungskreise.154 Bis es Anfang 1923 kurzfristig zu einer Stabilisierung kam, stieg die Inflation weiter an und nahm nach der Besetzung des Ruhrgebiets dramatische Züge an. Die Verarmung breiter Bevölkerungskreise drückte sich in verschiedenen Aufständen aus. Der Republik drohte das Chaos.155 Erst die Regierung Gustav Stresemann bekam ab 1924 die Situation wieder besser in den Griff. Der Dawes-Plan156 drückte die Reparationslast und die Rentenmark ersetzte die wertlose Mark. In Zeiten jener relativen Stabilität (1924–1929) tauchte ein Problemfeld auf, welches auch die Reformen der Stresemann-Regierung nicht beheben konnte: Strukturelle Arbeitslosigkeit. Während die Arbeitslosenquote vor dem Krieg bei 2% recht stabil, im Krieg – nach einem extremen Anstieg zu Beginn – bei 1% gehalten werden konnte, stellte sich die Situation in der Republik anders dar. Zumeist lag die Arbeitslosenquote über 10%.157 Neben inflationsbedingten Unternehmenspleiten, setzte zunehmende Rationalisierung durch maschinelle Massenproduktion viele Arbeiter frei. Die konjunkturelle Erholung jener Jahre basierte auf ausländischen Investitionen und nicht auf dem Export oder der Inlandsnachfrage. Die technologisch insgesamt eher rückständige Wirtschaft trug das Übrige dazu bei.158 Auch der durch faktische Enteignung seit dem in der Weimarer Republik, S. 281 ff. und Requarte, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 311 ff. 153 Winkler, Weimar 1918–1933, S. 13 ff.; vgl. Wirsching, Vom Bürgerkrieg zum Weltkrieg, S. 25 ff. 154 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 45 ff. 155 Winkler, Weimar 1918–1933, S. 477 ff. 156 Dazu und zum Folgenden Gusy, WRV, S. 180 ff., 385 ff.; Winkler, Weimar 1918–1933, S. 340 ff. 157 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 73 ff.; Winkler, Weimar 1918–1933, S. 143 ff.
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Weltkrieg gebeutelte Mittelstand fand sich zunehmend in der Arbeitslosenstatistik wieder. Die Ausbreitung von Konzernketten und produktiverer Großindustrie verdrängte den mittelständischen Handel und das Handwerk zunehmend.159 Die sozialen Folgen des Weltkriegs und die kapitalistische Wirtschaftsordnung, unvollendete Revolution und National-Pathos: die Konflikte, denen sich die Republik zu stellen hatte, waren zahlreich und blieben auch für die Sozialpolitik nicht folgenlos. 2. Sozialpolitik a) Verfassungsrechtliche Vorgaben Die WRV statuierte weder eine rein liberale Marktwirtschaft noch eine sozialistische Planwirtschaft; weder eine unmittelbare noch eine parlamentarische noch eine Räte-Demokratie in Reinform. Sie blieb seltsam unentschlossen. Nicht verfassungsunmittelbar, aber in der staatlichen Praxis nahmen Räte wie Arbeiter- und Wirtschaftsräte einen durchaus entscheidenden Einfluss auf politische Wirklichkeit der Weimarer Republik.160 Wie bereits erwähnt, ergänzten, ja verdrängten partiell sogar plebiszitäre Elemente und exekutive Rechtsetzungskompetenz das Parlament aus politischen Entscheidungsprozessen. Fehlende demokratische Tradition und die Abhängigkeit der Republik von den alten, konservativen Eliten des Kaiserreichs in Militär und Verwaltung sowie die Integration und Disziplinierung der Arbeiter und nicht zuletzt die Kompromisshaftigkeit der Weimarer Reichsverfassung insgesamt zeigten sich vor allem in ihrer Wirtschafts- und Sozialordnung. Den Grundsatz bildete die Anerkennung des Privateigentums (Art. 153 WRV), wenngleich Inhalt und Grenzen der gesetzlichen Ausgestaltung unterlagen.161 Daneben spielte die Arbeit eine bestimmende Rolle in der WRV.162 Art. 163 WRV statuierte die Pflicht zur Arbeit bei Arbeitsfähigkeit (Satz 1), flankiert durch ein Recht auf Arbeit (Satz 2). Letzteres wies die objektiv-rechtliche Pflicht zur ausreichenden, staatlichen Arbeitsvermittlung aus, verknüpft mit jener zur Unterstützung der Arbeitsfähigen und Ar158 Zu den Startbedingungen insgesamt s. Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, S. 1 ff.; Pyta, Die Weimarer Republik, S. 50 ff.; Wirsching, Vom Bürgerkrieg zum Weltkrieg, S. 64 ff. 159 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 45 ff.; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 65 ff. 160 Vgl. Wirsching, Die Weimarer Republik, S. 52. 161 Dazu ausführlich Gusy, WRV, S. 344 ff. 162 Gusy, WRV, S. 353.
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beitswilligen im Falle der Arbeitslosigkeit. Unter verfassungsrechtlichem Schutz stand auch die „Arbeitskraft“ (Art. 157 WRV).163 Zusammen mit der Gesetzgebungskompetenz des Reiches aus Art. 7 Nr. 9 WRV wandelte sich der Gesetzgebungsauftrag zur Pflicht, welcher der Gesetzgeber in der Weimarer Republik jedoch nicht nachkam.164 In Art. 159 WRV fanden sich individuelle und kollektive Koalitionsfreiheit.165 Letztere war für die Arbeitsmarktparteien durchaus entscheidend. Jedoch erst die Anerkennung als Tarifparteien und ihrer Abschlüsse (Art. 165 Abs. 1 WRV) brachte ihren sozialpolitischen Einfluss zum Ausdruck. Die individuellen Arbeitsverträge waren damit vielfach kollektivvertraglich überformt und trugen zum Schutz vor Kündigung und Willkür bei,166 bedeuteten aber gleichzeitig auch eine partielle Entstaatlichung der Sozialpolitik, soweit die Anerkennung der Tarifverträge bedingungslos erfolgte.167 Arbeit und Eigentum sowie die Arbeitsmarktparteien waren die prägenden Elemente der Weimarer Wirtschafts- und Sozialordnung und trugen die Synonymisierung von Arbeiterfrage und sozialer Frage in die neue Republik hinein. Die Verfassung ging implizit damit aber auch von weitgehend unveränderten Rahmenbedingungen im Vergleich zum Kaiserreich aus, insbesondere von nahezu Vollbeschäftigung und einer in sich weitgehend abgeschlossenen Klassengesellschaft. Dabei hatte die Republik neue Herausforderungen zu bestehen. Der verarmte Mittelstand und die strukturell hohe Arbeitslosigkeit stellten die tradierten Vorstellung vor eine Bewährungsprobe. Zwar beließ es die Verfassung bei grundsätzlichen Aussagen zur Wirtschafts- und Sozialordnung und überließ damit dem Gesetzgeber Spielraum zur Entwicklung der, den neuen Problemen angemessenen sozialpolitischen Instrumente, doch musste man sich dafür zunächst von tradierten Vorstellung lösen und sozialpolitisch den Wandel der Klassen- zur Massengesellschaft nachvollziehen. Die „Institutionalisierung des Klassenkampfes“168 aus dem Kaiserreich allein taugte jedenfalls nicht, die drängenden sozialpolitischen Probleme in den Griff zu bekommen. Die Integration der Arbeiter beinhaltete nämlich gleichsam die Gefahr eines Integrationsdefizits bei den „neuen Armen“. Die Weimarer Reichsverfassung eröffnete dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für die Wohlfahrtspflege und die Ar163 Vgl. dazu Art. 158 Abs. 1 WRV zum Urheberrecht, welcher das Ergebnis geistiger Arbeit schützt. 164 Gusy, WRV, S. 355 m. w. N. 165 Zu den Streit- und Problemfeldern Bohle, Einheitliches Arbeitsrecht in der Weimarer Republik; Gusy, WRV, S. 356 ff. 166 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 78. 167 Gusy, WRV, S. 357; ausführlich auch Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik. 168 Geiger, Klassengesellschaft; Beckenbach, Industriesoziologie, S. 168.
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menfürsorge sowie für bestimmte Sonderfürsorgebereiche und bürdete ihm so weitgehend die sozialpolitische Normativverantwortung grds. für die gesamten Armen auf (Art. 7 Nr. 5, 7, 11; 9 Nr. 1 WRV)169. Inflations- und Kriegsopfer und das Heer der Arbeitslosen aller Klassen (1924 immerhin fünf Millionen Deutsche) drängten neben den Arbeitern auf sozialen Ausgleich. Dabei verlangten sie – stetig organisierter – nach eigenen Versorgungssystemen jenseits des Stigmas der allgemeinen Armenfürsorge. Sie alle nahmen für sich die Privilegierungswürdigkeit ihrer Armutsgründe in Anspruch und forderten sie ein. Die Nichterfüllung ihrer Forderungen wiederum drohte sie weg von den demokratischen und hin zu den radikalen Parteien zu treiben. Dem standen leere Kassen und eine marode Wirtschaft gegenüber. Dieses Dilemma galt es in der Folge sozialpolitisch zu lösen. Die allgemeine Armenfürsorge war traditionell eine Domäne der Kommunen.170 Normative Verantwortung konnte das Reich zwar übernehmen, tat dies aber vor allem durch sehr grundsätzliche und eher leitbildartige Vorgaben. Konkret wurden Regelungen auf Reichsebene im Wesentlichen nur dort, wo sie unabdingbar waren wie bei der Frage nach dem Unterstützungswohnsitz. Ansonsten konzentrierte sich das Reich bislang eher darauf, eigene, privilegierende Fürsorgesysteme zu schaffen, zu finanzieren und zu organisieren. Allenfalls wurden die Kommunen hier in die Exekutive hierarchisch eingebunden. Die Erfüllung der Reichsgesetze oblag nach Art. 14 WRV den Ländern. Der mögliche Einfluss des Reichs war über Art. 15 WRV aber ausgeprägt, ihm wurde hierüber eine umfangreiche Weisungsbefugnis eröffnet. Den Kommunen wurde im Rahmen der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung zugestanden (Art. 127 WRV). Beides stand unter einfachem Gesetzesvorbehalt. Dem Reich wurde nahezu unbegrenzt ermöglicht, Kompetenzen an sich zu ziehen oder Verwaltung entscheidend zu lenken. b) Sozialpolitik in der wissenschaftlichen Diskussion Die sozialpolitische Debatte der Kriegs- und Nachkriegszeit war in der Wissenschaft von Orientierungssuche geprägt. Zum einen differenzierten sich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften weiter aus und die Sozialpolitik suchte sich als eigenständige Disziplin auch begrifflich zu konturieren.171 169 Hierbei handelte es sich um eine sog. „Bedarfs-Kompetenz“. Die Feststellung eines Bedürfnisses oblag dabei dem Reich und galt nach damals nahezu allgemeiner Auffassung als nicht-justiziabel. Vgl. BVerfGE 1, 264 (272); Gusy, WRV, S. 237. 170 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (278). 171 Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 80 ff.
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Zum anderen standen ihre Protagonisten vor einer veränderten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ausgangslage. Das Fundament des 19. Jahrhunderts, auf welchem sozialpolitische Strategien untersucht und entwickelt wurden, existierte vielfach nicht mehr, zumindest nicht mehr in der bekannten Form. Die Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts warf eigene, teilweise völlig neue Fragen auf und verlangte nach adäquaten Antworten. Die enge Verknüpfung, ja faktische Synonymisierung von Arbeiterfrage und Sozialpolitik schien zu eng. Während die Arbeiter im und nach dem Krieg, insbesondere durch den steigenden politischen Einfluss der Sozialdemokratie, Entscheidendes zur Verbesserung ihrer sozialen Lage erreichen konnten, drohte anderen, insbesondere dem mittleren Bürgertum der soziale Abstieg. Wirtschaftliche Krisen – und von denen hatte die Weimarer Republik nicht wenige auszuhalten – trafen außerdem beinahe alle gesellschaftlichen Klassen nahezu gleichermaßen. Die tradierte Klassifizierung der Gesellschaft schien für die Republik nicht ohne Weiteres tauglich. So suchte die wissenschaftliche Debatte nach Orientierung und musste sich dazu begrifflich neu aufstellen.172 Das 19. Jahrhundert fiel durch eine insgesamt konstant eher niedrige Arbeitslosenquote und ein weitgehend gleichmäßiges Wirtschafswachstum auf. Sozialpolitik organisierte Umverteilung und Ausgleich somit innerhalb weitgehend fester Parameter. In der Weimarer Republik hingegen schwankten jene Faktoren gravierend173 und zusammen mit Soziallasten aus dem Krieg und dem Phänomen struktureller Arbeitslosigkeit stellte sich bereits für Heinrich Herkner die Existenzfrage tradierter Sozialpolitik. In Zeiten von Inflation, Rezession und konstant hoher Arbeitslosigkeit betonten viele – auch der Gründungsväter des Vereins für Socialpolitik174 – die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuorientierung. Herkners Position, zuerst die Wirtschaft zu stabilisieren und ihren Erfordernissen gerecht zu werden, also die wirtschaftliche Lage als Grundvoraussetzung für das sozialpolitische Engagement des Staates zu begreifen, gewann viele Anhänger. Diese ökonomisch determinierte Position verdrängte den Kathedersozialismus,175 warf selbst aber mehr Fragen auf als sie zu beantworten. Zumeist blieb es bei der Feststellung einer Krise von Wirtschaft und Sozialpolitik, verbunden mit einer Kritik an (zentral)staatlich ausgerichteter, öffentlicher Sozialpolitik und der Forderung, die Sozialpolitik müsse in die Unternehmen hereingetragen werden.176 172
Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 79 ff. Gusy, WRV, S. 180 ff., 372 ff.; Winkler, Weimar 1918–1933, S. 408 ff. 174 s. o. Kapitel 2 C. 175 Leubuscher, Heinrich Herkner als Sozialpolitiker; Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 80 ff. 176 Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 81 ff.; Briefs, Zur Krisis, S. 14. 173
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Der Sozialdemokratie fiel der Nachvollzug jener Entwicklung unweit schwerer. Zum einen war sie ihrer eigenen Herkunft – der Arbeiterbewegung – verpflichtet. Zum anderen war sie die einzige Partei, welche zumindest große Teile der Arbeiterbewegung demokratisiert hatte und in der Demokratie hielt. Bereits in der Verfassung zeigte sich, freilich durch Kompromisse durchsetzt, der stark an der Lohnarbeit orientierte sozialpolitische Ansatz der Sozialdemokraten.177 In der praktischen Politik zeigten sich die Sozialdemokraten reformistisch,178 ohne aber offensichtlich einem klaren reformistischen Leitbild zu folgen. Vielmehr prägte die hektische wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung sowie vielfältige Kompromisse mit den Koalitionspartnern den politischen Alltag. Die der Sozialdemokratie nahestehenden Wissenschaftler wiederum erlagen vielfach ebenfalls der Gefahr, überkommene Vorstellungen und Leitbilder des 19. Jahrhunderts und damit des Kaiserreichs auf die demokratische Republik übertragen zu wollen. Hugo Sinzheimer bspw. trug maßgeblich zur Entwicklung der heutigen arbeitsrechtlichen Dogmatik bei, setzte Sozialpolitik und Arbeiterpolitik aber nach wie vor weitgehend gleich, hielt also die neuen Armen aus der sozialpolitischen Debatte heraus. Fritz Naphtali wiederum konzentrierte sich vordringlich auf die Rolle der Gewerkschaften und auf die Demokratisierung der Wirtschaft, wiederum beinahe ausschließlich aus der Perspektive der Arbeiter.179 Allein Hermann Heller nahm den modernen Verfassungsstaat als Ausgangs- und Bezugspunkt seiner sozialpolitischen Analysen. Rechtssicherheit sei die Legitimationsgrundlage des Verfassungsstaates;180 diese Rechtsstaatlichkeit wiederum an die normativen Vorstellungen der sozialen Kräfte einer Gesellschaft gebunden und der normative Gehalt der Rechtsstaatlichkeit sei dabei die „soziale Idee“181, welche die Klassen und Stände zu beseitigen suche und den „reinen Rechtsstaat zum demokratisch-sozialen Wohlfahrtsstaat“ umwandele.182 Jenseits breiter Kritik an dieser Auffassung und wenngleich „Hellers Stärke mehr in der Analyse“183 als in der Darbietung praktischer Alternativen gelegen haben mag, ist ihr Einfluss auf den heutigen sozialen Rechtsstaat der Bundesrepublik nicht zu verkennen und vor allem nicht zu unterschätzen. 177
Art. 165 (Arbeiterräte); Art. 156 (Vergesellschaftung, Gemeinwirtschaft). Dazu und zum Folgenden Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 87. 179 Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 92 ff. 180 Hierzu und zum Folgenden Albrecht, Hermann Heller, S. 190 ff.; Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 95 ff. beide m. w. N. 181 Heller, Grundrechte und Grundpflichten, in: ders. (Hrsg.), Schriften, S. 281 (291). 182 Damit ging er klar in Opposition zu Kelsens reiner Rechtslehre. 183 Albrecht, Hermann Heller, S. 197, m. w. N. auch zu divergierenden Auffassungen. 178
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Kap. 2: Die historische Perspektive
Die katholische Soziallehre und ihre politischen Vertreter (Zentrum) blieben ihren Vorstellungen rund um den Grundsatz der Subsidiarität aus dem 19. Jahrhundert treu. Dies galt zumindest für die überwiegende und praktisch relevante „Mönchengladbacher Schule“. Demgegenüber arbeitete die romantisierende „Wiener Schule“ auch sozialpolitisch mit einem ständestaatlichen Modell. Zwar unterlagen jene Grundsätze religionstypisch keiner evolutionären Offenheit, doch erhielten sie in der Weimarer Republik erstaunliche praktische Relevanz. c) Sozialpolitik in Aufbau- und Stabilitätsphase Die beschriebenen Entwicklungen führten insgesamt zu einer Politisierung des Sozialen.184 Das galt nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern besonders auch für den Katholizismus. Während der „Staatsprotestantismus“ durch die Abschaffung der Monarchie politischen Einfluss verlor, galt Gegenteiliges für den Katholizismus und seine Soziallehre, dessen politische Vertretung das Zentrums darstellte. Ihre Soziallehre, die im Kaiserreich intensiv erarbeitet wurde,185 konnte nun praktisch umgesetzt werden. In geradezu beispielhafter Weise verkörperte dies Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns (Zentrum), der in acht Dienstjahren (1920–1928) elf Regierungswechsel überdauerte und mit dem Beinamen „Heinrich der Wertbeständige“ versehen wurde.186 Die Sozialpolitik der Weimarer Republik kann gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Arbeitsschutz (Art. 7 Nr. 9 WRV), Armenfürsorge (Art. 7 Nr. 5 WRV), Sonderfürsorge (Art. 7 Nr. 7 und 11 WRV) und Wohlfahrtspflege (Art. 9 Nr. 1 WRV) unterteilt werden. Im Bereich des Arbeitsschutzes wurden insbesondere durch Tarifverträge deutliche soziale Verbesserungen der Arbeiter im Hinblick auf Kündigungsschutz, Arbeitsbedingungen und Lohnhöhe erreicht. Die kommunale Armenfürsorge blieb als unterstes soziales Netzt inhaltlich, organisatorisch und exekutiv weitgehend unangetastet. Das UWG galt weitgehend fort. Die organisatorischen Vorgaben (Lieferungsverbände, Ortund Landesarmenverbände) wurden übernommen. Für Erfüllung und Finanzierung blieben die Kommunen zuständig. Das Reich hatte seine sozialpolitischen Aktivitäten vor allem auf eine allmähliche Ausdifferenzierung der Fürsorge bzw. wohlfahrtsstaatlicher Leistungssysteme konzentriert. Bis 1923 gingen die Initiativen für die Neuausrichtung der staatlichen Sozial184 185 186
Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 79 ff. So vor allem die JZ 1977, dazu Reis, JZ 1977, 37 ff. Anonymus, Hindenburg, S. 51.
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politik weitgehend von den Ländern aus.187 Die Landesgesetzte zur Wohlfahrtspflege188 stellten zunächst primär einen organisatorischen Rahmen auf, teilten die Länder in Pflegebezirke ein und verpflichteten die Bezirke zur Erfüllung der Pflegeleistungen durch Wohlfahrtsämter.189 Einzige inhaltliche Vorgabe war, dass die Grundsätze der Armenfürsorge auf die Wohlfahrtspflege keine Anwendung fanden.190 Erst 1924 begann das Reich seine gesetzgeberischen Aktivitäten durch die sukzessive Etablierung von Sonderfürsorgesystemen für Kriegs- und Inflationsopfer, die sich an der Differenzierung der Kriegszeit orientierten. In der Folge bildete sich eine schwer überschaubare Anzahl von Sondersystemen heraus, die zumeist alle organisatorisch getrennt erfüllt wurden und auf unterschiedlichen sozialpolitischen Gesetzgebungskompetenzen fußten. So entstanden Kriegsopferfürsorge, Rentnerfürsorge, Kinder- und Jungendfürsorge, Gesundheitsfürsorge, Wohnungsfürsorge191 und Erwerbslosenfürsorge und -vermittlung. Hier interessant ist der zuletzt genannte Bereich, der sich zeitlich zweiteilen lässt. Bis 1923 blieb die Erwerbslosenfürsorge primär kommunale Angelegenheit. Auch die normativen Vorgaben des Reichs waren eher grds. Art. Die Verordnung über Erwerbslosenfürsorge vom 13. November 1918192 zielte zunächst auf die Bewältigung der Kriegsfolgen und flankierte das Stinnes-Legien-Abkommen, wodurch die heimkehrenden Soldaten Anspruch auf Widererlangung ihres letzten Arbeitsplatz erhielten. Anspruch auf die Erwerbslosenfürsorge hatte nur, wer als Folge des Krieges erwerbslos war. Dabei beschränkte sich die Verordnung zunächst auf grundlegende inhaltliche (Leistungen konnte nur beziehen, wer über 16 Jahre alt, arbeitswillig und arbeitsfähig war) und organisatorische Regelungen (von der allgemeinen Fürsorge getrennte Leistungserbringung) und auf die Regelung der finanziellen Lastenverteilung. Danach trugen die Kommunen ein Sechstel, das Reich drei Sechstel und die Länder zwei Sechstel der Kosten. Die Kommunen hatten die Unterstützungshöhe weitgehend selbst festzulegen, sie durften aber die Höhe eines üblichen Ortslohns nicht unterschreiten, so dass die Leistungshöhe überwiegend großzügig und bedarfsdeckend war. Die Erwerbslosenfürsorge erschien eher als Versorgungs- denn als traditionelle Fürsorgeleistung.193 187
Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 87. Vgl. allein jenes des Königreichs Sachsen vom 30. Mai 1918, GVBl 1918, S. 145. 189 Wie die Säuglings- und Kleinkinderpflege oder die Tuberkulose- und Krüppelhilfe. 190 RGBl I 1919, S. 19. 191 Zu den einzelnen Leistungen eingehend Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 89 ff., 92 ff., 99 ff., 114 ff., 138 ff. 192 RGBl I 1918, S. 1305 ff. 188
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Kap. 2: Die historische Perspektive
Angeschoben durch das zunehmend strukturelle Problem der Arbeitslosigkeit wurde die Verordnung in der Folgezeit immer wieder geändert, bis 1923 die Erwerbslosenfürsorge schließlich grundlegend reformiert wurde. 1919 deckelte das Reichsarbeitsministerium die Leistungshöhe, 1920 die Leistungsdauer auf 26 Wochen innerhalb von 12 Monaten.194 Die Integration in den Arbeitsmarkt wurde zum vorrangigen Ziel der Erwerbslosenfürsorge bestimmt. In der Exekutive kam vor allem den kommunalen Arbeitsnachweisen eine entscheidende Bedeutung bei der Arbeitsvermittlung zu. Im Laufe der Jahre 1918–1920 wurde deren Bedeutung auch vom Reichsarbeitsministerium noch verstärkt.195 Die Ausbreitung kommunaler Arbeitsnachweise verlief dabei insgesamt recht unkoordiniert, was zu einer wenig bedarfsorientierten Verteilung führte und häufig zu einer vernachlässigten überregionalen Vermittlungsperspektive.196 Durch die Gründung des Reichsamts für Arbeitsvermittlung am 1. Januar 1920, noch als Abteilung des Reichsarbeitsministeriums, sucht man dieses Problem zu beheben.197 Während das Reichsamt zunächst koordinativ auftrat, wurde seine Position in der Folgezeit stärker. Durch das Gesetz über den Arbeitsnachweis vom 22. Juli 1922198 erhielten die kommunalen Arbeitsvermittlungen und diejenigen der Länder199 durch die nunmehr selbstständige höhere Reichsbehörde einen Verwaltungsüberbau auf Reichsebene. Die Zahl kommunaler Arbeitsnachweise reduzierte sich und die Kommunen wurden in die staatliche Arbeitsverwaltung organisatorisch eingliedert. Arbeitsvermittlung wurde entkommunalisiert und zur Staatsaufgabe umgewidmet. Aufgrund eines Ermächtigungsgesetzes wurde die Erwerbslosenfürsorge durch Verordnung vom 15. Oktober 1923200 zur Arbeitslosenfürsorge umgewandelt und damit ein entscheidender Schritt in Richtung Versicherung getan. Zwar blieb der Leistungsbezug kriegsfolgen- und bedarfsabhängig, jedoch wurden Finanzierung und Organisation neu ausgerichtet. Die Arbeits193 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (297 ff.). 194 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 94 ff.; Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (297 ff.). 195 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 110 ff. 196 Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 277 ff.; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 111. 197 RGBl I 1920, S. 876 ff. 198 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 110. 199 Die kommunalen Arbeitsnachweise wurden bereits 1918 zur Koordination durch Landesämter ergänzt. Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 110 ff. 200 RGBl I 1924, S. 984 ff.
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losenfürsorge wurde zumindest teilweise durch Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert, der Rest wurde durch staatliche und kommunale Zuschüsse aufgefüllt. Außerdem suchte man, angesichts der auf hohem Niveau stagnierenden Erwerbslosenzahlen, die Kosten durch Exklusion bestimmter Gruppen zu erreichen. Der Bezug von Arbeitslosenfürsorge setzte nun voraus, dass der Betroffene eine dreizehnwöchige ununterbrochene Beschäftigung in einem krankenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis nachweisen konnte. Angestellte, Selbstständige und Freiberufler fielen somit von vorneherein regelmäßig der allgemeinen kommunalen Armenfürsorge, selten Systemen staatlicher Wohlfahrtspflege zur Last. Daneben galt Gleiches nach Ablauf der regelmäßig 26wöchigen Bezugsdauer, was insgesamt einen gravierenden Anstieg der kommunalen Finanzbelastung bedeutete. Die folgende Auseinandersetzung zwischen Reich und Kommunen über die Kosten der Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit führte 1926 zur Reichs-Krisenfürsorge, welche die aus der Arbeitslosenfürsorge ausgesteuerten (Dauer-)Arbeitslosen auffing und hinsichtlich der Kosten zu drei Vierteln vom Reich getragen wurde. Organisatorisch wurde die Arbeitslosenfürsorge in die – nunmehr verstärkt staatlichen – Arbeitsnachweise eingegliedert. Am 1. Oktober 1927 schließlich trat das AVAVG in Kraft201 und ersetzte die Arbeitslosenfürsorge endgültig durch die Arbeitslosenversicherung. Die Krisenfürsorge wurde als Auffangsystem ins AVAVG aufgenommen und bedeutete nach Ablauf der Bezugszeit von Arbeitslosengeld einen wiederum 26wöchigen Bezug von Leistungen der Krisenfürsorge. Anschließend fielen die Betroffenen der allgemeinen kommunalen Armenfürsorge zu. Die zunehmende Dauerarbeitslosigkeit verlagerte so das Kostenproblem immer weiter zu den Kommunen, was wiederum zu erheblichen Diskussionen über die Kosten von Arbeitslosigkeit zwischen ihnen und dem Reich führte. Zersplitterung in einzelne, nach Privilegierungsgründen hierarchisierende Wohlfahrtspflege- und Fürsorgesysteme und ihre diffuse finanzielle und organisatorische Ausgestaltung löste bereits Anfang der 1920er Jahre eine wesentlich vom Deutschen Verein angestoßene, umfangreiche Reform-Debatte aus.202 Am 25. Juli 1922 verabschiedete sich der Staat endgültig von den vor allem ordnungsrechtlichen Wurzeln der Fürsorge, durch die Zuständigkeitsverlagerung vom Reichministerium des Inneren (RMdI) auf das Reichsarbeitsministerium (RAM). Jenseits primär symbolischer Akte wurde ein umfassendes Reformkonzept diskutiert, dass im RAM ausgearbeitet wurde. Eckpunkte jenes Konzepts waren die Abschaffung des UWG und seiner freiheitsbeschränkenden Wirkung und die Etablierung des Aufent201 202
RGBl I 1927, S. 187 ff. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 80 ff.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
haltsprinzips; Zusammenlegung der einzelnen wohlfahrtsstaatlichen und fürsorgerechtlichen Pflegesysteme, welche die Betroffenen aufgrund „besonderer Dienste“ unterstützen sollten und der allgemeinen Armenfürsorge, die Hilfebedürftige „kraft Daseins“ versorgte. Der Reichstag ermächtigte die Reichsregierung durch Gesetz vom 8. Oktober 1923 Maßnahmen zu treffen, welche die „Not von Volk und Reich“ linderten. Am 13. Februar 1924 erließ die Reichsregierung die „Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht“ (RFV).203 Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege wurden organisatorisch zusammengefasst (Fürsorge), für ihre Erfüllung leistungsfähigere Verbände zugeschnitten und vor Ort Wohlfahrtsämter, die „Zahlstellen“ der gesamten Fürsorge waren (One-Stop-Agency), eingerichtet. Außerdem wurde das Aufenthaltsprinzip eingeführt. Leistungen mussten also nicht am Wohnort erbracht werden, sondern am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts. Außerdem vereinheitlichte die Reichsverordnung die Wohlfahrtspflege und die Armenfürsorge bzgl. der Kostentragung. Inhaltlich hierarchisierte die Fürsorge jetzt immanent: Den Grundstock der Hilfe bildete die frühere Armenfürsorge. Darin enthalten waren all diejenigen, die „kraft ihres Daseins“ hilfebedürftig waren. Jene denen ein Sonderopfer abverlangt wurde, konnten Zulagen und Sonderleistungen erhalten. Daneben schrieb § 5 RFV der freien Wohlfahrtspflege eine besondere Bedeutung zu. Wo Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege bestanden, sollten keine Wohlfahrtsämter eingerichtet werden (Subsidiarität). Hierin kommt der sozial-katholizistische Hintergrund des von Brauns geführten RAM deutlich zum Vorschein. Die Trias der Armenfürsorge/Wohlfahrtspflege aus Privaten, Kirche und öffentlicher Hand entwickelte sich durch die „Privatisierung“ der kirchlichen Wohlfahrt im Wege der Vereinsgründungen im 19. Jahrhundert bereits weitgehend zum Dualismus von privater und öffentlicher Fürsorge. Durch die „Institutionalisierung“ im Wege der Einbeziehung in die staatliche Aufgabenerfüllung verschränkten sich wiederum beide Träger. Der Einfluss der katholischen Soziallehre auf die Sozialpolitik der Weimarer Republik zeigte sich auch 1925, als die „Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art, und Maß der öffentlichen Fürsorge“ (RGr)204 in Kraft traten. Bis dato oblag deren Ausgestaltung, mangels Bestimmungen im RFV, den zuständigen Wohlfahrtsverbänden. § 1 RGr normierte dabei einen bis heute weitgehend erhaltenen Grundsatz der Sozialhilfe, respektive der Grundsicherung: Hilfe zur Selbsthilfe. Die Fürsorge gewährte das, was zum 203
RGBl I 1924, S. 100 ff. Gesetz vom 4. Dezember 1924, RGBl I 1924, S. 765; geändert am 1. August 1931 RGBl I 1931, S. 441 ff. 204
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Lebensunterhalt notwendig war, sollte den Hilfebedürftigen aber primär in die Lage versetzen, später von staatlicher Fürsorge unabhängig zu leben. Im Übrigen schrieben die RGr die Binnenhierarchisierung der Fürsorge fest. Sie unterschieden vier Gruppen: Die Bedürftigen „kraft Daseins“, die das zum Lebensunterhalt Notwendige erhielten; die Klein- und Sozialrentner (§§ 14, 16 RGr) sowie die Kriegsopfer (§§ 18, 20 RGr), denen gehobenere Fürsorgeleistungen zu Teil wurden und die Arbeitsscheuen (§ 13 RGr), denen nur „das zur Fristung des Lebens Unerlässliche“ zustehen sollte. Zunehmend begann auch eine Debatte über die Einführung staatlicher Richtsätze und über die – bisher von der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Wohlfahrtsverbände abhängigen – Höhe der zu gewährenden Hilfe. Ausgangspunkt der parlamentarischen Diskussion war die Vereinheitlichung der privilegierten Fürsorge. Hier wollte insbesondere die SPD-Fraktion einen Richtsatz einführen, durch den ein Abstand zur Grundfürsorge festgeschrieben werden sollte. Ein Abstandsgebot dieser Art fand sich schließlich ab 1925 in § 33a RGr. Danach sollte der Richtsatz der gehobenen Fürsorge ein Viertel über demjenigen der normalen Fürsorge liegen. Die Festsetzung jener Richtsätze erfolgte durch die Kommunen und führte insgesamt zu einem Leistungsanstieg. Insbesondere erwies sich die Erhöhung der Regelsätze vor kommunalen Wahlen als erfolgsversprechender Faktor der regierenden Parteien vor Ort.205 Die Finanzbelastung der Kommunen im Zusammenhang mit der staatlichen Sozialpolitik stieg schon seit der Erzbergerschen Finanzreform (1920) rapide an. Sie entzog den Kommunen das Recht, einen erheblichen Aufschlag auf staatliche Steuern zu erheben, um damit ihre Aufgaben finanzieren zu können. Seit 1920 waren die Kommunen auf staatliche Geldzuteilungen angewiesen, die angesichts steigender Soziallasten immer weniger den kommunalen Bedarf deckten.206 Die Auseinandersetzungen zwischen Reich und Kommunen über die Ausgestaltung des Fürsorgewesens war wesentlich ein solcher über die Finanzierungslast und wurde in der gesamten Zeit der Weimarer Republik nie vollends befriedigend gelöst. Über § 18 RGr blieben die Kommunen zwar Akteure im Bereich der Arbeitsvermittlung, nämlich spezifisch für den Kreis der Fürsorgeempfänger. Im Übrigen wurde die Arbeitsvermittlung aus dem Bereich kommunaler Selbstverwaltung ausgegliedert. Für den Bereich der Fürsorge gilt das nur teilweise. Durch die verstärkte staatliche Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenzen in diesem Bereich und auch durch die verstärkten organisatorischen Vorgaben war zwar eine Zentralisierung der Fürsorge fest205
Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 184. Dazu ausführlich Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 185 ff. 206
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stellbar und damit war notwendig auch ein Verlust kommunaler Verantwortung verbunden. Allerdings blieb ihnen durchaus relevanter Spielraum bei der Aufgabenwahrnehmung erhalten. d) Sozialpolitik in der Krise In Zeiten relativer Stabilität (1924–1929), als ausländische Investitionen Modernitätsdefizite der deutschen Wirtschaft auffangen konnten, wurden Streitigkeiten um die Sozialpolitik des Reiches weitgehend latent gehalten. Die Löhne stiegen ebenso wie die Produktivität. Doch brachen die schwelenden Konflikte und Strukturdefizite der Weimarer Republik in der Weltwirtschaftskrise heraus. Insbesondere der Abzug ausländischen Kapitals führte zu einem Einbruch von Produktivität und Wachstum der Wirtschaft. Die Arbeitslosenzahlen stiegen extrem an. 1929 waren 1,8 Mio. Menschen ohne Arbeit (6,3% der abhängigen Erwerbspersonen), 1932 waren es 5,6 Mio. Menschen oder ca. 30% der abhängigen Erwerbspersonen.207 Das hochdifferenzierte und auf die Lohnarbeit ausgerichtete System sozialer Sicherheit in der Weimarer Republik konnte die Entwicklung nicht verkraften, entzog sie ihm doch das finanzielle Fundament. Leistungskürzungen, weiter voranschreitende Einschränkung der Selbstverwaltung, Schwächung der Rechtsposition der Betroffenen waren die staatlichen Reaktionen.208 Mit dem Zusammenbruch der Weimarer Koalition bemühte man sich wenig um ohnehin schwer denkbare parteipolitische Kompromisse, sondern setzte vielmehr wiederum auf das „Weimarer Präsidialregime“209. Die auf Art. 48 WRV gestützten Notverordnungen wurden zur Regel staatlicher „Gesetzgebung“ und lösten das Parlament in seiner Funktion weitgehend ab.210 Im Laufe der Krisenjahre senkte man die Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung sowie der Krisenfürsorge, hob die Beitragssätze und die Wartezeiten gleichzeitig an, so dass die Belastung der Kommunen im Rahmen der allgemeinen Armenfürsorge erheblich anstieg. Die Bewältigung der Wirtschaftskrise ging im Wesentlichen zu Lasten der Kommunen durch die Aussteuerung aus weitgehend staatlich finanzierten Sicherungssystemen. Daneben näherte sich die Arbeitslosenversicherung der Fürsorge an und 207 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 110 ff.; vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 184 ff. 208 Von einer Krise der Selbstverwaltung in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts spricht Köttgen, Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung. 209 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 7, S. 731 ff. 210 Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, S. 50 ff.; Winkler, Weimar 1918–1933, S. 334 ff.
E. Sozialpolitik im NS-Staat
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verlor zunehmend ihren Versicherungscharakter. Die Bedarfsprüfung wurde mehr und mehr zur Bezugsvoraussetzung aller sozialer Sicherungssysteme. Damit endete partiell zugleich die im 19. Jahrhundert hart erkämpfte Privilegierung der Arbeiter. Der Ton in der sozialpolitischen Debatte wurde insgesamt schärfer. Die Versicherungslösung produziere Probleme, löse sie aber nicht, so eine verbreitete Auffassung. Die Krankenversicherung führe zur „Verweichlichung“ und „moralischen Entartung“ und die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung sei ein Bürokratiemoloch.211 Im Verlauf der Wirtschaftskrise machten sich auch immer mehr konservative Politiker diese Argumente zu eigen. Neue Leitmotive griffen in der Sozialpolitik Platz. Das hierarchische Fürsorgesystem der Weimarer Republik wurde zwar beibehalten, folgte aber anderen Kriterien. Es tauchten vermehrt Begriffe wie „Rassenhygiene“ und „kranker Volkskörper“ in den Debatten auf und machten die nationalsozialistische Terminologie salonfähig.212
E. Sozialpolitik im NS-Staat Die Tendenzen der letzten Weimarer Krisenjahre zu Gunsten einer Überbetonung des Völkischen und Rassischen pervertierte schließlich der nationalsozialistische Staat, dessen auch sozialpolitisches Programm Resultat eines geistigen Wandels war, der sich bis in weite Kreise der etablierten Politiker hineintrug.213 Die NSDAP selbst hatte bis 1933 zwar nicht die absolute Mehrheit im Parlament, vertrat aber bereits zahlreiche zumindest mehrheitsfähige Positionen. In der Krise der Weimarer Republik versagten die sie tragenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte. Wenngleich die Gegner der scheinbar so erfolglosen Republik äußerst heterogene Ziele verfolgten – Monarchie, Diktatur, Räterepublik, etc. – einte sie zumindest die Ablehnung der parlamentarischen Republik.214 Der fehlende Basiskonsens über den weiteren Weg eröffnete den vielfach unterschätzten Nationalsozialisten spätestens durch das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 „legal“ mit Zustimmung des 211 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 3; Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 118 ff. 212 Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 118 ff. 213 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (308 ff.). 214 Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik; ders., Weimar – Die wehrlose Republik?; Winkler, Weimar 1918–1933; Wirsching, Vom Bürgerkrieg zum Weltkrieg.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
Reichstags die umfassende Machtübernahme.215 Dabei „einte“ den Großteil der im Reichstag vertretenen Parteien nicht nur die versammelte SA oder die Ablehnung der Republik, sondern zumindest vielfach auch das Ziel der einheitlichen Volksgemeinschaft. Für die Nationalsozialisten gehörte zu diesem Volk jedoch zunächst nur, wer rassisch rein war und sich an ihm verdient gemacht hatte. Dem folgend richtete sich auch die Sozialpolitik aus. Rassenzugehörigkeit und der Dienst am Volk wurden zur Voraussetzung privilegierter Unterstützung. Die Fürsorgepraxis änderte sich darüber hinaus kaum. Sie wurde auch stetig weniger bedeutsam. Der sich ebenfalls schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik abzeichnende Rückgang der dramatisch hohen Arbeitslosenzahlen schritt mit hohem Tempo voran. Die Soziallasten, welche die Kommunen drückten, nahmen ab. Der NS-Staat setzte auf zentralistische Eingriffe in den Arbeitsmarkt und flankierte die zunehmend bessere Konjunktur mit öffentlichen Arbeitsprogrammen und -aufträgen, insbesondere an die Rüstungsindustrie. Konflikte entstanden vor allem durch die weitgehende Verstaatlichung der privaten Wohlfahrt. Der Protest der Kirchen und ihr Rückhalt in der Bevölkerung veranlasste Hitler erst 1941 im Rahmen der „Stoppverordnung“216 dieser Praxis entgegenzuwirken. Die Sozialversicherung blieb im Wesentlichen erhalten. Sie breitete ihren Versichertenkreis partiell sogar aus,217 die Selbstverwaltung der Versicherungen wurde allerdings beendet, Sozialwahlen abgeschafft und die Sozialversicherung wurde dem Reichsarbeitsministerium unterstellt.218 Jüdische Beamte oder solche mit „feindlicher“ politischer Gesinnung wurden abgesetzt, entsprechenden Ärzten die Kassenzulassung entzogen.219 Die Gewerkschaften gingen in der Deutschen Arbeiterfront (DAF) unter der Leitung Robert Leys auf und damit wurde die Tarifautonomie faktisch beendet. Staatliche Treuhänder traten an die Stelle der tradierten Arbeitsmarkt215 RGBl I 1933, S. 141 ff. Bis auf die SPD-Fraktion stimmten alle Abgeordneten dem Gesetz zu. Offene Widerrede wagte in der parlamentarischen „Debatte“ nur Otto Wels, damaliger SPD-Parteivorsitzender. Er grüßte die „Verfolgten und Bedrängten“. Während die Krolloper (Versammlungsraum des Reichtags nach dem Brand im Reichstags-Gebäude) von SA-Schergen besetzt war, tobte im Land bereits länger anhaltend eine Verfolgung und Internierungswelle gegen politische Gegner. 216 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 3, S. 97 ff.; Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (323) m. w. N. 217 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (317 ff.). 218 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 3, S. 57 ff.; Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (325). 219 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (319).
F. Sozialpolitik in der BRD
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parteien. Auch hier also ging die gesellschaftliche Anbindung der Sozialpolitik zu Gunsten des Staates immer weiter zurück.
F. Sozialpolitik in der BRD I. Politische und ökonomische Ausgangslage Freilich mangelte es an Gründungshypotheken und insbesondere sozialpolitischen Schwierigkeiten zu Beginn der Bundesrepublik trotzdem nicht. Industrie und Infrastruktur waren entscheidend zerstört, das besiegte Deutschland in Zonen aufgeteilt worden und es wurde mit Demontage und Entnazifizierung, regional und temporär unterschiedlich ausgeprägt, begonnen. Die am Boden liegende Wirtschaft und der „entfernte“ Staatsapparat verlangten nach Wideraufbau, der aber nicht bei „Null“ anfangen musste. So sehr Zerstörung und Neuanfang ganz offensichtlich hervortraten, verhinderten zahlreiche dahinter liegende Konstanten und Kontinuitäten weitgehend die Entstehung von Chaos und Vakuum. Dies galt auch für die Sozialsysteme, insbesondere für die Sozialversicherung. Entgegen ersten Vorstößen der Alliierten zur Errichtung einer Volksversicherung, blieb es bei dem tradierten, nach Risiken aufgeteilten Bismarckschen Modell.220 Gesellschaftlich stand Deutschland nicht wie nach anderen Kriegen entvölkert da, war also auch nicht mit den damit verbundenen sozialpolitischen Problemen konfrontiert. Im Gegenteil: Die Bevölkerungszahl überschritt diejenige der Vorkriegszeit.221 Das war allerdings in erster Linie Ausdruck der Fluchtund Vertreibungswelle aus dem Osten in den ersten Nachkriegsjahren und brachte eigene sozialpolitische Herausforderungen mit sich:222 Zerstörter Wohnraum musste rasch ersetzt, Arbeitsplätze mussten geschaffen und die Versorgung musste sichergestellt werden. Die Arbeitslosenquote jener Zeit lag bei ca. 35%. Der Schwarzmarkt blühte und körperlich belastbare Männer für den Wiederaufbau fehlten.223 Die öffentliche Fürsorge und Arbeitsvermittlung lag danieder. Das Reichsarbeitsamt und die Landesarbeitsämter existierten nicht mehr. So 220
Ritter, Sozialstaat, S. 89. Den Begriff „Zusammenbruchgesellschaft“ für zutreffend hält Wengst, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 2/1, S. 1 (49 ff.) mit dem Verweis auf Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, S. 37. 222 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 343. 223 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 350; vgl. Wengst, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 2/1, S. 1 (54 ff.). 221
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Kap. 2: Die historische Perspektive
nahmen die Kommunen jene Aufgaben wahr, wie sie es bereits bis 1927 taten. Angesichts eines schwer durchschaubaren Nebeneinanders von gesetzlichen Grundlagen aus dem Deutschen Reich, der Weimarer Republik, dem NS-Staat und der Besatzungsmacht sowie der verheerenden wirtschaftlichen Situation, wurde kommunalindividuell ganz pragmatisch zunächst das (Lebens-)Notwendige und Machbare geleistet.224 Die Besatzungsmächte der westlichen Zonen bemühten sich derweil um die Rekonstruktion der Landesarbeitsämter, um eine koordinierte Erbringung von Fürsorge durch die Kommunen und eine überregionale Arbeitsvermittlung.225 „Neue“ Rechtsgrundlagen zur Erbringung von Arbeitsvermittlung und Fürsorge blieben zunächst aber Desiderat. Daher wandten Kommunen und die wiedererrichteten Arbeitsämter die überkommenen Vorschriften weiter an.226 Koordinierte und überregionale Aktivitäten insbesondere auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes wurden durch die Zonalisierung, die zu einer künstlichen Trennung der Zuständigkeiten und auch der Vertriebswege führte ebenso erschwert wie die wirtschaftliche Erholung. Dementsprechend löste sich jene Teilung Westdeutschlands nach und nach auf, zunächst durch die Gründung der Bizone am 1. Januar 1947, in der sich die britische und die us-amerikanische Zone zusammenschlossen. Zur Verwaltung der Bizone wurden Ämter, wie dasjenige für Verwaltung eingerichtet, zu dessen Direktor Ludwig Erhard wurde. Damit ging eine erste Vorentscheidung für die Markt- und gegen die Planwirtschaft einher. Erhard selbst war bekennender Ordoliberaler in der Prägung der Kölner Schule227 und folgte so der wesentlich von Walter Eucken und Alfred Müller-Armack begründeten Wirtschaftstheorie. Letzteren holte Erhard später als Staatssekretär ins Wirtschaftsministerium.
II. Grundgesetz und Politik – Sozialpolitische Weichenstellungen Das Ende der westdeutschen Teilung war gleichbedeutend mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949.228 Der Parlamentarische Rat verzichtete auf den Begriff „Verfassung“ zur terminologischen Unter224 Willing/Boldorf, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 2/1, S. 587 (598 ff.). 225 Dazu Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 341 ff., 353 ff. 226 Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 3, S. 561 (603 ff.). 227 Zur Umsetzung ordoliberaler Leitlinien durch Erhard, Wünsche, Soziale Marktwirtschaft. 228 BGBl I 1949, S. 1 ff.
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streichung des provisorischen Charakters des Grundgesetzes.229 Das Grundgesetz wurde dem deutschen Volk zur Abstimmung nie unmittelbar vorgelegt. Es legitimierte sich ursprünglich demokratisch eher mittelbar im Wege der Ratifizierung durch die Länderparlamente und den Sachverstand seiner Väter und Mütter sowie im Laufe der Zeit durch seine Bewährung und Anerkennung.230 Seine Vorläufigkeit wurde auch in seinem Inhalt offensichtlich.231 Das Grundgesetz fiel dabei – verglichen mit anderen Verfassungen – nicht gerade durch seine Kürze auf, zeigte sich partiell sogar sehr detailliert und eher weniger grundsätzlich, gleichzeitig aber auch äußerst pragmatisch. Politische Weichenstellungen im Sinne eines sehr prinzipiellen Entweder-oder konnten mit dem Hinweis auf das Provisorium häufig unterbleiben, ohne dass die eine oder andere politische Seite damit eigene Vorstellungen aufzugeben glaubte. In diesen Kontext sind auch die Aussagen der Grundgesetzes über das Wirtschaftssystem einzuordnen. Marktwirtschaft oder Sozialismus hießen zugespitzt die Alternativen. Für keines der beiden votierte das Grundgesetz ausdrücklich. Das Eigentum wurde verfassungsrechtlich geschützt (Art. 14 GG), doch verpflichtete es gleichzeitig auch; Enteignungen und Verstaatlichungen waren zumindest möglich (vgl. Art. 15 GG). Ob die Verwirklichung der grundgesetzlichen Vorgaben nur durch das eine oder das andere Wirtschaftssystem verwirklicht werden konnte, vielleicht auch nur durch ihre Kombination, blieb eine offene Frage, die sich nach der ersten Bundestagswahl zum ersten deutschen Bundestag durch die politische Mehrheit faktisch erledigte. Der ordoliberale Erhard etablierte die „soziale Marktwirtschaft“ und damit im Kern eine liberale Wirtschaftsordnung. Auch die Sozialpolitik orientierte sich fortan an den ökonomischen Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft. Diese nahmen auch keinen unerheblichen Einfluss auf die Auslegung des Sozialstaatsprinzips. In den Art. 20, 28 GG beschrieb sich die Bundesrepublik als sozialen Rechts- und Bundesstaat, ohne dies näher zu präzisieren. Üblicherweise wurde hierin eine Zielvorgabe für staatliches Handeln gesehen, welche aufgrund der begrifflichen Offenheit auslegungsfähig und in hohem Maße auslegungsbedürftig sein würde.232 In den ersten Jahren der Bundesrepublik spielte das Sozialstaatsprinzip noch eine untergeordnete Rolle in der staatlichen Politik und der öffent229 Siehe nur Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, Präambel, Rn. 6 (September 1991). 230 Ausführlich dazu bspw. Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes. 231 Vgl. Art. 146 GG i.d.F vom 23. Mai 1949. 232 Siehe bspw. Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 20 Rn. 25 (November 2006).
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lichen Diskussion. Die Kommunen erfüllten die Fürsorge nach den Normen der Weimarer Republik (RGr, RFA)233, welche lediglich objektiv-rechtlichen Charakter aufwiesen, zumindest kein subjektives Recht ausdrücklich vorsahen. Inwieweit das mit den grundgesetzlichen Vorgaben zu vereinbaren war, wurde erst Mitte der 1950er Jahre vom BVerwG beantwortet.234 Der Bundesgesetzgeber, dem nach Art. 74 Nr. 7 GG die Gesetzgebungskompetenz für die Fürsorge zukam, wurde erst gut zehn Jahre später tätig.235 Die sozialpolitischen Maßnahmen fokussierten sich zu dieser Zeit auf die Kriegsopfer und brachten das soziale Entschädigungsrecht hervor. Die Kompetenzen waren klar verteilt. Der Bund sollte die Gesetzgebungskompetenz für die Fürsorge ebenso bekommen wie für die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsvermittlung. Letztgenannte Punkte waren im Parlamentarischen Rat kaum umstritten. Dass der Bund die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung erhalten müsse, ergebe sich bereits aus der Notwendigkeit bundesweiter Koordinierung. Für einige Mitglieder des Parlamentarischen Rates verdeutlichte dies bereits der zunächst für die Arbeitsvermittlung gewünschte Begriff der „Arbeitslenkung“ als bundesweites Mittel zur Steuerung von Angebot und Nachfrage.236 Bei der öffentlichen Fürsorge wiederum befürchteten einige Mitglieder des Parlamentarischen Rates eine Zentralisierung entgegen dem örtlichen Charakter der Fürsorge und damit einen Eingriff in das Recht auf kommunale Selbstverwaltung, welches ebenso verfassungsrechtlich verbürgt werden sollte.237 Erst durch den (partiell fragwürdigen)238 Hinweis in der Debatte, bereits in der Weimarer Republik habe dieser Bereich zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Reiches gezählt und sei eher zurückhaltend in Anspruch genommen worden und außerdem werde jene unter dem Grundgesetz mit der zusätzlichen Anforderungen eines Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung versehen, konnte sich die Formulierung „öffentliche Fürsorge“ gegen Vorschläge wie „Rahmenbestimmungen der Fürsorge“ durchsetzen. Eben aber verbunden mit Annahme einiger Abgeordneter, der Bund werde nur den Rahmen der Fürsorge vorgeben und den Kommunen so Gestaltungsspielräume überlassen.239 233
s. o. Kapitel 2 D. II. c). BVerwGE 1, 159 ff. 235 Durch die Einführung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), BGBl I 1961, S. 815 ff. 236 Wernicke/Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Band 3, S. 390 ff. 237 Wernicke/Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Band 3, S. 390 ff. 238 s. o. Kapitel 2 D. II. 2. c). 239 Wernicke/Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Band 3, S. 392. 234
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III. Sozialpolitik in der wissenschaftlichen Diskussion Sozialpolitik hängt immer auch von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Dies gilt nicht nur für den Typus des Wirtschaftssystems, sondern auch und besonders für die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse. Für Sozialpolitik im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt gilt dies in verstärktem Maße. Denn in der Marktwirtschaft ist die Privatwirtschaft regelmäßig der Ort der Arbeitsplatzangebote. Seit Gründung der Bundesrepublik und der Etablierung der sozialen Marktwirtschaft fand die sozialpolitische Debatte für den hier interessierenden Bereich wissenschaftlich, neben den Sozialwissenschaften und anderen eher punktuell agierenden Disziplinen,240 wesentlich unter dem Einfluss der Wirtschaftswissenschaften statt. Dementsprechend kam von Beginn an und kommt nach wie vor den Wirtschaftstheorien eine entscheidende Rolle in der sozialpolitischen Diskussion zu. Ordoliberalismus oder Keynesianismus bildeten im Wesentlichen die wirtschaftstheoretischen Alternativen und sind auch heute noch die Ausgangspunkte der maßgeblich vertretenen Wirtschaftstheorien. Der Ordoliberalismus, entwickelt u. a. von Walter Eucken, zeichnet sich vor allem durch staatliche Zurückhaltung aus. Der Staat tritt als ordnungspolitischer Rahmengeber auf. Innerhalb des gesteckten Rahmens überlässt er den Arbeitsmarktakteuren das wirtschaftspolitische Feld. Dieser Ansatz geht davon aus, dass die Wirtschaft inhärent sei und erst durch staatliche Eingriffe Schwankungen entstünden.241 Der Ordoliberalismus trat in der Bundesrepublik in der Prägung der Kölner Schule auf. Diese gibt den Arbeitsmarktakteuren vor, ihr Handeln an der Menschlichkeit auszurichten, bringt also christliche Werte in die Wirtschaftstheorie ein. Insbesondere Erhard fühlte sich dieser wirtschaftstheoretischen Richtung verpflichtet und gründete „seine“ soziale Marktwirtschaft in nicht unerheblichem Maße auf ordoliberale Thesen.242 Demgegenüber betonen die Vertreter des Keynesianismus die Instabilität der Wirtschaft und die Notwendigkeit staatlicher, antizyklischer Eingriffe um die Wirtschaft an die Vollbeschäftigung heranzuführen, die ihr selbst nicht immanent sei. Konjunkturelle Schwankungen müssten vom Staat durch aktives Eingreifen bspw. durch eigene Nachfrage ausgeglichen wer240
Bspw. die Pädagogik oder die Gesundheitswissenschaft. Eingehend und grundlegend Ptak, Vom Ordoliberalismus zur sozialen Marktwirtschaft. 242 Ptak, Vom Ordoliberalismus zur sozialen Marktwirtschaft, S. 201 ff.; vgl. Schulz, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 3, S. 77 (82 ff.). 241
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den.243 Dem Keynesianismus eigen ist das politische Instrument der Globalsteuerung, also die Annahme einer global-wirtschaftlichen Steuerungsmöglichkeit und -notwendigkeit des Staates. Die Wirtschaftstheorien wurden in der BRD – ebenso wenig wie sonst auf der Welt – in ihrer „reinsten Form“ umgesetzt. Epochen lassen sich aber in ihrer Tendenz beiden Richtungen zuordnen. Der Einfluss der Wirtschaftspolitik und damit der Wirtschaftstheorien auf die Sozialpolitik ist im Bereich der Arbeitsmarktpolitik wohl am stärksten, die Ausrichtung der Sozialsysteme an ökonomischen Regeln hat aber insgesamt – vor allem praktisch – an Bedeutung gewonnen.244 Die Wirtschaftstheorien entscheiden über grds. Fragen der Arbeitsmarktpolitik mit, so über Ob und Wie staatlicher Arbeitsbeschaffung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und staatlichen Vorgaben für die Lohnpolitik. Derart übt Wirtschaftspolitik – und über sie Wirtschaftstheorie – unmittelbar Einfluss auf die soziale Absicherung des Individuums aus. Es besteht mithin ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik und dementsprechend auch zwischen den einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen. Sozialpolitik konkurriert dabei nicht zwangsläufig und a priori mit Wirtschaftspolitik, auch nicht in der Marktwirtschaft. Sie kann nicht nur Standort-, weil Finanzrisiko in Zeiten der Globalisierung sein, sie kann auch einen Standortvorteil darstellen, diszipliniert sie doch die Arbeitsmarktparteien und schafft eine soziale Infrastruktur.245 Neben den Wirtschaftswissenschaften spielten die Sozialwissenschaften von Beginn an eine zentrale Rolle in der wissenschaftlichen Diskussion der BRD. Sozialpolitik war in der Bundesrepublik begrifflich durch eine starke Diversifizierung geprägt. Zwar öffnete sich bereits in der Weimarer Republik die Sozialpolitik für Nicht-Arbeiter, jedoch blieb sie häufig arbeiterzentriert. In der BRD umfasste der Begriff früh sämtliche gesellschaftliche Gruppen: Arbeiter, Selbstständige, Freiberufler, Rentner, Beamte, Familien, Frauen, Kinder, Jugendliche etc. Daher konzentrierte sich die Sozialwissenschaft zunehmend auf die Betrachtung der Funktionslogiken von Sozialpolitik bzw. einzelner Maßnahmen zu ihrer Identifikation: der Inklu243 Umfassend Bombach (Hrsg.), Der Keynesianismus, Band 1; vgl. auch Hein (Hrsg.), Neu-Keynesianismus; Schulz, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 3, S. 77 (86 ff.). 244 Vgl. Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7, S. 481 ff. 245 Dies hat Heimann erkannt, der die Dialektik von Kapitalismus und Marxismus beschreibt, ders., Soziale Ideologien, S. 334 (339 ff.). Dazu auch Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 113 ff.
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sion246 durch Partizipation.247 Gesellschaftlichen Gruppen, die aufgrund des geltenden Wirtschaftssystem oder aus sich heraus (klassische soziale Risiken) aus bestimmten Systemen exkludiert sind, sollte Teilhabe verschafft werden. Sozialpolitik sollte also insofern systemkorrigierend und integrativ wirken.248 Das galt für den Bereich der arbeitsmarktspezifischen Sozialpolitik entsprechend. Die Rechtswissenschaft ergänzte jene Analysen um die rechtliche Bewertung von staatlichem Handeln im Hinblick insbesondere auf das Sozialstaatsgebot und die Menschenwürde sowie gerade hinsichtlich der Gleichheitssätze. Beispielhaft für die gegenseitige Beeinflussung der Disziplinen war die veränderte Auslegung des Sozialstaatsbegriffs des Grundgesetzes in den 50er, 70er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts.249 Grundlegend wandelte sich seit Gründung der BRD in der wissenschaftlichen Diskussion disziplinübergreifend im Wesentlichen Folgendes: Die Lohnarbeit war wesentlicher Eckpfeiler des bundesrepublikanischen Wirtschaftssystems. Demzufolge spielte Lohnarbeit auch in der Sozialpolitik die entscheidende Rolle, nämlich als soziales Risiko und als Ausgangspunkt präventiver sozialer Sicherung durch die Sozialversicherung. Der seit Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Wandel zur Massengesellschaft konkretisierte sich in der BRD insbesondere in den 1960er–80er Jahren durch die Entwicklung zur Mittelstandsgesellschaft. Soziale Risiken konnten klassenübergreifend zunächst jeden treffen und wurden damit stärker individuell statt klassenspezifisch. Unterstützt wurde dies durch ein Grundgesetz, welches das Gewicht eher auf individuelle, denn auf kollektive Grundrechte legte. Die sozialpolitische Diskussion wurde dadurch von den Klassen hin zum Individuum und zu flexiblen Gruppen verlagert.250 Darauf basiert auch die von Hans F. Zacher als soziale Grundnorm, man könnte auch Basiskonsens der BRD sagen, konzipierte Formel: In der an Lohnarbeit ausgerichteten, kapitalistischen Gesellschaft gilt, dass jeder „noch nicht alte und nicht durch Familienarbeit gebundene Erwachsene die Möglichkeit haben soll, aber auch die Verpflichtung trägt, durch Arbeit ein Ein246 Luhmann, Gesellschaftsstruktur, S. 30 f., ders., Inklusion und Exklusion, in: ders. (Hrsg.), Soziologische Aufklärung, S. 237 ff.; Parsons, Das System moderner Gesellschaften, S. 32 ff.; vgl. auch Loose, Sozialer Fortschritt 2002, 164 ff. 247 Zacher, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 333 (662 ff.). 248 So schon Heimann, Soziale Ideologien, S. 334 ff. 249 Zacher, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 333 (393 ff.); Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 124 ff. 250 Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 148.
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kommen zu verdienen und damit seine Bedarfe und die Bedarfe derer zu decken, die mit ihm in einem Unterhaltsverbund zusammenleben und von seinem Unterhalt abhängen.“251 Des Weiteren stand die zunehmende Zentralisierung der Weimarer Republik zur Diskussion. Die kritische Analyse dieses Prozesses, welche nicht zuletzt auch von den Besatzungsmächten angestoßen und begleitet wurde, führte zum einen zu einem vergleichsweise klaren Bekenntnis zur kommunalen Selbstverwaltung im Grundgesetz252 und zu diversen Mahnungen insbesondere im Zuständigkeitsausschuss. Zum anderen spielte die Verlagerung der sozialen Problemlösungen in den Kompetenzbereich der Arbeitsmarktparteien oder Privater bzw. ihrer Einbindung in staatliche Aktivitäten, worin man eine Parallele zu den Wirtschaftstheorien erkennen kann, eine bedeutende Rolle. Spätestens seit den 1990er Jahren kommt die Internationalisierung als entscheidender Faktor für die Sozialpolitik hinzu. Dabei ging und geht es nicht nur um Europäisierung und Globalisierung sozialer Standards und Rechte, sondern auch und sogar überwiegend um die Zukunft nationaler Sozialpolitik unter den Vorgaben zunehmend national nicht steuerbarer Entwicklungen.253 In diesem zeitlichen Kontext ist auch der Begriff der „Krise des Sozialstaats“ zu sehen.254 Sozialpolitische Reformen seit den 1990er Jahren standen im Zeichen von Leistungskürzungen. Dies galt für die Sozialversicherung ebenso wie für die steuerfinanzierten Leistungen. In der Soziologie bzw. den Sozialwissenschaften wurde zunehmend auf die Nivellierung der Mittelstandsgesellschaft hingewiesen, die sich nach dem 2. Weltkrieg in der BRD als tragende und weitgehend stabile Säule der Gesellschaft entwickelt hatte. Zwischen wachsender Ober- und Unterschicht teile sich die Mittelschicht in zunehmender Geschwindigkeit auf. Sozialer Aufstieg sei dabei die Ausnahme, Abstieg die häufigere Folge.255 Teilweise wurde und wird dies als Ausfluss der Sozialpolitik dieser Zeit bis heute gesehen, welche die Statussicherung als sozialpolitisches Ziel gegen die Grundsicherung zunehmend eingetauscht habe.256
251 Zacher, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 333 (347 ff.). 252 Vgl. Art. 28 GG und Art. 127 WRV. 253 Ritter, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 11, S. 107 (186 ff.). 254 Umfassender Überblick bei Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. 255 Das weisen die Sozialberichte der Bundesregierung deutlich, insbesondere seit Mitte der 1980er Jahre aus. 256 Erste Ansätze finden sich bereits bei Pfaff (Hrsg.), Sozialpolitik im Wandel. Siehe auch Hauser, Ziele und Möglichkeiten einer sozialen Grundsicherung.
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IV. Sozialpolitische Epochen der BRD 1. 1950–1965 Sozialpolitik im Aufbau; das „Wirtschaftswunder“ Die hohe Arbeitslosigkeit der ersten Jahre ging im Laufe der 1950er Jahre zurück. Waren 1954 noch rund 7% arbeitslos gemeldet, lag die Quote 1957 bei 3,4%. Zu Beginn der 1950er Jahre wurde über eine Zentralisierung der Verantwortungsbereiche der Arbeitsvermittlung in der BRD diskutiert, welche hinsichtlich der Erfüllung und Organisation bis dato von den Ländern wahrgenommen wurde. Dem Bund wiederum stand über Art. 74 Nr. 11 GG die Gesetzgebung zu. Nach intensiver Diskussion über den Sitz der neuen Einrichtung257 und den Grad ihrer Selbstverwaltung, den die Arbeitsmarktparteien und die SPD als zu schwach ausgeprägt ansahen,258 wurde am 10. März 1952 das „Gesetz über die Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“259 vom Bundespräsidenten unterzeichnet und trat am 1. Mai 1952, nachdem ca. ein Jahr seit der ersten Gesetzesinitiative verging, in Kraft.260 Zentrale sozialpolitische „Baustelle“ der 1950er Jahre war das Weimarer AVAVG, welches nach wie vor maßgeblich für die normative Ausgestaltung der Aufgaben der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherungen war. Bevor der Bundestag die Novelle für des AVAVG beriet, wurde ihm die Arbeitslosenhilfe am 17. März 1955 zur Beratung vorgelegt.261 Sie wurde gesondert beraten, da hier grundlegender Dissens darüber herrschte, ob diejenigen Arbeitslosen, die in der Vorfrist Arbeitslosengeld bezogen haben würden (Anschluss-Arbeitslosenhilfe) und diejenigen, welche zuvor gar kein Arbeitslosengeld bezogen haben würden, weil sie ein kürzeres versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zuvor ausgeübt hätten, in das privilegierende System der Arbeitslosenhilfe oder doch in das der allgemeinen kommunalen Fürsorge fallen sollten. „Diese teilweise emotional belasteten Diskussionen, bei denen alte, längst vergessen geglaubte Gegensätze aufzuleben schienen“262, führten zu einer nicht unerheblichen Verzögerung der Novellierung des AVAVG. Bis zu diesem Zeitpunkt fanden sich in der Bun257
Über die Rechtsform wurde hingegen weniger diskutiert. So der Abgeordnete Willi Richter, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenografische Berichte, Wahlperiode 1, 1949/53, Band 8, S. 6385. 259 BGBl I 1952, S. 123 ff. 260 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 415 ff. 261 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 422. 262 Siebrecht, Arbeit und Beruf 1977, 303 (309). 258
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desrepublik zahlreiche unterschiedliche Vorschriften über die Arbeitslosenfürsorge/-hilfe263. Während die Länder der ehemaligen britischen Besatzungszone und Rheinland-Pfalz Arbeitslosenhilfe allen Arbeitsuchenden zahlten, die arbeitslos und arbeitsfähig waren, ohne jeglichen Bezug zu einer zuvor ausgeübten Beschäftigung, begrenzten die anderen Länder die Bezugsberechtigung von Arbeitslosenfürsorge in der ein oder anderen Weise auf arbeitswillige und arbeitsfähige Arbeitsuchende, die in einer Vorfrist beschäftigt gewesen sein mussten.264 In der Diskussion über eine bundeseinheitliche Regelung fanden sich auf der einen Seite nun diejenigen wieder, welche das bestehende und überkommene System der „Sonderfürsorge“ für gescheitert hielten, allen voran die Verfasser der Denkschrift „Neuordnung der sozialen Leistungen“265. Etwas unklar blieb bei dem von ihnen aufgestellten Forderungskatalog allerdings der genaue Adressatenkreis. Sie forderten die Überführung der Langzeitarbeitslosen in die kommunale Fürsorge. Dies sollten Personen sein, die nicht arbeitsfähig oder arbeitswillig waren oder aufgrund ihres Alters geringe Aussichten auf neue Arbeit haben würden. Ob diese Überführung alle Arbeitsuchenden treffen sollte, die Arbeitslosenfürsorge/-hilfe bezogen hatten oder nur diejenigen der originären oder der Anschluss-Arbeitslosenfürsorge/-hilfe blieb weitgehend offen. Als Voraussetzung für eine solche Kommunalisierung jener Arbeitslosen nannten jene Vertreter die „besonders enge Zusammenarbeit zwischen Gemeinde und Arbeitsamt“.266 Das Anliegen der Vertreter einer solchen fürsorgerechtlichen Lösung war es vor allem, eine Art „Verrentung“ jener Gruppen angesichts geringer Vermittlungschancen zu verhindern. Auch von den Gegnern dieses Ansatzes wurde diese Gefahr angesichts unbefristeter Leistungsdauer durchaus erkannt, jedoch zumeist hingenommen. Die Statussicherung sei vorrangiges sozialpolitisches Ziel zur Prävention vor sozialem Abstieg. Einige der Befürworter der Arbeitslosenhilfe plädierten zwar für das norddeutsche, respektive rheinland-pfälzische Modell, mithin für eine weitgehende Öffnung der „Sonderfürsorge“ für alle Arbeitsfähigen und -willigen. Dagegen sprach aber gerade ihr Charakter als Lohnersatzleistung und damit auch ihr Ziel der Statussicherung. Bezugsgröße für die Berechnung der Leistungshöhe war regelmäßig das zuletzt bezogene Einkommen. Lag jedoch keines vor, hätten fiktive Beträge angenommen werden müssen, was zu erheblichen Schwierigkeiten geführt hätte und hat. So musste der Ge263 In den Ländern der ehemaligen britischen Besatzungszone Arbeitslosenhilfe; in den übrigen: Arbeitslosenfürsorge. 264 Schmid/Wiebe/Oschmiansky, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 3, S. 267 (290 ff.) m. w. N. 265 Achinger u. a. (Hrsg.), Neuordnung der sozialen Leistungen. 266 Achinger u. a. (Hrsg.), Neuordnung der sozialen Leistungen, S. 111.
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setzgeber zumindest regelmäßig die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in einer gewissen Vorfrist fordern.267 Letztlich verabschiedete der Bundesgesetzgeber am 16. April 1956 die erste Novelle des AVAVG bzgl. der Arbeitslosenhilfe. Der bislang vorwiegend verwendete Begriff Arbeitslosenfürsorge wurde aufgegeben um den Versorgungscharakter der Leistung hervorzuheben.268 Nunmehr sollte jeder, der bedürftig war und entweder zuvor nicht geringfügig oder nur gelegentlich beschäftigt war, ohne jedoch die Anwartschaft für Arbeitslosenversicherungsleistungen zu erfüllen (originäre Arbeitslosenhilfe)269 oder aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert wurde (Anschluss-Arbeitslosenhilfe)270, Arbeitslosenhilfe bekommen. Organisatorisch sollte die Arbeitslosenhilfe von der Bundesanstalt für Arbeit erfüllt werden. Auch hierin kam die Abgrenzung zur Armenfürsorge zum Ausdruck. Das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt wurde erhalten.271 Mit der zweiten, umfassenderen Novelle des AVAVG 1957272 wurde eine vollständige Neusortierung der Paragraphen unter Einbeziehung des Errichtungsgesetzes vorgenommen und damit ein über zwei Jahre dauerndes Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss gebracht. Wofür man sich damit inhaltlich entschieden hatte, war eine Fortführung der Privilegierung der Lohnarbeit. Die Arbeitslosenhilfe wurde jedoch über die traditionelle Lohnarbeit hinaus partiell ausgeweitet.273 Auch Selbstständige bspw. konnten nun vermehrt an staatlichen Sozialleistungen teilhaben.274 Dazu wurde ein fiktiv erzielbares Einkommen zugrunde gelegt und von der Person das ernste Bekenntnis abverlangt, nun durch Lohnarbeit seinen Unterhalt verdienen zu wollen. Unabhängig von der begrifflichen Öffnung basierte die Privilegierung auf unterschiedlichen Motiven. Anders als zu Beginn der Weimarer Republik spielte die Disziplinierung der Arbeiter eine eher untergeordnete Rolle. Die Abgrenzung gegenüber der allgemeinen Armenfürsorge stand im Mittelpunkt, in der weder ein Rechtsanspruch auf 267 Vgl. § 141a Abs. 1 Nr. 4 lit. a) u. b) AVAVG i. d. F. vom 16. April 1956 (AVAVG 1956). 268 Ohle, BArbBl 1956, 243 (244). 269 § 141a Abs. 1 Nr. 4 lit. a) u. b) AVAVG 1956, dazu Schmidt, Arbeitslosenhilfe § 141a AVAVG Rn. 13 ff. 270 § 141a Abs. 1 Nr. 4 letzter Satz AVAVG 1956, dazu Schmidt, Arbeitslosenhilfe, § 141a AVAVG Rn. 21. 271 Seit dem Gesetz über Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung vom 5. November 1935, RGBl I 1935, S. 1281. 272 AVAVG vom 23. Dezember 1956, BGBl I 1956, S. 1018 ff. 273 Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 139 ff. 274 Vgl. Durchführungsverordnung des Bundesministers für Arbeit nach § 141a Abs. 3 AVAVG 1956 vom 31. Juli 1956, BGBl I 1956, S. 727.
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Leistungen existierte noch wurden den Betroffenen Arbeitsvermittlungsleistungen in relevantem Umfang zu Teil. Außerdem wurde teilweise angeführt, dass die Leistungshöhe der Fürsorge für einen arbeitsbereiten Menschen nicht ausreiche.275 Weiterhin bemühte sich die Politik darum, aus arbeitsbereiten Menschen möglichst keine Fürsorgefälle zu machen. Daneben ist sicher auch der Trend am Arbeitsmarkt jener Zeit von Bedeutung für die relativ großzügige Konzeptionierung der Arbeitslosenhilfe. Der Gesetzgeber beschäftigte sich über Jahre mit der Novellierung des AVAVG und konnte im Laufe der Zeit den Arbeitsmarkt beobachten. Zu dieser Zeit war bereits absehbar, dass der positive Trend in Richtung Vollbeschäftigung anhalten würde und Arbeitslosigkeit und ihre soziale Absicherung absehbar keine größeren finanziellen Schwierigkeiten hervorbringen würde. Zu dieser Zeit ergingen auch die ersten sozialpolitisch relevanten Urteile oberster Gerichte für den Bereich von Arbeitslosenhilfe und Fürsorge.276 Das BVerfG hat die Zwitterstellung der Arbeitslosenhilfe zwischen Arbeitslosenversicherung und Fürsorge sowie ihre privilegierende Funktion gegenüber der Fürsorge erstmals 1958 beschrieben.277 Für die Fürsorge trugen zunächst die Verfassungsgerichte einiger Länder278 sowie schließlich das BVerwG zur Fortentwicklung bei. Sie erkannten einen Rechtsanspruch auf Fürsorgeleistungen zunehmend an, obgleich dies in den Rechtsgrundlagen (RGr, RFA) zumindest nicht ausdrücklich vorgesehen war. Das BVerwG erklärte dies mit der historischen Entwicklung. Die Fürsorge hätte ihre Ursprünge im Ordnungsrecht, hätte sich im Laufe der Zeit jedoch davon gelöst und sei in der Weimarer Republik auch kompetentiell eigenständig geworden. Die sozialethische Wertung hätte sich seitdem ebenfalls fortentwickelt, was durch zahlreiche Reformen zum Ausdruck gekommen sei und spätestens seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes sei die Subjektstellung des Menschen gegenüber der Verwaltung durchgängiges Prinzip. Daraus lasse sich notwendigerweise ein Rechtsanspruch zumindest auf diejenigen Leistungen der Fürsorge ableiten, die nicht im Ermessen der Behörden stünden.279 Die Begründung mit der Subjektqualität des Einzelnen erinnert stark an spätere Ausführungen des BVerfG zu Art. 1 GG. Das BVerwG nutzt die Menschenwürde derweil zwar als Beleg, führt sie aber nur unter anderen verfassungsrechtlichen Vorschriften auf. Die Verbindung von Menschenwürde und Existenzsicherung war zu der Zeit auch keineswegs allgemein 275
Rickert, Arbeitslosenhilfe, S. 187. BVerfGE 9, 20 ff. (Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen des Ehepartners bei der Arbeitslosenhilfe). 277 BVerfGE 9, 20 ff. 278 Bspw. BWVGH, FEVS 1, 51 ff. 279 BVerwG 1, 159 ff.; hierzu und zum Folgenden grundlegend Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit. 276
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anerkannt. Noch 1951 hat man Entscheidungen des BVerfG durchaus anders verstehen können.280 Erst in den 1970er Jahren leitete das BVerfG einen solchen Anspruch explizit aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 28 GG) ab.281 Mit der Prognose weiter sinkender Arbeitslosigkeit sollte die Politik Recht behalten. Zwischen 1961 und 1966 lag die Arbeitslosenquote konstant unter einem Prozent und nach allen hierzu vertretenen Ansichten herrschte Vollbeschäftigung. In dieser Phase wurde der Arbeitslosenversicherungsbeitrag ebenfalls unter einem Prozent gehalten, seine Zahlung phasenweise sogar ausgesetzt.282 Nun nahm sich die Regierung Konrad Adenauer die Fürsorge vor, um die Anwendung der unzeitgemäßen Weimarer Vorschriften endgültig zu beenden und durch das Bundessozialhilfegesetz zu ersetzen.283 Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 BSHG wurde die Erfüllung der Leistungen regelmäßig den Kommunen (Kreise und kreisfreien Städte) als Selbstverwaltungsaufgabe zugewiesen. Die begriffliche Abkehr von der Fürsorge spiegelte die gewandelten „sozialethischen Wertungen“284 wieder, nach denen die Existenzsicherung nicht staatliches Almosen, sondern staatliche Pflicht war. In § 4 BSHG wurde erstmals ausdrücklich ein subjektives Recht auf derartige Leistungen normiert. Damit vollzog der Gesetzgeber die bereits durch das BVerwG vorgezeichnete Auslegung nach. Der Einfluss der christlichen Soziallehre über die CDU/CSU zunächst im Parlamentarischen Rat285 und später in ihrer Regierungszeit auf das einfache Recht lässt sich auch im BSHG deutlich erkennen. Der Subsidiaritätsgrundsatz tauchte bereits in § 2 BSHG auf, das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe in § 1 Abs. 2 Satz 2 BSHG. Dreh- und Angelpunkt der Sozialhilfe und ihrer normativen Ausgestaltung aber war die Menschenwürde, welche zwar nicht christlich verstanden werden muss, aber im Parlamentarischen Rat vielfach wurde.286 Inhaltlich ging es der Sozialhilfe also nicht um die bloße Existenzsicherung im Sinne des physischen Überlebens, sondern um die Sicherung eines Lebens in Würde. Die spätere Konkretisierung zum so genannten soziokulturellen Existenzminimum beschreibt letztlich nichts anderes, verdeutlicht nur die gesellschaftliche und kulturelle Komponente von 280
BVerfGE 1, 97 ff. BVerfGE 40, 121 (133); 45, 187 (228); 82, 60 (85); 113, 88 (108 f.). 282 Schmid/Oschmiansky, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 4, S. 235 (251 ff.). 283 BGBl I 1961, S. 815 ff. 284 BVerwGE 1, 159 ff. 285 Siehe bspw. die Präambel des Grundgesetzes. 286 Wernicke/Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Band 5/II, S. 589 ff. 281
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Existenz und seiner Sicherung. Der Sozialhilfe ging es seither also nicht um eine statische Leistungshöhe, sondern der Bedürftige sollte die Hilfe erhalten, die es ihm erlaubt, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern grds. ähnlich wie diese, jedenfalls nicht stigmatisiert zu leben.287 Der Hilfebedarf und damit der Zeitpunkt des Einsetzens der Hilfe lässt sich immer nur in Ansehung des jeweiligen gesellschaftlichen Lebensstandards bestimmen. Versuche, das konkrete Maß der Hilfe aus der Menschenwürde abzuleiten, müssen scheitern. Denn die Argumentation wird notwendig zirkulär, wie Michael Stolleis richtig herausgearbeitet hat: „Was über die Festsetzung des notwendigen Lebensbedarfs erreicht werden soll, das Ziel menschenwürdiger Existenz, setzt voraus, was in seiner Funktion als ‚negativer Interventionspunkt‘ bereits bekannt sein muss, um jene Festsetzung zu ermöglichen.“288 Der Bezugspunkt Würde verleiht dem Existenzminimum zunächst also nicht mehr Klarheit, als dass es sich um eine über das bloße Überleben hinausgehende Sicherung handeln muss, die den Empfänger gegenüber Nichtempfängern nicht diskriminieren darf. In Zeiten der Vollbeschäftigung und des sozialen Fortschritts der 1950er und 1960er Jahre waren Referenz dafür die „herrschenden Lebensgewohnheiten“.289 Später formulierte man vorsichtiger und überließ die Bestimmung der Referenzgruppe weitgehend dem Gesetzgeber.290 2. 1966–1989 Ausbau, Höhepunkt und Umkehr Die Regierungszeit der großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (1966–1969) war keine Zeit der großen sozialpolitischen Belastungsproben. Die Sozialpolitik stand im Zeichen des kontinuierlichen Ausbaus der Sozialleistungen. Mit Karl Schiller (SPD) wurde erstmals ein Keynesianer Wirtschaftsminister, was nicht ohne Einfluss auf die Sozialpolitik bleiben sollte. 1966 hatte die BRD zwar die erste Rezession zu bestehen. Die Arbeitslosenquote kletterte binnen Jahresfrist auf 2,1%. Die Regierung Kiesinger reagierte vor allem durch antizyklische Arbeitsmarktpolitik und konnte die Quote bereits 1967 wieder auf 0,7% senken und sie auf niedrigem Niveau halten.291 Die Ablösung des AVAVG durch das Arbeitsförderungsgesetz (AFG)292 stand 287 BVerwGE 36, 256 (258); BVerwG, NDV 1991, 260 (261); BVerwG, NDV 1993, 318. 288 Stolleis, NDV 1981, 99 ff. 289 Vgl. BVerwGE 35, 178 ff. 290 BVerwGE 80, 349 (350). 291 Schmid/Oschmiansky, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 5, S. 331 (342 ff.). 292 Arbeitsförderungsgesetz vom 25. Juni 1969, BGBl I 1969, S. 582 ff.
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1969 demzufolge weniger in der Absicht einer Senkung der Arbeitslosenzahlen als in der präventiven Sicherung einer konstant niedrigen Quote. Dies sollte insbesondere durch Ansprüche auf stetige Weiterbildung während der Beschäftigungsphase gelingen. Antizyklische Instrumente wurden bspw. durch den „Winterbau“ in die Arbeitsmarktpolitik hineingetragen.293 War Sozialpolitik bis dahin ein kompensatorisches Korrektiv, wandelte sie sich mehr und mehr zur Sozialplanung, insbesondere präventiver Art.294 Globalsteuerung wurde zum Schlagwort der Zeit. 1969 entstand die Ausbildungsförderung295, 1971 die Graduiertenförderung296, 1979 wurde der Unterhaltsvorschuss eingeführt297. 1975 begann die Politik durch die Einführung des SGB I298 schließlich, sich um eine einheitliche Kodifizierung des Sozialrechts zu bemühen. 1976 folgte das SGB X. Die Änderungen des Grundgesetzes in jenen Jahren, namentlich des Art. 109 Abs. 2 GG299, sind zusätzlich Beleg dafür. Die Wirtschaftstheorie John Maynard Keynes300 hielt Einzug ins Grundgesetz, indem antizyklische Konjunkturprogramme zur Bewältigung auch struktureller Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorgesehen wurden.301 Der Sozialstaat des Grundgesetzes wurde in dieser Zeit auch in der Wissenschaft partiell enger mit einem gewandelten Verständnis des Demokratieprinzips verknüpft.302 Arbeitnehmern und ihren Organisationen sollte mehr demokratische Teilhabe ermöglicht werden. Die Mitbestimmung in den Betrieben wurde in der sozialliberalen Zeit weit umfänglicher ausgebaut als in der gesamten Zeit der BRD sonst.303 Die soziale Planung und Steuerung oblag dabei dem Staat. Die Kommunen wurden als Erfüllungsebene ohne eigene nennenswerte Kom293
Vgl. §§ 77 ff. AFG 1956. Keim, in: ders. (Hrsg.), Sozialplanung, S. 182 ff. 295 Ausbildungsförderungsgesetz vom 19. September 1969, BGBl I 1969, S. 1719. 296 Gesetz über die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an den Hochschulen (Graduiertenförderungsgesetz) vom 2. September 1971, BGBl I 1971, S. 207. 297 Gesetz zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfallleistungen vom 23. Juli 1979, BGBl I 1979, S. 1184. 298 Sozialgesetzbuch – Erstes Gesetzbuch vom 11. Dezember 1975, BGBl I 1975, S. 3015. 299 Art. 1 des 15. Gesetzes zur Änderung des GG vom 8. Juni 1967, BGBl I 1967, S. 581. 300 Siehe dazu ders., The Collected Writings of John Maynard Keynes. 301 Siehe dazu BVerfG, DÖV 2007, 789. 302 Vgl. dazu später Kapitel 5 B. II. 303 Richardi, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 5, S. 225 (229 ff.). 294
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petenzen eingebaut. Sie erfüllten die Sozialhilfe vor Ort zwar weiterhin als Selbstverwaltungsaufgabe, doch zeigte sich auch hier ein deutlicher Trend zur Verrechtlichung. Zahlreiche Verordnungen304 engten den kommunalen Spielraum massiv ein. Mitten in den „sozialen Aufbruch“ jener Zeit platzte die Öl- und Wirtschaftskrise ab 1974. In der Folge schnellte die Quote der Arbeitslosen 1974 von 1,2% auf 2,6%, 1975 auf 4,7% hoch. Der Anteil des Arbeitslosengeldes an den Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit stieg von unter 23% 1973 auf 45% im Jahr 1980 an. Der sozialpolitische Höhepunkt nach der Bundestagswahl 1972 war gleichzeitig der Scheitelpunkt. Wie wohl mit keiner anderen Person ist diese Entwicklung mit Willy Brandt verbunden. Vielleicht auch deshalb, weil er auf dem Höhepunkt ging und die Krise nicht ganz ohne Einfluss auf seine Entscheidung geblieben sein mag. Die Regierung führte von da an Helmut Schmidt der alsbald den Satz prägte: „Mir scheint, daß das Deutsche Volk – zugespitzt – 5% Preisanstieg eher vertragen kann als 5% Arbeitslosigkeit.“305 Das hier dargelegte Gegensatzpaar, hohe Inflation – niedrige Arbeitslosenquote, basierte auf dem von der keynesianistischen Wirtschaftstheorie in Bezug genommenen Phillips-Theorem und schien in den 1970er Jahren widerlegt worden zu sein. Neben die Erhöhung der Arbeitslosigkeit trat ein konstant hohes Maß an Inflation (1974: 7,0%).306 Die Regierung Schmidt begann sich ab Mitte der 1970er Jahre vom Keynesianimus weitgehend zu lösen. Im Vordergrund der arbeitsmarktpolitischen Diskussion des Jahres 1976 stand die Verschärfung der Kriterien zumutbarer Arbeit insofern, als nun auch schlechter entlohnte, härtere und weiter entfernte Arbeit anzunehmen war.307 Wer sich dennoch weigerte, wurde mit einer 304 Im Folgenden nur die neu erlassenen Verordnungen von 1962–1975: Verordnung zur Durchführung des § 22 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1962, S. 515 ff.; Verordnung zur Durchführung des § 81 Abs. 1 Nr. 1 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1962, S. 513 ff.; Verordnung zur Durchführung des § 88 Abs. 2 Nr. 8 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1962, S. 514 ff.; Verordnung zur Durchführung des § 76 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1962, S. 692 ff.; Verordnung nach § 46 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1975, S. 433 ff.; Verordnung zur Durchführung des § 81 Abs. 1 Nr. 3 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1964, S. 343 ff.; Verordnung zur Änderung der Verordnung nach § 47 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1967, S. 1159 ff.; Zweite Verordnung nach § 82 des Bundessozialhilfegesetzes, über die Änderung der Familienzuschläge, BGBl I 1967, S. 1211 ff.; Verordnung zur Durchführung des § 24 Abs. 2 Satz 1 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1970, S. 213 ff.; Verordnung zur Durchführung des § 76 Abs. 2a Nr. 3 lit. b) des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1974, S. 1365 ff.; Verordnung nach § 69 Abs. 6 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1975, S. 997 ff.; Verordnung nach § 81 Abs. 5 des Bundessozialhilfegesetzes, BGBl I 1975, S. 998 ff. 305 Zitiert nach Süddeutsche Zeitung vom 28. Juli 1972, S. 8. 306 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 504 ff. 307 Änderung des § 103 Abs. 1 lit. a) SGB III, BGBl I 1975, S. 3116 ff.
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Sperrzeit belegt. 1976 verdoppelten sich die verhängten Sperrzeiten im Vergleich zu 1974 von 0,47 auf 0,82% aller Arbeitslosengeldbezieher. Aktive Arbeitsmarktpolitik des Staates fand nur in geringem Umfang statt.308 Aktive Arbeitsmarktpolitik in diesem Sinn – als staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik – galt vorwiegend als gescheitert. Teilweise wird mittlerweile dagegen argumentiert, eben diese Politik habe die Arbeitslosenquote bei etwa 4% konstant gehalten und hätte bei konsequenterer Anwendung sogar noch mehr leisten können, wie Beispiele anderer Länder zu dieser Zeit bewiesen hätten.309 Der Glaube aber an eine umfassende wirtschaftliche und soziale Steuerungsmöglichkeit des Staates wich der Nüchternheit einer beginnenden „Krise des Sozialstaates“, die auch und gerade eine solche der Wirtschaft war. Diese Nüchternheit bedeutete auch für die Gerichte und insbesondere die Wissenschaft eine Rückkehr zu einem herkömmlichen Verständnis des Sozialstaatsprinzips: Als Garantie der Existenzsicherung und eines Mindestmaßes an sozialer Sicherheit und Gleichheit,310 nicht mehr hingegen als solche konstant wachsender Lebensqualität.311 Der Wechsel zur konservativ-liberalen Koalition aus CDU/CSU und FDP unter der Führung Helmut Kohls bedeutete ganz anders als der Wechsel 1969 keine grundlegende Änderung der Politik, jedenfalls der Sozialpolitik. Sie war nicht gewollt und wohl ohnehin kaum möglich. Der Konsens erstreckte sich insbesondere in der Haushaltspolitik über die Parteigrenzen hinweg. Konsolidierung lautete die Marschroute und damit einhergehend eine zyklische Finanzpolitik. Die Inflation konnte auf einem, insbesondere im Vergleich zu den 1970er Jahren, niedrigen Niveau gehalten werden. Die Arbeitslosenquote stabilisierte sich auf einem Sockel von ca. 8–9%.312 Dies bedeutete nach 1974/75 (von ca. 1 auf ca. 4%) die zweite Erhöhung der Sockelarbeitslosigkeit.313 In den 1980er Jahren verdichteten sich strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die bereits in den 1970er Jahren begannen: Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, zur Kommunikations308
Ob die Aufgabe der staatlichen Einflussnahme von Vorteil war, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass bspw. Schweden an keynesianistischen Instrumenten festhielt und so einen beachtlichen Aufschwung seit den 1990er Jahren erreichen konnte. 309 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 533. 310 Zacher, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 333 (568 ff.); Stern, Staatsrecht, Band 1, S. 877 ff. 311 Zacher, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 333 (520, 568). 312 Schmid/Oschmiansky, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7, S. 237 (245 ff.). 313 http://www.pub.arbeitsagentur.de/hst/services/statistik/000000/html/start/gif/ b_alo_zr.shtml (Mai 2010).
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technik, zur Mikroelektronik, die beginnende Internationalisierung, welche zu zunehmender Rationalisierung und einem regelmäßig niedrigeren Arbeitskräftebedarf führte. Der ständige Überschuss an Arbeitskräften und die damit verbundene hohe Arbeitslosigkeit führte zum anderen auch zu veränderten Erwerbsbiografien, zu einer steigenden Zahl Langzeitarbeitsloser (ihr Anteil an der Arbeitslosenquote stieg von 15% im Jahr 1981 auf über 30% ab 1985/86) und zu einer Erschütterung der sozialen Grundnorm. Die Unterbrechungen von Sozialversicherungszeiten durch wiederkehrende Arbeitslosigkeit führte zu der häufigeren Inanspruchnahme originärer Arbeitslosenhilfe bzw. von Sozialhilfe.314 Nicht jeder hatte also die Möglichkeit zu arbeiten und dadurch seinen Unterhalt zu bestreiten. Aber auch bei denjenigen, die Arbeit hatten, reichte der erzielte Lohn immer häufiger nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Betroffenen waren auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen.315 Hier begann eine Entwicklung, die erst gut 20 Jahre später unter dem Begriff der „Aufstocker“ breiter politisch und öffentlich diskutiert werden sollte. Dieser Prozess basierte zumindest auch auf politischen Entscheidungen. Die Leistungskürzungen beim Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe durch das Gesetz zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (AFKG) vom 22. Dezember 1981316 führten zur Aussteuerung vieler Arbeitsloser aus den Systemen der Lohnersatzleistung und waren verbunden mit der Überführung zahlreicher Arbeitsloser in die Sozialhilfe. Der Anteil der arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger stieg Anfang der 1980er Jahre an. Auch die Zusammensetzung der Hilfeempfänger veränderte sich. Die Hälfte der Betroffenen war nun im Alter von 18–50 Jahren.317 Das Normalarbeitsverhältnis, welches Grundlage weiter Teile des Sozialrechts war (und vielfach ist), entsprach nicht mehr den tatsächlichen Erwerbsbiografien der Menschen. Die Sozialhilfe beheimatete einen Großteil derjenigen, die nach der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention eigentlich dem AFG hätten unterfallen müssen. Die Kommunen wurden zu den relevanten arbeitsmarktpolitischen Akteuren. Über die in den §§ 19, 20 RFV und §§ 7, 13 RGr statuierte Pflicht der Fürsorgeempfänger zur Arbeit hatten die Kommunen schon in der Weimarer Republik arbeitsmarktpolitische Bedeutung. Dies trug sich in den §§ 18–20 BSHG „Hilfe zur Arbeit“ fort und weitete sich im Zuge des veränderten Empfängerkreises der 1980er Jahre aus. Der finanzielle Druck auf die Kommunen stieg. Das 314 Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7, S. 481 (493 ff.). 315 Vgl. Münder, NVwZ 1984, 206 ff. 316 BGBl I 1981, S. 1497. 317 Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7, S. 481 (481 f.).
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Haushaltsbegleitgesetz des Jahres 1983 brachte durch die Deckelung der Regelsatzhöhe eine faktische Kürzung mit sich und entlastete die Kommunen durchaus erheblich.318 Zweites Instrument war die Stärkung der arbeitsmarktpolitischen Stellung der Kommunen. Die Zumutbarkeitsschwelle für anzunehmende Arbeit im Rahmen des § 18 Abs. 3 BSHG wurde herabgesetzt, gemeinnützige oder zusätzliche Arbeit konnte vermittelt werden (§ 19 Abs. 2 BSHG) und Arbeitsgewöhnung stattfinden (§ 20 BSHG). Die Sanktion bei fehlender Arbeitsbereitschaft war Leistungskürzung auf das zum Leben Unerlässliche (§ 25 Abs. 1–3 BSHG). Die Länder unterstützten die Kommunen durch finanzielle Zuschüsse bei Vermittlungserfolgen oder grds. beim „Stundenlohn“.319 Ausdrücklich ging es dem Gesetzgeber auch um die Bekämpfung von „Missbräuchen bei der Inanspruchnahme von Sozialhilfe“320. Nie löste sich die Armenfürsorge oder die Sozialhilfe von ihrer armenpolizeilichen Tradition völlig. Sanktionsinstrumente, Disziplinierung und Pädagogisierung waren stets vorgesehen und waren Ausdruck eines gewissen Misstrauens, welches mal stärker – in Krisen – mal schwächer – im Aufschwung – in der Anwendung zum Ausdruck kam. Die kommunale Beschäftigungspolitik war allerdings, wie bereits diejenigen der Arbeitsämter zuvor, wenig erfolgreich und starker Kritik ausgesetzt.321 Immerhin 88% der kommunal vermittelten oder geschaffenen Stellen sollen nicht solche in der privaten Wirtschaft gewesen sein.322 Von Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt konnte also kaum gesprochen werden. Wie hätte dies auch gelingen sollen angesichts eines strukturellen Arbeitskräfteüberschusses? So bildete sich eine feste Gruppe derjenigen, die von dem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand kaum oder gar nicht profitierten, was seitdem unter dem Begriff der „Zweidrittelgesellschaft“ diskutiert wurde.323 „Die Gesellschaft hatte sich rasch und nunmehr seit langem daran gewöhnt, die Möglichkeiten eines freiheitlichen Sozialstaates zu kumulieren: Den Wohlstand 318 Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7, S. 481 (484 ff.). 319 Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7, S. 481 (502 ff.). 320 Stellungnahme des BR, in: Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur (2. Haushaltsstrukturgesetz), BT-Drs. 9/842 vom 28. September 1981, Anlage 2, S. 86. 321 Krahmer, ZfSH/SGB 1983, 211 ff. 322 Hartmann (Hrsg.), Praxis der Hilfe zur Arbeit, S. 27, 33. 323 Sommer, Sozialhilfebezug, S. 59 ff.; Leisering, Zweidrittelgesellschaft, S. 58 ff.; Wieczorek, Soziale Verantwortung; Roy, Sozialer Fortschritt 1989, 273 ff.; Büchtemann, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 1985, 32 ff.
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zu privatisieren und die sozialen Risiken zu sozialisieren. Zwischen dieser Inanspruchnahme einer allgemeinen Solidarität für die eigenen Risiken und der Abwehr des Zugriffs allgemeiner Solidarität auf den privaten Wohlstand klafft ein Widerspruch.“324 3. 1990–2002 Sozialpolitik im Zeichen von Wiedervereinigung und Globalisierung Die deutsche Wiedervereinigung war ohne Frage eine sozialpolitische Herausforderung unbekannten Ausmaßes. Praktisch „über Nacht“ musste ein ganzes Land von sozialistischer Planwirtschaft auf kapitalistische Marktwirtschaft umgestellt werden. Nicht aber allein ist die Wiedervereinigung Ursache oder Auslöser der anschließenden Verwerfungen. Die Veränderung der arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen, die demografische Entwicklung und die Krise alter deutscher Wirtschaftsregionen (bspw. des Ruhrgebiets) führten schon seit geraumer Zeit zu einem grundlegenden sozial- und wirtschaftspolitischen Wandel, der sich nur nach der Wiedervereinigung durch das Zusammentreffen mit spezifischen Faktoren dynamischer und radikaler zeigte. Zu diesen Faktoren gehörte innerstaatlich die Bewältigung der Hinterlassenschaft einer maroden DDR-Wirtschaft.325 Der bundesdeutsche Sozialstaat stand vor der wohl größten Integrationsaufgabe seiner Geschichte. Die Veränderungen blieben aber nicht national, sondern wurden global und wirkten sich sodann wieder national aus. Das Schlagwort „Globalisierung“ prägt bis heute die wirtschafts- und sozialpolitische Debatte und entwickelte sich zu ihrem Mantra.326 Sie scheint quasi ein Naturereignis zu sein, welches den Nationalstaaten die politische Steuerung weitgehend entzieht und bloße Anpassungen erzwingt oder erlaubt. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und damit der Ausweitung der Märkte fanden sich die Nationalstaaten im globalen Wettbewerb um Kapital und Arbeit wieder. Der Markt, der Angebot und Nachfrage im ordoliberale Sinne idealtypisch allein bestimmt, war größer geworden und der 324 Zacher, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 333 (577). 325 Ritter, Der Preis der deutschen Einheit, S. 98 ff. 326 Vgl. dazu bspw. einige der zahlreichen Werke aus den letzten Jahren Josef Steinbach, Globalisierung, 2009; Ditmar Brock, Globalisierung, 2008; Theresia Theurl (Hrsg.), „Globalisierung“, 2001; Helga Reimann, Globalisierung, 2002; Klaus Müller, Globalisierung, 2002; Sebastian Schief, Globalisierung, 2003; Jörg Dürrschmidt, Globalisierung, 2004; Jens Badura (Hrsg.), „Globalisierung“, 2005; Stefan A. Schirm (Hrsg.), Globalisierung, 2006; Peter E. Fässler, Globalisierung, 2007.
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Wettbewerb um die günstigsten Produktions- und Arbeitsbedingungen hatte sich verschärft. Die meisten Betriebe der DDR waren unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten auch unabhängig von den veränderten Rahmenbedingungen nicht konkurrenzfähig. Die Wiedervereinigung setzte dementsprechend eine erhebliche Anzahl an Arbeitnehmern frei, welche auf einen ohnehin „überversorgten“ Arbeitsmarkt trafen.327 Mit Frühverrentung und Weiterbildung sowie mit der Rückkehr zu einer aktiven und steuernden Arbeitsmarktpolitik versuchte die Politik den Arbeitsmarkt zu entlasten und verbuchte durchaus einige Erfolge.328 Doch der latente Überschuss an Arbeitskräften und der beginnende globale Wettbewerbsdruck blieben alsbald nicht mehr folgenlos. Die Arbeitslosenquote konnte durch staatliche Investitionen 1991 im Westen noch auf gut 6% gedrückt, im Osten bei gut 10% gehalten werden, freilich unter Inkaufnahme von bis zu 5% Inflation. 1997 jedoch lag die Quote im Westen bereits bei 11% im Osten sogar bei 15,8%. Arbeitslosigkeit wurde nun endgültig zu dem wichtigsten und drängendsten Problem des wiedervereinten Deutschlands. Seit den Sozialreformen Bismarcks329 orientierten sich die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland vor allem an der Lohnarbeit, genauer dem Normalarbeitsverhältnis. Was aber, wenn der wichtigste Bestandteil wegzubrechen droht, auf dem eine Gesellschaft ihre Sozialordnung gründet? Institutionell stand man vor der Frage, ob die Aufgabenverteilung im Bereich der Arbeitsvermittlung effektivierbar war. Die grundgesetzlich vorgesehene Aufgabenträgerschaft des Bundes für die Arbeitslosenhilfe (vgl. Art. 120 GG) wurde nicht angetastet. Das seit den 1950er Jahren geltende Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit hingegen wurde partiell zu Gunsten Privater und der Kommunen geöffnet. Seit Mitte der 1990er Jahre haben die Arbeitslosen nach dem SGB III einen Anspruch auf private Vermittlungsbemühungen, wenn das Arbeitsamt innerhalb von sechs Monaten keine Vermittlung zustande gebracht hat.330 Ebenfalls wurde die Stellung der Kommunen als Akteure auf dem Arbeitsmarkt durch die Ausweitung ihrer Aufgaben 1996 auf die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt 327
Freilich ist es an dieser Stelle notwendig zu differenzieren, doch kann und soll dies hier nicht geleistet werden. Nicht jede Sparte war überversorgt und nicht jeder Arbeitnehmer der DDR fand sich in überversorgten Sparten wieder. Hier geht es um eine Gesamtschau der Arbeitsmarktsituation. 328 So vor allem die sog. „Mega-ABM“ mit einem Fördervolumen von über drei Mrd. DM, dazu Emmerich, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, S. 115 ff. 329 s. o. Kapitel 2 D. 330 Nicht zuletzt ist diese Entwicklung auch auf den EuGH zurückzuführen, der bzgl. Führungskräften das Vermittlungsmonopol bereits frühzeitig kritisierte. Dazu EuGH, NJW 1991, 2891 ff., anders hingegen noch BVerfGE 21, 245 ff.; zur Entwicklung der privaten Arbeitsvermittlung vgl. Spellbrink, SGb 2004, 153 ff.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
gestärkt. Bis dato hatten die Kommunen bereits ca. 200.000 Sozialhilfeempfänger durch die „Hilfe zur Arbeit“ vermitteln können. Dies war angesichts des Klientels, das weitgehend aus Langzeitarbeitslosen und ansonsten als schwer vermittelbar geltenden Personen bestand, durchaus als Erfolg zu werten und war letztlich einer der Gründe für diese „Kommunalisierung“ der Arbeitsvermittlung.331 Kritiklos blieb dieser Weg nicht. In den 1990er Jahre fand eine intensive Diskussion über die Vor- und Nachteile kommunaler Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik statt.332 Die Befürworter ausgeprägter kommunaler Aktivität auf diesem Gebiet führten vor allem die regionale Komponente an. Die Nähe zu den Arbeitgebern und die so eher mögliche, unbürokratische Vermittlung und individuellere Betreuung. Ganz anders sei dies bei der Bundesanstalt für Arbeit. Diese zeichne sich durch Zentralismus, Bürokratisierung und Schematisierung aus. Eine bedarfsgerechte Ausrichtung der Vermittlungsbemühungen sei so kaum möglich. Auch die Tradition kommunaler Arbeitsmarktpolitik seit ihrer Etablierung wurde hier als Erfahrungsbonus positiv angeführt. Die Skeptiker warnten hingegen vor einer zu ausgeprägten Kommunalisierung. Die Abstimmung und Vereinheitlichung von Instrumenten der Arbeitsvermittlung sei ein Fortschritt im Vergleich zum kommunalen Arbeitsnachweis.333 Gerade in Zeiten hoher Mobilität, in denen von den Arbeitnehmern viel Flexibilität verlangt werde, müsse die Arbeitsmarktpolitik gesamtstaatlich, partiell sogar gesamteuropäisch geregelt werden und könne nicht an kommunalen Gebietsgrenzen aufhören. Jene hier nur angerissenen Aspekte spielen politisch, aber auch rechtlich für die Trägerentscheidung eine nicht unerhebliche Rolle. An gegebener Stelle wird darauf näher einzugehen sein. Deutlich wird hier aber bereits, dass eine gewisse Hinwendung zu den Kommunen ein politisches Ergebnis war. Die Globalisierung führte politisch also zunächst zur Reaktivierung regionaler Kompetenzen und damit zu einer Abkehr von der eher staatszentrierten Politik der 1950er und insbesondere der 1970er Jahre.334 Daneben wurde seit den 1980er Jahren materiell die Abkehr vom Ziel besserer Lebensqualität zu Gunsten einer Hinwendung zur sozialen Grundsicherung vorangetrieben. Außerhalb der klassischen Lohnersatzleistungen – primär das Arbeitslosengeld – wurde jene das sozialpolitische Leitbild 331 Freilich unter Hinweis darauf, dass nach wie vor Vermittlung nicht selten in den zweiten Arbeitsmarkt erfolgte. Vgl. dazu Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7, S. 481 (493 ff.). 332 Dazu ausführlich später mit Nachweisen. 333 s. o. Kapitel 2 C. II. und Kapitel 2 D. II. 2. 334 Ausführlich Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bände 3 und 9.
F. Sozialpolitik in der BRD
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der 1990er Jahre. Herabsetzungen der Bezugsdauer oder des Leistungsumfangs waren die Mittel, durch welche sich die neuen Vorgaben zu realisieren begannen. Schauplätze dieser Politik waren primär die Sozialversicherungszweige und die steuerfinanzierten Sicherungssysteme außerhalb der Sozialhilfe, die zumeist in den 1970er Jahren geschaffen wurden; beispielhaft soll hier die Graduiertenförderung genannt werden. Diese Bereiche galten als „Prügelknaben der Rezession“.335 Die Sozialhilfe selbst war zunächst eher mittelbar von Einschränkungen betroffen, freilich war der Spielraum hier ohnehin äußerst begrenzt. Es ging insoweit eher um die Anpassung der Regelsatzhöhe und das Abstandsgebot, welches die Höhe der Sozialhilfe für bestimmte Haushaltskonstellationen nach oben am Maßstab unterer Einkommensbezieher begrenzen sollte.336 Die Konnotation von Reformen veränderte sich im Vergleich zum Beginn der 1970er Jahre spürbar ins Negative. So kann man wohl sagen, dass die Sozialhilfe von Reformen in dieser Zeit weitgehend „verschont“ blieb. Die Arbeitslosenhilfe ist demgegenüber geradezu beispielhaft für die kontinuierliche Reduzierung der öffentlichen Fürsorge.337 Das Jahr 1994 bildete die erste Etappe. Hier wurde die Bezugsdauer der originären Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre herabgesetzt.338 Anschließend scheiterten verschiedene Reformprojekte der Regierung Kohl wie die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe am Widerstand der den Bundesrat dominierenden Opposition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Im Jahr 2000 waren es aber diese Oppositionsparteien, die 1998 unter Gerhard Schröder die Regierung übernahmen, welche die originäre Arbeitslosenhilfe abschafften. Die Kritik war breit. Nicht nur wegen des seltsam erscheinenden Sinneswandels, sondern auch aus sozialpolitischen Gründen.339 Eine nicht unerhebliche Zahl erwerbsfähiger Personen wurde nun direkt im Falle der Arbeitslosigkeit in die nach wie vor eher arbeitsvermittlungsfremde Sozialhilfe verschoben und damit weitgehend der Vermittlungstätigkeit der Bundesanstalt für Arbeit entzogen. Arbeitslosenhilfe konnte von nun an nur noch beziehen, wer zuvor Arbeits335 Auweiler, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 10, S. 541 ff. 336 Vgl. Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 11, S. 765 (790 ff.). 337 Vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. 338 Gesetz zur Umsetzung eines Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993, BGBl I 1993, S. 2353 ff. Dadurch wurde der § 135a in das Arbeitsförderungsgesetz einfügt, dazu BVerfG, DVBl 2001, 896 f. 339 Ausführlich aus jüngster Zeit die Positionen zusammenfassend Neumann, Paradigmenwechsel; Trampusch, Der erschöpfte Sozialstaat. Beide mit zahlreichen vertiefenden Hinweisen.
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Kap. 2: Die historische Perspektive
losengeld bezog und die Bezugsdauer abgelaufen war, also im Anschluss an die Versicherungsleistung. 2005 schließlich ging die Regierung Schröder den letzten Schritt. Die zweite Regierungsperiode Schröders (2002–2005) zeichnete sich ganz wesentlich durch eine Reihe von Gesetzen aus, die insgesamt auf dem Konzept der Hartz-Kommission beruhten und in Etappen eingebracht wurden. Das letzte Gesetz war Hartz IV und brachte 2005 die vollständige Abschaffung der Arbeitslosenhilfe mit sich.
Kapitel 3
Hartz IV Die Bezeichnung Hartz-Reformen geht auf den Namen des Vorsitzenden der Kommission für „moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, Peter Hartz zurück. Im Wesentlichen zwei Aspekte haben dazu geführt, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Kommission Anfang 2002 ins Leben rief. Da war zum einen der Skandal um die Vermittlungsarbeit der Bundesanstalt für Arbeit. Hier sollen bis zu 70% der in den Statistiken verbuchten Vermittlungserfolge tatsächlich keine gewesen sein.1 Zum anderen war da die Erwartung, die Bundestagswahl 2002 angesichts schlechter Wirtschaftsdaten und hoher Arbeitslosigkeit zu verlieren. Letztgenannte Annahme verdichtete sich im Laufe des Wahljahres 2002 zusehends und führte schließlich zur Tätigkeitsbeschreibung der Kommission. Ursprünglich angetreten, um strukturelle Verbesserung bei der Vermittlung durch die Bundesanstalt und ihre Arbeitsämter vorzuschlagen, legte die Kommission am Ende ein grundlegendes Reformkonzept zum Umbau des Sozialstaates vor. Hartz prägte die Arbeit der Kommission allerdings keinesfalls allein. Immerhin repräsentierten die 15 Kommissions-Mitglieder die Arbeitsmarktparteien, die Bundesanstalt für Arbeit, wichtige deutsche Unternehmen, Handwerk und Politik.2 Außerdem muss, was insbesondere Peter Hartz früh betonte, zwischen dem Konzept und seiner Umsetzung unterschieden werden. Das von der Kommission vorgelegte Konzept reichte zum Teil weiter als die gesetzgeberische Umsetzung. In wesentlichen Teilen, insbesondere bei der Frage auf welchem Niveau eine Zusammenführung von Arbeitslosenund Sozialhilfe erfolgen sollte, äußerte sich die Kommission zumindest nicht eindeutig. In vier Etappen sollte die Umsetzung des Konzepts erfolgen, Hartz I–IV. Die Gesetzespakete Hartz I–III setzten allesamt innerhalb der bestehenden rechtlichen Grundstrukturen an und ergänzten diese um neue arbeitsmarktpolitische Instrumente oder bauten vorhandene Instrumente weiter aus und bereiteten Hartz IV vor.3 Zeitlich ergingen die Gesetze Hartz I und II vor 1
„Vermittlungsskandal“ Titel Stern, Ausgabe 50/2000. Liste bei Lühmann, Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, S. 46. 3 Ausdrücklich Hartz II, BT-Drs. 15/26, S. 3. 2
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Kap. 3: Hartz IV
und Hartz III zeitgleich mit Hartz IV. Die ersten beiden Etappen brachten in einigen Bereichen Leistungskürzungen zur Steigerung der Attraktivität von Lohnarbeit4 und in anderen Leistungserhöhungen5 und Modifizierung der Zumutbarkeitskriterien (§ 124 Abs. 4 SGB III) zur Steigerung der regionalen Mobilität der Empfänger mit sich. Daneben wurde der Dienstleistungscharakter der Arbeitsämter durch Personal Serviceagenturen ausgeweitet (§ 37c SGB III). Hartz III übernahm die Umsetzung der ursprünglichen Kernaufgaben einer Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Es benannte sie in Bundesagentur für Arbeit um (§§ 367 ff. SGB III) und richtete flächendeckend Jobcenter ein. Außerdem sollte durch Controllingsysteme ein Leistungsvergleich der einzelnen Center ermöglicht werden, um so – flankiert von „persönlicher Verantwortung“ der Vermittler für die Vermittlungserfolge – insgesamt zu einer besseren Vermittlung zu kommen. Dabei gliedert sich die Bundesagentur für Arbeit seit Hartz III in die Zentrale (Nürnberg), die Regionaldirektionen (bislang Landesarbeitsämter) und die Agenturen für Arbeit vor Ort (die bisherigen Arbeitsämter). Hartz III – also die institutionellen Grundlagen – wurde, wie bereits erwähnt, zusammen mit Hartz IV erlassen. Dabei stellte sich das Gesetzgebungsverfahren von Hartz IV jedoch als bedeutend langwieriger heraus. Die Oppositionsparteien (CDU/CSU und FDP) hatten eigene, teilweise vollständig ausgearbeitete Alternativkonzepte anzubieten, welche sie durch ihre Mehrheit im Bundesrat weitgehend auf Augenhöhe mit der Regierung diskutieren konnten. Hier ist besonders das von der CDU/CSU vertretene Existenzgrundlagengesetz (EGG) dem Modell der Regierungskoalition gegenüberzustellen.
A. Hartz-Konzept und erster Entwurf I. Das Grundkonzept der Hartz-Kommission Am 16. August 2002, kurz vor der anstehenden Bundestagswahl, legte die Kommission „moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ihren über 350seitigen Abschlussbericht vor. Die durchaus heterogen besetzte Kommission verabschiedete den Bericht einstimmig. Wäre nicht Hartz IV das Wort des Jahres 2004 geworden, so hätten sich im Bericht zahllose Alternativen gefunden. Masterplan, JobCenter, PersonalServiceAgentur, Job-Maschinen, 4 Streichung der jährlichen Dynamisierung des Arbeitslosengeldes oder der Arbeitslosenhilfe (§ 138 SGB III); Absenkung des anrechnungsfreien Vermögens (§ 1 Abs. 2 ArbeitslosenhilfeVO). 5 Anspruch auf Bewerbungs- und Reisekosten (§ 45 Satz 1 SGB III), Mobilitätsund Übergangshilfen (§§ 53 Abs. 1; 54 SGB III).
A. Hartz-Konzept und erster Entwurf
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Ich-AG, Mini-Jobs oder Profis der Nation sind nur einige Beispiele, die bereits auf dem Deckblatt auftauchen. Der Begriffsdschungel war Ausdruck eines der wesentlichen Anliegen des Konzepts: Die Arbeitsvermittlung sollte ein neues, moderneres Image erhalten. Die Umbenennung der Bundesanstalt und Bundesagentur ist zusätzlich Beleg dafür. Alte Instrumente kamen so unter neuem Label daher, neue Instrumente wurden gleich so benannt, dass sie dem Zeitgeist entsprechend international kompatibel klangen. Inhaltlich stand die Verheißung im Mittelpunkt des Berichts, zwei Mio. Arbeitslose weniger (bei etwa vier Mio. im Jahr 2002)6 in zwei Jahren erzielen zu können. Dafür entwickelte die Kommission 13 Innovationsmodule.7 Während sich die anderen Module regelmäßig auf einen begrenzten, als besonders förderungswürdig oder betreuungsintensiv geltenden Personenkreis wie gering qualifizierte oder ältere Arbeitslose konzentrierten und diesem besondere Vermittlungsinstrumente und Wege zurück in Arbeit bereiten sollten, enthielt das Modul 6 den weitest reichenden und in jeder Hinsicht einschneidendsten Wandel. Die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe konnte, wenngleich Modul 6 in dem Abschlussbericht einen auffällig zurückgenommenen Platz einnahm, als Kernstück des Konzepts gelten. Eine Reihe der entscheidenden Fragen, so auch diejenige nach der Trägerschaft, bauten darauf auf. In der Analyse des exekutiven status quo blieb der Bericht knapp. Der status quo wurde als kosten- und verwaltungsintensiv kritisiert. Erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger seien aus der Arbeitsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit ausgesteuert und Langzeitarbeitslosigkeit so gefördert worden, Umgekehrtes gelte für die Arbeitslosenhilfeempfänger. Im Kern wurde kritisiert, dass eine unbegrenzte Bezugsdauer auf statussicherndem Niveau eine Finanzierung von Arbeitslosigkeit und ein Anreiz zur Ausübung einer Erwerbsarbeit daher vielfach nicht gegeben gewesen sei.8 Eine Aufteilung von privilegierten (Arbeitslosenhilfe) und deprivilegierten Arbeitslosen (Sozialhilfe) sei nicht sachgerecht. Es müsse ein System für alle erwerbsfähigen Bedürftigen geben. Die Leistung sollte als Arbeitslosengeld II bezeichnet werden und so den Anschlusscharakter an das Arbeitslosengeld (dann I) deutlich machen.9 Es wurde au6
Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), Arbeitsmarkt 2005, S. 63 ff.: http://www.pub. arbeitsagentur.de/hst/services/statistik/000100/html/jahr/arbeitsmarkt_2005_gesamt. pdf. 7 Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 67 ff. 8 Vgl. Holzner/Ochel/Werding, Vom OFFENSIV-Gesetz zur „Aktivierenden Sozialhilfe“, S. 6 ff. 9 Hierzu und zum Folgenden Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 128 f.
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Kap. 3: Hartz IV
ßerdem als steuerfinanzierte Leistung konzipiert, die sich an dem „Finanzstatus“ und dem „familiären Kontext“ des Arbeitslosen orientierte. Das Leistungsniveau wiederum sollte wohl unter dem des Arbeitslosengeldes I liegen.10 Die Erfüllung der neuen Sozialleistung sollte in den Jobcentern – den bisherigen Arbeitsämtern vor Ort – erfolgen. Die Bundesagentur für Arbeit, an deren Rechtsform prinzipiell nichts geändert wurde,11 stellte nach dem Konzept als Zentrale die flächendeckende und einheitliche Erfüllung vor allem durch den Erlass von Verwaltungsvorschriften sicher. Das neue Leistungssystem, welches an die Stelle der Arbeitslosenhilfe treten würde, wurde also prinzipiell der Bundesexekutive zugeordnet, die kommunale Ebene aber keineswegs übersehen. Das Hartz Konzept wies durchaus einen stark ausgeprägten örtlichen Bezug auf. Im Hartz Bericht tauchte der Begriff „vor Ort“ allein 26 mal, ein Bezug auf die Kommunen begrifflich 66 mal auf. An zahlreichen Stellen betonte die Kommission, dass die Abstimmung mit den regionalen Akteuren des Arbeitsmarkts unbedingt notwendig sei. Instrumente dürften „nicht von oben vorgegeben“12 werden, sondern müssten sich an den „natürlichen Wirtschaftsräumen“13 orientieren. So führte der Bericht weiter aus: „In den operativen Bereichen müssen die Ermessensspielräume vor Ort gesteigert werden, um der Kreativität der Mitarbeiter Raum zu geben.“14 Es müsste „höhere Flexibilität und mehr Gestaltungsspielräume vor Ort“15 geben. „Die Entscheidung über die angemessene organisatorische Differenzierung des Dienstleistungsangebotes wird vor Ort getroffen.“16 Die Ein10 So zumindest eine Grafik, welche die Umsetzung des Konzepts illustrieren soll, Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 50. 11 Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 214. 12 Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 53. 13 Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 53. 14 Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 15. 15 Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 51.
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beziehung der regionalen Ebene sollte durch Vereinbarungen der Arbeitsagenturen mit den jeweiligen Unternehmen und Kommunen geschehen. Dass der durchaus prominente örtliche Bezug des Konzepts nicht eine stärkere organisatorische und institutionelle Einbindung der Kommunen zur Folge hatte, hatte zahlreiche Ursachen. Zum einen darf nicht vergessen werden, welcher Auftrag der Kommission ursprünglich zugrunde lag. Angesichts des Vermittlungsskandals sollte sie die Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit reformieren. Zum anderen hatten nicht die Länder oder ein einzelnes Land, geschweige denn die Kommunen selbst die Kommission ins Leben gerufen, sondern die Bundesregierung und damit der Bund. Dies schlug sich auch auf die personelle Zusammensetzung der Kommission nieder. Neben Vertretern großer gesamtdeutscher Unternehmen (Deutsche Bank AG, BASF) fanden sich dort solche der Deutschen Bahn, der Gewerkschaften IG Metall und ver.di, des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und der Bundesanstalt für Arbeit. Einziger Vertreter der Kommunen war Wolfgang Tiefensee als Oberbürgermeister der Stadt Leipzig. Der Entscheidung für die Trägerschaft der Bundesagentur für Arbeit widersprach im Hartz-Konzept auch nicht die konkrete Ausgestaltung der Leistung. Die traditionell kommunale Sozialhilfe sollte danach nicht logisch zum Vorbild werden. Zwar würde es sich auch bei der neuen Leistung um eine solche der Fürsorge handeln.17 Über die konkrete Leistungshöhe oder -anknüpfung schwieg der Bericht aber weitgehend. Inhaltliche Leitbilder des Berichts waren Individualisierung und Aktivierung oder auch fördern und fordern. Terminologisch wurde der Arbeitslose zum Kunden der Jobcenter und sollte so eine individuelle Ansprache und Aufwertung erfahren. Die Fallmanager würden durch reduzierte Fallzahlen den Einzelnen intensiver betreuen können und so schneller und häufiger zu Vermittlungserfolgen gelangen, so das Konzept. Allen erwerbsfähigen Arbeitslosen sollten nun die Arbeitsvermittlungsinstrumente des SGB III zur Verfügung gestellt werden; Aus- und Fortbildung, Kostenerstattung für Bewerbungen, Bewerbungstraining und Vieles mehr (fördern). Der Kunde des Arbeitsamts sollte jedoch seine Kundenstellung auch anderweitig erfahren. Durch die Unterzeichnung einer Eingliederungsvereinbarung sollte dem Kunden bewusst werden, dass gewährte Leistungen zumindest partiell von dem Willen der Verwaltung abhängen, also auch wieder entzogen werden 16
Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 71. 17 Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 127.
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könnten.18 Das betraf nicht sämtliche Leistungen der Fürsorge, doch besondere Förderung wurde auch von dem Wohlverhalten des Kunden abhängig gemacht. In der Eingliederungsvereinbarung verpflichtete sich der Kunde im Wesentlichen zu einer bestimmten Anzahl Bewerbungen oder den Besuch von Weiterbildungsmaßnahmen (fordern). Der geplante Ausbau kooperativen und vertraglichen Verwaltungshandelns stand unter der Prämisse der Aktivierung der Arbeitslosen.19 Insgesamt, so stellte sich die Kommission vor, würde eine Passivierung der Betroffenen überwunden, die vorher entweder durch eine Verrentung im Rahmen der Arbeitslosenhilfe oder durch die vermittlungsferne Sozialhilfe eingetreten sei. War aktive Arbeitsmarktpolitik noch das Schlagwort der 1960er, 1970er und partiell der 1990er Jahre trat nun die aktivierende Arbeitsmarktpolitik an ihre Stelle.
II. Der Regierungsentwurf zum SGB II (SGB II-Reg) Wesentliche Fragen blieben offen und mussten von der Bundesregierung durch ihren Gesetzentwurf zur Schaffung eines Sozialgesetzbuchs II geschlossen werden. Zum einen entstand die Frage nach der konkreten Abgrenzung durch das Merkmal der Erwerbsfähigkeit. Ohne größere Diskussion übernahm die Bundesregierung für den § 13 SGB II-Reg20 die Definition der Rentenversicherung. „Die Regelung lehnt sich an § 43 Abs. 2 Satz 2 des Sechsten Buches an. Erwerbsfähig ist eine Person, die unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann und darf.“21 Dem Hartz-Konzept entsprechend bestimmte der Regierungsentwurf die Bundesagentur für Arbeit zur alleinigen Trägerin der neuen Sozialleistung.22 Die von der Hartz-Kommission vielfach betonte Einbindung der kommunalen Ebene sollte nach dem SGB II-Reg durch eine nicht näher spezifizierte Zusammenarbeit erreicht werden. So forderte § 18 Abs. 1 des SGB II-Reg: „Die Kompetenz insbesondere der Kommunen bei der Eingliederung Hilfebedürftiger in Arbeit soll im Rahmen von Vereinbarungen zwischen den 18 Kommission zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Abschlussbericht, S. 128. Vgl. auch Bieback, ZfRSoz 2009, 185 ff. 19 Rechtsförmlich kann die Eingliederungsvereinbarung als subordinationsrechtlicher, hinkender Austauschvertrag bezeichnet werden. Kritisch zum Eingliederungsvertrag Berlit, info also 2003, 195 (205); vgl. zum kooperativen Verwaltungshandeln grundlegend Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns, S. 216 ff. 20 BT-Drs. 15/1516. 21 BT-Drs. 15/1516, S. 52. 22 § 6 SGB II-Reg, dazu BT-Drs. 15/1516, S. 10, 52.
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Agenturen für Arbeit und den Kommunen genutzt werden.“23 Abs. 3 führte weiter aus: „Die Agenturen für Arbeit sollen mit Gemeinden, Kreisen und Bezirken auf deren Verlangen Vereinbarungen über das Erbringen von Leistungen zur Eingliederung nach diesem Gesetz mit Ausnahme der Leistungen nach § 16 Abs. 1 schließen, wenn sie den durch eine Rechtsverordnung festgelegten Mindestanforderungen entsprechen.“ Später wurde in der Begründung konkretisiert: „Die Agenturen für Arbeit sind gehalten, mit den kommunalen Trägern auf deren Verlangen Vereinbarungen über das Erbringen von Leistungen nach diesem Buch mit Ausnahme der in § 16 Abs. 1 genannten, originär von der Agentur für Arbeit zu erbringenden Leistungen abzuschließen. Die Vereinbarungen können öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Natur sein und jede Form der Zusammenarbeit betreffen.“24 Die Agenturen für Arbeit sollten also vor Ort u. a. mit den Kommunen vertragliche Kooperationsmodelle entwickeln. Da die Kommunen jedoch keine originären Träger der Grundsicherung sein würden, hätten sich nur Mitwirkungsmodelle ergeben können. Diese wiederum jenseits originärer Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit nach § 16 SGB II-Reg, also der Eingliederungsinstrumente nach dem SGB III. Letztlich konnte den Kommunen daher eher eine beratende und unterstützende, allenfalls eine partiell mitverwaltende Rolle zukommen. So wenig die Kommunen mit der Grundsicherung institutionell zu tun haben sollten, so wenig galt dies freilich auch für ihre Finanzierung. Die Finanzlast oblag nach dem Trägermodell des SGB II-Reg der Bundesagentur für Arbeit, respektive dem Bund. Durch die Aussteuerung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen aus der Sozialhilfe (nun SGB XII), hätte sich eine Entlastung von 11,6 Mrd. Euro ergeben.25 Dieser wurden Minderreinnahmen und Mehrausgaben in Höhe von 9,1 Mrd. Euro gegenübergestellt, die sich aus Änderungen am Wohngeldrecht, Übergangsregelungen und vor allem durch die Absenkung des Umsatzsteueranteils der Länder ergeben hätten. So wies der Entwurf der Bundesregierung eine Entlastung der Kommunen von 2,5 Mrd. Euro jährlich aus. Die Belastung der Länder sollte gleich, die des Bundes durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe geringer ausfallen. Letztlich also versprach der Entwurf eine Kostensenkung für den Staat. Diese hätte sich durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe auf der einen Seite und der materiellen Ausformung der Grundsicherung auf der anderen Seite ergeben. Die vom Hartz-Konzept zumindest nicht explizit getroffene Entscheidung, auf welchem Niveau eine Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe stattfinden würde, beantwortete die Bundesregierung mit demjenigen der Sozialhilfe. Die Grundsicherung sollte dem pauschalierten Regelleistungssystem der Sozialhilfe 23 24 25
BT-Drs. 15/1516, S. 13. BT-Drs. 15/1516, S. 55. Hierzu und zum Folgenden BT-Drs. 15/1516, S. 4 f.
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folgen; die bisherige Sozialhilfe nach dem BSHG jedoch für SGB II und SGB XII nicht unverändert übernommen werden; einmalige Leistungen weitgehend gestrichen und Bestandteil des im Vergleich zur alten Rechtslage erhöhten Regelsatzes werden. Der Regelsatz würde nun also mehr umfassen und die Eigenverantwortung der Betroffenen insoweit gestärkt werden, dass sie für Sonderbedarfe Rücklagen zu bilden haben sollten. Anders als im Rahmen des SGB XII, in dem die Länder anhand bestimmter – durch Rechtsverordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales festgelegter – Kriterien die Regelsätze selbst beschlossen, legte der Bund im SGB IIReg bereits die Höhe der Regelsätze selbst fest. Für Westdeutschland wurden 345 Euro und für Ostdeutschland 331 Euro angegeben.26 Die hierin angelegte Unterscheidung basierte auf der (verfehlten) Annahme unterschiedlich hoher Lebenskosten für den regelsatzrelevanten Bereich. Neben dem Regelsatz sollten die Heiz- und Wohnkosten in angemessenem Rahmen gesondert übernommen werden. Die Kostensituation unterschied sich zwischen Ost und West jedoch wesentlich nur in diesem Bereich, Unterschiede in den Lebenshaltungskosten waren ansonsten eher von Faktoren abhängig, die Ost und West gleichermaßen betrafen.27 Der neue synallagmatisch oder kooperativ angelegte Charakter der Grundsicherung sollte insbesondere durch die Eingliederungsvereinbarung zum Ausdruck kommen.28 Danach hätte sich der Arbeitslose zu Weiterbildungen, Bewerbungen etc. verpflichten müssen und ihm hätten bei Nichtbefolgen Sanktionen in Form von Herabsetzung der Geldleistung gedroht. Ein weiterer Grund für das Absenken des Regelsatzes konnte auch die Nichtannahme zumutbarer Arbeit sein.29 Wann Arbeit zumutbar sein würde und insbesondere wann nicht unzumutbar, bestimmte § 10 SGB II-Reg. In seinem Abs. 2 hieß es: „Eine Arbeit ist nicht allein deshalb unzumutbar, weil 1. sie nicht einer früheren beruflichen Tätigkeit des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen entspricht, für die er ausgebildet ist oder die er ausgeübt hat, 2. sie im Hinblick auf die Ausbildung des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen als geringerwertig anzusehen ist, 3. der Beschäftigungsort vom Wohnort des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen weiter entfernt ist als ein früherer Beschäftigungs- oder Ausbildungsort, 4. die Arbeitsbedingungen ungünstiger sind als bei den bisherigen Beschäftigungen des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen.“30 Damit sollte der Zumutbarkeitsbegriff ein anderer und zwar ein strengerer sein als jener im SGB III (§ 121 SGB III). In § 16 Abs. 2 26
BT-Drs. 15/1516, S. 55. Bspw. Stadt und Land, Wirtschaftskraft, Wohlstand und soziale Struktur der Region. 28 § 15 SGB II-Reg, dazu BT-Drs. 15/1516, S. 13. 29 § 31 Nr. 1 lit. c) SGB II-Reg, BT-Drs. 15/1516, S. 16. 30 BT-Drs. 15/1516, S. 11. 27
B. Der Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Existenzgrundlagen (EGG) 113
Nr. 6 SGB II-Reg wurde in das Ermessen der Arbeitsagenturen gestellt, öffentliche Arbeitsgelegenheiten zu schaffen (Ein-Euro-Jobs31). Bei einer Nichtannahme durch den Kunden hätte ihm die Absenkung der Leistung nach § 31 SGB II-Reg gedroht, gleichgültig, ob dies auch eine Pflicht aus der Eingliederungsvereinbarung gewesen sein würde. Die Absenkung wäre obligatorisch gewesen, wenn der Betroffene jener Beschäftigung nicht nachgekommen wäre (§ 31 Nr. 1 lit. d) SGB II-Reg).32
B. Der Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Existenzgrundlagen (EGG) Die Zielrichtung und das Grundanliegen von Hartz-Konzept und Regierungsentwurf – die Absenkung der Arbeitslosenzahlen durch effektivere Verwaltung – trug auch das Konzept von CDU/CSU, dem Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Existenzgrundlagen (EGG)33. Doch ging es partiell deutlich über die Instrumente der Hartz-Vorschläge hinaus und setzte teilweise andere Akzente. Dies galt sowohl inhaltlich wie auch besonders in organisatorischer Hinsicht. Das EGG gründete sich auf der Analyse „aktivierende Sozialhilfe“ des ifo-Instituts.34 Das EGG und der ifo-Bericht betrieben insgesamt noch offener und deutlicher die Hinwendung zur Aktivierung der Betroffenen. Anders formuliert, sie betonten die fordernde Seite der neuen Leistung noch stärker. Wie der Regierungsentwurf auch traf im EGG die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe mit der Etablierung eines Ersatzsystems auf Sozialhilfeniveau zusammen. Das EGG war also ebenfalls in seinem Leistungszuschnitt nicht auf Statussicherung angelegt. Es sollte als zwölftes Buch in das Sozialgesetzbuch eingefügt werden und wäre an vielen Stellen noch näher an der Sozialhilfe gewesen. Die pauschalierten Regelleistungen sollten bspw., wie es auch bislang im BSHG der Fall war, von den Ländern festgelegt werden (§ 44 EGG), jedoch – wie im Regierungsentwurf – bislang einmalige Leistungen mit umfassen (§ 35 Abs. 2 EGG). Einig zeigten sich Regierung und Opposition auch bzgl. der Abgren31
Der Name sollte zum Ausdruck bringen, dass die Tätigkeit nicht klassisch entlohnt würde, sondern eine Entschädigung leistet, die eher symbolisch ist und primär der Arbeitsgewöhnung als der Statushebung dienen würde. Diese Entschädigung wurde auf das Arbeitslosengeld nicht angerechnet. 32 In diese Richtung gingen auch spätere Vorschläge des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (Januar 2010), BMAS, Arbeitsentwurf über ein Gesetz zur Einführung der eigenverantwortlichen und kooperativen Aufgabenwahrnehmung in der Grundsicherung für Abreitsuchende: http://www.bmas.de/portal/41716/property=pdf/ 2010__01__26__arbeitsentwurf__jobcenter.pdf (Februar 2010). 33 BT-Drs. 15/1523. 34 Sinn/Meister/Ochel/Werding, ifo Schnelldienst 2007, 3 ff.
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Kap. 3: Hartz IV
zung zwischen neuer Leistung und Sozialhilfe. Für beide stand die Erwerbsfähigkeit im Zentrum und beide schlugen dazu vor, sich an dem rentenversicherungsrechtlichen Begriff (§ 43 Abs. 2 SGB VI) zu orientieren. Anders als das Regierungskonzept sprach das EGG jedoch eine Vermutung der Erwerbsfähigkeit bei Personen zwischen 18 und 65 Jahren (§ 11 Abs. 2 EGG) aus.35 Die Beweislast für eine Erwerbsunfähigkeit sollte also den Arbeitslosen treffen. Als Parallele zum Regierungsentwurf ist auch die Eingliederungsvereinbarung zu sehen (§ 16 EGG),36 welche schon Bestandteil des hessischen OFFENSIV-Gesetzes war.37 Ebenfalls ähnlich zum Regierungsentwurf war die Behandlung der Frage nach der Zumutbarkeit von Arbeit im EGG angelegt. Der Katalog des § 10 SGB II-Reg beinhaltete – ebenso wie auch das EGG – eine Generalklausel, nach der Arbeit für die betroffene Person nur unzumutbar sein sollte, „wenn sie körperlich oder geistig hierzu nicht in der Lage ist oder wenn der Arbeit oder der Arbeitsgelegenheit ein sonstiger wichtiger Grund entgegensteht“ (§ 13 Abs. 3 EGG).38 Beide Konzepte erwähnten das Kindeswohl explizit als zu berücksichtigenden Faktor (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II-Reg, § 13 Abs. 4 EGG) und beide wiesen einen ausgeprägten Negativ-Katalog auf, der vier (SGB II-Reg) bzw. sechs (EGG) Punkte auflistete, welche zumindest nicht gegen die Zumutbarkeit sprechen sollten.39 EGG und ifo-Vorschlag gingen hier partiell auseinander. Nach dem EGG sollten die Kommunen jedem Erwerbsfähigen eine Arbeit anbieten können. Hierfür würde ein Lohn gezahlt, welcher den Betroffenen jedenfalls auf das Sozialhilfeniveau, regelmäßig etwas darüber liegend, bringen würde. Erwerbsfähige, aber nicht erwerbstätige Arbeitslose sollten nach dem Vorschlag des ifo-Instituts generell und nicht im Einzelfall 50% weniger Leistungen bekommen, als es die Sozialhilfe vorgesehen hätte, um einen adäquaten finanziellen Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu schaffen. Die kommunalen Arbeitsgelegenheiten würden mittel- bis langfristig von Privaten abgelöst und so würden die Arbeitslosen zurück auf den ersten Arbeits35
Siehe BT-Drs. 15/1523, S. 10, 64. BT-Drs. 15/1523, S. 11, 65. 37 Das hessische OFFENSIV-Gesetz basierte ebenfalls auf Ausarbeitungen des ifo-Instituts und wurde im Februar und November 2002 in den Bundestag eingebracht. Dort fand es keine Mehrheit. Der Gesetzentwurf der hessischen Staatsregierung enthielt die wesentlichen Punkte des EGG bereits und kann als sein Vorläufer bezeichnet werden. Siehe dazu BT-Drs. 14/8565, S. 15, 24; Holzner/Ochel/Werding, Vom OFFENSIV-Gesetz zur „Aktivierenden Sozialhilfe“, S. 6 ff. 38 BT-Drs. 15/1523, S. 10, 64. 39 Hier geht es vorrangig um Fragen wie Pendelzeiten, Umzug, Qualifikation oder Arbeitszeiten. 36
B. Der Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Existenzgrundlagen (EGG) 115
markt gelangen. Kriterien der Zumutbarkeit oder Ähnliches bedurfte es für dieses Konzept nicht, da eine Generalsanktion für nicht erwerbstätige Erwerbsfähige vorgesehen war.40 Gleichzeitig übernahm das EGG aber die Vorschläge des Instituts bzgl. der enormen Ausweitung kommunaler Beschäftigung und solcher durch Dritte, § 18 EGG.41 Im Grundsatz sollte gelten, dass nur wer arbeitet auch staatliche Leistungen nach dem EGG zu beziehen berechtigt sein würde. Um die Rahmenbedingungen zu schaffen, musste für jeden Arbeit möglich sein. Überall dort, wo Private das nicht leisten konnten, wären nach dem EGG die Kommunen an deren Stelle getreten.42 Ohnehin kam nach dem EGG den Kommunen und den Ländern eine insgesamt deutlich exponiertere Stellung zu, als dies bei Hartz-Konzept und Regierungsentwurf der Fall war. Nach dem EGG waren – soweit Landesrecht nicht anderes bestimmte – Kreise und kreisfreie Städte Trägerinnen der Leistungen (§ 101 Abs. 1 EGG).43 Die Länder hätten darüber hinaus einzelne Gemeinden in den Vollzug einbinden können (§ 101 Abs. 2 EGG) und wären zuständig für die Bestimmung des überörtlichen Trägers gewesen (§ 101 Abs. 4 EGG). Die Kompetenzen im Bereich der Trägerbestimmung korrelierten für die Länder mit einzelnen materiellen Befugnissen wie der genaueren Festlegung von Zumutbarkeiten im Rahmen von § 13 EGG.44 Das Konzept von CDU/CSU war – anders als dasjenige der Regierung – auf Länder und Kommunen ausgerichtet. Sie sollten zu den maßgeblichen Akteuren auf dem Arbeitsmarkt werden und so die Vormachtstellung der Bundesanstalt für Arbeit um ein gutes Stück zurückdrängen. Die Bundesanstalt für Arbeit spielte in dem EGG ohnehin eine völlig untergeordnete Rolle. Sie wurde an einigen Stellen erwähnt,45 ihr kamen aber nur beratende oder unterstützende Aufgaben zu. So sollten die Kommunen mit der Bundesanstalt für Arbeit im Bereich des Aufbaus kommunaler Beschäftigung und bei der Aufstellung eines Gesamtplans zusammenarbeiten (§§ 18 Abs. 3, 49 Abs. 2 EGG) und relevante Statistiken an die Bundesanstalt weiterleiten (§§ 129, 130 EGG). Die Verantwortung der Kommunen für die Beschäftigung der Betroffenen bildete die tragende Säule des Gesamtkonzepts. Diese Verantwortung konnte jedoch nur sinnvoll sein, wenn den Kommunen auch die Trägerschaft der Leistung übertragen würde. Die Konzentration auf die regionale Beschäftigungspoli40 Vgl. Holzner/Ochel/Werding, Vom OFFENSIV-Gesetz zur „Aktivierenden Sozialhilfe“, S. 11 ff. 41 BT-Drs. 15/1523, S. 12, 66. 42 BT-Drs. 15/1523, S. 66. 43 BT-Drs. 15/1523, S. 31, 72. 44 Siehe dazu nur § 13 Abs. 2 EGG. 45 Namentlich die §§ 18 Abs. 3; 49 Abs. 2; 58 Abs. 1; 115 Abs. 1 Nr. 1; 123 Nr. 2; 129; 130 Abs. 1 u. 2 EGG.
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Kap. 3: Hartz IV
tik machte die zentralistische Bundesanstalt weitgehend überflüssig. CDU/ CSU kam es vor allem darauf an, die Kompetenzen der Kommunen im Bereich der Arbeitsvermittlung zu nutzen.46 In Kenntnis aber der finanziellen Situation der Kommunen wollte das EGG ihnen die Kosten für die neue Sozialleistung nicht aufbürden. Gemäß § 133 EGG sollte der Bund den Ländern die Ausgaben erstatten. Zumindest einen Sockelanteil von 66,67% mit einem länderspezifischen Auf- oder Abschlag, je nach Höhe der konkreten Mehrbelastung.47 Um eine unmittelbare Kostenerstattung für die Kommunen begründen zu können, schlugen CDU/CSU später außerdem die Einfügung eines Art. 106b GG vor, der die Kostenerstattungspflicht des Bundes bei „durch Arbeitslosigkeit verursachten Aufwendungen, für die keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung bereit stehen“48, bestimmen sollte.
C. Der Kompromiss (SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende)49 I. Das neue Leitbild – Der aktivierende Sozialstaat Administrative Differenzen trafen also auf einen breiten inhaltlichen Konsens. Die alten sozialpolitischen Fronten des 19. Jahrhunderts lösten sich bereits seit der Gründung der BRD partiell auf, fanden sich als Ordoliberalismus und Keynesianismus wieder und operierten und argumentierten auf der Grundlage gleicher vor allem wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen. Bereits Mitte/Ende der 1990er Jahre zeichnete sich auch sozialpolitisch eine bemerkenswerte Annährung ab. Die relevanten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Konzepte der politischen „Blöcke“ – der Sozialisten und der Konservativen – folgten weitgehend demselben, dem „dritten Weg“.50 Wohlfahrtsstaatlichkeit schien angesichts von Globalisierung, Demographie und Arbeitslosigkeit nicht mehr nach den hergebrachten Rezepten leistbar zu sein. Der Markt einerseits, so zeigte sich vielfach, war nicht in der Lage jede Frage selbst zu regeln und es bestand politischer Konsens der großen Parteien, dass man ihm entscheidende gesellschaftliche Fragen auch nicht überlassen wollte. Aktive Sozialpolitik und der aktive Sozialstaat wurden 46
BT-Drs. 15/1523, S. 72. Ausführlich dazu BT-Drs. 15/1523, S. 74 f. 48 BT-Drs. 15/1527, S. 3. 49 Soweit nicht anders bezeichnet, handelt es sich bei den folgenden §§ des SGB II um solche in der Fassung ihres Entstehens aus dem Jahr 2005. 50 Geht zurück auf Giddens, Der dritte Weg. 47
C. Der Kompromiss (SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende)
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nun zum aktivierenden Sozialstaat und zur aktivierenden Sozialpolitik.51 Beide Konzepte machten sich das Prinzip von fordern und fördern zu eigen und wollten den Arbeitslosen durch kommunale Beschäftigung, Ich-AGs, Minijobs oder Leiharbeit aktivieren und an den Arbeitsmarkt gewöhnen, dabei auf die Eigeninitiative des Betroffenen bauen und ihn zu konkreten Maßnahmen vertraglich verpflichten und bei Nichteinhalten spürbar sanktionieren.52 Damit war der Konsens nicht aufgebraucht. Konkret wurde er bei der Frage nach der Neugestaltung der öffentlichen Fürsorge. Einigkeit bestand, dass die bestehende Sozialhilfe weitgehend – d.h. insbesondere institutionell und hinsichtlich ihrer Prinzipien – unangetastet bleiben sollte, die Erwerbsfähigen aber aus ihr herausgenommen und mit den Arbeitslosenhilfeempfängern zusammen in ein neues System auf Sozialhilfeniveau zusammengebracht werden müssten. Die damit notwendigerweise verbundene Abschaffung der Arbeitslosenhilfe war ein bereits länger schon diskutierter Schritt und kann durchaus als Paradigmenwechsel bezeichnet werden.53 Seit dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Arbeitslosenhilfe allmählich zum Parallelsystem der Sozialhilfe für diejenigen entwickelt, die über einen gewissen Zeitraum sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Die Betroffenen wurden privilegiert, indem sie einen gewissen Prozentsatz (zuletzt 53% bzw. 57%) ihres Einkommens als Arbeitslosenhilfe weiter bezogen. Der Unterschied bei den niedrigen Einkommen in der Leistungshöhe, verglichen mit der Sozialhilfe, war freilich eher unbedeutend. Partiell bezogen einige Arbeitslosenhilfeempfänger mit niedrigsten Einkommen aufstockend Sozialhilfe. Die Arbeitslosenhilfe folgte im Gegensatz zur Sozialhilfe aber dem Leitbild der Statussicherung. Wer durch Erwerbsarbeit einmal in der Mittelschicht angekommen war, sollte grundsätzlich im Falle der Arbeitslosigkeit diesen Status nicht vollkommen verlieren. Dies galt sowohl für die Arbeitslosen- wie auch für die Renten-, Unfall- und teilweise für die Krankenversicherung. Hiervon löste sich die Politik bereits in den 1990er Jahren insbesondere durch Reformen im Bereich der Rentenversicherung. Schon hier kam es zu Verschiebungen aus der Mittelschicht vor allem in die Unterschicht.54 Die Arbeitsmarktreformen und damit verbunden die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe waren in ihren Auswirkungen weit dramatischer als vergleichbare Reformen der 1990er Jahre. Begründet wurden die Reformen mit finanziellen Zwängen, der Globalisierung und der konstant hohen 51
Bereits dieser Begriff taucht auf bei Giddens, Der dritte Weg, S. 80 ff. Zu den Aktivierungsinstrumenten Bieback, ZfRSoz 2009, 185 ff. 53 s. o. Kapitel 2 D. II. und 2 F. IV. 3. 54 Dieser Trend beschleunigt sich seit der Jahrtausendwende wiederum. Dazu http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/408/441149/text/; vgl. auch DIW, Wochenbericht 2008, S. 101 ff. 52
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Kap. 3: Hartz IV
vor allem Langzeitarbeitslosigkeit. Der drohende soziale Abstieg sollte aber auch als Sanktions- und Druckmittel dienen.
II. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende – Hartz IV Im allgemeinen Sprachgebrauch hat der Begriff „Hartz IV“ in bemerkenswertem Umfang Platz gegriffen. Er ist Synonym für die Angst vor dem sozialen Abstieg, für Armut, für Arbeitslosigkeit, für den Abbau des Sozialstaats und den Wandel der Sozialpolitik geworden.55 Dabei bezeichnet Hartz IV zunächst einmal ein Artikel-Gesetz, welches eines der Gesetze und gleichzeitig das letzte Gesetz im Rahmen der Hartz-Reform darstellt. Außerdem ist Hartz IV der Kompromiss und zum Teil die Synthese von SGB II-Reg und EGG. Der SGB II-Reg fand im Bundesrat keine Mehrheit. Am 17. Oktober 2003 fanden die zweite sowie dritte Lesung im Bundestag statt, das Gesetz passierte diesen mit 305 zu 291 Stimmen und wurde im Bundesrat am selben Tag dem zuständigen Ausschuss zugewiesen.56 Der Finanzausschuss verweigerte die Zustimmung.57 Der Bundesrat rief den Vermittlungsausschuss an und brachte am 24. Dezember 2003 den Gesetzgebungsprozess vorläufig zu einem Ende. Ein so umfangreiches Gesetzesvorhaben innerhalb von zwei Monaten trotz inhaltlicher Differenzen umzusetzen, blieb nicht ohne Folgen für die handwerkliche Qualität des Gesetzes. Die folgenden Änderungen und Korrekturen, auch im Nachvollzug der Rechtsprechung hierzu, war innerhalb kürzester Zeit zahlreich und zeugen von jenen Schwierigkeiten. Am 2. Juli 2004 folgte das Optionsgesetz58 nach einer mehrmonatigen Diskussion und wiederum der Anrufung des Vermittlungsausschusses verbunden bereits mit einigen Änderungen an erst im Dezember 2003 eingefügten oder geänderten Vorschriften. Das vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt trat am 1. Januar 2005 in Kraft.59 Art. 1 des Gesetzes bedeutete die Einführung des Sozialgesetzbuches II, der Grundsicherung für Arbeitsuchende. 55 Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen forderte daher die Umbenennung von Hartz IV: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,675124,00.html (Februar 2010); „hartzen“ war 2009 Jugendwort des Jahres und bezeichnete allein negative Seiten einer Beschäftigungslosigkeit, dazu Welt-online vom 1. Dezember 2009: http://www.welt.de/kultur/article5378666/Hartzen-zeigt-die-Tristesse-der-Ge sellschaft.html. 56 Siehe BT-PlPr 15/67, S. 5799 A. 57 BR-Drs. 731/1/03. 58 BGBl I 2004, S. 2014. 59 Art. 61 des Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BGBl I 2003, S. 2954, 2999.
C. Der Kompromiss (SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende)
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1. Inhalt der Vorschriften Der Konsens zwischen Regierung und Opposition über die inhaltliche Ausgestaltung der Grundsicherung war breit genug, um hier schnell zu einem Kompromiss zu finden. Die Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft und durch das SGB II ersetzt. Gleichzeitig wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes herabgesetzt. Das neue Leistungssystem sollte fortan aus Steuermitteln finanziert werden60 und der Leistungsbezug an die Bedürftigkeit der Person gekoppelt werden. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes wurde auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG (öffentliche Fürsorge) und nicht auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (Sozialversicherung) gestützt.61 Die inhaltlichen Grundzüge der Reform sind bis heute unverändert. Das neue Leitbild offenbart sich bereits in der Überschrift zu Kapitel 1 des SGB II. So heißt es dort: „Fördern und Fordern“. Wer gefordert und gefördert werden soll, erschließt sich insbesondere aus den §§ 7 ff. SGB II. Neben den ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfängern wurden auch die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Grundsicherung verschoben. Es finden sich also im Wesentlichen zwei Gruppen im SGB II wieder, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie so genannt „schwer vermittelbar“ sind: – Die Gruppe der Langzeitarbeitslosen: Die durch Ablauf der Bezugsdauer aus dem SGB III ausgesteuerten Arbeitslosen und die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger, welche zu einem Großteil ebenfalls seit mehr als 12 Monate arbeitslos sind.62 – Die Gruppe der Geringqualifizierten: Das sind diejenigen, welche die Anwartschaftszeiten für das Arbeitslosengeld nicht erfüllt hatten und somit direkt in die Arbeitslosenhilfe (originäre Arbeitslosenhilfe) oder nach Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe fielen. Dabei war die Gruppe der Geringqualifizierten überproportional repräsentiert. Sie wiesen überdurchschnittlich häufig eine gebrochene Erwerbsbiografie auf. So erschließen sich auch die Bezugspunkte des Förderns und Forderns. Gefördert wird der Betroffene durch den Leistungskatalog des SGB II (§§ 14 ff. SGB II). Neben den Leistungen, welche auch die Sozialhilfe bietet, eröffnet das SGB II den Betroffenen den Zugang zu Arbeitsvermittlungs60 Zunächst (bis 2008) ausgenommen die Mitfinanzierung durch die Aussteuerbeträge. Zum Problem des Eingliederungsbeitrags seit 2008 siehe unten Kapitel 4 B. I. 1. a) cc). 61 BT-Drs. 15/1516, S. 49 f. 62 So auch die gängige Definition, dazu bereits OECD, Beschäftigungs-Ausblick, September 1987, S. 279 (291 ff.).
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Kap. 3: Hartz IV
instrumenten des Arbeitsförderungsrechts wie Weiterbildungsmaßnahmen, Umschulungs- oder Beschäftigungsprogramme (§§ 14–18 SGB II). Im Zentrum des Leistungskatalogs steht der Regelsatz, welcher ein pauschalierter Betrag zur Bestreitung der Lebensunterhalts und so auch in der Sozialhilfe vorgesehen ist.63 Die Regelsatzhöhe bestimmt sich nach persönlichen und familiären Kriterien.64 Der Regelsatz umfasst – anders als die frühere Sozialhilfe – weite Teile der bisherigen einmaligen Leistungen. Dementsprechend wurde der Regelsatz von 297 e auf 345 e erhöht.65 Daneben werden die Kosten für Heizung und Unterkunft in angemessenem Umfang übernommen (§ 22 SGB II). Das Fordern bezieht sich auf die Arbeitskraft der Betroffenen. Diese ist einzusetzen zur „Beschaffung des Lebensunterhalts“ (§ 2 Abs. 2 SGB II). Im Rahmen einer regelmäßig abzuschließenden Eingliederungsvereinbarung (§ 15 SGB II) hat der Betroffene die Maßnahmen einzubringen, die er für die rasche Beendigung seiner Arbeitslosigkeit zu leisten bereit ist. Wenn er gegen die Vereinbarung verstößt, zumutbare Arbeit nicht annimmt oder an Beschäftigungsprogrammen nicht teilnimmt, wird ihm regelmäßig mit Leistungskürzungen begegnet, in Wiederholungsfällen kann es zu einem vorübergehend vollständigen Entzug der Regelleistungen kommen (vgl. § 31 SGB II). Ähnliches gilt auch für Sozialgeldempfänger (§ 28 SGB II), also für nicht erwerbsfähige Angehörige des Haushalts. Allerdings muss das zu sanktionierende Fehlverhalten in der Person des Angehörigen liegen. Eine „Ausweichsanktionierung“ des Angehörigen wegen eines Fehlverhaltens des Haushaltsvorstands ist nicht möglich.66 2. Träger der Grundsicherung Bei der Entscheidung darüber, wer die Grundsicherung erbringen sollte, standen sich die beiden Konzepte scheinbar unversöhnlich gegenüber. Die 63 Wenngleich die Zuständigkeiten auseinander gehen. Die Regelsätze der Sozialhilfe erlässt das Land und diejenigen des SGB II werden im Gesetz selbst benannt. Im Ergebnis basieren jedoch beide auf denselben Berechnungen. Daher kommen sie stets zu denselben Ergebnissen die Höhe des Regelsatzes betreffen. 64 Gleiches gilt seit 2005 auch für die Sozialhilfe, welche als SGB XII eingefügt wurde. Bzgl. des Leistungskatalogs hat es eine weitgehende Parallelisierung von Grundsicherung und Sozialhilfe gegeben. Die nachfolgenden Ausführungen bzgl. des Leistungsumfangs gelten weitgehend auch für die Sozialhilfe. 65 Dieser wird jährlich angepasst. Zuletzt auf 359 e, BGBl I 2009, S. 1342; zur aktuellen Reformdiskussion im Anschluss an BVerfG, NJW 2010, 505 ff., siehe nur Spindler, info also 2010, 51 ff. 66 Siehe dazu Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 32 Rn. 4 f.; mittelbar treffen Leistungskürzungen des Haushaltvorstands aber häufig auch Angehörige des Haushalts, vgl. dazu BVerfG, NJW 2010, 505 ff.
C. Der Kompromiss (SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende)
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eine Seite (Regierung) bevorzugte die Bundesagentur für Arbeit, die andere Seite (CDU/CSU) die Kommunen. Für die Bundesagentur, so die Regierungsseite, spräche ihre Nähe zum Arbeitsmarkt und zu Vermittlungsinstrumenten des SGB III;67 außerdem die überregionale Perspektive, welche in Zeiten steigender und immer notwendigeren Flexibilität der Arbeitsnehmer für eine erfolgreiche Vermittlung unabdingbar sei. Daneben habe sich die Aufgabenzuständigkeit des Bundes und die Trägerschaft der Bundesanstalt historisch herausgebildet und sich seit der Weimarer Republik bewährt und sei insofern tradiert. CDU/CSU führten dagegen die Kompetenzen der Kommunen in dem Bereich der Arbeitsvermittlung, insbesondere der so genannten Schwervermittelbaren an. Weiterhin sei eine überregionale Perspektive zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Sie könne anderweitig, bspw. durch zur Verfügung gestellte Infrastruktur gesichert werden. Die Kommunen seien vor Ort besser aufgestellt und kenntnisreicher bzgl. des regionalen Arbeitsmarktes und seiner Notwendigkeiten und Anforderungen. Die Bundesagentur für Arbeit hingegen verkenne aufgrund ihres zentralistischen Charakters notwendigerweise die regionalen Spezifika. Erfolgversprechende Arbeitsvermittlung könne in oberbayerischen, ländlichen Regionen nicht ebenso betrieben werden wie in großstädtischen „Problembezirken“. Hinzu komme, dass Fürsorgeleistungen traditionelle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaften seien und nach Art. 28 Abs. 2 GG der kommunalen Selbstverwaltung unterfielen.68 a) Getrennte Kompetenzen/gemeinsame Wahrnehmung – Die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Angesichts der Mehrheitsverhältnisse wurde früh klar, dass sich keine der beiden Seiten in dieser Frage vollends konzeptionell durchsetzen würde. Dementsprechend wurden die Grundsicherungsaufgaben in der Zuständigkeit geteilt69 und in der Wahrnehmung wieder zusammengeführt. Grundsätzlich sollte die Bundesagentur für Arbeit Trägerin der Grundsicherung sein (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB II), ausgenommen die Bereiche, für die § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB II abweichend die Kommunen ausdrücklich für zuständig erklärt wurden. Namentlich waren dies (Sonder-)Leistungen zur Eingliederung in das Erwerbsleben (§ 16a Satz 2 Nr. 1–4 SGB II), für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) und für die Erstausstattung (§ 23 Abs. 3 SGB II). Die geteilte Zuständigkeit wurde durch die Errichtung von so genannten Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) organisatorisch und institutionell wieder zusammenge67 68 69
Vgl. § 16 SGB II. Dazu ausführlich später Kapitel 5 A. II. BGBl I 2003, S. 2954.
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Kap. 3: Hartz IV
führt. Nach § 44b Abs. 1 SGB II errichteten die Arbeitsagenturen vor Ort für die Bundesagentur für Arbeit zusammen mit dem kommunalen Träger eine ARGE zur Erbringung der Grundsicherung aus einer Hand. Die Organisationsform der Arbeitsgemeinschaft ist eine spezifisch sozialrechtliche Kooperationsform (§ 94 SGB X). Eine ARGE ist „ein Zusammenschluss mehrerer natürlicher oder juristischer Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks“70. Beteiligte im Rahmen der Grundsicherung waren die Arbeitsagenturen und der kommunale Träger. Der gemeinsame Zweck war die Erfüllung der Grundsicherung aus einer Hand. Jene Träger wurden durch § 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II zur Bildung von Arbeitsgemeinschaften verpflichtet. Ihnen stand kein Ermessen hinsichtlich des Ob zu. Befanden sich in dem Bereich eines kommunalen Trägers mehrere Agenturen für Arbeit, war gem. § 44b Abs. 1 Satz 2 SGB II eine als federführend zu benennen. Bzgl. des Wie einer ARGEn-Gründung standen den Beteiligten mehrere Möglichkeiten zur Seite. Nach § 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II konnte dies durch privat- oder öffentlich-rechtlichen Vertrag geschehen, die Rechtsform der ARGE also ebenso entweder öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich sein. Gemäß der Ausführungsgesetze zum SGB II einiger Bundesländer konnten die ARGEn in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts errichtet werden.71 Anstalten sind gekennzeichnet durch einen Bestand von persönlichen und sachlichen Ressourcen, welche in der Hand eines Trägers öffentlicher Verwaltung einem besonderen öffentlichen Zweck dauernd zu dienen bestimmt sind.72 Sie zeichnen sich durch eine Zusammenfassung bestimmter Verantwortlichkeiten, bestimmter Mittel und – regelmäßig – bestimmter Adressaten („Benutzer“) aus.73 Grundsätzlich sind Anstalten rechtlich unselbstständig in der Hand ihres Trägers: Sie sind kein Träger der Verwaltung, sondern haben einen Träger (z. B. Schulen, Museen u. a.). Ausnahmsweise können sie aber auch rechtlich verselbstständigt, nicht Teil eines Verwaltungsträgers, sondern selbst Verwaltungsträger sein. Eine Übertragung von Aufgaben durch den Bund zu Gunsten der ARGEn unterlag schon wegen Art. 87 Abs. 2, 3 GG einem (institutionellen) Gesetzesvorbehalt; die Übertragung kommunaler Aufgaben wegen Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gleichermaßen.74 Unabhängig davon, ob etwaige landesrecht70
BVerwG, NZS 2000, 244 ff. § 3 Abs. 1 NRW-AusführungsG SGB II vom 16. Dezember 2004, NRW GVBl 2004, S. 821; dazu LT-Drs. 13/6354, S. 8; § 2a Nds.-AG SGB II, dazu Tapper, SGb 2005, 683 (688). 72 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, S. 268, 231. 73 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 46 ff.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Band 1, § 34 Rn. 6 f. 71
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liche Vorschriften über die Rechtsform dem institutionellen Gesetzesvorbehalt gerecht wurden,75 bleibt festzustellen, dass jedenfalls für die anderen Bundesländer eine ARGEn-Gründung in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts nicht in Betracht kam, da § 44b SGB II keine taugliche Rechtsgrundlage war. Ähnliches galt auch für Körperschaften oder Stiftungen.76 Der Gesetzgeber war jedoch auch nicht auf jene herkömmlichen Organisationsformen beschränkt.77 Für mögliche privatrechtliche Organisationsformen galt vor allem, dass sie haftungsrechtlich den besonderen Anforderungen der Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit gerecht werden mussten, weshalb eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) als Rechtsform – wohl anders als die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) – ausschied.78 Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass eine Gesellschaft öffentlichen Rechts (GöR) ebenfalls nicht in Betracht gekommen wäre,79 scheint nicht zwingend und eher eine Frage der anzuwendenden Haftungsregelungen etc. zu sein. Denn die GöR kennt zunächst einmal keine eigenen Vorschriften. Die Frage, ob und wie eine GöR gegründet werden kann und welche Haftungsfolgen daraus abzuleiten sind, bedürfte einer gesonderten näheren Betrachtung. In der Praxis jedenfalls bildeten die aufgrund öffentlich-rechtlichen Vertrags errichteten ARGEn die Mehrheit.80 Für die wenigen privatrechtlich verfassten ARGEn – regelmäßig als GmbH – war dann ihre Beleihung die Folge.81 Entsprechend der jeweiligen Organisations- und Rechtsform ergaben sich schließlich die personal- und dienstrechtlichen Konsequenzen.82 Die derart gegründeten Arbeitsgemeinschaften nahmen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 SGB II die Aufgaben der Arbeitsagenturen für Arbeit wahr. Anderes 74
Dazu unten Kapitel 5 A. So Strobel, NVwZ 2004, 1195 (1198); vgl. dazu Knoblauch/Hübner, SächsVBl 2004, 276 (277 f.). 76 Strobel, NVwZ 2004, 1195 ff. 77 Rixen, VSSR 2004, 241 (261). 78 Rixen, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK SGB, § 44b Rn. 12 ff. 79 So wohl Quaas, SGb 2004, 723 (726 f.); Rixen, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK SGB, § 44b Rn. 16; anders Strobel, NVwZ 2004, 1195 (1198 f.); Tapper, SGb 2005, 683 (689). 80 Adamy, SozSich 2004, 332 (333). 81 Zur Beleihung: StGH Bremen, NVwZ 2003, 81 ff.; Stelkens, NVwZ 2004, 304 ff. Dass es sich nicht um einen materiell Privaten handelt, da von Hoheitsträgern gegründet, ist insoweit unschädlich, so OVG Frankfurt/Oder, NVwZ 1997, 604 (608); Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Band 3, § 90 Rn. 17. 82 Dazu eine Zusammenfassung bei Kersten, ZfPR 2005, 130 ff.; Blanke/Trünner, Die Bildung von Arbeitsgemeinschaften, S. 49 ff., 81 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, LKV 2006, 425; VG Hannover, BeckRS 2005, 25169; VG Meiningen, Beschl. vom 24. Mai 2006, Az. 4 E 50010/06.ME. 75
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galt hinsichtlich der kommunalen Träger, diese sollten (§ 44b Abs. 3 Satz 1 1. Hs. SGB II) ihre Aufgaben den ARGE übertragen,83 eine Übertragungspflicht bestand also nicht. Fraglich war, welche Verantwortlichkeiten übergingen.84 Gegen eine eigene Zuständigkeit der ARGEn sprachen schon die §§ 6 ff. SGB II, welche die Träger eindeutig benannten; die ARGE selbst gehörte nicht dazu. Auch ein Nebeneinander von kommunalen Trägern, Bundesanstalt für Arbeit und ARGEn als Leistungsträger wäre hiermit nicht vereinbar gewesen.85 Die ARGEn waren konzeptionell gemeinsame Behörden (§ 1 Abs. 2 SGB X) und nicht dienstherrenfähig.86 Sie waren nicht für die Finanzierung oder für das Personal verantwortlich und waren in erster Linie Produkt eines politischen Kompromisses, welcher zwei völlig gegensätzliche Trägermodelle in der Aufgabenwahrnehmung miteinander zu verbinden suchte. Die Verpflichtung zur ARGEn-Errichtung und die regelmäßige Übertragung der Aufgaben auf sie, sollten die möglichen negativen Folgen einer Splitting der Exekutive vermeiden.87 Etwas anderes kann auch nicht daraus gefolgert werden, dass die Arbeitsgemeinschaften selbst Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide zur Erfüllung ihrer Aufgaben erließen (§ 44b Abs. 3 Satz 3 SGB II). Hier war der Aufgabenbegriff (ihre Aufgaben) als Wahrnehmungszuständigkeit zu verstehen, mithin geht es um eine Aufgabenübertragung i. w. S.88 Auch, dass die ARGEn von den Trägern errichtet und nicht eingerichtet wurden (so § 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II), wurde eher gegen die Annahme einer Trägerschaft angeführt. Dies verkennt allerdings, dass beide Begriffe gerade im Zusammenhang mit verwaltungsorganisatorischen Fragen zumeist synonym verwendet werden.89 Im Übrigen ist für die Befugnis, überhaupt Verwaltungsakte erlassen zu dürfen, die eigene Aufgabenzuständigkeit nicht notwendige Voraussetzung, 83 Auch hier geht es der Sache nach um eine Übertragung i. w. S., mithin um eine solche von Verantwortlichkeiten, vor allem der Erfüllungsverantwortung. Allein die Gewährleistungs-, Personal- und Finanzierungsverantwortung bleiben jedenfalls den Kommunen erhalten. 84 Luthe, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 5, 6; SG Hannover, NZS 2005, 326 (327); Winkler, in: Kruse/Reinhard/Winkler (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 8. 85 So aber Luthe, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 6. 86 Siehe etwa § 4 Abs. 1 S. 4 M-VASGB II vom 28. Oktober 2004, MV GVBl 2004, S. 502; anders hingegen partiell Luthe, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 11; Adamy, SozSich 2004, 332 (336); Blanke/Trünner, Die Bildung von Arbeitsgemeinschaften, S. 27 ff. 87 Linnebacher, Die Arbeitsgemeinschaft, S. 170; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 240. 88 s. o. Kapitel 1 B. II. und so auch BT-Drs. 15/2816, S. 13. 89 Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 44 f. m. w. N.; näher dazu unten Kapitel 4 A.
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wie bereits das Instrument der Beleihung Privater verdeutlicht.90 Insbesondere das Sozialrecht kennt vielfach die Möglichkeit einer Heranziehung zur Durchführung, der u. U. auch die Befugnis förmlichen Verwaltungshandelns innewohnt.91 Jene Befugnis traf eher eine Aussage zu Gunsten der Rechtsfähigkeit der ARGE. Dafür sprach ebenfalls der § 44b Abs. 2 Satz 2 SGB II, der ein nach außen selbstständiges gerichtliches und außergerichtliches Auftreten voraussetzte.92 Geleitet wurde die ARGE durch einen Geschäftsführer, welcher regelmäßig entweder von dem kommunalen Träger oder der Arbeitsagentur bestimmt wurde.93 Einzelne Fragen der Ausgestaltung und der dienstrechtlichen Position hingen wesentlich von der gewählten Rechtsform ab. Jedenfalls aber umfasste das Tätigkeitsfeld des Geschäftsführers die laufende Verwaltung, die Ausübung der Direktionsbefugnis über das eingebrachte Personal und eben die, auf die ARGE übertragene Wahrnehmungskompetenz.94 Der Geschäftsführer wurde vom Trägerbeirat – dem zentralen Gremium der ARGEn – gewählt. Hier wurden außerdem Haushaltsplan, Leitlinien und andere weitreichende Entscheidungen getroffen.95 Weitere Vorgaben für die interne Struktur der ARGEn gab es nicht. In der Praxis bildete sich daher eine beachtliche Formenvielfalt heraus. Übergreifend konnte jedoch festgestellt werden, dass es regelmäßig, der Zielrichtung der ARGEn (§ 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II) entsprechend, zu einer bemerkenswerten Verschränkung der Leistungsträger kam. Die Vermeidung von Doppelstrukturen führte dazu, dass die Betroffenen zumeist umfassend betreut wurden. Für den Kunden war dabei nicht erkennbar, ob er es mit einem Mitarbeiter der Arbeitsagentur vor Ort oder des kommunalen Trägers zu tun hatte. Der Mitarbeiter selbst beurteilte den jeweiligen Sachverhalt unter allen Gesichtspunkten und unter Nutzung des gemeinsamem EDV-Programms A2LL (Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts). Die personelle und inhaltliche Aufteilung der Anlaufstellen war in den ARGEn nicht nach dem Aufgabenbereich der beiden Träger aufgeteilt, sondern nach Gesichtspunkten ökonomischer Leistungserbringung.96 90 Burgi, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 23 ff. 91 Siehe Hörster, Die Wahrnehmung der Sozialhilfeaufgaben, S. 90 ff. 92 In diesem Sinne auch Kersten, ZfPR 2005, 130 (147). 93 Vgl. näher § 44b Abs. 1 SGB II. 94 Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 47. 95 Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 48. 96 Vgl. Reis/Brülle, NDV 2004, 159 (162); Hesse, Erster Zwischenbericht, S. 7, 13 f., 32; Berlit, in: Münder (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 3; Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 49.
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Nach § 44b Abs. 3 Satz 4 SGB II oblag die Aufsicht über die ARGEn der zuständigen Landesbehörde oder der von ihr bestimmten Stelle im Benehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Hierbei handelte es sich um Rechtsaufsicht (§ 94 Abs. 3 Satz 1 1. Hs. SGB X).97 Daneben bestanden Aufsichtsrechte gegenüber den jeweiligen Aufgabenträgern; für die Arbeitsagenturen sogar gesondert normiert in § 47 Abs. 1 SGB II. Weiterhin übte der Bundesrechnungshof die Finanzaufsicht bzgl. der Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit und der Möglichkeit einer kommunalen Rechnungsprüfung aus. Auch eine Rahmenvereinbarung zur Weiterentwicklung der Grundsätze der Zusammenarbeit der Träger der Grundsicherung vom 1. August 2005 zwischen der Bundesanstalt für Arbeit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und den kommunalen Spitzenverbänden98 trug nicht zur Entflechtung der Aufsichtsrechte bei. Angesichts dessen häuften sich rasch die Klagen – insbesondere der Geschäftsführer – über gegenseitige Blockaden und Unklarheiten.99 b) Die Option Über keine andere Vorschrift wurde im Gesetzgebungsverfahren zwischen Regierung und Opposition so lange und so intensiv diskutiert, wie über § 6a SGB II, der Experimentierklausel über eine optionale kommunale Trägerschaft der Grundsicherung. Danach konnten die Kommunen unter gewissen Umständen alleinige Träger der Grundsicherung werden. Üblicherweise wurden die Kommunen, welche diese Möglichkeit nutzten, als Optionskommunen bezeichnet. Um Optionskommune werden zu können, musste eine Zulassung erfolgen. Die Zulassung wiederum setzte einen Antrag, also die erkennbare Willensbekundung der Kommune voraus, alleinige Trägerin der Grundsicherung zu werden (§ 6a Abs. 2 SGB II).100 Wer antragsbefugt war, richtete sich nach den kommunalrechtlichen Vorgaben in dem jeweiligen Bundesland und für die jeweilige Gebietskörperschaft (Kreis, kreisfreie Stadt, abweichende kommunale Träger nach § 6 Abs. 2 SGB II), regelmäßig war dies das Vertretungsorgan (Rat, Kreistag) und nicht das Exekutivorgan, da die Option eine originäre Ermessensentscheidung der Kom97 Luthe, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 7; Berlit, in: Münder (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 55; Rixen, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK SGB, § 44b Rn. 34 ff. 98 http://www.dosb.de/fileadmin/fm-dsb/downloads/rahmenvereinbarung-argepro pertypdfbereichrwbtrue.pdf. 99 Dazu Hesse/Götz, Evaluation, S. 9 ff., 131 ff. 100 Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 6a Rn. 13 ff.
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mune war.101 Der Antrag war fristgerecht an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu richten, welches durch Verordnung über die Zulassung der Kommunen entschied. Der Antrag musste bis zum 15. September 2004 gestellt worden sein (§ 6a Abs. 5 SGB II). Der Antrag unterlag nach § 6a Abs. 4 Satz 1 SGB II der Zustimmungspflicht der zuständigen obersten Landesbehörde, welche regelmäßig durch die Ausführungsgesetze diejenigen Landesministerien waren, die für das Soziale102 oder für Arbeit103 zuständig waren. Das Zustimmungserfordernis ist mit einer Reihe von Aspekten begründet worden. Es diene dem Schutz der Belange der kreisangehörigen Gemeinden. Ihnen würde schließlich durch die Option des Gemeindeverbandes die Möglichkeit einer eigenen ARGEn-Bildung genommen.104 Dem Land diene der Zustimmungsvorbehalt der Wahrung eigener Interessen. Systematisch wurde hinsichtlich § 6a Abs. 4 Satz 2 SGB II deutlich, dass es darum ging, diejenigen Kommunen in die Option zu lassen, welche personell, infrastrukturell und nicht zuletzt finanziell dazu in der Lage waren. Die Kommunen unterfallen dem Zuweisungsgehalt der Länder und nicht des Bundes. Der Aufgabendurchgriff des Bundes auf die Kommunen wäre vertieft und verschärft worden, wenn die Länder aus dem Beziehungsgeflecht der Grundsicherung vollends herausgehalten worden wären. Die Etablierung des Zustimmungserfordernisses sicherte den Ländern einen Rest an Zugriffsmöglichkeiten auf die Kommunen.105 Das Zustimmungserfordernis korrelierte außerdem mit dem Vorschlagsrecht nach § 6a Abs. 4 Satz 2 SGB II. Dieses ergab sich daraus, dass die Zulassung nominell auf 69 Kommunen begrenzt war (entsprach der Anzahl der Stimmen im Bundesrat). Auch die landesspezifische Verteilung der „Optionsplätze“ war nach der Stimmenverteilung im Bundesrat ausgerichtet. Danach entfielen auf – Hamburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Saarland jeweils drei, – auf Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen vier, – aus Hessen fünf – und auf Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und NordrheinWestfalen jeweils sechs Stimmen. 101 Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 6a Rn. 14. Siehe abweichend zu den Stadtstaaten § 6a Abs. 2 Satz 2 SGB II. 102 Siehe etwa § 2 Abs. 1 NdsAGSGB II vom 16. Oktober 2004, Nds. GVBl 2004, S. 358. 103 So bspw. § 2 NRWAGSGB II vom 16. Dezember 2004, NRW GVBl 2004, S. 821; § 1 Nr. 1 ThürZustVO-SGBII vom 24. August 2004, Thür GVBl 2004, S. 704. 104 So VG Greifswald, NVwZ-RR 2005, 338 (339); BT-Drs. 15/2816, S. 11. 105 Vgl. Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 6a Rn. 19.
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Gab es in einem Bundesland mehr Bewerber als Plätze, schlug die zuständige oberste Landesbehörde eine Reihenfolge vor, in denen die Kommunen berücksichtigt werden sollten. Blieben Plätze in Bundesländern frei, wurden sie auf die übrigen Länder nach einem bestimmten Schlüssel aufgeteilt.106 Die Kontingentierung der Optionskommunen war nicht zuletzt auch Ausdruck einer – dann überhaupt diskutablen – „Absicherung einer Kontentragung durch den Bund über Art. 106 Abs. 8 GG“107. Am 24. September 2004 erließ das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (seit 1. August 2006 zuständig: Bundesministerium für Arbeit und Soziales)108 die Verordnung zur Zulassung von kommunalen Trägern als Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Kommunalträger-Zulassungsverordnung).109 § 1 Abs. 2 der Verordnung enthielt die Befristung der Zulassung bis zum 31. Dezember 2010. In der Anlage zur Verordnung fand sich schließlich eine Liste der zugelassenen Träger. Danach ergab sich die Verteilung auf die einzelnen Bundesländer. Dabei fiel auf, dass es in den Stadtstaaten keine Optionskommunen gab. Andere Länder, wie BadenWürttemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen hatten ihr Kontingent nicht vollends ausgeschöpft, so dass Länder wie Nordrhein-Westfalen und Hessen mehr Optionskommunen zulassen konnten. Es zeigte sich auch, dass sich regelmäßig diejenigen Kommunen für die Option entschieden hatten, die eine günstige Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage und unterdurchschnittlich viele Arbeitslosengeld II-Empfänger aufwiesen.110 Jede dieser Kommunen erfüllte die Zulassungsvoraussetzung nach § 6a Abs. 2, 6 SGB II über deren Erfüllung das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu entscheiden hatte.111 Danach musste die Optionskommune eine besondere Einrichtung schaffen, wozu sich die Kommunen bereits in ihrem Antrag verpflichteten (§ 6a Abs. 6 SGB II). Die Einrichtungen mussten sachlich und personell gegenüber anderen kommunalen Einrichtungen selbstständig sein.112 Eine sachlich naheliegende Ver106
Dazu Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 6a Rn. 5 ff. Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 25; Henneke, Landkreis 2004, 467 (469); Wahrendorf/Karmanski, NZS 2008, 281 (283); dazu später noch genauer Kapitel 6 C. 108 Durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006, BGBl I 2006, S. 1706. 109 BGBl I 2004, S. 2349 ff. 110 Adamy, SozSich 2004, 332 (335). Daneben hatte sich jedoch auch der Landkreis Uckermark für die Option entschieden. 111 Und gerade nicht die zuständige oberste Landesbehörde. Dazu VG Greifswald, NVwZ-RR 2005, 338 (339); Münder, in: ders. (Hrsg.), SGB II, § 6a Rn. 6. 107
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mischung, insbesondere mit der Sozialhilfe, war damit ausgeschlossen. Dies diente u. a. der besseren Auswertungsmöglichkeit im Rahmen der Evaluation der Option (vgl. § 6c SGB II). An jenen Evaluationen traf die Optionskommunen eine Mitwirkungspflicht. Lagen die Zulassungsvoraussetzungen vor, musste die Übertragung erfolgen. Ein Ermessen stand dem Bundesministerium nicht zu.113 Durch Rechtsverordnung konnte die Zulassung widerrufen werden. Entweder erfolgte dies aus wichtigem Grund oder zwingend nach Antrag der Optionskommune (§ 6a Abs. 7 SGB II). c) Getrennte Aufgabenwahrnehmung Neben der Option und der ARGE gab es auch die getrennte Aufgabenwahrnehmung von Bundesagentur und Kommunen. Dieses Modell wurde (Anfang 2010) in etwa 30 Kommunen praktisch. Die Tendenz war zu Beginn steigend und verharrte seit Mitte 2009 auf diesem Niveau. Zunächst entstand die getrennte Trägerschaft aufgrund einer fehlenden Einigung hinsichtlich des ARGEn-Gründungs-Vertrags. Dabei standen Finanzierungsfragen zumeist im Mittelpunkt.114 Gleichgültig welche konkrete Rechtsform man für die ARGE annahm, konnten die Kommunen angesichts ihres kommunalen Selbstverwaltungsrechts nicht zur Kontrahierung mit der Bundesanstalt für Arbeit gezwungen werden, allemal nicht durch Bundesgesetze.115 Wenn sich Bundesagentur für Arbeit und Kommunen also nicht über die Gründung einer ARGE verständigen konnten, schlug sich die getrennte Trägerschaft nach § 6 SGB II auch in der Aufgabenwahrnehmung nieder. Für die organisatorische Umsetzung konnte sich jeder Träger seiner Infrastruktur bedienen. Für den betroffenen Grundsicherungsempfänger bedeutete dies freilich, dass er mit zwei Anlaufstellen konfrontiert war. Aber auch die einmal geschlossenen Verträge hielten nicht sämtlich. Die Zusammenarbeit mit der Bundesagentur lief in den ARGEn nicht immer optimal. Zur Kündigung führte dies zumeist aus folgenden Gründen: Die kommunalen Träger fühlten sich durch den wenig flexiblen, zentralistischen Apparat der Bundesagentur für Arbeit gebremst. Viele der kommunalen Träger beklagten sich außerdem darüber, dass die Bundesanstalt für Arbeit sie wie unterge112 BayLSG, ZfSH/SGB 2006, 658; Münder, in: ders. (Hrsg.), SGB II, § 6a Rn. 10. 113 BT-Drs. 15/2816, S. 11. 114 Regelmäßig ging es um die Höhe des kommunalen Finanzierungsanteils. 115 Das gilt insbesondere dort, wo den Kommunen die Grundsicherungsaufgaben durch Landesrecht als Selbstverwaltungsaufgaben zugewiesen sind, so in bspw. § 1 BWAGSGB II; § 1 NdsASGB II.
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ordnete Behörden behandelt und versucht hätte, ihnen gegenüber eine nicht vorhandene Delegationsbefugnis auszuüben. Für die Bundesagentur für Arbeit spielten fast ausschließlich finanzielle Aspekte eine Rolle, welche zur Kündigung führten. Namentlich war dies meist der kommunale Finanzierungsanteil an den Verwaltungskosten, welcher, wie sich im Laufe der Zeit herausgestellt hatte, zu niedrig ausgehandelt wurde.116 3. Finanzierungsfragen Einer der umstrittensten Punkte im Vermittlungsverfahren, an dem die Reform insgesamt beinahe gescheitert wäre, war die Finanzierung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ausgangspunkt war Art. 104a Abs. 1 GG, der den Normalfall der finanzverfassungsrechtlichen Kostenverteilung zwischen den staatlichen Ebenen regelt.117 Danach trägt grundsätzlich derjenige die Kosten einer Aufgabe, der die Erfüllungsverantwortung innehat (Einheitsprinzip118). Dahinter steht die Annahme, dass derjenige, welcher die Aufgabe erfüllt, auch im Wesentlichen die Höhe der anfallenden Kosten beeinflusst. Die Bundesagentur für Arbeit erfüllt ihre Aufgaben nach dem SGB II für den Bund. Dabei ist zunächst gleichgültig, ob sie dies im Rahmen der Sozialversicherung nach Art. 87 Abs. 2 Satz 1 GG oder nach Art. 87 Abs. 3 GG machte.119 In jedem Fall nahm die Bundesanstalt für Arbeit die Verwaltungskompetenz für den Bund wahr, so dass daraus die Finanzierungsverantwortung des Bundes für die Aufwendungen der Bundesanstalt für Arbeit nach Art. 104a Abs. 1 Satz 1 GG folgte. Eben dies hat mit § 46 Abs. 1 SGB II auch Eingang ins Gesetz gefunden. Ungleich schwieriger zeigte sich von Beginn an die finanzverfassungsrechtliche Situation der Kommunen. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes gilt grds. zwischen den staatlichen Ebenen.120 Finanzverfassungsrecht116 So in Remscheid, siehe dazu die Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Kuhnert u. a. und der Fraktion DIE LINKE betreffend die „Vereinbarung der Bundesanstalt für Arbeit über den Verwaltungskostenanteil der Kommune“ BT-Drs. 16/6665, S. 3 f. 117 Überblick bei Hellermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 104a Rn. 34 ff. 118 Vielfach wird dieses auch als Konnexitätsprinzip bezeichnet. Jedoch birgt das die Gefahr einer terminologischen Unklarheit im Verhältnis zu den landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregelungen, welche gerade davon ausgehen, dass letztlich derjenige die Kosten zu tragen hat, der Aufgaben etabliert oder weitergibt und nicht stets derjenige, der sie erfüllt. Dazu ausführlich Worms, DÖV 2008, 353 ff. 119 Zu diesem Problemkreis Müller-Franken, VSSR 1998, 133 (142 ff.). 120 BVerfGE 101, 158 (230).
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lich gelten die Kommunen als Bestandteil der Länder und unterfallen ihrem Zugriff. Eine unmittelbare, finanzverfassungsrechtliche Beziehung zwischen der kommunalen Ebene und dem Bund besteht grds. nicht. Transferzahlungen, Erstattungen u. ä. bewegen sich vielmehr zwischen Bund und Ländern. Nicht den Ländern aber hat der Bund die Grundsicherung als Aufgabe zugeteilt, sondern unmittelbar den Kommunen (unmittelbarer Bundesdurchgriff).121 Mangels einer finanzverfassungsrechtlichen Zugriffsmöglichkeit des Bundes konnte eine Erstattung grundsätzlich also nicht erfolgen. Ein Problem stellte sich bzgl. der Grundsicherung solange nicht, wie die Kommunen keine finanzielle Mehrbelastung zu befürchten hatten. Mit der Einführung des SGB II verloren die Kommunen die kompletten Kosten für die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger. Im Rahmen der Grundsicherung erlangten sie wiederum die Kosten für diese Personen (zurück) und zusätzlich partiell diejenigen der bisherigen Arbeitslosenhilfeempfänger. Das galt im Fall der Regelverwaltung durch die ARGEn. Im Vermittlungsverfahren stellte sich nun die entscheidende Frage, ob dies im Saldo eine Mehrbelastung der Kommunen bedeuten würde oder nicht. Die Bundesregierung errechnete eine jährliche Entlastung von 2,5 Mrd. Euro für alle Kommunen.122 Die kommunalen Spitzenverbände teilten diese Zuversicht nicht und legten Berechnungen vor, nach denen den Kommunen eine deutliche Mehrbelastung drohte.123 Besonders kritisch äußerten sich die neuen Länder, die der Kompromissfassung von Hartz IV auch letztlich nicht zustimmten. Selbst wenn eine Entlastung von 2,5 Mrd. für alle Kommunen anstünde, würde doch eine deutliche Mehrbelastung auf viele Kommunen zukommen, da der Anteil an potentiellen Alg-II-Empfängern in den neuen Bundesländern überproportional hoch sei. Zur Lösung dieses Problems wurden verschiedene Möglichkeiten diskutiert. Die Bundesregierung sah in ihrem ersten Entwurf vor, dass die kommunalen Träger im Wege der Organleihe für die Bundesanstalt für Arbeit tätig werden sollten.124 In diesem Fall hätte eine Erstattung der Kosten verfassungsrechtlich unbedenklich erfolgen können, wären die kommunalen Träger doch unselbstständige Organe der Bundesanstalt für Arbeit gewesen.125 Darin sahen die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände jedoch einen unzulässigen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung.126 Sie bevorzugten den Weg einer Verfassungsänderung. Art. 106 Abs. 8a GG-E sollte eingefügt werden und einen 121
Zur Zulässigkeit später Kapitel 5 A. I. 2. c). Clement, BArbBl 2004, Nr. 4, 4 ff. 123 Ausschuss-Drs. 15 (9) 1128, S. 12. 124 BT-Drs. 15/2816. 125 Wieland, Ausschuss-Drs. 15 (9) 1112, S. 14 ff.; hier einbezogen die Stellungnahme des Deutschen Landkreistags, Ausschuss-Drs. 15 (9) 1133. 126 Ausschuss-Drs. 15 (9) 1112, S. 14 ff. (Ausschuss-Drs. 15 (9) 1133). 122
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spezifischen Ausgleich für die Kosten der kommunalen Aufgaben und deren Verwaltungskosten statuieren.127 Weder das Organleihemodell noch die Verfassungsänderung haben sich durchsetzen können. Es blieb bei der eigenständigen Erfüllungs- und Finanzierungsverantwortung der Kommunen. Allerdings wurde bzgl. letztgenannter in § 46 Abs. 5, 6 SGB II eine Beteiligung des Bundes an den Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) festgeschrieben. Diese lag 2005 und 2006 bei ca. 29%.128 Aufgrund der fehlenden Zugriffsmöglichkeit zahlte der Bund diesen Zuschuss an die Länder (§ 46 Abs. 10 SGB II), welche diesen an die Kommunen weitergeben sollten. Nicht selten wurde von den Kommunen kritisiert, dass die tatsächliche Haushaltspolitik der Länder sich an diese Vorgabe nicht immer zu halten pflegte.129 Die von den Kommunen bezweifelte, aber von der Bundesregierung prognostizierte Entlastung der Kommunen um 2,5 Mrd. wurde schließlich in § 46 Abs. 5–10 SGB II recht kompliziert garantiert. Nur so gelang die Zustimmung im Bundesrat zumindest mit den Stimmen der „alten“ Bundesländer. Die von der kommunalen Seite durchgesetzte Garantie-Entlastung hat sich in der Folge deutlich ausgezahlt. Denn tatsächlich sollte sich herausstellen, dass die Kommunen ansonsten mit einer Mehrbelastung hätten rechnen müssen. Bei der getrennten Aufgabenwahrnehmung ohne ARGEn-Gründung trugen Bund und Kommunen jeweils ihre Aufwendungen selbst. Das galt auch für die Verwaltungskosten, freilich unter Berücksichtigung des vom Bund gezahlten, mittelbaren Zuschusses über § 46 Abs. 6 SGB II. Für die Optionskommunen existierte mit § 6b SGB II eine eigene Finanzierungsregelung. Der zugelassene kommunale Träger nahm die Aufgaben der Bundesagentur nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB II wahr.130 Gem. Art. 104a GG folgte die Finanzierungsverantwortung nach. Wäre es dabei geblieben, wäre der Anreiz des Optionsmodell für die Kommunen überschaubar gewesen. Daher bestimmte § 6b Abs. 2 SGB II, dass der Bund „die Aufwendungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende einschließlich der Verwaltungskosten“ für seine originären Aufgaben übernehmen sollte. § 6b Abs. 2 SGB II konstruierte eine direkte Finanzbeziehung zwischen dem Bund und den jeweiligen Kommunen, obgleich dies nach Art. 104a GG grds. nicht möglich war. Eine finanzverfassungsrechtliche Ausnahme hierzu fand sich 127 Ausschuss-Drs. 15 (9) 1112, S. 18 ff. (Ausschuss-Drs. 15 (9) 1133); dazu Henneke, Landkreis 2004, 694 ff. 128 Vgl. dazu Art. 104a Abs. 3 GG. 129 Vgl. dazu Oppermann, DVBl 2005, 1008 ff. 130 Hierbei geht es angesichts zahlreich verbleibender Verantwortlichkeiten beim Bund um eine Aufgabenübertragung i. w. S., mithin um die Übertragung vor allem der Erfüllungsverantwortung.
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in Art 106 Abs. 8 GG. Danach musste der Bund Mehrbelastungen ausgleichen, die er im Zusammenhang mit durch Bundesgesetz veranlassten Einrichtungen unmittelbar verursacht hat.131 Allerdings war nicht unumstritten, ob hierüber ein Mehrbelastungsausgleich tatsächlich möglich war. Das hing maßgeblich an der Frage, was unter Veranlassen zu verstehen ist und inwieweit eigene Beiträge der Kommunen an der Entstehung der Mehrkosten relevant werden konnten.132 Für den Regelfall der Aufgabenerfüllung durch die ARGEn galt im Grundsatz auch die strikte Trennung der Kostentragung, je nach Aufgabenträgerschaft gemäß Art. 104a Abs. 1 GG. Dies jedoch zunächst nur für die Sachaufwendungen im Rahmen der Leistungen der Grundsicherung. Für die spezifischen Verwaltungskosten war eine strikte Trennung in der Organisationsform der ARGE schwieriger. Die konzipierte Verzahnung der Verwaltungsebenen in der ARGE widersprach einer Trennung der Verwaltungskosten schon im Grundsatz. Personal der Kommunen nahm partiell Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit, jenes der Bundesanstalt für Arbeit zum Teil solche der Kommunen wahr. Die Infrastruktur wurde grds. gemeinsam genutzt, aber nicht alles und jederzeit zu gleichen oder festen Teilen. Weiterhin variierte der Verwaltungsumfang von Bundesanstalt für Arbeit und Kommunen auch regional sehr stark.133 Dieses praktische Problem überlies der Gesetzgeber den Protagonisten der ARGEn selbst, welche sich in den Gründungsverträgen auf eine konkrete Finanzierungsverteilung einigen sollten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hatte mit Schreiben vom 8. März 2006 den Kommunen angeboten, pauschal einen kommunalen Finanzierungsanteil zu akzeptieren. Dieser Betrag errechnete sich anhand der prognostizierten Verwaltungskosten der Kommunen im Rahmen der Leistungen nach § 22 SGB II im Verhältnis zu den gesamten Verwaltungskosten der Grundsicherung für Arbeitssuchende.134 Der ermittelte Anteil be131
Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 106 Rn. 149 ff. 132 s. etwa Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 106 Rn. 149 ff.; Knitter, Das Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, S. 120 ff.; Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger im Schnittbereich zwischen Staatsorganisations-, Finanzverfassungs- und kommunalem Selbstverwaltung, S. 177 ff.; vgl. Oppermann, DVBl 2005, 1008 (1012) und s. unten im Zusammenhang mit dem seit 2006 geltenden Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, Kapitel 7 D. I. 133 Vgl. die Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Kuhnert u. a. und der Fraktion DIE LINKE betreffend die „Vereinbarung der Bundesanstalt für Arbeit über den Verwaltungskostenanteil der Kommune“ BT-Drs. 16/6665, 25. Oktober 2007. 134 Vgl. die Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Kuhnert u. a. und der Fraktion DIE LINKE betreffend die „Vereinbarung der Bundesanstalt
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lief sich auf 12,6%. Dieser Finanzierungsanteil wurde durch die Bundesanstalt für Arbeit ohne weitere Nachweise akzeptiert. Alternativ dazu mussten die Verwaltungsausgaben konkret abgerechnet und so ein kommunal-individueller Finanzierungsanteil berechnet werden. Den höchsten kommunalen Finanzierungsanteil erbrachte der Landkreis Aachen mit 17,28%, den niedrigsten der Landkreis Oberallgäu mit 5,0%. Für 2006 ergab sich insgesamt folgendes Bild:135 – Der Finanzierungsanteil von 145 Kommunen lag bundesweit unter 10,6%; – derjenige von 39 Kommunen zwischen 10,6 und 12,6% – und derjenige von 169 Kommunen war gleich oder lag über 12,6%. Die Anteile der Kommunen mit einem höheren Finanzierungsanteil als 12,6% (oder gleich) und denjenigen mit einem solchen unter 10,6 lagen 2006 demnach gleich. Im Jahr 2007 verschoben sich diese Werte zu Gunsten eines höheren kommunalen Finanzierungsanteils. 248 Kommunen fielen in die letztgenannte Gruppe. Diese Entwicklung unterstrich, wie schwierig eine Prognose bzgl. der anfallenden Kosten tatsächlich war. Auch die konkreten Berechnungsgrundlagen und Annahmen waren keineswegs unumstritten. Die Kommunen gingen 2005 von einem kommunalen Finanzierungsanteil bei den Optionskommunen von 6,33% aus.136 Auch das Bundesministerium hatte diesen Anteil zumindest implizit zunächst mit Schreiben vom 6. März 2006 bestätigt; drei Tage später jedoch den kommunalen Finanzierungsanteil pauschal bei 12,6% als akzeptabel beziffert. Im Folgenden stellte sich sogar heraus, dass der tatsächliche Finanzierungsanteil zumeist noch höher lag. Jedenfalls aber fehlte es an profunden Erkenntnissen und Methoden, um den kommunalen Finanzierungsanteil – angesichts der Verzahnung der Verwaltungsträger bei den ARGEn – hinreichend konsistent zu ermitteln. 4. Evaluationen der Trägermodelle nach § 6c SGB II Die etablierte Exekutivstruktur im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende sollte keine endgültige sein. Die kommunale Option sollte im Verfür Arbeit über den Verwaltungskostenanteil der Kommune“ BT-Drs. 16/6665, 25. Oktober 2007, S. 3. 135 Vgl. die Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Kuhnert u. a. und der Fraktion DIE LINKE betreffend die „Vereinbarung der Bundesanstalt für Arbeit über den Verwaltungskostenanteil der Kommune“ BT-Drs. 16/6665, 25. Oktober 2007, S. 2. 136 Dazu Landkreis Info vom 3. März 2006 (177/06).
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gleich, insbesondere zur Wahrnehmung durch die ARGEn, Eingang finden in eine umfangreiche Evaluation, welche aus drei Untersuchungsfeldern bestand.137 Deren Ergebnis wurde in einem Abschlussbericht am 16. Dezember 2008 von der Bundesregierung mitgeteilt.138 Von der Evaluation versprach man sich Erkenntnisse über die politisch strittige Frage, welcher Träger die Grundsicherung sachgerechter bzw. effektiver wahrgenommen hatte, um in diesem Sinne über die Frage der Exekutive erneut entscheiden zu können. Die politischen Konzepte von Regierung und Opposition standen sich gerade bei dieser Frage unversöhnlich gegenüber. Hier (SGB II-Reg) wurde eine Exekutive durch die Bundesagentur für Arbeit bevorzugt, dort (EGG) eine solche durch die Kommunen. Als Ergebnis des beschriebenen Kompromisses etablierte man (auch) die kommunale Option. Tatsächlich aber standen sich die beiden politischen Konzepte ja nie praktisch gegenüber. Dies begründete bereits ein Strukturproblem der Evaluation. Sie ist für die politische Entscheidung eines Entweder-oder nur eingeschränkt brauchbar. Konkurrieren konnten neben der getrennten Wahrnehmung nur die kommunale Exekutive und die ARGEn als Form der Mischverwaltung. Eine alleinige Wahrnehmung durch die Bundesagentur für Arbeit bzw. den Arbeitsagenturen vor Ort existierte nicht. Hinzu kommt, dass die Auswahlkriterien für die 69 Optionskommunen intransparent waren und jedenfalls keinen erkennbaren sachgerechten Maßstäben folgten. Das galt für die nominelle Begrenzung überhaupt und auch für die konkrete Auswahl.139 Betrachtete man trotz der Defizite die Ergebnisse der Evaluation, wurde rasch deutlich, dass jedenfalls keine eindeutigen Vorteile für das eine oder andere Modell nachgewiesen werden konnten. Partielle Vorteile ergaben sich für die ARGEn bei der Vermittlung in bedarfsdeckende Arbeit.140 Die Erfolgsquote lag jährlich um etwa 4% höher im Vergleich zu den Optionskommunen.141 Hierfür nahmen die ARGEn aber wesentlich häufiger als die Optionskommunen die (zeitweilige) Subventionierung der Beschäftigung in Kauf.142 Die ARGEn setzen insgesamt häufiger Sanktionen ein und ver137 Feld 1 Deskriptive Analyse und Marching, durchgeführt von IAW und ZEW; Feld 2 Implementations- und Governanceanalyse, durchgeführt von ISR, IAJ, BZW und Simma & Partner; Feld 3 Wirkungs- und Effizienzanalyse, durchgeführt von ZEW, IAQ und TNS Emnid. 138 BT-Drs. 16/11488. 139 Knigge, ZFSH/SGB 2009, 526 (537). 140 BT-Drs. 16/11488, S. 79 ff., 95 ff. 141 Die Vermittlungsquote insgesamt liegt bei etwa 22%. Insofern sind 4% durchaus beachtlich. Hierdurch soll eine Ersparnis von 3,3 Mrd. Euro erzielt werden können, wenn die ARGEn-Exekutive bundesweit eingeführt würde, so BT-Drs. 16/11488, S. 95 ff. 142 BT-Drs. 16/11488, S. 179 ff.
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pflichten den Betroffenen stärker im Rahmen von Eingliederungsvereinbarungen zur Erbringung von Gegenleistungen. Die Optionskommunen hingegen vermittelten häufiger in gering entlohnte Beschäftigung, welche nicht allein bedarfsdeckend war und kombinierten Lohn und Grundsicherungsleistungen. Sie setzten außerdem stärker auf sozialintegrative Maßnahmen wie Kinderbetreuung und Weiterbildung, was sich nicht zuletzt daraus erklärt, dass sie über die Sozialämter insofern besser vernetzt waren.143 Unterschiede ergaben sich im Übrigen in organisatorischer Hinsicht. Während die zugelassenen Kommunen insgesamt flexibler und den lokalen Besonderheiten entsprechend angepasster agierten, zeichneten sich die ARGEn durch ein höheres Maß an Standardisierung, Vergleichbarkeit und insofern Transparenz aus.144 Bei der Frage nach dem Einsatz konkreter Methoden und Instrumente war dabei insgesamt die Tendenz zur Annäherung erkennbar. Was sich als hilfreich und sachgerecht herausgestellte, wurde regelmäßig von den jeweiligen Protagonisten übernommen. Das galt unabhängig von der konkreten Exekutivform.145 Vor allem aber der Wettbewerb der Instrumente und Methoden zwischen Option und ARGEn und besonders auch zwischen den einzelnen Optionskommunen dürfte einen solchen Wettbewerb überhaupt erst ermöglicht haben. Neben der Evaluation der Bundesregierung fanden sich einige andere Evaluationen und Befragungen, welche die Ergebnisse grds. bestätigten, aber die behördeninterne Perspektive stärker einbrachten. So war nach der Evaluation im Auftrag des Deutschen Landkreistages signifikant, dass die Zufriedenheit der Verantwortlichen im Rahmen der Optionskommunen mit 100%, bei den ARGEn zuletzt nur mit 44% angegeben wurde; dort wiederum 97% bei einer freien Wahl in die Zulassung gewechselt wären.146 Insgesamt erwiesen sich demnach die unterschiedlichen Modelle in der Exekutive dort als tendenziell erfolgreicher, wo ihre Kernkompetenzen liegen. Die ARGEn durch Mitwirken der Bundesagentur für Arbeit in der Arbeitsvermittlung, die Optionskommunen in der Sozialintegration. Damit blieb die Erfolgsfrage politisch offen. Sie ist empirisch durch die Evaluation nicht zwangsläufig vorgegeben, insbesondere schon nicht aufgrund ihrer benannten strukturellen Schwächen. 143
Knigge, ZFSH/SGB 2009, 526 (533 f.). BT-Drs. 16/11488, S. 47 ff. 145 Knigge, ZFSH/SGB 2009, 526 (530 f.). 146 Hesse/Götz, Evaluation, S. 9 ff. Zuletzt wurde wohl ein ähnliches Ergebnis in einer Umfrage bei den Landkreisen erzielt, dazu Pressemitteilung des Deutschen Landkreistag vom 11. Dezember 2009; http://www.kreise.de/landkreistag/auswahlsuche.htm. 144
Kapitel 4
Bundesexekutive Im Folgenden geht es nunmehr darum, die Verwaltungskompetenzen für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende bis zur Reform 2010 zu untersuchen. Dabei hat der Gesetzgeber die Aufgaben der Grundsicherung teilweise dem Bund, genauer der Bundesagentur für Arbeit, und teilweise den Kommunen zugewiesen. Bzgl. der erstgenannten Aufgaben stellt sich die Frage, inwieweit der Bund hierfür eine eigene Verwaltungskompetenz (Art. 86 ff. GG) in Anspruch nehmen konnte. Für die zulässige Begründung der Aufgabenzuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit ist dies notwendige, aber auch hinreichende Voraussetzung. Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung ist entscheidend, ob der Bund eine Aufgabe nach den Art. 83 ff. GG selbst wahrnehmen kann oder diese den Ländern zusteht; wobei diese die Aufgaben ggf. an die Kommunen weiterzugeben haben.1 Bundeskompetenzen im Bereich der Exekutive zeichnen sich aufgrund ihres enumerativen Charakters in besonderer Weise durch einen zumeist spezifizierten materiellen Bezugsrahmen aus, an dem sich die Aufgabenzuständigkeit im Verhältnis zu den anderen Verwaltungsebenen (vertikal) entscheidet. Darüber hinaus werden regelmäßig organisatorische, funktionale und sonstige Anforderungen in den entsprechenden Kompetenznormen aufgestellt, welche die grds. eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung modifiziert und beschränkt und Fragen der horizontalen Aufgabenverteilung behandelt. – Zunächst wird also der materielle Bezugsrahmen der jeweiligen Kompetenznorm bestimmt, – anschließend werden die sonstigen Anforderungen bzgl. der Verantwortlichkeiten dargelegt. Historische Aspekte sind bei der folgenden Darstellung voran gestellt und gegebenenfalls für Einzelfragen ausgegliedert, wo dies sachdienlich ist.
1 Vgl. zu dieser insbesondere auch in finanzverfassungsrechtlicher Hinsicht (Konnexitätsprinzipien) bedeutsamen Folge aus jüngster Zeit bspw. NRW VerfGH 12/09.
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Kap. 4: Bundesexekutive
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG Eine Verwaltungskompetenz des Bundes für die Grundsicherung für Arbeitsuchende ließ sich jedenfalls bis zur Verfassungsänderung 2010 allenfalls über Art. 87 GG begründen, der zentralen Norm für Bundesexekutivkompetenzen unter dem Grundgesetz.2 Strukturell unterscheidet Art. 87 GG folgende Bereiche3: – Zunächst obligatorische und fakultative Bundesverwaltung. Hat der Bund bestimmte Verwaltungsaufgaben in eigener Verantwortung wahrzunehmen, ist von obligatorischer Bundesverwaltung zu sprechen. Steht ihm hingegen die Inanspruchnahme frei, liegt fakultative Bundesverwaltung vor. – Daneben findet sich die Unterteilung in mittelbare und unmittelbare Bundesverwaltung. Terminologisch etwas verwirrend ist die in Art. 87 GG vorgenommene Unterscheidung zwischen „bundeseigener Verwaltung“ (Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG) und einer Verwaltung durch „bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts“ (Art. 87 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Sätze 1 und 2 GG), meinen beide Begriffe doch letztlich Formen bundeseigener Verwaltung; unmittelbare Bundesverwaltung als bundeseigene Verwaltung i. e. S., mittelbare Bundesverwaltung als bundeseigene Verwaltung i. w. S.4 – Einstufige und mehrstufige Bundesverwaltung findet sich in Art. 87 GG insofern, als dort für einige Verwaltungstypen eine zentrale Verwaltungsebene, für andere ein Verwaltungsunterbau vorgesehen ist.
I. Entstehungsgeschichte Bereits die Reichsverfassung von 1871 enthielt den Grundsatz der Länderexekutive, ergänzt durch spezielle Bundesexekutivzuständigkeiten, welche regelmäßig durch gesetzesakzessorische Aufgaben materiell determiniert waren. Angesichts der Möglichkeit vergleichsweise einfacher Verfassungsänderungen hat das Reich im Laufe der Zeit nicht selten weitere Kompetenzen an sich gezogen.5 Dennoch blieb die reichseigene Verwaltung (i. w. S.) die Ausnahme.6 Auf organisatorischer Ebene herrschte beachtliche 2 Als „Richtungsentscheidung“ bezeichnet sie Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 3, § 69 Rn. 52. 3 So auch Suerbaum, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 87 Rn. 5 ff. (November 2009); vgl. hierzu auch Ibler, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 86 Rn. 15 f. (Mai 2008) m. w. N. 4 Nach BVerfGE 63, 1 (36).
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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Vielfalt. Die Verfassung selbst traf keine Aussagen darüber, ob die reichseigene Verwaltung mittelbar oder unmittelbar zu erfolgen hatte. Zwischen partieller Anknüpfung an geschriebene Verfassungsnormen (Art. 18 RV 1871) und Gewohnheitsrecht etablierte sich eine kaiserliche Organisationsgewalt bzgl. der Errichtung von Reichsbehörden neben einer parlamentarisch kontrollierten Reichsverwaltung.7 Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 führte zwar den Grundsatz der Länderexekutive fort (Art. 14 WRV), stellte ihn aber unter einfachen Gesetzesvorbehalt. Das Reich konnte demnach noch einfacher als nach der RV von 1871 Kompetenzen an sich ziehen.8 Organisatorische Aussagen waren der WRV bzgl. einer unmittelbaren oder mittelbaren Reichsverwaltung nicht zu entnehmen. In der Folge herrschte hier rege Vielfalt.9 Selbst eine Ausführung durch Landesbehörden unter Reichsleitung wurde für zulässig erachtet.10 Konnte durch Anordnung des Reichskanzlers beliebig ein Verwaltungsunterbau unter der RV von 1871 geschaffen werden, reduzierte sich die Beliebigkeit unter der WRV auf spezifische Bereiche.11 Wenngleich hierin ein kompetentieller Rückzug des Reiches gesehen werden mag,12 kann insgesamt eine Tendenz unter der WRV bzw. der Verfassungspraxis zu einer Zentralisierung von Verwaltungskompetenzen beschrieben werden.13 Der Weg der Bundesverwaltung unter dem Grundgesetz beginnt beim Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee (HChE). Die Besatzungsmächte scheuten vor allzu ausgeprägten Bundeskompetenzen zurück. Der Verfassungskonvent stand noch stärker als der Parlamentarische Rat unter dem Einfluss des Föderalismus-Vorbehalts.14 Die zur Bundesexekutive ent5 Ibler, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 86 Rn. 21 (Mai 2008); Burmeister, Institutioneller Gesetzesvorbehalt, S. 176 ff. 6 Mußgnug, in: Jeserich u. a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 3, S. 186 (188); Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 216 ff. 7 Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 25 ff. m. w. N. 8 Ibler, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 86 Rn. 23 (Mai 2008); Köttgen, JöR N.F. 3 (1954), S. 67 ff. 9 Mußgnug, in: Jeserich u. a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 4, S. 330 (335); Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 53 ff. 10 So bspw. Anschütz, WRV, Art. 14. 11 Militär-, Finanz- und Postverwaltung sind hier zu nennen; Ibler, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 86 Rn. 26 (Mai 2008). 12 Lassar, in: Harms (Hrsg.), Recht und Staat im neuen Deutschland, Band 1, S. 207 (212, 232); ähnlich ders., JöR 1926, S. 1 (16, 23, 97). 13 Ibler, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 86 Rn. 23 (Mai 2008); Lassar, JöR 1926, S. 1 (25). 14 v. Münch (Hrsg.), Dokumente des geteilten Deutschland, Band 1, S. 82 ff. (Londoner Sechs-Mächte-Empfehlungen) und 88 ff. (Frankfurter Dokumente).
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Kap. 4: Bundesexekutive
wickelten Vorschläge verdeutlichen dies beispielhaft. Formierte der Verfassungskonvent Bundesexekutive noch äußerst restriktiv und vorsichtig, weitete der Parlamentarische Rat tendenziell die Kompetenzen aus und verzichtete vielfach auf besondere Restriktionen. Im Einzelnen entsprach der Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG a.F.15 praktisch dem Art. 116 Abs. 1 HChE. Bereits dort wurden der „auswärtige Dienst, die Bundeseisenbahnen und die Bundespost“ der Bundesverwaltung zugeordnet. Dem ursprünglichen Anliegen des Parlamentarischen Rates folgend, möglichst sämtliche Bereiche der bundeseigenen Verwaltung in Art. 87 GG zusammenzufassen, wurden auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses durch den Hauptausschuss auch die Bundesfinanzverwaltung sowie die Verwaltung der Bundeswasserstraßen und der Schifffahrt in Art. 87 Abs. 1 GG a. F. aufgenommen. Insbesondere im Zusammenhang mit Privatisierungstendenzen und der insofern unklaren staatsaufgabenrechtlichen Dimension des Art. 87 GG16 wurden einige Bereiche, wie die Eisenbahn und die Bundespost, später in eigene Normen ausgegliedert.17 Hinsichtlich der heute in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG benannten Bundesverwaltungskompetenzen im Bereich der Sicherheitsbehörden bestand zunächst Unklarheit. Die grds. kompetentielle Zuweisung des Polizei- und Ordnungsrechts zu den Ländern warf die Frage nach der Notwendigkeit und Möglichkeit von Teilkompetenzen des Bundes auf. Der Herrenchiemsee-Entwurf enthielt noch keine Bundeskompetenzen und auch im Parlamentarischen Rat war eine Zuweisung umstritten. Die Diskussionen erledigten sich auch nicht, nachdem der Hauptausschuss den Abs. 1 dahingehend ergänzte, dass „Bundesgrenzschutzbehörden, Zentralstellen für das polizeiliche Auskunftsund Nachrichtenwesen, zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes und für die Kriminalpolizei“ durch Bundesgesetz eingerichtet werden konnten. Diese Vorschrift war ganz bewusst dem Art. 73 Nr. 10 GG a. F. nachgebildet worden.18 Erst durch den Polizeibrief der Militärgouverneure vom 14. April 1949,19 in welchem diese die Etablierung 15 Das Grundgesetz in seiner ursprünglichen Verfassung vom 23. Mai 1949, BGBl I 1949, S. 1 ff. 16 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 17 ff. (Dezember 1992). 17 40. und 41. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 20. Dezember 1993, BGBl I 1993, S. 2089 ff. und vom 30. August 1994, BGBl I 1994, S. 2245 ff.; dazu Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 12. 18 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 29 (Dezember 1992). 19 Zum „Polizeibrief“ (abgedruckt z. B. in E. R. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Band 2, 1951, S. 216; näher etwa Becker, DÖV 1978, 551 (552 f.); Brenner, Bundesnachrichtendienst im Rechtsstaat, S. 45 ff.; Bull, in: AK GG,
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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partieller sicherheitsrechtlicher Bundeskompetenzen erlaubten, wurden die föderalen Vorbehalte einiger Abgeordneten weitgehend aufgelöst, zumindest wurden sie nicht weiter geäußert. Spätere Änderungen am Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG a. F. korrespondierten regelmäßig den Änderungen im Bereich des Art. 73 Nr. 10 GG.20 Die gegenwärtige Form des Art. 87 Abs. 2 GG findet ihre Vorgängerregelung in Art. 116 Abs. 3 HChE: „Als bundesunmittelbare Selbstverwaltungseinrichtungen werden diejenigen sozialen Versicherungsträger eingerichtet, in deren Bereich der Gefahrenausgleich nur bei einheitlicher Zusammenfassung für das ganze Bundesgebiet gewährleistet ist.“ Dieser Regelungsvorschlag wurde im Laufe der Beratungen präzisiert und geändert. Zunächst wurde das Merkmal des Gefahrenausgleichs angesichts seiner vermeintlichen Konturlosigkeit ersetzt durch die Formulierung „landesübergreifenden Zuständigkeitsbereich“.21 Außerdem wurde im Zusammenhang mit weiteren Vorschriften (insbesondere Art. 115 Abs. 1 HChE bzw. Art. 86 GG) der Begriff der „Selbstverwaltungseinrichtungen“ in „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ geändert.22 Der zweite Satz des Art. 87 Abs. 2 GG, „Soziale Versicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes, aber nicht über mehr als drei Länder hinaus erstreckt, werden abweichend von Satz 1 als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes geführt, wenn das aufsichtführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist“, wurde 1994 aufgenommen, damit eine minimale Überschreitung des Zuständigkeitsgebiets durch einen Sozialversicherungsträger nicht gleichsam auch eine Zuständigkeitsverlagerung zum Bund zur Folge haben würde.23 Zu dem heutigen Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG gab es die alternativen Entwürfe a und b des Herrenchiemsee-Konvents zu Art. 116 Abs. 2 HChE. Vorschlag a lautete: „Außerdem können für Angelegenheiten, für die dem Bund die Gesetzgebung zusteht, im Falle des Bedarfs selbständige Bundesoberbehörden errichtet werden.“ Fassung b war vergleichsweise restriktiv: „Als Bundesbehörden ohne eigenen Verwaltungsunterbau können die in der Anlage zum Grundgesetz aufgeführten Ministerien und sonstigen Stellen eingerichtet werden.“ In der benannten Anlage wurden acht Einrichtungen Band 3, Art. 87 Rn. 77 (2001) m. w. N.; Denninger, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HVerfR, Band 2, S. 1213 ff., 1324; ders., VVDStRL 1979, 7 (37). 20 Bspw. Das Gesetz zur Änderung der Verfassung vom 28. Juli 1972, BGBl I 1972, S. 1305; dazu exemplarisch Gusy, DVBl 1993, 1117 ff. 21 Hauptausschuss, Parlamentarischer Rat, 36. Sitzung vom 12. Januar 1949, stenografisches Protokoll, S. 446. 22 Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 484 ff. 23 42. Gesetz zur Änderung der Verfassung vom 27. Oktober 1994, BGBl I 1994, S. 3146.
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Kap. 4: Bundesexekutive
aufgeführt.24 Die enumerative Auflistung stieß angesichts ihrer Rigidität und Inflexibilität bereits von Beginn an auf Ablehnung. Sie wurde zügig verworfen und lediglich Variante a wurde unter Streichung der Bedarfsklausel weiter diskutiert.25 Unter Bundesoberbehörden sollten Behörden zu verstehen sein, welche „nur eine Instanz haben und für das gesamte Gebiet zuständig sind.“26 Auf eine zwischenzeitlich sogar vorgesehene Zustimmung durch den Bundesrat verzichtete man schließlich. Dies ist zumindest teilweise im Zusammenhang mit Art. 105 HChE zu sehen, welcher ein allgemeines Zustimmungserfordernis in bestimmten Fällen der Behördenetablierung durch den Bund statuierte. Die Motivation bzgl. des Verzichts auf das konkrete Zustimmungserfordernis, insbesondere nach Streichung des Art. 105 HChE, blieb aber unklar.27 Angesichts der vorgefundenen und sich weiter etablierenden Formen von Bundesverwaltung, bspw. im Bereich der Wirtschaftsverwaltung,28 schien die Begrenzung auf Bundesoberbehörden zu eng. Wie bereits in Art. 116 Abs. 3 HChE bzw. Art. 87 Abs. 2 GG wurden zunächst bundesunmittelbare Selbstverwaltungseinrichtungen aufgenommen und konsequent später durch bundesunmittelbare Körperschaften ersetzt.29 Die Ergänzung um Anstalten wurde ausdrücklich als „redaktionelle Änderung“ begriffen.30 Die Option der Errichtung eines Verwaltungsunterbaus im Rahmen der Bundesverwaltung wie er heute auf der Grundlage des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG möglich ist, sah der Herrenchiemsee-Entwurf nur allgemein über Art. 105 HChE vor. Dazu hätte es allerdings eines einstimmigen Votums oder einer Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundesrates bedurft. Art. 116 HChE sah eine solche Möglichkeit gar nicht vor. Durch die Streichung des Art. 105 HChE wäre demnach ein Verwaltungsunterbau in der Bundesverwaltung wohl ausgeschlossen gewesen. Erst der Fünfer-Ausschuss des Parlamentarischen Rats nahm den heutigen Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG auf und ersetzte die qualifizierte Bundesratsmehrheit durch eine einfache.31 24 Diese Anlage findet sich als Teil des Berichts über den Verfassungskonvent in Teil C und ist abgedruckt in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 2, 1981, S. 614 f. 25 Zuständigkeitsausschuss (ZustA), 6. Sitzung vom 30. September 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 3, 1986, S. 270. 26 Abg. Dr. Hoch, ZustA, 20. Sitzung vom 2. Dezember 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 3, 1986, S. 743. 27 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 33 (Dezember 1992). 28 Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 18. 29 Hauptausschuss 36. Sitzung vom 12. November 1949, stenografisches Protokoll, S. 445 ff. 30 Hauptausschuss 36. Sitzung vom 12. November 1949, stenografisches Protokoll, S. 445 (Abg. Laforet). 31 Fünferausschuss (FünferA), Drs. 591 vom 5. Februar 1949.
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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II. Die Bestimmungen des Art. 87 GG im Einzelnen 1. Obligatorische Bundesverwaltung Die Fälle der obligatorischen Bundesverwaltung des Art. 87 GG (Art. 87 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG) sind im System von Regel und Ausnahme der Art. 30, 83 GG solche, in denen das Grundgesetz etwas „anderes bestimmt“. In seinem Abs. 1 Satz 1 nennt Art. 87 GG mit dem Auswärtigen Dienst, der Bundesfinanzverwaltung, der Verwaltung der Bundeswasserstrassen und der Schifffahrt Bereiche obligatorischer Bundesverwaltung. In Art. 87 Abs. 2 GG findet sich die Sozialversicherung.32 Hierbei handelt es sich um den einzigen Fall obligatorischer mittelbarer Bundesverwaltung und zwar faktisch für (nahezu) den gesamten Bereich der Sozialversicherung. a) Materieller Bezugsrahmen des Art. 87 Abs. 2 GG – Sozialversicherung Materieller Anknüpfungspunkt der obligatorischen Bundesexekutivkompetenz nach Art. 87 Abs. 2 GG ist die Sozialversicherung. Augenfällig ist die begriffliche Ähnlichkeit zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Diese ist – wie so häufig im Rahmen des Art. 87 GG – Ausdruck der engen Verbindung von Verwaltungs- und Gesetzgebungskompetenzen. Daraus wird allgemein die Synonymität der Begriffe in beiden Zusammenhängen hergeleitet.33 Insoweit ist auch zu erklären, dass zwar der Wortlaut des Art. 87 Abs. 2 GG insoweit abweicht, als dort die explizite Erwähnung der Arbeitslosenversicherung, anders als in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, fehlt, dies aber in der Sache zu keiner anderen Auslegung führt. Auch teleologisch und historisch ist eine rein deklaratorische Funktion des Begriffs „Arbeitslosenversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG anzunehmen. Der Parlamentarische Rat war sich unsicher, ob der Begriff der Sozialversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht später einmal auf die klassischen Zweige reduziert würde, also die Arbeitslosenversicherung als jüngster Zweig nicht darunter gefasst werden würde.34 Um dies zu verhindern nahm er die Arbeitslosenversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf. Im Rahmen des Art. 87 Abs. 2 GG wird in Anbetracht der Debatten deutlich, dass die Fortführung der Arbeits32
Vgl. Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 243 m. w. N. BVerfGE 114, 196 (223). 34 Vgl. Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 56 f.; Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 74 Rn. 27 ff. (Oktober 1996). 33
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Kap. 4: Bundesexekutive
verwaltung in Bundeskompetenz schlicht vorausgesetzt wurde, mithin selbstverständlich war.35 Die historische und systematische Vermutung eines Gleichklangs beider Begriffe ist insofern plausibel. Deutlich ist aber darauf hinzuweisen: Die grds. materielle Deckungsgleichheit der Begriffe bedeutet nicht auch die Identität von Gesetz und Verwaltungsaufgabe. Anders formuliert: Die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz „Sozialversicherung“ führt wohl regelmäßig, aber nicht automatisch zur entsprechenden Verwaltungskompetenz „Sozialversicherung“.36 Eine konkrete Aufgabe kann sich hier der einen, dort der anderen Kompetenz zuordnen lassen. Insbesondere gilt dies im Zusammenhang mit sog. ungeschriebenen Kompetenzen und Querschnittsaufgaben, die sich typischerweise nicht eindeutig zuordnen lassen. Dem Gesetzgeber können durchaus mehrere mögliche Kompetenznormen zur Seite stehen, über welche er eine Aufgabe in zulässiger Weise zuweisen kann. aa) Sozialversicherung als Typus Historisch betrachtet ist die Sozialversicherung bis 1949 zunächst (1883–1889) in den drei Zweigen der Unfall-, Renten- bzw. Invaliditätsund Krankenversicherung etabliert und später (1927) durch die Arbeitslosenversicherung als viertem Zweig ergänzt worden.37 Sie ist also nicht monolithisch entstanden, sondern im Laufe der Zeit gewachsen und war immer wieder auch Gegenstand einschneidender Reformen. In ihrer Entstehung war die Sozialversicherung ein staatliches Instrument der Arbeiterund der Armenpolitik.38 Die Realisierung eines der zahlreichen sozialen Risiken – wie Alter, Krankheit oder Arbeitsunfall – war für die Arbeiter und ihre Familien zumeist existenzbedrohend.39 Durch die gesellschaftlichen Verwerfungen der industriellen Revolution verschwanden alte (private) Sicherungsformen und wurden nur selten durch neue funktionierende öffentliche Formen ersetzt. Armut wurde in der damaligen Logik nicht als originär staatliche Aufgabe verstanden. Die Armenfürsorge war von jeher kommunale Angelegenheit und die Kommunen hatten sich demzufolge auch mit den spezifischen Armutsrisiken der Arbeiter auseinanderzusetzen. Anders 35 Vgl. 16. Sitzung vom 3. Dezember 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 3, 1986, S. 730 ff. 36 s. o. Kapitel 1. 37 Vgl. Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 15 ff.; außerdem oben Kapitel 2 C. II. 38 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (223 ff.); Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 199 ff. m. w. N. 39 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 199 ff., 261 ff.
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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als andere Arme oder von Armut bedrohte, die sich in der Armenfürsorge wiederfanden und deren Armutsgründe zahlreich und hoch different waren, wurde die Arbeiterfrage zur kollektiven Massenfrage. Eine mehr und mehr organisierte Arbeiterbewegung drängte zur Lösung jener Probleme zunehmend auch nach politischer Partizipation. Die konservative Reichsregierung unter Bismarck sah sich nicht zuletzt aus Furcht vor dem sozialrevolutionären Potenzial dieser Bewegung zum Handeln aufgefordert.40 Zur Disziplinierung der Arbeiter und zur positiven Flankierung der Sozialistengesetze sicherte das Reich die spezifische Gruppe der Arbeiter für bestimmte soziale Risiken, freilich auf bescheidenem Niveau, ab. Diese Absicherung sollte zumeist (auch) durch eigene Beiträge der Arbeiter erkauft werden und so zu einem subjektiven Recht des Versicherten gegen „den Staat“ führen. Die Sozialversicherungsträger sollten als staatliche Selbstverwaltungskörperschaften die Arbeiter für ausbleibende politischer Partizipation entschädigen und an den Staat binden.41 Die Entscheidung für eine zumeist paritätisch von Arbeitnehmern und -gebern finanzierte „Versicherungslösung“42 und nicht für eine anderweitig bspw. steuerfinanzierte oder genossenschaftlich paritätisch finanzierte Armutssicherung ist das Ergebnis eines längerfristigen politischen Prozesses. Seit dem ersten großen Bergarbeiterstreik in Niederschlesien 1869 spielte Bismarck mit dem Gedanken einer paritätisch finanzierten aber noch eher genossenschaftlich organisierten Armutssicherung für Arbeiter. Die Hinwendung zum Modell der Sozialversicherung bildete sich im Laufe der 1870er Jahre in politischer Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Liberalen heraus. Teilweise wurde eine freiwillige Versicherungs- oder Betriebslösung bevorzugt, teilweise eine entschiedene staatliche Intervention, partiell wiederum auch nach Versicherungszweigen unterschiedlich akzentuiert. Die Wirtschaftskrise 1873 und die Attentate auf Kaiser Wilhelm I. 1878 ließen die Befürchtungen der Liberalen vor einem Bürokratiemoloch durch staatliche Intervention in den Hintergrund treten und die konservative Regierung letzte Zweifel verlieren.43 Ohne die konkrete politische Motivation zu fokussieren, ging es bei der Etablierung der Sozialversicherung 40 Vgl. Kampffmeyer, Vor dem Sozialistengesetz; Kampffmeyer, Unter dem Sozialistengesetz. 41 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (223 ff.). 42 Zum Streit über die Frage, ob die Sozialversicherung eine Versicherung im privatrechtlichen Sinne oder eine Fürsorgeleistung ist bzw. als solche aufgefasst wurde ausführlich Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 32 ff. Danach wurde die Frage zunächst zu Gunsten einer Fürsorgeleistung beantwortet. 43 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (230 f.).
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Kap. 4: Bundesexekutive
jedenfalls auch darum, die Arbeiter aus der kommunalen Armenfürsorge in privilegierender Weise in staatliche Obhut zu überführen. Dementsprechend zeigte sich die Sozialversicherung als Gegenentwurf zur Armenfürsorge und grenzte sich von dieser gezielt ab.44 Die Sozialversicherung privilegierte die Arbeiter u. a. dadurch, dass ihnen ein subjektives Recht auf die Versicherungsleistung zuerkannt wurde. Die Arbeiter erkauften sich gleichsam ihre Absicherung durch eigene Beiträge. Insoweit lehnte sich die Sozialversicherung wesentlich auch an den privaten Versicherungsbegriff an.45 Dass die Sozialversicherung auf Arbeiter46 zugeschnitten wurde, resultiert aus deren überindividuell, kollektiv jedenfalls typischerweise gleich verteilten Risiken. Die damalige Debatte um die Errichtung einer Arbeitslosenversicherung verdeutlicht dies. Sie ging negativ aus, weil man Arbeitslosigkeit überwiegend weiterhin als individuelles Versagen qualifizierte. Die Kollektivierung individueller, aber gruppentypsicher Risiken ist demnach originäres Wesensmerkmal der Sozialversicherung. Anders als dies bei privaten Versicherungen der Fall ist, steht dabei nicht die Äquivalenz von Beitrag und Leistung im Vordergrund, sondern die Minderung jener sozialer Risiken durch die Solidargemeinschaft.47 Die Sozialversicherung ist demnach allenfalls eine modifizierte Versicherung im privatrechtlichen Sinn. Die Sozialversicherung enthält nämlich insofern auch ein Stück soziale Umverteilung und ist im Gefüge öffentlicher Sozialleistungen auch eine Art privilegierte Fürsorge; sie enthält jedenfalls Elemente dieser.48 Dass das Merkmal staatlicher Steuerung entgegen einer privaten Selbstregulierung entscheidend war, verdeutlicht auch, dass die Reichsregierung die Disziplinierung und Anbindung der Arbeiter an den Staat zu erreichen suchte und staatliche Zuschüsse zur Sozialversicherung gleichsam einkalkulierte.49 Ein Modell freiwilliger betrieblicher Sicherung hatte sich zuvor bereits als untauglich erwiesen, was sogar die Liberalen zu einer partiellen Anerkennung einer (zumindest auch) staatlichen Lösung brachte.50 Insofern war nicht damit zu 44
Normativ und organisatorisch. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Sozialversicherung keine Fürsorgeleistung war, sondern nur, dass sie sich von der allgemeinen Armenfürsorge unterschied. 45 Zur historischen Begriffsdebatte Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 32 ff. 46 Ein hinreichend – insbesondere zu den Beamten (Privatbeamte) – abgrenzbarer Begriff der Angestellten fehlte lange Zeit und wurde erste in der WR etabliert. Dazu Schulz, Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert, S. 1 ff. 47 Grundlegend und ausführlich Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 121 ff. auch mit dem Hinweis, dass die Äquivalenz ausschließlich oder jedenfalls häufig als Argument gegen Umverteilung angeführt wird. 48 So auch BVerfGE 11, 105 (114), bezugnehmend auf BVerfGE 9, 124 (133); 10, 141 (166). 49 s. o. Kapitel 2 C. II.
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rechnen, dass die Sozialversicherung ähnlich einer privaten Versicherung ökonomisch bzw. betriebswirtschaftlich günstig zu haben sein würde. Dieses war den Beteiligten bewusst und die Sozialversicherung wurde damals überwiegend nicht als Versicherung im privatrechtlichen Sinne, sondern als Fürsorge verstanden.51 Die Anerkennung von Arbeitslosigkeit als soziales Risiko im Sinne der Sozialversicherung führte 1927 zur Einführung der Arbeitslosenversicherung und verdeutlicht, dass bekannte Risiken auch erst im Laufe der Zeit als soziale verstanden werden, u. U. sogar erst als solche in Erscheinung treten. Soziale Sicherung durch Sozialversicherung zu organisieren bedeutet sozialpolitische Lenkung und Steuerung durch den Gesetzgeber. Dementsprechend hat auch das BVerfG für das konkrete Verständnis der Sozialversicherung unter dem Grundgesetz stets dem Merkmal der politischen Steuerung in seiner Auslegung Rechnung getragen und Sozialversicherung als relativ offenen und flexiblen Typus- oder Gattungsbegriff und nicht als relativ statischen und rigiden Rechts- oder Klassenbegriff beschrieben.52 Danach sollte Sozialversicherung sein, was sich der Sache nach als solche darstellt. Im Gegensatz zu definierten Rechts- oder Klassenbegriffen53 werden Typen bzw. Gattungen dabei durch Merkmale beschrieben, welche zwar regelmäßig auftauchen, aber nicht zwingend vorliegen müssen. Im Ergebnis kann der Typus auch einschlägig sein, wenn einzelne Merkmale fehlen.54 Diesem Vorgehen wurde und wird teilweise vorgehalten, es sei aufgrund der relativen Beliebigkeit untauglich Kompetenzen effektiv voneinander abzugrenzen.55 Auch dogmatisch sei dies nicht überzeugend. Der Ansatz sei zirkulär,56 allenfalls jedoch eine petitio principi.57 Er mache vorgefundene 50 Stolleis, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, S. 199 (232). 51 Vgl. Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK GG, Band 10, Art. 74 Nr. 12 Rn. 29 (Dezember 2006); Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 117; Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 17 ff. 52 Seit dem Kindergeld-Urteil von 1960 BVerfGE 11, 105 (111 f.); dazu Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 22; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 101 ff.; Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 171 ff. 53 Zu dem Klassenbegriff Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 24 unter Verweis auf Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 543 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 216 ff.; Leenen, Typus und Rechtsfindung. 54 Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 92. 55 Zuletzt Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 171 ff. und Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 22 ff. 56 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 158. 57 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 101.
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bestenfalls noch einfach-gesetzlich formierte Realitäten zur Grundlage der Bestimmung von Verfassungsbegriffen.58 Realitäten unterlägen indes stetigen Änderungen. Kompetenzen könnten sich daher nahezu beliebig verschieben. Damit würden im Ergebnis Kompetenzgrenzen eher verwischt als konturiert.59 Auf der Grundlage dieser Kritik haben sich zahlreiche abweichende Ansätze zur Bestimmung des Sozialversicherungsbegriffs herausgebildet. Alle verstehen Sozialversicherung zwar als Rechts- bzw. Klassenbegriff und nicht als Typus, schränken aber zumeist ein, indem sie Adjektive wie „vage“60 oder „verwischt“61 anfügen. Methodisch dominieren folgende Vorschläge: Zunächst die Bestimmung auf der Grundlage des privaten Versicherungsbegriffs.62 Bei der Entstehung der Sozialversicherung sei explizit von den vorgefundenen privaten Versicherungsmodellen ausgegangen und auf dieser Basis die staatliche Sozialversicherung etabliert worden. Aus ihm lasse sich ein allgemeiner Versicherungsbegriff ableiten und an ihm habe sich die Definition der Sozialversicherung auszurichten.63 Andere legen ihren Fokus auf die Abgrenzung zu anderen Kompetenztiteln und betonen die strukturelle Andersartigkeit der Sozialversicherung im Vergleich zu Fürsorge und Privatversicherung. Dem liegt die These zugrunde, dass unterschiedliche Kompetenztitel auch unterschiedliche materiell beschreibbare Bereiche abgrenzen. Hierbei stehen dann eher die Unterschiede auch bzgl. des privaten Versicherungsbegriffs64 im Vordergrund. Der Vorzug der Typusbildung hingegen liegt nicht allein in der Anerkennung sozialpolitischer Handlungsspielräume des Gesetzgebers, er wird auch der historischen und systematischen Anlage der Sozialversicherung gerecht.65 Sie ist sowohl in Anlehnung an den privaten Versicherungsbegriff wie auch in Auseinandersetzung zu ihm entstanden. Sie ist als Absicherung 58 Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 178 ff.; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 35 ff.; Kuhlen, Typuskonzeptionen; Bieback, VSSR 2003, 1 (9 ff.). 59 Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 182. 60 Bieback, VSSR 2003, 1 (9). 61 Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 182. 62 Entsprechend für eine Abschichtung der Fürsorgeelemente Gößl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, S. 38 ff. 63 Zuletzt Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 187 m. w. N. 64 Ausführlich Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 87 ff. m. w. N. 65 Vgl. BVerfGE 63, 1 (34 f.) unter Bezug auf BVerfGE 11, 105 (111 ff.) sowie BVerfGE 62, 354 (366); hinsichtlich der Literatur Überblicke jeweils m. w. N. bei Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 171 ff. und Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 22 ff.
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von Arbeitern entstanden, weil die Arbeiter zur Kollektivierung fähige gruppentypische Risiken aufwiesen und ihre Privilegierung politisch erzwangen. Wer unter dem Grundgesetz insoweit Risiken aufweist und ob diese in Form der Sozialversicherung privilegiert werden sollen, wird im demokratischen Staat durch die berufenen Organe zu entscheiden sein. Im Übrigen stellt die Sozialversicherung heute zwar immer noch eine Privilegierung der Versicherten gegenüber den Beziehern von Fürsorgeleistungen dar. Es ist aber nicht zu verkennen, dass die Unterschiede nicht mehr derart existenziell sind wie z. Zt. einer diskriminierenden Armenfürsorge. Die Verschränkungen der Leistungen und Funktionsweisen und auch die exekutive Verschränkung der Verwaltungsebenen und -träger hat denjenigen Befund unter dem Grundgesetz nochmals verstärkt, der bereits ursprünglich in der Sozialversicherung angelegt war: Durch soziale Umverteilung und sozialen Ausgleich hat die Sozialversicherung immer auch wesensmäßig ein Stück Fürsorge in sich getragen.66 Insofern zeigt sich, dass die ursprüngliche Etablierung der Sozialversicherung und die begriffliche Einordnung stark politisch überformt war.67 Diese politischen Motive können nunmehr nicht einfach dem Sozialversicherungsbegriff des Grundgesetzes unterlegt werden, sie waren bereits 1927 und wiederum 1995, bei der Einführung der Pflegeversicherung68 andere. Die Sozialversicherung des Grundgesetzes ist sicher eine andere Sozialversicherung als zu ihrer Entstehungszeit. Die Typusbildung ist in besonderer Weise geeignet, diese auch politische Entwicklungsoffenheit zu reflektieren und einen sachgerechten und pragmatischen Umgang mit der Begrifflichkeit zu finden. Auf dieser Grundlage können Merkmale einer Sozialversicherung herausgebildet werden, welche wiederum nach zwingenden und typischen Merkmalen unterschieden werden können. Als zwingende Merkmale werden vom BVerfG eingeordnet: – „die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“69 (Deckungsmerkmal), – das Solidarprinzip, verstanden als Ausgleich der sozialen Lasten innerhalb des Leistungssystems und – die Beitragsfinanzierung. 66 BVerfGE 11, 105 (114), bezugnehmend auf BVerfGE 9, 124 (133); 10, 141 (166). 67 Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 56 ff. 68 Artikel 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflegeversicherungsgesetz – PflegeVG) vom 26. Mai 1994, BGBl I 1994, S. 1014 ff. 69 BVerfGE 11, 105 (112).
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Diese Merkmale können im Rahmen der Typusbildung bzgl. der Sozialversicherung als tradiert und konsentiert bezeichnet werden.70 Daneben werden zahlreiche weitere Merkmale von Literatur und Rechtsprechung aufgezeigt, welche typischerweise oder grundsätzlich bei Sozialversicherungssystemen auftauchen sollen. Dies sind insbesondere die Beschränkung auf Arbeitnehmer und Angestellte in sozialen Notlagen,71 die Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung72, der Zwangscharakter73 und der vermittelte Rechtsanspruch74. Diese Definitionsmerkmale75 dienen dazu, bei Unklarheiten in der Zuordnung im Bereich der zwingenden Merkmale den Ausschlag dafür zu geben, ein Leistungssystem insgesamt als der Sache nach der Sozialversicherung zugehörig zu erklären. (1) Deckungsmerkmal „Die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ entstammt ursprünglich dem privaten Versicherungsbegriff. Das BVerfG legt dieses Merkmal zwar ausdrücklich auch der Sozialversicherung zugrunde,76 modifiziert es aber in der Folge.77 So gehe die Sozialversicherung bspw. „nicht vom Risikobegriff der Privatversicherung“78 aus. Der konkrete materielle Gehalt des Deckungsmerkmals wird nicht gleichsam durch Strukturprinzipien der Privatversicherung überformt, sondern ist eigenständig zu bestimmen.79 In der Privatversicherung wird das Deckungsmerkmal so verstanden, dass das versicherte Risiko zunächst bei den Versicherten (Vielheit) gleich verteilt ist. Die Realisierung des spezifischen Risikos ist dann der Auslöser des 70
Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 25 ff. m. w. N. Vgl. mit leicht anderer Akzentuierung Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 102 ff. 72 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 315. 73 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 110 ff. 74 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 114. 75 Bei jedem einzelnen Merkmal wiederum wird, quer durch die vertretenden Ansätze hindurch, teilweise angenommen, es gehöre zu den zwingenden Wesensmerkmalen. Für die Arbeitnehmer und Angestelltenversicherung BayVerfGHE n. F. 1951, S. 219 (236 f.); 1959, S. 14 (17 f.); für den Rechtsanspruch Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 61; für die Arbeitsgebermitfinanzierung Engelhard, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch Sozialversicherung, § 25 Rn. 6 ff. 76 BVerfGE 11, 105 (111); 75, 108 (146). Siehe auch BSGE 6, 213 (228). 77 Und folgt so nicht unbesehen einem privaten Versicherungsmodell; so aber Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 26. 78 BVerfGE 11, 105 (114). 79 Vgl. Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 212 ff. 71
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Versicherungsfalls und der Grund der Versicherungsleistung. Der entstehende Gesamtbedarf soll außerdem schätzbar sein. Nur so ließen sich die Beiträge der Versicherten marktwirtschaftlich sinnvoll berechnen.80 Teilweise wird auch die Zufälligkeit des Risikoeintritts als Voraussetzung benannt. Zufälligkeit wird dabei als Nichtvorhersehbarkeit der Risikorealisierung verstanden.81 Bestimmte (sozial-)versicherungstypische Risiken sind tatsächlich recht sicher vorhersehbar. Das gilt offenkundig für die Rentenversicherung. Das Renteneintrittsalter wird eindeutig festgelegt, regelmäßig erreicht und die Versicherung ist auf Zeitpunkt und Höhe der Leistung ausgerichtet. Ansonsten aber ist die Wahrscheinlichkeit der Risikorealisierung stark unterschiedlich. Erbliche Dispositionen verteilen die Risiken der Krankenversicherung bspw. bereits ganz ursprünglich ungleich. Soziale, kulturelle usw. Heterogenität schlägt auch auf versicherte Risiken durch.82 Vielfach sind Unterschiede erst später feststellbar, so dass eine Versicherung die Homogenität der Risikorealisierungswahrscheinlichkeit auch gar nicht abschließend feststellen kann. Weiterhin bleibt es Sache der Marktparteien, gerade in Kenntnis bestimmter Abweichungen, einen Versicherungsvertrag dennoch abzuschließen.83 Das Merkmal der Zufälligkeit taugt also bereits in der Privatversicherung nur sehr grds. zur Konkretisierung des Deckungsmerkmals. Für die Sozialversicherung gilt dies erst recht, denn dort erfolgt die Versicherung eines sozialen Risikos sogar trotz Kenntnis einer mitunter extremen Verschiebung der Realisierungswahrscheinlichkeit. Das Erfordernis einer Schätzbarkeit wird bei der Privatversicherung überwiegend angenommen und mag nachvollziehbar begründet werden können.84 So soll ein Risiko nicht seriös versichert werden können, welches in seinem Eintritt und seiner Dauer so unsicher zu prognostizieren ist wie bspw. die Arbeitslosigkeit; für diese wird eine Schätzbarkeit daher überwiegend abgelehnt.85 Ob dies auch für die Sozialversicherung gilt, beantwortet sich eigenständig. Hier besteht im Vergleich zur Privatversicherung bereits der entscheidende Unterschied, dass staatliche Leistungssysteme gar nicht oder nur eingeschränkt anhand marktwirtschaftlicher Mechanismen aus80
Überblick bei Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 160 ff. Mugler, ZVersWiss 1980, 71 (77). 82 Vgl. dazu umfassend bspw. Bauer, Bittlingmayer, Richter (Hrsg.), Health Inequalities. Determinanten und Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheit, 2007; Lampert/Ziese, Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit, 2005; online verfügbar unter: http://www.bmgs.bund.de/download/broschueren/A349.pdf. 83 So auch Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 166. 84 Bereits Weddigen, ZVersWiss 1931, 235 (248). 85 Meinhold, Fiskalpolitik S. 42; Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 168 m. w. N. 81
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gerichtet sind.86 Staatliche Zuschüsse zu den Zweigen der Sozialversicherung aus Steuermitteln waren stets, mal stärker mal schwächer, üblich. Sie wurden nicht zuletzt durch die „Institutionalisierung“ bestimmter Steuerzuschüsse87 beinahe selbst zum typischen, manche meinen sogar zum zwingenden Merkmal der Sozialversicherung.88 Jedenfalls ist eine partielle staatliche Beteiligung an der Finanzierung historisch überkommen und war ein zentraler Entstehungsgrund der Sozialversicherung. Hätten sich die Arbeiter zum Ende des 19. Jahrhunderts privat versichern oder sich eine private (Zwangs-)Versicherung leisten können, hätte man sich möglicherweise für ein anderes, vermeintlich günstigeres marktorientiertes Sicherungsmodell entschieden;89 u. U. wäre staatliche Intervention gar nicht notwendig gewesen. Ob der Gesetzgeber aber ein soziales Risiko trotz fehlender Schätzbarkeit in Form der Sozialversicherung absichern will, liegt zunächst in seinem Ermessen. Dass die Arbeitslosenversicherung nach allgemeiner Auffassung unter den Sozialversicherungsbegriff des Art. 87 Abs. 2 GG gefasst wird,90 verdeutlicht dies in Anbetracht der zweifelhaften Schätzbarkeit zusätzlich. Auf das Merkmal ist daher zu verzichten. Es ist auch nicht mit „Funktionsfähigkeit“ zu übersetzen, um so die Definition des Deckungsmerkmals des BVerfG aufrecht erhalten zu können.91 Zumindest solange, bis die Maßstäbe klar werden, woran die Funktionsfähigkeit eines Leistungssystems zu messen sein soll. Es ist durchaus zweifelhaft, ob es sich hierbei nicht eher um eine politische Kategorie handelt, welche ansonsten kein eigenständiges inhaltliches Profil gegenüber den anderen Merkmalen gewinnt.92 Das Deckungsmerkmal reduziert sich demnach in seiner inhaltlichen Bedeutung erheblich und wirkt weitgehend deskriptiv. Es beschreibt die Sozialversicherung als eine Gemeinschaft, welche nach einem einheitlichen Risiko zusammengefasst und gesetzlich organisiert ist. Welche Risiken das seien können, ist nicht abschließend festzulegen. Es muss sich aber zumin86 Wenngleich eine Tendenz zur Ökonomisierung auch der Sozialpolitik erkennbar ist, ist diese weder zwingend noch durchdringend. Jedenfalls können und werden jene Leistungssysteme auch nach völlig anderen Kriterien errichtet. 87 Wie die sog. „Öko-Steuer“ als dauerhafter Zuschuss zur Rentenversicherung ab 1999 etabliert wurde. 88 So Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK GG, Band 10, Art. 74 Nr. 12 Rn. 29 (Dezember 2006); Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 117. 89 Gerade auch angesichts des „Booms“ der Versicherungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dazu Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 11 ff. 90 Dazu oben Kapitel 4 A. 91 So aber Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 210 ff. 92 Dementsprechend offen bleibt auch der Begriff der Funktionsfähigkeit bei Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 213.
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dest um soziale Risiken handeln. Sie dürfen mithin nicht ausschließlich individuell sein. Bei der Anerkennung eines Risikos als spezifisch soziales ist dem Gesetzgeber ein erheblicher Spielraum einzuräumen. Wie die Entstehung der Sozialversicherung zeigt, entwickeln sich soziale Risiken aus gesellschaftlichen, technologischen, kulturellen usw. Veränderungsprozessen heraus. Dabei können bekannte Risiken zu sozialen werden oder auch neue soziale Risiken entstehen und als Sozialversicherung gesetzlich organisiert werden.93 (2) Beitragsfinanzierung und das Solidarprinzip Wie das geschieht, ist vor allem durch die anderen zwingenden Merkmale bestimmt: Die Beitragsfinanzierung und das Solidarprinzip. Alle drei zwingenden Merkmale der Sozialversicherung gehen letztlich dabei ineinander auf. Ihre jeweilige konkrete Bedeutung ist ohne diejenige der anderen nicht hinreichend bestimmbar. Das Deckungsmerkmal in der Sozialversicherung bezieht seine inhaltliche Bedeutung gerade auch daraus, dass zur Deckung überhaupt Beiträge erbracht werden. Dass die bezogenen Leistungen wiederum nicht individuell äquivalent zu den Beiträgen sein müssen, ist auf das Solidarprinzip zurückzuführen.94 Dass eine Deckung über die Verteilung auf eine Vielheit erfolgt, ist auch ein Stück Solidarprinzip. Im Einzelnen: Mag in der Privatversicherung durchaus (noch) von einer individuellen Äquivalenz zwischen erbrachten Beiträgen und bezogenen Leistungen gesprochen werden,95 gilt dies für die Sozialversicherung grds. nicht; wenn dann allenfalls in Form einer „überindividuellen“ globalen Äquivalenz.96 Dass Beiträge der Versicherten erbracht werden, ist einer der wesentlichen systematischen und historischen Unterschiede zwischen Sozialversicherung und Fürsorge und ist als Merkmal daher nicht verzichtbar. Dass nicht alle Versicherten auch tatsächlich Beiträge erbringen und nicht alle gleichermaßen hohe, ist wiederum Ausdruck der Fürsorgeelemente der Sozialversicherung. Die traditionellen Zweige der Sozialversicherung zeichneten sich von Beginn an dadurch aus, dass die zu erbringenden Beiträge in ihrer Höhe vom Einkommen abhängig waren. Auch ist es stets stärker als in der Privatversicherung zu erheblich differenter Leistungsverteilung gekommen. Wer 93 Geradezu beispielhaft ist dies im Rahmen demographischer und soziologischer Veränderungen, welche zu der Notwendigkeit führten, Pflegebedürftigkeit als soziales Risiko einzustufen. Siehe BT-Drs. 12/5262, S. 1 ff. 94 Zum Merkmal der Äquivalenz ausführlich Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 173 ff. 95 Vgl. Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 121 ff. 96 BVerfGE 100, 1 (34 ff.).
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bspw. nie einen Arbeitsunfall erlitt, bekam auch keine Leistungen der Unfallversicherungen. Wer häufig Opfer von Arbeitsunfällen wurde, bekam relativ viele Leistungen, ohne dass ihm die Versicherung hätte „gekündigt“ werden können. Die fehlende individuelle Äquivalenz von Beitrag und Leistung ist in der solidarischen Umverteilung und Beitragsbemessung also gerade angelegt. Durch die Mitversicherung von Familienangehörigen und die partielle Mitversicherung von Fürsorgeempfängern verstetigte sich diese Tendenz.97 Um die Sozialversicherung von der Fürsorge aber überhaupt abgrenzbar zu machen, wird gemeinhin zumindest gefordert, dass ein nicht völlig unerheblicher Teil der Kosten einer Sozialversicherungsleistung durch Beiträge erbracht wird.98 bb) Einordnung von Verwaltungsaufgaben Beschrieben wurde bis hierher ein Verständnis von Sozialversicherung, welches sich auf Leistungssysteme in toto bezieht und damit vor allem auf die Gesetzgebungskompetenz zugeschnitten ist. Wird ein neuer Zweig der Sozialversicherung gesetzlich geschaffen und vollständig auch exekutiv einem Träger zugeordnet, kann eine Übertragung der Begrifflichkeit von Art. 74 Nr. 12 GG auf Art. 87 Abs. 2 GG recht problemlos gelingen. Werden aber einzelne Verwaltungsaufgaben einem Sozialversicherungsträger zugewiesen, stellt sich ein solches Vorgehen als schwieriger dar. Insoweit verschieben sich nämlich die Maßstäbe. Nicht jede Aufgabe, die von einem Sozialversicherungsträger wahrgenommen wird bzw. werden kann, teilt an sich die beschriebenen Merkmale einer Sozialversicherung vollständig. Bspw. erfüllen bereits jetzt die Verwaltungsaufgaben im Zusammenhang mit mitversicherten Personen, welche überhaupt keine Beiträge zahlen, das Kriterium der Beitragsfinanzierung und eines kontradiktorisch verstandenen Solidarausgleichs selbst wohl nicht. Sie erfüllen für sich genommen viel eher die Merkmale einer Fürsorgeleistung.99 Diese und ähnliche Aufgaben werden daher häufig als „versicherungsfremde Leistungen“ bezeichnet.100 97
Vgl. zu der Diskussion um die sog. versicherungsfremden Leistungen Gaßner, Aktuelle Fragen zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Pitschas (Hrsg.), Finanzierungsprobleme, S. 115 ff. 98 BVerfGE 100, 1 (34 ff.); vgl. Davy, ZIAS 2001, 221 (243 ff.); Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 173 ff. 99 Meyer/Blüggel, NZS 2005, 1 ff. 100 Vgl. bereits Musa, Betriebs-Berater 1964, 1125 ff.; Kannengießer/Gundel, Sozialer Fortschritt 2003, 207 ff.; Konle-Seidl, GSP 2003, 22; Schmuhl, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 2005, 12; allgemein Bieback, in: Wulffen (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundessozialgericht, S. 117; Römer/Borell, Versicherungsfremde Leistungen in der Arbeitslosenversicherung.
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Ihre Einordnung unter den Sozialversicherungsbegriff des Art. 74 Nr. 12 GG ist umstritten.101 Unstreitig aber – jedenfalls möglich – ist die Zuweisung einzelner Aufgaben im Rahmen eines Fürsorgesystems an Sozialversicherungsträger und umgekehrt.102 Die notwendiger- und sinnvollerweise auf die konkrete Aufgabe bezogene Betrachtung ihres Charakters trifft möglicherweise mit verwaltungsökonomischen Aspekten zusammen und begründet eine, von der Gesetzgebungskompetenz abweichende Zuweisung.103 So könnte eine Verwaltungszuständigkeit über eine sog. ungeschriebene Kompetenz begründet werden, wenn nur einzelne Aufgaben übertragen werden, die der Sache nach Aufgaben der Fürsorge darstellen. Das rekurriert aber auf das ganzheitliche Sozialversicherungsverständnis des Art. 74 Nr. 12 GG. Im Gesamtgefüge eines Sozialversicherungszweigs zeigen sich die spezifischen Aufgaben aber u. U. als wesensbestimmendes Element der Fürsorge im Bereich der Sozialversicherung.104 Einzelne Aufgaben konkretisieren einzelne Merkmale des Typus Sozialversicherung und sind dann keine an sich wesensfremden Annexaufgaben, sondern selbst wesensbestimmend.105 Konkrete Aufgabe und Gesamtgefüge sind daher bei der Frage, ob eine Aufgabe über Art. 87 Abs. 2 GG dem Bund zusteht, gleichfalls zugrunde zu legen. Nur wenn eine Aufgabe keinen Bezug zu den Merkmalen der Sozialversicherung aufweist, bzw. keine Konkretisierung einzelner Merkmale ist, bleibt allenfalls die Inanspruchnahme sog. ungeschriebener Kompetenzen. Eine solche Betrachtung knüpft daran an, dass der Gesetzgeber Aufgaben formiert und zuweist106 und damit den Maßstab der Betrachtung festlegt. 101 Dazu bspw. BVerfG, NZS 2000, 394 ff.; zuvor BSG, NZS 1998, 482 ff.; dazu Rolfs, NZS 1998, 551 ff. m. w. N. 102 So war die Arbeitslosenhilfe ein Leistungssystem der Fürsorge, wurde aber vom Gesetzgeber insoweit exekutiv der Sozialversicherung zugeordnet, dass sie von Trägern der Sozialversicherung über Art. 87 Abs. 2 GG wahrgenommen wurde. Vgl. dazu Müller-Franken, VSSR 1998, 133 (142 f.). 103 Ganz selbstverständlich bspw. Oppermann, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 46 Rn. 8; nicht einmal eine Alleinträgerschaft des Bundes bzgl. der Grundsicherung nach Art. 87 Abs. 2 GG von vornherein ablehnend Wahrendorf/Karmanski, NZS 2008, 281 (282); vgl. auch BVerfGE 98, 265 (299) bzgl. der Frage, dass bestimmte Teile eines Gesetzes einer anderen Materie bzw. einem anderen Gesetzgebungstitel unterfallen können, aber u. U. einheitlich zu betrachten sind. Würde man diese Einheit aber exekutiv aufbrechen, müsste entsprechend auch wieder eine getrennte Betrachtung erfolgen. 104 Vgl. Meyer/Blüggel, NZS 2005, 1 ff.; BSG, Urteil v. 29.01.1998 – B 12 KR 35/95 R. 105 Ähnlich wohl zumindest i. E. Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 236 ff. 106 s. o. in Kapitel 1 dargestellt.
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Kap. 4: Bundesexekutive
Wenn er eine einzelne Aufgabe anderen Charakters einem Sozialversicherungsträger zuweist, so muss diese den Maßstab der Betrachtung bilden: Zunächst als Einzelaufgabe und schließlich im exekutiven und materiellrechtlichen Kontext. b) Organisatorischer und funktionaler Gehalt des Art. 87 Abs. 2 GG aa) Organisationsverantwortlichkeit Die Verwaltungskompetenz des Bundes im Bereich der Sozialversicherung ist mit Einschränkungen der Organisationsfreiheit verbunden. Diejenige Fassung des Art. 87 Abs. 2 GG, welche wortgleich auf Art. 116 Abs. 3 GG HChE basierte, wurde im Laufe der Beratungen des Parlamentarischen Rates geändert. Sie sah zunächst vor, dass als „bundesunmittelbare Selbstverwaltungseinrichtungen“ diejenigen Sozialversicherungsträger geführt werden, „in deren Bereich der Gefahrenausgleich die einheitliche Zusammenfassung für das ganze Bundesgebiet erfordert.“ Der Zuständigkeitsausschuss des Parlamentarischen Rates, namentlich die Abgeordneten Renner und Schäfer hielten die Abgrenzung nach dem Gefahrenausgleich jedoch für zu eng.107 Daher änderte man die Vorschrift in die heutige Formulierung um und entschied sich damit für das Kriterium der regionalen Begrenztheit. Überschreitet der Zuständigkeitsbereich eines Sozialversicherungsträgers danach die Grenzen eines Landes, so ist dieser Träger als bundesunmittelbare Körperschaft zu führen (Art. 87 Abs. 2 Satz 1 GG). Das bedeutet gleichzeitig aber auch, dass dem Gesetzgeber ein Ausgestaltungsspielraum insoweit zukommt, dass er andere Trägerformen wählen kann, soweit sich der Zuständigkeitsbereich nicht über ein Land hinaus erstreckt. Dies alles gilt freilich jenseits der Abweichungsmöglichkeit nach Art. 87 Abs. 2 Satz 2 GG. Umstritten ist, wie sich der Zuständigkeitsbereich konkret ermittelt. Dazu werden eine Fülle von Vorschlägen unterbreitet, welche nicht vollständig nachgezeichnet werden sollen und im Kern auf zwei Ansätze reduziert werden können.108 Neben einem territorial-organisatorischen Ansatz, welcher mal mehr mal weniger streng die organisatorische Einhaltung der Landesgrenzen als Maßstab nimmt, steht eine – ebenfalls mal mehr mal weniger stark – funktional fokussierte Betrachtungsweise. Diese wiederum will den Zuständigkeitsbereich danach bemessen, ob der jeweilige Sozialver107
16. Sitzung vom 3. Dezember 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 3, 1986, S. 743. 108 Ausführlich dazu Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 27 ff. m. w. N.
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sicherungsträger funktionaler „Ausfluss der Hoheitsgewalt des Landes ist“109. Teilweise werden organisatorische und funktionale Aspekte kombiniert.110 Die Rechtsprechung hat sich bislang nicht konstant einem der beiden Ansätze angeschlossen, scheint aber gegenwärtig eher dem territorial-organisatorischen Ansatz zuzuneigen.111 Praktisch wird dieser Streit insbesondere bei Krankenkassen, die schon ihrer Ausrichtung nach nicht regional, sondern berufsständisch oder unternehmensspezifisch (vor allem als Ersatz- und Betriebskrankenkassen) organisiert sind. Denjenigen, die vor allem territorial-organisatorische Maßstäbe anlegen, ist insbesondere zuzugestehen, dass sie der historischen Perspektive eher gerecht werden. Das föderale Korrektiv des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 GG wurde gerade angesichts der streng territorialen Ausrichtung des Art. 87 Abs. 2 Satz 1 GG eingeführt.112 Auch der Parlamentarische Rat hat sich insbesondere deshalb von der Entwurfsfassung des Art. 116 Abs. 3 HChE gelöst, um klare und eindeutige Zuständigkeitsabgrenzungen sicherzustellen, welche durch den territorial-organisatorischen Ansatz eher zu erzielen sind. In Art. 87 Abs. 2 GG heißt es: „als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes werden diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, [. . .]“. Damit knüpft der Abs. 2 wortgleich an Abs. 1 des Art. 87 GG an. Von „Errichtung“ oder „Einrichten“ wie in Art. 87 Abs. 3 GG ist nicht die Rede, was darauf schließen lassen könnte, dass eine Etablierungskompetenz des Bundes für neue Träger nicht angedacht, Art. 87 Abs. 2 GG insoweit lediglich feststellend ist. Die Entwurfsregelung des Art. 116 Abs. 3 HChE enthielt noch den passus „einzurichten“. Eine nähere Begründung für die Änderung der Formulierung im Parlamentarischen Rat ist nicht zu finden. Im Zusammenhang mit verstärkten Zentralisierungstendenzen des Parlamentarischen Rates hinsichtlich der insoweit eher restriktiven Entwurfsfassung des Herrenchiemsee-Konvents steht zu vermuten, dass eine Reduzierung von Kompetenzen des Bundes nicht Motiv der Änderung gewesen ist. Daraus wird vielfach eine Synonymität der Begriffe „führen“ und „einrichten“ hergeleitet.113 Versteht man weiterhin den Begriff des Einrichtens weit, so dass er auch die Errichtung einschließt,114 kommt man zu dem Ergebnis, dass auch die Be109
Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 30. Franz, WzS 1961, 257 ff.; zu diesem Ansatz Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 30 f. 111 BSGE 24, 171 (173); 53, 122 (124); vgl. davor BSGE 1, 17; 15, 127. 112 s. o. Kapitel 3 C. II. 113 So Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 44 f. 114 So Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 78 m. w. N. 110
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griffe „führen“ und „errichten“ weitgehend bedeutungsgleich sind und daher dem Bund über Art. 87 Abs. 2 GG die Kompetenz auch zur Errichtung neuer Sozialversicherungsträger zukommt. Wie selbstverständlich geht auch das BVerfG in seiner Rechtsprechung davon aus, dass der Bund bei der Errichtung von Zentralstellen grds. eine Wahlmöglichkeit hat, ob er dies über Art. 87 Abs. 1 GG oder Abs. 3 Satz 1 realisieren will. Schlüssig ist diese Annahme hingegen allein, wenn über beide Regelungen grds. gleichermaßen eine Errichtungskompetenz des Bundes besteht. Die Veränderungsnotwendigkeit und -möglichkeit der Sozialversicherung kommt als Argument hinzu. Bereits frühzeitig hat das BVerfG festgestellt, dass der sozialversicherungsrechtliche status quo auch in seiner exekutiven Ausprägung nicht statisch und abgeschlossen ist, sondern sich notwendigerweise verändert. Neue Risiken lösen alte Risiken ab, bekannte Risiken werden bedeutungsvoller oder bedeutungsloser. Die Solidargemeinschaft verändert sich in demografischer, sozialer oder anderweitiger Hinsicht, so dass es dem Gesetzgeber nicht nur nicht verwehrt ist Anpassungen zu unternehmen, sondern es ihm jene geradezu abverlangt. Fallen Sozialversicherungszweige der Sache nach weg, muss der Gesetzgeber die Möglichkeit haben, diese aufzulösen; ihnen fehlt schließlich die materielle Aufgabe. Kommt ihm diese Kompetenz zu, muss es ihm auch grds. gestattet sein, neue Träger zu etablieren.115 Dies entspricht der bereits historisch angelegten engen Verbindung von materieller und exekutiver Kompetenz.116 Für die Errichtung einer Körperschaft im Sinne von Art. 87 Abs. 2 GG bedarf es, so zumindest der Wortlaut beim ersten Zugriff, keines Gesetzes. Ob dieses Ergebnis aber auch angesichts allgemeiner Regeln über den Gesetzesvorbehalt aufrechtzuerhalten ist, ist zweifelhaft. Zumindest solange und soweit die Errichtung eines Sozialversicherungsträgers eine wesentliche Entscheidung darstellt, unterliegt sie dem institutionellen Gesetzesvorbehalt. Teilweise wird eine solche wesentliche Entscheidung in der Ausgliederung aus der unmittelbaren Bundesverwaltung und dem wesentlichen wirtschaftlichen und institutionellen Gewicht der Sozialverwaltung selbst gesehen.117 Teilweise soll das nur gelten, wenn Rechtsetzungsbefugnisse 115 So hätte nach dem BVerfG ein Träger der Unfallversicherung errichtet werden können. Gleiches gilt für die Pflegeversicherung; BVerfGE 36, 383 (393). 116 s. o. Kapitel 1. 117 Vgl. Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 96 (98 f.); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rn. 66; § 23 Rn. 388; Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 835 (837 f.); Lynker, Rechtsgrundlagen der öffentlichen Körperschaft, S. 17 f.; Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 3, § 69 Rn. 88; grundlegend dazu Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, S. 602; Scheuner, Voraussetzungen und Form der Errichtung öffentlicher Körperschaften, S. 797 (805); Loeser, Das Bundes-Organisationsgesetz, S. 151; Traumann, Organisationsgewalt,
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abgegeben werden.118 Betrachtet man das Regelungsumfeld des Art. 87 Abs. 2 GG, fällt auf, dass sowohl in Art. 87 Abs. 1 GG wie auch in seinem Abs. 3 Gesetzesvorbehalte auftauchen. Daraus kann geschlossen werden, dass der Gesetzgeber anscheinend im Rahmen der Sozialverwaltung gerade keinen Gesetzesvorbehalt wollte. Versteht man Art. 87 GG in seiner Gänze allerdings als materienbezogene Auffüllung des Art. 86 GG,119 ist die Annahme einer im Grundsatz auch auf Art. 87 Abs. 2 GG bezogenen, gesetzesgebildeten Verwaltung nur konsequent und weitet die binnensystematische Argumentation über Art. 87 GG auch auf seine Umgebung hinaus aus. Der fehlende Gesetzesvorbehalt kann dementsprechend eher als redaktionelles Versehen betrachtet werden.120 Damit noch nicht eindeutig beantwortet ist die Frage, ob es sich dann auch um ein Zustimmungsgesetz handeln muss. Weitgehend Einigkeit besteht darin, dass die Neuerrichtung eines Sozialversicherungsträgers zunächst zustimmungsfrei ist. Das folge bereits aus dem Enumerationsprinzip, nach dem alle zustimmungspflichtigen Gesetze abschließend im Grundgesetz genannt sind.121 Teilweise wird für Fälle der Eingriffe in landesummittelbare Versicherungsträger im Hinblick auf Art. 84 Abs. 1 GG eine Zustimmungsbedürftigkeit angenommen.122 Typischerweise entstanden Zustimmungserfordernisse dort, wo Länderinteressen besonders betroffen seien. Wenngleich die Entstehungsgeschichte des Art. 87 GG insgesamt nur wenige, zumindest aber wenig klare Antworten auf diese und andere Fragen liefert, lohnt hier wiederum ein Blick auf den Art. 105 HChE. Dieser sollte die Zustimmungspflicht für Gesetze anordnen, durch welche „eine neue Bundesoberbehörde oder eine neue bundesunmittelbare Selbstverwaltung geschaffen wird.“ (Art. 105 Abs. 1 Nr. 1 HChE). Eine Zustimmungspflicht für die Errichtung von in mittelbarer Bundesverwaltung stehenden Selbstverwaltungseinrichtungen (wie Art. 116 Abs. 3 HChE)123 wurde gerade nicht S. 440; Stolleis, Die Geschichte des Sozialrechts, S. 378 ff.; Köttgen, VVDStRL 1958, 154 (188). 118 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 266 f. 119 So Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 2 f. (Dezember 1992), der aber gleichzeitig auch darauf hinweist, dass Art. 86 GG auch Räume im Art. 87 GG für gesetzesfreie Verwaltung schafft, dazu Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 221, der vor dem „Leerlauf des deutschen Föderalismus“ warnt. 120 Vgl. Merten, Juristische Personen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 GG, S. 219 (222). 121 Hein, Die Verbände der Sozialversicherungsträger, S. 409; Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 246. 122 Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 59 mit Hinweis auf Boecken, Organisationsreform, S. 61. 123 Der heutige Art. 87 Abs. 2 GG.
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angeordnet. Art. 105 HChE wurde schließlich zwar nicht übernommen, die angeordnete Zustimmungspflicht aber partiell schon, wie etwa im Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG. Die Konsequenzen einer Nichtübernahme des Art. 105 HChE waren dem Parlamentarischen Rat demnach offensichtlich bewusst. Die Entscheidung, nur die Errichtung mittelbarer Bundesverwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau unter das Zustimmungserfordernis zu stellen, ist angesichts des verstärkten Übergriffs auf primäre Länderkompetenzen auch nicht willkürlich oder zufällig, sondern erweckt den Eindruck einer planmäßigen Entscheidung. Demnach sprechen gewichtige Gründe gegen die Annahme einer Zustimmungspflicht bei der Errichtung von Sozialversicherungsträgern im Rahmen des Art. 87 Abs. 2 GG. bb) Funktionale Selbstverwaltung und Organisationsform Im Rahmen von Art. 87 Abs. 2 GG steht jenseits des kompetentiellen Gehalts die Frage danach im Vordergrund, ob und gegebenenfalls inwieweit Art. 87 Abs. 2 GG eine Selbstverwaltungsgarantie normiert, was wiederum zentral an die organisatorischen Vorgaben des Art. 87 Abs. 2 GG gebunden ist. Der Begriff Selbstverwaltung taucht zwar im Wortlaut des Art. 87 Abs. 2 GG nicht auf, richtet man aber den Blick auf die ursprüngliche Formulierung des Art. 116 Abs. 3 HChE fällt auf, dass diese noch von „bundesunmittelbare[n] Selbstverwaltungseinrichtungen“ sprach. Die Änderung im Parlamentarischen Rat, so wird daher teilweise vertreten,124 gehe auf die Befürchtung zurück, es könne zu Unsicherheiten hinsichtlich der Auslegung der Vorschrift kommen, namentlich bei der Frage, ob ein bestimmter Träger die Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 2 GG erfülle oder nicht. Ein Bedeutungsverlust habe aber zumindest ausdrücklich nicht damit einhergehen sollen.125 Unterstützt wird dies vermeintlich durch die systematische Auslegung des Körperschaftsbegriffs innerhalb des Art. 87 Abs. 2 GG. Ausweislich des Wortlauts werden die Sozialversicherungsträger „als bundesunmittelbare Körperschaften“ geführt. Traditionell wird eine Körperschaft des öffentlichen Rechts als mitgliedschaftlich organisierte rechtsfähige Vereinigung des öffentlichen Rechts verstanden, welche staatliche Aufgaben mit hoheitlichen Mitteln unter staatlicher Aufsicht wahrnimmt.126 Diese Definition ist im Rahmen des Körperschaftsbegriffs des Art. 86 GG unbestritten. 124 Vgl. etwa BVerfGE 10, 89 (102, 104); 15, 235 (240 ff.); 33, 125 (156 f.); Ibler, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 86 Rn. 139 ff. (Mai 2008). 125 Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 117 ff.; Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 369; Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 15, 91. 126 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band 1, S. 485 f. m. w. N.; Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, S. 322; Jestaedt, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-
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In Art. 86 GG und in Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG sind neben den Körperschaften allerdings auch Anstalten als zulässige Trägerform genannt. Bezieht man nun aber wiederum die Fassung des Art. 116 HChE und auch des Art. 105 HChE mit in die Betrachtung ein, die noch von Selbstverwaltungseinrichtungen sprachen und später jeweils, außer im Rahmen des Art. 87 Abs. 2 GG, in Körperschaften und Anstalten geändert wurde, könnte man einerseits von Folgendem ausgehen: Der Parlamentarische Rat hat sich bewusst für die ausschließlich körperschaftliche Verfasstheit der Sozialversicherungsträger entschieden. Andererseits könnte hier auch ein redaktioneller Lapsus insoweit vorliegen, dass der Parlamentarische Rat – ebenso wie in Art. 86 GG – Körperschaften und Anstalten gleichermaßen regeln wollte. In den Unterlagen zu den Beratungen lässt sich über die Motivlage keine eindeutige Antwort finden. Gegen ein enges Verständnis des Körperschaftsbegriffs spricht, dass der Parlamentarische Rat die Festlegung organisatorischer und funktionaler Vorgaben im Bereich der Sozialverwaltung nicht im „luftleeren“ Raum gefasst hat. Er hatte ihre Tradition seit dem Kaiserreich vor Augen und war 1949 mit einer sich wieder etablierenden Arbeits- und Sozialverwaltung konfrontiert.127 Der Parlamentarische Rat hat keinen der damals vorgefundenen Träger ausschließen wollen und diese waren durchaus nicht alle (eindeutig) körperschaftlich verfasst. Der Gesetzgeber ist, ebenso wie später auch das BVerfG, davon ausgegangen, dass sowohl Körperschaften wie auch Anstalten unter den Art. 87 Abs. 2 GG zu fassen sind.128 Der Körperschaftsbegriff des Art. 87 Abs. 2 GG ist vor allem aus historischen Gründen daher weit zu verstehen und umfasst auch Anstalten. Das gleiche Ergebnis erzielen diejenigen, welche zwar das Begriffsverständnis im Rahmen des Art. 86 GG übertragen, die Erwähnung der Körperschaft aber nur als beispielhaft ansehen.129 Vor allem Armin Dittmann fürchtet eine inhaltliche „Entleerung“ des Körperschaftsbegriffs.130 Um dem Körperschaftsbegriff des Art. 87 Abs. 2 GG dementsprechend zumindest praktisch nicht jedweden Aussagegehalt zu Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 14 Rn. 27 m. w. N. 127 s. o. Kapitel 2 D. II. 2. 128 Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 389 bezieht sich dazu auf Äußerungen der Abgeordneten Hoch, Renner, Menzel, Laforet und v. Bentano in der 16. Sitzung des Hauptausschusses (16. Sitzung vom 3. Dezember 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 3, 1986, S. 735 ff.) und diejenige Schäfers in der 36. Sitzung (Parlamentarischer Rat, 36. Sitzung vom 12. Januar 1949, stenografisches Protokoll, S. 195 f.). 129 Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 79. 130 Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 94 f.
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entziehen, wird teilweise aus ihm das Erfordernis eines Mindestmaßes an funktionaler Selbstverwaltung herausgelesen.131 Ankerpunkt jener Auslegung ist die historisch enge Verbindung von Selbstverwaltung und Sozialversicherung. Es könnten demnach Sozialversicherungsträger zwar auch bspw. als Anstalten errichtet werden, aber nur solange und soweit sie ein Mindestmaß an funktionaler Selbstverwaltung aufwiesen.132 Das setzt allerdings voraus, dass der Körperschaftsstatus nach traditionellem Verständnis notwendig eben dieses Maß an Selbstverwaltung erfordert, was nicht unumstritten ist.133 Die mitgliedschaftliche Organisation der Körperschaft nach engem Verständnis, welche sie maßgeblich von der Anstalt unterscheidet, wird teilweise rein formal gesehen. Insbesondere Ernst Forsthoff geht davon aus, dass die formale Mitgliedschaft ausreiche.134 Teilweise wird sie materiell aufgeladen indem auch wesentliche Mitentscheidungsbefugnisse der Mitglieder verlangt werden.135 Nur ein solches Verständnis von der mitgliedschaftlichen Organisation der Körperschaft als Wesensmerkmal könne zum Anlass genommen werden, auch von anderen Trägerformen wie der Anstalt im Rahmen von Art. 87 Abs. 2 GG ein vergleichbares Maß an Selbstverwaltung zu verlangen. Tatsächlich sind Selbstverwaltung und Sozialversicherung historisch untrennbar miteinander verbunden. Jene Konnexität war politisch motiviert. Sie sollte die Arbeiter disziplinieren, entschädigen und an den Staat binden.136 Diese Motivlage entsprang also einer eher demokratiefeindlichen als einer -freundlichen Gesinnung.137 Sie verliert unter dem Grundgesetz an Relevanz und kann nicht zum organisatorischen Wesensmerkmal der Sozialversicherung erklärt werden. Das Verlangen nach Selbstverwaltung für alle Trägerformen im Rahmen des Art. 87 Abs. 2 GG droht außerdem die Abgrenzbarkeit jener aufzulösen.138 Erkennt man hier aber Pluralität an und sieht man auch den Nutzen jener für die Verwaltungsstruktur eines demokratischen Rechtsstaats, ist es 131 So vor allem Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 160 (Dezember 1992). 132 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 160 (Dezember 1992). 133 Vgl. dazu Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 86 Rn. 40; Art. 87 Rn. 159 (Dezember 1992); vgl. auch BVerfGE 39, 302 (313). 134 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band 1, S. 490 ff. 135 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 40. 136 s. o. Kapitel 2 C. II. 137 Vgl. Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 196 (Dezember 1992). 138 Vgl. eingehend zum Meinungsstreit Kumm, Die Bedeutung von Art. 87 Abs. 2 GG, S. 100 ff.
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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nicht geboten, die Grenzen der Exekutivformen möglichst aufzulösen oder ihr Fehlen festzustellen. Im Gegenteil: Es gilt sie zu konturieren und unterscheidbar zu machen, um sich argumentativ gegen die Reduzierung von Pluralität zu rüsten. Anstalten und Körperschaften unterscheiden sich im funktionalen Sinne wesentlich. Körperschaften weisen ein Mindestmaß an mitgliedschaftlich organisierter Selbstverwaltung auf. Bei Anstalten handelt es sich schon ursprünglich um administrativ gesteuerte Verwaltung und gerade nicht um funktionale Selbstverwaltung.139 Dieser historische Gegensatz würde unnötig zugeschüttet werden. Mit der überwiegenden Auffassung ist daher von einem weiten Körperschaftsbegriff auszugehen, der auch bzgl. seiner funktionalen Vorgaben nicht überzubeanspruchen ist und insoweit auch funktionale Selbstverwaltung nicht zum Wesensmerkmal der Körperschaften i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG macht.140 Die mittelbare Bundesverwaltung im Bereich der Sozialversicherung kann nach allgemeiner Auffassung mit eigenem Verwaltungsunterbau versehen werden;141 dem Wortlaut lässt sich dies wiederum nicht entnehmen, stattdessen werden historische Gründe angeführt. So sei davon auszugehen, dass der Parlamentarische Rat die Zulässigkeit eines Verwaltungsunterbaus für die mittelbare Bundesverwaltung im Bereich der Sozialversicherung vorausgesetzt habe. Prominente Beispiele der Zeit, wie die Reichsanstalt der Arbeitsversicherung mit ihren Landesarbeitsämtern und den Arbeitsämtern vor Ort (§ 2 Abs. 1 Satz 1 AVAVG), hätten ihm quasi vor Augen gelegen. Es sei nicht erkennbar, dass der Parlamentarische Rat diese Praxis beendet sehen wollte. Daher sei aus dem Fehlen abweichender Kompetenzregelungen auf die Zulässigkeit eines Verwaltungsunterbaus zu schließen. 2. Fakultative Bundesverwaltung Bei Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG handelt es sich, wie auch im gesamten Anwendungsbereich des Art. 87 Abs. 1 und des Abs. 2 GG, um den Bereich fakultativer Bundesverwaltung hinsichtlich einer umgrenzten Sachmaterie.
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Vgl. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, S. 268 ff. Vgl. in diesem Kontext auch – wenngleich vage – BVerfGE 39, 302 (313). 141 BayVerfGH, Verwaltungsrechtsprechung, Band 20, 1969, S. 769 ff.; Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 89; Merten, Juristische Personen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 GG, S. 219 (225); Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 164 (Dezember 1992); Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 249. 140
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Kap. 4: Bundesexekutive
a) Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG Anders konzipiert ist dagegen Art. 87 Abs. 3 GG. Danach können durch den Bund im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz „selbständige Bundesoberbehörden und neue bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechtes durch Bundesgesetz errichtet werden“. aa) Materieller Bezugsrahmen des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG Die Exekutivkompetenz des Bundes wird sachlich nicht ausdrücklich begrenzt. Art. 87 Abs. 3 GG ist eher als Generalklausel verfasst und eröffnet dem Bund weitgehende Zugriffskompetenzen im Bereich der Exekutive. Die äußerste Grenze einer Bundesexekutive findet sich aber in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes.142 Neben der Schaffung der Behördenstruktur (Errichtungsakt) hat der Bund auch die Kompetenz zur materiellen Aufgabenausstattung der Behörden unmittelbar aus Art. 87 GG; anders formuliert: er hat die Befugnis zur Aufgabenübertragung (jedenfalls i. w. S.). Demnach kann auf der Grundlage des Begriffs der Errichtung entgegen früher vertretener Ansichten,143 nicht nur die (äußere) Schaffung der Behörde, sondern auch die (innere) Ausstattung über die Einrichtungskompetenz des Art. 86 Abs. 1 GG erfolgen. Die Einrichtungskompetenz ist der Errichtungskompetenz im Rahmen des Art. 87 GG immanent. Dieses zunächst vor allem systematisch und teleologisch hergeleitete Ergebnis wird durch die Entstehungsgeschichte zumindest nicht widerlegt. Der Parlamentarische Rat hat die Begriffe Errichtung und Einrichtung (errichten/einrichten) ohne nähere Abgrenzung oder Begründung eingeführt.144 Im Rahmen von Art. 87 Abs. 3 GG kann von einem weiten Errichtungsbegriff gesprochen werden. Die Befugnis zur Behördenerrichtung und Aufgabenübertragung übt der Bund nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG „durch Bundesgesetz“ aus.
142 Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 60 ff.; Kirchhof, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 58 ff. (Januar 2009). 143 Rump, Die Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden und des ihnen unterstellten Verwaltungsunterbaus, S. 32 ff.; Burgsmüller, Die Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden gem. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 34 ff., belegen die Unterscheidung vor allem durch semantische und etymologische Darlegungen. 144 Zuständigkeitsausschuss, in: Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, stenografischer Bericht, 20. Sitzung, S. 9 f.; Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 53; Rump, Die Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden und des ihnen unterstellten Verwaltungsunterbaus, S. 29; vgl. Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 111; Art. 86 Rn. 77 f.
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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bb) Begrenzung des materiellen Bezugsrahmens durch Auslegung Theoretisch denkbar ist so allerdings eine Bundesexekutive für alle Angelegenheiten, für die dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zusteht.145 Materielle Grenzen stellt der Wortlaut des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ausdrücklich nicht auf. Ein Blick auf die Praxis könnte dazu verleiten, dies auch für unproblematisch zu halten. Der Bund hat von seiner Kompetenz nur in begrenztem Umfang Gebrauch gemacht.146 Diesem Umstand wird in der Literatur teilweise große Bedeutung beigemessen, verdeutliche dies doch vor allem eines: Durch die regelmäßig folgende finanzielle Belastung des Bundes bei eigener Aufgabenwahrnehmung,147 habe er bereits kein sonderlich großes Interesse an einer übermäßig weitgehenden Inanspruchnahme der fraglichen Kompetenzen. So wirkten finanzverfassungsrechtliche Aspekte gleichsam als Korrektiv. Die Konsequenzen könnten also von der Inanspruchnahme von Verwaltungskompetenzen nicht getrennt und dann losgelöst voneinander betrachtet werden, sondern bildeten eine ausgewogene konzeptionelle Einheit, die sich in der Praxis auch bewährt habe.148 Hiergegen ist allerdings anzuführen, dass die gegenwärtige praktische Relevanz einer Norm nicht ohne weiteres deren Auslegung determiniert. Die Inanspruchnahme kann sich beliebig ändern, hier bspw. je nach Kassenlage des Bundes. Argumente sind an den für Kompetenznormen aufgestellten Determinanten auszurichten.149 Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ist als „Notverwaltungskompetenz“ konzipiert worden.150 Eine Regelverwaltung von Reichs- bzw. Bundesgesetzen durch die Länder kann als tradiert bezeichnet werden. Wenngleich dies unter der WRV auch durch einfaches Gesetz umkehrbar war, war die Länderexekutive als Regelfall vorgesehen. Die Debatten des Parlamentarischen Rates im Bereich der Bundesexekutive standen unter dem Föderalismusvorbehalt der Alliierten. Eine umfangreiche und vor allem sachlich unabsehbare Bun145 Britz, DVBl 1998, 1167 (1168); vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 1993, Az: 19 K 1634/93.A, Rn. 65. 146 Bsp. im Rahmen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, des Emissions-Zertifikatshandels, des Kraftfahrtbundesamt, des Bundesgesundheitsamts, der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr. 147 Siehe Art. 104a Abs. 1 GG. 148 Kritisch Britz, DVBl 1998, 1167 (1168 ff.); Kratzer, DÖV 1950, 529 ff. 149 s. o. Kapitel 1. 150 Britz, DVBl 1998, 1167 (1168); Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art, 87 Rn. 173 (Dezember 1992); Rupp, Bemerkungen zur Bundeseigenverwaltung nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG, S. 387 ff.
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Kap. 4: Bundesexekutive
desexekutive wäre damit nicht vereinbar gewesen. Über die Annahme einer Notverwaltungskompetenz hinaus hätten die Alliierten der Regelung wohl nicht zugestimmt.151 Hinzu kommt, dass der Parlamentarische Rat ausgewählte Bereiche, die er in Bundesverwaltung sehen wollte, explizit mit Exekutivkompetenzen ausgestatten hat. Hierin ist, angesichts der Regelverwaltung der Länder, die implizite Entscheidung gegen eine Bundesexekutive in dem Parlamentarischen Rat bekannten Verwaltungsmaterien jedenfalls angelegt. Auch verfassungssystematisch ist die Bundesverwaltung von Bundesgesetzen als Ausnahme konzipiert (Art. 30, 83 GG) und regelmäßig sachlich umgrenzt. Der insoweit dem Wortlaut nach umfassende materielle Anwendungsbereich des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG steht historischen und systematischen Erwägungen entgegen und ist zu begrenzen.152 Im Wesentlichen werden hierzu zwei Ansätze vertreten. Zum einen könne „bei großzügiger Interpretation“ die Inanspruchnahme der Exekutivkompetenz nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG von einem Bedürfnis abhängig gemacht werden.153 Zur Begründung wird eben auf das Regel-Ausnahmeverhältnis (Art. 30, 83 GG) und den Grundsatz der Bundestreue verwiesen.154 Jedoch wird die Wirksamkeit eines solchen Kriteriums zur effektiven Begrenzung der Bundesexekutivkompetenz angezweifelt. Nicht nur verlange ein solches Bedürfnis wiederum der Präzisierung. Folge es dabei, wie es sich der Formulierung nach beinahe aufdrängt, dem Art. 72 Abs. 1 GG a. F., verkomme diese Anforderung weitgehend zur Leerformel. Dies habe die Rechtsprechung zu Art. 72 GG a. F. hinreichend deutlich gemacht.155 Teilweise wird daher eine Begrenzung auf zentrale Aufgaben bevorzugt.156 Der zentrale Charakter soll dabei durch eine typisierende Betrachtung der Aufgabe ermittelt werden. Nur Aufgaben, die „ohne intime Kenntnis aller äußeren Umstände, lediglich mit einer generalisierenden, streng 151
Vgl. o. Kapitel 4 1. B. Britz, DVBl 1998, 1167 (1171); Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 173 (Dezember 1992); Heintzen, NJW 1990, 1448 ff.; a. A. Gusy, JZ 1989, 1004 ff.; Gramm, NJW 1989, 2920 ff. Teilweise wurde auch versucht, durch die Annahme, Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG sei keine Kompetenznorm, sondern nur Organisationsnorm eine vollständige Umgrenzung vorzunehmen; vgl. BVerfGE 14, 197 (203). Doch weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur konnte sich diese Auffassung durchsetzen. Siehe BVerfGE, 14, 197 (210 ff.); für die Literatur stellvertretend m. w. N. Britz, DVBl 1998, 1167 (1172). 153 Kalkbrenner, JZ 1963, 210 (213). Siehe auch die entsprechende Formulierung bereits in Fassung a des Art. 116 Abs. 2 H-CE: http://www.verfassungen.de/de/ de49/chiemseerentwurf48.htm. 154 Kalkbrenner, JZ 1963, 210 ff.; Katzenstein, DÖV 1958, 601; darauf eingehend Britz, DVBl 1998, 1167 (1173). 155 Katzenstein, DÖV 1958, 601 ff. 156 So vor allem Britz, DVBl 1998, 1167 ff. 152
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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gesetzesbezogenen Verwaltungshandlung erledigt werden können“, sollen zur Wahrnehmung in bundeseigener Verwaltung nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG taugen.157 Die Forderung nach einer Begrenzung auf zentrale Aufgaben ist insgesamt gehaltvoller und konturreicher als diejenige durch ein Bedürfnis. Beides widerspricht sich aber nicht. Die Begrenzung auf zentrale Aufgaben ergibt sich in Anknüpfung an den Begriff „Angelegenheiten“ überzeugend aus einer systematischen und teleologischen Auslegung. Allgemein anerkannt ist, dass mit „Angelegenheiten“ in Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG nichts anders gemeint war als mit dem Aufgabenbegriff in Satz 2; beide können synonym verwendet werden. Für beide gilt im Ergebnis außerdem, dass es sich um Staatsaufgaben, genauer um staatliche Verwaltungsaufgaben zu handeln hat. Diese zeichnen sich durch ein notwendiges Maß an Zentralität aus. Die Frage, ob sich eine Aufgabe durch staatliche Behörden zulässig erfüllen lässt, ist u. a. in Abgrenzung zu privaten oder örtlichen Aufgaben zu bemessen. Dabei geht es nicht darum zu fragen, ob eine Aufgabe i. S. v. Art. 28 Abs. 2 GG eine solche der örtlichen Gemeinschaft ist, sondern um die organisatorische Frage, ob die Aufgabe einen Verwaltungsunterbau – wie er auf der örtlichen Ebene zu finden ist – zu ihrer Erfüllung benötigt oder nicht. Denn wenn insoweit eine „Zentralität“ der Aufgabe abgelehnt wird, bleibt die Möglichkeit einer Kompetenz über Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG. Über Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ist die Unterhaltung einer eigenen örtlich präsenten Verwaltungsstruktur nicht zulässig. Damit ist ein Mindestmaß an Zentralität unmittelbar über den Begriff der Angelegenheit, im Rahmen des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG zu erreichen. Die Begrenzung auf zentrale Aufgaben folgt also systematischen Erwägungen. Historisch ist zu berücksichtigen, dass der Parlamentarische Rat immerhin für bestimmte Bereiche eine Bundesexekutive explizit angeordnet hat und angesichts der tradierten Regelexekutive durch die Länder zu vermuten ist, dass der Parlamentarische Rat andere Aufgaben grds. den Ländern zugestehen wollte. Dass gilt für Aufgaben, die ihm bekannt waren; über andere konnte er – jedenfalls konkret – nicht entscheiden. Aufgaben, die der Parlamentarische Rat ausdrücklich in Bundesexekutive übergeben hat, wurden von ihm als zentrale Aufgaben typisiert und eine Bundesexekutive auch ansonsten für sachnäher gehalten und für diese Aufgaben ein Bedürfnis angenommen. Diese Typisierung schlägt sich in der Begrenzung des materiellen Bezugsrahmens des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG insoweit nieder, dass dort eine Exekutivzuständigkeit des Bundes nur für zentrale Aufgaben 157 Britz, DVBl 1998, 1167 (1173); Burgsmüller, Die Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden gem. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 71.
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Kap. 4: Bundesexekutive
begründet werden kann und nur soweit ein Bedürfnis dafür besteht. Zentrale Aufgaben sind entweder solche, die als zentrale Aufgaben neu entstanden sind oder solche, die sich zu zentralen Aufgaben entwickelt haben. Ein Bedürfnis für eine Bundesexekutive ergibt sich wiederum vor allem aus systematischen Erwägungen. So ist vom Bund plausibel darzulegen, dass eine Abweichung von der Regelexekutive sachgerecht ist. cc) Organisatorischer und funktionaler Gehalt des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG Hinsichtlich des organisatorischen Gehalts der Vorschrift wird explizit, was im Ergebnis auch unter dem weiten Körperschaftsbegriff des Art. 87 Abs. 2 GG zu verstehen ist: Dem Bund steht ein Wahlrecht zwischen einer anstaltlichen und einer körperschaftlichen Errichtung zu.158 Die Errichtung hat auf formal gesetzlicher Grundlage zu erfolgen, bedarf aber anders als Errichtungen über Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG nicht der Zustimmung des Bundesrates. Die Entscheidung gegen eine Zustimmungspflicht ist in diesem Fall vom Parlamentarischen Rat bewusst getroffen worden.159 Außerdem sind die Aufgaben, welche in Bundesverwaltung hiernach wahrgenommen werden können doch regelmäßig solche, die sinnvollerweise einen ausgeprägt zentralen Charakter aufweisen.160 Eine Exekutive mit eigenem behördlichen Unterbau nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG kommt schließlich ebenso wenig in Betracht wie die Inanspruchnahme von Ländereinrichtungen.161 Der Übergriff auf das in Art. 83, 30 GG statuierte Regel-AusnahmeVerhältnis scheint insoweit überschaubar.
158 Alternativ kann sich der Bund auch für die Errichtung einer selbstständigen Bundesoberbehörde entscheiden. Sie gehört nicht zu dem Bereich der funktionalen Selbstverwaltung, wird also administrativ geführt. Anders als begrifflich vielleicht zu vermuten wäre, ist die beschriebene Selbstständigkeit keine Entbindung der Bundesoberbehörde auf der Verwaltungshierarchie. Das Zugeständnis einer partiellen oder vollständigen Weisungsfreiheit ist am Maßstab der Zulässigkeit von ministerialfreien Räumen zu messen, dazu Bull in: AK GG, Band 3, Art. 87 Rn. 28 (2001); Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 184 (Dezember 1992); Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 253; Welz, Ressortverantwortung, S. 102. 159 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 33 (Dezember 1992); JöR n. F. 1951, S. 650 ff. 160 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87, Rn. 173 (Dezember 1992); siehe Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 100; Köttgen, VVDStRL 1958, 154 ff.; Welz, Ressortverantwortung im Leistungsstaat, S. 104. 161 BVerfGE 14, 197 (211); Britz, DVBl 1998, 1167 (1172).
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
169
dd) Verhältnis zu Art. 87 Abs. 2 GG – materielle und organisatorisch-funktionale Subsidiarität? Im Verhältnis von Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG zu Abs. 2 kann es zu Konkurrenzen kommen, beinhaltet Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG doch inhaltlich den Bereich der fakultativen mittelbaren Bundesverwaltung, der bereits von Art. 87 Abs. 2 GG (Sozialversicherung) umfasst ist. Soweit es um die Errichtung neuer Sozialversicherungsträger geht, stellt sich demnach die Frage nach dem Verhältnis von Art. 87 Abs. 2 GG zu Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG. Gemäß Art. 87 Abs. 2 GG kann der Bund neue Sozialversicherungsträger als Körperschaften im weiteren Sinne, also auch als Anstalten errichten.162 Die gleiche Kompetenz könnte dem Bund nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG zustehen.163 Nimmt man weiterhin einen institutionellen Gesetzesvorbehalt ohne Zustimmungspflicht im Rahmen des Art. 87 Abs. 2 GG an, ergeben sich zwischen beiden Vorschriften bis hierher keine unterschiedlichen Anforderungen an die Organisation der Bundesverwaltung bzw. kein unterschiedlicher kompetentieller Gehalt. Über den Anwendungsbereich des Abs. 2 geht der Abs. 3 Satz 1 des Art. 87 GG lediglich bzgl. der zulässigen Organisationsformen hinaus. Neben den genannten Bundesoberbehörden ist nach allgemeiner Auffassung auch eine Errichtung als Stiftung des öffentlichen Rechts nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG möglich.164 Die Aufzählung der Organisationsformen sei hier nicht abschließend, sondern nur beispielhaft. Neben der grundsätzlichen Klärungsbedürftigkeit der Frage nach dem Verhältnis der Aussagen des Art. 87 GG zueinander, wird die spezielle Frage des Verhältnisses von Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG zu Abs. 2 also erst relevant, wenn und soweit es um die Errichtung eines Sozialversicherungsträgers als Bundesoberbehörde oder als Stiftung geht.165 Diese Möglichkeit ergäbe sich für den Bund einzig auf der Grundlage des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG. Dazu müsste er für den Bereich der Sozialversicherung aber überhaupt anwendbar sein. Aus der Einleitung des Art. 87 Abs. 3 GG mit dem Wort „außerdem“ wird teilweise gefolgert, dass jener von den vorangegangenen Absätzen ver162
Siehe ausführlich oben Kapitel 4 A. II. 1. a). Zumindest, wenn man eine umfassende Subsidiarität des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG gegenüber Abs. 2 ablehnt. 164 Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 121. 165 Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 107; Merten, Juristische Personen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 GG, S. 219 (228 f.). 163
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Kap. 4: Bundesexekutive
drängt werde.166 Sowohl Abs. 1 wie auch Abs. 2 regelten die dort umfassten Sachmaterien abschließend und ließen so keinen Raum für die Generalklausel des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG.167 Bei der Fassung des Herrenchiemseeentwurfs (Art. 116 HChE) fällt auf, dass gleich zwei der fünf Absätze mit „außerdem“ eingeleitet wurden. Art. 116 Abs. 1 HChE regelte die obligatorische unmittelbare Bundesverwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau für die Bereiche auswärtiger Dienst, Bundesbahn und -post. In der Fassung a fand sich in Abs. 2 die Vorgängerregelung des heutigen Art. 87 Abs. 3 GG. Darin hieß es: „Außerdem können für Angelegenheiten, für die dem Bund die Gesetzgebung zusteht, im Falle des Bedarfs selbständige Bundesoberbehörden errichtet werden.“ Art 116 Abs. 3 HChE befasste sich mit der obligatorischen mittelbaren Bundesverwaltung bei der Sozialversicherung.168 „Außerdem besteht eine Bundeswährungsbank“ lautete schlicht Abs. 4.169 Während man auch in Abs. 2 des Art. 116 HChE noch eine Subsidiarität konstruieren konnte, wird die Verwendung des Begriffs „außerdem“ in Abs. 4 schwerlich als Ausdruck irgendeiner Subsidiarität verstanden werden können:170 „Art. 87 GG soll wie die anderen Regelungen des VIII. Abschnitts des Grundgesetzes eine sachgerechte Ausführung der Bundesgesetze und den Aufbau einer leistungsfähigen Bundesverwaltung ermöglichen, soweit die Aufgaben nicht von den Ländern wahrgenommen werden. Art. 87 GG sichert nicht nur die Beachtung der Interessen der Länder am Schutz der eigenen Verwaltungskompetenz, sondern auch die des Bundes an einer leistungsfähigen Verwaltung, soweit er eigene Verwaltungskompetenzen hat oder sie begründen kann. Dementsprechend stellt Art. 87 GG unterschiedliche Möglichkeiten bereit, zwischen denen der Bund wählen darf, soweit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Einrichtung der jeweiligen Behörden erfüllt sind. Das Recht und die Pflicht zur Wahl einer sachgerechten Organisationsstruktur würden [andernfalls] ohne hinreichenden Grund eingeengt.“171 „Eine solche Einengung folgt auch nicht aus der Einleitung des 166 Vor allem Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 170 (Dezember 1992); Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 107; Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 252. Als Beispiel wird hier die Errichtung des Hilfswerks für behinderte Kinder genannt; Gesetz vom 22. Juli 1976, BGBl I 1976, S. 1876 ff. 167 Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 107; Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 252 f.; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 72; Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 170, 175 (Dezember 1992); Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Art. 87 Rn. 78. 168 So wie heute Art. 87 Abs. 2 GG. 169 Abs. 5 ist hier zunächst nicht weiter von Interesse. Nach ihm bleibt Art. 105 HChE unberührt, welcher die Fälle einer Zustimmungspflicht für Gesetze im Bereich der Bundesexekutive regelt. 170 BVerfGE 110, 33 (50 f.).
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
171
Absatzes 3 durch das Wort ‚Außerdem‘. Dieses Wort knüpft an die in den beiden ersten Absätzen des Art. 87 GG aufgeführten Fälle bundeseigener Verwaltung an (vgl. BVerfGE 14, 197 (210)). Damit wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass der Bund von der Ermächtigung des Absatzes 3 nur Gebrauch machen darf, wenn er andere Möglichkeiten zur Einrichtung bundeseigener Behörden nicht hat. Zieht er im Interesse effektiver Aufgabenbewältigung die in Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ermöglichte Organisationsform der nach Art. 87 Abs. 1 GG eröffneten vor, so ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“172
Speziell zu dem Verhältnis von Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG zu Abs. 1 führt das BVerfG weiter aus: „Damit wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass der Bund von der Ermächtigung des Absatzes 3 nur Gebrauch machen darf, wenn er andere Möglichkeiten zur Einrichtung bundeseigener Behörden nicht hat. Zieht er im Interesse effektiver Aufgabenbewältigung die in Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ermöglichte Organisationsform der nach Art. 87 Abs. 1 GG eröffneten vor, so ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Bund musste sich daher nicht darauf beschränken, das Zollkriminalamt auf der Grundlage des Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG als Zentralstelle einzurichten.“
Angesichts der Allgemeinheit der Ausführungen lassen sich die Erwägungen grds. auch auf das Verhältnis zu Art. 87 Abs. 2 GG übertragen. Dem Bund stünden somit gleichwertig eine Reihe von möglichen Kompetenzgrundlagen für die Errichtung eigener mittelbarer oder unmittelbarer Einrichtungen zur Verfügung. Für die Sozialversicherung gewinnt jenes Verständnis zwar zunächst an Plausibilität, wenn man eine Selbstverwaltungsgarantie der Sozialverwaltung aus Art. 87 Abs. 2 GG ablehnt.173 Dann nämlich eröffnet Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG dem Bund lediglich die Möglichkeit, jenseits des Art. 87 Abs. 2 GG Sozialversicherungsträger auch in solchen von Abs. 2 abweichenden Formen zu errichten. Damit wird die Auseinandersetzung, ob nach Abs. 2 auch eine anstaltliche Errichtung eines Sozialversicherungsträgers möglich ist, praktisch obsolet. Im Zweifel wird der Bundesgesetzgeber eine Errichtung eigener Einrichtungen über die Generalklausel bevorzugen. Hier offenbart sich aber auch das Problem einer in jeder Hinsicht bestehenden Gleichordnung der Exekutivkompetenzen des Bundes nach Art. 87 GG. Die Abs. 1 und 2 werden in ihrem organisationsrechtlichen Gehalt weitgehend hohl, wenn jeder ihrer möglichen Anwendungsfälle auch von Abs. 3 erfasst ist. Das jedenfalls ist der Preis einer vom BVerfG geforderten und so erreichten und verstandenen Effektivität 171 BVerfGE 110, 33 (50 f.); anders Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 252 f.; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 72; Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 170, 175 (Dezember 1992); Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 78. 172 BVerfGE 110, 33 (50 f.). 173 s. o. Kapitel 4 A. II. 1. a).
172
Kap. 4: Bundesexekutive
der Bundesexekutive.174 Daneben ist das Ergebnis des BVerfG zumindest auch insoweit erstaunlich, als das Gericht in Konkurrenzfällen zu anderen Verwaltungsnormen des GG eine Subsidiarität des Art. 87 Abs. 3 GG bereits bejaht hat.175 Demgemäß stößt die Entscheidung des BVerfG, soweit sie überhaupt bislang Beachtung fand oder finden konnte, überwiegend auf Ablehnung.176 b) Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG Noch eindrucksvoller und deutlicher als in Satz 1 kommt das vom Bundesverfassungsgericht beschriebene Spannungsverhältnis des Art. 87 GG in dem generalklauselartig verfassten Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG zum Ausdruck. Auf der einen Seite ist Art. 87 GG Schutzvorschrift vor allzu schwerwiegenden Einbrüchen des Bundes in die von Art. 30, 83 GG als Regelfall konzipierte Exekutivzuständigkeit der Länder.177 Auf der anderen Seite findet sich hier auch die Anerkennung organisatorisch weitgehender Bundesexekutivzuständigkeit.178 Denn anders als nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG kann der Bund hiernach einen eigenen Verwaltungsunterbau errichten. Entgegen der verfassungsrechtlichen Grundkonzeption der Verwaltung, dass der Bund auf der örtlichen Ebene nicht auftaucht, wird ihm hier eine Ausnahme zugestanden. Die Inanspruchnahme dieser Kompetenz wird gleichzeitig von deutlich restriktiveren Voraussetzungen abhängig gemacht als in Satz 1. So kann der Bund nur dann einen eigenen Verwaltungsunterbau errichten, wenn ihm neue Aufgaben erwachsen und ein dringender Bedarf für jene Verwaltungsform besteht. Jene Auflagen sind damit zu erklären, dass das Gefährdungspotenzial dieser Vorschrift für die Länderverwaltung, oder mit anderen Worten die Gefahr vor einem sich ausbreitenden Zentralismus, höher eingeschätzt wurde als dasjenige des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG.179 174
Vgl. BVerfGE 110, 33 (50 f.). Siehe bzgl. Art. 88 GG BVerfGE 14, 197 (215); Remmert, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 88 Rn. 12 (November 2009); Lindemann, in: Boos u. a. (Hrsg.), Kreditwesengesetz, § 44c Rn. 6 ff.; vgl. auch Häde, JZ 2001, 109 (112). 176 Schewerda, Verwaltungskompetenzen, S. 116 m. w. N. 177 Ausführlich Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 78 ff. m. w. N. 178 BVerfGE 110, 33 (50). 179 So stellten die Besatzungsmächte in Ziff. 6 des Genehmigungsschreibens Grundgesetz (vom 12. Mai 1949) klar, dass Art. 87 Abs. 3 GG „dem Bund sehr weitreichende Befugnisse auf dem Gebiet der Verwaltung gebe“. „Die hohen Kommissare werden der Ausübung dieser Befugnisse sorgfältig Beachtung schenken müssen, um sicherzustellen, dass sie nicht zu einer übermäßigen Machtkonzentration 175
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
173
Teilweise wird diese Einschätzung mit dem Argument bestritten, der Bund könne über Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ebenso schwerwiegend Verwaltungskompetenzen an sich ziehen. Die Errichtung eines eigenen Verwaltungsunterbaus sei bei einer vor allem örtlich zu leistenden Verwaltungsarbeit bequemer und kostensparender. Dies gelte primär für diejenigen Angelegenheiten, welche sich durch steten und intensiven Bürgerkontakt auszeichneten. Zumindest theoretisch denkbar sei es aber auch, diese Aufgaben zentral wahrzunehmen und gerade keine eigenen Bundesbehörden vor Ort einzurichten. Mitarbeiter könnten insoweit im Außendienst beschäftigt werden oder es könnten unselbstständige Außenstellen errichtet werden. Jedenfalls berge Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG im Ergebnis ein zumindest ebenso hohes Gefährdungspotential für die Länderexekutive wie Satz 2. Vielleicht sogar ein höheres, wenn man davon ausgehe, dass der Übergriff in die Verwaltungskompetenz bereits in der Inanspruchnahme jener liege und die Errichtung des Verwaltungsunterbaus der Errichtung der Bundesoberbehörde bzw. Körperschaft oder Anstalt lediglich nachfolge.180 Unabhängig von der Klärung der Frage nach einer generellen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Außenstellen im Rahmen der Verwaltungskompetenzen nach dem Grundgesetz bzw. ihrer konkreten Zulässigkeit im Rahmen von Art. 87 Abs. 3 GG und ihrer Abgrenzung von einem Verwaltungsunterbau, drängt sich ein Umgehungsverbot der Anforderungen von Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG zumindest in offensichtlichen Fällen auf. Wird demnach für die Erfüllung von Aufgaben ein eigener Verwaltungsunterbau benötigt, kann eine Bundesverwaltungskompetenz im Rahmen von Art. 87 Abs. 3 GG nur nach Satz 2 begründet werden.181 Ein solches Umgehungsverbot liegt letztlich in der Beschränkung des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG auf zentrale Aufgaben und dem Erfordernis eines Bedürfnisses begründet.182 Der Regelungsgehalt der beiden Sätze des Art. 87 Abs. 3 GG ist also nicht voneinander losgelöst zu begreifen. Satz 2 nimmt auf Satz 1 direkten führen“ Herrfarth, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK GG, Band 11, Art. 87 Anm. I. a. E.; Laforet, DÖV 1949, 221 (225). 180 Schewerda, Verwaltungskompetenzen, S. 120 f. 181 VG Düsseldorf, NVwZ 1993, 503 (504 f.); so auch Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 95 ff.; vgl. auch Burgsmüller, Die Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden gem. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 29; Böhm, DVBL 1950, 746 f.; Kratzer, DÖV 1950, 529 (530); Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 78 (Dezember 1992). Eben dies liegt auch den Erwägungen zugrunde, welche im Zusammenhang mit der geforderten Zentralität der Aufgaben nach Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG diskutiert wurde. 182 Dies tritt zu den faktischen Grenzen hinzu, die sich insbesondere aus den finanziellen Folgen einer Inanspruchnahme von Verwaltungskompetenzen ergeben, vgl. Art. 104a GG.
174
Kap. 4: Bundesexekutive
Bezug, so dass eine Verwaltungskompetenz nach Satz 2 nur zulässig sein kann, wenn eine solche nach Satz 1 dem Grunde nach ebenfalls zulässig wäre. Allein die Notwendigkeit eines „Vor-Ort-Vollzugs“, mithin der Errichtung eines Verwaltungsunterbaus, kommt qualifizierend hinzu.183 Die fraglichen Aufgaben weisen entsprechend (auch) dezentrale Bezüge auf. Die höheren Anforderungen des Satzes 2 lassen sich wiederum damit erklären, dass durch diese Dezentralität der Aufgabe, jene nach der Grundkonzeption den Ländern zur Erfüllung zustünde. Genauer: Dem Zuweisungsgehalt der Länder.184 Denn diese werden dem Charakter der Aufgabe folgend, jene regelmäßig den Kommunen überantworten, teilweise sogar überantworten müssen.185 Der Übergriff auf die Kompetenzen der Länder (und Kommunen) ist also durchaus schwerwiegender. Dort (Satz 1) stellt er sich als solcher in den Grundsatz des Art. 30, 83 GG dar, etabliert aber vorgesehene Ausnahmen. Hier (Satz 2) hingegen zusätzlich als Übergriff in den ausnahmslos geschützten Zuweisungsgehalt der Länder, welcher darin liegt, den Vollzug auf der örtlichen Ebene selbst zu organisieren. Wenn der Bund Aufgaben über Satz 2 selbst wahrnehmen kann, obgleich sie an sich eher den Ländern und meist sogar den Kommunen zustünden, ist der damit latent ausgehebelte Schutz der Kommunen auf andere Weise einzubeziehen. Das vom BVerfG aufgezeigte Spannungsverhältnis vom Schutz der vorrangigen Länderexekutive und der Effektivität der Bundesverwaltung muss um ein eigenständiges kommunales Element (Art. 28 Abs. 2 GG) ergänzt werden.186 Wie dies erfolgen kann, wird sogleich dargestellt. Die Inanspruchnahme der Verwaltungskompetenz nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG unterliegt damit jedenfalls zahlreichen unmittelbaren und mittelbaren, rechtlichen und faktischen Grenzen, die einen „Exzess“187 praktisch ausschließen. Neben dem Schutz vor der zum Ausdruck kommenden qualifizierten Gefahr für verfassungsrechtlich geschützte Interessen der Länder und Kommunen im Rahmen von Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, beruhte die Etablierung der stärkeren Anforderungen auch auf verwaltungsökonomischen Gründen.188 Die Länder, respektive die Kommunen, verfügen regelmäßig 183 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 209 (Dezember 1992). 184 Vgl. BVerfGE 110, 331 (356 ff.); s. a. BVerfGE 22, 180 (209 ff.). 185 Vgl. BVerfGE 79, 127 (135 ff.); Magen, JuS 2006, 404 ff. 186 Freilich mit der sich daraus ergebenden Möglichkeit der prozessualen Geltendmachung durch die Kommunen im Rahmen einer Kommunalverfassungsbeschwerde. 187 Wie oben beschrieben Kapitel 4 A. II. 1. b). 188 Vgl. BVerfGE 14, 197 (212 ff.), dort ist von dem Motiv reibungsloser Verwaltung die Rede; kritisch Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 215 (Dezember 1992).
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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bereits über ein ausgeprägtes Netz an behördlicher Infrastruktur vor Ort. Die Errichtung einer bundeseigenen Verwaltung neben dieser würde zu einer kostenintensiven Doppelung führen. Daher soll sie nur zulässig sein, wenn sie sich als erforderlich erweisen sollte.189 Die Anforderungen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG basieren also der Sache nach auf den Restriktionen des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG (Zentralität und Bedürfnis) und qualifizieren diese. Will der Bund seine Gesetzgebungskompetenz mit einer eigenen Verwaltungskompetenz verknüpfen und dazu außerdem einen eigenen Verwaltungsunterbau errichten, bedarf es dazu zunächst eines formellen Bundesgesetzes. Wenn dies auch nicht eindeutig aus dem Wortlaut hervorgeht, ergibt sich dies bereits unmittelbar aus dem Charakter des Satzes 2 als Spezifizierung des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG.190 Das Bundesgesetz unterliegt allerdings hier der Zustimmungspflicht und muss außerdem von der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages beschlossen werden.191 Unter Beachtung der weiteren Anforderungen können dann bundeseigene Mittel- und Unterbehörden errichtet werden. Diese zeichnen sich vor allem durch eine begrenzte regionale Zuständigkeit aus.192 Außerdem weisen sie regelmäßig ein Mindestmaß an eigenständiger Organisation auf. Ansonsten fehlt es am selbständigen Behördencharakter, wie dies üblicherweise bei den Außenstellen der Fall ist. Stellen sich nämlich die Außenstellen im Einzelfall als eigenständige Behörden dar, legt das die Annahme einer Umgehung der Voraussetzungen aus Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG nahe.193 Sind die Voraussetzungen erfüllt, muss aber nicht unbedingt ein neuer Verwaltungsunterbau errichtet werden. Dies wäre freilich verwaltungsökonomischer Unsinn. Es ist grundsätzlich auch die Übertragung der Aufgaben auf vorhandene Unterund Mittelbehörden möglich.194 Was hingegen neu sein muss, ist die Aufgabe. Hinzu kommen muss außerdem ein dringender Bedarf für dieses Vorgehen.
189
Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 252. So auch Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 95 ff.; Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 212 (Dezember 1992), beide m. w. N.; anders hingegen Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn. 609. 191 Vgl. Art. 121 GG. 192 Vgl. BVerfGE 10, 20 (48). 193 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 217 (Dezember 1992). 194 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 217 (Dezember 1992). 190
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Kap. 4: Bundesexekutive
aa) Materieller Bezugsrahmen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG (1) Neue Aufgaben Im Rahmen der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes müssen sich neue Aufgaben ergeben, die der Bund dann unter Umständen in eigener Verwaltung wahrnehmen kann. Uneinigkeit besteht bei der Frage, was unter dem Tatbestandsmerkmal „neue Aufgaben“ verstanden werden soll. Das Spektrum der vertretenen Ansichten ist denkbar breit. Während teilweise angenommen wird, die Aufgabenneuheit enthalte gar keinen oder zumindest keinen nennenswerten eigenständigen Gehalt,195 bemühen sich andere um eine möglichst restriktive Auslegung dahingehend, dass neu nur solche Aufgaben seien, welche zuvor weder vom Bund noch von den Ländern wahrgenommen worden seien.196 Wieder andere verlangen, dass sich die Aufgaben „von selbst ergeben müssen“, insoweit nicht Ergebnis einer „freie[n] Aufgabenerfindung des Bundes“ sein dürften.197 Weniger streng wird partiell auch gefordert, die Aufgaben müssten nur zeitlich in Bezug zum Entstehungsdatum des Grundgesetzes neu sein.198 Für letztgenannte Auffassung spricht vor allem die Konzeption der fakultativen Bundesverwaltung des Art. 87 Abs. 3 GG als Notverwaltungskompetenz.199 Sie sollte also für solche Einzelfälle bestimmt sein, welche für den Parlamentarischen Rat unvorhersehbar waren. Das konnten jedenfalls grds. nur solche Aufgaben sein, die nach Inkrafttreten des Grundgesetzes auftauchten. Sämtliche Aufgaben, welche bereits zur Zeit des Inkrafttretens bestanden hatten, konnte – und so steht jedenfalls zu vermuten hat – der Parlamentarische Rat, soweit er es als notwendig ansah, explizit und insoweit auch spezieller in Bundesverwaltungskompetenz übergeben. Ein solches Mindestmaß an Neuheit ist einerseits zwingend, weil bereits Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG grds. von einer Art Neuheit der Aufgaben ausgeht. Ande195 Bspw. Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 213 (Dezember 1992). 196 So etwa Broß, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 27; Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 87 Rn. 9; Ruge, in: Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 11; ablehnend Suerbaum, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 87 Rn. 33 (November 2009); Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 99; Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 110; Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 213 (Dezember 1992); Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 111. 197 Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 75; wohl auch Stern, Staatsrecht, Band 2, § 40 VI 6c. 198 So wohl Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 99 ff. 199 s. o. Kapitel 4 A. II. 1. b).
A. Bundesexekutive nach Art. 87 GG
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rerseits kann es damit nicht sein Bewenden haben, denn die explizite Restriktion in Satz 2 verlöre sonst an Bedeutung. Geht man richtigerweise davon aus, dass bei Art. 87 Abs. 3 GG der Errichtungsbegriff weit auszulegen ist, so ist auch die Aufgabenübertragung von der Errichtung umfasst.200 Jedenfalls ist sie von der Errichtung nicht vollends trennbar. Die bloße organisatorische Aufstellung einer Behördenstruktur ohne jede Aufgabe ist dem Grundgesetz fremd. Die Errichtung ist mit der erwachsenen Aufgaben insoweit eng verwoben. Der Aufgabenübertragungsakt folgt dann aber auch den formellen Anforderungen, welche an den Errichtungsakt gestellt werden. Ein ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt findet sich in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG nicht. Dementsprechend wurde früher vertreten, ein reiner Organisationsakt reiche aus.201 Diese Auffassung folgte wesentlich aber auch der Annahme, es handele sich bei Art. 87 Abs. 3 GG um eine reine Organisationsnorm. Mittlerweile wird dies anders gesehen und dementsprechend auch in diesem Zusammenhang ein anderes Ergebnis gefunden. Wenn dem Bund über Art. 87 Abs. 3 GG auch die Kompetenz zustehe, neue Verwaltungskompetenzen zu begründen und dies zumindest auch zu Lasten der Länder geht, folge bereits aus diesen allgemeinen Erwägungen, dass es sich bei dem Errichtungsakt jedenfalls nicht bloß um einen reinen Organisationsakt handeln könne.202 Ähnlich allgemein ist der Hinweis auf die übliche Handlungsform von Bundestag und Bundesrat, nämlich dem Gesetz. Konkreter wird die Argumentation im Hinblick auf die Struktur des Art. 87 Abs. 3 GG. Sind Satz 1 und Satz 2 nicht voneinander getrennt begreifbar und bauen sogar aufeinander auf, so kann die Formulierung des Satzes 2 als Konkretisierung des Gesetzeserfordernisses aus Satz 1 verstanden werden. Hier würde dann lediglich die Zustimmungspflicht des Bundesrates als weitere formelle Anforderung hinzukommen. Es ist des Weiteren nur konsequent anzunehmen, dass wenn bereits ein formelles Gesetz gefordert wird, soweit eine eher zentralistisch orientierte Behördenstruktur mit nur einer Ebene errichtet wird, erst recht ein solches auch für eine Behördenstruktur zu fordern ist, welche durch ihre Mehrschichtigkeit und Ausdifferenzierung auf die örtliche Ebene durchbricht.203 Aus alle200
Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 78; vgl. auch Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 84 27 (Januar 1985); Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 84 41; Trute, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 84 11. 201 Pathe, Die Ausführung der Bundesgesetze, 683 ff. 202 Suerbaum, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 87 Rn. 33 (November 2009) m. w. N. 203 Rump, Die Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden und des ihnen unterstellten Verwaltungsunterbaus, S. 128 m. w. N.
Rn. Rn. Rn. Rn.
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Kap. 4: Bundesexekutive
dem folgt, dass sowohl für die formelle wie auch für die materielle Errichtung ein zustimmungsbedürftiges Gesetz erforderlich ist.204 Verwaltungsaufgaben erwachsen dem Bund also durch Gesetz, genauer durch das aufgabenübertragende Gesetz. Dies ist zumindest nicht in jedem Fall auch mit dem materiellen Gesetz identisch. Der Gesetzgeber kann im Rahmen der Verfassung staatliche Aufgaben sowohl einer Verwaltungsebene allein zuweisen wie auch jene splitten und auf unterschiedliche Verwaltungsebenen aufteilen.205 So kommt dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum hinsichtlich der Umgrenzung sowie der Verteilung von Verwaltungsaufgaben zu. Die Möglichkeit der (separaten) Zuweisung einer Verwaltungsaufgabe ist davon abhängig, wie der Gesetzgeber sie zuschneidet. Deutlich wird, dass zwischen dem aufgabenübertragenden und dem materiellen Gesetz zu unterscheiden ist, wenngleich diese regelmäßig zusammenfallen mögen.206 Im Rahmen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG sind daher drei gesetzgeberische Akte logisch zu unterscheiden.207 – Das materielle Gesetz, welches den inhaltlichen Rahmen der Verwaltungsaufgaben beschreibt. Eine etwaige Zustimmungsbedürftigkeit ergibt sich aus den Vorschriften über die materiellen Gesetzgebungskompetenzen. – Das aufgabenübertragende Gesetz, welches einzelne Verwaltungsaufgaben oder den Gesamtbestand der Verwaltungsaufgaben eines Gesetzes einem bzw. verschiedenen Ebenen und regelmäßig bestimmte Verantwortlichkeiten organisatorisch zuteilt. Diese Übertragung findet durch Gesetz statt und die Zustimmungsbedürftigkeit ergibt sich aus Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG ggf. i. V. m. Satz 1. – Das Errichtungsgesetz, welches formelle und materielle Aspekte der Behördeneinrichtung regelt. Dass hierfür ein zustimmungspflichtiges Gesetz erforderlich ist, folgt aus Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG. „Erwachsen“ (Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG) dem Bund auf diese Weise Verwaltungsaufgaben, kann er sie mit eigenem Verwaltungsunterbau nur erfüllen, wenn diese neu sind. Wie bereits erwähnt, wird man wohl zumindest annehmen müssen, dass diejenigen Aufgaben nicht neu sein können, welche 204
Dies sogar auch hinsichtlich der Bundestagsmehrheit qualifiziert (Mehrheit der Mitglieder des Bundestages). 205 Freilich gilt dies nur im Rahmen seiner Zugriffskompetenzen. Ob und wieweit der Bund auf die Kommunen zugreifen kann, wird später beleuchtet. 206 Siehe zu den bis dato relevant gewordenen Anwendungsfällen Thoren, Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 22 ff.; vgl. außerdem Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 255 ff. 207 Vgl. Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 45 f.; Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Band 3, § 84 Rn. 8.
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dem Parlamentarischen Rat bekannt waren. Dies wird positiv unmittelbar deutlich in den Fällen, in denen die Aufgabenzuständigkeit durch den Parlamentarischen Rat selbst bereits geregelt wurde.208 Jene Verteilung geht kraft Spezialität dem Art. 87 Abs. 3 GG ohnehin vor.209 Negativ gilt die Vermutung, dass der Parlamentarische Rat diejenigen bekannten Verwaltungsaufgaben, welche er dem Bund nicht übertragen hat, auch nicht in Bundesverwaltung sehen wollte. Insoweit entspricht dies auch Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG.210 Je weiter, abstrakter und allgemeiner die Aufgabe umschrieben wird, desto schwieriger wird ihre Neuartigkeit begründet werden können. Strafverfolgung, öffentliche oder soziale Sicherheit und viele andere Aufgaben sind nicht erst nach Entstehung des Grundgesetzes erschaffen worden. Vielleicht kann letztlich jede Verwaltungsaufgabe, wenn man sie denn nur allgemein genug fasst, auf einen Kanon weniger „Grundaufgaben“ zurückgeführt werden. Dann wären aber praktisch keine Aufgaben neu. Der für die historische Perspektive zu Grunde zu legende abstrakte Aufgabenbegriff kann also nicht gemeint sein. Vielmehr ist eine konkretere Betrachtung zu fordern. Erfolgt der Zuschnitt und die Zuweisung der Aufgabe durch den Gesetzgeber, ist dessen Zuschnitt der (Verwaltungs-)Aufgabe entscheidend. Er muss sich im Verhältnis zu dem status quo ante als qualitativ neu bzw. anders darstellen. Ob auch eine quantitative Neuheit ausreicht, wird davon abhängen, ob die Ausdehnung oder Zurückdrängung der Aufgabe ein Maß erreicht hat, welches den Aufgabencharakter auch qualitativ beeinflusst bzw. einer solchen Beeinflussung gleichkommt. Ist dies der Fall, spricht nichts dagegen, auch diese Aufgabe als neu zu betrachten.211 Beim Zuschnitt der Aufgabe hat der Gesetzgeber wiederum im Rahmen der Verfassung weitgehend freie Hand, wird sie doch durch Gesetz als kon208 Siehe hier bspw. Art. 89 Abs. 2 Satz 1 GG zu den Wasserstrassen. Hier heißt es: „Der Bund verwaltet die Bundeswasserstraßen durch eigene Behörden. Er nimmt die über den Bereich eines Landes hinausgehenden staatlichen Aufgaben der Binnenschifffahrt und die Aufgaben der Seeschifffahrt wahr, die ihm durch Gesetz übertragen werden“. 209 Vgl. auch hier wieder den angelegten Subsidiaritätsaspekt. Vgl. dazu BVerfGE 110, 33 (50 f.); Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 72. 210 Vgl. Dittmann, Bundesverwaltung, S. 252. 211 Ähnlich auch VG Düsseldorf, NVwZ 1993, 503 (504); Argumente lassen sich mittelbar auch aus einem Vergleich zu den Konnexitätsregelungen in den Landesverfassungen herleiten. Dort führt die Übertragung neuer Aufgaben zu einer Finanzierungspflicht des Landes, wenn jene Übertragung durch das Land verursacht wird. Hier wird der Begriff der neuen Aufgaben sehr stark am Zweck der Konnexitätsregelungen ausgerichtet und weit verstanden. Daher soll eine reine Verursachung ohne eine Veränderung der Aufgabensubstanz genügen, so bspw. NRWVerfGH 12/09. Eine zweckorientierte Auslegung liegt auch dem hier gefundenen Ergebnis zugrunde.
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krete Verwaltungsaufgabe begründet. Die Auslegung ist insoweit an die Vorgaben des Gesetzgebers gebunden. Eindrucksvoll zeigt sich dies bei Aufgaben, die bisher im Kontext sog. ungeschriebener Exekutivkompetenzen wahrgenommen wurden. Diese liegen systematisch gerade im äußersten Randbereich einer Kompetenznorm oder sogar außerhalb dieser (Aufgaben kraft Natur der Sache).212 Für den Gesetzgeber folgt daraus ein höheres Maß an Flexibilität bei der Zuweisung. Bereits durch die Veränderung des normativen oder sogar organisatorischen Bezugsrahmens kann sich eine Aufgabe in diesen Fällen als neu darstellen. Für die Neuheit einer Aufgabe ist demnach zu fordern: – Ein materielles Gesetz. – Hieraus entstehende und in Bundesexekutive durch Gesetz übertragene Verwaltungsaufgaben, – die sich als relevant anders darstellen als diejenigen, die dem Parlamentarischen Rat bekannt waren – und in ihrer konkreten Form noch nicht von einer anderen Verwaltungsebene wahrgenommen worden sind. Für den Bund müssen sich die Aufgaben nicht in dem Sinne als neu ergeben, dass sie als „abstrakte“ Aufgaben vorher von keiner anderen Verwaltungsebene erfüllt wurden. Auch bereits bestehende Bundesexekutivaufgaben, welche ohne Verwaltungsunterbau ausgekommen waren, können über Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG mit einem solchen versehen werden, soweit es sich in dem beschriebenen Sinn um neue Aufgaben handelt und ein dringender Bedarf besteht. Daher kann auch eine Auslegung des Begriffs „erwachsen“ nicht überzeugen, die davon ausgeht, dass äußere Veränderungen dazu geführt hätten, dass die Aufgabe nun dem Bund anheimfällt.213 Was unter äußeren Veränderungen genau verstanden werden soll, bleibt nebulös; warum dieses Verständnis außerdem nicht eher die begriffliche Präzisierung von „neu“ betrifft, unbeantwortet. Allein der Hinweis auf die gewählte statt einer alternativen Formulierung (wie etwa „übernimmt der Bund . . . neue Aufgaben“)214 wird als Begründung angeführt. Im Rahmen von Art. 87 GG entscheidend auf den Wortlaut abzustellen, scheint allerdings schon grds. eher verwegen.215 Daher wiegt bedeutend schwerer, dass ein solches Verständnis kaum praktikabel ist. 212 Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 58 ff. (Januar 2009). 213 Thoren, Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 43; Friauf, Verfassungsrechtliche Probleme einer Reform des Systems zur Finanzierung der beruflichen Bildung, S. 137. 214 Thoren, Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 43. 215 Dazu bereits oben Kapitel 1 A. und 4 A. I.
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Hier zeigt sich nunmehr auch der qualitative Unterschied zwischen Art. 87 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 GG. Nach Satz 1 können in Bundesexekutive Aufgaben wahrgenommen werden, wenn diese in dem beschriebenen Sinne neu und zentral sind oder wenn sie zwar nicht neu sind aber sachlich gerechtfertigt zentral wahrgenommen werden müssen. Für Satz 1 ist ein gesetzgeberisches Tätigwerden also fakultativ, für Satz 2 obligatorisch. Nach Satz 2 können Aufgaben nur durch Veränderung des materiellen Gesetzes wahrgenommen werden, nach Satz 1 u. U. bereits durch ein neues aufgabenübertragendes Gesetz. (2) Dringender Bedarf Die Frage nach dem dringenden Bedarf im Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG ist vor allem eine solche nach der Abgrenzung staatlicher Verwaltungskompetenzen. Die Literatur fasst sich hinsichtlich der Klärung der inhaltlichen Aussagen jenes Tatbestandsmerkmals kurz. Einigkeit besteht beim Bezugspunkt. Der dringende Bedarf hat sich auf die spezifische Verwaltungsform zu beziehen, also auf die dezentrale Exekutive durch den Bund mittels eines eigenen Verwaltungsunterbaus.216 Alles andere hingegen bleibt eher unklar. Zweifellos handelt es sich bei dem „dringenden Bedarf“ um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Das Grundgesetz kennt allerdings ein gestuftes Verhältnis solcher Begriffe. So sind bspw. Verfahrensvorschriften zumeist klarer verfasst als materielle Garantien.217 Unbestimmte Rechtsbegriffe eröffnen notwendigerweise ein – wenngleich unterschiedlich hohes – Maß an interpretatorischer Offenheit. Sie sind aber grundsätzlich vollständig gerichtlich überprüfbar. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind insoweit von Ermessensvorschriften zu unterscheiden, welche nur auf sogenannte Ermessensfehler hin zu überprüfen sind.218 Diese Unterscheidung lässt sich für einfache Gesetze und untergesetzliche Vorschriften konsequenter durchhalten als für Verfassungsnormen, weisen Verfassungen doch ein Spezifikum auf: Sie sind politisches Recht. Dies zeigt sich normspezifisch begrifflich in unterschiedlicher Intensität. Damit übergibt man den politischen Entscheidungsinstanzen einen beträchtlichen Einschätzungsspielraum. Dieser ist dann von Verfassungsnorm zu Verfassungsnorm je spezifisch in Vorhanden216 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 215 (Dezember 1992); Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 131; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 100; Broß, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 28. 217 Vgl. Worms, RuP 2009, 138 ff. 218 Vgl. Alexy, JZ 1986, 701 ff. m. w. N.
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sein und Umfang anhand der anerkannten Auslegungsmethoden zu ermitteln. Unbestimmte Rechtsbegriffe können sich in dieser Weise als politische Ermessensentscheidungen zeigen.219 Damit lassen sich vor allem die Entscheidungen des BVerfG zu Art. 72 Abs. 2 GG a. F.220 erklären. Hiernach kam dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zu, „soweit ein Bedürfnis [. . .] besteht“. Dieses Bedürfnis erklärte das BVerfG für nicht vollständig justiziabel, denn es handele sich im Ergebnis um eine (politische) Ermessensentscheidung.221 „Die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, ist eine Frage pflichtmäßigen Ermessens des Bundesgesetzgebers, die ihrer Natur nach nicht justitiabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen ist. Zwar sind – im Gegensatz zu Art. 9 WRV – die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts zur konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund (Art. 72 Abs. 2 GG) im einzelnen bezeichnet. Hierdurch wird die Ermessensfreiheit des Bundesgesetzgebers eingeengt, der Entscheidung der Bedürfnisfrage bleibt jedoch der Charakter einer echten Ermessensentscheidung.“222
Diese Entscheidung des BVerfG traf in der Literatur auf laute Zustimmung223 und harsche Ablehnung zugleich.224 Die Diskussion vollständig nachzuzeichnen bedarf es an dieser Stelle nicht.225 Es sei nur auf einige zentrale Aspekte hingewiesen. Die Rechtsprechung zu dem Bedürfnisbegriff des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. ist, so herrscht weitgehend Konsens, eine Ab219 So BVerfGE 2, 213 (224); Kenntner, BWVBl 1999, 289 (293). Ob Ermessensentscheidungen allerdings die richtige Bezeichnung ist, scheint zweifelhaft. Hier einen unbestimmten Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum anzunehmen, erscheint begrifflich geglückter. Im Folgenden wird aus Gründen der Nachvollziehbarkeit aber in der Diktion des BVerfG geblieben. 220 I. d. F. bis 1994. 221 BVerfGE 2, 213 (224); Majer, Verfassungsgerichtsbarkeit und Bund-Länder Konflikte, S. 72 ff. 222 BVerfGE 2, 213 (224). 223 Neumeyer, Erforderlichkeitsklausel, S. 111 m. w. N. 224 Neumeyer, Erforderlichkeitsklausel, S. 113 m. w. N. 225 Das BVerfG argumentiert an dieser Stelle vor allem historisch, indem es einen Vergleich zu Art. 9 WRV anstrengt. Hier kam dem Reich die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Wohlfahrtspflege und den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu, „soweit ein Bedürfnis für den Erlaß einheitlicher Vorschriften vorhanden ist“. Dies wurde tatsächlich überwiegend als Ermessensvorschrift verstanden, dazu Anschütz, WRV, Art. 9 Anm. 1; Gebhard, Die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919, Art. 9 Anm. 2c. Allerdings enthielt das Grundgesetz von Beginn in Art. 72 Abs. 2 GG, anders noch als Art. 9 WRV, das Bedürfnis präzisierende Anforderungen. Hinzu kommt, dass die historischen Umstände der Grundgesetzgebung außer Betracht bleiben, obwohl sie doch aussagekräftiger für die Auslegung sein dürften als jene der WRV. So waren die Militärgouverneure 1949 besorgt, angesichts der allzu offenen Formulierung und mahnten den Schutz der Bundesländer an, dazu JöR 1949, S. 466.
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weichung vom Grundsatz der vollen Justiziabilität unbestimmter Rechtsbegriffe.226 Diese Abweichung, hin zu der Figur einer politischen Ermessensentscheidung, lässt sich wenn überhaupt nur mit den bezeichneten verfassungstheoretischen Erwägungen im Rahmen der anerkannten Auslegungsmethoden für den Einzelfall begründen. Die praktische Folge war, dass beinahe jede einigermaßen vernünftige Erwägung reichte, um eine Kompetenz aus Art. 72 Abs. 2 GG a. F. für den Bund zu begründen. So waren es auch vor allem diese Auswirkungen, die im Zentrum der Kritik an jener Rechtsprechung standen.227 Der verfassungsändernde Gesetzgeber war es 1994 schließlich, der diese Kritik explizit aufgenommen hat und durch eine begriffliche Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG eine vollständige Justiziabilität herstellten wollte, insbesondere als Schutz für die Länder vor dem Verlust zu vieler Gesetzgebungskompetenzen.228 Gelingen sollte dies im Wesentlichen durch die Ersetzung des Begriffs „Bedürfnis“ durch „Erforderlichkeit“: „Auf den Gebieten des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19a, 20, 22, 25 und 26 hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechtsoder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“ (Art. 72 Abs. 2 GG).
Das Bundesverfassungsgericht hat die Intention des verfassungsändernden Gesetzgebers zumindest partiell aufgenommen und ein im Vergleich zur Vorgängerregelung grds. gesteigertes Maß an gerichtlicher Überprüfbarkeit der neu gefassten Vorschrift anerkannt.229 Verkürzt lässt sich in diesem Zusammenhang feststellen: Ob ein Bedürfnis vorliegt, ist gerichtlich nur wie eine Ermessensentscheidung überprüfbar; ob etwas erforderlich ist, ist als unbestimmter Rechtsbegriff vollständig justiziabel. Dieser Rechtsprechungswandel ist nicht nur auf den ersten, sondern auch auf den zweiten Blick auf die begriffliche Änderung zurückzuführen, welche im Konsens zum historischen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers steht. Die Bestimmung der Justiziabilität einer Verfassungsnorm ist im Kern eine Auslegungsfrage und daher im Rahmen der insoweit anerkannten Methoden zu beantworten.230 Ohne Neufassung des Textes wäre 226 Daneben ist die Überprüfbarkeit von unbestimmten Rechtsbegriffen auch in anderen Fällen eingeschränkt worden. BVerfGE 2, 224; 4, 127; 10, 234; 13, 234; 26, 328; 33, 229; 34, 39; Knorr, Erforderlichkeitsklausel, S. 86 ff. 227 Neumeyer, Erforderlichkeitsklausel, S. 82 ff. (110 ff.). 228 BT-Drs. 12/6000, S. 33. 229 BVerfGE 106, 62 (135 ff.); vgl. zuvor bereits BVerfGE 12, 205 (228 f.); 26, 246 (254); 26, 281 (297 f.); 42, 20 (28); 61, 149 (174). 230 s. o. Kapitel 1.
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eine Neuinterpretation der Norm wohl nicht erfolgt.231 Demnach sind die Begriffe Bedürfnis und Erforderlichkeit dann auch grundsätzlich anderer rechtlicher Art. Ersterer ist als politische Ermessensentscheidung kaum,232 letzterer als unbestimmter Rechtsbegriff vollständig justiziabel.233 Auch ergeben sich daraus Konsequenzen für die Darlegungslast. Diese obliegt dem Gesetzgeber in dem für die Überprüfbarkeit durch das Gericht jeweils notwendigen Umfang; bei Ermessensentscheidungen entsprechend weniger als bei unbestimmten Rechtsbegriffen. Für letztere ist eine vergleichsweise umfangreiche Darlegung notwendig, um eine sachgerechte Überprüfung vornehmen zu können. Kommt der Gesetzgeber dem nicht nach, steht ihm bereits deshalb im Rahmen von Art. 72 Abs. 2 GG die Gesetzgebungskompetenz nicht zu. Dieses Verständnis von Bedürfnis als politischem Ermessensbegriff ist auch im Zusammenhang mit Art. 87 Abs. 3 Satz 1 zu Grunde zu legen. Für die Auslegung des dringenden Bedarfs aus Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG wiederum sind zunächst die Alternativen aufgezeigt: Es kann sich um eine politische Ermessensentscheidung handeln oder um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Insoweit entweder dem Bedürfnis oder der Erforderlichkeit näher stehen. Gleiche Begriffe wurden im Parlamentarischen Rat im Zusammenhang mit unterschiedlichen Vorschriften nicht selten unterschiedlich verstanden und werden heute dementsprechend different ausgelegt.234 Art. 87 GG und Art. 72 GG a. F. weisen allerdings wesentliche systematische, strukturelle und entstehungsgeschichtliche Nähe auf. Sowohl Art. 87 GG wie auch Art. 72 GG a. F. unterlagen der Regie des Zuständigkeitsausschusses, was die Vermutung zulässt, dass Begriffe eher gleichartig verwendet wurden, unterschiedliche Begriffe demzufolge auch unterschiedliche Bedeutungen haben sollten. Beide Vorschriften sind als Ausnahmevorschriften konzipiert, einmal hinsichtlich der Gesetzgebung und einmal hinsichtlich der Verwaltung. Beide sind Kompetenzvorschriften und beide stellen über die reine Inanspruchnahme der Kompetenz hinaus ein normatives Mehr als Voraussetzung auf. Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass bei der Einräumung von Gesetzgebungskompetenzen sowohl bei den Militärgouverneuren wie auch beim Parlamentarischen Rat eine starke Position des Bundes durchaus 231
Vgl. Kenntner, BWVBl 1999, 289 (292). Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 145 ff. 233 Vgl. Ewer, NVwZ 1994, 140 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, Art. 2 Rn. 138 (Juli 2001). 234 Vgl. bspw. zur Verwendung des Begriffs der öffentlichen Gewalt Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 19 Abs. 4 Rn. 45 ff. (Februar 2003). 232
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gewollt war, bei den Verwaltungskompetenzen hingegen gerade nicht. Die Militärgouverneure haben hier sogar explizit auf Gefahren im Zusammenhang mit Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG hingewiesen.235 Begriffliche Unterschiede zwischen Art. 72 GG a. F. und Art. 87 GG können eine Folge davon sein. So scheint ein Vergleich der Begriffe „Bedarf“ aus Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG und „Bedürfnis“ aus Art. 72 Abs. 2 GG a. F. durchaus weiterführend. Aufgrund der strukturellen Nähe beider Vorschriften ergibt sich die These, dass die unterschiedlichen Begriffe Unterschiedliches meinen und insoweit die unterschiedliche Motivlage bei ihrer Entstehung wiedergeben. Um diese These zu verifizieren, wird im Folgenden die Wortbedeutung der Begriffe untersucht. Die Begriffe werden zunächst in ihrer allgemeinen Bedeutung erläutert. Anschließend begrifflich spezifiziert, um schließlich den Bedarfsbegriff in seinem spezifischen Normzusammenhang mit Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG darzulegen. Versucht man sich den Begriffen etymologisch zu nähern, erfährt man alsbald eine unüberschaubare Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten in unterschiedlichsten Zusammenhängen und wissenschaftlichen Disziplinen.236 Dort, wo man sich um eine begriffliche Unterscheidung bemüht, ergibt sich folgendes Bild: So definieren in Philosophie und Psychologie manche das Bedürfnis als „das Gefühl eines Mangels mit dem Streben, ihn zu beseitigen“237. Andere meinen, eine Person habe ein Bedürfnis „nach demjenigen, was [ihm] abgeht, wenn es nicht vorhanden ist.“238 Nach Rainer Wahle wiederum entsteht durch die Störung des gewohnheitsmäßigen Ablaufs der Vorstellungen, „Unruhe bezüglich einer Vorstellung“. „Das Bewußtsein, daß sie durch eine gewisse Vorstellung behoben würde, nennen wir das Bedürfnis, die Vorstellung ruhig, ohne Trübung klar zu besitzen.“239 August Döring sieht das Bedürfnis als ein gefühltes Erfordernis an, „das potentielle Gefühl,“ der „innere Realgrund des Gefühls“240. Allen Definitionsversuchen gemein ist, dass das Bedürfnis einen subjektiven Ursprung, ein Subjekt als Ausgangs- und Bezugspunkt aufweist. Anders ausgedrückt: Das Bedürfnis ist auf das Engste mit dem „bedürftigen“ Sub235
s. o. Kapitel 2 C. II. Überblicke und Einblicke bei Kraus, Das Bedürfnis; Cuhel, Zur Lehre von den Bedürfnissen; Brentano, Versuch einer Theorie der Bedürfnisse; Schmidt, Lehre von den Kollektivbedürfnissen, 335 ff. 237 Kraus, Das Bedürfnis, S. 8. 238 Meinong, Werththeorie, S. 7. 239 Wahle, Das Ganze der Philosophie und ihr Ende, S. 371. 240 Döring, Philosophische Güterlehre, S. 74 f.; vgl. S. 77 ff., hier ist von materialen und formalen seelischen Bedürfnisse usw. die Rede. 236
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jekt verknüpft. Der Bedarf wiederum ist vor allem ein in der Ökonomie verwendeter Begriff und beschreibt dort die Menge der Güter die notwendig sind, um die vorhandenen Bedürfnisse zu befriedigen.241 Insoweit kann beim Bedarf von einer Objektivierung ökonomischer Bedürfnisse gesprochen werden. In der Rechtswissenschaft taucht der Begriff Bedarf vor allem als Schlüsselbegriff im Bereich der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB XII u. SGB II) auf. Die hiernach ausgegebenen staatlichen Sozialleistungen haben sich am Bedarf zu orientieren und sollen bedarfsdeckend ausgestaltet werden.242 Dabei knüpft die Bedarfsermittlung freilich an die vorhandenen individuellen Bedürfnisse an, objektiviert diese aber zum Bedarf. So wird nicht jedes Bedürfnis und insbesondere nicht in jeder Höhe anerkannt, sondern nach allgemeinen Grundsätzen ein Regelbedarf für bestimmte Personengruppen pauschaliert ermittelt. Auch hier wiederum mit Abweichungsmöglichkeiten in besonderen Fällen. Der Bedarf rekrutiert sich also aus vom Staat anerkannten Bedürfnissen. Ein Bedarf ist dann aber auch anhand von bestimmten Kriterien feststellbar und ggf. auch kontrollierbar. Für ein Bedürfnis gilt dies nicht unbedingt, ist es doch primär subjektiv geprägt und Ausdruck persönlicher Befindlichkeiten und Wertungen. Für die Interpretation der in Rede stehenden Verfassungsnormen geben diese Ausführungen bloße Hinweise. Es bleibt die Frage, ob das beschriebene Begriffsverständnis auch das verfassungsrechtliche ist. Im Grundgesetz taucht der Begriff des Bedürfnisses aktuell an vier Stellen auf. Nach Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG „kann der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regeln.“ „Bei der Verwaltung, dem Ausbau und dem Neubau von Wasserstraßen“ sind nach Art. 89 Abs. 3 GG wiederum „die Bedürfnisse der Landeskultur und der Wasserwirtschaft im Einvernehmen mit den Ländern zu wahren.“ Die Zustimmung des Bundesministers der Finanzen für „Überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben“ „darf nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden.“ (Art. 112 GG). Art. 89 Abs. 3 GG fordert den Bund auf, die von den zuständigen Landesstellen zu konkretisierenden Bedürfnisse der Landeskultur und Wasserwirtschaft zu berücksichtigen. Das Einvernehmenserfordernis wirkt sich für die Länder wie ein Vetorecht aus. Die dort benannten Bedürfnisse sind also bezogen auf das Rechtssubjekt Land. Das verweigerte Einvernehmen ist dann rechtmäßig, wenn die Bedürfnisse durch das Land dargetan sind und 241 242
Kirchner/Michaëlis, Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, S. 85 f. Vgl. § 28 SGB XII; §§ 19, 20 SGB II.
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die geltend gemachten Belange nicht offensichtlich unerheblich sind.243 Gerichtlich ist der Bedürfnisbegriff also nicht voll justiziabel. In der Diktion des Bundesverfassungsgerichts ist auch hier von einer politischen Ermessensentscheidung zu sprechen.244 Ähnliches ist auch für Art. 112 GG anerkannt. Das Bedürfnis für „überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben“ ist nur auf die Grenzen der Unvertretbarkeit hin zu überprüfen.245 Das Bedürfnis ist von den zuständigen Instanzen darzulegen und eine originär politische Entscheidung.246 Damit passt sich der Bedürfnisbegriff interpretatorisch nahtlos in die Reihe der anderen ein. Im Ergebnis wird eine solche Auslegung auch für den erst seit der Föderalismusreform 2006 in dieser Form bestehenden Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG anzunehmen sein. Rechtsprechung ist hierzu bislang zwar noch nicht ergangen, die Literatur geht aber überwiegend von einer Anlehnung an Art. 72 Abs. 2 GG a. F. aus, so dass der Bedürfnisbegriff auch hier politisches Ermessen einräumt.247 Diese Auffassung ist insbesondere deshalb konsequent, weil der verfassungsändernde Gesetzgeber zwar diese Auslegung in der Gesetzesbegründung nicht ausdrücklich benannt hat, ihm aber die Auseinandersetzung um den Art. 72 Abs. 2 GG a. F. bekannt war.248 Teilweise wird versucht, ein Mehr an Anforderungen aus dem Ausnahmecharakter des Art. 84 GG zur grundsätzlichen Länderexekutive herzuleiten.249 Allerdings überzeugt dies nur bedingt, denn durch die Zustimmungsbedürftigkeit etwaiger bundeseinheitlicher Verfahrensregelungen nach Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG ist dieser Gedanke bereits verwirklicht. Die dann anzunehmende eingeschränkte Darlegungslast im Rahmen von Ermessensentscheidungen obliegt dem Rechtssubjekt Bund. 243 BVerwGE 116, 175 (184); dem folgend wohl Ibler, in: von Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 89 Rn. 78; Gröpl, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 89 Rn. 139 (Juni 2007). 244 Gröpl spricht von einem unbestimmten Rechtsbegriff, obgleich er die Auslegung des Bedürfnisbegriffs des BVerwG teilt; Gröpl, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 89 Rn. 139 (Juni 2007). 245 BVerfGE 45, 1 (1, 39); NRW VerfGH, DÖV 1992, 579; NRW VerfGH, NVwZ 1995, 163; Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, S. 223 f.; Fischer-Menshausen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3 Art. 112 Rn. 6; Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Art. 112 Rn. 11. 246 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 112 Rn. 11. 247 Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84 Rn. 21; Suerbaum, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 84 Rn. 42 (November 2009); Germann, in: Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 Rn. 76. 248 Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84 Rn. 21. 249 Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 84 Rn. 64 f.
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Bis hierhin ist festzuhalten: Das Grundgesetz gebraucht den Begriff Bedürfnis einheitlich als politischen Ermessensbegriff. Damit wird das auch in anderen Disziplinen zugrunde gelegte „subjektive“ Verständnis bestätigt. Es bleibt zu fragen, ob auch der Bedarf im Sinne des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG dem objektivierten Verständnis folgt oder als Synonym für den Bedürfnisbegriff verwendet wird. Zunächst ist wiederum auf die verfassungsrechtliche Verwendung des Bedarfsbegriffs im Grundgesetz zu schauen. Er taucht neben Art. 87 GG in drei weiteren Vorschriften auf. In den Art. 12a250, 87b251 und 107252 GG. Zur Justiziabilität des Bedarfsbegriffs in Art. 12a GG und 87b GG ist bislang keine Rechtsprechung ergangen. Auch die Literatur hat sich zu dieser Frage – soweit erkennbar – noch nicht geäußert. Solange also hier nichts Abweichendes nachgewiesen ist, bleibt es bei dem Grundsatz, nach dem unbestimmte Rechtsbegriffe voll justiziabel sind. Es spricht auch der Telos der Vorschriften nicht offensichtlich dagegen. Die Feststellung eines Bedarfs an ziviler Versorgung durch Wehrpflichtige gemäß Art. 12a Abs. 3 Satz 2 GG kann ebenso objektiv bestimmt werden wie der Sachbedarf der Streitkräfte. Die Vermutung gilt freilich auch im Rahmen von Art. 107 Abs. 2 GG, wird hier allerdings durch Auslegung weiter untermauert. Nach Art. 107 Abs. 2 GG ist der Finanzbedarf von Gemeinden und Ländern bei 250 Hier in Abs. 3: „Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen.“; in Abs. 4: „Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden.“; in Abs. 6: „Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden.“ 251 In seinem Abs. 1 heißt es: „Die Bundeswehrverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau geführt. Sie dient den Aufgaben des Personalwesens und der unmittelbaren Deckung des Sachbedarfs der Streitkräfte.“ 252 Abs. 2 lautet: „Durch das Gesetz ist sicherzustellen, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen wird; hierbei sind die Finanzkraft und der Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen. Die Voraussetzungen für die Ausgleichsansprüche der ausgleichsberechtigten Länder und für die Ausgleichsverbindlichkeiten der ausgleichspflichtigen Länder sowie die Maßstäbe für die Höhe der Ausgleichsleistungen sind in dem Gesetz zu bestimmen. Es kann auch bestimmen, dass der Bund aus seinen Mitteln leistungsschwachen Ländern Zuweisungen zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs (Ergänzungszuweisungen) gewährt.“
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der Steuerertragsverteilung zu berücksichtigen. Wie die Literatur hier zu Recht anmerkt, geht es nicht um die Einbeziehung von subjektiven Sonderbedürfnissen einzelner Länder, welche ansonsten die Haushalte von Bund und anderen Ländern arg strapazieren würden.253 Maßstab für die Feststellung des Bedarf der einzelnen Länder sind demnach objektive Kriterien, die auch vollständig gerichtlich überprüfbar sind.254 Das Grundgesetz verwendet den Begriff Bedürfnis also in einem eher subjektiven Sinn, welcher politisches Ermessen einräumt und den Begriff Bedarf als objektivierten unbestimmten Rechtsbegriff, welcher voll justiziabel ist. Es ist zu vermuten, dass dies auch für Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG anzunehmen ist. Einer solchen Auslegung steht der Charakter als Ausnahmevorschrift zumindest nicht entgegen, unterstützt diese eher.255 Von einer objektiveren Dimension des Bedarf im Vergleich zum Bedürfnis wird auch teilweise in der Literatur gesprochen, ohne dies allerdings näher auszuführen oder zu begründen.256 Dass der Bedarf i. S. d. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG voll justiziabel und daher nicht dem Bedürfnisbegriff des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht, wird auch einhellig angenommen, die Begründung bleibt allerdings vage oder fehlt völlig.257 Auch die Begrifflichkeiten gehen häufig durcheinander. So wird entgegen dem Wortlaut im Zusammenhang mit Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG teilweise von Bedürfnisprüfung gesprochen,258 teilweise der Bedarf mit Erforderlichkeit übersetzt,259 jeweils aber mit demselben Ergebnis, nämlich der Annahme voller Justiziabilität. Nur wenn hier aber die begriffliche Basis geklärt ist, kann überzeugend dargelegt werden, warum es sich bei dem „Bedarf“ in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der insoweit der Erforderlichkeit des jetzigen Art. 72 Abs. 2 GG entspricht. Systematisch wird dieses Ergebnis auch im Verhältnis zu Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG unmittelbar plausibel. Dort reicht ein Bedürfnis zentraler Verwaltung aus, hier (nach Satz 2) ist die Erforderlichkeit einer solchen zu verlangen. Begrifflich entspricht der „Bedarf“ in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG also der Erforderlichkeit in Art. 72 Abs. 2 GG. Die Vermutung, dass die Verwendung unterschiedlicher Begriffe im selben Ausschuss nicht zufällig ist, wird damit ebenso bestätigt. 253
Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 107 Rn. 29. Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 107 Rn. 29; Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 107 Rn. 30; beide m. w. N. 255 Vgl. Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 84 Rn. 64 f. 256 Thoren, Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 53 mit Bezug auf Stern, § 41 VII 6 c. 257 Thoren, Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 53 ff.; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 100. 258 Vgl. Thoren, Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 53 ff. 259 So im Ergebnis zutreffend, aber ohne Begründung Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 100. 254
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Kap. 4: Bundesexekutive
Aus der Annahme, dass es sich bei dem Bedarf des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, folgt eine gesteigerte Darlegungspflicht des Bundes, welcher schließlich von der Kompetenznorm Gebrauch machen will. Nur so ist eine effektive gerichtliche Kontrolle auch praktisch möglich. Dabei verbleibt dem Bund notwendig ein Prognose- oder Beurteilungsspielraum. Er hat die Tatsachenbasis zu ermitteln und darzulegen.260 Von dieser Basis aus entwickelt er durch Prognosen und Wertungen ein Szenario, welches den Bedarf für die Gegenwart oder die Zukunft deutlich werden lässt. Eine gerichtliche Kontrolle kann diese Darlegungen nur auf ihre Plausibilität hin überprüfen.261 Eigene Erhebungen können die Gerichte nicht anstellen. Die höheren Anforderungen des Bedarfs im Vergleich zum Bedürfnis korrespondieren auch mit der Intention des Parlamentarischen Rates, Verwaltungskompetenzen des Bundes deutlich restriktiver zu formulieren als Gesetzgebungskompetenzen.262 Alle hier relevanten Auslegungsmethoden bestätigen die These, nach welcher der „Bedarf“ in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG eher der „Erforderlichkeit“ des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht als dem „Bedürfnis“ des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. Inhaltlich müssen sich die Darlegungen auf den Bedarf eines bundeseigenen Unterbaus beziehen, mithin auf die konkrete Exekutivform.263 An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass sich Verwaltungsaufgabe und materielles Gesetz zwar logisch, aber nicht konzeptionell in jedem Fall trennen lassen und daher häufig auch als Einheit betrachtet werden können. Die Notwendigkeit bzw. Erforderlichkeit (Bedarf) eines bundeseigenen Vollzugs mit eigenem Verwaltungsunterbau bezieht sich dementsprechend auf das materielle Gesetz und die Verwaltungssaufgabe als Gesamtaufgabe, wenn sie als solche übertragen werden soll. Ansonsten bezieht sie sich auf die konkret übertragene Verwaltungsaufgabe, gegebenenfalls unter Berücksichtigung ihres materiellen Bezugsrahmens, wenn und soweit er die Verwaltungsaufgabe typisiert. Die wahrzunehmende Aufgabe stellt sich im Falle des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG so als äußerst hybrid dar. Auf der einen Seite muss die Aufgabe im Rahmen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG eine zentrale, bundeseigene Verwaltung erfordern, auf der anderen Seite eine dezentrale, nämlich eine solchen mit Verwaltungsunterbau. Die Aufgabe ist zentral und dezentral zu260
Vgl. BVerfGE 106, 62 (135 ff.). Vgl. BVerfGE 106, 62 (149 ff.). 262 s. o. Kapitel 2 C. II. 263 So auch die einhellige Auffassung in der Literatur, siehe nur Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 215 ff. (Dezember 1992); Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art 87 Rn. 9; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 100; alle m. w. N. 261
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gleich. Bei der Entscheidung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist eine umfassende Abwägung der im Rahmen von Art. 87 GG geschützten Belange anzustellen. Wie ausgeführt sind dies: Der Schutz der Länderinteressen und ihrer grundsätzlichen Verwaltungskompetenz, die Effektivität der Bundesverwaltung sowie die Vermeidung von doppelten Verwaltungsstrukturen.264 Der Bund hat folglich darzulegen, dass eine anderweitige Exekutive durch diejenigen Instanzen, welchen durch die Verfassung die exekutive Regelzuständigkeit (Länder) eingeräumt wird, nicht sachgemäß zu leisten ist, gleichzeitig aber eine Bundesexekutive ohne Verwaltungsunterbau die Aufgabe nicht sinnvoll erfüllen kann. Bei letztgenanntem Aspekt spielen Erwägungen der Effektivität der Bundesverwaltung eine entscheidende Rolle. Der dringende Bedarf muss sich bzgl. der konkreten Verwaltungsform ergeben. Diese ist durch eine ausgeprägte Örtlichkeit gekennzeichnet. Die Qualifizierung der Anforderungen gegenüber einer Bundesexekutive gilt dementsprechend gerade auch gegenüber den Kommunen. Diese sind daher in den Schutzgehalt des Bedarfsbegriffs gesondert argumentativ einzubeziehen. Der Zusatz dringend in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG wirkt hinsichtlich des Bedarfs qualifizierend. Üblicherweise – im Grundgesetz immer – taucht der Begriff im Zusammenhang mit Gefahr auf265 und ihm wird hier vor allem eine zeitliche Dimension zugeschrieben.266 Diese kann auch hinsichtlich des Bedarf angenommen werden. Bei bereits gegenwärtigem Bedarf ist von der zeitlichen Dringlichkeit auszugehen. Es ist aber auch denkbar, dass die Notwendigkeit der hier in Rede stehenden Verwaltungsform erst zukünftig auftauchen wird. Dann kann die Dringlichkeit erfordern, dass die Prognose hinsichtlich des Bedarfs eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit ergibt und nicht jede plausible Möglichkeit ausreicht. Unter Umständen ist dem Bund dann sogar ein Abwarten zumutbar.267 bb) Organisatorischer und funktionaler Gehalt des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG Sind die Voraussetzungen erfüllt, kann der Bund nach Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG „bundeseigene Mittel- und Unterbehörden“ errichten. Mit Be264
s. o. die Ausführungen zu Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG Kapitel 4 A. II. 2. Art. 13 Abs. 4 u. 7 GG. 266 Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, Art. 13 Rn. 77; noch fokussierter auf das zeitliche Element Gornig, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, Art. 13 Rn. 127 m. w. N. 267 Vgl. für das Gefahrenabwehrrecht Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 101 ff. 265
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Kap. 4: Bundesexekutive
hörden ist hier „jedes selbstständige, nicht rechtsfähige Organ eines Trägers öffentlicher Verwaltung, das mit Außenzuständigkeiten zu konkreten Rechtshandlungen auf dem Gebiete der Verwaltung ausgestattet ist“268 gemeint. Die Vorsätze „Mittel- und Unter-“ beschreiben die Hierarchiestufen im Verwaltungsaufbau. So werden die entsprechenden Behörden einer schlichten Bundesoberbehörde oder unmittelbar einem Ministerium untergeordnet.269 Hierin offenbart sich die eine Bedeutung von bundeseigen: Die Behörden sind eben nicht den anderen Verwaltungsebenen zugeordnet, sondern gliedern sich in einen Verwaltungsaufbau des Bundes. Bundeseigene meint insoweit bundesunmittelbare Verwaltung. Eine zweite Bedeutung von bundeseigen zeigt sich in der konkreten Exekutivform der Mittel- und Unterbehörden. So ist zunächst denkbar, dass Mittel- und Unterbehörden im Rahmen des hier eher weiten Behördenbegriffs auch in der Form der mittelbaren Bundesverwaltung, als Stiftungen oder Körperschaften i. w. S. errichtet werden können.270 Wirft man allerdings einen Blick auf Art. 86 GG fällt auf, dass hier bundeseigene Verwaltung ganz ausdrücklich als Gegensatz zur mittelbaren Bundesverwaltung gebraucht wird. Art. 86 GG ist dem Art. 87 GG nicht bloß nominell vorgeschaltet, sondern wirkt partiell wie der allgemeine Teil der Bundesverwaltung und die Art. 87 ff. GG wie der besondere Teil. Die hier gegensätzliche Verwendung von bundeseigener und mittelbarer Bundesverwaltung indiziert dann auch die begriffliche Interpretation in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG.271 Dies zu widerlegen könnte mit dem Hinweis auf den ohnehin oft schwierigen Wortlaut gelingen.272 Das hilft indes überhaupt nur weiter, wenn der Wortlaut in erkennbarem Gegensatz zu der impliziten Bedeutung der Vorschrift steht. Die Schutzgüter des Art. 87 GG können hierzu im Rahmen der Auslegung in zweifacher Weise angeführt werden. Zum einen wird der Einbruch in die Länderexekutive nicht dadurch intensiviert, dass es sich um eine mittelbare Bundesverwaltung handelt.273 Sicher ist der qua268
Krebs, JuS 1989, 745 (748). So unterscheiden sich die hierüber zu errichtenden schlichten von denjenigen selbstständigen Bundesoberbehörden nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG. Siehe die ausführliche systematische Aufbereitung von Loeser, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsentscheidungen, Band 3, § 10 Rn. 106 ff.; s. a. Becker, Öffentliche Verwaltung, S. 289 ff. 270 So i. E. Friauf, Verfassungsrechtliche Probleme einer Reform des Systems zur Finanzierung der beruflichen Bildung, S. 110 ff. 271 Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 108; Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 87 Rn. 74. 272 Friauf, Verfassungsrechtliche Probleme einer Reform des Systems zur Finanzierung der beruflichen Bildung, S. 125 ff. 273 Friauf, Verfassungsrechtliche Probleme einer Reform des Systems zur Finanzierung der beruflichen Bildung, S. 128 ff. 269
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit
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litative Verlust in der einen wie in der anderen Form der Bundesverwaltung hinsichtlich der Exekutivaufgaben gleich. Allerdings schließen zusätzliche Restriktionen hinsichtlich der Wahl der Exekutivform bestimmte Aufgabenübernahmen praktisch aus oder erschweren diese zumindest, so dass ein quantitativer Unterschied, im Sinne eines Weniger zu Lasten der Länder die Folge ist.274 Der Ausnahmecharakter des Art. 87 GG und insbesondere seines Abs. 3 Satz 2 verlangen außerdem eine enge Auslegung. Dies gilt, wenngleich die Effektivität der Bundesverwaltung etwas anderes fordern mag. Die klare Indizierung durch Art. 86 GG wird durch eine konkrete Auslegung des Begriffs bundeseigen im Rahmen von Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG eher gestützt denn widerlegt. Wenn eine so seltsam hybride Aufgabe vorliegt, welche zum einen eine örtliche Präsenz voraussetzt, sie aber gleichzeitig nach Bundesexekutive verlangt, liegt ein Blick auf Art. 28 Abs. 2 GG nahe. Die Kommunen nehmen danach örtliche Angelegenheiten selbst wahr. Eine Aufgabe, welche nach örtlicher Präsenz drängt, ist regelmäßig eine solche mit örtlichem Charakter und damit eine solche der örtlichen Gemeinschaft. Soll sie trotzdem in Bundesexekutive übergehen (eben weil ein dringender Bedarf besteht), würde das Prinzip kommunaler Selbstverwaltung geradezu ad absurdum geführt werden, wenn der Bund einer anderen Selbstverwaltungskörperschaft275 die Aufgabe übertragen kann und so die Verwaltung der Aufgabe zumindest partiell, bzgl. Weisungsbefugnissen usw., wieder abgibt. Ein solches Verhalten wäre im Sinne des venire contra factum proprium nicht sachgerecht. Im Ergebnis kann der Bund bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG daher einen Verwaltungsunterbau errichten und zwar in Form bundesunmittelbarer Verwaltung, nicht hingegen als Selbstverwaltungskörperschaft.
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit Vor diesem Hintergrund ist nunmehr die Verteilung der Verwaltungsaufgaben und der -verantwortlichkeiten im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende verfassungsrechtlich zu betrachten, wobei das Grundgesetz in der Fassung zum Zeitpunkt der Entstehung des SGB II den Maßstab bildet. Die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit erstreckt sich im We274 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 217 f. (Dezember 1992). 275 Zu den Unterschieden zwischen Kommunen auf der einen und Körperschaften des öffentlichen Rechts im engeren und weiteren Sinn auf der anderen Seite im Folgenden näher.
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Kap. 4: Bundesexekutive
sentlichen auf die Regelleistungen (§§ 19 ff. SGB II276) und die zahlreichen arbeitsmarktpolitischen Leistungen, welche sich in verschiedenen Vorschriften über das gesamte SGB II verteilen.277
I. Exekutivkompetenz aus Art. 87 Abs. 2 GG 1. Sozialversicherung als materieller Bezugsrahmen Um aus Art. 87 Abs. 2 GG eine Exekutivkompetenz der Bundesagentur für Arbeit ableiten zu können, mussten die in Rede stehenden Aufgaben materiell der Sozialversicherung zuzuordnen und die Bundesagentur für Arbeit organisatorisch eine Körperschaft im Sinne von Art. 87 Abs. 2 GG gewesen sein. a) Arbeitsvermittlung als Aufgabe der Sozialversicherung Arbeitsmarktpolitik ist das öffentliche Tätigwerden auf dem Arbeitsmarkt, also dort wo Angebot und Nachfrage an Arbeitskräften aufeinandertreffen.278 Dabei kann Arbeitsmarktpolitik unmittelbarer oder mittelbarer Art, nachfrage- oder angebotsorientiert sein. Unmittelbar sind diejenigen Maßnahmen, die ihrer Zweckrichtung nach auf die Gestaltung des Arbeitsmarktes gerichtet sind. Die Vermittlung von Arbeitslosen, ihre Qualifizierung und Eingliederung oder die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Kommunen selbst sind Beispiele hierfür (Arbeitsvermittlung i. w. S.). Die Wirtschaftsförderung, der Ausbau der Infrastruktur, steuer- oder andere finanzpolitische Entscheidungen sind eher der mittelbaren Arbeitsmarktpolitik zuzuordnen. aa) Historische Perspektive Das Risiko originärer Arbeitslosigkeit als Armutsrisiko tauchte dort zuerst auf, wo abhängige Beschäftigung als Form der Aufbringung von Lebenshaltung entstand, in den frühmittelalterlichen Städten. Sie wurde im Rahmen allgemeiner kommunaler Armenfürsorge behandelt, was sich bis ins 19. Jahrhundert nicht grundlegend änderte.279 276 Soweit nicht anders angegeben, sind die folgenden §§ des SGB II solche bis zur Reform 2010. Dabei sind die materiellen Vorschriften weitgehend unverändert blieben. 277 Insbesondere §§ 14–16; 16b–18a; 21 ff.; 30 ff. SGB II. 278 Harks, Kommunale Arbeitsmarktpolitik, S. 7 ff. (40 ff.). 279 s. o. Kapitel 2 C.
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit
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Im 19. Jahrhundert nahmen die sozialpolitischen Aktivitäten des Zentralstaates zu. Angesichts sich immer rascher und grundlegend wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse, insbesondere der zunehmenden Mobilität der Menschen, entstand eine subsidiäre Zuständigkeit des Zentralstaates für die Versorgung derjenigen Armen, welche keiner Heimatgemeinde zugeordnete werden konnten. Die Kommunen als Ortsarmenverbände wiederum blieben zuständig für ihre eigenen Armen, bis Mitte des 19. Jahrhunderts an dem Heimatprinzip nicht mehr länger festgehalten werden konnte und es durch das Wohnsitzprinzip abgelöst wurde. Die Wanderbewegungen vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden durch den sich ausbreitenden Pauperismus auf dem Land und vermeintliche Erwerbsmöglichkeiten in der industriellen Produktion befördert. Die Erwerbsarbeit wurde alsbald zu dem entscheidenden Faktor in der damaligen sozialpolitischen Debatte. Erstmals waren Fragen der Arbeiterklasse Massenfragen. Im Vordergrund aber stand nicht die Arbeitslosigkeit und dementsprechend nicht die Arbeitsvermittlung, sondern die Bedingungen unter denen Arbeit geleistet wurde. Die sozialen Risiken der Zeit waren Krankheit, Alter, Arbeitsunfälle und für Familien der Tod des Versorgers. Die Sozialversicherung entstand daher in den Zweigen Renten- bzw. Invaliditäts-, Kranken- und Unfallversicherung. Bei einer Arbeitslosenquote von etwa 2%280 erschien originäre Arbeitslosigkeit als vergleichsweise mäßig akutes Armutsrisiko. Das Reich enthielt sich daher jeglicher Bemühungen; nicht einmal einheitliche reichsweite Statistiken wurden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erstellt. Die Kommunen erledigten die Arbeitsvermittlung im Rahmen ihrer allgemeinen Fürsorgetätigkeit nach dem UWG mit. Seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts stieg die Arbeitslosigkeit dann zunehmend spürbar an, in Preußen auf etwa 4% und in Bayern auf etwa 8%. Die kommunale Arbeitsvermittlung unterschied sich in ihrer Nachdrücklichkeit auch regional massiv. Immerhin lag die Arbeitslosenquote in den Städten mit 11–13% deutlich über dem jeweiligen Landesdurchschnitt. Wenig verwunderlich ist daher, dass die ersten Modelle der Arbeitsvermittlung hier entstanden. Die Städte sahen sich schließlich unmittelbar mit den Auswirkungen konfrontiert, welche nicht nur auf die Arbeiterschaft beschränkt blieben. Durch den Kaufkraftverlust griff Armut auch in anderen Statusgruppen Platz. Während das Reich über eine Absicherung von Arbeitslosigkeit allenfalls debattierte, mussten die Kommunen handeln. Elberfeld und Dresden kam hier eine herausragende Bedeutung zu. Durch erste Erfahrungen mit zyklischer Entwicklung von Arbeitslosigkeit wurden hier bspw. systematisch öffentliche Beschäftigungsprogramme initiiert. Arbeitsvermittlung war im 19. Jahrhundert kommunale Aufgabe. Die Erfolge waren dabei durchaus unterschiedlich und eine Koor280
So zumindest im Sommer. Dazu bereits ausführlich oben Kapitel 2 B.
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Kap. 4: Bundesexekutive
dinierung, statistische und analytische Begleitung durch das Reich blieb weitgehend Desiderat, wäre allerdings zur Effektivierung der durchaus innovativen und teilweise erfolgreichen kommunalen Arbeitsmarktpolitik notwendig gewesen.281 Immerhin veränderte sich durch die zunehmende Mobilität und die Industrialisierung die Perspektive der Arbeitsvermittlung. Sie musste überregionale Aspekte des Arbeitskräftebedarfs sinnvollerweise ebenso berücksichtigen wie die regionalen Besonderheiten, insbesondere den Grad der Industrialisierung. Im ersten Weltkrieg stellte sich die Armenfürsorge auf die spezifischen Folgen des Krieges ein. Es bildeten sich spezifische Risikosysteme auf kommunaler Ebene heraus, welche eigenen von der allgemeinen Fürsorge unabhängigen Verteilungsregeln folgten. Dies galt auch für die Arbeitslosen, welche zu Beginn des Krieges in ihrer Anzahl rapide zunahmen.282 Der erste Weltkrieg produzierte auch in sozialpolitischer Hinsicht eine Katastrophe. Millionen Tote, fehlende Ernährer, rückkehrende Soldaten, eine auf die Kriegsproduktion ausgerichtete Wirtschaft, welche nun überflüssig wurde, Reparationen, Zerstörung von Infrastruktur: Die erste deutsche Demokratie fand nicht die günstigsten Startbedingungen vor, auch auf dem Arbeitsmarkt nicht. Der Krieg war ein solcher des Reiches und daher hatte es in der Folge auch die wesentliche Verantwortung für dessen Folgen zu tragen. Das galt im Besonderen für das Problem der Arbeitslosigkeit. Zum einen waren die Arbeiter personaler Bezugspunkt der (M)SPD und diese wiederum wesentlich an der Verfassunggebung und dann an der politischen Gestaltung der Republik beteiligt. Zum anderen war die Arbeitslosigkeit nach dem Krieg, angesichts der spezifischen sozialpolitischen Belastungen, strukturell auf einem deutlich höheren Niveau als im Kaiserreich. Arbeitslosigkeit war außerdem vielfach eine unmittelbare Folge des Krieges. Die heimkehrenden Soldaten bspw. mussten ins zivile Leben (re-)integriert werden. Die Weimarer Reichsverfassung sah daher sozialpolitische Komponenten erstmals unmittelbar und in beträchtlichem Umfang vor. Nach Art. 9 Nr. 1 und Art. 7 Nr. 5 WRV kam dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für die Wohlfahrtspflege und Armenfürsorge zu. Für die Arbeitslosigkeit wichtig war Art. 163 WRV, der neben der Pflicht zur Arbeit (Satz 1) auch das Recht auf Arbeit (Satz 2) statuierte. Dementsprechend war das Reich verpflichtet, sozialpolitisch tätig zu werden. Über die richtige Strategie bestand in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion tiefer und grundlegender Dissens.283 Teilweise Einigkeit konnte zumindest in einigen Fragen der Privilegierungswürdigkeit bestimmter Statusgrup281 282 283
s. o. Kapitel 2 C. I. s. o. Kapitel 2 D. I. Dazu oben Kapitel 2 D. I. und II.
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit
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pen erzielt werden, freilich aus unterschiedlicher Motivation heraus. So wurden die rückkehrenden Soldaten und die Kriegsbeschädigten aus der allgemeinen, nach wie vor an den überkommen Grundsätzen aus dem 19. Jahrhundert orientierten Armenfürsorge ausgegliedert und in Sonderfürsorgesysteme überführt. Ab 1924 differenzierte sich das Fürsorgewesen daraufhin beträchtlich aus.284 Für diese neuen Bereiche übernahm das Reich nach teilweise heftigen Auseinandersetzungen mit den Kommunen einen Teil der Finanzlast. Das Reich weitete seinen Einfluss auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik immer weiter aus. Die kommunalen Arbeitsnachweise bekamen einen organisatorischen Überbau durch Reichsbehörden. Die Arbeitslosenfürsorge (vormals Erwerbslosenfürsorge), konzipiert für kriegsfolgenbedingte Arbeitslosigkeit, wahrgenommen in den Arbeitsnachweisen der Kommunen, wurde durch das Reich wesentlich finanziert und gestaltet. Bezugsdauer und -voraussetzungen wurden modifiziert, meist zu Ungunsten der Betroffenen. Nach dem Ablauf der Bezugsdauer fielen die Arbeitslosen den Kommunen im Rahmen der allgemeinen Fürsorge zur Last. Nicht zuletzt deshalb stritten sich Reich und Kommunen fortwährend über die Kosten der Arbeitslosigkeit. 1926 wurde daraufhin die reichsfinanzierte Krisenfürsorge als Anschlusssystem an die Arbeitslosenfürsorge geschaffen. Nach Umwandlung der Arbeitslosenfürsorge in die Arbeitslosenversicherung 1927 ergab sich dann folgendes Bild: Wurden die Voraussetzungen der Arbeitslosenversicherung erfüllt, erhielt man zeitlich begrenzt Versicherungsleistungen. Anschließend Leistungen der Krisenfürsorge und schließlich der allgemeinen Armenfürsorge.285 Arbeitsvermittlung war tragender Bestandteil des jeweiligen Sozialsystems. Das Reich unterhielt im Rahmen der Erwerbslosen- bzw. Arbeitslosenfürsorge keine eigenen Verwaltungseinheiten zur Arbeitsvermittlung. Das übernahmen die Kommunen in den Arbeitsnachweisen. Das Reich nahm allerdings deutlich stärkeren Einfluss auf die Ausgestaltung der Arbeitslosenunterstützung, vor allem durch zunehmende Normierung von Einzelfragen. Die Weite und Unbestimmtheit der eher generalklauselartigen Vorgaben im Kaiserreich wurden durch detaillierte Vorgaben über Art und Umfang der Leistungserbringung abgelöst.286 Erst mit der Einführung der Arbeitslosenversicherung wurden dann auch wesentliche Teile der Arbeitsmarktpolitik zentralisiert, indem Arbeitsämter, als Verwaltungsunterbau vor Ort den Reichs- und Landesarbeitsämter unterstellt, etabliert wurden. Für den Bereich der Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der allgemeinen Fürsorge blieben die Kommunen zuständige Verwaltungsträger. 284 285 286
Überblick oben Kapitel 2 D. II. 2. Oben Kapitel 2 D. II. 2. c). Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 69 ff.
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Kap. 4: Bundesexekutive
Diese Aufteilung der arbeitsmarktpolitischen Kompetenzen wurde auch in der Bundesrepublik weitgehend fortgeführt. Solange die tradierten Vorschriften fortgalten ohnehin, als diese reformiert oder ersetzt wurden, weitgehend auch.287 Insbesondere die Einführung des BSHG 1961 dokumentiert die Kontinuität bzgl. der Trägerschaft der Kommunen im arbeitsmarktpolitischen Bereich der Fürsorge. Das Projekt der einheitlichen Kodifikation der Sozialgesetze im Sozialgesetzbuch begann 1971 und führte unter der Ägide des SGB III auch im Bereich der Arbeitslosenversicherung zu einer Fortführung der überkommenen Zuständigkeit der Bundesverwaltung im Bereich der Arbeitsvermittlung. Ausdrücklich hat jene Kompetenzverteilung auch Eingang ins Grundgesetz gefunden (Art. 87 Abs. 2 GG).288 So etablierte sich auch in der BRD ein dualistisches Trägermodell der Arbeitsmarktpolitik: Die Kommunen als Träger der Hilfe zur Arbeit im Rahmen der Sozialhilfe, die Bundesanstalt für Arbeit im Bereich der Sozialversicherung. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik jedoch in der sozialpolitischen Debatte von untergeordneter Bedeutung. Die Arbeitslosigkeit hielt sich bis in die Mitte der 1970er Jahre hinein bei etwa 2%. Erst als Mitte/Ende der 1970er Jahre ein Sprung auf bis zu 5% zu verzeichnen war und sich die Arbeitslosigkeit auf diesem Niveau hielt, bis sie in den 1980er Jahren sogar in einer nächsten Stufe auf ca. 9% stieg, begann eine intensive Reformdebatte. Die Relevanz der Kommunen als Akteure von Arbeitsmarktpolitik hat insbesondere seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, also analog zum Anstieg der Arbeitslosigkeit, zunächst enorm zugenommen. Die Hilfe zur Arbeit (BSHG) und kommunale Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Arbeitsförderungsrecht) bildeten den rechtlichen Rahmen. Dass von beiden Instrumenten rege Gebrauch gemacht wurde, basierte vor allem auf dem Anstieg der Zahl ausgesteuerter Arbeitsloser aus Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenhilfe, bzw. auf der zunehmenden Zahl von sog. Aufstockern, die Sozialhilfe neben Leistungen der anderen Systeme ergänzend bezogen.289 Der finanzielle und dementsprechend auch der Handlungsdruck auf die Kommunen stieg an; für die Kommunen durchaus kein neues Phänomen. Sozialleistungen wurden individualisiert, indem Eingliederungsstrategien für die Betroffenen entwickelt wurden, welche auf die persönlichen Eigenschaften zugeschnitten waren. Sozialleistungen waren weniger reine Transferleis287 1956 mit der Einführung der Arbeitslosenhilfe bspw. oder der 2. Novelle zum AVAVG 1957. Oben Kapitel 5 F. II. und III. 288 Dazu oben Kapitel 2 F. IV.; vgl. auch Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 56 f.; Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 74 Rn. 27 ff. (Oktober 1996); 16. Sitzung vom 3. Dezember 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 3, 1986, S. 730 ff. 289 Schönig, Zeitschrift für Sozialreform 2003, 197 (200 f.).
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit
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tungen als vielmehr Aktivierungs- und Integrationsleistungen. Öffentliche Sozialpolitik wurde am Leitbild des aktivierenden Sozialstaats ausgerichtet, wenngleich die konkrete Bezeichnung später entstand.290 Die Kommunen waren für diese Strategie vermeintlich als Akteure vor Ort besser geeignet als zentrale Instanzen. Das neue Leitbild forderte aber auch die Bundesanstalt für Arbeit und ihre Verwaltungseinrichtungen zu einer Neupositionierung. Die Arbeitsämter vor Ort als Unterbau der Bundesanstalt für Arbeit wurden mit der Reformierung der Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 1998291 gestärkt. Ihnen wurden mehr Mittel zur freien Verfügung zugewiesen, um sich auf die Spezifika der Region adäquat einstellen zu können.292 Die örtliche Ebene rückte insgesamt in das Zentrum arbeitsmarktpolitischer Bemühungen. Das Nebeneinander von Arbeitsmarktpolitik im Versicherungssystem und jener im Bereich der Fürsorge/Sozialhilfe blieb dabei keinesfalls hermetisch. Kooperationen, Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung von Arbeitsämtern und kommunalen Einrichtungen293 waren, regional auf höchst unterschiedlichem Niveau, auf vielfältige Arten und Weisen anzutreffen.294 Arbeitsmarktpolitik ist demnach auf der örtlichen Ebene – sprich kommunal – entstanden und wurde dort zunächst als eigene Aufgabe wahrgenommen. Ende des 19. Jahrhunderts begann der Zentralstaat angesichts des steigenden Problemdrucks zunehmend Platz zu greifen. Planvolle und organisierte Arbeitsvermittlung wurde unter der WRV zur zentralstaatlichen Aufgabe und das Reich wurde hier ergänzend neben der kommunalen Tätigkeit im Rahmen der Fürsorge durch die Arbeitslosenversicherung aktiv. Dieser Dualismus im Bereich der Arbeitsvermittlung von Reich und Kommune hielt sich in der Bundesrepublik mit unterschiedlicher Nuancierung. Historisch ist die Arbeitsvermittlung also sowohl kommunale Fürsorge- wie auch staatliche Sozialversicherungsaufgabe und kann, nicht zuletzt aufgrund ihrer Berührungspunkte zu zahlreichen weiteren öffentlichen Aufgaben, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Querschnittsaufgabe bezeichnet werden.295 Dies gilt in politischer Hinsicht gerade seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Arbeitslosigkeit vielfach als die zentrale gesamtgesellschaftliche Herausforderung beschrieben wurde.296 290
Eichenhofer, NdsVBl 1999, 253 (254). Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung vom 16. Dezember 1997, BGBl I 1997, S. 2970 ff. 292 Reissert, Der Städtetag 2002, 16 ff.; Schöning, Sozialer Fortschritt 2002, 9 ff. 293 Nur Saarbrücken hatte ein eigenes Amt für Arbeitsmarktpolitik. Ansonsten wurde es der Wirtschaftsförderung oder der Sozialverwaltung zugeordnet. 294 Schönig, Zeitschrift für Sozialreform 2003, 197 (200 f.). 295 Zur hier verwendeten Definition von Querschnittsaufgaben s. o. Kapitel 1 A. II. 296 Bspw. Kronauer, SOFI-Mitteilungen 28/2000, 113 ff. 291
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Kap. 4: Bundesexekutive
bb) Konkreter normativer Zuschnitt Die arbeitsmarktpolitischen Aufgaben der Kommunen im Rahmen der ehemaligen Hilfe zur Arbeit (§§ 18 ff. BSHG) wurden 2005 im Wesentlichen der Bundesagentur für Arbeit mit ihren Arbeitsagenturen zugewiesen. Anders als unter der Ägide des BSHG finden sich diese Aufgaben nicht systematisch abgeschlossen in einem Abschnitt, sondern verteilen sich nahezu im gesamten SGB II. Das verwundert angesichts der Ausrichtung der Grundsicherung auch nicht. Die (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt war das zentrale Anliegen der gesamten Hartz-Reform297 und die Grundsicherung richtete sich vor allem daran aus. Konzentrationspunkt arbeitsmarktpolitischer Instrumente ist Kapitel 3 Abschnitt 1 (§§ 14 ff. SGB II; Leistungen zur Eingliederung in Arbeit). Zunächst schließen die Arbeitsagenturen nach § 15 SGB II mit den Hilfebedürftigen Eingliederungsvereinbarungen, in denen vor allem die konkreten Eingliederungsleistungen der Arbeitsagentur sowie die vom Hilfebedürftigen zu erbringenden Leistungen (Anzahl der Bewerbungen usw.) vereinbart werden. Die von der Arbeitsagentur zu erbringenden Leistungen basieren dann auf dem Katalog der §§ 16–16g SGB II. Die §§ 16a–16g SGB II befassen sich entweder mit speziellen Betroffenengruppen wie den Selbstständigen298 oder den besonders schwer vermittelbaren Personen, denen ein zeitlich begrenzter Lohnzuschuss für Arbeitgeber bei Einstellung gewährt werden kann;299 räumen den Arbeitsagenturen eine bestimmte Mittelflexibilität ein;300 erweitern den Anwendungsbereich der Eingliederungsleistungen partiell301 und ermöglichen den Arbeitsagenturen die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten.302 Zentrale Norm für Instrumente der Eingliederung im SGB II ist aber § 16 SGB II. Die §§ 16a–g SGB II wurden erst durch Art. 2 des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21. Dezember 2008303 aus dem § 16 ausgegliedert. Zuvor waren sie dort im Wesentlichen mitgeregelt.304 Während § 16 Abs. 1 SGB II ausschließlich auf zahlreiche Vorschriften des Arbeitsförderungsrechts (SGB III) verweist, stellt Abs. 2 klar, dass es sich hierbei regelmäßig um Rechtsgrundverweisungen handelt. Die Abs. 4 und 5 stellen (nochmals) klar, dass zuständige Trägerin dieser Leistungen 297
s. o. Kapitel 2 B. § 16c SGB II – Leistungen zur Eingliederung von Selbstständigen. 299 § 16e SGB II – Leistungen zur Beschäftigungsförderung. 300 § 16f SGB II – freie Förderung. Hiernach können 10% der Eingliederungsmittel für nicht expliziete Maßnahmen verwendet werden. 301 § 16g SGB II – Förderung bei Wegfall der Hilfebedürftigkeit. 302 § 16d SGB II – Arbeitsgelegenheiten. 303 BGBl I 2008, S. 2917 ff. 304 Vgl. Harich, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK, SGB II, § 16a Rn. 1. 298
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die Agentur für Arbeit ist. Die materielle Bedeutung bezog § 16 SGB II aber durch die unübersichtlichen Verweisungen des Abs. 1,305 welche die Bundesagentur für Arbeit mit ihren Arbeitsagenturen vor Ort im Wesentlichen mit dem vollständigen arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium des SGB III ausstatten.306 Ein Anspruch besteht dabei unmittelbar nur auf die Ausbildungs- und Arbeitsvermittlung nach § 35 SGB III. Bindet sich die Arbeitsagentur vor Ort nicht durch die Eingliederungsvereinbarung, handelt es sich bei den sonstigen Leistungen der Arbeitsförderung um Ermessensvorschriften.307 Zum Leistungskatalog in der Schnittmenge von SGB II und SGB III zählen im Einzelnen: – Beratungs- und Analyseleistungen wie Erst- oder Orientierungsberatung, Profilanalyse, Arbeitsmarktanalyse, Potenzialanalyse (§ 16 Abs. 1 Satz 2 SGB II i. V. m. §§ 29 ff.; 37 SGB III). – Vermittlungsleistungen wie Karteiaufnahme, Angebotsunterbreitung, Aktivierungsleistungen (§ 16 Abs. 1 Satz 2 SGB II i. V. m. §§ 35 ff.; 45 SGB III). – Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen zur Verbesserung der Eingliederungschancen. Auch die Umschulung fällt in diesen Bereich (§ 16 Abs. 1 Satz 2 SGB II i. V. m. §§ 77 ff.; 421t Abs. 4–6 SGB III). – Präventivmaßnahmen wie die Förderung von beschäftigten Arbeitnehmern (§ 16 Abs. 1 Satz 2 SGB II i. V. m. §§ 417 ff. SGB III). Auch die Qualifizierung und Weiterbildung kann präventiv erfolgen. – Sonstige Leistungen wie Frauenförderung oder Eingliederung und Förderung von behinderten Menschen (§ 16 Abs. 1 Satz 2 SGB II i. V. m. §§ 1 Abs. 2 Nr. 4 ff.; 236 ff. SGB III). Wie es auch der Reformidee entspricht, wurden somit die arbeitsmarktpolitischen Instrumente von SGB II und SGB III weitgehend synchronisiert, freilich mit partiellen Anpassungen bzgl. der Spezifika der Grundsicherung.308 Stellt sich die Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik im Rahmen des SGB III als Aufgabe der Sozialversicherung dar, so spricht inhaltlich auch einiges für die Möglichkeit einer Zuordnung der Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der Grundsicherung zur Sozialversicherung. 305
Systematisch aufbereitet bei Harich, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK, SGB II, § 16a Rn. 8. 306 BT-Drs. 15/1516, S. 54. 307 Harich, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK, SGB II, § 16a Rn. 2. 308 Die Klientel der Grundsicherung rekrutiert sich zumindest zu einem erheblichen Teil aus schwer vermittelbaren Personen. Daher liegt der Schwerpunkt partiell woanders. Auch wegen des Versicherungscharakters können im SGB III, anders als im SGB II, Betroffene nicht zu einer Beschäftigungsannahme verpflichtet werden bzw. auf öffentliche Arbeitsgelegenheiten verwiesen werden.
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Die Arbeitsmarktpolitik ist aber dort systematisch der Arbeitsförderung und wurde hier der Grundsicherung zugeordnet. So könnte angenommen werden, durch Ermittlung des normativen Umfeld seien fruchtbare Rückschlüsse auf die Einordnung der konkreten Aufgabe zu erzielen.309 Entscheidend hierbei aber ist, dass die vorher getrennt gelegenen arbeitsmarktpolitischen Instrumente aus ihrem konkreten normativen Umfeld herausgehoben und exekutiv praktisch verschmolzen wurden. Dieser gesetzgeberische Zuschnitt ist zugrunde zu legen. cc) Aufgabeneinordnung Der vom Gesetzgeber gewählte konkrete Zuschnitt der Aufgabe entspricht so letztlich dem historischen Befund einer Querschnittsaufgabe. Die skizzierten Leistungen der Arbeitsförderung finden sich im SGB III praktisch ebenso wieder wie im SGB II. Im Rahmen der Arbeitslosenversicherung werden sie häufig zu den versicherungsfremden Leistungen gezählt.310 Zutreffend mag dies sein, soweit der Versicherungsbegriff allein im Sinne des Privatrechts verstanden wird und damit auf die Spezifika der Sozialversicherung hingewiesen wird. Als Argument gegen die Einordnung unter die Sozialversicherung taugt dies so einfach nicht. Allzu häufig wird aus der vermeintlichen Versicherungsfremdheit einer Leistung aber eben ein Gegensatz zur Sozialversicherung abgeleitet und allenfalls über Annexaufgaben oder solche Kraft Sachzusammenhangs diskutiert.311 Sollen aber versicherungsfremde Leistungen in der üblichen Diktion solche Leistungen sein, welche nicht unmittelbar beitragsäquivalent, jedenfalls keine Versicherungsleistungen ausschließlich im privatrechtlichen Sinne sind, sagt dies über den Sozialversicherungscharakter wenig, allenfalls über eine Facette etwas aus.312 Die Instrumente der Arbeitsvermittlung sind im Rahmen des SGB III – jedenfalls primär – an Mitglieder der Arbeitslosenversicherung gerichtet. Sie dienen im Allgemeinen dazu, Arbeitslosigkeit – mithin den Versiche309
Vgl. oben Kapitel 1 A. II. Bereits Musa, Betriebs-Berater 1964, 1125 ff.; Kannengießer/Gundel, Sozialer Fortschritt 2003, 207 ff.; Konle-Seidl, GSP 2003, 22; Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 40 f.; Schmuhl, Orientierung zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 2005, 12; allgemein Bieback, in: Wulffen (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundessozialgericht, S. 117; Römer/Borell, Versicherungsfremde Leistungen in der Arbeitslosenversicherung. 311 Kostorz, Versicherungsfremde Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, S. 237 ff.; vgl. BSGE 81, 276 ff.; Rolfs, NZS 1998, 551 (552). 312 So auch Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 41; vgl. Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 236 ff. 310
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rungsfall – zu vermeiden und wenn er doch eingetreten ist, eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Die Instrumente des SGB III sind dementsprechend eng mit dem Versicherungsfall und dem versicherten Personenkreis verbunden. Die Leistungen selbst, vor allem die präventiven Maßnahmen, sind durchaus Leistungen, welche ihrem Charakter nach auch typischerweise von privaten Versicherungen angeboten werden. Auch und gerade im privaten Versicherungswesen wurde der ökonomische Vorzug von Prävention längst erkannt. Geradezu beispielhaft zeigt sich dies in der Krankenversicherung.313 Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik sind derart konzipiert, dass sie ganz individuell, mal stärker mal schwächer, eher klassische Präventivmaßnahmen der (Privat)Versicherung, mal eher Züge öffentlicher Fürsorge aufweisen. Insgesamt spiegelt dieser Maßnahmenkatalog in geradezu beispielhafter Weise den hybriden Charakter der Sozialversicherung, an der Schnittstelle von (privater) Versicherung und öffentlicher Fürsorge wieder.314 Sie als versicherungsfremde Leistungen zu bezeichnen, ist jedenfalls insoweit unzutreffend. Unterstützt wird dieser Befund durch einen Blick auf die frühere Rechtslage: Bis 2005 hatte die Bundesanstalt für Arbeit auch diejenigen betreut, und das übrigens grds. mit dem selben arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium, die kein Arbeitslosengeld, sondern Arbeitslosenhilfe bezogen hatten.315 Ob es sich bei der Arbeitslosenhilfe um eine Aufgabe der Sozialversicherung oder um eine solche der Fürsorge gehandelt hat, wurde bis zum Ende zumindest nicht eindeutig geklärt.316 Kernpunkt der Auseinandersetzung war die Ausgestaltung der Arbeitslosenhilfe als steuerfinanzierte und bedarfsabhängige Leistung, was die Nähe zur Fürsorge in den Vordergrund rückte. Andererseits sprachen die systematische Zuordnung (§§ 190 ff. SGB III) und die zumindest regelmäßige, später ausschließliche Koppelung des Anspruchs an den vorherigen Bezug von Arbeitslosengeld für die Nähe zur Sozialversicherung. Im Ergebnis praktisch unstreitig aber wurde die Wahrnehmung der Arbeitslosenhilfe durch die Bundesanstalt für Arbeit über Art. 87 Abs. 2 GG als statthaft angesehen.317 Die Annahme einer An313 Dazu Wagner, in: dies./Knittel (Hrsg.), Krankenversicherung, Vorbemerkung zu §§ 20 ff. Rn. 1 ff. (Juni 2007). 314 Im Ergebnis sind sich Literatur und Rechtsprechung auch einig, allein die Begründung ist unterschiedlich. Vgl. BVerfGE 75, 108 (146 ff.); BSGE 81, 276 ff.; Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, S. 244 ff. 315 §§ 190 ff. SGB III in der Fassung bis 2005. 316 Zu dieser Auseinandersetzung und deren Argumenten ausführlich bereits John, Die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, S. 90 ff.; später auch Davy, ZIAS 2001, 221 (234 ff.); Spellbrink, SGB 2000, 296 ff. 317 Ausführlich dazu Müller-Franken, VSSR 1998, 133 ff. m. w. N.
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nexaufgabe oder einer Aufgabe kraft Sachzusammenhangs mag hier wiederum näher liegen als bei der isolierten Betrachtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente als Teilaufgaben innerhalb der Gesamtaufgabe Arbeitslosenhilfe, da die Arbeitslosenhilfe zwar systematisch ins SGB III eingegliedert war, innerhalb der Arbeitsförderung aber durchaus eine eigene rechtliche Struktur aufwies. Wurde dies für die Arbeitslosenhilfe mit all ihren Facetten, wie der Mittelauszahlung, der Bedarfsfeststellung usw. angenommen, galt dies für den Bereich der Arbeitsvermittlung allemal. Hierfür bedurfte es dann nicht einmal des Rekurses auf Auslegungsfiguren wie der Annexaufgabe oder einer Aufgabe kraft Sachzusammenhangs.318 Bis 2005 kamen die arbeitsmarktpolitischen Instrumente des SGB III in Form zahlreicher und zunehmender Kooperationen außerdem auch den Sozialhilfeempfängern zu Gute.319 Die Arbeitsvermittlungen von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen lagen nebeneinander.320 Überschneidungen und Abhängigkeiten waren stark ausgeprägt. Auch heute noch gilt: Der gelungene Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente führt im Ergebnis zur Sicherung von Arbeit oder zur Vermittlung in Arbeit. Nur wer sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, kann Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen und die Versicherungsgemeinschaft mitfinanzieren. Der Erfolg kommt demnach der Arbeitslosenversicherung zu Gute, auch wenn ein arbeitsloser Nicht-Versicherter vermittelt wird. Außerdem ist die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wesentlich auch von der jeweiligen gesetzlichen Fixierung abhängig. Wer vor zehn Jahren noch bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld beziehen konnte, wird mittlerweile spätestens nach 18 Monaten aus dem Anwendungsbereich der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert. Weniger Beiträge hat der Versicherte allerdings nicht eingezahlt. Früher wurde man u. U. in die (privilegierende) Arbeitslosenhilfe oder in die Sozialhilfe verschoben, heute regelmäßig in die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ist der Betroffene zwölf Monate regulär beschäftigt, so gerät er wiederum in den Anwendungsbereich der Arbeitslosenversicherung. Diese Wechsel auch in der Betreuung jeweils nachzuvollziehen, war eines der großen Probleme der bis 2005 geltenden Rechtslage und sollte durch Hartz IV aufgelöst werden.321 Ein Hin und Her in der Zuständigkeitsfrage führte zu ineffizienten Doppelstrukturen und einer immer stärker wachsenden Kooperationsnotwendigkeit. Zuschnitt und Erfolg von Maßnahmen der Arbeitsförderung hängen schließlich nicht entscheidend vom jeweiligen 318 Zu den ungeschriebenen Kompetenzen ausführlich Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 49 ff. (Januar 2009). 319 Vgl. Huebner/Krafft/Ulrich, MittAB 1990, 519 ff. 320 Dazu oben Kapitel 2 F. IV. 321 s. o. Kapitel 2 F. IV.
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Leistungssystem, sondern in erster Linie vom Betroffenen selbst und seinen individuellen Stärken und Schwächen ab und bleiben so der Sache nach im Wesentlichen gleich. Daher darf das normative Umfeld der Arbeitsvermittlungsaufgabe nicht überbewertet werden. Eine solche Betrachtung wäre allzu formal. Arbeitsvermittlung ist eine Querschnittsaufgabe, welche ihren Charakter nicht primär aus dem jeweiligen Leistungssystem ableitet und dementsprechend ändert. Durch immer stärker normierte Kooperationsmodelle und Zusammenwirkenspflichten hat der Gesetzgeber dies unterstrichen. Der Spielraum des Gesetzgebers erhöht sich demzufolge. Nur weil Arbeitsvermittlungsaufgaben im Zusammenhang mit einem Fürsorge-Gesetz konzipiert werden, folgt daraus nicht zwingend, dass diese auch im Bereich der Exekutive der Fürsorge zugeordnet werden müssen.322 Dies ist für den Gesetzgeber eine Option. Je nach Zuschnitt und normativer Ausformung der Aufgabe durch den Gesetzgeber, ist eine Zuweisung auch im Rahmen der Sozialversicherung strukturell denkbar. Ohne näher auf die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten der insoweit nicht unproblematischen Erhebung von Aussteuer- oder Eingliederungsbeiträgen323 der Bundesagentur einzugehen, sei doch zumindest aufgezeigt: Bis 2008 hatte die Bundesagentur für Arbeit einen bestimmten Betrag für jeden Arbeitslosen an den Bund zu entrichten, der nicht vermittelt werden konnte, bevor er unter die Ägide der Grundsicherung fiel. Dieser Beitrag war ausdrücklich als Anreiz- bzw. Sanktionsmaßnahme gedacht.324 Seit 2008 zahlt die Bundesagentur für Arbeit wiederum den Eingliederungsbeitrag, welcher eine Beteiligung an den Kosten der Arbeitsvermittlung im Rahmen der Grundsicherung insgesamt vorsieht. Explizit wurde diese Änderung auf das Argument gestützt, dass die Kostenverteilung im Rahmen der Arbeitsvermittlung im Vergleich von SGB III und SGB II ungleich gewesen sei, da sich in letzterem eher die schwer vermittelbaren Personen befunden hätten.325 Dieses Argument setzt, soll es plausibel sein, notwendig 322 Vgl. dazu Knuth, Hybrides Regime, S. 61 ff., der dies aus sozialwissenschaftlicher Sicht beschreibt und ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass die Arbeitsförderung originär einem andere Regime entstammt als die Sozialfürsorge und – in der Sache zutreffend – daraus schließt, dass das SGB II ein neues hybrides System sozialer Sicherung ist. Das unterstreicht wiederum die These, dass im Rahmen der Grundsicherung Aufgaben unterschiedlichen Charakters in einem normativen System verbunden und schließlich in exekutiver Hinsicht wieder getrennt worden sind. 323 Vgl. § 46 SGB II in seiner aktuellen Fassung und derjenigen bis zum 1. Januar 2008. Zu diesen Fragen, Oppermann, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 46 Rn. 16 f.; Spellbrink, JZ 2004, 538; ders., SozSich 2005, 59, 430; Oppermann, DVBl 2005, 1008 ff. 324 BT-Drucks 15/1516, S. 45. 325 Bundesregierung, Entwurf zum 6. Änderungsgesetz des SGB III und anderer Gesetze, S. 8 f. u. S. 14.
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voraus, dass es sich bei der Vermittlung um eine Aufgabe mit ebenenübergreifendem Charakter handelt. Nur so kann eine Heranziehung der Beitragsmittel überhaupt begründet werden, freilich unabhängig von der Beantwortung der verfassungsrechtlichen Frage einer Zulässigkeit jener Erhebung. Ausgangspunkt arbeitsmarktpolitischer Aktivität ist die Arbeitslosenversicherung bzw. ihr Träger.326 Die starke Verbindung von Arbeitsagenturen und kommunalen Trägern im Bereich der Arbeitsvermittlung ist nicht zu übersehen. Sie ist vom Gesetzgeber hergestellt und entspricht der Wahrnehmung der Aufgabe als gesamtgesellschaftlich bzw. ebenenübergreifend; sie erfordert Kooperation und Zusammenwirken aller arbeitsmarktpolitisch relevanten Akteure. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Bundesagentur für Arbeit teilen (auch) den hybriden Charakter der Sozialversicherung, zwischen privater Versicherung und Fürsorge. Zum einen sind sie für die Versicherten insbesondere im Bereich der Prävention Maßnahmen, welche auch in privatrechtlich organisierten Versicherungen feste Bestandteile sind und effektiv zur Vermeidung oder schnelleren Beendigung des Versicherungsfalls beitragen.327 Zum anderen finden sich hier eher fürsorgerechtliche Elemente, nämlich immer dort, wo Leistungen gewährt werden, ohne dass überhaupt Beiträge gezahlt werden oder nur in zu vernachlässigender Höhe. Hat der Gesetzgeber bei der Zuweisung arbeitsmarktpolitischer Aufgaben aufgrund ihres übergreifenden Charakter daher generell einen eher weiten Spielraum und formt der Gesetzgeber diese Aufgaben, wenngleich im Rahmen eines Fürsorgesystems, konkret außerdem derart aus, dass die organisatorische und normative Nähe zur Sozialversicherung besonders betont wird, wirkt sich dies entsprechend auf die Aufgabenzuständigkeit aus, dass dem Gesetzgeber der Spielraum bei Zuweisung – zwischen Fürsorge und Sozialversicherung – erhalten bleibt. Durch eine andere Akzentuierung der normativen und organisatorischen Vorgaben können gerade auch einzelne Aufgaben der Sozialversicherung u. U. der Sozialverwaltung, mithin den Kommunen zugeordnet werden. Die Arbeitsvermittlung insgesamt und spezifisch in ihrer Ausformung durch den Gesetzgeber im Rahmen des SGB II, ist daher der Sozialversicherung zuzuordnen. Daran änderte auch nichts, dass es zu erheblichen quantitativen Verschiebungen kam. Immerhin unterfielen über das SGB II bisher bis zu sieben 326
Das kann mittlerweile sogar als tradiert bezeichnet werden, reflektiert dies doch die Situation zumindest seit der Weimarer Republik. s. o. Kapitel 2 D. II. 327 Beispielhaft sind hier die Maßnahmen zur Prävention im Bereich der privaten Krankenversicherungen.
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Millionen Betroffene dem arbeitsmarktpolitischen Regiment der Bundesagentur für Arbeit und ihren Arbeitsämtern. Der quantitative Aspekt kann nur dort eine entscheidende Rolle spielen, wo es um Aufgaben geht, die im Randbereich des Kompetenztitels zu verorten sind. Traditionell wird dies bei Aufgaben kraft Sachzusammenhangs oder Annexaufgaben angenommen. Bei den in Rede stehenden Aufgaben handelt es sich aber gerade der Sache nach (auch) um typische Aufgaben der Sozialversicherung. Insgesamt war eine Zuordnung durch den Gesetzgeber zu den Sozialversicherungsträgern nach Art. 87 Abs. 2 GG vielleicht nicht zwingend oder ausschließlich, aber jedenfalls auch möglich. b) Regelsatzmodalitäten als Aufgabe der Sozialversicherung Unter der Geltung des BSHG waren die Kommunen für die konkrete Berechnung und Auszahlung der laufenden und einmaligen Leistungen der hilfebedürftigen Personen als örtliche Träger der Sozialhilfe zuständig (§ 96 BSHG). Im Rahmen des SGB II nimmt diese Aufgabe die Bundesagentur für Arbeit wahr (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB II). aa) Historische Perspektive Zu Beginn öffentlicher Armenfürsorge wurde die Hilfegewährung eher daran orientiert, was vorhanden war oder im Rahmen von Spendensammlungen aufgetrieben werden konnte. Den Hilfesuchenden wurden Sachmittel, also Nahrung, Kleidung etc. unmittelbar zur Verfügung gestellt. Zwar wurde bereits im Mittelalter die Bedürftigkeit der Hilfesuchenden von der Policey überprüft und es wurde auch der Bedarf für bestimmte Sachleistungen festgestellt. Doch war dies noch recht willkürlich. Nicht nur bestand kein Rechtsanspruch auf Leistungen, die Tätigkeit der Policey war zu der Zeit eher darauf ausgerichtet, die Faulen, Spiel- und Trinksüchtigen zur Arbeit zu bewegen. Diese Praxis der Mittelgewährung blieb, so sehr sich auch die Rahmenbedingungen veränderten, erstaunlich lange weitgehend konstant. Die zumindest teilweise Auszahlung von Geldbeträgen entwickelte sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 1853 begann zunächst die Stadt Elberfeld mit der Auszahlung von Richtsätzen, andere Städte folgten. Damit entfiel nicht nur für die Kommunen die Notwendigkeit der Unterhaltung eines umfangreichen „Warenlagers“ oder zumindest die Verweisung an entsprechende Stellen. Die Regelleistungen verobjektivierten auch die Fürsorgeleistungen dahingehend, dass innerhalb einer Statusgruppe alle etwa denselben Betrag erhielten. Nach wie vor ergänzten Sonderleistungen in Form
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von Sachmitteln die Regelleistungen. Dieses System setzte sich freilich nicht sofort überall im Reich durch; die Praxis der Leistungserbringung dieser Zeit kann als durchaus heterogen bezeichnet werden.328 Erst in der Weimarer Republik bildete sich ein reichsweites System der Regelleistungserbringung mit ergänzenden Sachmittelleistungen, zunächst in Spezialfürsorgesystemen für Kriegsbeschädigte usw., heraus. Mit dem Erlass der „Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht“ (RFV) von 1924 und den „Reichsgrundsätze[n] über Voraussetzung, Art, und Maß der öffentlichen Fürsorge“ (RGr) von 1925 begannen schließlich die Reichsvorgaben im gesamten Bereich der Erbringung von Armenfürsorge. Gemäß § 6 der RFV waren die Hilfen zum notwendigen Lebensunterhalt in Richtsätzen zu bemessen. § 1 RGr normierte dabei einen bis heute weitgehend erhaltenen Grundsatz der Sozialhilfe, respektive der Grundsicherung: Hilfe zur Selbsthilfe. Die Fürsorge gewährte das, was zum Lebensunterhalt notwendig war,329 sollte den Hilfebedürftigen aber primär in die Lage versetzen, später von staatlicher Fürsorge unabhängig zu leben. Die RGr waren Leitlinien für die Armenfürsorge, keine konkreten Vorgaben über Art und Höhe der Leistungen. Diese waren nach wie vor abhängig von der leistenden Kommune. Ausgangspunkt der parlamentarischen Diskussion über die Einführung von reichsweiten Richtsätzen war die Vereinheitlichung der privilegierten Fürsorge. Hier wollte insbesondere die SPD-Fraktion einen Richtsatz einführen, durch den ein Abstand zur Grundfürsorge festgeschrieben werden sollte. Ein Abstandsgebot dieser Art fand sich schließlich ab 1925 in § 33a RGr. Danach sollte der Richtsatz der gehobenen Fürsorge ein Viertel über demjenigen der normalen Fürsorge liegen. Die Festsetzung jener Richtsätze erfolgte durch die Kommunen und führte insgesamt zu einem Leistungsanstieg. Insbesondere erwies sich die Erhöhung der Regelsätze vor kommunalen Wahlen als erfolgversprechender Faktor der regierenden Parteien vor Ort.330 Die Länder haben durch Ausführungsverordnungen lediglich die Fragen der Finanzierungsverantwortung und der Behördenorganisation geregelt.331 So wurden zwar überall Geldbeträge in Form von Regelleistungen erbracht, die Höhe aber unterschied sich weiterhin, näherte sich angesichts der Vorgaben aus den RGr allerdings einander an; es bildeten sich vor allem Untergrenzen heraus. Ansonsten wurde in der damaligen Kommentarliteratur festgestellt: „Während in städtischen 328
s. o. Kapitel 2 B. und C. s. o. Kapitel 2 D. II. 2. 330 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 2, S. 184. 331 Siehe bspw. die „Preußische Ausführungsverordnung zur Verordnung über die Fürsorgepflicht“ vom 13. Februar 1924, RGBl I 1924, S. 100 ff., abgedruckt bei Keese, Die öffentliche Fürsorge, 1951, S. 175 ff. 329
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Verhältnissen im allgemeinen die Geldfürsorge zum mindesten in Bezug auf den Lebensunterhalt durchaus im Vordergrund steht, ist in ländlichen Verhältnissen die Fürsorge durch Sachleistungen noch außerordentlich verbreitet.“332 Auch in der BRD wurden die Rechtsgrundlagen der Armenfürsorge bis 1962 weitgehend übernommen.333 Allerdings stieg der staatliche Einfluss auf die Richtsatzhöhe stetig an. Durch Ausführungsbestimmungen des zuständigen Bundesministeriums zur Richtsatzgestaltung334 wurden erstmals objektive Berechnungsmethoden (zunächst Warenkorbmodell) für die Berechnung zugrunde gelegt, die vom Deutschen Verein entwickelt wurden.335 Im Rahmen ihrer Ingerenzrechte haben die Länder wiederum die Bestimmung der konkreten Regelleistungshöhe per Verwaltungsvorschrift festgelegt.336 Das Warenkorbmodell wurde in der Folge fortentwickelt und fand auch Eingang in die neukonzipierte Fürsorge unter dem BSHG, nun unter der Bezeichnung „Sozialhilfe“. Die Regelsatzfestlegung folgte unter dem BSHG weiterhin mehrstufig unter Beteiligung aller Verwaltungsebenen. Nach § 22 Abs. 5 BSHG galt: „Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung erläßt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit mit Zustimmung des Bundesrates Vorschriften über Inhalt und Aufbau der Regelsätze sowie ihre Bemessung und Fortschreibung.“ Hierin fanden sich die fortentwickelten Grundlagen des Warenkorbmodells später ab Anfang der 90er Jahre, die des (modifizierten) Statistikmodells.337 Die Festlegung der konkreten Regelsatzhöhe oblag nun den Landesregierungen durch Rechtsverordnung. Die Regelsätze unterschieden sich dabei in den einzelnen Bundesländern allenfalls marginal.338 Der Spielraum der ausführenden Kommunen reduzierte sich dementsprechend immer stärker. Der Trend zur Durchnormierung und Austarierung der Bedarfsanerkennung anhand objektiver, allgemeiner und bundesweit einheitlicher Kriterien zeigte sich auch in den möglicherweise zu gewährenden Mehr- und Einmalbedarfen.339 Dieses Vorgehen, welches eine berechenbare Größe für den Hilfesuchenden darstellt und etwaiger Willkür entgegensteht, verspricht u. U. rechtsstaatlichen und 332 333 334 335 336 337 338 339
Muthesius, Fürsorgerecht, 1928, S. 65 f. Überblick bei Keese, Die öffentliche Fürsorge, 1951. Verordnung vom 23. Dezember 1955, GVBl 1956, S. 58 ff. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, NDV 1956, 9 ff. Roscher, in: Armborst (Hrsg.), BSHG, § 22 Rn. 22. Hierzu ausführlich Hofmann, info also 2006, 235 ff. Liste für 2003 in Armborst (Hrsg.), BSHG § 22 Rn. 53. So bspw. §§ 23, 36 ff., 39 ff., 68 ff. BSHG.
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sozialstaatlichen Gewinn, steht aber grds. in einem Spannungsverhältnis zum Individualisierungsprinzip.340 Regelleistungen sind demnach traditionelle Fürsorgeleistungen und stehen historisch materiell und organisatorisch neben der Sozialversicherung. Der staatliche Einfluss341 ist hier im Laufe der Zeit zwar gewachsen, eine Annäherung an die staatlich verantwortete Sozialversicherung ist allerdings nicht zu beobachten. bb) Konkreter normativer Zuschnitt Bestand nach dem BSHG noch ein durchaus breiter Katalog von einmaligen Sachleistungen,342 sind diese in der Grundsicherung nahezu gänzlich in einem erhöhten Regelsatz aufgegangen.343 Zusammenfassend kann man sagen, dass der durch Hartz IV neu konzipierte Regelsatz den Empfänger auffordert, stetig Geld für die ehemals bei Bedarf einmalig gewährten Sachleistungen zurückzulegen, um ggf. auf dieses zurückgreifen zu können. Das Anhalten zum Ansparen ermöglicht dem Einzelnen nun tatsächlich ein Stück mehr Selbstbestimmung. Allerdings ist fraglich, ob ein Regelsatz der so niedrig bemessen ist, dass an Sparen und Entscheiden wohl kaum zu denken ist, nicht letztlich zur Fiktion wird. Es geht auch an der Lebenswirklichkeit vorbei, anzunehmen, ein solches Sparverhalten, gesondert für jedes Elektrogerät usw., sei praktikabel bzw. werde praktiziert. Ob hierdurch ein Gewinn an Eigenverantwortung erzielt werden konnte, darf durchaus bezweifelt werden. Die ursprüngliche Höhe des Regelsatzes betrug monatlich 345 e in den alten und 331 e in den neuen Ländern. Nachdem recht zügig der Irrtum korrigiert wurde, in den neuen Bundesländern seien die vom Regelsatz umfassten Leistungen günstiger zu haben, wurde der Regelsatz angeglichen.344 340 Vgl. Jehle, ZfSH 1968, 89 ff.; Eylert, Rechtliche Probleme der schematisierenden materiellen Sozialhilfeleistungen, 1987, S. 105 ff.; zu der einfachgesetzlichen Transformation Schütte-Leifels, Die Grundsätze der Sozialhilfe nach der Reform, 2007, S. 194 ff.; Rothkegel, Die Strukturprinzipien des Sozialhilferechts, 2000, S. 41 ff.; Spellbrink, Archiv soziale Arbeit 2008, Nr. 1, 4 ff.; Hebeler, SGb 2008, 8 ff.; vgl. LSG Hessen, ZFSH/SGB 2009, 100 (106 ff.). 341 Im Abgrenzung zur kommunalen Aufgabenerfüllung. Genauer hier: Der Einfluss des Bundes durch eine verstärkte Durchnormierung. 342 Vgl. § 21 Abs. 1a BSHG. 343 Grube, in: ders./Wahrendorf (Hrsg.), SGB XII, § 31 Rn. 11 ff. Zu den Veränderungen in diesem Zusammenhang am Beispiel der Wohnungsinstandsetzung Groth/Siebel-Huffmann, NZS 2007, 69 ff. 344 Tatsächlich liegt das Preisniveau ähnlich hoch. Es gibt keine relevant größeren Unterschiede, als auch zwischen Nord und Süd, Land und Stadt usw. Allein die
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Von 2005 bis 2010 wurde der Regelsatz mehrfach angehoben, zuletzt lag er bei 359 e monatlich für alleinstehende Personen.345 Auf der Grundlage dieses Regelsatzes bemessen sich anteilig die Regelleistungen für im Haushalt lebende Partner usw. Zur Berechnung des konkreten Regelleistungsanspruchs müssen erzieltes Einkommen bis zur Hinzuverdienstgrenze und vorhandenes Vermögen, welches über dem jeweiligen Freibetrag liegt, herangezogen werden. Die Vorschriften sind hier durchaus differenziert und erfordern ein jedenfalls nicht zu vernachlässigendes Maß an Verwaltungsaufwand. Die Spielräume für die Verwaltung sind allerdings bei staatlichen Transferleistungen mittlerweile traditionell und sind hier besonders begrenzt. Was nicht bereits cent-genau beziffert ist, wie der Regelsatz und die Berechnung von Einkommens- und Vermögensfreigrenzen, ist durch Rechtsverordnungen346 oder Verwaltungsvorschriften nicht minder detailliert vorgegeben. Spielraum vor Ort besteht praktisch kaum.347 Die Regelleistungen galten für alle Leistungsempfänger der Grundsicherung grds. gleichermaßen und sind nicht abhängig von zuvor erbrachter Geld- oder Arbeitsleistung. Sie stehen also in keinem äquivalenten Verhältnis zu Beiträgen oder sonstigen Leistungen, auch nicht in globaler Hinsicht. Im Zusammenhang mit Mietkosten sind insgesamt geringer. Allerdings sind diese nicht im Regelsatz enthalten, sondern werden von den Kommunen gesondert, konkret in angemessener Höhe getragen, § 22 SGB II. 345 BGBl I 2009, S. 1342. Derweil wird intensiv über eine Reform der Regelleistungen debattiert, im Anschluss an BVerfG, NVwZ 2010, 580 ff. Nunmehr soll eine Erhöhung rückwirkend zum 01.01.2011 um fünf und zum 01.01.2012 um weitere drei Euro folgen. Dazu http://www.welt.de/politik/deutschland/article12605414/ Gruene-hegen-erhebliche-Zweifel-an-Hartz-Einigung.html. 346 Vgl. § 27 SGB II: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen durch Rechtsverordnung zu bestimmen, welche Aufwendungen für Unterkunft und Heizung angemessen sind und unter welchen Voraussetzungen die Kosten für Unterkunft und Heizung pauschaliert werden können, bis zu welcher Höhe Umzugskosten übernommen werden, unter welchen Voraussetzungen und wie die Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 pauschaliert werden können.“ und § 13 SGB II: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen ohne Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung zu bestimmen, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist, welche weiteren Vermögensgegenstände nicht als Vermögen zu berücksichtigen sind und wie der Wert des Vermögens zu ermitteln ist, welche Pauschbeträge für die von dem Einkommen abzusetzenden Beträge zu berücksichtigen sind.“ 347 Früher waren die Vorgaben eher allgemeiner Art, dazu oben Kapitel 2. Im Übrigen ist nicht zu verkennen, dass auch die Ablösung des BSHG durch das SGB II (bzw. SGB XII) diese Tendenz verstärkt hat. Eine „Härtefallklausel“ gibt es nicht mehr, die der Verwaltung Spielraum in atypischen Fällen einräumte. Auch die Zusammenfassung mehrerer Bedarfe in den Regelsatz verringert die je eigene bedarfsabhängige Entscheidung der Verwaltung.
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Kap. 4: Bundesexekutive
der früheren Arbeitslosenhilfe wurde teilweise behauptet, dass die fehlende Beitragsfinanzierung durch die erbrachte Arbeitsleistung kompensiert würde und insoweit die Arbeitslosenhilfe ein Äquivalent der Leistungen der Betroffenen gewesen sei.348 Selbst wenn man dieser Argumentation folgen wollte, gilt dies für die Grundsicherung nicht (mehr). Hier werden die Leistungen gleichmäßig und unabhängig von bisherigen Steuer-, Beitrags- oder Arbeitsleistungen erbracht. Allein die Bedürftigkeit und die Erwerbsfähigkeit sind nunmehr maßgeblich. Eine Privilegierung von denjenigen, die über einen gewissen Zeitraum sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind,349 ist nicht mehr vorgesehen. Auch organisatorisch wurde die Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht der (Sozial-)Versicherung, sondern der Fürsorge nachgebildet. Die Deckung des anfallenden Bedarfs erfolgt nicht durch die organisierte Gemeinschaft bzw. Vielheit, sondern allein und ausschließlich durch den Steuerzahler. Es gibt im Rahmen der Grundsicherung also keine Deckung der Kosten durch eine Umverteilung innerhalb der „Versichertengemeinschaft“. Die Finanzierung erfolgt allein von „außen“. Wenn für die Arbeitslosenversicherung insgesamt regelmäßig das Deckungsmerkmal als Desiderat festgestellt wird, gilt dies für die Grundsicherung für Arbeitsuchende erst recht. Als unterstes Netz sozialer Absicherung neben der Sozialhilfe ist es sogar typischerweise nicht darauf angelegt, eine Schätzbarkeit zu erreichen. Die Regelleistungen sind bzgl. ihrer Höhe daher auch in keiner Weise danach konzipiert, dass sie in Proportion zum etwaig zuvor bezogenen Lohn stehen. Die Berechnung der Regelleistungen erfolgt ausschließlich anhand feststehender Kriterien dafür, was zum Lebensunterhalt erforderlich ist.350 Das ist zunächst einmal völlig unabhängig von der Frage, wie viele finanzielle Mittel in dem einen oder anderen System zur Verfügung standen oder schätzbar stehen würden. cc) Aufgabeneinordnung In jeder Hinsicht weisen die Regelleistungen den Charakter einer Fürsorgeleistung auf. Das gilt historisch wie systematisch, abstrakt und konkret. Sie sind im Rahmen kommunaler Fürsorge entwickelt worden und sind seitdem fester, struktureller Bestandteil öffentlicher Armenfürsorge geblieben. Ähnlichkeiten zu Merkmalen der Versicherung lassen sich nicht finden. Das 348
Davy, ZIAS 2001, 221 (243 ff.). Allein für diese Gruppe bedeutete die Arbeitslosenhilfe der Höhe nach überhaupt eine Privilegierung. Bei 53% bzw. 57% des zuvor bezogenen Lohns ansonsten durch Sozialhilfe aufgestockt werden musste. 350 Hofmann, info also 2006, 235 ff. 349
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit
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bedeutet allerdings nicht zwingend, dass die Regelleistungen nicht im Rahmen des Kompetenztitels Sozialversicherung (Art. 87 Abs. 1 GG) wahrgenommen werden können, es liegt allenfalls nahe. Ein Aufgabenpaket, das der Gesetzgeber auf der Grundlage einer Gesetzgebungskompetenz wegen seines Schwerpunktcharakter351 stützen konnte, kann der Gesetzgeber exekutiv wieder aufschnüren und bspw. aus verwaltungsökonomischen Gründen, ihrem spezifischen Charakter entsprechend, auf verschiedene Ebenen und Verwaltungsträger aufteilen. Anders aber als bei der Arbeitsvermittlung, weisen die Regelleistungen als Verwaltungsaufgabe ausschließlich Merkmale der Fürsorge auf und passen sich in das Gefüge der Sozialversicherung auch ansonsten nicht unmittelbar ein. Je nach Stellung und Gewicht der Aufgabe kann eine ausgeprägte Einseitigkeit das Versicherungsgefüge sprengen. An dieser Stelle kommen die Figuren der sog. ungeschriebenen Kompetenzen zum Tragen.352 Einigkeit besteht bereits im Grundsatz darüber, dass eine Erweiterung des Anwendungsbereichs einer Kompetenznorm über eine weite Auslegung353 jedenfalls nur dann möglich ist, wenn die in Rede stehende Aufgabe umfänglich nicht das Gesamtgefüge der typischen Aufgabe sprengt.354 Für die Sozialversicherung bedeutet dies eben nichts anderes, als bereits durch Auslegung beschrieben: Wenn die Regelleistungen finanziell, personell und/oder bzgl. des erforderlichen Verwaltungsaufwands von so großem Umfang sind, dass sie den Charakter der Gesamtaufgabe (hier der Sozialversicherung) einseitig verschieben, ist die Anwendung der Kompetenzvorschrift und damit bestimmter ungeschriebener Kompetenzen ausgeschlossen, eben weil das Verhältnis zwischen geschriebener und ungeschriebener Kompetenz unzulässig zu Lasten ersterer verschoben würde.355 Bis zu sieben Millionen Menschen waren zwischenzeitig bereits auf Hartz IV-Leistungen angewiesen;356 teilweise ausschließlich, teilweise aufstockend. Zu prognostizieren, ob diese Zahl wieder erreicht, vielleicht überstiegen oder sich auf einem niedrigeren Niveau stabilisieren wird, war und ist kaum möglich. Mit recht hoher Wahrscheinlichkeit kann aber immerhin 351
Vgl. BVerfGE 106, 61 (114 f.). Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 49 ff. (Januar 2009). 353 Hier kommen allenfalls solche sog. ungeschriebene Kompetenzen in Betracht, die letztlich Produkt weiter Auslegung sind und insoweit im Randbereich liegen. Das sind Annex- oder Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs. 354 Vgl. BVerfGE 22, 180 (210); Ehlers, Jura 2000, 323 ff. 355 Siehe dazu grds. Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 49 ff. (Januar 2009). 356 Anfang 2010 waren es 6,7 Mio. Menschen. Siehe http://www.faz.net/s/ Rub4D8A76D29ABA43699D9E59C0413A582C/Doc~E6B06DAAA8D644E9099908 2E78CD5FE1C~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Januar 2010). 352
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Kap. 4: Bundesexekutive
davon ausgegangen werden, dass die Bedeutung der Grundsicherung, sollten sich die rechtlichen Rahmenbedingungen, etwa die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I, nicht gravierend ändern, künftig nicht wesentlich abnehmen wird.357 Zwar sind Entscheidungsspielräume für die Verwaltung praktisch kaum vorhanden, doch der Verwaltungsaufwand bzgl. der Regelleistungen ist nicht zu unterschätzen. Immerhin betrug der Anteil der Verwaltungskosten an den Gesamtkosten der Bundesagentur für Arbeit im Bereich der Grundsicherung im Jahr 2008 8,6%, umgerechnet 3,3 Mrd. e.358 Hinzu kamen für die Regelleistungen noch einmal 30,2 Mrd. e, was ca. 80% der Gesamtkosten der Grundsicherung ausmachte.359 Zum Vergleich: Die Kosten für das Arbeitslosengeld nach dem SGB III beliefen sich 2008 mit 13,86 Mrd. e gerade einmal auf die Hälfte dieser Ausgaben.360 Die Überführung der Regelleistungsaufgaben in den Kompetenzbereich der Sozialversicherung nach Art. 87 Abs. 2 GG führte dementsprechend dazu, dass die Bundesagentur für Arbeit als Sozialversicherungsträgerin den mit Abstand größten Anteil ihrer Leistungen, personell wie finanziell, seither im Rahmen einer typischen Fürsorgeleistung erbringt. Bei einer solchen Betrachtung kann von einer Annex- oder untergeordneten Aufgabe nicht die Rede sein. Vielmehr erscheint das Arbeitslosengeld im Verglich zu den Regelleistungen eher als randständige Leistung. Dem kann auch nicht entgegenhalten werden, im Verhältnis zur gesetzlichen Sozialversicherung insgesamt mache die Regelleistung der Grundsicherung nicht einmal 10% der Gesamtkosten aus.361 Nicht nur wird bereits in Art. 87 Abs. 2 GG von den Sozialversicherungsträgern und damit von unterschiedlichen Sozialversicherungsaufgaben ausgegangen. Die Regelleistungen wurden auch der Sache nach der Bundesagentur für Arbeit und dementsprechend einem bestimmten Sozialversicherungsträger selbstständig zugewiesen, in dessen Aufgabenbereich die Regelleistung (horizontal) ihren Platz einnehmen. Schließlich ist die Sozialversicherung in ihrer konkreten gesetzlichen Ausformung zugrunde zu legen und hier erscheint dann die Verwaltung der Arbeitslosenversicherung durch den Bund, genauer durch die Bundesagentur für Arbeit, durch Aufnahme der Regelleistungen bei einer Gesamtbetrachtung eher als Fürsorgeleistung denn als solche der Sozialversicherung. 357 Vgl. Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (Hrsg.), IAB-Kurzbericht 20/2009, welcher die Prognose hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitslosigkeit für das Jahr 2010 enthält. 358 Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), Geschäftsbericht SGB II, 2008, S. 22. 359 Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), Geschäftsbericht SGB II, 2008, S. 22. 360 Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), Geschäftsbericht SGB II, 2008, S. 30. 361 Statistisches Bundesamt http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/de statis/Internet/DE/Presse/pm/2009/04/PD09__153__71135.psml (Januar 2010).
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Nach alledem kann bzgl. der Regelleistung im Rahmen der Grundsicherung nicht von einer Aufgabe der Sozialversicherung ausgegangen werden. Diese konnten demnach nicht in zulässiger Weise über Art. 87 Abs. 2 GG der Bundesverwaltung zugewiesen werden. 2. Bundesunmittelbare Körperschaft – organisatorische Vorgaben Konnte der Bund die Verwaltungskompetenz im Bereich Arbeitsvermittlung auch im Zusammenhang mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Rahmen der Sozialversicherung für sich beanspruchen, konnte dies nach Art. 87 Abs. 2 GG organisatorisch wiederum nur eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dass die Bundesagentur für Arbeit, auch schon als sie vor 2005 noch Bundesanstalt für Arbeit hieß, im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung eine bundesunmittelbare Einrichtung war, kann als unbestritten gelten.362 Umstritten ist allerdings, ob die Bundesagentur eine Körperschaft oder eine Anstalt ist. Solange sie noch Bundesanstalt für Arbeit hieß, trug sie diese Debatte quasi permanent vor sich her. In § 367 Abs. 1 SGB III wird seit Bestehen der Vorschrift363 ausdrücklich festgestellt, die Bundesanstalt bzw. -agentur sei eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Nicht allein der alte Name deutet auf etwas anderes hin; zumindest dann, wenn man den tradierten Körperschaftsbegriff zugrunde legt, der davon ausgeht, dass eine Körperschaft eine mitgliedschaftlich organisierte, rechtsfähige Vereinigung des öffentlichen Rechts ist, welche staatliche Aufgaben mit hoheitlichen Mitteln unter staatlicher Aufsicht wahrnimmt.364 Eine öffentlich-rechtliche Anstalt hingegen „ist ein Bestand von Mitteln, sächlichen wie persönlichen, welche in der Hand eines Trägers öffentlicher Verwaltung einem besonderen öffentlichen Zweck dauernd zu dienen bestimmt sind.“365 Nun kann mit guten Argumenten bezweifelt werden, dass die Bundesagentur für Arbeit insoweit durch ihre „Mitglieder“ (Versicherte und Arbeitsgeber) verfasst ist, dass diese auch einen entsprechenden Einfluss auf die Körperschaftspolitik ausüben.366 Auch durch die Namensänderung 2005 hat sich an dieser Debatte nichts Wesentliches geändert, da Auswirkungen auf die Rechtsform ausweislich der Gesetzesmateria362
Dazu bspw. Müller-Franken, VSSR 1998, 133 ff. m. w. N. Waibel, ZfS 2004, 225 ff. 364 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band 1, S. 485 f. m. w. N.; Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, S. 322; Jestaedt, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 14 Rn. 27 m. w. N. 365 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, S. 268. 366 Niesel, in: ders. (Hrsg.), SGB III, § 367 Rn. 2; Braun, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK, SGB III, § 367 Rn. 1. 363
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Kap. 4: Bundesexekutive
lien nicht beabsichtigt waren und auch keine relevanten organisatorischen Umstrukturierungen vorgenommen worden sind.367 Wenngleich die Entscheidung dieser Frage durchaus nicht folgenlos ist,368 spielt die Einordnung im Rahmen des Art. 87 Abs. 2 GG keine Rolle. Wie bereits dargelegt, ist hier von einem weiten Körperschaftsbegriff auszugehen, der gerade auch Anstalten in seinen Anwendungsbereich einschließt.369 Die Verwaltungskompetenz des Bundes über Art. 87 Abs. 2 GG konnte demzufolge der Bundesagentur für Arbeit zur Erfüllung überantwortet werden.
II. Exekutivkompetenz aus Art. 87 Abs. 3 GG Soweit eine Verwaltungskompetenz des Bundes über Art. 87 Abs. 2 GG nicht begründbar war, kam eine solche über Art. 87 Abs. 3 GG in Betracht. Dessen Anwendbarkeit ist im Verhältnis zu Art. 87 Abs. 2 GG allerdings in organisatorischer wie in materieller Hinsicht fraglich. So kann die fakultative Bundeskompetenz aus Art. 87 Abs. 3 GG in beiden Fällen subsidiär sein. Organisatorisch wird die Frage des Verhältnisses von Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG zu Abs. 2 relevant, wenn und soweit es um die Errichtung eines Sozialversicherungsträgers als Bundesoberbehörde oder als Stiftung geht.370 Diese Möglichkeit ergibt sich – wenn überhaupt – für den Bund einzig auf der Grundlage des Art. 87 Abs. 3 GG, nicht auf derjenigen des Art. 87 Abs. 2 GG. Dazu müsste Art. 87 Abs. 3 GG für den Bereich der Sozialversicherung aber überhaupt anwendbar sein. Problematisch ist an einer Gleichordnung, dass die Abs. 1 und 2 in ihrem organisationsrechtlichen Gehalt weitgehend hohl und überflüssig würden, wenn jeder ihrer möglichen Anwendungsfälle auch von Abs. 3 erfasst ist.371 Relevant ist hier die materielle Anwendbarkeit. Gegen diese und dementsprechend eine Gleichordnung sprechen Argumente aus der historischen und rechtssystematischen Auslegung des Art. 87 GG. Das Grundgesetz begründet und begrenzt die Exekutivkompetenz des Bundes in Art. 87 Abs. 2 GG auf den Bereich der Sozialversicherung. Damit bleibt der Verfassungs367
Ausführlich Waibel, ZfS 2004, 225. Waibel, ZfS 2004, 225 (226). 369 Dazu oben Kapitel 4 A. II. 1. a). 370 Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 107; Merten, Juristische Personen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 GG, Merten in: ders./Schmidt/Stettner (Hrsg.), FS Knöpfle, S. 219 (228 f.). 371 Dazu oben Kapitel 4 B. I. 1. b). 368
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit
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text in der Sache erheblich hinter demjenigen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zurück. Eine Bundeszuständigkeit für den Gesamtbereich der „öffentlichen Fürsorge“ sollte demnach lediglich als Gesetzgebungs-, nicht hingegen zugleich als Vollzugszuständigkeit begründet werden.372 Dafür spricht insbesondere die Tatsache, dass schon im Jahre 1949 die Unterscheidung von Sozialversicherung und Sozialverwaltung gängig und dem Parlamentarischen Rat – wie Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG zeigen – auch geläufig war. Das begründet die Annahme, dass der Verfassunggeber die Sozialverwaltung eben nicht als Bundes-, sondern grundsätzlich als Landes- bzw. kommunale Aufgabe qualifizieren wollte. Daraus lässt sich zugleich ein rechtssystematisches Argument herleiten: Die genannte negative Abweichung zu Lasten der Verwaltungshoheit des Bundes könnte zugleich als implizite positive Entscheidung des Grundgesetzes qualifiziert werden: Was dem Bund nicht zugewiesen werden sollte, sollte dadurch Ländern und Kommunen vorbehalten sein. Die Zuweisung der Sozialverwaltung wäre demnach nicht in Art. 87 Abs. 3 GG, sondern bereits (abschließend) in Art. 87 Abs. 2 GG geregelt. Dann ist davon auszugehen, dass bestimmte, insbesondere organisatorische, Vorgaben der Verwaltungsverantwortung einer Kompetenzvorschrift mit der sachlichen Aufgabenzuständigkeit bewusst verbunden sind. Ob aus solchen Erwägungen heraus bereits eine materielle Subsidiarität des Art. 87 Abs. 3 GG und damit dessen Unanwendbarkeit im Anwendungsbereich sonstiger Kompetenzbestimmungen des GG hergeleitet werden kann, ist jedoch nicht unumstritten. Das BVerfG selbst hat in der Vergangenheit einen solchen Schluss jedenfalls im Verhältnis zu Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG abgelehnt.373 Wer die Anwendbarkeit des Art. 87 Abs. 3 GG auf die Ausführung der Regelleistungen bejahte, musste demnach dessen Voraussetzungen im Einzelnen prüfen. 1. Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG a) Zentrale Aufgaben und Bedürfnis nach Bundesexekutive als materieller Bezugsrahmen Zwar ist Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ohne expliziten materiellen Bezugsrahmen formuliert worden, doch ist ein solcher nach zutreffender Auffassung durch Auslegung zu ermitteln.374 Danach muss es sich bei den in 372 Zur Entstehungsgeschichte Doemming/Füßlein/Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, S. 509 ff. 373 BVerfGE 110, 33 ff. Dazu ausführlich oben Kapitel 4 A. II. 2. a). 374 Ausführlich oben Kapitel 4 B. II.
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Kap. 4: Bundesexekutive
Rede stehenden Aufgaben um zentrale handeln und es muss ein Bedürfnis für eine Bundesexekutive bestehen. Bei der Frage der Zentralität einer Aufgabe geht es (noch) nicht darum, eine staatliche von einer kommunalen Trägerschaft letztlich abzugrenzen. Vielmehr geht es in einer Art Vorstufe darum zu fragen, ob eine Aufgabe insoweit zentral ist, dass sie sachgemäß auf einen Verwaltungsunterbau verzichten kann. Mithin geht es um eine organisatorische Frage. Dabei ist die Örtlichkeit einer Aufgabe im Sinne des Art. 28 Abs. 2 GG zwar nicht in jeder Hinsicht der Gegenentwurf hierzu, gibt aber wichtige Hinweise zur Beantwortung der Frage. Eine Aufgabe, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzelt und deren Wurzeln auch nicht „gekappt“ sind, zeichnet sich regelmäßig auch dadurch aus, dass ein gewisses Maß an örtlicher Präsenz zur sachgemäßen Aufgabenerfüllung erforderlich ist. Bei einer zentralen Aufgabe ist die Erfüllung vor Ort kaum oder gar nicht notwendig.375 Die nicht unproblematische Errichtung von Außenstellen, welche unter Umständen in diesem Zusammenhang möglich ist,376 ist wiederum kein taugliches Argument für einen möglichen Örtlichkeitsbezug einer Behördenorganisation ohne eigenen Unterbau. Denn Außenstellen sind in jedem Fall begründungsbedürftige Ausnahmen zum Verbot des Verwaltungsunterbaus nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG. Liegt in ihnen doch stets eine latente Umgehung der besonderen Anforderungen an die Errichtung eines eigenen Verwaltungsunterbaus nach Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG.377 Es ist also davon auszugehen, dass eine örtliche Präsenz nicht vorhanden ist und auch nicht erforderlich ist. Bzgl. der Regelleistungen ist ein Argument fruchtbar zu machen, welches bereits bei der Subsidiarität ähnlich diskutiert wurde.378 Die Unterscheidung von Sozialverwaltung und Sozialversicherung basiert auf einer langen Tradition und war dem Parlamentarischen Rat bekannt. So war ihm auch der ausgeprägte örtliche Bezug der Sozialverwaltung und auch derjenige der -versicherung bekannt. Die organisatorische Untergliederung der Sozialversicherungszweige in örtlich präsente Anlaufstellen ist historisch ebenso tradiert wie eine behördliche Präsenz im Bereich der Fürsorge. Der Parlamentarische Rat hat in dieser Kenntnis die Verwaltung im Bereich der Sozialversicherung in Art. 87 Abs. 2 GG eigenständig geregelt und ihr hier die Möglichkeit eines eigenen Verwaltungsunterbaus eröffnet.379 Dies eben 375
s. o. Kapitel 4 A. II 2. a) bb). Schewerda, Verwaltungskompetenzen, S. 120 f.; Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 217 (Dezember 1992). 377 Zur Problematik der Außenstellen Schewerda, Verwaltungskompetenzen, S. 132 ff. m. w. N. 378 s. o. Kapitel 4 A. II 2. a) bb). 379 Vgl. BayVerfGH, Verwaltungsrechtsprechung, Band 20, 1969, S. 769 ff.; Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 87 Rn. 89; 376
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nicht zuletzt in Anerkennung und Kenntnis der tradierten Organisation. Der Bereich der Sozialversicherung sollte also auch aus historischen Gründen trotz der Notwendigkeit örtlicher Präsenz nicht den Kommunen, sondern in Bundeszuständigkeit anderen Trägern obliegen; eine solche Präsenz aber wegen ihrer Erforderlichkeit auf organisatorische Weise gesichert sein. In Anbetracht der tradierten Strukturen kann die Entscheidung des Parlamentarischen Rates gegen die Aufnahme der Sozialverwaltung in obligatorische Bundeskompetenz demzufolge durchaus als Entscheidung für eine Kompetenz der Kommunen oder Länder gelten und ist damit selbst in Art. 87 Abs. 2 GG angelegt. Die Anerkennung der Notwendigkeit einer (möglichen) örtlichen Präsenz in Sozialversicherung und Sozialverwaltung entspricht den Anforderungen einer sachgemäßen Aufgabenerfüllung. Sozialversicherung und -verwaltung sind wie vielleicht kaum andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung auf einen nahen Kontakt zum Betroffenen angewiesen. Das gilt für beide Seiten, für die Verwaltung ebenso wie für den Betroffenen. Die Verwaltung benötigt den engen Kontakt zum Betroffenen, um Bedarfslagen möglichst umfassend aufnehmen und zutreffend anerkennen zu können. Sich durchaus im Wortsinne ein Bild von dem Betroffenen und seiner Lebenssituation zu machen, ist bezogen auf das Erfordernis einer individuellen und effizienten Betreuung sachgemäß. Das gilt sicher auch für das Erkennen und Verhindern von Sozialmissbrauch. Gerade im Bereich der Arbeitsvermittlung hängt die Sinnhaftigkeit individueller Förderung und Qualifizierung entscheidend an den personalen Voraussetzungen des Betroffenen. Vielleicht mag in einigen Bereichen der Sozialversicherung, wie bspw. der Rentenversicherung, Betreuungsnähe weniger entscheidend sein. In der Arbeits- und Sozialverwaltung ist diese Nähe für die Verwaltung aber entscheidend, da hier ein weniger stark ausgeprägter Automatismus im Verfahren und eine stärkere Abhängigkeit der Leistungen von den örtlichen und individuellen Gegebenheiten besteht.380 Für den Betroffenen ist die örtliche Präsenz unter Umständen sogar noch bedeutender. Zum einen wird ihm insbesondere im Bereich der Sozialverwaltung ein hohes Maß an Pflichten auferlegt, welche von ihm den Behördenkontakt einfordern. So können Meldepflichten, Antragserörterungen, Mitwirkungspflichten u. ä. persönliches Erscheinen erforderlich machen.381 Kann eine solche Pflicht entstehen, müssen die Voraussetzungen geschaffen Merten, Juristische Personen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 GG, S. 219 225; Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 87 Rn. 164 (Dezember 1992); Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 249. 380 Das gilt beispielhaft für die Leistungen für Heizung und Unterkunft. 381 Vgl. §§ 60 ff. SGB I (insbesondere § 61 SGB I).
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werden, dass diese auch zumutbar erfüllt werden kann. Immerhin können hierin Grundrechtseingriffe liegen. Der Betroffene hat außerdem einfachgesetzliche und zum Teil verfassungsrechtlich garantierte Anhörungs- und Beteiligungsrechte, welche sinnvoll oder notwendigerweise im persönlichen Kontakt vor Ort in Anspruch zu nehmen sind.382 So kann der Betroffene seine Bedürfnisse häufig aus unterschiedlichen Gründen kaum schriftlich oder telefonisch darlegen. Soziale Hilfe ist im Übrigen regelmäßig zeitnah erforderlich und die Gegenwärtigkeit der Hilfe ist Strukturprinzip der Sozialhilfe und der Grundsicherung.383 Daher steht der Betroffene mit seinen Bedürfnissen im Fokus auch der Verwaltung. Um ihnen gerecht zu werden, braucht es häufig den persönlichen Kontakt. Das gilt für die Regelleistungen der Grundsicherung als Kernelement der Bedarfsdeckung besonders. Der Betroffene kann und muss an der Errechnung wesentlich mitwirken, indem er die erforderlichen Auskünfte gibt und Angaben macht (Vermögen, Einkommen, Familienstand, Sonderbedarfe etc.). Nach alledem ist eine örtliche Präsenz der Sozialverwaltung zwingend notwendig. Eine Verwaltungskompetenz des Bundes über Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ließ sich also bereits deshalb nicht begründen. b) Kein Verwaltungsunterbau – organisatorische Vorgaben Hinzu kommt, dass die Bundesagentur für Arbeit mit den Landesarbeitsagenturen und den Arbeitsagenturen bzw. den ARGEn vor Ort einen eigenen Verwaltungsunterbau unterhält. Die weitgehend selbstständigen Arbeitsagenturen sind auch unstreitig keine Außenstellen, sondern Mittel- (Landesarbeitsagenturen) und Unterbehörden (Arbeitsagenturen vor Ort), mithin echter Verwaltungsunterbau.384 Nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine Verwaltungskompetenz des Bundes unter Einbeziehung der Bundesagentur für Arbeit daher nicht begründbar. 382 M.E. lässt sich durchaus in diesem Zusammenhang auch über einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf persönlichen Kontakt diskutieren. Dass Sozialhilferecht und Grundsicherung sinnvoller- und notwendigerweise derart stark individuell bezogen sind, dass eine angemessene Entscheidung über die hierin liegenden existenziellen Fragen ohne persönlichen Kontakt (Entscheidung nach Aktenlage) wohl nicht zu erreichen ist, ist nicht zuletzt auch Ausdruck des grundgesetzlichen Verständnisses von Sozialstaatlichkeit. 383 Rothkegel, Strukturprinzipien des Sozialhilferechts, S. 17 ff.; kritisch Hochheim, NZS 2009, 24 ff. 384 Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 104 f.; Müller-Franken, VSSR 1998, 133 ff.
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2. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG Für eine Bundesverwaltung im Bereich der Regelleistungen bleibt allein Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG. Voraussetzung ist, dass dem Bund auf einem der Gebiete seiner Gesetzgebungskompetenzen neue Aufgaben erwachsen sind. War das der Fall, konnte der Bund „bei dringendem Bedarf bundeseigene Mittel- und Unterbehörden“ errichten. Anders als nach Satz 1 umfasst dies einen eigenen Verwaltungsunterbau. a) Regelleistungen als neue Aufgaben Nur wenn die Aufgaben der Regelleistungen als neue Aufgabe dem Bund erwachsen sind, kam eine Zuständigkeit des Bundes in Betracht. Staatliche Verwaltungsaufgaben385 erwachsen dem Bund über Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG durch ein Zusammenspiel unterschiedlicher gesetzlicher Komponenten, welche zwar faktisch nicht selten zusammenfallen aber logisch getrennt werden können. Zu unterscheiden sind: – das materielle Gesetz, – das aufgabenübertragende Gesetz und – das Errichtungsgesetz. Erwachsen (Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG) dem Bund auf diese Weise Verwaltungsaufgaben, kann er sie wiederum mit eigenem Verwaltungsunterbau nur erfüllen, wenn diese neu sind. Dabei sind neu jedenfalls die Aufgaben nicht, welche dem Parlamentarische Rat bekannt waren.386 Bezugspunkt hierbei ist die konkrete Aufgabe in ihrem gesetzlichen Zuschnitt. Ohne Änderung des materiellen Gesetzes kann eine Aufgabe i. d. S. nicht neu sein. Das qualifiziert die Anforderungen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 im Vergleich zu Satz 1. Daraus folgt gleichzeitig auch, dass diese Aufgaben nicht von einer anderen Verwaltungsebene wahrgenommen worden sein dürfen. Eine Änderung am aufgabenübertragenden Gesetz allein genügt mithin nicht. Nicht jede Änderung des materiellen Zuschnitts führt zur Neuheit einer Aufgabe. Erst wenn der Gesetzgeber eine bestehende Aufgabe so verändert, dass dies nicht nur marginal und unbedeutend erscheint, also qualitativ und/ oder quantitativ von einigem Gewicht ist, kann von ihrer Neuheit ausgegangen werden. Die Regelleistungen des SGB II unterscheiden sich von denjenigen des BSHG und früherer Regelungen durchaus erheblich. Sie basieren in weiten 385 386
Um die geht es hier. Dazu ausführlich oben Kapitel 1 B. Zur Begründung oben Kapitel 4 A. II. 2. b).
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Kap. 4: Bundesexekutive
Teilen auf einem anderen sozialpolitischen Konzept.387 Die unter dem BSHG durchaus zahlreich vorgesehenen einmaligen Hilfen und Sonderbedarfe wurden weitgehend pauschaliert. Damit sollte dem Betroffenen ein höheres Maß an Selbstbestimmung ermöglicht und auch die Verwaltung sollte so entlastet werden. Damit hat sich aber gleichzeitig bspw. auch die Anrechnungspraxis verändert. Angerechnet wurden in einer Bedarfsgemeinschaft grds. nur Vermögen und Einkommen. Einmalige Hilfen waren hiervon also ausgenommen. Durch die Überführung dieser in den Regelsatz, wurden sie in der Grundsicherung anrechnungsfähig.388 Dies ist nur ein Beispiel für zahlreiche relevante materielle Änderungen der Regelleistungen. Insofern bedeutete Hartz IV auch hinsichtlich der Regelleistungen eine qualitative Neuerung. Auch quantitativ hat sich durch die Grundsicherung einiges im Bereich der Regelleistungen verschoben. Die ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger wurden zu Regelleistungsempfänger und damit hat sich die Zahl dieser insgesamt um ca. 2–3 Mio. Personen erhöht. Die Regelleistungen waren daher i. S. d. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG neue Aufgaben. b) Dringender Bedarf für eine Bundesexekutive Um diese in Bundesexekutive nach Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG erfüllen zu können, musste außerdem ein dringender Bedarf bestehen. Bedarf ist strukturell i. S. e. Erforderlichkeit zu verstehen und ist insoweit mit Art. 72 Abs. 1 GG vergleichbar. Derart grenzt sich der Bedarf auch vom Bedürfnis ab, welches im Rahmen von Art. 87 Abs. 3 Satz 1 für die Begründung einer Bundesexekutive zu verlangen ist.389 Inhaltlich müssen sich die Darlegungen auf den Bedarf eines bundeseigenen Unterbaus beziehen, mithin auf die konkrete Exekutivform. Für die in Rede stehende Verwaltungsaufgabe muss eine solche Exekutive erforderlich sein. Auf der einen Seite muss diese Aufgabe im Rahmen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG eine zentrale, sprich bundeseigene Verwaltung erfordern, auf der anderen Seite eine dezentrale, nämlich mit Verwaltungsunterbau. Bei der Entscheidung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist eine umfassende Abwägung der im Rahmen von Art. 87 GG geschützten Belange anzustellen. Insbesondere der Schutz der Länderinteressen und ihrer grundsätzlichen Verwaltungskompetenz sowie kommunaler Interessen, Effektivi387
s. o. Kapitel 3 C. Bspw. führt das dazu, dass Kinder früher ein Musikinstrument u. U. finanziert bekamen, heute aber, wenn sie sich ein solches kaufen, bspw. durch den Verdienst im Rahmen eines Ferienjobs, dieser Verdienst den Eltern angerechnet wird. Dazu beispielhaft http://www.sueddeutsche.de/medien/388/505578/text/. 389 s. o. Kapitel 4 A. II. 2. b) aa). 388
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit
223
tät der Bundesverwaltung sowie die Vermeidung von doppelten Verwaltungsstrukturen sind zu beachten.390 Der Bund hat daher darzulegen, dass eine anderweitige Exekutive durch diejenigen Instanzen, welchen durch die Verfassung die exekutive Regelzuständigkeit (Länder und als deren Bestandteil die Kommunen) eingeräumt wird, nicht sachgemäß zu leisten ist. Gleichzeitig aber eine Bundesexekutive ohne Verwaltungsunterbau die Aufgabe wiederum nicht sinnvoll erfüllen kann. Der Zusatz dringend in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG wirkt hinsichtlich des Bedarfs qualifizierend.391 Zu fragen ist also, ob eine Bundesexekutive mit eigenem Verwaltungsunterbau im Bereich der Regelleistungen dringend erforderlich war. In Abgrenzung zu Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG lassen sich die Regelleistungen als Aufgabe qualifizieren, welche eine derart stark ausgeprägte Nähe zur örtlichen Ebene aufweisen, dass eine Präsenz der Verwaltung vor Ort erforderlich ist. Die Exekutive mit eigenem Verwaltungsunterbau auszustatten, war 2005 binnensystematisch daher naheliegend. Über die Erforderlichkeit gegenüber den Kommunen und den Ländern sagt dies hingegen noch nichts aus. Ihnen gegenüber hat sich die andere Seite der Aufgabe zu offenbaren, nämlich diejenige, welche eine zentrale Exekutive durch den Bund erforderlich machte. Aspekte der Überörtlichkeit bzw. Zentralität der Regelleistungen finden sich vor allem in der Notwendigkeit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse durch eine effektive Sicherung des Vollzugs zentraler materiellrechtlicher Vorgaben. Anerkannt ist auch und gerade für den Bereich der Fürsorge generell, dass Mindeststandards, besonders diejenigen, welche der Verwirklichung verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen dienen, bundeseinheitlich vorgegeben werden können bzw. u. U. sogar müssen.392 Es besteht insoweit grds. ein Bedarf nach bundeseinheitlichen Regelungen. Gleiches kann sich auch aus Aspekten des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ergeben.393 Hierin kommt der Gedanke zum Ausdruck, dass vor allem perspektivisch ein differenter normativer Rahmen zu einer Herausbildung oder Verfestigung eines sozialen, wirtschaftlichen, finanziellen oder infrastrukturellen Gefälles kommt. Das soll verhindert werden. Das gilt bis hierher erst einmal für die Gesetzgebungskompetenz. Unter Umständen kann daraus aber auch die Notwendigkeit eines einheitlichen 390
s. o. Kapitel 4 A. II. 2. a). Vgl. für das Gefahrenabwehrrecht Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 101 ff. 392 Eingehend Luthe, Optimierende Sozialgestaltung. 393 Vgl. BVerfGE 106, 62 ff. 391
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Kap. 4: Bundesexekutive
zentralen Vollzugs erwachsen, insbesondere wenn die sonst zur Verwaltung berufenen Ebenen einen solchen Vollzug nicht sicherstellen können. Insoweit wird aber auch unmittelbar deutlich, dass die Erforderlichkeit einer Bundesgesetzgebung nicht mit der Erforderlichkeit einer Bundesexekutive gleichbedeutend ist.394 Aspekte, welche die Erforderlichkeit einer Bundesexekutive belegen, sind spezifisch in der Verwaltungstätigkeit zu suchen.395 Bis 2005 haben die Kommunen die Regelleistungen vor Ort erbracht. Die Abkehr hiervon wurde in der Reformdebatte auch nicht mit mangelnder Effizienz in diesem Bereich oder sonst mit inhaltlichen Argumenten begründet, sondern wurzelt in der kompromisshaft ausgestalteten Exekutive. Zugeschnitten war die Grundsicherung exekutiv auf die Bundesagentur für Arbeit. CDU/CSU machten sich im Gesetzgebungsverfahren daran, die Kommunen als Exekutivverantwortliche zu platzieren und handelten der Regierung in dieser Hinsicht verschiedene Aufgaben ab, nicht aber die Regelleistungen.396 Die Abkehr von der kommunalen Verwaltung war also nicht in erster Linie sachlich ausdrücklich begründet und in der vorherigen Verwaltung angelegt. Erwägungen für eine Bundesexekutive konnten sich allein aus dem Neuzuschnitt des Gesetzes ergeben. Dieses wurde stärker als zuvor an pauschalierten Leistungen orientiert, entfernte sich insofern von individuellen Referenzen und damit u. U. auch von einer verstärkten Einzelfallentscheidung vor Ort. Daraus zu folgern, dass eine kommunale Verwaltung ohnehin kaum Spielraum besäße und sie daher durch eine staatliche ersetzt werden könne, geht aber fehl. Im Gegenteil muss gerade weil das Individualisierungsprinzip nach Relevanz drängt, die weitgehende Pauschalierung durch einen stärkeren Blick auf mögliche Atypiken kompensiert werden. Dafür bedarf es materieller Abweichungsmöglichkeiten für die Behörden und diese waren in der Grundsicherung noch Desiderat. Als verfassungswidriger Zustand397 konnte dies insofern nicht als Argument für eine Bundesexekutive angebracht werden. Insofern waren die vorhandenen bzw. notwendigen Spielräume vor Ort in besonderer Weise zu nutzen und nicht verzichtbar. Hierfür haben die Kommunen durch die tradierte Verwaltung Kompetenzen gewonnen, welche es zu nutzen galt. Jedenfalls aber ist nicht ersichtlich, warum diese Verwaltung durch eine solche des Bundes ersetzt werden musste. Diesem Ergebnis können m. E. auch etwaige Zentralisierungstendenzen im Bereich des Sozialrechts nicht entgegengehalten werden. Gibt es sie, sind sie Ausdruck politischer Leitbilder bzw. Programmatik. In eindringlicher Weise hat sich dies im Gesetzgebungsverfahren zur Grundsicherung 394 395 396 397
Ebenso wie die eine Kompetenz nicht der anderen zwingend folgt. s. o. Kapitel 4 A. II. 2. a) und Kapitel 4 B. II. Dazu ausführlich Kapitel 3. BVerfG, NJW 2010, 505 ff.
B. Aufgabenträgerschaft der Bundesagentur für Arbeit
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2005 gezeigt. Hier standen sich der Regierungsentwurf (SGB II) und der Entwurf der Opposition zum EGG gegenüber; auf der einen Seite eher Zentralisierung, auf der anderen Kommunalisierung.398 Das Ergebnis war ein politisches und Ausdruck der Mehrheitsverhältnisse. Jene Tendenzen können sich ändern und müssen das auch dürfen, sie können daher nicht einfach zum verfassungsrechtlichen Argument umfunktioniert werden. Der Gesetzgeber ist bzgl. etwaiger Zentralisierungstendenzen an die verfassungsrechtlichen Grenzen gebunden. Ein Bedarf – zumal ein dringender – lässt sich aus politischen Programmen grds. nicht ableiten. Die Konkurrenz zwischen EGG und SGB II zeigt ein Weiteres: Die Aufgaben der Fürsorge bzw. Grundsicherung sind u. U. nicht besonders attraktiv mit Blick auf die finanziellen Folgen. Vielleicht empfinden sich Vertreter der Kommunen u. U. nicht einmal belastet durch einen Entzug jener Aufgaben. Mag sogar sein, dass die vorhandene kommunale Infrastruktur zur Erfüllung der Aufgaben nach dem SGB II nicht ausreicht. Auch hier aber gilt: Die Aufgabenverteilung nach dem GG ist zunächst von diesen Fragen unabhängig. Diese können allenfalls in besonders gravierenden Fällen argumentativ verarbeitet werden. Würde man die Aufgabenverteilung nämlich insofern zur Disposition der Verwaltungsebenen oder des Gesetzgebers stellen, könnten Aufgaben u. U. taktisch so zugeschnitten werden, dass sie unattraktiv werden und die Kompetenzverteilung damit faktisch untergraben wird.399 Wenn – und das ist durchaus zu beobachten – die Belastungen massiv werden, kann und muss auf Sekundärebene über die Frage der Finanzierung und der Infrastruktur diskutiert werden, so bspw. über Art. 106 Abs. 8 GG oder landes- oder bundesverfassungsrechtliche Konnexitätsregelungen oder ein Aufgabenübertragungsverbot (Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG). Die Aufgabenverteilung ist von diesen Fragen grds. unabhängig. So sind dies auch hier keine tauglichen Argumente, die einen dringenden Bedarf i. S. v. Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG begründen könnten.400 c) Bundeseigene Behörden – organisatorische Vorgaben Allein nach Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG kann der Bund im Rahmen fakultativer Bundesexekutive auch Mittel- und Unterbehörden errichten. Dabei 398
s. o. Kapitel 3 B. Was hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Determinanten von Kompetenzverteilung im Mehrebenensystem äußerst problematisch wäre, vgl. dazu später Kapitel 6 B. II. 400 Anlehnend an die Rspr. des BVerfG zu der Frage, inwieweit allgemeine Erwägungen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bei der Verteilung von Aufgaben auf kommunaler Ebene eine Rolle spielen können; BVerfGE 79, 127 (153). 399
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Kap. 4: Bundesexekutive
hat es sich aber um bundeseigene Behörden zu handeln. Die Bundesagentur für Arbeit ist mit ihrem Unterbau eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts (i. w. S.). Das bedeutet aber nicht gleichsam auch, dass sie bundeseigene Behörde ist. Dazu zählen allein Behörden, welche der unmittelbaren Bundesverwaltung zuzuordnen sind. Die Bundesagentur für Arbeit ist allerdings eine weitgehend verselbständigte, sich partiell selbstverwaltende Körperschaft und der mittelbaren Bundesverwaltung zuzuordnen. Aus oben dargelegten Gründen ist die Errichtung eines Verwaltungsunterbaus im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung aber ausgeschlossen.401 Daher kommt eine Exekutivkompetenz der Bundesagentur für Arbeit auch auf der Grundlage des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG im Ergebnis nicht in Betracht.
III. Ergebnis Die Arbeitsvermittlung konnte der Bundesagentur für Arbeit über Art. 87 Abs. 2 GG im Rahmen der Sozialversicherung zugewiesen werden. Eine Bundesexekutivzuständigkeit für die Regelleistungen scheiterte hingegen in mehrfacher Hinsicht. Die Regelleistung ist keine Aufgabe der Sozialversicherung, weder historisch noch konkret in ihrem Zuschnitt. Es blieb die Möglichkeit einer Kompetenz aus Art. 87 Abs. 3 GG. Weder nach Satz 1 noch nach Satz 2 konnte die Bundesagentur für Arbeit 2005 allerdings die Regelleistungen bereits aus organisatorischen Gründen erfüllen. Für Satz 1 ist schädlich, dass die Bundesagentur über einen eigenen Verwaltungsunterbau verfügt. Im Rahmen von Satz 2 ist eine bundeseigene i. S. e. bundesunmittelbaren Verwaltung erforderlich. Dieses Kriterium erfüllt die Bundesagentur ebenfalls nicht. Inhaltlich erfordern die Regelleistungen eine exekutive Vor-Ort-Präsenz auf. Diese war durch Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG nicht umsetzbar. Neben diesem örtlichen Bezug der Aufgabe fordert Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG einen zentralen Charakter der zu erfüllenden neuen Aufgabe. Die Regelleistungen konnten zwar als neu bezeichnet werden, für ihre Bundesexekutive bestand 2005 aber kein dringender Bedarf.
401
s. o. Kapitel 4 A. II. 1. b).
Kapitel 5
Kommunale Selbstverwaltung A. Kompetenzverteilung zwischen Staat und Kommunen Neben dem Bund und den Ländern treten auch die Kommunen als Trägerinnen eigener Verwaltungsaufgaben unter dem Grundgesetz bzw. den Landesverfassungen in Erscheinung. Staatsorganisatorisch und finanzverfassungsrechtlich sind sie den Ländern zugeordnet. Sie sind Teil der mittelbaren Staatsverwaltung. Im Unterschied aber zu den benannten Körperschaften im weiteren Sinne, mit welchen sich Art. 86 und 87 GG befassen, werden die Kommunen mit eigenen, d.h. mit ihnen originär zustehenden Verwaltungsaufgaben verfassungsrechtlich bedacht. Die kommunale Ebene tritt als dritte Verwaltungsebene bei der Frage nach der vertikalen Zuordnung von Exekutivaufgaben stets neben Bund und Ländern auf.1 Grundgesetz und Landesverfassungen kennen die Garantie kommunaler Selbstverwaltung.2 Das Grundgesetz sichert diese durch Art. 28 Abs. 2 GG. Aus der staatsrechtlichen Zuordnung der Kommunen zu den Ländern folgt eine gesteigerte Relevanz der landesverfassungsrechtlichen Vorschriften im Vergleich zu Art. 28 Abs. 2 GG. Aus jener Zuordnung wird teilweise auch versucht, die grundgesetzliche Garantie kommunaler Selbstverwaltung als reine Normativbestimmung zu lesen, ihr also keine eigenständige Bindungskraft gegenüber den landesverfassungsrechtlichen Gewalten zu verleihen.3 Diese Auffassung konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Nach überwiegender und zutreffender Ansicht ist in der kommunalen Selbstverwaltung des Grundgesetzes nach Art. 28 Abs. 2 GG eine Durchgriffsnorm zu sehen, 1 So auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, Art. 28 Rn. 95 mit Verweis auf Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 53, 59, 93. 2 Grundgesetzlich normiert in Art. 28 Abs. 2 GG; landesverfassungsrechtlich in Art. 83 Abs. 3 BayLV; Art. 97 Abs. 3 BbgLV; Art. 71 Abs. 3 BWLV; Art. 137 Abs. 6 HeLV; Art. 87 Abs. 3 LSALV; Art. 72 Abs. 3 MVLV; Art. 57 Abs. 4 NdsLV; Art. 78 Abs. 3 NRWLV; Art. 49 Abs. 5 RPLV; Art. 120 SaarlLV; Art. 85 SächsLV; Art. 49 Abs. 2 SHLV; Art. 93 Abs. 1 ThürLV. 3 Vgl. dazu und zu den Begriffen grds. Stern, Staatsrecht, Band 1, S. 705 f.; Schmidt-Aßmann/Schoch, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 22.
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Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
welche neben Exekutive, Judikative und Legislative des Bundes auch diejenigen der Länder unmittelbar bindet.4 Der durch Art. 28 Abs. 2 GG vorgegebene Schutzgehalt darf daher in den Ländern nicht unter-, freilich aber überschritten werden. In Ermangelung einer gesonderten Zuweisung einer Gesetzgebungskompetenz obliegt jene für das Kommunalrecht den Ländern. Der vorgegebene Standard kommunaler Selbstverwaltung nach dem GG kann unterschiedlich erreicht werden. So unterscheiden sich die landesverfassungsrechtlichen Umsetzungen bzw. Ausgestaltungen des Kommunalrechts durchaus nicht unwesentlich voneinander.5 Diese Vielfalt macht auch vor dem hier interessanten Bereich der Aufgabenverteilung und -ausgestaltung keineswegs halt. Das Ob und das Wie der Aufgabenwahrnehmung von Land und/oder Kommunen ist unterschiedlich geregelt, je nachdem ob das Land dem monistischen oder dem dualistischen Aufgabenmodell folgt.6 Beim dualistischen Modell7 unterscheiden sich Aufgaben in Selbstverwaltungsaufgaben und Auftragsangelegenheiten. Innerhalb dieser Zweiteilung werden wiederum Unterkategorien gebildet. So kann es innerhalb der Selbstverwaltungsaufgaben freiwillige oder pflichtige geben. Das monistische Modell8 geht von einer einheitlichen Aufgabenkategorie als Basis aus: den Selbstverwaltungsaufgaben. Innerhalb dieser wird zwischen freiwilligen und pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben und sog. Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung unterschieden. Letztere Kategorie ist partiell mit den Auftragsangelegenheiten und partiell mit den Selbstverwaltungsaufgaben aus dem dualistischen Modell vergleichbar. Bei den Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung besteht allerdings kein originäres Weisungsrecht des Landes, sondern nur, soweit es ihm einfachgesetzlich eingeräumt wird. Je nach Modell kann unterschiedlich beantwortet werden, ob der eine oder andere Aufgabentypus der Garantie kommunaler Selbstverwaltung unterfällt oder nicht und ob dies grund4
Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, Art. 28 Rn. 53 ff., 92 m. w. N. Ein Überblick findet sich bei Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, Rn. 116 ff.; Ipsen, Kommunalrecht, Rn. 196 ff.; Gern, Kommunalrecht, Rn. 40 ff. 6 Dazu v. Mutius, Kommunalrecht, Rn. 311 ff. 7 So in Bayern (Art. 10 Abs. 3; 11 Abs. 3 BayLV); Mecklenburg-Vorpommern (§§ 2, 3 MVKommVerf); Niedersachsen (Art. 57 Abs. 4 NdsLV; §§ 4, 5 NdsGO); Rheinland-Pfalz (Art. 49 Abs. 4 RPLV; § 2 RPGO); Saarland (Art. 120 SaarlLV; § 6 SaarlKSVG); Sachsen-Anhalt (Art. 87 LSALV; §§ 4, 5 LSAGO); Thüringen (Art. 91 ThürLV; §§ 2, 3 ThürGO). 8 Dieses basiert auf den §§ 3 Abs. 1; 110 Abs. 2 des Weinheimer Entwurfs einer Gemeindeordnung vom 3. Juli 1948; dazu Pagenkopf, Kommunalrecht, Band 1, S. 168. Angeschlossen haben sich diesem Modell Baden-Württemberg (Art. 75 Abs. 2 BWLV; § 2 BWGO); Brandenburg (§ 3 BbgGO); Hessen (Art. 137 Abs. 4 HessLV; § 4 HessGO); Nordrhein-Westfalen (Art. 78 NWLV; §§ 2, 3 NWGO); Sachsen (§ 2 SachsGO); Schleswig-Holstein (Art. 46 Abs. 4 SHLV; §§ 2, 3 SHGO). 5
A. Kompetenzverteilung zwischen Staat und Kommunen
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gesetzlich ebenso zu beantworten ist wie landesverfassungsrechtlich. Diese Frage ist insbesondere im Hinblick auf die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung umstritten.9 Ebenso können sich Unterschiede ergeben im Hinblick auf die konkrete Verteilung einer Aufgabe innerhalb der kommunalen Ebene auf die Verwaltungsträger (horizontal). Diese Fragen sind zumeist anhand des Landesverfassungsrechts und des Kommunalrechts zu beantworten. Art. 28 Abs. 2 GG legt hier das Fundament. Seine Vorgaben sind im Folgenden genauer darzulegen.
I. Die kommunale Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG Den Sätzen 1 und 2 des Art. 28 Abs. 2 GG einigermaßen klare und auch handhabbare Aussagen zu entnehmen, bemüht sich die Rechtswissenschaft seit Entstehung des Grundgesetzes. Der hier verbürgten Garantie kommunaler Selbstverwaltung jenes zu entlocken, wird bereits seit über 100 Jahren versucht. Dabei ist Vieles und zumeist Grundlegendes umstritten und zugleich schwer zusammenzubringen. Dennoch sind bedeutsame Erkenntnisfortschritte keineswegs ausgeblieben; in entscheidenden Fragen konnte ein recht breiter Konsens erzielt werden. Beginn der Debatte um Gehalt und Umfang kommunaler Selbstverwaltung ist bereits deren Entstehung. Während die zunehmenden Städtegründungen und deren bürgerschaftliche Verwaltung im Mittelalter bereits zumindest Teile des Fundaments legten,10 wird als Ausgangspunkt der (modernen) kommunalen Selbstverwaltung gemeinhin die Städteordnung von 1808 des Freiherrn Friedrich vom Stein ausgemacht.11 Hier wird der Begriff „Selbstverwaltung“ erstmals verwendet und vor allem mit Allzuständigkeit übersetzt, wenngleich ihre Inanspruchnahme weitgehender staatlicher Aufsicht unterstehen sollte und politische Partizipation nur einem Teil der Stadtbewohner zugestanden wurde.12 In der Folge wurde durch Rudolf von Gneist erstmals der Dualismus der Wirkungskreise benannt.13 Verfas9 Für Auftragsangelegenheiten Brohm, DÖV 1986, 397 (398); Viermeier, DVBl 1992, 413 (420); alle m. w. N.; für Selbstverwaltungsaufgaben OVG NRW, NWVBl 1995, 300 (301); BbgVerfG, NVwZ-RR 1997, 352. 10 Dazu oben Kapitel 2 A. 11 Heffer, Die Deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, S. 84 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte, Band 1, S. 172 ff.; Schwab, Selbstverwaltungsidee, S. 11 f. 12 Treffer, Der Staat 1996, 251 (255 ff.); v. Unruh, Preußen, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh/Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 2, S. 399 (417 ff.). 13 v. Gneist, Der Rechtsstaat, S. 139; ähnlich v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Band 2, S. 759.
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Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
sungsrechtliche Anerkennung aber blieb der kommunalen Selbstverwaltung (noch) verweigert. Dies geschah auch deshalb, weil mit der Paulskirchenverfassung eine Verfassung nicht in Kraft trat, welche erstmals in § 184 den Gemeinden Rechte „als Grundrechte ihrer Verfassungen“ garantieren wollte. Die Reichsverfassung von 1871 kannte eine vergleichbare Vorschrift nicht, so dass der Pluralismus unterschiedlicher Kommunalverfassungen fortbestand.14 Erst in der Weimarer Reichsverfassung fand sich schließlich in Art. 127 WRV das „Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze“ für „Gemeinden und Gemeindeverbände“.15 Systematisch verorteten die Verfassunggeber die kommunale Selbstverwaltung inmitten der Grundrechte, so dass die verbreitete Annahme, auch hierbei handele es sich um eine den Kommunen zustehende subjektive Rechtsposition, auf der Hand lag.16 Der umfangreiche gesetzgeberische Spielraum, welcher aus Art. 127 WRV folgte, drohte zum weitgehenden Leerlaufen der Garantie zu führen.17 Um hier entgegenzuwirken, leitete Carl Schmitt und ihm schließlich folgend die überwiegende Weimarer Staatsrechtslehre sowie der Staatsgerichtshof aus Art. 127 WRV einen institutionellen Gehalt ab, welcher hier äußerste Grenzen faktischer Aushöhlung setzte. Eine Abschaffung der Selbstverwaltung war demnach ebenso unzulässig, wie ihre derart weitgehende Reduzierung, „dass sie nur noch ein Scheindasein führen kann“18. Die grundrechtliche Position wurde um eine institutionelle, die subjektive um eine objektive ergänzt. Was zum Schutz kommunaler Selbstverwaltung hier dogmatisch konstruiert wurde, war das Ergebnis des Widerstands der Länder bei den Beratungen zur WRV gegen eine objektive Sicherung der kommunalen Selbstverwaltung auch gegenüber den Ländern, wie es der Entwurf Hugo Preuß’ vorsah.19 Trotz der Objektivierung des Gehalts der kommunalen Selbstverwaltung, bildete sich kein effektiver Schutz vor staatlichen Übergriffen heraus. Die zahlreichen Finanzreformen, insbesondere jene durch Karl August von Hardenberg schnürten den Kommunen immer stärker die ökonomische Luft ab und brachten den Verlust ihrer finanziellen und verwaltungsinfrastrukturellen Spielräume und insoweit ihrer Unabhängigkeit mit sich.20 14 Hoffmann, in: Mann/Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, S. 73 (76); Engeli/Haus, Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht, Nr. 16 ff., S. 15 ff. 15 Zur Dogmengeschichte ausführlich Kronisch, Aufgabenverlagerung, S. 74 ff. 16 Vgl. Gusy, WRV, S. 231 ff. 17 Thiel, Die Verwaltung 2002, 25 (52 ff.). 18 StGH RGZ 126, Anhang 14 (22 f.); vgl. auch Gusy, WRV, S. 232. 19 § 12 Nr. 3–6 Entwurf I u. II zur WRV vom 3. u. 20. Januar 1919. 20 s. o. Kapitel 2 D. II. Zur weitgehenden Bedeutungslosigkeit der kommunalen Selbstverwaltung im zentralistischen NS-Staat s. o. Kapitel 2 E.
A. Kompetenzverteilung zwischen Staat und Kommunen
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Im Herrenchiemsee-Entwurf tauchte die kommunale Selbstverwaltung nicht auf. Dies entsprach dem Wunsch der Länder nach weitgehender Autonomie in dieser Frage.21 Erst im Laufe der Beratungen im Zuständigkeitsausschuss diskutierten die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates über die Frage, ob und ggf. wie eine Bundesgarantie der kommunalen Selbstverwaltung aussehen könnte. Schon aufgrund der Verortung der Frage im Rahmen des Art. 28 GG kam von Beginn an eine Anlehnung an die grundrechtliche Schutzposition des Art. 127 WRV nicht in Betracht. Wie auch die meisten Landesverfassungen gestaltete der Parlamentarische Rat die kommunale Selbstverwaltung im Kern als institutionelle Garantie aus.22 Über die konkrete Formulierung wurde intensiv debattiert.23 Übereinstimmung herrschte bei der Frage nach dem Durchgriffscharakter der Vorschrift. Indem der Ausschuss, wie auch der Parlamentarische Rat insgesamt, die Zugriffskompetenz der Länder hinsichtlich der Kommunen anerkannte, war allen Beteiligten klar, dass eine bundesweite Regelung im Grundgesetz normative Kraft nur zu entfalten im Stande sein würde, wenn diese die Länder unmittelbar verpflichtete. Die Forderung des Deutschen Städtetages, vorgetragen in der Beratung von dem Abgeordneten Heinz Renner (KPD), nach einer finanziellen Sicherung der Kommunen im Art. 28 Abs. 2 GG, konnte sich indes nicht durchsetzen. Einigkeit bestand auch darin, dass an dem überkommenen Verständnis einer Allzuständigkeit der Gemeinden festgehalten werden sollte. Gleichzeitig aber schloss der Ausschuss die Gemeindeverbände frühzeitig in den Schutzgehalt der kommunalen Selbstverwaltung ein, ohne diesen aber eine ähnlich umfangreiche Gewährleistung zu Teil werden lassen zu wollen. Der Ausschuss vertrat die Auffassung, dass den Gemeindeverbänden, anders als den Gemeinden, keine originäre Aufgabenzuständigkeit zufallen sollte, sondern Aufgaben und Verantwortlichkeiten vom Gesetzgeber zugewiesen würden. Daher wurde eine Differenzierung zwischen Gemeinden und Gemeindeverbänden eingeführt. 1. Die Garantie gemeindlicher Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) Die Gemeinden sind Teil des Staates und stehen ihm nicht gegenüber. In Abkehr von der grundrechtlichen Ausgestaltung kommunaler Selbstverwal21 Wernicke/Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Band 5, S. 310; Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, Art. 28 Rn. 21 m. w. N. 22 Wernicke/Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Band 3, S. 414 f. 23 Hierzu und zum Folgenden JöR 1951, S. 253 ff.
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Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
tung hat dies nun auch unmittelbar systematischen Niederschlag gefunden.24 Die Gemeinden sind den Ländern zugeordnet und erfüllen mal stärker mal schwächer weisungsabhängig staatliche Aufgaben vor Ort. Sogar unmittelbar vom Bund wurden den Gemeinden in der Vergangenheit Aufgaben zur Erfüllung zugewiesen. Gleichzeitig aber befinden sich die Gemeinden zumindest partiell außerhalb des hierarchischen Staatsaufbaus. Sie weisen eigenständige demokratische Legitimationsstrukturen auf und arbeiten teilweise unabhängig von staatlicher Aufsicht. Diese dualistische Struktur kommunaler Betätigung beschreibt die sog. Wirkungskreislehre.25 Danach können die Tätigkeitsfelder der Gemeinden in den eigenen und den übertragenen Wirkungskreis unterteilt werden.26 Der eigene Wirkungskreis setzt sich aus den Aufgaben zusammen, welche die Gemeinde weitgehend frei und unabhängig von staatlicher Einmischung wahrnehmen kann bzw. muss. Das sind bspw. diejenigen Aufgaben, welche Substrat ihrer Allzuständigkeit sind, also ihrem Recht entspringen, sich der Aufgaben anzunehmen, welche in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln (freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben). Hier besteht für die Gemeinden die Möglichkeit, über das Ob und das Wie der Aufgabenwahrnehmung grds. selbstständig zu entscheiden.27 Das sind aber auch diejenigen Aufgaben, welche sich als örtliche zeigen, jedoch hinsichtlich des Ob verbindlich von den Gemeinden erfüllt werden müssen, nicht hingegen hinsichtlich des Wie (pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben). Der eigene Wirkungskreis der Gemeinden meint also die in Art. 28 Abs. 2 GG beschriebenen örtlichen Angelegenheiten. Für diese Aufgaben kommt den Gemeinden das Recht der Selbstverwaltung zu.28 Anderes hingegen gilt für den übertragenen Wirkungskreis. Hier nehmen die Gemeinden staatliche Aufgaben wahr. Sie tun dies für eine staatliche Ebene, nicht für sich selbst. Sie werden ähnlich einem Organ mit einer Aufgabe beliehen und haben diese grds. den Weisungen entsprechend wahrzunehmen. Die Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises sind demnach keine örtlichen, sondern staatliche Aufgaben, mithin dem Bestand von 24
Vgl. BVerfGE 73, 118 (191). Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 104 ff.; Dehmel, Übertragener Wirkungskreis, S. 25. 26 Jene tradierte Unterteilung sah sich früh dem Vorwurf ausgesetzt, sie widerspreche dem Gedanken eines einheitlichen Staatsbegriffs. Dazu Ledermann, Kommentar zur Städte-Ordnung, Erlass zu § 56 Nr. 1, S. 213. 27 Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 4, Art. 28 Abs. 2 Rn. 42 ff. (Oktober 1996). 28 Wohin Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung gehören ist umstritten, siehe dazu Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 158 ff. m. w. N. 25
A. Kompetenzverteilung zwischen Staat und Kommunen
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Bund oder Ländern zuzurechnen.29 Allein bestimmte Verantwortlichkeiten, regelmäßig jedenfalls die Erfüllungsverantwortung, werden den Kommunen übertragen. Verschiedene Kritik – namentlich von Joachim Burmeister30, Hans H. Dehmel31 oder Wolfgang Roters32 – an der Wirkungskreislehre konnte sich nicht durchsetzen.33 Vor allem Burmeister suchte das tradierte Konzept der kommunalen Selbstverwaltung am Gedanken des monistischen Aufgabenmodells theoretisch neu zu fundieren und betrachtete bereits den Schutzgehalt als alle Aufgaben der Kommunen umfassend, gleichgültig ob diese originär örtlich oder staatlich seien.34 Der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung beziehe sich auf den Verwaltungstypus und damit darauf, dass den Gemeinden bei der Erfüllung von Aufgaben, welche ihre Mitglieder berühren, ein Mindestmaß an Spielraum zu verbleiben habe. Eine Trennung widerspräche der Überwindung der Trennung von Staat und Gesellschaft.35 Diese Konzeption findet in dem „Weinheimer Entwurf“ einer deutschen Gemeindeordnung seinen Niederschlag.36 Dehmel erkennt zwar wohl die Wirkungskreise grds. an, bemühte sich aber um eine Neudeffinierung in Anerkennung zahlreicher Abgrenzungsprobleme.37 Roters wiederum schlug eine Bereichsabgrenzung der kommunalen Selbstverwaltung in regionale und überregionale Angelegenheiten vor, um die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Örtlichkeit zu umgehen.38 All die zahlreich unternommenen Versuche zeigen vor allem eins: die Schwierigkeiten einer Konturierung der kommunalen Selbstverwaltung. Die Unterteilung in Wirkungskreise ist historisch gewachsen, wurde auch vom Parlamentarischen Rat anerkannt und bei der Konzeptionierung der kommunalen Selbstverwaltung berücksichtigt.39 Sie ist auch nicht Ursache der Unklarheiten. Diese liegt vielmehr in der auf ihr basierenden Ausgestaltung. Gerade im Zusammenhang mit der Garantie kommunaler Selbstverwaltung sollte nicht jeder mühsam erzielte Konsens leichtfertig aufgegeben werden. Die Unterteilung in Wirkungskreise ist durchaus weiterführend. Sie schließt 29
Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 112 ff. Burmeister, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie. 31 Dehmel, Übertragener Wirkungskreis. 32 Roters, Kommunale Mitwirkung. 33 Bereits Hinkel, NVwZ 1985, 225 ff. 34 Burmeister, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie; dazu Erbel, Die Verwaltung 1978, 799 ff. 35 Burmeister, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie, S. 105 ff., 126 ff., 177 ff. 36 Der Weinheimer Entwurf ist abgedruckt bei Markull (Hrsg.), Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein vom 24. Januar 1950, S. 163 ff. 37 Dehmel, Übertragener Wirkungskreis, S. 25. 38 Roters, Kommunale Mitwirkung, S. 33. 39 JöR 1951, S. 251 ff. 30
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Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
originär staatliche Aufgaben aus dem Schutzgehalt kommunaler Selbstverwaltung weitgehend aus und erkennt so die unterschiedlichen Linien demokratischer Legitimation an. Die örtliche Gemeinschaft belohnt oder sanktioniert den örtlichen Verwaltungsträger für das Handeln, für welches er originär verantwortlich zeichnet; welches er im Ob, jedenfalls aber im Wie wesentlich beeinflusst. Die staatlichen Angelegenheiten, für welche die Gemeinden nur ausführendes und weitgehend willenloses Organ sind, erfahren ihre demokratische Legitimation auf staatlicher Seite und die Protagonisten der staatlichen Ebenen haben sich hier den Wahlen und Abstimmungen zu stellen.40 War die Unterscheidung der Wirkungskreise ursprünglich ein Substrat der Trennung von Staat und Gesellschaft, der monarchisch-bürokratischen Staatskontrolle und des bürgerlichen Selbstbestimmungsstrebens der Städte und mag sich dieses theoretisch-dogmatische Fundament im Laufe der Zeit verflüchtigt haben, so ist ein neues an die Stelle getreten und wird vor allem durch demokratietheoretische Erwägungen fundiert.41 Das auch der Parlamentarische Rat von einem unterscheidbaren Wirkungskreismodell ausging, zeigt sich im Wortlaut des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG unmittelbar. Hier sind eben nur die örtlichen Angelegenheiten geschützt. Wollte man einen einheitlichen Wirkungskreis zugrunde legen, der erst einmal alle Aufgaben der Gemeinden in den Schutzbereich kommunaler Selbstverwaltung mit einbezieht, müsste erklärt werden, welche inhaltlichen Aussagen dem Tatbestandsmerkmal der örtlichen Angelegenheiten dann noch entnommen werden können.42 Die Aufteilung in Wirkungskreise verlangt nun aber bereits auf Schutzgehaltsebene die Differenzierung der verschiedenen Aufgaben zumindest in originär örtliche oder staatliche. Damit gelangt die Aufgabenverteilung zwischen den Verwaltungsebenen in den Fokus. a) Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft als materieller Bezugsrahmen Bislang wurden entsprechend auch der landesrechtlichen Vorschriften und weiter Teile des Schrifttums, die Begriffe „Angelegenheit“ und „Aufgabe“ gleichbedeutend verwendet. Im Ergebnis ist dies auch weitgehend möglich. Dennoch ist der Formulierungsunterschied offenzulegen und zu erklären. Art. 28 Abs. 2 GG befasst sich mit der Garantie kommunaler Selbstverwaltung, also mit Exekutivkompetenzen. Die Gemeinden üben auf ihrem Gebiet weder selbstständig Rechtsprechung aus, noch sind sie Gesetzgeber. 40 41 42
Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 122 ff. Kronisch, Aufgabenverlagerung, S. 119 f. So auch Kronisch, Aufgabenverlagerung, S. 116 m. w. N.
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Daher geht es um Verwaltungsaufgaben.43 So hätte der Parlamentarische Rat auch statt „Angelegenheiten“ „Aufgaben“ oder sogar „Verwaltungsaufgaben“ verwenden können. Allerdings war auch dem Parlamentarischen Rat die Debatte um Umfang und Auslegung kommunaler Selbstverwaltung bewusst, so dass es nicht verwundert, dass er sich hier für einen möglichst allgemeinen Begriff entschieden hat. Der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, welcher ohnehin in seiner Substanz schon in der WRV überschaubar war, wurde nicht vollends preisgegeben, indem also ein Begriff gewählt wurde, welcher auf Tatbestandsebene einen breit gefassten Rahmen bildete.44 Insofern sind Exekutivaufgaben und Angelegenheiten tatsächlich weitgehend identisch. Im Unterschied zu dem Aufgabenbegriff aus Art. 87 GG umfasst der Begriff Angelegenheiten außerdem nicht nur den Bereich der gesetzgeberisch formierten Exekutivaufgaben (pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben), sondern gerade auch solche, welche von der Gemeinde grds. frei und eigenständig zugeschnitten werden können (freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben).45 Entscheidend aber ist, dass die Angelegenheiten solche der örtlichen Gemeinschaft sind. Nur dann fallen sie überhaupt unter den Schutz des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Gerade das Merkmal der Örtlichkeit aber ist es, welches so schwierig zu bestimmen ist. Umstritten ist bereits, ob eine nähere Bestimmung der Örtlichkeit überhaupt notwendig ist. Hier taucht die Kritik an der Wirkungskreislehre entsprechend wieder auf. Denn wer wie Burmeister alle Aufgaben einheitlich betrachtet, definiert örtlich eher formal als alle Angelegenheiten, welche von Gemeinden in eigenem Namen vor Ort wahrgenommen werden.46 So bedarf es in Burmeisters Konzept keiner positiven Definition der Örtlichkeit im Rahmen von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Er hält eine generell-abstrakte Beschreibung auch nicht für möglich47 und steht damit keineswegs allein.48 Hält man jedoch an der Wirkungskreislehre fest, kommt man nicht umhin den Begriff der Örtlichkeit in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG näher zu bestimmen. Denn zum eigenen Wirkungskreis gehören und haben jene Aufgaben zu gehören, welche einen örtlichen Charakter aufweisen. Dass sich die Gemeinden 43
s. o. Kapitel 1 A. II. Vgl. Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 131. 45 Nicht zu verwechseln mit gesetzesfreier Verwaltung, welche als Aufgabe durchaus gesetzlich geformt ist, nur nicht mit dem Vollzug von Gesetzen befasst ist. 46 Burmeister, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie, S. 70 ff. 47 Burmeister, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie, S. 25. 48 Ebenfalls kritisch äußerten sich bspw. Pappermann, DÖV 1975, 181 ff.; Roters, Kommunale Mitwirkung; ders. in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 41 ff. 44
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auf ihr Selbstverwaltungsrecht nur bzgl. der örtlichen Aufgaben berufen können, dient zunächst der Abgrenzung von Kompetenzbereichen anderer, genauer der staatlichen Ebenen und „der allgemeinen Politik“49. Den Gemeinden ist es insoweit nicht gestattet in den originären Kompetenzbereich staatlicher Ebenen einzufallen. Sie sind eben auf örtliche Angelegenheit beschränkt. Nach dem BVerfG „sind Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, den Gemeindebewohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der (politischen) Gemeinde betreffen.“50 Trotz ihrer relativen Offenheit und Allgemeinheit grenzt die Definition immerhin allgemein-politische und originär staatliche Aufgaben aus. Wenn das BVerfG weiter formuliert, Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG wolle „bezüglich der gemeindlichen Aufgaben nicht über den herkömmlich gesicherten Bestand hinausgehen“51, wird außerdem deutlich, dass der historischen Perspektive eine durchaus entscheidende Rolle beizumessen ist. Ob eine Aufgabe in der örtlichen Gemeinschaft wurzelt, ist also auch und besonders historisch zu beurteilen. Dabei stellt das BVerfG aber sogleich klar, dass der Aufgabenkreis der Gemeinden nicht in dem historischen Verständnis des Parlamentarischen Rates eingefroren ist, mithin „diese Angelegenheiten keinen ein für allemal feststehenden Aufgabenkreis bilden.“52 Einst örtliche Aufgaben können sich im Laufe der Zeit zu überörtlichen oder staatlichen Aufgaben entwickeln. Ebenso ist zumindest denkbar, dass originär staatliche Aufgaben wieder oder erstmals örtliche werden. Ein starres Regime ist hier weder angelegt noch angestrebt. Eine ausgeprägte Wandlungsoffenheit und Flexibilität des gemeindlichen Aufgabenkreises entspricht bereits dem Gewährleistungscharakter der kommunalen Selbstverwaltung unter dem Grundgesetz.53 Die Entörtlichung einer Aufgabe tritt außerdem nicht dadurch ein, dass der Gesetzgeber sie staatlichen Verwaltungsträgern zuweist. Es obliegt nicht der Kompetenz des einfachen Gesetzgebers, durch jene Zuordnung den verfassungsrechtlichen Schutz der Gemeinden von vornherein auszuschließen.54 Der Entzug von Aufgaben durch die Verlage49
BVerfGE 79, 127 (151). BVerfGE 79, 127 (151 f.). 51 BVerfGE 79, 127 (145). 52 BVerfGE 79, 127 (151). 53 Vgl. Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 4, Art. 28 Abs. 2 Rn. 61 ff. (Oktober 1996). 54 Genauso wenig steht es den staatlichen Ebenen zu, Selbstverwaltungsaufgaben frei auszuweisen. Die Zuweisung ist – je nach Charakter der Aufgaben – verfassungsunmittelbar vorgegeben und wird durch einfaches Gesetz allenfalls nachvollzogen. 50
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rung auf eine staatliche Ebene wäre für die Gemeinden ansonsten nicht justiziabel, da bereits der Anwendungsbereich des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht eröffnet wäre.55 Vielmehr geht es hierbei um die Frage, ob eine Aufgabe trotz ihres örtlichen Bezugs durch staatliche Verwaltungsträger erfüllt werden darf. Mit der Bestimmung des Charakters einer Aufgabe als örtlich hat dies hingegen zunächst nichts zu tun. Dementsprechend weit muss der Begriff ausgelegt werden. Dass sich eine Aufgabe, welche einst örtlich war von diesen Wurzeln vollständig löst, wird eher die Ausnahme bleiben. Regelmäßig wird zunächst das Maß an überörtlicher Relevanz steigen und eine Aufgabe in diesem Sinne zunehmend ihren Schwerpunkt verlagern. Wie gezeigt, spielt die historische Perspektive bei jener Bestimmung eine entscheidende Rolle. Zu fragen ist, ob die konkret in Rede stehende Aufgabe ihre historischen Wurzeln in der örtlichen Gemeinschaft findet und diese vom Parlamentarischen Rat vorgefunden wurde oder er diese hätte vorfinden können und sie sich seither fortentwickelt hat. Völlig zu Recht überfrachtet das BVerfG den Begriff nicht mit Anforderungen. Die Örtlichkeit einer Aufgabe eröffnet lediglich den Anwendungsbereich der kommunalen Selbstverwaltung, formt diesen aber nicht bereits aus. Ob eine Aufgabe auch tatsächlich, angesichts der Verwaltungskraft einzelner Gemeinden oder auch der Durchschnittsgemeinde überhaupt örtlich wahrgenommen werden kann, ist eine Sekundärfrage.56 Der örtliche Bezug einer Aufgabe wird durch inhaltliche Kriterien bestimmt und nicht durch verwaltungsökonomische oder im weiteren Sinne infrastrukturelle Gegebenheiten. Insofern kann sich rein tatsächlich eine Angelegenheit für die eine Gemeinde als örtlich, für die andere als überörtlich zu regelnde und regelbare darstellen, abhängig von Einwohnerzahl, Fläche, sozialer Struktur, Wirtschaftskraft usw.57 Zwingende Rückschlüsse auf die Örtlichkeit einer Angelegenheit im Sinne des Art. 28 Abs. 2 GG lässt dies aber nicht zu, denn durch zahlreiche Kooperationsmöglichkeiten der Kommunen untereinander können Defizite wirksam ausgeglichen werden. Diese Möglichkeiten müssen den Kommunen zumindest eröffnet werden, steht ihnen doch grds. das „Recht des ersten Zugriffs“ zu.58 Außerdem ändern sich die Rahmenbedingungen gemeindlicher Betätigung ständig. Nicht nur unterliegen sie den allgemeinen wirtschaftlichen Schwankungen. Der Spielraum für Aufgabenerfüllungen ist stark von der Aufgabenlast insgesamt abhängig und unterliegt damit staatlichem Einfluss. Der Gesetzgeber 55 So auch Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 142 f.; vgl. BVerfGE 79, 127 (157 ff.). 56 BVerfGE 79, 127 (151). 57 BVerfGE 79, 127 (151); Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 132 f. 58 Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 135; vgl. hierzu Struve, EuZW 2009, 805 ff.
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könnte so Fakten schaffen, welche mittelbar zum Ausschluss kommunaler Selbstverwaltung führen würden. Die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung als historisch gewachsenes Korrektiv zum Zentralstaat würde ad absurdum geführt.59 Die Leistungsfähigkeit und Verwaltungskraft ist also kein taugliches Merkmal zur Bestimmung der Örtlichkeit einer Aufgabe. Sie mag relevant werden, wenn es um die konkrete Verteilung der Aufgabe im kommunalen Bereich (zwischen Gemeinden und Gemeindeverbänden) geht oder um Fragen der Rechtfertigung staatlicher Eingriffe. An der Örtlichkeit einer Aufgabe vermögen die konkreten ökonomischen Rahmenbedingungen hingegen nichts zu ändern.60 Erst dann also, wenn die Aufgabe insgesamt betrachtet ihren (wenn überhaupt einmal vorhandenen) örtlichen Charakter verloren hat, insofern also herausgewachsen ist und vernünftigerweise von den Gemeinden nicht (mehr) wahrgenommen werden kann, kann der Anwendungsbereich des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG von vornherein als geschlossen betrachtet werden. Hierbei handelt es sich dann um staatliche Aufgaben, welche jeden relevanten Bezug zur örtlichen Ebene vermissen lassen. Insoweit gilt für den materiellen Bezugsrahmen der kommunalen Selbstverwaltung – den örtlichen Angelegenheiten – nichts anderes, als für Kompetenznormen im Allgemeinen.61 Auch diesbezüglich lassen sich systematische Konkretisierungen vornehmen. Das Grundgesetz selbst deklariert Verwaltungsaufgaben als staatliche. Das gilt vor allem im Bereich der obligatorischen Bundesverwaltung. Dabei handelt es sich regelmäßig um Aufgaben, die staatliche sind oder zu solchen wurden. Bei ihnen kann es sich aber auch um örtliche Angelegenheiten handeln, welche per verfassungsrechtlicher Deklaration zu staatlichen Verwaltungsaufgaben gemacht wurden. Diese Verwaltungsaufgaben fallen nicht mehr in den Schutzgehalt der kommunalen Selbstverwaltung. Somit bestimmt sich dieser auch ganz wesentlich in Abgrenzung zu staatlichen Kompetenzbereichen. Im Bereich der fakultativen Bundesverwaltung, insbesondere im Zusammenhang mit Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG, beeinflusst die kommunale Selbstverwaltung ihrerseits systematisch bereits die Auslegung. Der so ermittelte Kompetenzbereich des Bundes reduziert u. U. wiederum den Aufgabenbestand, welcher vom Schutzgehalt kommunaler Selbstverwaltung umfasst ist. 59 Vgl. BVerfGE 79, 127 (149 f.); Loschelder, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie, S. 28 ff.; Stern, Staatsrecht, Band 1, S. 399 ff. 60 Vgl. BVerfGE 79, 127 (151); auch das BVerfG meint „auf die Verwaltungskraft der Gemeinde kommt es hierfür nicht an“ und bezieht diese Aussage auf die Bestimmung der Örtlichkeit einer Aufgabe. Nicht hingegen finden sich in der RastedeEntscheidung ähnliche Erwägungen bei der Frage der Rechtfertigung der Aufgabenverlagerung. 61 Dazu oben Kapitel 1.
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b) Gewährleistungsgehalt gemeindlicher Selbstverwaltung Eine in diesem Sinne örtliche Angelegenheit fällt in den Anwendungsbereich der Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Der sich sodann entfaltende Schutzbereich umfasst nach Klaus Stern drei Garantieebenen:62 – die institutionelle Rechtssubjektsgarantie, – die objektive Rechtsinstitutionsgarantie und – die subjektive Rechtsstellungsgarantie. Diese Dreiteilung wird in der Literatur weitgehend übernommen. Kritik äußert sich allenfalls an ihrer konkreten Ausgestaltung. Unzweifelhaft ist auch, dass die objektive Rechtsinstitutionsgarantie die zentrale und gleichsam wichtigste der drei Ebenen bildet.63 Dem entspricht die folgende Darstellung. aa) Subjektive Rechtsstellungsgarantie Bei der kommunalen Selbstverwaltung handelt es sich nicht (mehr) um ein Grundrecht. Dennoch hat sich der Grundgesetzgeber dazu entschlossen, den Gemeinden eine justiziable subjektive Rechtsposition einzuräumen. Im Wortlaut des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG kann dies an dem Begriff „Recht“ festgemacht werden. Demnach dient die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung etwa als subjektives Recht nach § 42 Abs. 2 VwGO.64 Beeinträchtigungen der institutionellen Rechtssubjektsgarantie und der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie können gerichtlich gerügt und ggf. abgewehrt werden. Hier kann die kommunale Selbstverwaltung ebenso als Abwehranspruch wie als Anspruchsgrundlage zur Geltung gebracht werden. Hinsichtlich des übertragenen Wirkungskreises ist zu unterscheiden. Die Gemeinden können gerichtlich rügen, dass ihnen eine Aufgabe als Selbstverwaltungsaufgabe zusteht und diesem Charakter nicht entsprochen wurde. Wehren sie sich aber nicht gegen die falsche Etikettierung und erkennen so an, dass es sich bei der fraglichen Angelegenheit (auch trotz eines örtlichen Bezugs) nicht um eine Selbstverwaltungsaufgabe handelt, können sie sich bspw. gegen Weisungen im Wege der Fachaufsicht grds. nicht mit dem Hinweis auf die kommunale Selbstverwaltung zur Wehr setzen.65 62
Stern, Staatsrecht, Band 1, S. 409. Dazu Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 99, 110 ff. 64 Ob Art. 19 Abs. 4 GG eine darüber hinausgehende Bedeutung in diesem Zusammenhang zukommt, ist umstritten. Dazu mit umfangreichen Nachweisen Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 103 (Fn. 460). 65 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 104. 63
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Abwehrrechte und Ansprüche können sich für die Gemeinden aus ganz unterschiedlichen Umständen ergeben. Das hängt auch ganz wesentlich vom jeweiligen Gegenüber ab. Klagegegner können nicht nur die Länder oder der Bund sein, sondern auch andere Gemeinden oder Gemeindeverbände.66 Neben den „klassischen“ Streitfragen einer Aufgabenzuweisung oder eines Aufgabenentzugs, können auch Berücksichtigungspflichten in Planungsverfahren oder gemeindefreundliches Verhalten Gegenstand kommunalen Rechtsschutzes sein. Je nachdem, wer der Gemeinde im konkreten Verfahren gegenüber steht, entscheidet sich auch die konkrete Verfahrensart. So kommen regelmäßig entweder die im Bundes- und Landesverfassungsrecht verankerte Kommunalverfassungsbeschwerde, wobei ihr konkreter Rechtscharakter umstritten ist,67 oder auch verwaltungsgerichtliche Klagen in Betracht, bei denen Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG die Klagebefugnis verleiht. Zwischen den Kommunalverfassungsbeschwerden nach Landes- oder Bundesverfassungsrecht besteht Vorrang der erstgenannten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG. Auf die zahlreichen landesverfassungsrechtlichen Besonderheiten wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen. Zur prozessualen Klarheit bzgl. der Rechtswege tragen sie allerdings vielfach nicht gerade bei.68 bb) Institutionelle Rechtssubjektsgarantie Garantiert ist durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zunächst die Existenz einer dezentralen gemeindlichen Verwaltungsebene. Gesichert ist also der Bestand von Gemeinden im Aufbau der Verwaltungsorganisation in der Bundesrepublik.69 Der Gesetzgeber ist demnach nicht befugt, alle Gemeinden abzuschaffen. Darüber hinaus sind sie aber nicht bloß hinsichtlich des Ob institutionell geschützt, sondern auch hinsichtlich des Wie. Gemeinden sind als Körperschaften zu organisieren und können nicht durch andere, vor allem durch Unselbstständigkeit geprägte Trägerformen ersetzt werden. Auch hierauf bezieht sich der institutionelle Schutz.70 Ob hieran anknüpfend weitere 66
Grundlegend BVerfGE 79, 127. Entweder handelt es sich hierbei um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde oder um eine abstrakte Normenkontrolle mit modifiziertem Antragsrecht, dazu Rennert, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 28 Rn. 82 f. 68 So auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 108 f., der einige Problemfelder benennt und hierzu vertiefende Hinweise gibt. 69 Stern, Staatsrecht, Band 1, S. 410 ff.; N. Hermes, Maßstab und Grenzen der Übertragung staatlicher Aufgaben auf die Gemeinden und Landkreise, S. 86; Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 100 m. w. N. 70 Hier wird die Auffassung vertreten, dass dies durchaus bereits Elemente inhaltlicher Ausprägung (Ob) aufweist und nicht nur das Ob betreffen. Teilweise wird die 67
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inhaltliche Anforderungen der institutionellen Rechtssubjektsgarantie entnommen werden können, ist umstritten. Dies bezieht sich vor allem auf das Eigenordnungsrecht, die Gebietshoheit oder das Namensrecht.71 Hierbei handelt es sich indes lediglich um Fragen der konkreten Zuordnung zu einer der drei Ebenen kommunaler Selbstverwaltung. Unstreitig hingegen ist, dass diese jedenfalls geschützt sind. Eindeutig ist auch, dass institutioneller Schutz kein individueller Schutz ist. Das bedeutet, dass nicht die einzelne Gemeinde in ihrem Bestand geschützt ist, sondern die Gemeindengesamtheit. Gebietsänderungen, Zusammenlegung von Gemeinden und vergleichbare Maßnahmen sind also grds. soweit zulässig, wie es nicht die Einrichtung der gemeindlichen Ebene insgesamt betrifft.72 Solche Einschnitte in die gemeindliche Struktur sind allerdings nicht ohne weiteres und beliebig möglich, sondern unterliegen zahlreichen Voraussetzungen.73 Ist eine Gemeinde von solchen Maßnahmen betroffen, kann sie auf die Einhaltung der Voraussetzungen drängen und diese gegebenenfalls gerichtlich durchsetzen. Insofern entfaltet die institutionelle Rechtssubjektsgarantie auch individuelle Wirkung. Diesbezüglich wird von einer beschränkt-individuellen Rechtssubjektsgarantie gesprochen.74 cc) Objektive Rechtsinstitutionsgarantie Materieller Dreh- und Angelpunkt der Garantie kommunaler Selbstverwaltung ist die objektive Rechtsinstitutionsgarantie. Sie fasst unterschiedliche Elemente unter einem Dach zusammen, die das Bild der kommunalen Selbstverwaltung prägen und bildet zumeist den Maßstab für staatliche Eingriffe. Zum einen ist, wie bereits oben angedeutet,75 die Allzuständigkeit der Gemeinden hinsichtlich der örtlichen Angelegenheiten geschützt. Zum anderen deren Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich der Wahrnehmung von Aufgaben ihres Kompetenzbereichs. Auch hier kann wieder zwischen dem geschützten Frage der Rechtsform dennoch dem Ob zugeordnet. Im Ergebnis jedenfalls ist der Befund unstreitig, dazu Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 4, Art. 28 Rn. 54 (November 1997); Stern, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK GG, Band 6, Art. 28 Rn. 82 (Dezember 1964); Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 100 m. w. N. 71 N. Hermes, Maßstab und Grenzen der Übertragung staatlicher Aufgaben auf die Gemeinden und Landkreise, S. 86; Schoch, Jura 2001, 121 (124 f.). 72 BVerfGE 103, 332 (366). 73 Dazu Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 131 ff. 74 N. Hermes, Maßstab und Grenzen der Übertragung staatlicher Aufgaben auf die Gemeinden und Landkreise, S. 86; Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 28 Rn. 26 f. m. w. N. 75 s. o. Kapitel 4 B. II.
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Ob einer Aufgabenwahrnehmung und dessen Wie unterschieden werden. Sowohl die Allzuständigkeit wie auch die Eigenverantwortlichkeit aber sind den Gemeinden lediglich „im Rahmen der Gesetze“ gewährleistet. Als Gesetze sind hier formelle Bundes- und Landesgesetze sowie Rechtsverordnungen gemeint, welche den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügen.76 Dem Gesetzgeber kommt demnach eine entscheidende und für institutionelle Garantien typische verfassungsrechtliche Bedeutung bei der konkreten Ausformung der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie und damit der kommunalen Selbstverwaltung insgesamt zu.77 Der Gesetzgeber ist bei jener Einflussnahme, soweit herrscht Einigkeit in Literatur und Rechtsprechung, wiederum nicht völlig frei.78 Je nachdem aber, welchen Rechtscharakter man der kommunalen Selbstverwaltung zuschreibt, kommt man hier jedenfalls zu nominellen Unterschieden. Betrachtet man die kommunale Selbstverwaltung bspw. weiterhin als subjektive grundrechtsähnliche Rechtsposition, kommt man schnell dazu, die Dogmatik der Schranken-Schranken, insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, auf den Gesetzes- bzw. Ausgestaltungsvorbehalt des Art 28 Abs. 2 GG zu übertragen.79 Im Ansatz aber verkennt diese Auffassung bereits, dass sich die kommunale Selbstverwaltung, vielleicht entgegen ihrer historischen Wurzeln, als Bestandteil des Staates präsentiert.80 Das Grundgesetz begreift die Gemeinden als Staatsverwaltung im weiteren Sinne. Grundrechtlichen Schutz gibt es aber nicht innerhalb des Staatsaufbaus. Art. 28 Abs. 2 GG ist dem II. (Bund und Länder) nicht dem I. (Grundrechte) Abschnitt des Grundgesetzes zugeordnet. Die Berufung auf seinen Schutzgehalt ist also nicht die Geltendmachung von Grundrechten, sondern diejenige staatlichen Innenrechts. Insoweit geht auch der Hinweis auf andere Selbstverwaltungskörperschaften fehl, die sich unter Umständen auf Grundrechtspositionen berufen können,81 denn diese machen eben auch tatsäch76
BVerfGE 26, 228 (237); 56, 298 (309); 71, 25 (34); Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 140 f.; Schmidt-Aßmann, Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, in: Badura (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, Band 2, S. 803 (818); Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 118. 77 Zu der teilweise umstrittenen Frage, ob es sich bei Art. 28 Abs. 2 GG um eine institutionelle Garantie handelt oder etwa um ein subjektives Recht oder gar um eine Mischform, zusammenfassend Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 23 ff. 78 Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 27 ff. 79 Ipsen, ZG 1994, 194 (209 ff.); Maurer, DVBl 1995, 1037 (1045 f.). 80 Stüer, Funktionalreform, S. 8 ff.; Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 28 Rn. 32 ff. 81 Zu Universitäten und Rundfunkanstalten im Rahmen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage Ipsen, ZG 1994, 194 (211 f.).
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lich Grundrechte geltend. Auch treten die Gemeinden nicht als „Sachwalter des Einzelnen bei der Wahrnehmung seiner Grundrechte“82 in Erscheinung. Die Gemeinden machen über Art. 28 Abs. 2 GG eigene Rechtspositionen geltend und nicht diejenigen ihrer Einwohner. Insoweit können die Grundrechtslehren und somit auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht unbesehen auf Art. 28 Abs. 2 GG übertragen werden. Andernfalls könnte man den Besonderheiten der kommunalen Selbstverwaltung auch nur noch in engen Grenzen Rechnung tragen und unterzieht sie ohne Not massiver Inflexibilität. So sind eigene Grenzen des gesetzgeberischen Spielraums bei der Ausformung der kommunalen Selbstverwaltung zu entwickeln, welche sich am institutionellen Rechtscharakter des Art. 28 Abs. 2 GG zu orientieren haben, wenngleich diese auch vielfach der Sache nach jene des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sein mögen. Welche das im Einzelnen sind, ist anhand des jeweiligen Garantiegehalts zu beschreiben und zu konkretisieren. Gemein ist dem Schutz der Allzuständigkeit wie auch demjenigen der Eigenverantwortlichkeit, dass jeweils Kern- und Randbereich zu unterscheiden sind. Wenngleich dogmatische Fundierung, konkrete Ausgestaltung und terminologische Fassung variieren, ist im Grundsatz die Unterteilung zumindest auf gemeindlicher Ebene weitgehend anerkannt.83 Der Kernbereich ist danach – jedenfalls der Idee nach – absolut geschützt und Eingriffen des Gesetzgebers versperrt. Der Randbereich hingegen ist geprägt von umfangreichen gesetzgeberischen Ausgestaltungs-, Typisierungs- und Pauschalierungskompetenzen. Im Einzelnen stellt sich das wie folgt dar. (1) Allzuständigkeit der Gemeinden Kernelement der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie – wie der kommunalen Selbstverwaltung insgesamt – ist die Allzuständigkeit (auch Universalität) der Gemeinden. Ist eine Aufgabe nach den oben aufgezeigten Kriterien eine solche der örtlichen Gemeinschaft, fällt sie (prinzipiell) in den Kompetenzbereich der Gemeinden. Ihnen obliegt primär das Zugriffsrecht.84 Ein Katalog örtlicher Aufgaben existiert nicht und ist auch nicht 82
Vgl. BVerfGE 61, 82 (103). Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, Rn. 517 ff.; Schmidt-Aßmann, Kommunale Selbstverwaltung „nach Rastede“, in: Franßen/Redeker (Hrsg.), FS Sendler, S. 121 (134 f.); Blümel, Wesensgehalt und Schranken des kommunalen Selbstverwaltungsrechts, in: v. Mutius (Hrsg.), FG v. Unruh, S. 265 (269); Hufen, Aufgabenentzug und Aufgabenüberlastung in: Wolff/Schwarting (Hrsg.), 50 Jahre Städtetag Rheinland-Pfalz, S. 149 (163); alle m. w. N. 84 BVerfGE 79, 127 (146). 83
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konstruierbar. Der gegenwärtige öffentliche Aufgabenbestand unterliegt Veränderungen und kann so nicht ein für alle Mal in örtliche und staatliche Aufgaben unterteilt werden. Gleichzeitig steht den Gemeinden das Zugriffsrecht auf alle örtlichen Angelegenheiten zu, die vom Gesetzgeber nicht anderweitig zugewiesen wurden. Demnach bedeutet Allzuständigkeit den prinzipiellen Vorrang dezentraler (i. S. v. gemeindlicher) Wahrnehmung aller örtlichen Angelegenheiten (Aufgabenverteilungsprinzip).85 Absolut geschützter Kernbereich der Allzuständigkeit ist die Aufrechterhaltung des Prinzips an sich. So wenig wie eine konkrete Aufgabe quasi eingefroren für alle Zeit örtlich genannt werden kann, so wenig fällt eine konkrete Aufgabe in den Kernbereich der Allzuständigkeit. Dementsprechend ist auch die, an die einzelne Aufgabe anknüpfende Subtraktionsmethode des BVerwG nicht tragfähig und wird dementsprechend mittlerweile nicht mehr vertreten.86 Erst wenn der Vorrang dezentraler Aufgabenträgerschaft selbst angegriffen ist, setzt der absolute Kernbereichsschutz ein. Ansonsten wirkt das Aufgabenverteilungsprinzip im Randbereich ähnlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und beinhaltet zumindest auch Wesensmerkmale eines Subsidiaritätsgrundsatzes.87 Der Gesetzgeber hat bei Eingriffen in die Verteilung öffentlicher Aufgabenwahrnehmung das Aufgabenverteilungsprinzip „zu berücksichtigen“, ihm möglichst weitgehende Entfaltung zukommen zu lassen.88 Eine Abweichung ist daher nicht bereits durch jeden sachlichen Grund möglich. Zwar wird dem Gesetzgeber eine umfangreiche Gestaltungs-, Typisierungs-, Pauschalierungs- und Einschätzungsbefugnis im Rahmen des ausdrücklichen Gesetzesvorbehalts zuerkannt, welche nur auf ihre vertretbare Wahrnehmung hin gerichtlich überprüfbar ist.89 Doch sind nur solche Erwägungen berücksichtigungsfähig, die aufzeigen, dass „anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre. Demgegenüber scheidet das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung 85 BVerfGE 79, 127 (135 ff.); diejenigen Landesverfassungen, die dem Weinheimer-Modell folgten, gehen hierüber hinaus und weisen den Gemeinden sämtliche öffentliche Verwaltung auf ihrem Gebiet zu; namentlich sind dies Art. 71 Abs. 1 BWLV; Art. 137 Abs. 1 HessLV; Art. 57 Abs. 3 NdsLV; Art. 78 Abs. 2 NWLV; Art. 49 Abs. 1 RPLV; Art. 84 Abs. 1 Satz 1 SächLV; Art. 87 Abs. 2 Satz 1 LSALV; Art. 46 Abs. 1 SHLV. 86 BVerwGE 6, 19 (24); 6, 342 (345 f.); ablehnend insbesondere BVerfGE 79, 127 (148). 87 Vgl. BVerfGE 79, 127 (150), wo zwar der Begriff vermieden wird, aber im Kern die Elemente der Verhältnismäßigkeit und auch der Subsidiarität auftauchen. Früher deutlicher BVerfGE 56, 298 (313 ff.); auch später wieder BVerfGE 86, 90, (109); 103, 332 (366); Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 29 ff. 88 BVerfGE 79, 127 (150). 89 BVerfGE 79, 127 (152).
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oder der Zuständigkeitskonzentration – etwa im Interesse der Übersichtlichkeit der öffentlichen Verwaltung – als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus; denn dies zielte ausschließlich auf die Beseitigung eines Umstandes, der gerade durch die vom Grundgesetz gewollte dezentrale Aufgabenansiedlung bedingt wird.“ „Auch Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung insgesamt rechtfertigen“90 eine Abweichung vom Aufgabenverteilungsprinzip nicht. Geeignet wiederum eine nicht-gemeindliche Wahrnehmung örtlicher Aufgaben zu rechtfertigen sind Gründe des Allgemeinwohls.91 Nur dann, wenn auch im Randbereich dem Gesetzgeber nicht jeder Eingriff gestattet wird, insoweit „SchrankenSchranken“ gesetzt werden, kann vermieden werden, dass der Gesetzesvorbehalt zur „Achillesferse“92 der kommunalen Selbstverwaltung wird. Hieran wird deutlich, dass das Aufgabenverteilungsprinzip vor allem Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufgreift, das BVerfG diese aber völlig zu Recht nicht als solche bezeichnet, um nicht den Anschein zu erwecken, der grundrechtlichen Dogmatik zu folgen. Letztlich wird es darum gehen, dem Gesetzgeber die Begründungslast dafür aufzuerlegen deutlich zu machen, dass er der Struktur der konkreten Aufgabe gerecht geworden ist. Eine konkrete Aufgabe kann sich aus örtlichen und staatlichen, ehemals örtlichen und nicht-mehr-ganz-so aber immer noch örtlichen Elementen zusammensetzen und ist maßgeblich vom Zuschnitt durch den Gesetzgeber abhängig, denn er weist die konkrete Aufgabe schließlich zu.93 Für die verfassungsrechtliche Prüfung von Eingriffen in die Allzuständigkeit hinsichtlich der Gemeinden werden damit drei Gesichtspunkte relevant:94 – der örtliche Charakter der Aufgabe, – die topografische Lage im Verhältnis zum absolut geschützten Kernbereich und – bei relativem Schutz die Abwägungsgesichtpunkte hinsichtlich des Vorrangs der dezentralen Leistungserbringung. Typische Eingriffsform in die Allzuständigkeit der Gemeinden ist der Aufgabenentzug bzw. die Nicht-Berücksichtigung bei der Vergabe von neu konzipierten Exekutivaufgaben von vornherein. Eine örtliche Aufgabe wird hier durch Entzug oder von Anfang an staatlichen Trägern zur Verwaltung 90
BVerfGE 79, 127 (153). Vgl. BVerfGE 79, 127 (157); Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 142. 92 Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, Rn. 20. 93 s. o. Kapitel 1. 94 Vgl. Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 106 ff. 91
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zugewiesen. Ein solches Vorgehen ist im Hinblick auf Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nur zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Eingriff in den Randbereich handelt und der Gesetzgeber tragfähige Sachgründe dafür anführt.95 Mittelbar wird das gleiche Ergebnis – ein Eingriff in die Allzuständigkeit – durch eine übermäßige Aufgabenübertragung erzielt. Wenn der Gesetzgeber – regelmäßig die Länder – den Gemeinden gemäß ihrer Doppelfunktion staatliche Aufgaben zur Erfüllung übertragen, bindet jede einzelne Übertragung Verwaltungskraft und behördliche Infrastruktur. Dies entspricht zunächst einmal der vorgegeben exekutiven Struktur des Grundgesetzes und ist insoweit durchaus gewollt. Aufgabenübertragungen sind daher von den Gemeinden regelmäßig hinzunehmen. Ein Problem ergibt sich allerdings, wenn die Bindung gemeindlicher Kapazitäten durch die Erfüllung staatlicher Aufgaben ein Maß erreicht hat, welches faktisch den Zugriff auf unbesetzte Aufgaben oder auch die adäquate Wahrnehmung freiwilliger und pflichtiger Selbstverwaltungsaufgaben beeinträchtigt.96 Freilich handelt es sich bei den Wahrnehmungsfragen eher um Eingriffe in die Eigenverantwortlichkeit als in die Allzuständigkeit. Die Probleme im Zusammenhang mit Aufgabenübertragungen sind daher im Schnittbereich der Elemente der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie zu finden. Dass auch in der Aufgabenübertragung Probleme hinsichtlich der kommunalen Selbstverwaltung liegen können, wird heute von der überwiegenden Auffassung anerkannt.97 Die Kriterien zur Rechtfertigung von Aufgabenübertragungen richten sich letztlich nach denen für den Aufgabenentzug. Auch hier ist von einem absolut geschützten Kernbereich auszugehen, der vor einer nahezu vollständigen Abtötung kommunaler Handlungsmöglichkeiten schützt und einem Randbereich der dem Gesetzgeber erheblichen Spielraum eröffnet und dort seine Grenzen findet, wo sie sachlichen Erwägungen des Allgemeinwohls den Einschränkungen der Gemeindlichen Kapazitäten unverhältnismäßig gegenübersteht.98 Mit ähnlichen Argumenten wird im Ergebnis auch die Übertragung von Aufgaben als pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben einen Eingriff in die 95
Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 119. Zur Situation der Gemeinden ausführlich und grundlegend N. Hermes, Maßstab und Grenzen der Übertragung staatlicher Aufgaben auf die Gemeinden und Landkreise. 97 Bspw. und m. w. N. NRWVerfGH, DVBl 1993, 197 (198); Löwer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 54; Schoch, Finanzautonomie, S. 116 ff.; Schoch/Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, S. 28 ff.; Petz, DÖV 1991, 320 (323 ff.); Henneke, DÖV 2005, 177 (183). 98 NWVerfGH, DVBl 1993, 197 (198); Löwer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 55; Schoch, Finanzautonomie, S. 118 f.; Petz, DÖV 1991, 320 (323 ff.). 96
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kommunale Selbstverwaltung darstellen können. Dies gilt nämlich dann, wenn es sich im Kern bei der Aufgabe um eine staatliche und nicht um eine örtliche handelt, sie insoweit vom Gesetzgeber falsch ausgeflaggt wird.99 Hierbei geht es schließlich nicht nur um begriffliche Auseinandersetzungen. Die Kategorisierung von Aufgaben hat Konsequenzen auf unterschiedlichen Ebenen, insbesondere auf der finanziellen. Vor einer Umgehung jener Folgen durch eine Falschbezeichnung durch den Gesetzgeber kann die Verfassung nicht kapitulieren. Dementsprechend müssen die Grundsätze, welche für die Übertragung nominell staatlicher Aufgaben gelten, auch für die Übertragung faktisch staatlicher Aufgaben herangezogen werden.100 Teilweise wird darüber hinaus behauptet, pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben seien stets geeignet, einen mittelbaren Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung darzustellen.101 Hier wird allerdings durcheinandergeworfen, was unbedingt getrennt gehört. Die einfachgesetzliche Deklaration einer Aufgabe als Selbstverwaltungsaufgabe ist verfassungsrechtlich nicht bindend. Insofern können, wie gesagt, faktisch staatliche Aufgaben, welche als Selbstverwaltungsaufgaben ausgeflaggt sind, in die kommunale Selbstverwaltung eingreifen. Sind Aufgaben aber richtig als (pflichtige) Selbstverwaltungsaufgaben benannt, kann es nicht systemwidrig sein, dass die Kommunen diese wahrnehmen; allenfalls unter welchen Bedingungen, mithin wie sie dies tun. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sind primär kommunal zu erfüllen. Dem Gesetzgeber kann eine korrekte Zuweisung – und nur um diese geht es hier zunächst – nicht als unzulässig bescheinigt werden.102 Wehren sich die Kommunen gegen die Zuweisung von (formellen wie materiellen, nominellen wie faktischen) Selbstverwaltungsaufgaben, verschiebt sich der Anknüpfungsgegenstand in das Wie der Aufgabenwahrnehmung. Die (späte) Anerkennung von Aufgabenübertragungen als Problem der kommunalen Selbstverwaltung basierte maßgeblich auf der Erkenntnis, dass das grundgesetzliche System von grds. kumulierter finanzieller Lastentragung (Art. 104a GG) und Erfüllungsverantwortung durch den einfachen Gesetzgeber weitgehend unkontrolliert zu Lasten der Kommunen ausgenutzt werden kann.103 Das 99
Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 100 ff. NWVerfGH, DVBl 1993, 197 (198); Löwer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 54; Schoch, Finanzautonomie, S. 116 ff.; Schoch/ Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, S. 28 ff.; Petz, DÖV 1991, 320 (323 ff.); Henneke, DÖV 2005, 177 (183). A. A. exemplarisch und jeweils mit Nachweisen NdsOVG, NdsVBl 1994, 18 (19); SaarlVerfGH, NVwZ-RR 1995, 153 (153). 101 So RpVerfGH, DÖV 2001, 601 (602); Schoch/Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, S. 30. 102 Unterstellt die zuweisende staatliche Ebene ist zur Aufgabenübertragung auch befugt; vgl. dazu unten Kapitel 7 D. I. 100
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birgt die Gefahr, dass die Kommunen ihre originären Kompetenzen nicht mehr ausüben können, weil sie finanziell und organisatorisch ausgelastet sind. Im Hinblick auf die Konzeption der kommunalen Selbstverwaltung und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Stellung der Gemeinden im finanzverfassungsrechtlichen Gesamtgefüge, ist dies u. U. systemwidrig. Bei Selbstverwaltungsaufgaben greift dieses Argument nicht. Die Wahrnehmung jener kann nicht an sich ein Problem darstellen. So verlagert sich die Diskussion um die Zulässigkeit einer staatlich zugewiesenen Selbstverwaltungsaufgabe auf die Ausgestaltungsebene. Hier können Verstöße gerügt werden. Insbesondere eine zu starke Durchnormierung, mithin eine unzulässige Reduzierung kommunalen Entscheidungsspielraums, welche wiederum nicht unerhebliche Kostenfolgen nach sich zieht, kann hier problematisch sein. Dementsprechend folgerichtig geht das BVerfG davon aus, dass sich die Kommunen nicht auf Art. 84 Abs. 1; Art. 85 Abs. 1 GG a. F.104 mit dem Hinweis berufen können, der Bund habe sie unzulässig zur Aufgabenwahrnehmung verpflichtet. Jene Vorschriften prägen das Bild der kommunalen Selbstverwaltung eben nicht mit. Maßstab bleibt hier Art. 28 Abs. 2 GG, nach dem nur die Zuteilung originär staatlicher Aufgaben Beschwerdegegenstand sein kann. (2) Eigenverantwortlichkeit in der Wahrnehmung Die den Gemeinden im Ergebnis zugewiesenen, von ihnen angenommenen, jedenfalls ihnen zustehenden Aufgaben sind nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG „in eigener Verantwortung zu regeln“. Die Eigenverantwortlichkeit beschreibt im Wesentlichen das Wie der Aufgabenerfüllung. Ordnet man die Entschließungsfreiheit einer Gemeinde, eine freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe wahrzunehmen oder nicht, der Allzuständigkeit zu, so unterfiele sie jedenfalls der Eigenverantwortlichkeit und dann insoweit auch die Entscheidung über das Ob der Wahrnehmung ohne staatlichen Einfluss.105 Hier zeigen sich Überschneidungen der beiden Bausteine der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie wie auch schon hinsichtlich der Übertragung staatlicher oder jedenfalls faktisch staatlicher Aufgaben. Dies kann die Eigenverantwortlichkeit freilich ebenso berühren wie die Allzuständigkeit, wenn eine bestimmte Betätigungsform oder -intensität durch Aus- oder sogar Überlastung ausgeschlossen ist. Im Bereich der übertragenen (pflichtigen) Selbstverwaltungsaufgaben bezieht sich die Eigenverantwortlichkeit 103 Überblick über die Entwicklung bei Schoch/Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, S. 21 ff. 104 In der Fassung bis zur Föderalismusreform 2006. 105 So bspw. RPVerfGH, DÖV 1983, 113 (113).
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ohnehin nur auf das Wie, da das Ob vom Gesetzgeber verpflichtend vorgegeben wird. Bei den Selbstverwaltungsaufgaben generell nicht problematisch ist die Rechtsaufsicht durch die Länder. Da die Gemeinden nicht (länger) außerhalb des staatlichen Gefüges stehen, sondern ihr Bestandteil sind, sind sie auch an dessen Regeln gebunden. Geltendes Recht ist auch für die Gemeinden bindend und eine Kontrolle durch die Länder insoweit notwendige und konsequente Folge.106 Weisungen aus dem Bereich der Fachaufsicht werden im Bereich der Eigenverantwortlichkeit bei freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben nicht akut. Die Gemeinden können zwar im Rahmen des Ob einer Aufgabenwahrnehmung gerichtlich geltend machen, dass ihnen eine Aufgabe zur Selbstverwaltung zusteht und damit fachaufsichtsfrei ist, indem sie sich auf den örtlichen Charakter und die Allzuständigkeit berufen. Erkennen sie aber die Staatlichkeit (wenn auch nur mittelbar) dadurch an, dass sie gesetzgeberische Typisierung hinnehmen, existiert insofern keine örtliche Angelegenheit in der Kompetenz der Gemeinden, welche sie überhaupt im Rahmen von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG eigenverantwortlich wahrnehmen könnten.107 Die fehlende Weisungsbefugnis im Rahmen einer Fachaufsicht wird nicht selten durch eine Normflut kompensiert. Der Gesetzgeber sichert sich so den Einfluss auf teilweise kleinste Details hinsichtlich des Wie, Wo und Wann einer Aufgabenwahrnehmung. In der Praxis führt dies dazu, dass zahlreiche Aufgaben namentlich im Bereich des Sozialrechts so stark durchnormiert sind, dass den Gemeinden von ihrer Eigenverantwortlichkeit im Ergebnis nichts mehr übrig bleibt. Die Aufgabe wird so zu einer rein formellen oder nominellen Selbstverwaltungsaufgabe. Auch hierin kann ein Eingriff in die Eigenverantwortlichkeit liegen.108 Im Laufe der Zeit haben sich einzelne, von der konkreten Aufgabe zunächst unabhängige Strukturmerkmale der Eigenverantwortlichkeit herausgebildet. Sie bilden nicht den vollständigen Gehalt gemeindlicher Eigenverantwortlichkeit ab, sind jedoch durchaus in der Lage jene zu typisieren und so weiter zu konturieren. Zu ihnen gehören etwa die Gebiets-, Finanz-, Personal-, Satzungs-, Planungs- und Organisationshoheit. Die Gebietshoheit, welche auch als Totalitätsprinzip bezeichnet wird109 meint, dass die Gemeinden auf ihrem Gebiet Trägerinnen der öffentlichen Verwaltung sind. Dies gilt nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zumindest für die 106
BVerfGE 6, 104 (118); 78, 331 (341). Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 116 m. w. N. 108 Schoch/Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, S. 45 ff., die insbesondere auf die finanziellen Folgen einer Anerkennung formeller Selbstverwaltungsaufgaben hinweisen. 109 BVerfGE 50, 50 (50 f.). 107
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Selbstverwaltungsaufgaben, nach einigen Landesverfassungen sogar für den gesamten Bereich öffentlicher Verwaltung.110 Wie bereits ausgeführt, lässt sich ein individueller Anspruch auf Gebietserhaltung nur begrenzt konstruieren.111 Im Rahmen der Finanzhoheit steht den Gemeinden die „Befugnis zu einer eigenverantwortlichen Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft im Rahmen eines gesetzlich geordneten Haushaltswesens“112 zu. Den Gemeinden obliegt das Recht, durch Normsetzung ihre finanziellen Angelegenheiten selbstverantwortlich zu regeln. Dazu gehört auch die Befugnis zur eigenen Steuererhebung beziehungsweise zur Bestimmung der konkreten Höhe (Hebesatzhoheit).113 Im Rahmen der Kommunalverfassungsbeschwerde können sich die Gemeinden gegen Eingriffe in die Einnahmeseite der Finanzhoheit wehren, soweit sie die Beeinträchtigung der Eigenständigkeit in diesem Bereich insgesamt als betroffen anzeigen. Einzelposten in der gemeindlichen Finanzaufstellung sind vor Entzug nicht geschützt.114 Im Bereich der Personalhoheit ist die Dienstherrenfähigkeit der Gemeinden dem Kernbereich ebenso zuzuordnen wie die grds. Kompetenz der Gemeinden über die Haupt- oder Ehrenamtlichkeit der Stellen zu entscheiden. Landes- und Bundesrecht für das Personal im öffentlichen Dienst haben den gemeindlichen Spielraum indes weit zurückgedrängt.115 Die Satzungshoheit meint die Kompetenz, die gemeindliche Organisation durch rechtliche Instrumente selbst zu regeln. Die Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG für Rechtsverordnungen sind auf gemeindliche Satzungen weder direkt noch analog anwendbar. Der Vorrang des Gesetzes hingegen gilt unbestritten auch im Hinblick auf gemeindliche Satzungen. Umstritten jedoch ist, ob und inwieweit sich ein Gesetzesvorbehalt herleiten lässt.116 Planungshoheit wiederum meint vor allem die Prognosehoheit. Die Gemeinden sind berechtigt, auf ihrem Gebiet die unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, ökologischen etc. Entwicklungen zu beobach110 Art. 71 Abs. 1 BWLV; Art. 137 Abs. 1 HessLV; Art. 57 Abs. 3 NdsLV; Art. 78 Abs. 2 NWLV; Art. 49 Abs. 1 RPLV; Art. 84 Abs. 1 S. 1 SächLV; Art. 87 Abs. 2 Satz 1 LSALV; Art. 46 Abs. 1 SHLV. 111 s. o. Kapitel 5 A. I. 112 BVerfGE 26, 228 (244); 71, 25 (26). 113 Vgl. Art. 116 Abs. 2 GG; zur Frage der Verpflichtung der Gemeinden zur Erhebung einer Gewerbesteuer BVerfG, NVwZ 2005, 679. 114 BVerfG, NVwZ 1999, 520 (521). 115 Lecheler, Die Personalhoheit der Gemeinden, in: v. Mutius (Hrsg.), FG v. Unruh, S. 541 ff. 116 Vgl. BVerfGE 8, 274 (325); 9, 137 (149); Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 144 mit ausführlichen Nachweisen sowohl dafür (Fn. 613) wie auch dagegen (Fn. 614).
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ten, Prognosen aufzustellen und in Entwicklungspläne einzubinden und gegebenenfalls mit andere Gemeinden daraufhin zusammenzuarbeiten (interkommunale Zusammenarbeit). Freilich gilt dies nur, soweit es sich dabei um selbstverwaltungsaffine Entwicklungsprozesse handelt. Wichtigster Bereich ist hier sicher das Raumplanungs- und Bodennutzungsrecht. Im Rahmen der eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung spielt die Organisationshoheit eine entscheidende Rolle. Sie bildet den Topos für klassische Bereiche von Selbstverwaltung allgemein und eben auch derjenigen der Gemeinden.117 Geprägt wurde der Begriff maßgeblich von Edzard Schmidt-Jortzig.118 Er beschreibt das Recht der Gemeinden die innere Verwaltungsorganisation selbständig zu bestimmen.119 Anders als die äußere Organisation der Gemeinden, mithin Zuschnitt und Verfassung der Gemeinde, welche historisch nicht als Wesensmerkmal der Selbstverwaltung ausgemacht werden könne, sei die innere Organisation eine traditionelle Domäne der jeweiligen Selbstverwaltungskörperschaft.120 Die Bestimmung interner Organisation betrifft die Bereiche der Abstimmung und Abläufe zwischen den Gemeindeorganen, der Zuordnung von Aufgaben zu bestimmten Vollzugsorganen und deren hierarchische Untergliederung.121 Eine besondere Ausprägung der Organisationshoheit ist die Kooperationshoheit, welche den Gemeinden die Möglichkeit zusichert, zur Aufgabenerfüllung auch mit anderen Gemeinden zusammenzuarbeiten und gemeinsame Handlungsinstrumente zu entwickeln.122 Handelt es sich bei der fraglichen Aufgabe um eine solche des eigenen Wirkungskreises, liegt die Organisationshoheit zweifellos bei den Gemeinden. Nach überwiegender Auffassung soll den Gemeinden aber auch im übertragenen Wirkungskreis, mithin bei staatlichen Aufgaben, ein bestimmtes Maß an organisatorischer Freiheit zustehen.123 Dies wird vereinzelt mit dem Hinweis bestritten, der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung über Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG erstrecke sich nicht auf den übertragenen Wirkungskreis. Eine Befugnis zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung ergebe sich über Art. 28 GG nur hinsichtlich örtlicher, sprich eigener Aufgaben.124 Beides widerspricht sich allerdings 117
Vgl. BVerfGE 91, 228 (236 f.). Ebendieser, Kommunale Organisationshoheit. 119 BVerfG, NVwZ 1987, 123; BVerfGE 91, 228 (236). 120 BVerfGE 93, 228 (236 f.); kritisch zur historischen Auslegung Blümel, Wesensgehalt und Schranken des kommunalen Selbstverwaltungsrechts, in: v. Mutius (Hrsg.), FG v. Unruh, S. 265 (272). 121 Schmidt-Jortzig, Kommunale Organisationshoheit, S. 26 ff., 161 ff., 219 ff. 122 Gern, Kommunalrecht, Rn. 174. 123 Bspw. Schmidt-Jortzig, Kommunale Organisationshoheit, S. 187 ff. 124 Vietmeier, Die staatlichen Aufgaben der Kommunen und ihrer Organe, S. 246 ff. 118
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nicht. Soweit es um die Erfüllung einer konkreten Aufgabe und der damit verbundenen Organisation der Verwaltung geht, kann sich der Schutzgehalt kommunaler Selbstverwaltung über Art. 28 GG bei staatlichen Aufgaben nicht aus der Anknüpfung an die Aufgabe selbst ergeben. Jenseits der konkreten Aufgabe aber ist ein Mindestmaß an organisatorischer Freiheit als tradiertes Element kommunaler Selbstverwaltung anzuerkennen. Hier werden Aufgabe und Organisation partiell entkoppelt.125 Neben dem aufgabenakzessorischen Organisationsrahmen, welcher nur für die konkrete Aufgabe zu untersuchen ist, existiert auch ein allgemeines Maß an organisatorischer Freiheit. Allgemein und für grds. alle Aufgaben steht den Gemeinden ein Maß an Organisationshoheit zu, welches staatlichen Einfluss verbietet, soweit er „eine eigenständige organisatorische Gestaltungsfähigkeit der Kommunen im Ergebnis ersticken“ würde.126 Wenn der aufgabenverteilende Gesetzgeber den Gemeinden Verantwortlichkeiten überträgt, müssen diese auch eine gewisse Relevanz erfahren um nicht vollends unsinnig zu sein. Wer örtliche Verwaltung will, muss auch örtliche Verwaltung zulassen. Offensichtlich handelt es sich hierbei allerdings nur um einen Kernbereichsschutz. Die Formulierung „im Ergebnis ersticken würden“ ist eine typische Umschreibung dessen, was als unerträglicher Eingriff anzusehen ist. Dieses Maß an Organisationshoheit ist absolut geschützt. Ein geschützter Randbereich ist darüber hinaus vor allem im eigenen Wirkungskreis zu finden. Die Erfüllung staatlicher Aufgaben ist bereits ihrem Wesen nach durch staatliche Kontrolle und Einflussnahme gekennzeichnet. Erst durch das Zusammenspiel von kommunaler Exekutive und staatlichen Bestimmungen erhält die kommunale Tätigkeit im übertragenen Wirkungskreis überhaupt ihre verfassungsrechtlich vorgesehene Gestalt.127 Anderes gilt im eigenen Wirkungskreis. Hier liegt der Schwerpunkt auf der kommunalen Eigenständigkeit ergänzt durch den Gesetzesvorbehalt, mithin auf staatlicher Einflussnahme. Eingriffe sind hier eher anzunehmen und bedürfen zumindest einer qualifizierteren Rechtfertigung. Die Anforderungen, die das BVerfG stellt, um Eingriffe in den Randbereich der Organisationshoheit zu rechtfertigen, sind zumindest bei den staatlichen Aufgaben nicht besonders hoch. So sind Eingriffe bereits mit unspezifischen Erwägungen wie der Verwaltungsvereinfachung oder der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu rechtfertigen.128 Dies gilt jedenfalls für eher randständig unbedeutendere Eingriffe und vor allem bei solchen im Zusammenhang mit staatlichen Aufgaben. Je näher der jeweilige Eingriff 125 126 127 128
So richtig Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 115. BVerfGE 83, 363 (382); 91, 228 (236, 241). Vgl. BVerfG 91, 228 (241); Schliesky, VerwArch 2005, 339 (342 f.). BVerfGE 91, 228 (240); Schliesky, VerwArch 2005, 339 (343).
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aber in der Nähe zum Kernbereich liegt, desto spezifischer und gewichtiger müssen die Erwägungen sein, um eine Rechtfertigung leisten zu können. Auch indizieren Eingriffe in den eigenen Wirkungskreis ein höheres Maß an Rechtfertigungsdruck für den Gesetzgeber.129 Dann greift wieder das Aufgabenverteilungsprinzip Platz, nach dem in Anlehnung an das Übermaßverbot die zentrale Wahrnehmung örtlicher Aufgaben vom Gesetzgeber zu rechtfertigen ist. Überhaupt ist auch im Bereich der Organisationshoheit – wie im gesamten Bereich der Eigenverantwortlichkeit – weniger von hermetischen Blöcken von Kern- und Randbereich, eigenem und übertragenem Wirkungskreis auszugehen, sondern von fließenden Übergängen. Daran haben sich die jeweils zu ziehenden Konsequenzen, insbesondere auf der Rechtfertigungsebene auszurichten. Für die Beurteilung von Eingriffen in den Bereich der Eigenverantwortlichkeit ergibt sich danach ein vergleichbares Bild zur Allzuständigkeit. Folgende Punkte sind erheblich: – der örtliche Charakter der Aufgabe, – die topografische Lage im Verhältnis zum absolut geschützten Kernbereich und – bei relativem Schutz die Abwägungsgesichtpunkte hinsichtlich des Vorrangs der dezentralen Leistungserbringung. Je örtlicher die Aufgabe ist, desto stärkerer Betonung bedarf die freiheitsrechtliche Seite zu Gunsten der Kommunen. Je staatlicher wiederum die Aufgabe ist, desto leichter sind Eingriffe in die Eigenverantwortlichkeit zu rechtfertigen. Teilweise ist der Schutzbereich kommunaler Selbstverwaltung im Bereich der übertragenen Aufgaben hinsichtlich der Eigenverantwortlichkeit bereits nicht eröffnet. Außerdem gilt: Je näher der Eingriff am Kernbereich liegt, desto höher sind die Anforderungen an mögliche Abwägungsgesichtspunkte und umgekehrt. Eingriffe in den Kernbereich wiederum sind ohnehin unzulässig. c) Zusammenfassung Die Garantie gemeindlicher Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG setzt sich aus verschiedenen, teils historisch überkommenen, teils neu entwickelten Bestandteilen zusammen. Die Entwicklung jenes Schutzgehalts ist dabei längst nicht abgeschlossen. Vielfach mag es unbefriedigend erscheinen, dass wenige „harte“ Kriterien unmittelbar und im Konsens gefunden wurden und werden. Selbst einmal erzielte Minimalkonsense wie die Wirkungskreis- und Kernbereichslehre sowie die Unterscheidung der Garan129
Vgl. BVerfGE 91, 228 (240).
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tiegehalte sind immer wieder kritisiert worden. Bislang konnten sie sich aber als Strukturrahmen halten. Innerhalb dessen können immerhin Konturen und Leitlinien der kommunalen Selbstverwaltung nachgezeichnet werden. Will man aber die kommunale Selbstverwaltung, die sich immer neuen Gefahren gegenüber sieht, nicht statisch fixieren, braucht es ein durchaus nicht in jeder Hinsicht zufriedenstellendes Maß an Flexibilität und Offenheit. Dieser Befund gilt auch für den Kernbereich, welcher zwar absolut, aber keinesfalls statisch, im Sinne eines für alle Zeiten fixierten konkreten Aufgaben- oder Befugniskatalogs geschützt ist. Bei der Bestimmung des konkreten Schutzes der Gemeinden hinsichtlich staatlicher Eingriffe sind verschiedene bereits benannte Fragen entscheidend. Im Rahmen der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie, die den materiellen Kern der gemeindlichen Selbstverwaltung bildet, ist das Spannungsverhältnis von gemeindlicher Eigenständigkeit und staatlichem Einfluss (Gesetzesvorbehalt) prägend. Dabei ist es die Aufgabe des Gesetzgebers bei der Aufgabenverteilung, dem Aufgabenzuschnitt und den konkreten organisatorischen, personellen, finanziellen usw. Vorgaben jenseits des Kernbereichs einen Ausgleich zwischen beiden Polen zu finden; vor allem gilt es, dem Charakter der Aufgabe gerecht zu werden. 2. Selbstverwaltungsgarantie der Gemeindeverbände Nach dem Bundesverfassungsgericht handelt es sich bei Gemeindeverbänden um „kommunale Zusammenschlüsse, die entweder zur Wahrnehmung von Selbstverwaltungsaufgaben gebildete Gebietskörperschaften sind oder die diesen Körperschaften jedenfalls nach dem Gewicht ihrer Selbstverwaltungsaufgaben sehr nahe kommen.“130 Auch in der Literatur wird weitgehend übereinstimmend angenommen, die Gemeindeverbände zeichneten sich durch ihren Körperschaftsstatus und den regionalen Bezug über eine einzelne Gemeinde hinaus aus. Gefordert wird regelmäßig auch, dass die Zwecksetzung des Verbandes durch ein gewisses Maß an Offenheit und Flexibilität gekennzeichnet sein müsse; ihr Aufgabengebiet mithin weniger aufgaben- als gebietsbezogen ausgestaltet ist.131 Im Einzelnen sind die Anforderungen an Gemeindeverbände umstritten. Als anerkannt können jedoch vor allem die Kreise benannt werden. Das ergibt sich bereits unmittelbar daraus, dass diese in Art. 28 Abs. 1 Satz 2, 3 GG explizit genannt werden und ihr Einbezug unter die Gemeindeverbände auch beim Parlamentari130
BVerfGE 52, 95 (109). Vgl. Stern, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK GG, Band 6, Art. 28, Rn. 80 (Dezember 1964); Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 166; Kronisch, Aufgabenverlagerung, S. 41; alle m. w. N. 131
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schen Rat nicht in Zweifel stand.132 Darüber hinaus sind wohl auch Verbandsgemeinden, Landschaftsverbände und Bezirke typischerweise hierunter zu fassen.133 Im Rahmen der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeindeverbände bietet sich ebenfalls eine Unterscheidung nach Wirkungskreisen an. Auch die Gemeindeverbände nehmen sowohl eigene als auch fremde Aufgaben wahr, werden mithin im eigenen und im übertragenen Wirkungskreis tätig. Und auch hier unterscheidet sich der Gehalt der Selbstverwaltungsgarantie wesentlich an der Frage, ob es sich um eine eigene oder eine fremde Angelegenheit handelt. Es greift der Grundsatz ein, nachdem einer Körperschaft nur hinsichtlich eigener Aufgaben Selbstverwaltungsrechte zustehen.134 Versteht man das einleitende „Auch“ des Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG als Reminiszenz an die örtlichen Angelegenheiten nach Satz 1, würde dies die Partizipation der Gemeindeverbände am gemeindlichen Wirkungskreis zur Folge haben.135 So ließen sich die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in lokal-örtliche und regional-örtliche unter- und schließlich verteilen.136 Diesem Verständnis ist das BVerfG mit der überwiegenden Lehrmeinung überzeugend entgegengetreten. Systematisch bezieht sich „Auch“ auf das „Recht der Selbstverwaltung“, nicht auf die örtlichen Angelegenheiten. Dem entsprich der Terminus „im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches“.137 Daraus folgt, dass im Unterschied zu den Gemeinden, den Gemeindeverbänden kein originärer Aufgabenbestand zugesichert wird. Die Gemeindeverbände sind insoweit weitgehend von der einfachgesetzlichen Zuweisung von Aufgaben abhängig.138 An dem Gewährleistungsgegenstand der Gemeinden haben sie keinen Anteil. Freilich bedeutet dies wiederum nicht, dass der Gesetzgeber den Gemeindeverbänden keine örtlichen Angelegenheiten zur Erfüllung überantworten kann. Trotz des örtlichen Charakters einer Aufgabe kann der Gesetzgeber dies sehr wohl. Schließlich kann er die Aufgabe auch als staatliche Aufgabe erfüllen bzw. erfüllen lassen. Dies ist eine Frage der Zulässigkeit einer solchen Aufgabenzuweisung bzw. des Aufgabenentzugs. Möglich ist dies aber allemal.
132 BVerfGE 52, 95 (112); 83, 363 (383); Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 71 ff. 133 Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 28 Rn. 80. 134 So auch Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 172 ff. 135 So bspw. Schmidt-Jortzig, DÖV 1993, 973 (979 f.). 136 Siehe BVerwGE 67, 321 (323 ff.). 137 Dazu Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 80 f. 138 BVerfGE 21, 117 (128 f.); 23, 353 (365); 79, 127 (150); 83, 363 (383).
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a) Subjektive Rechtsstellungsgarantie Wie für die Gemeinden entfaltet die kommunale Selbstverwaltung auch für die Gemeindeverbände nach Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG die Möglichkeit, Beeinträchtigungen der institutionellen Rechtssubjektsgarantie und der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie gerichtlich abzuwehren.139 b) Institutionelle Rechtssubjektsgarantie Ähnliches gilt auch für die institutionelle Rechtssubjektsgarantie, welche den Bestand von Gemeindeverbänden an sich garantiert. Im Staatsaufbau der Bundesrepublik hat nach dem Grundgesetz eine körperschaftlich organisierte übergemeindliche (Wie) kommunale Ebene zu existieren (Ob). Regional überlappen sich also Gemeinde- und Gemeindeverbandsgebiet. Die Einwohner jener Gebiete sind Mitglieder sowohl der einen wie der anderen Gebietskörperschaft. Keine Mitglieder der Gemeindeverbände sind die vom jeweilige Gemeindeverband regional umfassten Gemeinden selbst. Dies lässt sich schon aus der demokratischen Legitimation durch eben jenes Gemeindeverbandsvolk nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ableiten. c) Objektive Rechtsinstitutionsgarantie Nach Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG steht den Gemeindeverbänden „im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung“ zu. Der Gesetzgeber legt also den Aufgabenbereich der Verbände fest, originäre Zugriffsrechte auf einen bestimmten Aufgabenkanon existieren grds. nicht. Hiergegen wird nicht selten der Einwand erhoben, die kommunale Selbstverwaltung verkomme für die Gemeindeverbände so zu einem reinen Formprinzip, welches die Eigenverantwortlichkeit als Selbstzweck ohne konkreten Bezugspunkt schütze.140 Diese Kritik mündet schließlich teilweise in der Annahme einer Teilhabe am gemeindlichen Aufgabenbereich, teilweise, soweit sich deren Vertreter der überzeugenden Einwände gegen eine Teilhabelösung annehmen, in der Zuweisung eines tradierten übergemeindlichen Aufgabenbereichs als originäre Aufgaben zu den Gemeindeverbänden.141 Woraus dieser historisch überkom139
Beutling, Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben der Kreise, S. 59. Schmidt-Jortzig, DÖV 1993, 973 (979 f.). 141 Spezifisch für die Landkreise BVerwGE 6, 19 (23); v. Mutius, Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, in: ders. (Hrsg.), FG v. Unruh, S. 227 (247 ff.); Clemens, NVwZ 1990, 834 (842); Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Band 2, § 89 Rn. 24. 140
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mene Aufgabenbestand konkret bestehen soll, bleibt hingegen verschwommen. Die Wesensmerkmale von Gemeindeverbänden sind nach dem BVerfG die Eigenschaft als Gebietskörperschaft, bei der sich die Mitgliedschaft aus dem Wohnsitz und der Gebietshoheit ergibt. So besteht zwischen Personen, Fläche und Gewalt eine unmittelbare Beziehung.142 Unabhängig von der Frage, welche regionalen Konstrukte im Einzelnen diese Merkmale erfüllen, sind dies jedenfalls nicht ausschließlich die Landkreise, für welche unter Umständen ein historisch gewachsener, typischer Aufgabenkanon herausgearbeitet werden kann. Für neue Formen der Gemeindeverbände kann dies zumindest nicht stets erfolgen. Der Garantiegehalt kann jedoch nicht je nach Verbandstypus variieren. Dazu findet sich weder in der Entstehungsgeschichte noch im Wortlaut irgendein Ankerpunkt. Gewichtig sind auch die systematisch-teleologischen Erwägungen. Im Rahmen des gemeindlichen Aufgabenbereichs ist anerkannt, dass dieser nicht für alle Zeit festgeschrieben ist, sondern Veränderungsprozessen unterworfen ist. Mit anderen Worten unterliegen die Aufgaben dem Wandel hinsichtlich ihres örtlichen/nicht-örtlichen Charakters. Kann bereits für die Gemeinden ein fixer Aufgabenpool nicht benannt werden, gilt dies für die Gemeindeverbände erst recht. Wortlaut und historisches Material sprechen insoweit eine klare Sprache, als der Schutz der gemeindlichen Selbstverwaltung stärker ausfallen sollte, als derjenige der Gemeindeverbände.143 Die Gemeindeverbände beziehen nach alledem ihren Aufgabenbereich aus gesetzlicher Zuweisung. Ob eine gesetzliche Zuweisung, welche üblicherweise durch Landesrecht erfolgt, auch mittels Generalklauseln erfolgen darf, ist nicht einheitlich zu beantworten, sondern hängt entscheidend auch vom Aufgabentypus ab. Grundsätzlich aber ist hierbei Vorsicht angebracht, da ein Eingriff in die gemeindliche Zuständigkeit häufig latent ist. Im Rahmen der Pauschalierungs- und Einschätzungsbefugnis des Gesetzgebers aber ist eine generalklauselartige Zuweisung partiell zumindest denkbar. Neben der bekannten Unterscheidung von eigenem und übertragenen Wirkungskreis, pflichtigen und freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben, werden letztere bei den Gemeindeverbänden üblicherweise in drei Kategorien eingeteilt: Übergemeindliche, ausgleichende und ergänzende Aufgaben. aa) Keine Allzuständigkeit der Gemeindeverbände Aus der Erkenntnis, dass die Gemeindeverbände an dem Garantiegehalt der gemeindlichen Aufgaben keinen Anteil, mithin keinen privilegierten Zu142 143
S. 82.
BVerfGE 51, 95 (117 f.). JöR 1951, S. 253 ff.; Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise,
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griff auf örtliche Angelegenheiten haben, ergibt sich auch das Fehlen einer den Gemeinden vergleichbaren Allzuständigkeit. Eine Unterscheidung zwischen lokal-örtlichen und regional-örtlichen Aufgaben ist verfassungsrechtlich nicht vorgesehen. Ein Zugriffsrecht durch die Berufung auf eine Allzuständigkeit ist den Gemeindeverbänden demnach nicht möglich. Dieser Befund kann spätestens seit dem Rastede-Urteil des BVerfG weitgehend als Konsens betrachtet werden.144 Zuvor und seltener auch noch danach wurde teilweise die Auffassung vertreten, die Gemeindeverbände zeichneten sich durch Allzuständigkeit aus. Sie zähle zu den Wesensmerkmalen von Gebietskörperschaften.145 Für die Gemeindeverbände sei zumindest eine den Gemeinden gegenüber subsidiäre Allzuständigkeit für örtliche Angelegenheiten anzunehmen. Bei genauerer Betrachtung ist die Allzuständigkeit jedoch nicht zwangsläufig für Gebietskörperschaften kennzeichnend, sondern allenfalls üblich. Historisch lässt sich ein anderes Ergebnis ebenfalls nicht begründen.146 Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG weist den Gemeindeverbänden keinen originären Aufgabenbestand zu, auf den sich die Allzuständigkeit beziehen könnte. Damit wäre die Bestimmung des Aufgabenbereichs Sache der Länder, welche dann wiederum in die Lage versetzt würden, die Zuerkennung der Rechtsform des Gemeindeverbandes nach dem Grundgesetz zu bestimmen. Die Ablehnung einer Allzuständigkeit für die Gemeindeverbände gilt für die Aufgabenverteilung nach dem Grundgesetz. Einige Landesverfassungen allerdings scheinen hier andere Akzente zu setzen. Sie weisen den Gemeindeverbänden gar die gesamten öffentlichen Aufgaben zu.147 In den Kreisordnungen der einzelnen Bundesländer wiederum finden sich eine Vielzahl von Aufgabenzuweisung mittels Generalklauseln. Hier werden den Gemeindeverbänden (namentlich den Kreisen) sämtliche übergemeindlichen Aufgaben, welche die Leistungsfähigkeit der Gemeinden übersteigen, unterstützende oder ergänzende Aufgaben zugewiesen.148 Durch jene Zuweisungen wird zumindest den Kreisen daher eine der Allzuständigkeit vergleichbare Kompetenz eingeräumt. Grundgesetzlich vorgesehen oder gar vorgegeben ist dies jedoch nicht. Solange und soweit diese Zuweisungen nicht in den Garantiegehalt der Gemeinden eingreifen, sind sie bundesverfassungsrechtlich zulässig. Teilweise können durch eine verfassungskonforme Auslegung etwaige Spannungen abgebaut werden.149 Wo die Auflösung der Kollision 144
BVerfGE 79, 127 (152 ff.). Becker, in: Mann/Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, 1996, S. 113 (124); Pappermann, in: Mann/Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, 1996, S. 299 (305). 146 Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 71 ff. 147 Art. 78 Abs. 2 NWLV; Art. 87 Abs. 2 LSALV. 148 Ein Überblick über die einzelnen Regelungen findet sich bei Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 158 f. 145
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gemeindlicher Selbstverwaltung und kreiskommunaler Aufgabenzuweisung nicht gelingt, stellt sich Frage nach der Zulässigkeit generalklauselartiger Exekutivkompetenzen der Kreise. Insbesondere im Zusammenhang mit den Ergänzungsaufgaben der Kreise erscheint dies problematisch. bb) Eigenverantwortlichkeit der Gemeindeverbände im gesetzlichen Aufgabenbereich Den Gemeindeverbänden ist dasselbe Maß eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung garantiert, wie den Gemeinden. Insoweit sind die Darlegungen zur Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden übertragbar. Anderes ergibt sich jedoch bzgl. des gesetzlichen Aufgabenbereichs der Gemeindeverbände. Der gesetzliche Aufgabenbereich der Gemeindeverbände besteht aus den durch Gesetz zugewiesenen Aufgaben. Dies gilt für den eigenen wie für den übertragenen Wirkungskreis.150 Bei den Selbstverwaltungsaufgaben stellt sich die Frage, ob Aufgabenzuweisungen durch Generalklauseln zulässig sind. Teilweise wird eine für jede Aufgabe spezialgesetzliche Zuweisung gefordert, um dem Gesetzesvorbehalt gerecht zu werden.151 Die überwiegende Auffassung hält eine generelle Zuweisung hingegen grds. für ausreichend.152 Folgt man dieser Ansicht, stellt sich das Problem, welcher Maßstab angelegt werden muss, anhand dessen die Zulässigkeit von Aufgabenverlagerungen zu beurteilen ist. Hierbei geht es im Kern um die Frage nach der interkommunalen Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. (1) Interkommunale Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 bei freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben Die Frage nach der interkommunalen Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG stellt sich im Zusammenhang mit spezialgesetzlichen Aufgaben149
Art. 97 Abs. 2 BbgLV weist die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft den Gemeinden und Gemeindeverbänden zu. Dies wurde im Hinblick auf Art. 28 Abs. 2 GG frühzeitig verfassungskonform ausgelegt. BbgVerfG, LVerfGE 2, 93 (102 f.). 150 Die Existenzaufgaben der Gemeindeverbände, welche sich vor allem auf die eigene Organisation beziehen, sind hier freilich rausgenommen. Dass diese den Gemeindeverbänden zustehen, liegt in der Natur der Sache. Dazu Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 179. 151 Beckmann, DVBl 1990, 1193 (1196 f.); Schmidt-Jortzig, DÖV 1993, 973 (982). 152 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 175; Schoch, DVBl 1995, 1047 (1050 f.); Löwer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 87; Stern, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK GG, Band 6, Art. 28 Rn. 168 (Dezember 1964).
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zuweisung zu den Gemeindeverbänden nicht.153 Hier liegt ein gesetzgeberischer Akt vor und der Gesetzgeber ist gehalten, die gemeindliche Selbstverwaltung angemessen zu berücksichtigen. Die Gemeinden können sich gegen diese Zuweisung wehren. Maßstab dafür ist unzweifelhaft Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG mit seinem dargelegten Schutzgehalt. Nur in den Fällen, in denen der Gemeindeverband durch Generalklauseln oder gar ohne gesetzliche Grundlage Kompetenzen an sich zieht, welche den Gemeinden originär zustehen, stellt sich überhaupt die Frage nach der interkommunalen Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG; mithin bei freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben. Gegen die Anwendbarkeit könnte sprechen, dass es sich bei den Gemeinden und Gemeindeverbänden um eine organisatorische Einheit im Staatsaufbau handelt, nämlich der kommunalen Ebene. Dieser stünden Selbstverwaltungsrechte gegenüber dem Staat zu, vor allem als Abwehrrechte.154 Dieses grundrechtlich geprägte Verständnis kommunaler Selbstverwaltung entspricht aber nicht der grundgesetzlichen Konzeption kommunaler Selbstverwaltung als einer institutionellen Garantie.155 Ein anderer Ansatz kommt zwar ebenfalls zu einer Ablehnung der interkommunalen Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 2 GG, startet aber von einem im Vergleich zum subjektiven Ansatz genau entgegen gesetzten Ausgangspunkt. Dieser besteht darin, die kommunale Selbstverwaltung objektiv funktional, also als Selbstverwaltung innerhalb des Staates und nicht gegen den Staat und die kommunalen Träger als sich ergänzende organisatorische Einheiten innerhalb dieses Aufbaus zu begreifen. Die Aufgaben sollen hiernach funktionsorientiert danach vergeben werden, wo eine optimale Exekutive am ehesten zu erwarten sei. Die interkommunale Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 2 GG würde dann nicht in das Konzept funktionaler Selbstverwaltung passen.156 Dieser Ansatz verkennt jedoch, dass die Gemeindeverbände an dem Garantiegehalt der Gemeinden nicht teilhaben. Ihnen sind von Verfassung wegen keine originären Aufgaben zugewiesen. Eine Gleichordnung bei der Verteilung der Verwaltungsaufgaben hinsichtlich der örtlichen Angelegenheiten besteht nicht. Die Gemeinden nehmen jene in Selbstverwaltung wahr, nicht die Gemeindeverbände. Rein funktional und nach Optimierungsgesichtspunkten kann die Kompetenzaufteilung daher nicht erfolgen. Dem Schutz der Ge153 Allerdings wird dies immer wieder diskutiert, dazu Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 43 f. m. w. N. 154 Vgl. Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 43 f. m. w. N. 155 s. o. Kapitel 5 A. I. 156 So Roters, Kommunale Mitwirkung, S. 30; ders., in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 63; Pappermann/Roters/Vesper, Maßstäbe für die Funktionalreform im Kreis, S. 28; vgl. Schnapp, Zuständigkeitsverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden, S. 33 f.
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meinden in ihrem originären Aufgabenbereich wird nur gerecht werden können, wer sie auch vor einem Aufgabenentzug durch die Gemeindeverbände schützt. Das BVerfG hat dementsprechend den Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auch interkommunal für anwendbar erklärt.157 Das vom BVerfG entwickelte Aufgabenverteilungsprinzip findet zwischen Gemeinden und Gemeindeverbänden danach Anwendung. Es besteht ein Vorrang der dezentralen, genauer der gemeindlichen Aufgabenerfüllung auch vor derjenigen der Gemeindeverbände. Die dogmatische Einordnung des Aufgabenverteilungsprinzips ist insoweit schwierig, als sich dort Elemente von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gleichermaßen finden lassen. Das BVerfG selbst hat eine dogmatische Zuordnung stets vermieden. Sie ist auch nicht notwendig oder weiterführend. Das Aufgabenverteilungsprinzip ist eigenständig und greift auf die dogmatischen Wurzeln beider Grundsätze zurück. Das Aufgabenverteilungsprinzip wirkt im Randbereich von Eingriffen in die gemeindliche Selbstverwaltung.158 Hier gilt der Vorrang der gemeindlichen Aufgabenerfüllung vor derjenigen anderer Gebietskörperschaften. Insoweit mag von Subsidiarität gesprochen werden. Im Randbereich gemeindlicher Selbstverwaltung ist aber auch die staatliche bzw. gemeindeverbandliche Wahrnehmung von örtlichen Aufgaben möglich. Der gemeindliche Vorrang gilt nicht absolut. Er ist aber Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen der Zulässigkeit einer nichtgemeindlichen Wahrnehmung örtlicher Angelegenheiten. Wie aus dem Übermaßverbot bekannt, können auch im Rahmen des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG rechtlich anerkannte Zwecke unter Umständen zu einem Entzug gemeindlicher Aufgabenerfüllung führen. Die gesetzgeberische Entscheidung unterliegt gerichtlich nur einer Vertretbarkeitskontrolle.159 Im Rahmen der interkommunalen Wirkung des Aufgabenverteilungsprinzips können zu Gunsten der Gemeindeverbände einige Aspekte berücksichtigt werden, welche den Funktionen der Gemeindeverbände entsprechen. Diese Aspekte, welche häufig als Aufgabentrias der Gemeindeverbände bezeichnet werden, sind nicht zwangsläufig abschließend, können aber im Grundsatz als weitgehend anerkannt gelten. Die Bezeichnung „Aufgaben“ erscheint aber irreführend. Keinesfalls geht es um die Konturierung eines originär gemeindeverbandlichen Aufgabenbereichs, sondern um die Funktionen der Gemeindeverbände, denen es bei Fragen der Exekutivzuständigkeiten gerecht zu werden gilt. Zu diesen Funktionen zählt die Betätigung im übergemeindlichen Bereich, Ergänzung der und Ausgleich zwischen den Gemeinden. 157 158 159
BVerfGE 79, 127 (150 ff.). Kronisch, Aufgabenverlagerung, S. 64. BVerfGE 79, 154.
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Übergemeindliche Aufgaben sind solche, welche die einzelne Gemeinde, gleichgültig wie leistungsfähig sie ist, nicht wahrnehmen kann, weil sie weitreichende Bezüge über ihre Grenzen hinaus aufweist. Es handelt sich hier mithin um Aufgaben, die über die Interessen der Gemeindebewohner hinausgehen.160 Die teilweise verwendete Bezeichnung überörtliche Aufgaben stellt irreführende Assoziationen her.161 Aufgaben verlieren nicht ihren örtlichen Bezug, wenn sie auch übergemeindliche Züge aufweisen. Sie verbleiben in der prioritären Kompetenz der Gemeinden. Sie bilden also nicht den suggerierten Gegensatz zu den örtlichen Angelegenheiten. Für eine (interkommunale) Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG wäre andernfalls bzgl. der Aufgabenverteilung schließlich auch kein Raum. Die Bezeichnung übergemeindlich trifft den Aufgabencharakter präziser.162 Diese übergemeindlichen Aufgaben dienen regelmäßig den Bedürfnissen der Kreisbewohner. Die Errichtung und Unterhaltung eines Kreismuseums oder einer Kreisstraße kann unmöglich von einer Gemeinde allein wahrgenommen werden. Theoretisch könnte dies durch eine jenseits des Kreises formierte Kooperation der Gemeinden gebildet werden. Immerhin ist die Kooperationsfähigkeit der Gemeinden von der gemeindlichen Selbstverwaltung umfasst.163 Da es hier um den Randbereichsschutz geht, findet sie ihre Grenzen aber dort, wo in Umgehung vorhandener Strukturen eine spiegelbildliche Konkurrenzorganisation gebildet wird. Nicht zu den übergemeindlichen Aufgaben zählen in Abgrenzung hierzu jedoch solche, welche die Leistungsfähigkeit einzelner Gemeinden oder aller Gemeinden übersteigen. Diese Aufgaben fallen nicht der Natur der Sache nach in den übergemeindlichen Bereich. Sie können auch immer noch in den Bedürfnissen der örtlichen Gemeinschaft wurzeln.164 Die Errichtung eines Schwimmbades, eines Krankenhauses, einer Musik- oder Volkshochschule kann je nach Leistungsfähigkeit von einer Einzelgemeinde oder einem Gemeindeverband – namentlich dem Kreis – errichtet werden. Nimmt ein Gemeindeverband sich dieser Aufgaben (als (freiwillige) Selbstverwaltungsaufgabe) an, macht er dies im Rahmen seiner Ergänzungsfunktion. Die Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion ist vor allem für die Kreise auch vom BVerfG ausdrücklich anerkannt.165 Im Rahmen der Ausgleichs160
Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 171 m. w. N. So Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Band 2, § 85 Rn. 23. 162 Vgl. Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 179. 163 s. o. Kapitel 5 A. I. 1. 164 So auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 171 m. w. N.; anders hingegen wohl Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 180, der diese Aufgaben als „kreis-summative“ den übergemeindlichen zuordnet. 165 BVerfGE 58, 177 (196). 161
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funktion nehmen die Kreise Aufgaben wahr, um im Kreisgebiet gleichwertige Lebensverhältnisse zu gewährleisten. Insoweit entspricht diese Funktion den Bedürfnissen der schwächeren Gemeinden.166 Diese Funktion ist eine originär gemeindeverbandliche bzw. eine solche der Kreise. Aufgaben, welche sich aus in den KrO normierten Generalklauseln ergeben, greifen nicht in den originären Aufgabenbereich der Gemeinden ein. Durch Berufung auf die Ausgleichsfunktion können die Kreise den Gemeinden keine Aufgaben entziehen oder örtliche Aufgaben wahrnehmen. Die Kreise stellen u. U. die adäquate Aufgabenwahrnehmung durch die Gemeinden überhaupt erst sicher. Entzogen wird eine Aufgabe jedenfalls nicht.167 Insgesamt sieht sich die Ausgleichsfunktion der Kreise keinen schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt, insbesondere wenn sie auf pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden beschränkt wird.168 Typische Aufgabe im Rahmen der Ausgleichsfunktion der Kreise ist der Finanzausgleich. Die Ergänzungsfunktion der Kreise, zumindest ihre Ausgestaltung in den meisten KrO der Länder, sieht sich hingegen deutlich mehr Kritik ausgesetzt.169 Der Grundgedanke der Ergänzungsfunktion ist, dass die Gemeindeverbände u. U. befugt sind, das Leistungsgefälle der Gemeinden im Kreisgebiet untereinander, durch die Übernahme der Exekutive einzelner an sich gemeindlicher Aufgaben aufzufangen. Die Gemeindeverbände treten also an die Stelle der Gemeinden. Die KrO der einzelnen Bundesländer weisen den Kreisen die Befugnis zu, Aufgaben im Rahmen ihrer Ergänzungsfunktion anzunehmen, wenn und soweit die Leistungsfähigkeit aller oder einzelner Gemeinden zur eigenen Erfüllung nicht ausreicht.170 Die Kritik hieran macht sich vor allem an drei Punkten fest. Zum einen ist im Grundsatz umstritten, ob die Ersetzung gemeindlicher Exekutive durch den Kreis im Rahmen örtlicher Aufgaben überhaupt zulässig ist. Zum anderen, ob eine Zuweisung von Ergänzungsaufgaben durch Generalklauseln möglich ist. Letztlich wird vielfach noch die Frage aufgeworfen, ob die Leistungsfähigkeit der Gemeinden tauglicher Anknüpfungspunkt für Übernahme der Exekutive sein kann. 166
Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 192. Muth, in: ders. (Hrsg.), Potsdamer Kommentar, § 2 LKro, Erl. 4; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Band 2, § 85 Rn. 25. 168 Diese Notwendigkeit besteht, da ansonsten die stärkeren Gemeinden freiwillige Aufgaben nicht mehr wahrnehmen würden bzw. deren Wahrnehmung von ihnen doppelt bezahlt würde, indem sie durch den Kreisfinanzausgleich die Ausgleichskosten für die schwächeren Gemeinden zu tragen hätten. Dazu Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 194. 169 Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 182 ff. m. w. N. 170 So bspw. § 2 Abs. 1 SHKreisO; dazu eingehend Schmidt-Jortzig, Landkreis 1980, 388 ff. 167
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Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
Die Leistungsfähigkeit der Gemeinden bestimmt sich wesentlich durch deren Verwaltungs- und Finanzkraft. Diese sind nach dem BVerfG keine zulässigen Anknüpfungspunkte für die Beurteilung der Örtlichkeit einer Angelegenheit.171 Allerdings geht es nunmehr auch nicht um den örtlichen Charakter einer Aufgabe, sondern um die damit verbundene letztliche Exekutivkompetenz. Unter Bejahung des örtlichen Charakters einer Aufgaben kann die Leistungsfähigkeit der Gemeinden durchaus eine Rolle spielen bei der Zuständigkeitsverteilung durch den Gesetzgeber. Zwar handelt es sich hierbei nicht um ein bundesverfassungsrechtlich vorgesehenes Kriterium zur Zuständigkeitsabgrenzung von Gemeinden und Gemeindeverbänden, umgekehrt kann daraus aber auch noch nicht zwangsläufig auf die Unzulässigkeit geschlossen werden. Um die Örtlichkeit einer Aufgabe zu bestimmen, werden allgemeine – vor allem historische und soziologische – Erwägungen herangezogen. Dieses Vorgehen ist zunächst recht grob und wenig differenziert. Ein und dieselbe Aufgabe aber ist für die eine Gemeinde aufgrund ihrer Bevölkerungsstruktur, geografischen und soziokulturellen Voraussetzungen örtlicher als für die andere. Schließlich sind die Bedürfnisse der Gemeindebewohner maßgeblicher Bezugspunkt, mithin die legitimationsstiftende Kraft innerhalb der Gemeinden.172 Diese Bedürfnisse der Gemeindebewohner sind von Gemeinde zu Gemeinde jedoch genauso unterschiedlich wie deren wirtschaftliche und infrastrukturelle Umsetzbarkeit. Diese Differenzierung ist Aufgabe des Gesetzgebers, der hierfür zu Pauschalierungen und Generalisierungen grds. befugt ist, um eine kommunale Exekutive sicherzustellen, die sich nicht zuletzt auch an der Effektivität der Aufgabenwahrnehmung zu orientieren hat.173 Diese hängt maßgeblich vom Leistungsvermögen der jeweiligen Gemeinde ab. Hierbei kann es selbstverständlich nicht um eine vom Gesetzgeber gezielt herbeigeführte Leistungsunfähigkeit gehen, sondern um mehr oder weniger natürliche, strukturelle Grenzen, die in der Gemeinde selbst wurzeln. Der Radius möglicher Ergänzungsaufgaben ist daher auf den eigenen Wirkungskreis der Gemeinden begrenzt. Im übertragenen Wirkungskreis hat der Gesetzgeber selbst die Leistungsfähigkeit der Gemeinden sicherzustellen.174 Die Abgrenzung von Exekutivzuständigkeiten nach Leistungsfähigkeit ist daher im Hinblick auf Art. 28 Abs. 2 GG nicht zwingend, aber auch nicht zwingend unzulässig. Stellt die Leistungsfähigkeit der Gemeinden somit möglicherweise ein durchaus zulässiges Abgrenzungskriterium dar, ist die Ersetzung der potenziellen Gemeindeexekutive durch eine solche der Gemeindeverbände (meist 171 172 173 174
BVerfGE 79, 127 (151). BVerfGE 79, 127 (151). Vgl. unten Kapitel 6 B. IV. 1. Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 183.
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der Kreise) ebenso möglich wie die Überführung in (sonstige) staatliche Verwaltung. Der örtliche Charakter ist schließlich notwendige aber nicht hinreichende Bedingung für eine gemeindliche Exekutive. Ein Entzug kann mit zulässigen Kriterien gerechtfertigt werden. Ein genereller Entzug aller örtlichen Aufgaben, welche mangels Leistungsfähigkeit nicht von einzelnen Gemeinden wahrgenommen werden können, droht jedoch eine faktische Allzuständigkeit der Gemeindeverbände zu Lasten der Gemeinden zu etablieren und das Aufgabenverteilungsprinzip in sein Gegenteil zu verkehren. Teilweise werden die entsprechenden Generalklauseln daher für unzulässig gehalten und eine jeweils spezialgesetzliche Zuweisung gefordert.175 Die vorgebrachten Aspekte greifen indes nur durch, wenn es überhaupt zu einem Entzug der Aufgabe kommt. Das ist keinesfalls zwingend. BVerwG und herrschende Lehre stellen im Zusammenhang mit Ergänzungsaufgaben bewusst nicht auf die konkrete Aufgabe und die mit ihr verbundene Exekutivkompetenz ab, sondern auf die dahinterstehende Ergänzungsfunktion. Im Rahmen dieser Funktion können die Gemeindeverbände gemeindliche Aufgaben ersatzweise übernehmen. Dies gilt soweit und vor allem solange einzelne Gemeinden dazu nicht in der Lage sind. Erlangen die Gemeinden ihre Leistungsfähigkeit zurück, nehmen sie auch die Aufgabe wieder wahr. Zu keinem Zeitpunkt kommt es zu einer Aufgabenverlagerung. Die örtliche Angelegenheit verbleibt bei den Gemeinden.176 Henneke spricht von einem Auseinanderfallen von Aufgabensubstanz und Aufgabenwahrnehmung;177 man kann auch sagen, von Aufgabenbestand und Teilen der Verwaltungsverantwortung. Zwar ist auch eine Übertragung örtlicher Aufgaben i. e. S. auf die Gemeindeverbände möglich, doch sind für diese Eingriffe höhere Anforderungen zu stellen. Eine Generalklausel reicht hier aus den genannten Gründen nicht aus. Kommt es aber nicht zu einem Übergang der Aufgabensubstanz, wird die prinzipielle Zuständigkeit der Gemeinden im Sinne des Aufgabenverteilungsprinzips nicht in Frage gestellt.178 Dies gilt in seiner Wirkung als Subsidiaritätsregelung. Die Übertragung der Erfüllungsverantwortung stellt trotzdem einen Eingriff in die gemeindliche Selbstverwaltung dar; nur eben nicht auf der Ebene der prinzipiellen Umkehrung der Allzuständigkeit zu Gunsten der Gemeindeverbände, mithin einen Eingriff in den absolut geschützten Kernbereich, sondern auf der Ebene 175 Dazu Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 124; Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 188; Knemeyer, NVwZ 1996, 29 (30). 176 BVerwGE 101, 99 (103 ff.); OVG Schleswig, DVBl 1995, 469 (473); Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, Art. 28 Rn. 176; Meyer, Kommunalrecht, Rn. 59; Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 120 ff. m. w. N. 177 Henneke, NVwZ 1996, 1181 ff. 178 Kritisch Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 188 ff.
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der Eigenverantwortlichkeit, hier wiederum bedingt durch die stetige Rückholmöglichkeit lediglich in den Randbereich. Im Randbereich der Eigenverantwortlichkeit wirkt das Aufgabenverteilungsprinzip wie das Übermaßverbot. Es gilt also, legitime Interessen in die Abwägung mit der gemeindlichen Eigenverantwortlichkeit einzustellen. Sicher ist, dass die Übernahme der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben leistungsschwachen Gemeinden „hoch willkommen“ ist.179 Sicher ist aber auch, dass die gemeindliche Selbstverwaltung nicht zur Disposition der Gemeinden steht.180 Dieser Aspekt liefert allenfalls ein Indiz für die Sinnhaftigkeit ergänzender Tätigkeiten der Gemeindeverbände. Entscheidend sind Aspekte der Effizienz, Verwaltungsökonomie und Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Gemeindeverbandsgebiet. Ein Blick auf die Alternative ist im Rahmen angemessener Regelungen ebenfalls angebracht. Ist die Leistungsschwäche einzelner Gemeinden durch eine vertretbare ausgleichende Tätigkeit der Gemeindeverbände kompensierbar, kann diese als milderes Mittel Vorrang genießen. Ist ein solcher Ausgleich jedoch nicht möglich, bleiben die Aufgaben in leistungsschwachen Gemeinden regelmäßig unerfüllt. Die Nichtwahrnehmung basiert dabei nicht auf autonomen Entscheidungen der Gemeinden im Rahmen ihrer Eigenverantwortlichkeit, sondern ist Ausdruck ihrer Leistungsschwäche. Ein Mehr an kommunaler Selbstverwaltung ist hierin nicht zu sehen. Ohne konkret auf die einzelnen landesrechtlichen Regelungen einzugehen, kann zumindest festgehalten werden, dass die Ergänzungsfunktion der Gemeindeverbände (namentlich der Kreise) grds. mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG in Einklang steht, auch wenn und soweit sie die Leistungsfähigkeit zum Maßstab macht. (2) Spezialgesetzliche Zuweisung örtlicher Angelegenheiten Die Zuweisung der Erfüllungsverantwortung durch Generalklauseln ist im Rahmen des typischen Aufgabenbereichs von Gemeindeverbänden also möglich. Kommt es nicht zu einem Entzug der Aufgabensubstanz, so ist im Übrigen das Aufgabenverteilungsprinzip bei der konkreten Übernahme zu beachten. Der aufgabenverteilende Gesetzgeber kann aber auch spezialgesetzlich Aufgaben vollständig und dauerhaft in den Bestand der Gemeindeverbände überführen. Handelt es sich bei der Aufgabe um eine solche der örtlichen Gemeinschaft, hat der Gesetzgeber wiederum das Aufgabenverteilungsprinzip zu beachten. Das folgt unmittelbar aus der interkommunalen Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Um den Gefahren für die gemeindliche Selbstverwaltung begegnen zu können, hat der Gesetzgeber hier 179 180
Ehlers, DVBl 1997, 225 (227). Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 189 f.
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nicht die Möglichkeit genereller Zuweisungen an die Gemeindeverbände. Sie bedürfen der spezialgesetzlichen Grundlage; insoweit besteht Einigkeit.181 Bei der spezialgesetzlichen Zuweisung von Aufgaben an die Gemeindeverbände durch den Gesetzgeber gelten auch darüber hinaus im Wesentlichen die gleichen Voraussetzungen wie bei staatlicher Exekutive örtlicher Angelegenheiten. Der Gesetzgeber hat den Kernbereich unangetastet zu lassen und im Randbereich vor allem das Aufgabenverteilungsprinzip zu berücksichtigen. Letzteres wirkt insbesondere im Bereich der Zuständigkeitsverteilung wie der Subsidiaritätsgrundsatz, im Bereich der Eigenverantwortlichkeit ähnlich dem Übermaßverbot. Bei der spezialgesetzlichen Zuweisung von örtlichen Aufgaben steht dem Gesetzgeber die nicht-gemeindliche Exekutive offen, soweit er seiner Argumentationslast hinreichend Rechnung trägt, er also in der Lage ist, die prioritär gemeindliche Exekutive durch legitime Zwecke verhältnismäßig zu überwinden.182 Die jeweiligen potentiellen Verwaltungsträger bringen je spezifische Voraussetzungen und Besonderheiten mit, die sich, insbesondere was Fragen der Effektivität, Verwaltungsökonomie usw. angeht, in die Beurteilung einstellen lassen.183 Die Funktionsbereiche der Gemeindeverbände spielen insoweit nicht nur bei den freiwilligen, sondern auch bei den pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben, im eigenen und übertragenen Wirkungskreis eine Rolle. Freilich existiert kein kommunaler Vorrang in der Exekutive insgesamt, sondern nur ein gemeindlicher. Durchaus aber kann im konkret zu beurteilenden Falle eine gemeindeverbandliche Exekutive örtlicher Angelegenheiten zulässig sein, während eine solche durch staatliche Behörden unzulässig wäre. Ebenso kann die Übertragung als pflichtige Selbstverwaltungsangelegenheiten der Gemeindeverbände zulässig sein, die Übertragung als Auftragsangelegenheit hingegen nicht. Eine Aufgabe kann sich für die eine Gemeinde als gemeindliche, für eine andere Gemeinde als eher übergemeindliche Aufgabe darstellen. Gründe können in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gemeinde oder auch in geografischen oder soziologischen Voraussetzungen liegen. Hier greift – wie oben beschrieben – die klassische Ergänzungsfunktion der Gemeindeverbände, indem sie zumindest die Erfüllungsverantwortung an sich ziehen, bis die jeweilige Gemeinde die Aufgabe wieder selbst wahrnehmen kann.184 Ist ein Erstarken der Gemeinden nicht zu erwarten oder ist eine Aufgabe traditionell regelmäßig von Gebietskörperschaften wahrgenommen worden, 181
Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 138 ff. m. w. N. Vgl. Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 20 Rn. 163 ff. (November 2009). 183 Vgl. zu möglichen Kriterien unten Kapitel 6 B. IV. 1. 184 s. o. Kapitel 5 A. I. 1 b). 182
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die ein bestimmtes Maß an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit usw. aufgewiesen haben, so kann der Gesetzgeber im Rahmen ihrer Ergänzungsfunktion sogar dauerhaft Aufgaben auf diese übertragen. Das geht – anders als bei Aufgaben im Rahmen der Ergänzungsfunktion im herkömmlichen Sinne – jedoch nur durch spezialgesetzliche Zuweisung. Diese Ergänzungsfunktion kommt originär den Gemeindeverbänden zu, nicht anderen staatlichen Verwaltungsträgern.185 Daher kann sie im Rahmen des Aufgabenverteilungsprinzips die Aufgabenverteilung beeinflussen. Wendet der Gesetzgeber das Aufgabenverteilungsprinzip insoweit konsequent an, wird er dem spezifischen Charakter einer Aufgabe also gerecht, führt dies dazu, dass Aufgaben durch Spezialgesetz vollständig auf die Gemeindeverbände übergehen können oder, so es als milderes Mittel möglich ist, auch nur einzelne Verantwortlichkeiten. Nicht selten ergibt sich so die Zuständigkeit von Kreisen und kreisfreien Städten für ein und dieselbe Aufgabe.186 Hier findet sich also eine gemeindliche, dort eine gemeindeverbandliche Zuständigkeit. In diesem Zusammenhang wird teilweise die Befürchtung geäußert, im Rahmen einer „Salamitaktik“ würde es zu einem stufenweise Entzug gemeindlicher Kompetenzen kommen.187 Zunächst nehme der Gesetzgeber den Gemeinden ihre Kompetenzen zu Gunsten der Gemeindeverbände weg, was u. U. einfacher zu begründen ist, wenn er sie ihnen als pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben zuweist, um schließlich den Gemeindeverbänden die Aufgaben zu Gunsten staatlicher Exekutive zu entziehen, was wiederum den Gemeindeverbänden gegenüber leichter sei, da ihr Selbstverwaltungsrecht die Aufgabenverteilung weitgehend ausklammert.188 Dieser Befürchtung kann allerdings entgegenhalten werden, dass sich durch die vermeintlich einfachere Übertragung von örtlichen Angelegenheiten auf Gemeindeverbände der Maßstab nicht ändert; es bleiben örtliche Angelegenheiten. Kommt es zu einer erneuten Verschiebung der Aufgaben in vertikaler Hinsicht, ist die gemeindliche Selbstverwaltung wieder der Maßstab. Die Kommunen haben als Ebene und die Gemeinden als Träger den vorrangigen Zugriff auf örtliche Aufgaben, was der Gesetzgeber wiederum zu berücksichtigen hat.
185 Vgl. OVG Koblenz, NVwZ-RR 1994, 274 (276); Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 138 ff. 186 Beispielhaft eben § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB II. S. bspw. auch § 27 Abs. 2 SGB I; § 3 Abs. 2 SGB XII; § 3 ÖPNVG NRW; § 2 Abs. 1 DSchG NRW; § 2 Abs. 2 LandNatSchG NRW. 187 Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 58. 188 s. o. Kapitel 5 A. I. 1. b).
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II. Finanzielle Folgen der Aufgabenwahrnehmung Die Länder können im Rahmen ihrer grds. Exekutivkompetenz die Kommunen in die Verwaltung einbinden, ihnen Aufgaben und Verantwortlichkeiten zuweisen. Mangels ausdrücklicher Zuweisung an den Bund, steht nach Art. 70 Abs. 1 GG den Ländern die Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Kommunalrechts zu. Der Bund unterhält mithin kaum eigenständige Beziehungen zur kommunalen Ebene.189 Diese zunächst recht eindeutigen Zuordnungen schaffen Rechtsklarheit und Transparenz zwischen den Ebenen und auch nach außen zum Bürger. Verantwortlichkeiten sind hier eindeutiger zuzuordnen. Der Bürger kann jene einfordern und im Rahmen seiner demokratischen Partizipationsrechte jenen aktiv Konsequenzen zuordnen.190 Die insoweit wünschenswerte Klarheit schafft jedoch auch Abhängigkeiten. Dramatisch deutlich wird dies im Finanzverfassungsrecht. Die finanzverfassungsrechtliche Zugehörigkeit der Kommunen zu den Ländern bedeutet die Verantwortlichkeit der Länder für die adäquate finanzielle Ausstattung der Kommunen, zumindest soweit es um die Erfüllung kommunaler Tätigkeit insgesamt geht. Problematisch wird das Konstrukt, wenn es ausnahmsweise zu Durchbrechungen der klaren Zuordnung im Exekutivbereich kommt, denn die finanzverfassungsrechtliche Zuordnung besteht neben der staatsorganisatorischen. Die Durchbrechung der einen bedeutet nicht gleichsam automatisch auch die Durchbrechung der anderen. 1. Grundlagen der Finanzbeziehungen des Bundes zu Ländern und Kommunen Bei der Bestimmung, wer in einem Mehrebenensystem wie der Bundesrepublik unter dem Grundgesetz die Kosten einer Aufgabenerfüllung zu tragen hat, sind grds. zwei Modelle denkbar. Zum einen kann derjenige die Kosten tragen, der das exekutivbedürftige Gesetz initiiert, mithin der Gesetzgeber. Zum anderen die Exekutivebene, bei der die Kosten tatsächlich entstehen. Grundgesetzlicher Normalfall der finanziellen Lastenverteilung ist das Einheitsprinzip nach Art. 104a Abs. 1 GG.191 Als einheitlich stellen sich hier die Aufgabenwahrnehmung und die Kostentragung dar. Bei seiner 189
Vgl. Worms, DÖV 2008, 353 ff. Dazu später genauer in Kapitel 6. 191 Vielfach auch als Konnexitätsprinzip bezeichnet. Siehe dazu Worms, DÖV 2008, 353 ff. 190
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Etablierung durch die Finanzreform von 1969192 spielte vor allem Folgendes eine entscheidende Rolle: Die Schaffung einer Struktur der klar abgrenzbaren finanziellen Verantwortlichkeiten dadurch, dass letztlich diejenige staatliche Ebene die Kosten zu tragen habe, die für ihre Verursachung maßgeblich verantwortlich sei; regelmäßig also die Länder über Art. 83 GG.193 Das Einheitsprinzip eben im Sinne einer Einheit von Exekutive und Kostentragung, erschien für die damalige Reform-Kommission insbesondere deshalb vorzugswürdig, weil relevante Kostenfaktoren – im Wesentlichen Personal- und Verwaltungskosten – maßgeblich von der Erfüllung der Aufgabe beeinflusst würden. Durch die Einführung des Einheitsprinzips meinte man, so die gut wirtschaftenden und sparsamen Erfüllungsverantwortlichen belohnen zu können.194 Wo diese Konditionierung keinen Erfolg bringen konnte, wurden Ausnahmen statuiert. Diese finden sich in Art. 104a Abs. 2 – 4 GG. Führen die Länder die Angelegenheiten im Auftrag des Bundes aus, verbleiben ihnen die Kosten, deren Verursachung sie, dem Gedanken des Einheitsprinzips folgend, beeinflussen können: Personal- und Verwaltungskosten. Der Bund trägt im Falle der Bundesauftragsverwaltung (Art. 104a Abs. 2, 85 GG) die Zweckkosten. Das sind diejenigen Ausgaben, die Dritten gegenüber erbracht werden.195 In seiner Systematik fragt der Art. 104a GG also nach der jeweiligen Kostenverursachung außerhalb der Aufgabenetablierung. Im Einheitsprinzip ist insoweit der Verursachergedanke bundesstaatlich angelegt.196 Diese Grundsätze gelten zwischen den staatlichen Ebenen, sind also konzipiert hinsichtlich des Verhältnisses von Bund und Ländern. Eigene Finanzbeziehungen des Bundes zu den Kommunen sind finanzverfassungsrechtlich grds. nicht vorgesehen. Dies folgt zunächst konsequent aus der Zuordnung der Kommunen zu den Ländern. Die Art und Weise der Verteilung der Kosten trifft regelmäßig dort auf Ablehnung, wo sie anfallen. Um vor Überforderung zu schützen, richtet sich die Aufteilung der staatlichen Einnahmen auch an der Frage des Finanzbedarfs aus. Die Grundzüge der Mittelaufteilung finden sich in den 192 21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12. Mai 1968, BGBl I 1968, S. 359. Dazu grundsätzlich und ausführlich Hellermann, in: von Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 104a Rn. 29 ff. 193 BT-Drs. 5/2861, S. 23. 194 BT-Drs. 5/2861, S. 30. 195 Hellermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 104a Rn. 46 m. w. N. 196 Hellermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 104a Rn. 33.
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Art. 105 ff. GG. Nun unterliegen die Einnahmen und Ausgaben der staatlichen Ebenen sowie der Kommunen stetigen Schwankungen. Der Finanzbedarf hängt neben konjunkturellen und strukturellen Faktoren auch von der konkreten exekutiven Belastung der einzelnen Ebenen ab, mithin vom initiierenden Gesetzgeber. Hier Schritt zu halten stellt die Finanzverfassung vor erhebliche Schwierigkeiten. Die stabilisierende Funktion einer Verfassung durch Kontinuität und Änderungsfestigkeit erweist sich gerade im Hinblick auf die finanzielle Regelung bereits im Grundsatz als durchaus problematisch. So wundert es nicht, dass es bereits zu 64 Einzeländerungen im Bereich der Finanzverfassung seit 1949 gekommen ist.197 Eine entscheidende Änderung betraf die Einbeziehung der Kommunen in die Ertragsverteilung der Einkommens- und Umsatzsteuer nach Art. 106 GG im Jahre 1997. Neben der Änderung der Abs. 3, 5a und 6 wurde auch dem Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG ein zweiter Halbsatz angefügt.198 Konkreter Auslöser für die Stärkung der finanziellen Position der Kommunen war die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1. Januar 1998. Die Änderung reagierte aber nicht zuletzt auch auf die Entwicklung der Haushaltssituation in den Kommunen. Im Zuge der Wiedervereinigung und dem Anstieg der Sozialausgaben und gleichzeitigem Rückgang der Steuererträge vor allem in der Mitte der 1990er Jahre, stieg die Verschuldung der öffentlichen Haushalte bedrohlich an.199 Das galt auch und insbesondere für die Kommunen. Hier war ein überdurchschnittlicher Anstieg der Verschuldung zu erkennen, welcher bzgl. der Leistungsfähigkeit der Kommunen in einigen Regionen geradezu dramatische Ausmaße annahm.200 An diesem Schuldenzuwachs waren die staatlichen Ebenen nicht unschuldig. Die Kommunen sind es, die einen beachtlichen Teil der Sozialleistungen vor Ort erbringen. Ein Anstieg der Empfänger von staatlichen Sozialtransferleistungen trifft sie also besonders. Gleichzeitig aber unterhalten sie grds. keine finanziellen Beziehungen zum Bund. Seit 1997 sind sie immerhin am Steueraufkommen beteiligt (Art. 106 197 Zuletzt u. a. die Einführung der sog. Schuldenbremse durch Gesetz vom 1. August 2009, BGBl I 2009, S. 2248 ff.; zum Stand bis dahin Henneke, DVBl 2009, 561 (561). 198 Bereits 1994 kam es zur Erweiterung des Art. 28 Abs. 2 um den Satz 3. Danach umfasst das Selbstverwaltungsrecht auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung. Solange aber eine verfassungsrechtliche Anpassung der Art. 105 ff. GG nicht gleichfalls erfolge, blieb diese Änderung rein deklaratorisch und erweiterte den Schutz der kommunalen Selbstverwaltung nicht. 199 Siehe dazu; Holtkamp, Wer hat Schuld an der Verschuldung?, S. 3; Schwarting, Einige Gedanken zur fiskalischen Disziplin kommunaler Gebietskörperschaften in Deutschland, in: Genser (Hrsg.), Haushaltspolitik und öffentliche Verschuldung, S. 131 ff. 200 Überblick zu der Situation in den Kreisen Wohltmann, Landkreis 2007, 201 ff.
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Abs. 7 GG). Die Kommunen sind strukturell in einer schwierigen Position. Können Bund und Länder Aufgaben erfinden und diese an andere Ebenen weitergeben, können die Kommunen letzteres nicht. Ist mit der Exekutive auch die Kostentragung verbunden, liegt es nahe, insbesondere in Zeiten knapper Kassen, Aufgaben an die unterste Ebene weiterzureichen, welche selbst nicht mehr dazu in der Lage ist. Hier bleiben dann die Kosten hängen. Die Aufnahme der Kommunen in die grundgesetzliche Finanzverfassung begegnet dieser Tendenz auf der Folgenseite. Obgleich der Bund grds. keine eigenständigen Beziehungen zu den Kommunen pflegt, wird dies finanzverfassungsrechtlich an dieser Stelle partiell durchbrochen und deutet bereits an, dass der Bund auch im Bereich der Aufgabenverteilung nicht jedenfalls und hermetisch vom Zugriff auf die Kommunen abgetrennt ist. 2. Finanzbeziehung von Ländern und Kommunen – vor allem die Konnexitätsregelungen Zunächst sei aber noch kurz der „Normalfall“ kommunaler Exekutive im Bereich zugewiesener Erfüllungsverantwortung benannt. Die Länder geben Aufgaben, welche sich aus eigenen oder Gesetzen des Bundes ergeben, zur Erfüllung an die Kommunen weiter. Nach den bereits beschriebenen Grundsätzen tragen sie sodann regelmäßig die Kosten. Dies folgt bereits aus der Verfassungsautonomie der Länder (vgl. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) und ihrer Zugriffskompetenz auf die Kommunen.201 Mit den Ländern steht den Kommunen jedoch ein Adressat gegenüber, der zumindest grds. finanzielle Verpflichtungen ihnen gegenüber zu Erfüllen hat. Die Maßgabe der Sicherung einer finanziellen Grundausstattung zur Kompensation der Kostenbelastung durch übertragene Aufgaben trifft zuvörderst die Länder als Zuordnungssubjekt. Mehr als eine Grundausstattung folgt aus den allgemeinen verfassungsrechtlichen Schutzvorschriften kommunaler Selbstverwaltung indes regelmäßig nicht. Sie sind im Wesentlichen in ihrem Schutz mit Art. 28 Abs. 2 GG vergleichbar. Einen effektiven Ausweg aus der Schuldenfalle bietet dies nicht. Landesverfassungsrechtlich hat sich daraus folgend die Etablierung sog. Konnexitätsregelungen in mittlerweile sämtlichen deutschen Flächenländern ergeben.202 Das landesverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip kann in zwei Grundformen auftreten: Es kann entweder relativ oder strikt203 sein. Dies hängt davon ab, ob neben einem nur formellen Regelungsauftrag auch 201 202 203
Dazu Schoch, NVwZ 2004, 1273 ff. Worms, DÖV 2008, 353 ff. Grundsätzlich dazu Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 238.
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materielle Anforderungen an den Regelungsinhalt gestellt werden. Beschränkt sich die Konnexitätsregelung auf erst genanntes, ist von einem relativen Konnexitätsprinzip auszugehen. Hier wird lediglich die legislative Pflicht zur Schaffung einer Kostendeckungsregelung gefordert, es geht mithin um das Ob einer solchen Regelung. Über die Art und Weise, also das Wie einer solchen Kostendeckung, schweigen diese Regelungen.204 Der gesetzgeberische Einschätzungsspielraum ist entsprechend groß; die Kostendeckung erfolgt dann regelmäßig über den allgemeinen kommunalen Finanzausgleich.205 Stellt die Regelung hingegen auch Anforderungen an die materielle Ausformung der Kostendeckungsregelung, wird die Zulässigkeit einer Aufgabenübertragung von der konkreten Kostendeckung abhängig gemacht.206 Regelmäßig fordern die Konnexitätsregelungen dazu einen aufgabenspezifischen Mehrbelastungsausgleich, über den die saldierten Kosten zu erstatten sind. Hier kann von einem strikten Konnexitätsprinzip gesprochen werden. Bis auf das Saarland207 haben sich alle Flächenländer für die Einführung des strikten Konnexitätsprinzips entschieden. Wiederum alle sprechen ausdrücklich von dem Ausgleich entstehender Mehrbelastung. Einzig in Art. 78 Abs. 3 NRWLV findet sich stattdessen die Formulierung „finanzieller Ausgleich“ von „wesentlichen Belastungen“. Ausweislich des § 4 Abs. 1 NRWKonnexAG208 ist hier allerdings inhaltlich gleiches gemeint. Gegenüber der allgemeinen Finanzausstattungsgarantien sind die Konnexitätsregelungen nunmehr kraft ihrer Spezialität vorrangig anwendbar.209 Aus diesem Vorrang folgt gleichzeitig, dass es sich bei dem kommunalen Finanzausgleich und der Kostenerstattung nach dem Konnexitätsprinzip um zwei getrennte Finanzierungssysteme handelt. Die Kostenerstattung nach dem Konnexitätsprinzip ist demnach als Begründung für eine Absenkung des Finanzvolumens innerhalb des kommunalen Finanzausgleichs untauglich.210 Der Schutz der Konnexitätsgrundsätze bezieht sich dabei auf jede einzelne Kommune und ist so auch kommunal-individuell durchsetzbar, 204
So bspw. der Art. 78 Abs. 3 NRWLV in der Fassung bis zum 1. Juli 2004. Dazu Schröder, in: Grimm (Hrsg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz, Art. 49 Rn. 16 ff. 206 Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 239. 207 Art. 120 Abs. 1 Satz 2 SaarlLV. Die Konnexitätsregelung im Saarland wurde durch Gesetz vom 25. August 1999 eingefügt. Hier wurde die formelle Regelungsverpflichtung begründet. Der materielle Regelungsgehalt wird nicht näher bestimmt. Vielmehr entspricht der Art. 120 Abs. 1 Satz 2 SaarlLV seiner Vorgängerregelung (Art. 120 Abs. 2 SaarlLV), die die allgemeine Finanzgarantie beschrieb. 208 Gesetz vom 22. Juni 2004, NRWGVBl 2004, S. 360. 209 Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 227. 210 So wohl auch Schoch, BWVBl 2006, 122 (123, 127). 205
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was bereits aus der kommunalen Selbstverwaltung als Schutzgut des Konnexitätsprinzips folgt.211 Kann hierin bei konsequenter und zweckgerichteter Auslegung eine echte Stütze finanzieller Leistungsfähigkeit der Kommunen gesehen werden, gilt dies für die Beziehung der Länder zu den Kommunen. Jedenfalls immer dort, wo die Länder einen Ausgestaltungsspielraum haben und diesen Wahrnehmen; möglicherweise sogar wenn sie den Spielraum nicht nutzen.212 Bundesstaatlich gilt die Spezialität gegenüber Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG indes nicht. Der Forderung nach einer tatbestandlichen Ausdehnung der Anwendbarkeit des Konnexitätsprinzips auf die Beziehungen zwischen Bund und Kommunen sowie auf die Übertragung von EU-Aufgaben213 wurde nicht gefolgt.214 Eine Verpflichtung des Bundes aus Landesverfassungsrecht ist nicht möglich.215 Für alle Bundesländer gilt demnach was § 1 Abs. 2 RPKonnexAG beispielhaft klarstellt: „Das Konnexitätsprinzip gilt bei europa- und bundesrechtlichen Regelungen nicht, solange dem Land kein eigener Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung bleibt.“ Einer solche Anwendbarkeit bedarf es schließlich auch nur, wenn der Bund unter Auslassung relevanter Länderbeiträge die Kommunen zur Aufgabenerfüllung verpflichten kann. Dies ist grds. nicht vorgesehen. Wie bereits angedeutet kann es allerdings ausnahmsweise doch zu einem sogenannten unmittelbaren Bundesdurchgriff auf die Kommunen kommen. Präziser ausgedrückt konnte es zu einem solchen bis 2006 kommen. 3. Aufgabendurchgriff des Bundes bis 2006 Zumindest für die Zukunft wurde durch die Änderung bzw. Einfügung der Art. 84 Abs. 1 Satz 7 und Art. 85 Abs. 1 Satz 2 GG ein unmittelbarer Bundesdurchgriff auf die Kommunen im Wege der Föderalismusreform216 weitgehend ausgeschlossen. Soweit es die den Kommunen bislang vom Bund zur Erfüllung zugewiesenen Aufgaben und die damit verbundenen Kosten betrifft, ist grds. die Rechtslage bis 2006 relevant.217 211 Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 228; Henneke, Landkreis 2009, 354 ff. 212 Worms, DÖV 2008, 353 ff. 213 Vgl. dazu RPLT-Drs. 14/2739, S. 5. Siehe auch Henneke, Landkreis 2004, 141 (142 f.). 214 Bspw. RPLT-Drs. 14/3016, S. 3; siehe auch § 1 Abs. 2 des RPKonnexAG, Gesetz vom 2. März 2006, RPGVBl 2006, S. 53. 215 BWStGH, BWVBl 1999, 294 (297). 216 Gesetz vom 28. August 2006, BGBl I 2006, S. 2034. 217 Ipsen, NJW 2006, 2801 (2802).
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Eine eigene Bestimmung über den unmittelbaren Bundesdurchgriff gab es nicht. Dort, wo der Bund nach Art. 87 GG die Verwaltung in die eigenen Hände nimmt, ist für eine kommunale Exekutive kein Raum. Es bleiben demnach nur die Vorschriften über die Länderexekutive im Regelfall (Art. 84 GG) und im Rahmen einer Bundesauftragsverwaltung (Art. 85 GG) für eine Beteiligung der Kommunen an der Verwaltung unmittelbar durch den Bund. Hiernach führen die Länder Bundesgesetze als eigene (Art. 84 GG) oder eben im Auftrag des Bundes (Art. 85 GG) aus. Die Aufgabe selbst (Art. 84 GG) oder zumindest weite Teile der Verwaltungsverantwortung (Art. 85 GG) liegt bei den Ländern. Daran änderte auch der jeweils später folgende Relativsatz, „soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen“ (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG a. F.), im Kern nichts. Er bezog sich jeweils auf einen Ausschnitt der Verwaltungsverantwortlichkeit, nämlich auf Regelungen über „die Einrichtung der Behörden“ (Art. 85 Abs. 1 Satz 1 GG a. F.) und/oder „das Verwaltungsverfahren“ (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG a. F.), mithin auf die Organisationsverantwortlichkeit.218 Zunächst unabhängig von der Frage, welche konkreten Kompetenzen dem Bund hierüber zustanden, war jedenfalls eindeutig, dass eine Inanspruchnahme der Abweichungsmöglichkeit nicht mit einem Verlust der Aufgaben- bzw. Verantwortlichkeit der Länder einherging. Die in Art. 84, 85 GG a. F. folgenden Regelungen über die Aufsicht machten dies unmittelbar deutlich. Sie setzen einen Fortbestand geradezu notwendig voraus.219 Demnach waren die genannten Vorschriften jedenfalls nicht geeignet eine umfassende Revision zu begründen. Daraus folgte daher, dass die Aufgabenzuständigkeit der Länder im Rahmen von Art. 84 Abs. 1 GG a. F. und diejenige des Bundes sowie die grds. Verantwortlichkeiten der Länder nach Art. 85 Abs. 1 GG a. F. erhalten blieben. Allein die konkrete organisatorische Umsetzung konnte vom Bund zu Gunsten der Kommunen u. U. präzisiert werden. Möglich war ein solches Vorgehen überhaupt allein über die Abweichungskompetenz zur Behördeneinrichtung.220 Ob und ggf. inwiefern die Behördeneinrichtung auch die Benennung der Kommunen einschloss, war und ist teilweise heftig umstritten.221 Ausgangspunkt war, welcher Behördenbegriff in Art. 84 Abs. 1 GG a. F. verwendet wurde und was unter Ein218
Vgl. dazu Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 172. Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84 Rn. 9 ff.; Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 84 Rn. 12 ff. (Januar 1985); beide m. w. N. 220 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 84 Rn. 27 ff. (Januar 1985). 221 Eingehend Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 115 ff.; Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84 Rn. 12 f. m. w. N. 219
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richtung jener zu verstehen war. Verfassungsbegriffe sind spezifisch für sich auszulegen. So konnte der Behördenbegriff des Art. 84 GG a. F. ein anderer sein, als derjenige des Art. 87 oder 86 GG. Die systematische Nähe legte eine ähnliche Interpretation allerdings nahe und ließ zumindest vermuten, dass gleiches gemeint war. Oben wurde bereits dargelegt, dass der Behördenbegriff des Art. 87 GG weit zu verstehen ist und Behörde „jedes selbstständige, nicht rechtsfähige Organ eines Trägers öffentlicher Verwaltung, das mit Außenzuständigkeiten zu konkreten Rechtshandlungen auf dem Gebiete der Verwaltung ausgestattet ist“222, ist. Noch weitergehender kann auch von amtlichen Stellen gesprochen werden.223 Für eine engere Auslegung des Behördenbegriffs spricht der Ausnahmecharakter der Bestimmungen. So wäre eine Einschränkung auf nicht kommunale Behörden denkbar. Immerhin umfasst Art. 87 GG nur Bundesbehörden. Landes- oder Kommunalbehörden sind hier bereits logisch ausgeschlossen. Ein solch logischer Schluss ergab sich auf die kommunale Eben bezogen bei Art. 84 GG a. F. gerade nicht. Da auch im Rahmen einer Exekutive nach Art. 84 GG a. F. kommunale Behörden letztlich durch Landesrecht dazu bestimmt sein konnten, Träger bestimmter Aufgaben zu sein, war die kommunale behördliche Tätigkeit Option des Art. 84 GG a. F. und ist es nach wie vor. Die grds. Systemwidrigkeit einer kommunalen Exekutive durch Bundesgesetz taugte auch nicht als Argument für einen Ausschluss kommunaler Stellen aus dem Behördenbegriff. Schnittmengen zwischen Kommunen und Bund gab und gibt es bundesverfassungsrechtlich schließlich punktuell sehr wohl. Etwas anderes könnte sich nur daraus ergeben haben, dass im Ergebnis die Ausnahmeregelung zum faktischen Regelfall verkommen konnte. Warum aber gerade beim Behördenbegriff ein Korrektiv eingezogen werden sollte und warum ausgerechnet im Hinblick auf die kommunale Ebene, erscheint unklar und eher zufällig. Aus alledem folgt aber auch, dass der Bund den Kommunen jedenfalls keine Selbstverwaltungsaufgaben zuweisen konnte.224 Zum einen waren die Kommunen dann keine unselbständigen (Landes-)Behörden, sondern eine eigene Verwaltungsebene mit eigenen Behörden. Zum anderen nahm der Bund eine Organisationskompetenz im Rahmen der Art. 84, 85 GG a. F. in Anspruch und übertrug die Aufgaben selbst zunächst den Ländern (Art. 84 GG a. F.) oder nahm sie als eigene (Art. 85 GG a. F.) wahr.225 Ob die Län222
Krebs, JuS 1989, 745 (748). Vgl. Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 84 Rn. 26 (Januar 1985). 224 BVerfGE 22, 180 (207 f.). 225 So i. E. auch Henneke, NdsVbl. 2007 171 ff.; anders grds. Knitter, Das Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, S. 110 ff. 223
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der die Aufgaben den Kommunen als Selbstverwaltungsaufgaben zuweisen würden, blieb jedenfalls formal ihnen überlassen. Das folgt außerdem aus der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, nach der Art. 84 Abs. 1 GG a. F. ausschließlich dem Schutz der Länder diente, nicht demjenigen der Kommunen.226 Das konnte nur plausibel sein, wenn die Frage der Ausflaggung der Aufgaben zwischen Bund und Kommunen kein Thema war. Hätte dem Bund diese Befugnis über Art. 84 Abs. 1 GG a. F. zugestanden, hätten die Kommunen dies gerichtlich überprüfen können müssen, denn eine solche Bundesentscheidung hätte die Gestalt der kommunale Selbstverwaltung wesentlich mitgeprägt. Die „Behördeneinrichtung“ betraf daher ausschließlich die Freiheit der Länder im Rahmen ihrer Verantwortlichkeiten oder Aufgaben selbst über die Verteilung dieser zu entscheiden. Daher war auch ein insoweit restriktiv verstandener Aufgabendurchgriff des Bundes nicht ohne weiteres möglich. Wie bereits im Zusammenhang mit Art. 87 und Art. 86 GG angesprochen, kann begrifflich die Einrichtung von der Errichtung unterschieden werden. So könnte angenommen werden, erstere beziehe sich auf die konkrete innere und äußere Organisation bestehender Einrichtungen. Errichtung wiederum sei der Errichtungsakt, also das Ins-Leben-rufen einer Einrichtung. Im Zusammenhang mit der Bundesexekutive wurde dieses Begriffsverständnis bereits abgelehnt und dargelegt, dass die Errichtung notwendig auch die Einrichtung mit umfasst. Das ist und war im Rahmen der Art. 84, 85 GG (a. F.) nicht anders. Der Parlamentarische Rat hat die Begriffe synonym und geradezu beliebig verwendet.227 Eine besondere Spezifizierung der Kompetenzen war nicht angestrebt. Insofern sind die Begrifflichkeiten zum einen gleich und zum anderen eben dem Sinn folgend weit zu verstehen. So umfasst die Behördeneinrichtung grds. alle organisatorischen und institutionellen Fragen rund um den Behördenapparat. Die Schaffung neuer Behördenstrukturen ist damit ebenso möglich wie die Einbeziehung vorhandener Behörden.228 Begrenzt war diese Kompetenz bereits ausdrücklich durch den statuierten Gesetzesvorbehalt mit Zustimmungserfordernis. Um den eigenen originären Kompetenzbereich vor allzu schwerwiegenden Eingriffen des Bundes zu schützen, haben die Länder ein Mitwirkungsrecht zugesprochen bekommen. Darüber hinaus ergeben sich weitere Einschränkungen. 226 Zuletzt BVerfGE 119, 331 (358) m. w. N.; vorher bspw. BVerfGE 22, 180 (209 f.); vgl. auch Henneke/Ruge, in: Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84 Rn. 10. 227 s. o. Kapitel 4 A. II. 1. b) und Kapitel 4 A. II. 2. a) cc). 228 Lerche, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 84 Rn. 27 (Januar 1985); Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Rn. 41; Trute, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 84 Rn. 11 m. w. N.
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Die enge Verzahnung von Verwaltungs- und Gesetzgebungskompetenzen wurde bereits dargelegt.229 Auch hier setzt die gesetzliche Zuweisung von Aufgaben die Inanspruchnahme einer materiellen Gesetzgebungskompetenz voraus. Mangels ausdrücklicher Zuweisung obliegt das Kommunalrecht allerdings der Gesetzgebungskompetenz der Länder. Sie regeln demnach gesetzlich die Verwaltungsorganisation und -struktur der Kommunen, vor allem im übertragenen Wirkungskreis. Anknüpfungspunkt für eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes können nur die ihm zugewiesenen Kompetenzen im Rahmen der Art. 73 ff. GG sein. Regelungen über die Behördeneinrichtung und das Verwaltungsverfahren im kommunalen Bereich stellen sich als „Annexe“ zu jenen Kompetenzen dar. Die teilweise vertretene Ansicht, diese sog. ungeschriebenen Kompetenzen seien als solche spezielle der Länderkompetenz im Kommunalrecht vorrangig, barg folgende Gefahren: Die Abweichungskompetenz des Bundes nach Art. 84 Abs. 1; 85 Abs. 1 GG a. F. konnte zu einer Aushöhlung und faktischen Umkehrung materieller Befugnisse im Kommunalrecht führen. Als Ausnahmebestimmungen war jedoch sicherzustellen, dass Art. 84 Abs. 1; 85 Abs. 1 GG a. F. nicht zum Regelfall der Exekutive würde. Daher forderte das BVerfG und mit ihm die h. M., dass nicht der Gesetzesvollzug eines kompletten Kompetenztitels kommunalisiert wurde, sondern es sich stets nur um eine punktuelle Kompetenzerweiterung im Rahmen eines Titels nach Art. 73 ff. GG handeln konnte.230 Parallelen zu den Gesetzeskompetenzen zeigen sich auch, wenn BVerfG und h. M. die Erforderlichkeit einer kommunalen Einbeziehung zur Voraussetzungen eines unmittelbaren Bundesdurchgriffs machten. Die Erforderlichkeit bezog sich wiederum auf die Wirksamkeit des Vollzugs. Dies erinnert an die Formulierung des Art. 72 Abs. 2 GG und wurde im Ergebnis auch weitgehend gleich ausgelegt.231 Nicht selten werden hier auch kommunale Belange in die Erwägung eingestellt. Insbesondere Fragen der finanziellen Mehrbelastung der Kommunen durch Umgehung der landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsvorschriften.232 Allerdings konnten diese Aspekte im Zusammenhang mit Art. 84, 85 GG a. F. keine Rolle spielen. Der Schutz der Kommunen vor finanzieller und sons229
s. o. Kapitel 1. BVerfGE 22, 180 (210); 77, 288 (299). 231 Vgl. Schoch/Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, S. 42 f. Das Erforderlichkeitskriterium wird zumindest der Sache nach teilweise als Übermaßverbot oder Bedürfnis bezeichnet, häufig für die Inanspruchnahme der Abweichungskompetenz insgesamt herangezogen. Siehe dazu Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 84 Rn. 40; Broß, in: von Münch/ Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 84 Rn. 11; Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 84 Rn. 2. 232 Bspw. Henneke, Landkreis 2004, 141 ff. m. w. N.; vgl. auch BVerfGE 119, 331 (358). 230
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tiger Überforderung durch Aufgabenübertragung erwächst primär aus Art. 28 GG. Art. 84, 85 GG a. F. befassten sich mit der Frage der Länderexekutive und deren Ausgestaltung. Die Kommunen traten hier als „Behörden“233 der Länder, nicht als eigenständige Rechtssubjekte auf. Daher sind die Vorschriften auch nicht dem Schutz der kommunalen Selbstverwaltung zu dienen bestimmt. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass die Frage eines zulässigen Bundesdurchgriffs durch das Grundgesetz eigenständig beantwortet wird. Die Aufnahme von Konnexitätsregelungen in mittlerweile alle Landesverfassungen234 bestimmt nicht den Schutzumfang bundesverfassungsrechtlicher Vorschriften. Andernfalls würden Vorschriften wie Art. 31 GG geradezu umgekehrt. Somit war die Inanspruchnahme der Abweichungskompetenz durch den Bund i. S. e. unmittelbaren Durchgriffs auf die kommunale Ebene nur statthaft, wenn der Durchgriff – auf der Inanspruchnahme einer punktuellen Annexkompetenz zu einer materiellen Gesetzgebungskompetenz des Bundes basierte und – die Heranziehung der Kommunen durch den Bund für den wirksamen Vollzug erforderlich war. Diese Einschränkungen basierten ebenso wie der Behörden- und Einrichtungsbegriff selbst auf den dargelegten systematischen und teleologischen Erwägungen. Insofern handelt es sich insgesamt um eine Erweiterung der Kompetenzen durch Auslegung. Teilweise wurden hinsichtlich der Restriktionen der erweiterten Kompetenz auch systematische Erwägungen im Hinblick auf die finanzverfassungsrechtlichen Folgen eines unmittelbaren Bundesdurchgriffs herangezogen, partiell sogar ein Durchgriff daraufhin vollends, trotz grds. weitem Behörden- und Einrichtungsbegriffs, ausgeschlossen.235 Die potentielle Untergrabung kommunaler Handlungsspielräume sei immanente Grenze bundesgesetzlicher Handlungsmöglichkeiten. Dieser Argumentation ist zuzugestehen, dass die Folgen für die kommunale Ebene, durch das Verschieben von Finanzierungslasten auf die unterste Ebene, zu 233 Der Behördenbegriff ist hier indes erheblich zu strapazieren, denn treten die Kommunen als Landesbehörden im Rahmen von Art. 84 Abs. 1 GG auf, könnten u. U. nur staatliche Aufgaben überhaupt von einem unmittelbaren Bundesdurchgriff umfasst sein und so eine Übertragung auch durch die Länder als Selbstverwaltungsaufgaben ausschließen. Dann wäre ein Bundesdurchgriff bei potentiellen Selbstverwaltungsaufgaben von vornherein ausgeschlossen. Um das zu verhindern, muss der Behördenbegriff hier so verstanden werden, dass er die eher abstrakte staatsorganisatorische Zuordnung der Kommunen zu den Ländern meint. 234 Dazu ausführlich Worms, DÖV 2008, 353 ff. 235 Vgl. Hellermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 104a Rn. 56; Schoch/Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, S. 40 ff. m. w. N.
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gravierenden Problemen führen kann und geführt hat. Allerdings stellt sich dies als Problem der kommunalen Selbstverwaltung dar und ist in diesem Zusammenhang auch justiziabel. Ein darüber hinausgehender Schutz war von Art. 84, 85 GG a. F. nicht intendiert.236 Hier ging es um die Verteilung von Exekutivkompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern. Finanzielle Folgen für die Kommunen können entweder über Art. 28 GG aufgefangen oder müssen politisch gelöst werden. Im Übrigen waren diese Erwägungen nicht notwendig, um die genannten Kompetenzschranken einzuziehen. Allenfalls konnte es hierbei darum gehen, den Schutz der Kommunen zu erweitern. Gerade das hat das BVerfG aber abgelehnt und auch zur Begründung der limitierten Zugriffskompetenz auf die Kommunen nie herangezogen.237
B. Kommunale Aufgabenträgerschaft Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im SGB II brachte für die Kommunen erhebliche Veränderungen ihres Wirkungskreises mit sich. Im Bereich der Sozialhilfe (BSHG i. V. m. den Ausführungsgesetzen der Länder) waren die Kommunen vorher für die Arbeitsvermittlung ebenso zuständig wie für die Regelleistungen. Die Zuweisung dieser Bereiche zu der Bundesagentur für Arbeit 2005 bedeutete für die Kommunen einen materiellen Aufgabenentzug; in personeller Hinsicht einen solchen bzgl. der vormaligen Sozialhilfeempfänger. Gleichzeitig hat der Bund den Kommunen bestimmte Aufgaben der Grundsicherung für Arbeitsuchende unmittelbar zur Erfüllung zugewiesen (Aufgabendurchgriff).
I. Aufgabenentzug gegenüber den Kommunen 1. Örtliche Angelegenheiten als materieller Bezugsrahmen a) Arbeitsvermittlung als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft Um dem Anwendungsbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie zu unterfallen, musste es sich bei der Arbeitsmarktpolitik im Bereich Fürsorge um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft handeln. 236
Brosius-Gersdorf, VSSR 2005, 335 (371 f.). Vgl. BVerfGE 22, 180 (210); 77, 288 (299); 119, 331 (358 ff.); BWStGH, DVBl 1999, 1351 (1353); Lühmann, Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, S. 160 ff.; Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 87 ff.; Henneke, Landkreis 2005, 3 (5). 237
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Aus historischer Perspektive war die Arbeitsvermittlung stets auch, jedenfalls im Rahmen der öffentlichen Fürsorge, kommunale Aufgabe. Zwar haben die Kommunen von der Entstehung öffentlicher Fürsorge und Arbeitsmarktpolitik bis heute keinen unveränderten Kompetenzbereich aufzuweisen; insbesondere gilt dies bzgl. der Ingerenzrechte von Reich/Bund bzw. deren Inanspruchnahme.238 Für den Bereich der Fürsorgeangelegenheiten blieben sie zwar durchgehend erfüllungsverantwortlich vor Ort, jene Aufgaben waren aber nichts stets solche des eigenen Wirkungskreises und der Umfang der Eigenverantwortlichkeit war im zeitlichen und historischen Kontext unterschiedlich stark ausgeprägt. Dennoch kann immerhin allgemein festgestellt werden: Kommunale Arbeitsmarktpolitik bildete immer wieder den Motor und die Initiative für die Entwicklung und Etablierung innovativer Instrumente auch der staatlichen Arbeitsmarktpolitik. Auf der kommunalen Ebene wurde Arbeitslosigkeit angesichts der zahlreichen – vor allem ökonomischen und sozialen – Folgen stets zuerst wahrnehmbar. Der Zentralstaat trat meist zeitlich nachfolgend auf. Je mobiler die Bürger wurden, desto gesamtstaatlicher wurden auch Teil-Aspekte des Problems Arbeitslosigkeit und umso massiver trat der Zentralstaat dann auch auf den Plan. Zunächst in Form von allgemeinen Weisungen und im weiteren Sinne rechtlichen, generalklauselartigen Vorgaben, später immer konkreter und ausdifferenzierter. Während in der Weimarer Republik eher ein kontinuierlicher Verlust kommunaler Arbeitsmarktpolitik feststellbar war,239 ist die Entwicklung in der Bundesrepublik wellenförmig. Je nach politischer Prämisse, wurden die Kommunen mal stärker mal schwächer arbeitsmarktpolitisch aktiviert.240 Die Hartz-Reformen erklärten die „Zentralisierung“ der Arbeitsmarktpolitik zum Leitmotiv.241 Zwar sollte der Verwaltungsunterbau der Bundesagentur für Arbeit, welche nun das tradierte Doppelregime im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ablösen sollte, gestärkt werden und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Individualisierung und Qualifizierung, welche maßgeblich von den Kommunen entwickelt wurden, sollten übernommen und ausgebaut werden. Aus der Exekutive sollten die Kommunen aber nahezu vollständig ausgeschlossen werden, was aus historischer Perspektive ein Novum bedeutet hätte. Die Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik im Bereich der Fürsorge sind insofern historisch betrachtet durchaus (auch) örtliche.242 238
Ausführlich behandelt in Kapitel 2. s. o. Kapitel 2 D. II. 2. c). 240 Gerade Ende der 1980er und Anfang bis Mitte der 1990er Jahre wurde kommunale Kompetenzen eher gestärkt. Dazu oben Kapitel F. 241 s. o. Kapitel 3. 242 Anders aber ohne Begründung Dyllick/Lörincz/Neubauer, ZFSH/SGB 2009, 204 (207). 239
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An dieser Stelle wird dem historischen Befund von der Literatur teilweise entgegenhalten, dass angesichts der zunehmenden Durchnormierung und des praktischen Bedeutungsverlusts kommunalen Einflusses auf die Wahrnehmung der Sozialhilfe bereits seit der Weimarer Republik nicht (mehr) von einer örtlichen Aufgabe gesprochen werden könnte.243 Relevant – i. S. v. der Sache nach – durch die Kommunen beeinflusst sollen ca. 10% aller Entscheidungen im Rahmen des BSHG gewesen sein.244 Zwar seien den Kommunen die Verwaltungsaufgaben im Bereich der Sozialhilfe über § 96 BSHG i. V. m. den jeweiligen Ausführungsgesetzen der Länder als Selbstverwaltungsaufgaben zugewiesen gewesen, doch habe dies faktisch lediglich in formeller Weise zugetroffen. Handelte es sich bei der Sozialhilfe tatsächlich nur um formelle Selbstverwaltungsaufgaben, könnte dies bedeuten, dass der Entzug wiederum nur die rechtliche Anerkennung eines ohnehin bestehenden faktischen Zustands bedeutete.245 Diese Frage bedarf aus zwei Gründen hier keiner näheren Untersuchung. Die Betrachtung der Sozialhilfe als Gesamtaufgabe kann nur äußerst bedingt fruchtbar gemacht werden. In dem erörterten Zusammenhang käme es darauf an, dass die Arbeitsvermittlung im Bereich der Fürsorge eine rein formelle Selbstverwaltungsaufgabe ist bzw. war. Möglicherweise war der Einfluss der Kommunen hier wesentlich höher. Wichtiger aber ist, dass es bei der Beschreibung einer Selbstverwaltungsaufgabe als rein formelle darum geht, dass der praktische Einfluss der Kommunen, basierend auf dem Recht eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung, begrenzt ist. Das setzt aber die Existenz einer Selbstverwaltungsaufgabe voraus und beschreibt lediglich ein Problem innerhalb des Rechts auf kommunale Selbstverwaltung. Durch einfachgesetzliche Durchnormierung könnten Bund und Länder andernfalls die Örtlichkeit einer Aufgabe bestimmen und so auch Aufgaben aus dem Schutzbereich der kommunalen Selbstverwaltung ausschließen. Eine Aufgabe ändert aber nicht ihren Charakter durch ein solches Vorgehen. Würde man das Phänomen selbst bereits beim Merkmal der Örtlichkeit normativ diskutieren wollen, müsste man die Durchnormierung und Einflussnahme durch Bund und Länder als zulässige hinnehmen. Dort liegt aber das eigentliche Problem. Gleichgültig also, ob es sich bei der Arbeitsvermittlung um eine formelle Selbstverwaltungsaufgabe handelt oder nicht, ändert das nichts an dem historischen Befund, dass sie traditionell (auch) in den Bedürfnissen der örtlichen Gemeinschaft wurzelt. 243
Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 48 ff., 62 ff. Hardt/Hoffmann/Postlep (Hrsg.), Kommunale Haushaltsstrukturen und Selbstverwaltungsspielräume, S. 74 ff. 245 In diesem Sinne Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 62 ff. 244
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Verfassungssystematisch allerdings reduziert sich der Gehalt kommunaler Selbstverwaltung um diejenigen Bereiche, welche verfassungsunmittelbar als staatliche Verwaltungsaufgaben typisiert werden. Zwar erfolgt im Rahmen der Arbeitsvermittlung aufgrund ihres Querschnittscharakters die Deklaration als staatliche Aufgabe über Art. 87 Abs. 2 GG nicht per definitionem, sondern letztlich durch das aufgabenübertragende Gesetz, also durch den Gesetzgeber. Allerdings ändert das nichts daran, dass eine insoweit zulässige Inanspruchnahme dieser Kompetenznorm eine verfassungsunmittelbare Reduzierung des Bereichs möglicher kommunaler Selbstverwaltung zur Folge hat, denn die jeweilige Aufgabe erfüllt beispielhaft (auch) die Voraussetzungen jener Kompetenznorm. Sie konkurriert gleichwertig mit einer möglichen kommunalen Trägerschaft. Der Vorrang dezentraler Aufgabenwahrnehmung wirkt erst, wenn der Anwendungsbereich der kommunalen Selbstverwaltung feststeht, mithin die örtlichen Angelegenheiten historisch und systematisch ermittelt sind. Das gilt auch für die sog. ungeschriebenen Kompetenzen. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs einer Kompetenznorm durch Auslegung ist eine vorgelagerte Entscheidung. Sie wird vom Vorrang der dezentralen Exekutive nicht überformt. Schließlich bleibt es immer noch die Inanspruchnahme einer Kompetenz, und diese deklariert Aufgaben im Falle obligatorischer Kompetenzen gleichsam a priori ansonsten a posteriori (als Folge zulässiger gesetzgeberischer Inanspruchnahme) als staatliche. Dabei beziehen die Kompetenznormen, mal stärker mal schwächer, Aspekte auch der kommunalen Selbstverwaltung mit ein. So vor allem durch den materiellen Bezugsrahmen der Kompetenz, bspw. Sozialversicherung – Fürsorge im Bereich obligatorischer oder dringender Bedarf im Bereich fakultativer Kompetenzen.246 Für die Arbeitsvermittlung folgt daraus, dass sie aus systematischen Gründen keine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft ist, da sie als Aufgabe (auch) der Sozialversicherung über Art. 87 Abs. 2 GG der Bundesexekutive zugewiesen werden konnte und zulässig wurde. b) Regelleistungen als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft Ebenfalls entzogen wurden den Kommunen im Rahmen der Hartz-Reform die Zuständigkeit für die Regelleistungen. Unter der Geltung des 246 Ein solches Verständnis von örtlichen Angelegenheiten im Rahmen des Art. 28 Abs. 2 GG sichert dem Gesetzgeber ein notwendiges Maß an sachgerechter Flexibilität im Bereich der Exekutive. So kann der verfassungsändernde Gesetzgeber jedenfalls grds. frei auch traditionell örtliche Angelegenheiten durch Zuweisung zu staatlichen Trägern „entörtlichen“. Einen für alle Zeit festgeschriebenen Bereich örtlicher Angelegenheiten gibt es nicht. Vgl. dazu BVerfGE 79, 127 (148).
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BSHG waren die Kommunen für die Berechnung und Auszahlung der laufenden und einmaligen Leistungen der hilfebedürftigen Personen als örtliche Träger der Sozialhilfe zuständig (§ 96 BSHG). In historischer Perspektive zeigen sich die Regelleistungen als traditionell örtlich erbrachte Aufgaben und stets im Zusammenhang mit kommunaler Armenfürsorge bzw. Sozialhilfe.247 Die Zuordnung der Aufgabe hat sich im Laufe der Zeit nicht verändert, anders als der staatliche Einfluss freilich. Normative Vorgaben und Inanspruchnahme von Ingerenzrechten drängten den kommunalen Einfluss vielfach zurück und suchten auf einen zunehmend gesamtstaatlichen Problemdruck zu reagieren.248 Vielfach wurde im Bereich der Regelleistungen auch in jüngerer Zeit – wie bzgl. der Sozialhilfe insgesamt – immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich hierbei letztlich nur noch um formelle Selbstverwaltungsaufgaben gehandelt habe. Auch bzgl. der Regelleistungen gilt, dass eine Aufgabe, welche historisch stets eine stark kommunal geprägte, meist eine Selbstverwaltungsaufgabe war, nicht dadurch eine originär staatliche wird, dass der staatliche Einfluss steigt. Politische Zentralisierungstendenzen begründen oder verändern keine verfassungsrechtlichen Kompetenzvorschriften. Auch dann nicht, wenn der gesamt-staatliche Problemdruck wächst. Vielleicht erlaubt dies dem Staat mehr normativen, u. U. auch verwaltungsinzidenten Einfluss zu nehmen, vielleicht sogar sie über eigene Kompetenzen selbst wahrzunehmen. Aber es bleibt doch eine örtliche Angelegenheit, solange nicht die dezentrale Leistungserbringung von vornherein völlig unsinnig ist, weil es bspw. gar keine örtlich zu vollziehende Aufgabe (mehr) gibt oder eine (neue) obligatorische Bundesverwaltung die Regelleistungen oder die Grundsicherung insgesamt als staatliche Aufgabe benennt.249 Das war 2005 nicht der Fall und die Regelleistungen waren daher örtliche Angelegenheiten und standen den Gemeinden grds. zur Erfüllung zu. 2. Verstoß gegen die gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie Insoweit ist für die Regelleistungen der Schutzbereich der kommunalen Selbstverwaltung eröffnet. Im Weiteren gilt es nun zu klären, ob der Entzug die Allzuständigkeit oder die Eigenverantwortlichkeit betraf; in welcher topografischen Lage sich die Aufgabe zum Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung befindet und ob der Entzug gerechtfertigt war. Legt man richtigerweise zugrunde, was der Gesetzgeber als Aufgabenbereiche formiert hat, sind die Einzelaufgaben innerhalb der Gesamtaufgabe 247 248 249
s. o. Kapitel 2 C. s. o. Kapitel 2 C. 1. und D. II. 2. d). Vgl. BVerfGE 79, 127 (151).
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Sozialhilfe, wenn sie denn logisch separiert werden können, eigene und damit entzugsfähige Verwaltungsaufgaben. Für die Regelleistungen trifft dies zu; sie wurden vom Gesetzgeber im Rahmen von Hartz IV aus der Sozialhilfe herausgenommen und einem anderen Verwaltungsträger zugeordnet. Es handelt sich mithin um eigenständige Verwaltungsaufgaben, welche durch die gesetzgeberische Umverteilung nicht in ihren Wahrnehmungsmodalitäten, sondern hinsichtlich ihrer Zuständigkeit verändert wurden. Dementsprechend liegt ein Eingriff in die Allzuständigkeit vor. Das hatte zur Folge, dass allein die Gemeinden sich gegen den Entzug der Aufgaben zur Wehr setzen konnten. Die Gemeindeverbände partizipieren am Recht der kommunalen Selbstverwaltung zwar hinsichtlich des Rechts eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung, eine Allzuständigkeit, im Sinne einer originären Zugriffskompetenz auf bestimmte Aufgaben, kommt den Gemeindeverbänden im Gegensatz zu den Gemeinden jedoch nicht zu.250 Die Sozialhilfe wurde von den Kreisen und kreisfreien Städten als Selbstverwaltungsaufgabe erbracht.251 a) Eingriff in den Kern- oder Randbereich kommunaler Selbstverwaltung Absolut geschützter Kernbereich der Allzuständigkeit ist die Aufrechterhaltung des Prinzips an sich.252 So wenig, wie eine konkrete Aufgabe quasi eingefroren für alle Zeit örtlich genannt werden kann, so wenig fällt eine konkrete Aufgabe in den Kernbereich der Allzuständigkeit. Dementsprechend ist auch die an die einzelne Aufgabe anknüpfende Subtraktionsmethode des BVerwG nicht tragfähig und wird dementsprechend mittlerweile nicht mehr vertreten.253 Erst wenn der Vorrang dezentraler Aufgabenträgerschaft selbst angegriffen ist, setzt der absolute Kernbereichsschutz ein. Der Entzug der Regelleistungen war angesichts des enormen finanziellen und personellen Umfangs fraglos schwerwiegend, stellte aber das Prinzip 250
O. Kapitel 5 A. I. 2. Vgl. die Ausführungsgesetze der Länder und § 96 BSHG hinsichtlich dessen den Ländern zwar eine Abweichungskompetenz zustand, diese aber nicht wahrgenommen haben. 252 Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, Rn. 517 ff.; Schmidt-Aßmann, Kommunale Selbstverwaltung „nach Rastede“, in: Franßen/Redeker (Hrsg.), FS Sendler, S. 121 (134 f.); Blümel, Wesensgehalt und Schranken des kommunalen Selbstverwaltungsrechts, in: v. Mutius (Hrsg.), FG v. Unruh, S. 265 (269); Hufen, Aufgabenentzug und Aufgabenüberlastung in: Wolff/Schwarting (Hrsg.), 50 Jahre Städtetag Rheinland-Pfalz, S. 149 (163). 253 BVerwGE 6, 19 (24); 6, 342 (345 f.); ablehnend insbesondere BVerfGE 79, 127 (148). 251
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der Allzuständigkeit nicht gleichsam substantiell in Frage. Den Gemeinden verblieben erhebliche eigene Aufgabenbereiche. b) Rechtfertigung des Entzugs der Regelleistungen Ansonsten wirkt das Aufgabenverteilungsprinzip im Randbereich ähnlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und beinhaltet zumindest auch Wesensmerkmale des Subsidiaritätsgrundsatzes.254 Der Gesetzgeber hat von den Gemeinden abweichende Zuweisungen örtlicher Angelegenheiten zu begründen. Zwar wird dem Gesetzgeber eine umfangreiche Gestaltungs-, Typisierungs-, Pauschalierungs- und Einschätzungsbefugnis im Rahmen des ausdrücklichen Gesetzesvorbehalts zuerkannt, welche nur auf ihre vertretbare Wahrnehmung hin gerichtlich überprüfbar ist.255 Doch sind nur solche Erwägungen berücksichtigungsfähig, die aufzeigen, dass „anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre. Demgegenüber scheidet das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration – etwa im Interesse der Übersichtlichkeit der öffentlichen Verwaltung – als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus; denn dies zielte ausschließlich auf die Beseitigung eines Umstandes, der gerade durch die vom Grundgesetz gewollte dezentrale Aufgabenansiedlung bedingt wird“256. „Auch Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung insgesamt rechtfertigen“257 eine Abweichung vom Aufgabenverteilungsprinzip nicht. Eine nicht-gemeindliche Wahrnehmung örtlicher Aufgaben zu rechtfertigen geeignet wiederum, sind Gründe des Allgemeinwohls.258 Nur wenn auch im Randbereich dem Gesetzgeber nicht jeder Eingriff gestattet wird, insoweit „Schranken-Schranken“ gesetzt werden, kann vermieden werden, dass der Gesetzesvorbehalt zur „Achillesferse“259 der kommunalen Selbstverwaltung wird. Ausschlaggebend ist, dass der Gesetzgeber bei der Entscheidung für eine staatliche Exekutive den Charakter der Aufgabe hinreichend berücksichtigt. Aspekte, welche eine staatliche statt einer gemeindlichen Verwaltung recht254 Vgl. BVerfGE 79, 127 (150), wo zwar der Begriff vermieden wird, aber im Kern die Elemente der Verhältnismäßigkeit und auch der Subsidiarität auftauchen. Früher deutlicher BVerfGE 56, 298 (313 ff.); auch später wieder BVErfGE 86, 90, (109); 103, 332 (366); Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, S. 29 ff. 255 BVerfGE 79, 127 (150). 256 BVerfGE 79, 127 (153). 257 BVerfGE 79, 127 (153). 258 Vgl. BVerfGE 79, 127 (157); Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, S. 142. 259 Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, Rn. 20.
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fertigen können, haben sich entsprechend an der konkreten Aufgaben auszurichten. Wenngleich allgemeine Argumente der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nicht relevant werden,260 können daher solche spezifisch für die konkrete Aufgabe durchaus fruchtbar gemacht werden.261 Bei der Bestimmung der Örtlichkeit einer Aufgabe geht es darum festzustellen, ob eine Aufgabe örtlich ist oder nicht. In der Abwägung bzgl. der Frage, ob eine örtliche Aufgabe verfassungsrechtlich zulässig staatlich wahrgenommen werden kann, geht es zentral um die Frage, wie örtlich bzw. wie staatlich eine Aufgabe ist. Je örtlicher sie ist, desto eher wird eine dezentrale Exekutive statthaft sein. Je überörtlicher eine Aufgabe ist, desto eher wird eine staatliche Exekutive möglich sein. Dabei wiederum mag der Feststellung, es handele sich bei einer Selbstverwaltungsaufgabe lediglich um eine formelle Selbstverwaltungsaufgabe,262 Bedeutung insofern zukommen, als eine weitgehende Durchnormierung und Zurückdrängung kommunalen Handlungsspielraums Ausfluss eines Entwicklungsprozesses bzgl. des Charakters der Aufgabe sein kann. Zu weitgehend scheint es allerdings zu sein, bereits allein in der Umwidmung einer formellen Selbstverwaltungs- in eine staatliche Aufgabe, eine bloß rechtliche Anerkennung des faktischen status quo zu sehen und damit den Entzug rechtfertigen zu wollen. Dies setzt wiederum die Zulässigkeit der zunehmenden Zurückdrängung der Gemeinden voraus und dafür bedarf es sachlicher Gründe,263 welche schließlich nicht wiederum auch in der praktizierten Einflussnahme selbst liegen können. Anzunehmen, dass es für die Gemeinden schließlich kein Verlust bedeute, eine formelle Selbstverwaltungsaufgabe entzogen zu bekommen,264 ist eben überhaupt nur zutreffend, wenn sich die Gemeinden nicht erfolgreich gegen die Begrenzung ihrer Eigenverantwortlichkeit wehren könnten. Entscheidend sind demnach die sachlichen Argumente, welche einen staatlichen Vollzug örtlicher Angelegenheiten ausnahmsweise rechtfertigen und den gesetzgeberisch initiierten Weg zur formellen Selbstverwaltungsangelegenheit so gegebenenfalls stützen.265 260
BVerfGE 79, 127 (153). Umkehrschluss aus BVerfGE 79, 127 (153). 262 Maurer, in: Henneke/Schoch (Hrsg.), Die Kreise im Bundesstaat, S. 139 (163); vgl. Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 62 ff. 263 Hellermann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 28 Rn. 48.1 ff. (Februar 2010) mit Verweis auf insbesondere BVerfGE 79, 127 ff. 264 Immerhin basieren nur etwa 10% der Entscheidungen (Zahl noch nach BSHG) auf kommunalen Entscheidungen; vgl. Wollmann, Kommunalpolitik, S. 464. 265 Vgl. in diesem Sinne wohl auch Hellermann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 28 Rn. 48.1 ff. (Februar 2010). 261
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Methodik und Festsetzung der Regelsätze im Allgemeinen wie im Besonderen sowie deren Auszahlung rückten in verschiedenen Etappen in den Fokus des Staates. Im 19. Jahrhundert durch die Mobilität der Menschen und der sich ausbreitenden Armut in der Zeit der industriellen Revolution; dem Pauperismus auf dem Land und der Armut trotz Arbeit in den Städten. Zum einen wuchs der finanzielle Druck auf die Kommunen dermaßen an, dass staatliche Unterstützung erforderlich wurde. Finanzielle Hilfen wurden regelmäßig aber nur geleistet, wenn im Gegenzug ein entsprechender Einfluss auf deren Verwendung eingeräumt wurde. Zum anderen wurde dieser Einfluss auch notwendig, da Wanderungsbewegungen, insbesondere nach Abschaffung des Heimatprinzips zu Gunsten des Wohnsitzprinzips, durch örtlich stark divergierende Sozialleistungen nicht zusätzlich befördert werden sollten.266 Dementsprechend ging der Staat dazu über, die Leistungserbringung nach allgemeinen Grundsätzen auszurichten. Die verstärkte Leistung durch Geld führte außerdem zu einer ersten Vergleichbarkeit und Annäherung der Fürsorgeleistungen zwischen den Kommunen. Im Zuge verstärkter Ausdifferenzierung der Fürsorge nach Betroffenenund Risikogruppen kam es vor allem in der Weimarer Republik zu komplexen Strukturen auch in der Verwaltung. Staatlich verantwortete Systeme wie die Krisenfürsorge oder diejenige für Kriegsbeschädigte und Soldaten sollten eine spezifische Konkurrenzstellung zur allgemeinen Fürsorge haben. Zumeist privilegierten sie bestimmte Gruppen. Um diese Privilegierung nicht zu gefährden, musste eine Austarierung des gesamten Fürsorgesystems her. So sicherte der Staat zunehmend, dass die Leistungshöhe der allgemeinen Fürsorge hinter derjenigen der staatlichen Fürsorgesysteme zurückblieb. Verwaltungsorganisatorisch wurde das Nebeneinander der zahlreichen Leistungssysteme und Verantwortlichkeiten ebenfalls zu einem Effizienz-Problem. Die Koordinierung der Zuständigkeiten, Überschneidungen und Ergänzungen durch das Reich erfolgte durch die behördliche Zusammenlegung in den kommunalen Arbeitsnachweisen. Dies geschah durch Reichsgesetz und war wiederum mit zahlreichen Rahmenvorschriften verbunden, welche den kommunalen Gestaltungsspielraum abermals sinken ließen.267 In der BRD schließlich wurde die Regelsatzhöhe weiter objektiviert, indem eine zunächst an einem virtuellen Warenkorb ausgerichtete Methodik erarbeitet wurde, Regelsätze zur Deckung des laufenden Lebensunterhalts zu berechnen und diese zur verbindlichen Grundlage kommunaler Exekutive wurde. Diese zunehmende Objektivierung, welche sich in der Folge weiter fortentwickelte, war auch Ausdruck einer gewandelten politischen 266 267
Hierzu und zum Folgenden s. o. Kapitel 2 C. Ausführlich mit Nachweisen oben Kapitel D. II.
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und gesellschaftlichen Wertung von Armut. Besonders deutlich wurde dies mit der Einführung des BSHG. Fürsorge hieß nun Sozialhilfe und war Ausdruck einer dem Betroffenen vermittelten Rechtsposition. Öffentliche Leistungen im Falle von Armut waren nicht länger gönnerhafte Almosen; der Einzelne hatte nun einen Rechtsanspruch auf Unterstützung. Die menschenwürdige Versorgung der Armen wurde als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden. Diese Versorgung sollte sicherstellen, dass der Einzelne nicht nur physisch überlebt, sondern integriert leben kann. Das Existenzminimum war von nun an ein soziokulturelles. Der Gesetzgeber erkannte zunehmend die Sozialhilfe als sozialpolitisches Handlungs- und Steuerungsinstrument. War dies in den 1960er bis in die Mitte der 1970er Jahre hinein noch in dem beschriebenen integrativen Sinne genutzt worden, führten der Anstieg der Arbeitslosenzahlen, der demographische Wandel und die Verschuldung der öffentlichen Haushalte zu einer partiellen Umkehr. Einsparungen in der Sozialhilfe fanden sich in der Folge vor allem im Bereich der einmaligen Hilfen.268 Von den Auswirkungen war allerdings nicht allein die Sozialhilfe betroffen. Die Sozialleistungen insgesamt wurden in Art und Höhe zunehmend kritisch hinterfragt, die steuerfinanzierten wie Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Besonderen. Nicht nur waren immer mehr Menschen auf öffentliche Transferleistungen angewiesen. Auch diejenigen, die Arbeit hatten, fanden sich teils subjektiv, teils objektiv, durch das Anwachsen des Niedriglohnsektors und der Teilzeitarbeit auf einem Einkommensniveau nahe der Fürsorge wieder.269 Nach dem Ende der sozial-liberalen Koalition 1981/82 etablierte die konservative Mehrheit aus CDU/CSU und FDP ein Lohnabstandsgebot in § 22 Abs. 3 Satz 2 BSHG i. d. F. 1991270. Zuvor war ein Abstandsgebot zu dem Nettoeinkommen unterer Lohngruppen inkl. Kindergeld bereits durch Rechtsverordnung (§ 4 RV aufgrund § 22 BSHG i. d. F. bis 1982) vorgesehen worden. Unter Modifikationen gilt das Lohnabstandsgebot bis heute (§ 28 Abs. 4 SGB XII) fort. Praktische Bedeutung kam ihm allerdings so gut wie nie zu.271 Geradezu beispielhaft zeigte sich hierin aber die Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Perspektive auf Fürsorge und ihre zunehmende Bedeutung für die Ausgestaltung. Staatliche Politik, sei sie auch vor allem symbolisch, determinierte die Exekutive der Fürsorgesysteme spätestens seit der Weimarer Republik zunehmend und soweit, dass die ausführenden Kommunen praktisch zu Zahlstel268 Beispiele und Entwicklungen dieser Zeit nachgezeichnet von Willing, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7, S. 481 ff. 269 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 499 ff. 270 BGBl I 1991, S. 94 ff. 271 Breyer, Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 2003, 83 ff.; Steffen, Der Abstand zwischen Lohn und Sozialhilfe, S. 4.
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len verkamen. Insofern mag von formellen Selbstverwaltungsaufgaben gesprochen werden. Der staatliche Einfluss auf die Exekutive in diesem Bereich basierte auf dem Interesse staatlicher Steuerung und der Durchsetzung sozialpolitischer Überzeugungen. Als reiner Selbstzweck wäre die Vorhaltung staatlichen Einflusses gegenüber kommunaler Exekutive unter dem Grundgesetz nicht ohne weiteres zulässig gewesen. Sozialpolitische Steuerung bedeutet bei der Fürsorge bzw. der Sozialhilfe besonders die Objektivierung von Exekutive und die Sicherung eines allgemeinen Mindestlebensstandards.272 Dies dient zumindest auch der Ausübung grundrechtlicher Freiheiten, verhindert soziale Wanderbewegungen in großem Umfang und kann Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze bedeuten, indem die Berechnung der Höhe der aufgrund eines subjektiv-öffentlichen Rechts ausbezahlten Leistungen nachprüfbar ist.273 Hinzu kommt die Notwendigkeit der Austarierung der Sozialleistungen. Die Sozialhilfe war und ist Teil eines hoch differenzierten Gesamtsystems der sozialen Sicherheit, welches Abstimmung und Koordination erfordert.274 Dies geschieht regelmäßig durch Weisungs- und Aufsichtsbefugnisse oder durch Gesetze und Verordnungen. Hinter der hierdurch feststellbaren Zurückdrängung kommunaler Entscheidungsspielräume, welche die Aufgaben von Berechnung und Auszahlung der Regelsätze als rein formelle Selbstverwaltungsaufgabe erscheinen ließen,275 verbargen sich also vernünftige, verfassungsrechtlich anerkannte Ziele und Interessen. Die rechtliche Transformation in staatliche Aufgaben bedeutete eine Anerkennung dieses Prozesses. Hätte zu erwarten gestanden, dass die beschriebene Entwicklung sich absehbar umkehrt und die Aspekte staatlicher Steuerung an Relevanz verlieren würden, wäre ein Entzug möglicherweise dennoch nicht zu rechtfertigen gewesen. Jedoch war eine solche Entwicklung nicht wahrscheinlich. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass bspw. die sozialpolitischen Aktivitäten der Europäischen Union zunehmen werden.276 Daher kann bzgl. des Entzugs der Regelsatzaufgaben 2005 von der Vertretbarkeit, mithin der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit ausgegangen werden.277 272
Vgl. Hänlein, ZIAS 1998, 454 (455). Vgl. Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 25 Rn. 27 ff. 274 Vgl. Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 25 Rn. 27 ff. m. w. N. 275 Maurer, in: Henneke/Schoch (Hrsg.), Die Kreise im Bundesstaat, S. 139 (163). 276 Vgl. Sozialagenda 2009, ZFSH/SGB 2009, 506. 277 So auch Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 70 f.; Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 106 ff. 273
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c) Zusammenfassung Die Arbeitsvermittlung in Bundesexekutive zu übernehmen bedeutete einen Aufgabenverlust bei den Kommunen. Dadurch, dass der Bund seine Kompetenz auf Art. 87 Abs. 2 GG gründen konnte, handelt es sich bereits um keine örtlichen Angelegenheiten i. S. v. Art. 28 Abs. 2 GG. Zwar sprach nicht allein die Tatsache, dass die Regelleistungen rein formelle Selbstverwaltungsaufgaben sind, für die Möglichkeit eines Entzugs.278 Doch ist die zunehmende Reglementierung und Durchnormierung gemeindlicher Aufgabenwahrnehmung Substrat verfassungsrechtlich anerkannter Interessen, insbesondere des rechtsstaatlich und grundrechtlich motivierten Anliegens objektivierter und einheitlicher Leistungserbringung. Ist der Wandel zur formellen Selbstverwaltung daher sachlich gerechtfertigt, indizierte dies 2005 die Rechtfertigung eines Entzugs. Da auch nicht zu erwarten war und ist, dass Veränderungsprozesse die örtliche Komponente der Regelsatzmodalitäten zu Lasten der gesamtstaatlichen Implikationen wesentlich stärken würden, war eine Zuständigkeitsverlagerung auf staatliche Stellen grds. möglich und verstieß nicht gegen Art. 28 Abs. 2 GG.
II. Unmittelbarer Bundesdurchgriff auf die Kommunen Neben der Bundesagentur für Arbeit treten die Kommunen als entscheidender Akteur der SGB II-Verwaltung auf. Ihnen wurde die Verwaltung der Grundsicherung nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB II für diejenigen Aufgaben übertragen, welche nicht der Bundesagentur für Arbeit zugewiesen wurden. Im Wesentlichen betrifft das die Kosten für Unterkunft und Heizung.279 Durch § 6 Abs. 2 SGB II wurde den Ländern die Möglichkeit eröffnet zu „bestimmen, dass und inwieweit die Kreise ihnen zugehörige Gemeinden oder Gemeindeverbände zur Durchführung“ jener Aufgaben herangezogen werden. Der eingeräumte Spielraum für die Länder ergab sich nicht zuletzt aus der vom BVerfG zum BSHG festgestellten fehlenden Gesetzgebungsund Durchgriffskompetenz für eine starre Bestimmung der konkreten örtlichen Zuständigkeit durch den Bund, vor allem i. S. e. unmittelbaren Übertragung als Selbstverwaltungsaufgaben.280 Sämtliche Bundesländer, welche 278
Vgl. Maurer, in: Henneke/Schoch (Hrsg.), Die Kreise im Bundesstaat, S. 139
(163). 279 Außerdem: (Sonder-)Leistungen zur Eingliederung in das Erwerbsleben (§ 16a Satz 2 Nr. 1–4 SGB II) und für die Erstausstattung (§ 23 Abs. 3 SGB II). 280 Vgl. BVerfGE 22, 180 (210); 77, 288 (299), dazu Schoch, Landkreis 2004, 367 ff.; siehe zum unmittelbaren Bundesdurchgriff auch oben Kapitel 5 A. I. 2. c) bb) (2).
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Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
dem dualistischen Modell folgen,281 haben den Kommunen die Aufgaben nach der Grundsicherung als pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben zugewiesen.282 Einige Länder, vor allem Nordrhein-Westfalen und Sachsen, welche dem monistischen Aufgabenmodell folgen, haben den Kommunen die Grundsicherungsaufgaben als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung zugewiesen.283 Die Typisierung der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung – ob als Selbstverwaltungs- oder Auftragsangelegenheit – ist umstritten.284 Überwiegend wird aber jedenfalls eine Einordnung unter den Schutz des Art. 28 Abs. 2 GG (noch) abgelehnt.285 Hierzu wird vor allem auf die zumindest mögliche umfangreiche Fachweisungsbefugnis hingewiesen. Bei der sächsischen Regelung, nach der sogar unmittelbar ein uneingeschränktes Weisungsrecht statuiert wurde, ist dies besonders offensichtlich. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Zulässigkeit der Aufgabenzuweisung des Bundes zu den Kommunen spielt die Frage, ob die Aufgabe letztlich als Selbstverwaltung- oder Auftragsaufgabe wahrgenommen wird, keine entscheidende Rolle. Selbstverständlich können sich die Kommunen auch darauf berufen, eine Aufgabe sei vom Gesetzgeber falsch „ausgeflaggt“ und eine Auftragsangelegenheit müsse zur Selbstverwaltungsaufgabe umgewidmet werden oder eine pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe sei tatsächlich eine staatliche Aufgabe und dementsprechend seien die Kommunen von etwaigen Lasten zu befreien. Diese Fragen nehmen unmittelbar Rekurs auf den Charakter der Aufgabe und sind dementsprechend anhand der bereits dargelegten Grundsätze zu beantworten.286 Indem der Bund über § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB II die Kommunen zu Trägern bestimmter Grundsicherungsaufgaben erklärte, übertrug er ihnen unmittelbar jedenfalls die Erfüllungsverantwortung. Das Weitere – vor allem die Frage der Aufgabenzuständigkeit – bestimmten die Länder. Insofern stellt sich dem Bund gegenüber nicht die Frage, ob es sich bei den in Rede 281 Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Zur Bedeutung grds. oben Kapitel 4 B. II. 2. a). 282 Siehe nur bspw. § 1 BWAGSGB II, Gesetz vom 24. April 2004, BWGVBl 2004, S. 252 ff.; § 1 NdsASGB II, Gesetz vom 16 September 2004, NdsGVBl 2004, S. 220 ff. 283 § 1 NRWAGSGB II, Gesetz vom 16. Dezember 2004, NRWGVBl 2004, S. 821 ff.; § 9 SächsAGSGB, Gesetz vom 6. Juni 2002, SächsGVBl 2002, S. 168 ff. 284 Für Auftragsangelegenheiten, Brohm, DÖV 1986, 397 (398); Viermeier, DVBl 1992, 413 (420), alle m. w. N.; für Selbstverwaltungsaufgaben OVG NRW, NWVBl 1995, 300 (301); BbgVerfG, NVwZ-RR 1997, 352. 285 Vgl. Burgi, in: Dietlein/Burgi/Hellermann (Hrsg.), § 2 Rn. 98; siehe außerdem dazu oben Kapitel 4 B. II 2. b) bb). 286 s. o. ausführlich Kapitel 5 A. I.
B. Kommunale Aufgabenträgerschaft
293
stehenden Aufgaben um örtliche Angelegenheiten handelte, sondern diejenige, ob der Bund ausnahmsweise selbst die kommunale Ebene zur Erfüllung heranziehen durfte. Dies entschied sich an den Art. 84, 85 GG a. F., mithin in der Fassung vor dem expliziten Ausschluss eines unmittelbaren Bundesdurchgriffs durch die Föderalismus-Reform 2006. Und hier wiederum drängte das Merkmal der „Behördeneinrichtung“ in den Fokus der Diskussion. Grundsätzlich war im Rahmen der Art. 84, 85 GG a. F. ebenso wie bei Art. 87 GG von einem weiten Behördenbegriff auszugehen.287 Die Behördeneinrichtung umfasste außerdem alle organisatorischen und institutionellen Fragen rund um den Behördenapparat. Die Schaffung neuer Behördenstrukturen war damit ebenso möglich wie die Einbeziehung vorhandener Behörden. Errichtung und Einrichtung waren hier wie auch im Rahmen von Art. 86, 87 GG synonym zu verstehen und weit auszulegen. Im Ergebnis war ein unmittelbarer Bundesdurchgriff daher zulässig, wenn der Durchgriff – auf der Inanspruchnahme einer punktuellen Annexkompetenz zu einer materiellen Gesetzgebungskompetenz des Bundes basierte und – die Heranziehung der Kommunen durch den Bund für den wirksamen Vollzug erforderlich war. Diejenigen Aufgaben der Grundsicherung für Arbeitsuchende, welche den Kommunen vom Bund zur Erfüllung überantwortet wurden, sind – wie das SGB II insgesamt – auf dem Kompetenztitel der Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) erlassen worden. Die bedarfsabhängige und steuerfinanzierte Grundsicherung für Arbeitsuchende setzt sich aus vielen einzelnen Aufgaben zusammen, welche an sich teilweise auch Bezüge zu anderen Kompetenztiteln aufwiesen.288 Insgesamt aber bestehen keine Zweifel daran, dass es sich (normativ) auch tatsächlich um eine Fürsorgeleistung handelt und dass diese insoweit auf der richtigen Kompetenzgrundlage erlassen wurde.289 Zu den gesetzlich geformten Fürsorgeleistungen zählen neben in Umfang und Verbreitung eher randständigen anderen, vor allem die Grundsicherung für Arbeitsuchende, die Sozialhilfe (einschließlich der Grundsicherung im Alter290), die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und die 287
Hierzu und zu den folgenden Fragen im Zusammenhang mit Art. 86, 87 GG s. o. Kapitel 4 A. II. 1. b) und Kapitel 4 A. II. 2. a) cc). 288 Vgl. bzgl. der arbeitsmarktpolitischen Instrumente oben Kapitel 3 B. und 4 B. I. 1. a). 289 So auch einhellig die Auffassung in der Literatur. Beispielhaft dafür Meyer, NVwZ 2008, 275 ff.; Schnapp, Jura 2008, 241 ff.; Schulz, DÖV 2008, 1028 ff.; A. von Mutius/F. von Mutius, KommJur 2008, 201 ff.; Wieland, Landkreis 2008, 184; Wapler, ZfF 2008, 169 ff.; Korioth, DVBl 2008, 812 ff. 290 §§ 41 ff. SGB XII.
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Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
Kriegsopferfürsorge. Insgesamt haben etwa im Jahr 2006 ca. 10% der Bevölkerung (8,3 Mio. Menschen) in Deutschland jene Leistungen bezogen.291 Dafür wurden gut 45 Mrd. Euro ausgegeben. Allein fast 7,3 Mio. Personen davon haben Leistungen nach dem SGB II empfangen. Die Ausgaben insgesamt allein hier lagen bei über 40 Mrd. Euro. 88% der Fürsorgeempfänger fanden sich also in der Obhut (auch) der Kommunen wieder und 89% der Kosten der Fürsorge entfielen auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Kommunen wurden nicht mit den gesamten Kosten der Grundsicherung belastet. Ihr Hauptkostenfaktor sind die Leistungen für Unterkunft und Heizung. Diese beliefen sich 2005/2006 auf ca. 15,8 Mrd. Euro und machten damit an den Gesamtkosten der Grundsicherung gut 39% aus, an den gesamten Fürsorgekosten ca. 35%. Zwar erhalten die Kommunen einen Zuschuss durch den Bund. Allerdings ist dieser angesichts der an sich fehlenden Zugriffskompetenz des Bundes bloß mittelbar.292 Verfassungsrechtlich tragen die Kommunen die Kosten entsprechend Art. 104a Abs. 1 GG. Allein über die Länder kann ein Zuschuss konstruiert werden. Dieser kann aber grds. jederzeit entzogen werden und ist von der Weitergabewilligkeit der Länder abhängig.293 Insofern ist geradezu augenfällig, dass die Grundsicherung insgesamt und die kommunalen Aufgaben im Besonderen einen erheblichen Teil der gesamten gesetzlichen Fürsorgetätigkeit ausmachen. Hinsichtlich der personellen Quantität wird dies außerdem deutlich. Beinahe alle Fürsorgeempfänger unterfallen auch der kommunalen Zuständigkeit im Rahmen des SGB II. Von einer bloß punktuellen Ausweitung nach Art. 84, 85 GG a. F. konnte angesichts des Kompetenztitels Fürsorge nicht die Rede sein. Ob die Kommunalisierung erforderlich war, kann hier dementsprechend dahinstehen. Die mögliche Verfassungswidrigkeit des unmittelbaren Bundesdurchgriffs war auch Gegenstand der Entscheidung des BVerfG vom 20. Dezember 2007.294 Nun konnte (und wollte) das BVerfG nicht (als obiter dictum) die Verfassungsmäßigkeit dieses Vorgehens beurteilen. Es hatte sich dazu an der Tatsache zu orientieren, dass es sich bei dem Rechtsstreit um eine kommunale Verfassungsbeschwerde handelte und insofern die Art. 84, 85 GG ob ihrer fehlenden Nähe zum Recht kommunaler Selbstverwaltung nicht einfach zum Prüfungsmaßstab zu erklären waren. Das galt für diese Vor291 s. dazu die Auswertung htp://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/de statis/Internet/DE/Presse/pm/2008/09/PD08__330__221.psml (Oktober 2009). 292 Auch das BVerfG hat zutreffend festgestellt, dass der Zuschuss nach § 46 Abs. 6 SGB II allein Bund und Länder berechtigt und verpflichtet. Die Kommunen sind daher insoweit von ihnen abhängig. 293 Dazu auch Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 161 f. 294 BVerfGE 119, 331 (356 ff.).
B. Kommunale Aufgabenträgerschaft
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schriften zumindest in der alten Fassung bis zur Föderalismusreform 2006. Dementsprechend stellte das BVerfG fest: „Art. 84 I GG a. F. diente nicht dazu, den Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung zu erhalten, sondern sollte vor einem unzulässigen Eingriff des Bundes in die Verwaltungszuständigkeit der Länder schützen. Art. 84 GG a. F. betraf die Ausgestaltung der Landeseigenverwaltung und ermöglichte einen wirksamen Vollzug von Bundesgesetzen. Soweit es um die Aufgabenzuweisung an die Gemeinden und Gemeindeverbände geht, konnte es nur darum gehen zu verhindern, dass die Länder in der Gestaltung der von landesorganisatorischen Besonderheiten abhängigen Verwaltungsorganisation eingeschränkt werden, ohne dass dies das Grundgesetz ausdrücklich bestimmt oder zulässt. Der Schutz eines Mindestbestands an Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeindeverbände wird damit nicht bezweckt.“295
III. Verstoß gegen die kommunale Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 GG Auch die zwangsläufig folgende Frage, inwieweit in diesem unmittelbaren Bundesdurchgriff ein Verstoß gegen die kommunale Selbstverwaltung zu sehen ist, konnte das BVerfG offen lassen. Kommunale Träger der Grundsicherung sind nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB II die Kreise und kreisfreien Städte. Antragssteller in der benannten kommunalen Verfassungsbeschwerde waren ausschließlich Kreise, mithin Gemeindeverbände, deren Schutz kommunaler Selbstverwaltung sich von demjenigen der Gemeinden allerdings beträchtlich unterscheidet.296 Aufgabenzuweisungen – unabhängig davon, ob sie aus der Sphäre von Bund oder Ländern stammen – wurden nicht immer als Problem für die kommunale Selbstverwaltung angesehen. Zu Beginn der Debatte über die kommunale Selbstverwaltung unter dem Grundgesetz betrachtete man diese eher als Schutzschild davor, dass der „zentralstaatliche Sog“ den Kommunen nach und nach ihre originären Aufgaben entzöge. Erst wesentlich später setzte sich die Auffassung durch, dass eben dieses auch dadurch erreicht werden könnte, dass den Kommunen (pflichtige) Aufgaben zugewiesen werden.297 Denn so werden deren Finanz- und Sachmittel gebunden und ihre Möglichkeiten eingeschränkt, freiwillige Aufgaben wahrzunehmen. Durch fremde Aufgaben im originären Wirkungskreis behindert zu 295 BVerfGE 119, 331 (358); vgl. auch BVerfGE 22, 180 (209 f.); Henneke/Ruge, in: Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84 Rn. 10. 296 s. o. Kapitel 5 A. I. 1. b) cc). 297 Überblick über die Entwicklung bei Schoch/Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, S. 21 ff.
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Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
werden, setzt allerdings die Existenz eines solchen voraus. Gemeindeverbände verfügen aber anders als Gemeinden grds. nicht über einen geschützten Bestand eigener Aufgaben. Sie definieren sich gerade über die Zuweisung von (staatlichen) Aufgaben und existieren vor allem auch im Dunstkreis entörtlichter Aufgaben.298 Insoweit verwundert es nicht, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde der Kreise abgelehnt hat, soweit sie sich darauf berufen, durch die Aufgabenzuweisung in ihrer kommunalen Selbstverwaltung betroffen zu sein. Allein eine Verletzung des Kernbereichs kreiskommunaler Selbstverwaltung hätte gerügt werden könne. Eine solche liegt grds. vor, „wenn die Übertragung einer neuen Aufgabe ihre Verwaltungskapazitäten so sehr in Anspruch nimmt, dass sie nicht mehr ausreichen, um einen Mindestbestand an zugewiesenen Selbstverwaltungsaufgaben des eigenen Wirkungskreises wahrzunehmen, der für sich genommen und im Vergleich zu zugewiesenen staatlichen Aufgaben ein Gewicht aufweist, das der institutionellen Garantie der Kreise als Selbstverwaltungskörperschaften gerecht wird.“299 Die Aufgaben der Grundsicherung sind allerdings regelmäßig als Selbstverwaltungsaufgaben durch die Länder an die Kreise übertragen worden. Auch insoweit kommt eine Verletzung nicht in Betracht. 1. Eingriff in die gemeindliche Selbstverwaltung Anders konnte sich dies bzgl. der zwar nicht an der Klage aber an der SGB II-Verwaltung beteiligten Gemeinden darstellen. Sie verfügen über einen garantierten Bestand originärer Selbstverwaltungsaufgaben und sind damit im Gegensatz zu den Gemeindeverbänden an der vertikalen Aufgabenverteilung beteiligt. Die Zuweisung staatlicher Aufgaben hat sich in einem Rahmen zu halten, welcher die Ausübung von Selbstverwaltungsaufgaben überhaupt noch möglich macht und ein Mindestmaß an Spielraum belässt. Andernfalls ist von einem prinzipiell unzulässigen Eingriff in den Kernbereich gemeindlich-kommunaler Selbstverwaltung auszugehen.300 Entscheidend ist daher stets, ob es sich bei den Aufgaben um örtliche Angelegenheiten handelt oder nicht. Denn die gemeindliche Exekutive von örtlichen Angelegenheiten ist zunächst einmal verfassungsrechtlich erwünscht. Entsprechende pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben sind schließlich vor einem Entzug geschützt. Bei der Übertragung von Selbstverwaltungsaufgaben steht daher das Verhältnis von Ländern und Kommunen im Fokus. 298 299 300
Ausführlich oben Kapitel 5 A. I. 2. BVerfGE 119, 331 (354 f.). Oben Kapitel 5 A. I. 2. b).
B. Kommunale Aufgabenträgerschaft
297
An dieser Stelle sei bereits hiervon unabhängig angemerkt: Fraglos sind die Aufwendungen, welche die Kommunen tätigen müssen, um ihren Verpflichtungen im Rahmen des SGB II nachzukommen, sehr hoch. Ausgaben, Mittel- und Personaleinsatz nehmen einen bedeutenden Platz in der Kommunalverwaltung insgesamt ein. Allerdings entstanden diese Kosten nicht ansatzlos. Vielfach trugen sie die Kommunen mit anderer Bezeichnung und anderen Rahmenbedingungen auch vor Hartz IV, im Zusammenhang vor allem mit der Sozialhilfe. Im Jahr 2004 gaben die Kommunen hierfür netto 23 Mrd. Euro aus.301 Neben den 15,8 Mrd. Euro bzw. 12,2 Mrd. Euro302 allein für Heizung und Unterkunft trugen die Kommunen seit 2005 noch die Kosten weiterer Leistungen der Grundsicherung, welche allerdings deutlich hinter denjenigen der Heizung und Unterkunft zurückblieben. Was den Kundenkreis anging, hatten die Kommunen es statt zuvor mit etwa 3–4 Mio. Menschen303 seit 2005 mit bis zu 7 Mio. Betroffenen zu tun. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Grundsicherungsempfänger auch die Kosten für Heizung und Unterkunft bzw. andere kommunale Leistungen erhielten, die Zahl ist dementsprechend etwas nach unten zu korrigieren. 2. Kommunale Grundsicherungsaufgaben als solche der örtlichen Gemeinschaft Das Recht der Selbstverwaltung steht den Gemeinden für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu. Handelt es sich bei den kommunalen Grundsicherungsaufgaben um solche der örtlichen Gemeinschaft, sind sie also zutreffend vom Gesetzgeber als Selbstverwaltungsaufgaben ausgeflaggt worden, war die Zuweisung zu den Gemeinden verfassungskonform. Von wem die Aufgaben übertragen wurden, spielt keine Rolle. Nicht nur wurde bereits bei Art. 84, 85 GG a. F. ausgeführt, dass diese nicht den Schutz der Kommunen bezweckten.304 Auch Art. 28 Abs. 2 GG befasst sich grds. hinsichtlich des Ob einer gemeindlichen Aufgabenwahrnehmung nicht mit der Frage, von wem die Aufgaben kommen, sondern welchen Charakter sie haben und wer sie entsprechend wahrzunehmen hat.305 301 Ergebnisse der Sozialhilfe- und Asylbewerberleistungsstatistik 2004, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wirtschaft und Statistik 2006, S. 377 (388 ff.). 302 Werte mit und ohne Zuschuss des Bundes. 303 Ergebnisse der Sozialhilfe- und Asylbewerberleistungsstatistik 2004, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wirtschaft und Statistik 2006, S. 377 (378 ff.). 304 Siehe dazu auch BVerfGE 119, 331 (358); vgl. auch BVerfGE 22, 180 (209 f.); Henneke/Ruge, in: Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84 Rn. 10. 305 Vgl. o. Kapitel 5 A. I. 1. a).
298
Kap. 5: Kommunale Selbstverwaltung
Bereits näher betrachtet wurde der örtliche Charakter von Arbeitsvermittlung und Regelleistungen. Bei den kommunalen Aufgaben handelte es sich vor allem um diejenigen von Heizung und Unterkunft. Die gesonderte, konkrete Begleichung von angemessenen Miet- und Unterkunftskosten war auch vor 2005 in der Sozialhilfe vorgesehen. Sie folgt dem Ziel einer möglichst exakt bedarfsgerechten Mittelzuweisung und wurde damit dem Unterschied zum Regelsatz gerecht, dass zur Sicherung und Unterstützung der Eigenständigkeit und -verantwortlichkeit beim Regelsatz, nicht hingegen bei Kosten für Unterkunft und Heizung, Spielräume für die Betroffenen sinnvoll sein können. In historischer Perspektive hat sich die Übernahme jener Kosten aus der allmählichen Hinwendung zur Unterkunftssicherung im Rahmen öffentlicher Fürsorge entwickelt; sie war nicht von Beginn an Leistung der Fürsorge, hat sich aber im Laufe der Zeit und zunehmender Ausdifferenzierung innerhalb dieser entwickelt.306 So wie die Fürsorge insgesamt ist dementsprechend auch die Gewährung von Obdach spezifisch kommunalen Ursprungs. Anders als andere Leistungen blieb sie auch praktisch unterbrechungsfrei kommunal. Anders wiederum auch als bei anderen Leistungen der Fürsorge, ist die Höhe der Unterkunfts- und Heizkosten stark regional unterschiedlich. Diese Differenzen treffen zusammen mit einer im Vergleich zu anderen Leistungen einfacheren und eindeutigeren Erstattungsfähigkeit. Angemessene Kosten wurden in ihrer konkreten Höhe übernommen. Daher ist der Einfluss auf die Bestimmung der angemessenen Unterkunfts- und Heizkosten letztlich besonders effektiv auf der örtlichen Ebene zu leisten. Erlassene Richtlinien zum SGB II geben allein einen Rahmen zur Berechnung (Quadratmeter und/oder Kaltmiete) vor.307 Die kommunalen Spielräume sind hier größer als in anderen Bereichen. So hat sich die örtliche Aufgabe auch nicht im Laufe der Zeit zu einer „formellen“ Selbstverwaltungsaufgabe oder gar zu einer staatlichen Aufgabe entwickelt. Sie hat ihren örtlichen Bezug behalten und war dementsprechend auch 2005 als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft zu begreifen. Die Übertragung in kommunale Exekutive war daher folgerichtig und nicht zu beanstanden. Allein fraglich konnte sein, ob die Art und Weise der Wahrnehmung der Verwaltungsaufgabe unzulässig in die Selbstverwaltung der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 GG eingriff.
306 307
Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 2. Ausführlich Wahrendorf, SozSich 2006, 134 ff.
B. Kommunale Aufgabenträgerschaft
299
IV. Ergebnis Arbeitsvermittlung und Regelleistungen weisen zwar örtliche Bezüge auf, erstere wurde bereits aber deshalb zulässig den Kommunen entzogen, weil sie als Querschnittsaufgabe (auch) über Art. 87 Abs. 2 GG dem Bund zugewiesen werden konnte. Die Regelleistungen hingegen konnten der Bundesagentur nicht als Trägerin zugeteilt und dementsprechend über Art. 87 Abs. 3 GG nicht in Bundeskompetenz wahrgenommen werden. Da es sich aber um formelle Selbstverwaltungsaufgaben handelt, war ein Entzug gegenüber den Gemeinden und damit die Begründung einer staatlichen Verwaltungsaufgabe grds. möglich. Die Zuweisung bestimmter Aufgaben der Grundsicherung unmittelbar an die Kommunen war im Hinblick auf Art. 84 Abs. 1 GG a. F. insofern problematisch, als hiernach zwar in besonderen Fällen Übertragungen möglich waren, dies aber nur punktuell und soweit diese erforderlich waren. Im Verhältnis zu der fraglichen Verwaltungsmaterie, die sich an der zugrunde liegenden Gesetzgebungskompetenz orientiert, zeigen sich die kommunalen Aufgaben der Grundsicherung allerdings nicht als punktuelle, sondern als wesentliche. Bereits deshalb war ein Übergriff des Bundes unzulässig. Grds. war eine Einbeziehung der Kommunen hinsichtlich der konkret in Rede stehenden Aufgaben möglich. Hierbei handelt es sich um örtliche Angelegenheiten, welche grds. kommunal wahrgenommen werden sollen. Die Länder haben den Kommunen diese regelmäßig als Selbstverwaltungsaufgaben zugewiesen. Ein Verstoß gegen die Garantie kommunaler Selbstverwaltung lag darin nicht.
Kapitel 6
Mischverwaltung A. Über das Verhältnis von Aufgabenbestand und -verantwortung Bisher wurden die Kompetenzbereiche von Bund und Kommunen nach Art. 87 GG und Art. 28 Abs. 2 GG dargestellt und ihre Vorgaben im Hinblick auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende befragt. Dabei zeigte sich, dass vom Gesetzgeber konkret zugeschnittene Verwaltungsaufgaben letztlich der Maßstab sind, an dem sich ihre Verteilung auf die Verwaltungsebenen auszurichten hat. Jene Aufgabenverteilung erfolgt exklusiv. Eine Zuständigkeit mehrerer Verwaltungsebenen für ein und dieselbe Aufgabe ist grds. ausgeschlossen.1 Die gesetzliche Zuweisung von Aufgaben ist dabei freilich in unterschiedlichem Maße verfassungsrechtlich zwingend vorgegeben. Je weniger eindeutig eine Aufgabe allein in den normativen Rahmen der Kompetenznorm einer Ebene eingeordnet werden kann, desto größer ist der gesetzgeberische Spielraum. Dies zeigt sich insbesondere bei den Querschnittsaufgaben. Im Rahmen ungeschriebener Kompetenzen wiederum können Aufgaben, die in ihrer Zuordnung wenig klar sind oder sogar an sich gerade einer anderen Ebene zustehen, „fremd“ zugewiesen werden, weil dies erforderlich ist und angesichts des Gewichts der konkreten Aufgabe allenfalls eine punktuelle Durchbrechung normativer Kompetenzvorgaben die Folge sind. Jedenfalls aber ist auch in diesen Fällen die Aufgabenzuweisung in vertikaler Hinsicht eindeutig. Sieht das GG getrennte Aufgabenbestände vor, sagt dies noch nichts über die Verwaltungsorganisation aus. Praktisch zeichnet sich diese – nicht erst neuerdings – durch eine starke Differenzierung und Pluralisierung aus.2 Die Wahl der Rechtsform, der Grad der Verselbständigung, die Ausgestaltung von Entscheidungsprozessen usw. bedeuten vor allem auch eine Splittung 1
Vgl. Jestaedt, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 14 Rn. 43. 2 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 60 ff.
A. Über das Verhältnis von Aufgabenbestand und -verantwortung
301
bzw. Schichtung der Verwaltungsaufgaben nach Verantwortlichkeiten.3 Grds. liegen diese umfassend bei dem Träger der Aufgabe, mithin bei Bund, Ländern oder Kommunen. Die konkrete Verwaltungsorganisation modifiziert diese Verantwortlichkeiten anschließend horizontal und teilt diese ggf. auf. Im Bereich hierarchisch organisierter Verwaltung fallen (demokratische) Letztverantwortung und Erfüllung vor Ort u. U. auseinander; erstere liegt bspw. beim zuständigen Minister, letztere bei der Behörde vor Ort. Im Falle funktionaler Selbstverwaltung wird die Aufgabe auf mehr oder weniger selbstständige juristische Personen verlagert.4 Im Zusammenhang mit Aufgabenprivatisierungen spielen – partiell kompensierende – Gewährleistungsverantwortlichkeiten eine zentrale Rolle. Eine derartige Splittung von Verantwortlichkeiten wird nicht nur verfassungsrechtlich begleitet und begrenzt, sondern ist im GG selbst angelegt und z. T. sogar angeordnet wie besonders in Art. 87 Abs. 2 GG.5 Wenngleich hier bereits grds. ein höheres Maß an Flexibilität, Pluralität und Differenzierung vorgesehen ist, ist nicht jede Form der Verwaltungsorganisation gleichermaßen verfassungsrechtlich unproblematisch. Das wird insbesondere deutlich, wenn Verantwortlichkeiten derart modifiziert werden, dass die Grenzen der zuständigen Ebene gesprengt werden, andere Verwaltungsebenen insoweit an fremden Aufgaben „mitverwalten“. Immerhin liegt in der vertikalen Vermischung von Verwaltungsverantwortlichkeiten eine zusätzliche Qualität. Verfassungsrechtlich ist eine solche partiell zwar schon dadurch vorgesehen, dass Länder und Kommunen Auftragsangelegenheiten wahrnehmen (Art. 85 GG bzw. die jeweiligen Vorschriften der LV über den übertragenen kommunalen Wirkungskreis), sie also in dieser Hinsicht fremde Aufgaben erfüllen. Verfassungsrechtlicher Regelfall aber ist die Wahrnehmung eigener Aufgaben (Art. 83, 84 GG; Art. 28 Abs. 2 GG). Den jeweiligen Aufgabenträgern steht das Recht eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung zu.6 Als Ausnahmen zeigen sich insofern auch die Gemeinschaftsaufgaben des Grundgesetzes (Art. 91a ff. GG). Der Begriff mag zunächst dahin deuten, es handele sich hierbei um eine Zuständigkeitsregelung insofern, dass mehrere Ebenen – ausnahmsweise – für ein und dieselbe Aufgabe originär zuständig sind. Bei den Gemeinschaftsaufgaben handelt es sich allerdings bei genauer Betrachtung um Mitverwaltungskompetenzen. Das bedeutet, 3
Winkler, Verwaltungsträger im Kompetenzverbund, S. 24 f. Vgl. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 121 ff.; ausführlich auch sogleich. 5 Siehe dazu nur Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 84 Rn. 73 ff. m. w. N. 6 Vgl. oben Kapitel 1 A. II. 4
302
Kap. 6: Mischverwaltung
dass die Art. 91a ff. GG erst nach der (vertikalen) Aufgabenverteilung eingreifen und die Verantwortlichkeiten in ebenenübergreifender Perspektive modifizieren.7 Deutlich wird dies bereits in der Formulierung des Art. 91a GG, der den Bund auffordert „bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder“ mitzuwirken. Die Aufgaben bleiben also der Sache nach solche der Länder; sie sind ihrem und nicht dem Bestand des Bundes zugeordnet.8 Art. 91b GG ermöglicht Bund und Ländern „in Fällen überregionaler Bedeutung“ auf dem Gebiet der Forschung zusammenzuwirken. Auch hier findet sich die Zulassung ebenenübergreifender Verwaltungsorganisation.9 Welche Verantwortlichkeit welcher Ebene zugeteilt wird, regelt die jeweilige Norm selbst. Trifft sie bspw. wie Art. 91b Abs. 3 GG Regelungen bzgl. der finanziellen Folgen, gehen diese als lex specialis den allgemeinen Regelungen vor.10 Art. 91c GG, der im Rahmen der Föderalismusreform II 2009 in das GG eingefügt wurde, thematisiert die Koordination und Kooperation im Bereich informationstechnischer Systeme. Eigene Zuständigkeitsregelungen für die Wahrnehmung von Aufgaben in diesem Bereich existieren nicht, so dass diese im Rahmen der Art. 83 ff. GG gleichsam miterfüllt werden. Dies stellt Art. 91c GG auch nicht in Frage. In Anerkennung dieses Zustands ermöglicht er administrative Zusammenarbeit. Die Gemeinschaftsaufgaben typisieren demnach bestimmte Aufgabenfelder, deren Verwaltung gemeinsam – ebenenübergreifend – organisiert wird. Damit erkennt das GG die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen ausdrücklich an.11 Die Entstehungsgeschichte verdeutlich, dass die Gemeinschaftsaufgaben tatsächlich aus dem Nachvollzug eines jeweiligen praktischen Bedürfnisses heraus entstanden sind. Art. 91a und b GG bspw. sind 1969 zur Absicherung der längst praktizierten aber auch problematisierten Kooperation auf diesen Gebieten entstanden.12 Der verfassungsändernde Gesetzgeber sah sich mit getrennten Zuständigkeiten der Verwaltungsebenen auf der einen Seite und notweniger or7 Vgl. Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 91a Rn. 6 f. (1980). 8 Erkannt aber in der Konsequenz unklar Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, S. 97 f. 9 Vgl. Blümel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 4, § 101 Rn. 163; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 91b Rn. 8 ff.; Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 91b Rn. 34 ff. (1980). 10 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 91b Rn. 18 ff. 11 Sachbereich nennt es bspw. Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 91b Rn. 12 ff. 12 Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 91a Rn. 1 ff. (1980).
B. Das grds. Verbot der Mischverwaltung
303
ganisatorischer Verschränkung auf der anderen Seite konfrontiert. Die Gemeinschaftsaufgaben teilen dementsprechend die Charakteristika der Querschnittsaufgaben.13 Sie versammeln u. U. zahlreiche konkrete Verwaltungsaufgaben unterschiedlicher Herkunft14 und vor allem aus den Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Ebenen unter dem Dach einer gemeinsamen Exekutive. Insofern wird ein bestimmter Bereich im Rahmen getrennter Aufgabenbestände zugeschnitten und diejenigen Aufgaben, welche innerhalb dieses Bereichs liegen, werden als Gemeinschaftsaufgaben ebenenübergreifend wahrgenommen.15 Die skizzierte ebenenübergreifende Verflechtung von Verwaltung stellt sich somit als spezieller Fall modifizierter Verantwortlichkeiten dar, der – zumal jenseits der Gemeinschaftsaufgaben – allerdings nicht beliebig möglich ist. Verfassungsrechtlicher Regelfall bleibt trotz partieller Durchbrechung die Trennung der Verwaltungsräume (Trennungsgrundsatz). Dieser Grundsatz basiert wesentlich auf den Staatstrukturprinzipien des Bundesstaats, Rechtsstaats und der Demokratie. Formen vertikaler Verflechtung sind in diesem Lichte auf ihre Zulässigkeit hin zu befragen. Die Debatte hierüber wird in der Rechtswissenschaft unter dem Stichwort „Mischverwaltung“ geführt.
B. Das grds. Verbot der Mischverwaltung I. Der Begriff Mischverwaltung Mischverwaltung wurde zu Beginn ausschließlich mit dem Stigma der Unzulässigkeit versehen.16 Bereits begrifflich wurde Mischverwaltung als Synonym verfassungswidriger Verwaltungsorganisation verstanden, weil sie gleichbedeutend sei mit einer Durchbrechung des Trennungsgrundsatzes.17 Diese normative Ansicht mündet demnach zwangsläufig in ein striktes verfassungsrechtliches Verbot von Mischverwaltung.18 Gleichzeitig nötigt sie zu einer klaren Definition für jene stets unzulässige Verwaltungsform. Das 13
s. o. Kapitel 1 A. II. Vgl. dazu bspw. Hellermann, in: Starck (Hrsg.), Föderalismusreform, Rn. 277 ff. m. w. N. 15 Vgl. ähnlich Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 91a Rn. 7 ff. 16 Diese Auffassung darstellend Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 49 m. w. N. 17 Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 123 f.; vgl. Köttgen, DÖV 1955, 485 ff. 18 Kratzer, DÖV 1950, 529 (534); Gerner, BayVBl 1955, 193; Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 123 f. 14
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Kap. 6: Mischverwaltung
Grundgesetz selbst sieht innerhalb einer strikt zu verstehenden Kompetenzordnung zahlreiche Ingerenzrechte vor. Diese sind verfassungsunmittelbar legitimiert und können daher bereits keine unzulässige Mischverwaltung sein. Anders als die Gemeinschaftsaufgaben, welche ebenso verfassungsrechtlich zulässige Formen der Verflechtung normieren, aber als Ausnahmen konzipiert sind, stellen die Art. 83, 84 GG sogar den Regelfall der Verwaltung dar. Mischverwaltung konnte demnach nur sein, was sich außerhalb des verfassungsrechtlich ausdrücklich Zugelassenen bewegt. Welche konkreten Formen hier als Mischverwaltung anzusehen wären, bedürfte indes weiterer Klärung. Das BVerfG hat anfangs Mischverwaltung verstanden, als eine „Verwaltungsorganisation, bei der eine Bundesbehörde einer Landesbehörde übergeordnet ist, oder bei der ein Zusammenwirken von Bundes- und Landesbehörden durch Zustimmungserfordernisse erfolgt.“19 Später führte es aus: „Mitplanungs-, Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse gleich welcher Art im Aufgabenbereich der Länder, ohne daß die Verfassung dem Bund entsprechende Sachkompetenzen übertragen hat, verstoßen gegen das grundgesetzliche Verbot einer sog. Mischverwaltung.“20 In der Literatur fanden sich demgegenüber andere Ansätze einer Definition. Teilweise wurde vertreten, Mischverwaltung sei gemeinsames Verwaltungshandeln von Bund und Ländern, welches nach außen sichtbar werde.21 Andere wiederum beschränkten sich rein auf die Binnenperspektive und die Erledigung ein und derselben Aufgabe durch Bund und Länder gleichermaßen.22 Immer neue Formen der Kooperation und Koordination – gerade im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsaufgaben – machten eine normative Definition von Mischverwaltung, welche sämtliche unzulässige Fälle umfassen sollte, immer schwieriger. Die normative Auffassung ist ihrer Anlage nach eher statisch und tendiert dazu, Mischverwaltung und damit den Gehalt des Trennungsgrundsatzes in einem verfassungsrechtlichen Moment zu fixieren. Formen der Verwaltungsorganisation unterliegen derweil der Notwendigkeit gewisser Flexibilität, denn sie sind nicht Selbstzweck, sondern richten sich nach bestimmen, ihrerseits nicht statischen Parametern aus. Veränderte gesellschaftliche, politische usw. Rahmenbedingungen verändern auch Charakteristika von Verwaltungsaufgaben und stellen die Exekutiv vor spezifische Herausforderungen. Nicht zuletzt angesichts zunehmender Europäisierung sind jene Prozesse auch aus dem Bereich der Verwaltungsorganisation nicht völlig 19 20 21 22
BVerfGE 11, 105 (124). BVerfGE 39, 96 (120). Köttgen, DÖV 1955, 485 (488). Darmstadt, Zur Frage einer Mischverwaltung von Bund und Ländern, S. 119.
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herauszuhalten. Demzufolge ist der konkrete Gehalt des Trennungsgrundsatzes in gewisser Weise notwendig relativ. Das normative Verständnis von Mischverwaltung sah sich daher in der Folgezeit verstärkt der Kritik ausgesetzt. Namentlich in den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren erlebte diese ihren Aufstieg durch prominente Arbeiten.23 Nicht zufällig fiel diese Entwicklung mit der Verbreitung kooperativer Bundesstaats- bzw. Föderalismuskonzepte zusammen und platzierte sich als deren Baustein oder Ausprägung.24 Hauptkritikpunkt an dem normativen Ansatz war die mangelnde Differenziertheit von Perspektive und Ergebnis. Bereits das GG selbst sehe zahlreiche Formen der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Verwaltung vor. Die strikte Wertung, wie sie systematisch für die Auslegung von Kompetenzbestimmungen generell ermittelt wurde, könne für die Wahrnehmungsebene nicht automatisch übertragen werden, wenn eben ausdrücklich Durchbrechungen geregelt seien. Hierfür sei eine Konkretisierung notwendig. So gehe die Verfassung offensichtlich auf dieser Ebene von einem anderen Konzept aus. Einen derart strikten Grundsatz hinsichtlich einer Trennung der Verwaltungsebenen bei der Aufgabenerfüllung gebe es nicht.25 In begrenztem Maße seien Kooperationen und Einflussnahmen möglich. Das normative Verständnis werde dem nicht gerecht. Es stigmatisiere jedwede Form der Kooperation, gleich welchen Ausmaßes, gleich welchen Charakters, gleich welche Auswirkungen auf Strukturprinzipen der Verfassung tatsächlich zu befürchten seien. Ein Verstoß gegen jene werde schlicht behauptet. Mischverwaltung 23 Vor allem Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat; Loeser, Theorie und Praxis der Mischverwaltung. 24 Allgemein – die Prominenz der Debatte belegend – aus der Zeit bspw. Groß, DVBl 1969, 93 ff. (125 ff.); Heinze, „Kooperativer Föderalismus“ und die Umbildung der Verfassung, in: FS für Forsthoff, 1972, S. 119 ff.; Laufer, Kooperativer Föderalismus, in: Schur (Hrsg.), Festschrift für v. Knoeringen, 1966, S. 30 ff.; Kewenig, AöR 1968, 433 ff.; Konow, DÖV 1966, 368 ff.; Scharpf/Reissert/Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976; Scheuner, DÖV 1962, 641 ff.; ders., DÖV 1966, 513 ff.; ders., DÖV 1972, 585 ff.; Thieme, BayVBl 1978, 353 ff. Aus neuerer Zeit von Arnim (Hrsg.), Föderalismus, 2000; Bauer, Die Bundestreue, 1992; Blanke/Jann/Mühlenkamp (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004; Hillgruber, JZ 2004, 837 ff.; Hohler, Kompetition statt Kooperation; Hoppenstedt, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes zwischen Unitarismus und Föderalismus, 2000; Isensee, Der Bundesstaat – Bestand und Entwicklung, in: Badura (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, Band 2, 2001, S. 719 ff.; Pleyer, Föderative Gleichheit, 2005; Sanden, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland, 2005; ders., DÖV 2002, 837 ff.; Sˇarcevic, Das Bundesstaatsprinzip, 2000; Sturm, Föderalismus in Deutschland, 2001. 25 BVerfGE 63, 1 (39).
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sei so Befund, Argument und Ergebnis zur selben und zu jeder Zeit.26 Hier sei aber mehr Differenzierung und Flexibilität zu verlangen, um den beinahe grenzenlos vorstellbaren Formen der Mischverwaltung in ihrem je spezifischen Gehalt, mit ihren je spezifischen Gefahren auch angesichts veränderter Rahmenbedingungen Rechnung tragen zu können.27 So hat sich mehr und mehr ein deskriptives Verständnis von Mischverwaltung durchgesetzt, welches zunächst nur den Befund einer vertikalen Verwaltungskooperation enthält.28 Mischverwaltung ist danach „jede funktionelle oder organisatorische Verflechtung der Verwaltung von Bund und Ländern“29 oder außenwirksamer formuliert: jede Verwaltung „bei der die sachlichen Entscheidungen in einem irgendwie gearteten Zusammenwirken von Bundes- oder Landesbehörden getroffen werden.“30 Nach wie vor wird diesem Ansatz vorgeworfen, er schaffe eher Probleme als sie zu lösen. Aus dem Befund folge schließlich zunächst nichts. Dementsprechend wird, wenngleich auch nicht länger überwiegend, an dem normativen Begriffsverständnis festgehalten.31 Während hiernach grds. jedes Zusammenwirken verboten ist, geht das deskriptive Verständnis davon aus, dass es auch darüber hinaus zulässige Mischverwaltung gibt. Das BVerfG hatte sich 1971 erstmals dezidiert mit dieser Frage zu befassen und befunden, dass Mischverwaltung „in einzelnen Fällen“ zulässig ist32 und sich damit einem pragmatischen, deskriptiven Verständnis angeschlossen. Auch in späteren Entscheidungen wurde diese Sichtweise bestätigt und weiter präzisiert.33 In der insofern wegweisenden Entscheidung des BVerfG zur Schornsteinfegerversorgung formulierte es schließlich: „Es gibt keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, wonach Verwaltungsaufgaben ausschließlich vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, sofern nicht ausdrückliche verfassungsrechtliche Regeln etwas anderes zulassen.“34 Das folgt gerade auch daraus, dass „nicht in jedem Fall eines Zusammenwirkens von Bund und Ländern im Bereich der Verwaltung“ „Kompetenz- und Orga26
Vgl. Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 29 ff. In diesem Sinne auch abweichendes Votum zu BVerfGE 119, 331 (386 ff.). 28 Burgi, Vom „Verbot der Mischverwaltung“ zur Dogmatik der vertikalen Kooperation im Bundesstaat, in: Butzer (Hrsg.), FS Schnapp, S. 15. 29 Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 49. 30 Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 58. 31 Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 4, § 98 Rn. 184; Schnapp, VSSR 2007, 253 ff. 32 BVerfGE 32, 145 (153). 33 BVerfGE 39, 96; 41, 291; 63, 1; 83, 363; 97, 198; 108, 169; nicht zuletzt auch BVerfGE 119, 331. Zum „neutralen“ Begriff von Mischverwaltung Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, S. 19 ff. 34 BVerfGE 63, 1 (39). 27
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nisationsnormen“ angetastet werden. Weil, so könnte man hinzufügen, eben nicht jede Kooperation in der Wahrnehmung die Kompetenzordnung tatsächlich angreift. Allerdings gilt umgekehrt auch, dass eine Kooperationsform das strikte Gebot der Kompetenzwahrung durchaus betreffen kann. So „widerspricht es der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, wenn in weitem Umfang Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse des Bundes im Aufgabenbereich der Länder ohne entsprechende verfassungsrechtliche Ermächtigung vorgesehen werden.“35 Äußerste Grenze jedweder Mitplanungs-, Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse anderer Verwaltungsebenen ist dann die völlige Negierung der Verbindung von Aufgabe und Verantwortung, mithin die mittelbare Umgehung der verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilung.36 Das gründet sich vor allem auf die verfassungsrechtlichen Strukturbestimmungen.
II. Mischverwaltung als strukturelles Problem unklarer Verantwortung 1. Bundesstaat Der dogmatische Ausgangspunkt der Mischverwaltungsdebatte findet sich im Bundesstaatsprinzip.37 Inwiefern dieses Mischverwaltung duldet oder sogar fordert, hängt maßgeblich (auch) vom jeweils vertretenen Bundesstaatkonzept ab. Je stärker der kooperative Gedanke betont wird, desto eher und mehr wird man auch kooperative Formen der Exekutive als bundesstaatlich verträglich erachten. Je stärker wiederum der Konkurrenz- und Trennungsgedanke betont wird, desto eher wird man solche Strukturen ablehnen.38 Insbesondere seit den 1960er Jahren prägte das politische Konzept von Kooperation und Mitbestimmung auch den Blick auf Föderalismus und Bundesstaat. Mit dem Ziel möglichst gleicher Chancen und Verhältnisse in den einzelnen Ländern nahmen die Modelle ebenenübergreifender Verwal35
BVerfGE 119, 331 (370). Ronellenfitsch formuliert anschaulich, die Verwaltungssphären von Bund und Länder seien geschlossen, aber nicht abgeschlossen; verschieden aber nicht abgeschieden. ebd., Die Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 250. 37 Ausführlich zur bundesstaatlichen Determinierung der Mischverwaltung Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, S. 63 ff., 115 ff. 38 Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 20 Abs. 1 Rn. 146 ff. (November 2006); zur Frage einer normativen Wirkung insoweit Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, S. 64 ff. 36
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tungstätigkeit zu; untergesetzlich, einfachgesetzlich und auch verfassungsrechtlich. Den Höhepunkt erreichte diese Welle mit der Troeger-Finanzreformkommission, welche den Gedanken kooperativer Strukturen im Bundesstaat zum Leitgedanken erklärte39 und die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben zur Folge hatte. Einsetzende Kritik und zunehmende Abkehr von Kooperationsstrukturen und die politische Hinwendung eher zu Entflechtung und Entzerrung bildete einen zentralen Aspekt der Föderalismusreform 2006.40 Die unterschiedlichen Konzepte beschreiben Wertungsunterschiede auch im Bereich der Mischverwaltung und werden rechtlich relevant, wo sie verfassungsrechtlich transkribiert sind bzw. wo dem Gesetzgeber Spielräume eröffnet sind. Einigkeit besteht insoweit, dass aus dem Bundesstaatsprinzip der „Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“41 herzuleiten ist. Bund und Länder haben hiernach das Recht aber auch die Pflicht Verwaltungsaufgaben mit eigenen personellen, sachlichen und organisatorischen Mitteln zu erfüllen.42 Anders formuliert: Der Aufgabe folgt die Verantwortung. Absolute Grenze möglicher administrativer Ausgestaltung ist demnach die Umkehrung des Grundsatzes und die völlige Trennung von Aufgabe und Verantwortung. Jenseits dessen ist insbesondere die einfachgesetzlich etablierte Form von Verwaltungskooperation und -zusammenarbeit Gegenstand bundesstaatlicher Determinierung. So sind die in den Art. 83 ff. GG vorgesehenen Verwaltungstypen abschließend (Typenzwang).43 Die Kompetenzvorschriften sind insofern unabdingbar und strikt. Außerdem kann als absolute Grenze gelten, dass es keine Bundesexekutive jenseits einer Bundesgesetzgebungskompetenz gibt,44 Art. 86 ff. GG und Art. 30 GG sind insoweit eindeutig. Kooperationsmodelle, welche diese Konzeption missachten, indem sie etwa neue Verwaltungs- oder Mitwirkungstypiken schaffen, sind demnach ebenso verfassungswidrig wie eine nicht nur kurzfristige Beteiligung des Bundes an der Ausführung von anderen als Bundesgesetzen.45 39 Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1966. 40 Vgl. Ipsen, NJW 2006, 2801 ff. 41 BVerfGE 119, 331 (366); Grawert, Verwaltungsabkommen, S. 195. 42 BVerfGE 63, 1 (41); Brosius-Gersdorf, VSSR 2005, 335 (376). 43 Der Typenzwang ist nicht rein bundesstaatlich motiviert, sondern enthält auch rechtsstaatliche Aspekte. Hierbei geht es vor allem um die Vermeidung von willkürlicher Ausweitung von Verwaltungsmodellen und damit verbundenen Gefahren. 44 Dazu bereits oben Kapitel 1 A. 45 Vgl. Art. 35 GG. Hier geht es außerdem um die Ausführung von Bundesgesetzen. Ebenso ausgenommen ist demzufolge auch die gesetzesfreie Verwaltung. Dazu Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 83 Rn. 20 (Januar 2009).
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Jenseits dessen folgt aus dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung aber nicht, dass „Verwaltungsaufgaben ausschließlich vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, sofern nicht ausdrückliche verfassungsrechtliche Regeln etwas anderes zulassen.“46 Das Bedürfnis der öffentlichen Gewalt aufnehmend, „in ihrem Streben nach angemessenen Antworten auf neue staatliche Herausforderungen nicht durch eine zu strikte Trennung der Verwaltungsräume gebunden zu werden“47, sind Kooperationsformen jenseits absoluter Grenzen nicht prinzipiell ausgeschlossen. 2. Rechtsstaat Der Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung weist dogmatische Nähe auch zum Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG auf. Die grundsätzliche Trennung der Exekutivstrukturen von Bund und Ländern ist geeignet, auch Mittel zur Kontrollierbarkeit und Transparenz staatlichen Handelns zu sein.48 Die bundesstaatlich motivierte Trennung im Innenverhältnis von Bund und Ländern wird in gewisser Weise durch das Rechtsstaatsprinzip nach außen getragen. Dem Bürger gegenüber wird nämlich jene Nachvollziehbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlicher Entscheidungen verlangt. Verwaltungsorganisatorische Transparenz und Klarheit sind die Voraussetzungen für Verantwortungsklarheit, welche wiederum Voraussetzung ist für eine effektive Geltendmachung von subjektiven Rechten gegenüber der öffentlichen Verwaltung.49 Nur wer weiß, wer ihm gegenüber wozu verpflichtet und wofür verantwortlich ist, kann sich darauf sinnvoll berufen.50 Werden Verwaltungsaufgaben unter Wahrung der Kompetenzordnung durch den Gesetzgeber einem Träger zugewiesen, vertraut der Bürger darauf, dass behördliche Entscheidungen grds. auch der Sphäre des insoweit zuständigen Trägers entspringen.51 Effektivität, Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse 46
BVerfGE 63, 1 (39). BVerfGE 119, 331 (365). 48 Als Elemente materieller Rechtsstaatlichkeit Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 20 Abs. 1 Rn. 50 ff. (November 2006). Als Unterfütterung gilt dies auch für den Typenzwang und die Begrenzung der Ingerenzrechte. Die verfassungsrechtlich ausdrücklich normierten Exekutivformen mit ihren Ingerenzrechten sind auch deshalb abschließend, weil daraus ein Mehr an Verlässlichkeit und Klarheit zu erwarten ist, als bei einer willkürlichen Festlegung jener Strukturen. 49 Wilke, DÖV 1975, 509; Schmidt-Aßmann, VVDStRL 1976, 221 (227 f.); Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 4, § 98 Rn. 178 ff. 50 Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 254 ff. 51 Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 76. 47
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und andere möglicherweise verfassungsrechtlich ebenfalls anerkannte Zielsetzungen verdrängen dieses Vertrauen nicht prinzipiell, sondern allenfalls ausnahmsweise. Der Grundsatz eigenverantwortlicher Wahrnehmung von Exekutivaufgaben zeigt sich so als rechtsstaatliches Prinzip der Verantwortungsklarheit und Transparenz. Beide greifen ineinander. Klarheit interner Strukturen ist nicht etwa anderes als Transparenz nach außen, sondern wird durch diese bedingt. Die angedeutete Auffassung, dass Mischverwaltung (normativ verstanden) von Anfang an nur sein kann, was nach außen wirkt und interne Verschränkungen und Kooperationen außer Acht bleiben, ist daher bereits im Ansatz nicht zutreffend.52 Mischverwaltungsmodelle haben sich nicht nur daran zu orientieren, ob die Staatlichkeit von Bund und Ländern durch eine grds. Trennung ihrer Verwaltungsräume in angemessener Weise gewahrt wird, sondern auch daran, dass für den Bürger eine effektive Wahrnehmung seiner Rechte durch Verantwortungsklarheit und Transparenz gewährleistet ist. 3. Demokratie In der Mischverwaltungsdebatte zunächst eher unterbelichtet oder gar ausgeblendet, drängt das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) in den vergangenen Jahren zunehmend in den Vordergrund. Gemäß Art. 20 Abs. 2 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, mithin auch die öffentliche Verwaltung und diese wiederum grds. umfassend.53 Auf einer allgemeinen Ebene lassen sich zunächst das Legitimationssubjekt (Volk) und das Legitimationsobjekt (Staatsgewalt) unterscheiden. Der demokratische Staat zeichnet sich dadurch aus, dass die Regierten mit den Regierenden insoweit identisch sind, dass sich ihre Funktionen nicht aus (quasi-)natürlichen oder transzendentalen Begründungszusammenhängen ableiten lassen, sondern aus Legitimationsmodi, welche die politisch-kulturelle Gemeinschaft – der beide angehören – zum Bezugspunkt haben. Diese Gemeinschaft wiederum definiert sich nach klassischer Auffassung über die Staatsangehörigkeit, weil von dem (National-)Staat als (wesentlichem) Träger der Hoheitsgewalt das Schicksal dieser Gemeinschaft abhängen soll.54 52
s. o. Kapitel 5 B. II. Dazu, ob hierunter auch konsultative oder vorbereitende Tätigkeiten zu fassen sind, siehe BVerfGE 107, 59 (87); 93, 37 (68). 54 Grundlegend Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24; Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 20 Abs. 1 (November 2006). 53
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Die Legitimationsmodi beschreiben die Arten und Weisen der Zurechnung von Legitimationsobjekt und -subjekt.55 Hierbei lassen sich vor allem zwei Ebenen unterscheiden, die organisatorisch-personelle und die sachlich-inhaltliche. Vorgelagert und jedenfalls auch rechtsstaatlich motiviert ist die institutionell-funktionelle Ebene. Bei dieser geht es um die Eigenständigkeit der Verwaltung, welche Art. 20 Abs. 2 GG unmittelbar vorsieht und die nicht von anderen Gewalten – etwa durch einen umfassenden Gesetzesvorbehalt – vollständig determiniert werden darf.56 Jene allgemeine Legitimation von Verwaltung ersetzt allerdings nicht eine konkrete und fortdauernde Zurechnung von Volk und Staatsgewalt. In organisatorisch-personeller Hinsicht ist eine solche für den einzelnen Amtswalter und das jeweilige Organ erforderlich. Das BVerfG beschreibt das Erfordernis in dieser Hinsicht als ununterbrochene Legitimationskette.57 Diese reiche vom unmittelbar legitimierten Parlament über den Bundeskanzler, den Minister bis schließlich hinunter zum letzten Glied in der Kette vor Ort. Eine individuelle Ernennung und konkrete Funktionszuweisung sind Folgen dieses Legitimationsmodells. Es ist damit aber vor allem auf hierarchisch organisierte Verwaltung zugeschnitten, verlangt diese u. U. sogar.58 Dieses vergleichsweise formale Erfordernis verfolgt den Zweck, ein einheitliches, hinreichendes und eindeutiges Legitimationsniveau zu sichern, ist dabei zwar nicht streng dogmatisch zu verstehen, macht Abweichungen und Modifikationen aber begründungs- und rechtfertigungsbedürftig.59 In sachlich-inhaltlicher Hinsicht leitet sich die Legitimation von Verwaltungshandeln vor allem aus zwei Zusammenhängen ab. Zum einen vermittelt die Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) jene durch die Anbindung ans Parlament. Zum anderen ermöglicht die demokratische Verantwortlichkeit des Parlaments (Art. 38 GG) und die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung Zurechnung in inhaltlicher Hinsicht.60 55 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 7 ff. 56 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24 Rn. 15; Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 8 f. 57 BVerfGE 47, 253 (275); 52, 95 (130); 77, 2 (40); 83, 60 (72); 93, 37 (66); 107, 59 (87); 119, 331 (366); s. außerdem Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 269 ff. 58 Grundlegend Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 121 ff. 59 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24 Rn. 17; Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 135 ff. Zur Mitwirkung nicht legitimierter Personen s. bspw. Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 9. 60 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 22 Rn. 21 f.
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Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes dienen also (auch) dazu, Verwaltungshandeln demokratisch zu steuern und zu legitimieren. Im Rahmen hierarchischer Verwaltung findet jene Steuerung wiederum Ausdruck in der unmittelbaren (Letzt-)Verantwortlichkeit der Verwaltungsspitzen, welchen im Rahmen von Aufsichts-, Kontroll- und Weisungsbefugnissen der für jene Verantwortlichkeit notwendige Einfluss auf das Verwaltungshandeln zukommt.61 Beide Stränge sachlich-inhaltlicher Legitimation stehen dabei in einem korrelativen Zusammenhang.62 Das bedeutet, dass dort, wo die gesetzlichen Vorgaben eher schwach ausgeprägt sind – wie bspw. im Rahmen unbestimmter Vorschriften – Einflussrechte im Rahmen der Verwaltungshierarchie stärker in den Vordergrund treten und dort, wo die Einbindung in solche Hierarchien schwach ist, entsprechend gesetzliche Gestaltungsspielräume fehlen, wie dies etwa bei der Justiz zu beobachten ist. Ersetzen aber können sich die beiden Formen nicht. Wie auch hinsichtlich der organisatorisch-personellen Legitimation dienen jene Anforderungen zur Herstellung und Sicherung eines bestimmten Legitimationsniveaus. Das Ergebnis rückt damit in den Fokus der Bewertung. Nach tradierter Auffassung sind die skizzierten Modi weder vollständig durch einander noch durch neue Modi ersetzbar. Allenfalls die Möglichkeit partieller Kompensation ist allgemein anerkannt.63 Auf dieser Grundlage ist es naheliegend, die hierarchisch organisierte Verwaltung zum Muster für die Frage zu machen, welches Legitimationsniveau zu verlangen ist. Teilweise wird sie gar zum „Funktionserfordernis demokratischer Staatlichkeit“64 erklärt. Diese Auffassung blieb nicht ohne Kritik. Vor allem wird ihr nach wie vor eine relative Inflexibilität und Statik vorgeworfen.65 Die Auseinandersetzung entzündet sich bereits an der strukturellen Einordnung des Demokratieprinzips. Je nachdem nämlich, ob es als historisch fundiertes und normativ unterlegtes Prinzip verstanden wird66 oder als eher relatives Optimierungsgebot oder Zielbestimmung,67 verändern sich die Bewertungsmaßstäbe 61 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 11. 62 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24 Rn. 22. 63 Dazu und zu engen Ausnahmen insbesondere im Bereich des externen Kontroll- und Prüfungswesens Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24 Rn. 24. 64 Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 125. 65 s. nur Schuppert, Der Staat 1993, 581 ff.; Trute, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 16 ff. 66 So wohl Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 121 ff.; Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24 Rn. 3 ff.
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insoweit, dass nach letzterer auch neue Legitimationsmodi gleichermaßen den Anforderungen des Art. 20 Abs. 2 GG genügen können, wenn und soweit sie letztlich ein bestimmtes – eher relativ zu ermittelndes – Legitimationsniveau sichern. Auch das Konzept des Staatsvolks nach der klassischen Auffassung wird kritisiert. So plädieren einige dafür, weniger einen monistischen als einen pluralistischen Volksbegriff zugrunde zu legen.68 Wenn Bezugspunkt von Demokratie die Freiheit des Einzelnen und letztlich „organisatorische Konsequenz der Menschenwürde“69 ist, könnten die konkreten Legitimationsmodi an der Frage auszurichten sein, wer in seiner Freiheit von der öffentlichen Gewalt betroffen ist oder sein kann. Daraus wiederum könnten sich eigenständige Legitimationsstrukturen auch für bestimmte Formen der Verwaltungsorganisation ableiten lassen.70 So unbestritten die freiheitssichernde Funktion der Demokratie auch ist,71 ist damit nicht die Frage beantwortet, ob diese gruppenspezifisch oder durch die Gesamtheit der Staatsbürger erfüllt und prozeduralisiert wird. Vieles spricht im Hinblick auf demokratische Egalität eher dafür, unter dem Volk i. S. d. Art. 20 Abs. 2 GG zumindest nicht nach besonderen – womöglich individualistischen – Kriterien zusammengefasste Gruppen zu verstehen.72 Zumindest aber – das ist zuzugestehen – ermöglicht eine Pluralisierung des Volksbegriffs eine höhere Flexibilität demokratischer Legitimationsmodi. So wird dann auch die Möglichkeit autonomer Legitimation nicht mehr als – verfassungsrechtlich zu rechtfertigende – Ausnahme gesehen, sondern als eine denkbare Variante recht schillernder Legitimationsarten.73 Im Hinblick auf Strategien sachlich-inhaltlicher Legitimation wird das Erfordernis parlamentarischer Steuerung als zu optimistisch angesehen und die institutionelle Eigenständigkeit der Verwaltung betont.74 Im Zusammen67 Etwa Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 16; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 652 ff.; Bryde, KJ 2000, 59 ff. 68 Siehe nur Bryde, KJ 2000, 59 ff. 69 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 19. 70 Bryde, KJ 2000, 59 ff.; Häberle, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 2, § 22 Rn. 67. 71 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24 Rn. 37. 72 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24 Rn. 4 ff. 73 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 23 f. 74 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 32 f.
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hang mit einer sich funktional differenzierenden Verwaltung seien bspw. im planenden Bereich Elemente einer Selbststeuerung der Verwaltung unverzichtbar. Entscheidungsverfahren seien auch in einer hierarchischen Verwaltungsstruktur derart komplex, dass eine effektive Steuerung von oben, die eine demokratische Verantwortlichkeit rechtfertigt, vielfach Fiktion sei.75 Bereits die notwendigerweise selektive Informationsweitergabe in der Hierarchie an die Verwaltungsspitze führe zu lückenhafter Steuerung.76 Alternative Legitimationsmodi müssten sich eher an der jeweiligen Aufgabe orientieren. Je komplexer, je abhängiger eine Aufgabe von Umweltveränderungen ist und je mehr sie auf Kooperation angewiesen ist, desto eher sollen solche Alternativen im Ermessen des Gesetzgebers liegen.77 Ihre demokratische Legitimation leitet sich dann, je nachdem wie weit man hier geht, verstärkt oder ausschließlich aus der Gesetzesbindung ab. Klassische Formen der Legitimation (inputorientierte) sollen im Übrigen bspw. durch outputorientierte Formen ergänzt werden können. Anerkennung, Akzeptanz und Bewährung würden insoweit zu Kategorien demokratischer expost Legitimation werden.78 Neue Aufgaben ermöglichten dem Gesetzgeber also grds. ein höheres Maß an Freiraum hinsichtlich der Verwaltungsorganisation.79 Wenngleich sich ein i. d. S. pluralistisches Demokratieverständnis flexibler zeigt als das klassische, bezieht sich dies in erster Linie auf die Legitimationsmodi. Zwar gestattet dieser Ansatz nämlich bspw. autonome Legitimationsstrukturen, was vor allem im Rahmen funktionaler Selbstverwaltung von Bedeutung ist, ebenso wie die klassische Auffassung verlangt sie im Ergebnis aber zwingend eine eindeutige Zuordnung der Aufgabe und des darauf basierenden Handelns zu seinem Träger. Erst wenn dies sichergestellt ist, stellt sich die Frage, inwieweit der Träger für seine Verwaltungsaufgabe demokratisch legitimiert ist. Mischverwaltung bedeutet also in demokratischer Hinsicht immer dann ein Problem, wenn jene eindeutige Zurechnung fehlt; demokratische Verant75
Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung, S. 86 ff. Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 40. 77 Schuppert, Der Staat 1993, 581 (590 ff.); Trute, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 40 ff. 78 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 667 ff.; Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 53 m. w. N. 79 „Trial and error“ nennt es Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 41; s. a. ähnlich das abweichende Votum zu BVerfGE 119, 331 (385 ff.). 76
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wortlichkeiten also diffundieren.80 Verantwortungsklarheit ist zwingende Folge des Demokratieprinzips. Mischverwaltung zeichnet sich nun aber bereits strukturell durch ein gewisses Maß an Diffusion aus. In der Mischverwaltungseinrichtung treffen per definitionem die Verwaltungen unterschiedlicher Verwaltungsebenen aufeinander. Ist die Einrichtung soweit rechtlich verselbstständigt, dass sie gesetzliche Trägerin81 der Aufgabe wird und verfügt diese Einrichtung über autonome Legitimationsstrukturen, mögen diese Strukturen fehlende parlamentarische bzw. ministerielle Verantwortlichkeit partiell kompensieren können. Letztlich offenbaren sich hier Parallelen zur Debatte über die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung.82 Entgegen der klassischen Auffassung wird diese z. T. deshalb anerkannt, weil und wenn der Aufgabenbereich gesetzlich bestimmt ist, ein klassisch legitimierter, auf das Parlament rückführbarer Einfluss auf die rechtskonforme Anwendung der Gesetze bzw. deren Kontrolle besteht und autonome Legitimationsformen fehlende personelle und defizitäre sachliche Anbindung an das Parlament ausgleichen. Die Beurteilung von Mischverwaltung aus demokratischer Perspektive hängt daher maßgeblich von deren konkreter Ausgestaltung ab. Im Vergleich zu den klassischen Fällen funktionaler Selbstverwaltung und zu Einrichtungen, welche keine rechtliche Selbständigkeit erlangt haben, zeigen sich aber Besonderheiten. Nach allen Auffassungen erfordert demokratische Legitimation i. S. v. Art. 20 Abs. 2 GG zumindest eine gewisse Rückbindung an das Parlament. Und zwar zum einen an dasjenige, welches die Gesetzgebungskompetenz inne hat und zum anderen an das Parlament, welchem die Verwaltung verantwortlich ist. Ist die Gesetzgebungskompetenz im Rahmen der Mischverwaltung meist noch eindeutig zuzuordnen, gilt dies für die Verwaltungskompetenzen gerade nicht. Hier treffen Verantwortlichkeiten von Bund und Ländern in einer Behörde zusammen. Diese beiden Stränge der Verwaltungsverantwortlichkeit müssen bei dem Tätigwerden der Behörde erkennbar bleiben, weil die demokratische Legitimation eine je eigenständige ist. Die Ingerenzrechte von Bund und Ländern müssen unterscheidbar sein. Nach außen und nach innen muss ein Maß an Eindeutigkeit und Transparenz gegeben sein, welches sicherstellt, dass die Entscheidungen der 80 Vgl. Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 112. 81 Im Sinne einer horizontalen Verlagerung der Sachaufgabe auf die Einrichtung. 82 Eingehend Emde, Demokratische Legitimation, S. 5 ff., 87 ff.; Schmidt-Aßmann, AöR 1991, 329 (344 f.); Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 228 ff.; Gusy, ZRP 1998, 265 ff.
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Mischverwaltungsbehörde der einen oder anderen Verwaltungsebene zurechenbar sind.83 Wenn sich jene Aufsichts-, Kontroll- und Weisungsbefugnisse allerdings verschränken und die demokratische Verantwortlichkeit für Entscheidungen nicht mehr eindeutig zugewiesen werden kann, entsteht ein Bereich demokratischer Verantwortungslosigkeit, welcher nach Art. 20 Abs. 3 GG nicht zulässig ist. Für den Bürger bedeutet dies, dass er staatliches Handeln nicht mehr effektiv demokratisch bewerten kann. An den Wahlergebnissen zu den Parlamenten wird der Erfolg staatlichen Handelns unter der Regie einer bestimmten politischen Konstellation gemessen. Der Bürger muss dann aber auch wissen, wer demokratisch verantwortlich ist.84 Das ist durch Mischverwaltung gefährdet. Ob sie tatsächlich unzulässig oder ausnahmsweise zulässig ist, hängt von der konkreten Ausgestaltung, also dem Maß ihrer vertikalen Verschränkung ab. 4. Kommunale Selbstverwaltung Selbst wenn man – mit der klassischen Auffassung – den Bereich funktionaler Selbstverwaltung aus demokratischer Perspektive für rechtfertigungsbedürftig hält, gilt das für die kommunale Selbstverwaltung nach allgemeiner Auffassung nicht gleichermaßen. Im Gegensatz zur funktionalen Selbstverwaltung zeichnet sich diese nämlich dadurch aus, dass die Partizipationsrechte ihrer Mitglieder nicht aus funktionalen oder normativen Gesichtspunkten folgen, sondern bereits unmittelbar aus dem Bürgerstatus. Damit entspricht dies grds. dem Anspruch demokratischer Egalität und stimmt insofern mit den Vorgaben des Art. 20 Abs. 2 GG überein. Daraus folgt nicht, dass wenn Art. 28 Abs. 1 GG vom Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden spricht, allesamt staatliche oder staatsähnliche Qualität besitzen, die Kommunen insoweit „kleine Republiken“ sind.85 Vielmehr sagt dies etwas über die „analoge Legitimationsstruktur“ aus.86 Daher erscheint es durchaus treffend, in Bezug auf die Kommunen von Teilvölkern zu sprechen.87 Die Wahlen zu den Kommunal83 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 6 Rn. 5; Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 2, § 24 Rn. 30 ff. 84 „Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann.“ BVerfGE 119, 331 (366). 85 Faber, in: AK GG, Band 2, Art. 28 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 25 (November 2002). 86 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, § 24 Rn. 32. 87 BVerfGE 83, 37 (55); 107, 59 (88); Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 20 Abs. 1 Rn. 56 (November 2006); Hellermann, in: Epping/ Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 28 Rn. 11 (Februar 2010).
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vertretungen zeigen sich als eigenständiger demokratischer Legitimationsmodus. Damit wird die kommunale (Teil-)Autonomie bzgl. der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft legitimiert. Die Kommunen stehen indes nicht außerhalb des Staates, sondern sind Teil der Staatlichkeit der Länder. Sie sind also gleichzeitig auch verfangen in deren demokratisch legitimationsbedürftiger Verwaltung. Im Rahmen des übertragenen Wirkungskreises treten sie sogar als Landesbehörden auf, wenngleich ihnen auch hier ein aufgabenunabhängiges – eher institutionell begründetes – Maß an Autonomie zustehen soll.88 Je stärker sie in den „Länderapparat“ eingebunden sind, desto stärker sind sie auch an deren Legitimationsstrukturen gebunden und in ihrer Tätigkeit an diesen zu messen. Im eigenen Wirkungskreis hingegen verfügen sie über ein garantiertes, traditionell begründetes und relativ weitgehendes Maß an Unabhängigkeit.89 Sie verfügen über die originäre Zuständigkeit für einen offen formulierten Aufgabenbereich und nehmen diese Aufgaben grds. in eigener Verantwortung wahr; auch in eigener demokratischer Verantwortung. Das löst die Kommunen aus dem demokratischen Zusammenhang zu den Ländern partiell heraus. Durch die dennoch bestehende Bindung kommunaler Selbstverwaltung an parlamentarische Gesetze (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG „im Rahmen der Gesetze“) und die jedenfalls bestehende Rechtsaufsicht der Länder, bleibt eine sachlich-inhaltliche Verbindung zu den Legitimationsstrukturen der Länder erhalten. Die autonome Legitimation der Kommunen, die sowohl sachlich-inhaltlicher wie auch organisatorisch-personeller Art ist, ergänzt diesen Legitimationsstrang und verstärkt damit das Legitimationsniveau kommunaler Aktivität. Diese „doppelte demokratische Legitimation“90 steht in einem sich gegenseitig verstärkenden und auch kompensierenden Verhältnis.91 Die Kommunen zeichnen sich dementsprechend durch eine gemischte Legitimationsbasis aus. Formen gemeinsamer Verwaltung von Ländern und Kommunen sind in demokratischer Hinsicht daher nicht zwangsläufig problematisch, sondern in gewisser Weise sogar ausdrücklich vorgesehen. Verschränkungen der Verwaltungsebenen stellen sich für die Kommunen allenfalls als Eingriff in ihr Recht auf kommunale Selbstverwaltung dar. Darin liegt dann aber weniger ein spezifisch demokratisches Problem von Mischverwaltung als vielmehr ein klassisches Problem eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung.92 88
Dazu oben Kapitel 5 A. I. 1. s. o. Kapitel 5 A. I. 1. b). 90 Hellermann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 28 Rn. 11 (Februar 2010); Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 28 Rn. 18. 91 Gusy, EuGRZ 2006, 353 ff. 92 Dazu ausführlich oben Kapitel 5 A. I. 1. b) cc) (2). 89
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Ebenso wenig können sich die Kommunen den Ländern gegenüber auf die bundesstaatlichen Aspekte der Mischverwaltung berufen. Bei der Debatte über Mischverwaltung war der Blick ohnehin lange Zeit ausschließlich auf eine Verflechtung von Bund und Ländern gerichtet. Hierbei wiederum überwog stets (bis heute) die Ansicht, das grds. Verbot der Mischverwaltung diene im Verhältnis der staatlichen Ebenen, wenn nicht schon konzeptionell, so zumindest faktisch, zuvörderst dem Schutz der Länder.93 Mischverwaltung als Problem kommunaler Selbstverwaltung ist erst seit den 1980er Jahren nennenswert in den Fokus der Rechtswissenschaft gerückt.94 In den letzten zehn Jahren drängte jenes Phänomen stärker in den Vordergrund.95 Dabei wuchs das Problembewusstsein entsprechend der Zunahme von Schnittpunkten zwischen Bund und Kommunen und hier vor allem im Zusammenhang mit zunehmenden unmittelbaren Aufgabenübertragungen des Bundes zu Lasten der Kommunen. Anders als zwischen Ländern und Kommunen bestehen zwischen Bund und Kommunen allerdings keine demokratischen Ableitungszusammenhänge. Daher ist eine Form der Verwaltungsverflechtung zwischen diesen weitaus problematischer. Hinzu kommt, dass bei einem behördlichen Zusammentreffen von Bund und Kommunen immer gleich auch die Länder beteiligt sind, die jedenfalls die Rechtsaufsicht über die Kommunen ausüben. Diffusion von Verantwortlichkeiten droht hier dementsprechend in besonderer Weise. 5. Zusammenfassung Bundesstaat, Rechtsstaat und Demokratie determinieren aus verfassungsrechtlicher Perspektive mögliche Modelle von Mischverwaltung. Sie beschreiben den Rahmen innerhalb dessen sich jene Modelle zu bewegen haben. Es gilt der Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung, nach dem die jeweils zuständige Verwaltungsebene mit eigenen sachlichen Mitteln, eigenem Personal usw. die Aufgabe zu erfüllen hat. Verwaltungsorganisatorische Transparenz und Klarheit fordern Erkennbarkeit des Entscheidungsträgers nach außen. Rechtlich und politisch kann nur so verantwortliches Verwaltungshandeln sicher gestellt werden. Mischverwaltungsformen haben den entsprechend anwendbaren verfassungsrechtlichen Anforderungen kommunaler Selbstverwaltung gerecht zu 93
Vgl. Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 28 ff. m. w. N. Wahl, Zukunftsaspekte der Verwaltung, 443. 95 Siehe nur Schoch/Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz; Henneke, DÖV 2005, 177 ff.; ders., DVBl 2006, 867 ff.; ders., Landkreis 2004, 141 ff.; Falk, Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz. 94
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werden. Hier stellt sich insbesondere das Problem exekutiver Verflechtungen von Bund und Kommunen.
III. Annex: Gemeinschaftsrecht Mischverwaltung ist in verschiedenen Arten und Weisen auch unter Beteiligung der Europäischen Gemeinschaft denkbar und auch praktisch. Sie kann durch eigene Behörden an der Exekutive beteiligt sein (unmittelbare Verwaltung) oder Vorgaben für die mitgliedstaatliche Umsetzung machen (mittelbare Verwaltung). Eigene Verwaltungskompetenzen, welche unmittelbare Verwaltung durch EU-Behörden ermöglichen, sind dabei die Ausnahme.96 Jedenfalls ist eigene Verwaltung nur in den Bereichen möglich, in denen die EU auch die Rechtssetzungsbefugnis hat und diesen Rechtssätzen unmittelbare Wirkung in den Mitgliedsstaaten zukommt; mithin im Bereich der Verordnungen. In der Regel liegt die Exekutivzuständigkeit bei den transformierenden Mitgliedsstaaten.97 Hierin ist durchaus ein föderales Element zu erblicken, gleicht die Ausgestaltung doch zumindest in ihren Grundzügen dem Verhältnis der Exekutivzuständigkeiten von Bund und Ländern unter dem Grundgesetz. Dementsprechend gilt im Gemeinschaftsrecht der Grundsatz der organisatorischen Autonomie der Mitgliedstaaten (Art. 345 AEUV98),99 wie im Grundgesetz der Grundsatz der Länderzuständigkeit gilt. So regeln die Mitgliedstaaten regelmäßig die Verwaltungsorganisation selbstständig. Die Umsetzung unterliegt, wiederum teilweise vergleichbar mit grundgesetzlichen Vorgaben, einigen gemeinschaftsrechtlichen Determinanten. Insbesondere sind hier der effet utile, das Diskriminierungsverbot und der Grundfreiheitsschutz100 herauszuheben.101 Transformationsbedürftiges Gemeinschaftsrecht wird im Rahmen der Verwaltungsformen des Grundgesetzes umgesetzt. Hierbei gelten zunächst auch keine Besonderheiten im Vergleich zur Exekutive von Bundesgesetzen im Allgemeinen. Im Zusammenhang mit innerstaatlicher Mischverwaltung vor 96 Neben der gemeinschaftsinternen Verwaltung, bspw. beim europ. Sozialfond (Art. 162 AEUV), der europ. Zentralbank (vgl. Art. 13 EUV), weitere benannt bei Kahl, Die Verwaltung 1996, 341 (344). 97 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 14 ff. m. w. N. 98 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABlEU 2010, S. 47 ff. (ex. 295 EUV). 99 Kahl, Die Verwaltung 1996, 341 (346) m. w. N. 100 Hier in seiner verfahrensrechtlichen Dimension auch mit Hinweis auf die vergleichbare Rspr. des BVerfG zu den Grundrechten Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System. 101 Kahl, Die Verwaltung 1996, 341 (349 ff.).
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allem interessant ist die mittelbare Verwaltung durch die Gemeinschaft. Diese kann bspw. dadurch erfolgen, dass Gemeinschaftsrecht verwaltungsorganisatorische Vorgaben zur konkreten Umsetzung macht. Kompetenzen hierzu ergeben sich entweder bereichsspezifisch explizit102 oder über die implied powers.103 Die Inanspruchnahme einer solchen Kompetenz ist freilich nicht unbegrenzt möglich. Verkürzt dargestellt ist eine solche nur möglich, wenn eine materielle Rechtssetzungskompetenz besteht und ihre effektive Ausführung gemeinschaftsrechtliche Vorgaben erforderlich machen.104 Verwaltungsorganisatorische Vorgaben durch das Gemeinschaftsrecht sind durchaus nicht selten.105 Insbesondere im Bereich des Umweltrechts haben verschiedene Richtlinien zwingende verwaltungsorganisatorische Vorgaben aufgestellt, welche mal stärker mal schwächer in die nationale Exekutivkompetenz eingegriffen haben, zumeist als Substrat von Effektivitätsüberlegungen. Die Erstellung von Datenbanken, Vernetzungspflichten, die Notwendigkeit einer Behördenschaffung oder -abschaffung durch Aufgabenfortfall sind Beispiele möglicher gemeinschaftsrechtlicher Einwirkung auf mitgliedstaatliche Verwaltungstätigkeit. Hierbei kann es zu durchaus nicht nur belanglosen Konflikten mit nationalem Verfassungsrecht kommen, welche ob ihrer Schwere und ihres Gewichts auch nicht mit dem bloßen Hinweis auf Praktikabilität wegzuwischen sind.106 Das gilt auch und besonders für provozierte oder erzwungene innerstaatliche Mischverwaltung. Aktuelles und einschneidendes Beispiel ist die Dienstleistungsrichtlinie107, nach der ein einheitlicher Ansprechpartner durch die Mitgliedstaaten zu etablieren ist, welcher einzelne Verwaltungsverfahren und Formalitäten im Zusammenhang mit der Ausübung von Dienstleistungen zusammenfasst. Selbst wenn 102 Bereiche benannt bei Iwand, Föderale Kompetenzverschiebungen beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht. 103 Allgemein zu den implied powers im Gemeinschaftsrecht Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 249 EGV Rn. 61 ff. (August 2002); Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV – EGV, Art. 304 Rn. 64. Vgl. bspw. EuGH, verb. Rs. 281 u. a./85, Slg. 1987, 3245, Rn. 28; EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 25 f. Kritisch hierzu BVerfGE 89, 150 (210); Iwand, Föderale Kompetenzverschiebungen beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 99 ff.; zu den implied powers im Völkerrecht Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht, S. 176 f. 104 Ausführlich entwickelt bei Iwand, Föderale Kompetenzverschiebungen beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 99 ff., siehe auch Kahl, Die Verwaltung 1996, 341 (346 f.). 105 Gellermann, in: Rengeling u. a. (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 34 Rn. 23 ff. m. w. N.; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht, S. 176 ff. 106 In diese Richtung wohl Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 14 ff. 107 Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt vom 12. Dezember 2006, dazu bspw. Schulz, DÖV 2008, 1028 ff.
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davon ausgegangen wird, dass es sich hierbei lediglich um eine reine Koordinationsstelle ohne eigene Befugnisse handelt, sind die Anforderungen an die deutschen Verwaltungsebenen enorm.108 Bund, Länder und Kommunen sind im Rahmen ihrer Kompetenzen zur Kooperation und zur Integration jenes Ansprechpartners in die eigene Verwaltung aufgefordert. Mag dies im Hinblick auf mögliche unzulässige Mischverwaltung auch überwiegend als unproblematisch angesehen werden, wird diese Frage doch an der letztlich konkreten Ausgestaltung zu beantworten sein. Außerdem hat sich die Ausgestaltung an den nationalen Verfassungsvorschriften zu orientieren. Insoweit gelten die dargelegten Determinanten auch hier. Gemeinschaftsrechtliche Motive, welche Eingang in Vorgaben zur Umsetzung von Richtlinien gefunden haben, können bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Verwaltungsform aber dennoch eine Rolle spielen. Gemeinschaftsrechtliche Determinanten, wie vor allem die Effektivität des Gemeinschaftsrechts (effet utile), sind auch Vorgaben für die Exekutive von Bund, Ländern und Kommunen. Sie drängen nach Verwirklichung und Berücksichtigung. Diese kollidieren insoweit scheinbar partiell mit dem Grundsatz der organisatorischen Autonomie der Mitgliedstaaten. Unter der Geltung dieses Grundsatzes sind gemeinschaftliche Vorgaben zur Verwaltungsorganisation dann zulässig, wenn sie sich grds. im Rahmen der mitgliedstaatlichen Typik von Verwaltungsformen bewegen. Im Zusammenhang mit etwaigen gesetzgeberischen Spielräumen oder Abwägungsentscheidungen wiederum können gemeinschaftsrechtliche Motive und der Effektivitätsgrundsatz durchaus ausschlaggebende Faktoren sein. Eigenständige Determinanten sind sie für die Beurteilung innerstaatlicher Mischverwaltung insoweit jedoch nicht.
IV. Zulässigkeit von Mischverwaltung Aus alledem folgt für die Mischverwaltung zunächst, dass sie grds. unzulässig ist. Regelfall ist die administrative Eigenverantwortlichkeit der zuständigen Ebene. Das gilt für die einfachgesetzliche Etablierung von Mischverwaltung ebenso wie für eine solche durch die Verfassung selbst (Art. 79 Abs. 3 GG), auch bei ihr ist der Kern der Eigenverantwortlichkeit unabdingbar. Erstere wiederum ist auch im Randbereich der Eigenverantwortung nicht unbegrenzt möglich. Hier bedarf es einer sachlichen Begrenzung möglicher Mischverwaltung. Insofern postulieren Literatur und Rechtsprechung weitgehend einhellig, dass Mischverwaltung überhaupt nur hinsichtlich einer „eng umgrenzten Verwaltungsmaterie“ zulässig ist.109 Die insofern maßstabbildende Verwaltungsmaterie ergibt sich letztlich aus dem zugrundelie108
Schulz, DÖV 2008, 1028 (1031 f.).
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genden Aufgabenfeld bzw. der allgemeinen Aufgabe, die verschiedene Verwaltungsaufgaben sachlich zusammenfasst. Diese ergibt sich gerade im Bereich der gesetzesakzessorischen Verwaltung häufig aus der Gesetzesmaterie oder eben aus typisierten Querschnittsaufgaben, wie dies bei den Gemeinschaftsaufgaben der Fall ist.110 Innerhalb einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie ist Mischverwaltung wiederum keine gleichwertige Option von Verwaltungsorganisation. Fällt das Grundgesetz eine Präferenz für getrennte Verwaltungsstrukturen, ist eine Durchbrechung besonders sachlich begründungsbedürftig.111 Die Etablierung von Mischverwaltung hat rechtlich anerkannten Zielen zu folgen. Diese müssen im Ergebnis im Rahmen einer Abwägung in vertretbarer Weise dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung, sowohl aus Art. 20 Abs. 1 GG wie auch aus Art. 28 Abs. 2 GG, vorzuziehen sein und dem Prinzip von verwaltungsorganisatorischer Transparenz und Klarheit hinreichend Rechnung tragen. Hier stehen demnach vor allem zwei Aspekte im Mittelpunkt. Zum einen mögliche Ziele von Mischverwaltung und ihre jeweilige rechtliche Anerkennung. Zum anderen spielt in der Abwägung bzw. Berücksichtigung von Motiven und verfassungsrechtlichen Determinanten die Intensität von Kooperation, Abstimmung und Verflechtung eine entscheidende Rolle. Je massiver und struktureller der Verflechtungsgrad ist, desto schwieriger wird eine Abwägung gelingen und desto eher können verfassungsrechtliche Prinzipien nicht hinreichend zur Entfaltung gebracht werden. 1. Ziele von Verwaltungsorganisation Die Feststellung, dass Mischverwaltung grds. unzulässig ist, folgt aus einer verfassungsrechtlichen Analyse anhand klassischer juristischer Methodik, aus einer rechtsaktbezogenen, rechtssystematischen und -dogmatischen Perspektive. Aus einer solchen lassen sich auch für die Organisation von Verwaltung bestimmte Zielvorgaben ableiten, so bspw. das Gebot der Verwaltungsvereinheitlichung und der Homogenität von Verwaltungshandeln. Wenngleich die Einheit der Verwaltung eine Fiktion, vielleicht gar ein Mythos ist,112 taugt jenes Gebot als Leitbild der Verwaltungsorganisation und lässt sich mit 109 BVerfGE 63, 1 (41); 119, 331 (367); Bieback, in: Gagel (Hrsg.), SGB II/ SGB III, Vorbemerkung zu §§ 1 ff. SGB II Rn. 75 ff. (Januar 2008). 110 Vgl. oben Kapitel 6. 111 BVerfGE 63, 1 (41); 119, 331 (367); Bieback, in: Gagel (Hrsg.), SGB II/ SGB III, Vorbemerkung zu §§ 1 ff. SGB II Rn. 75 ff. (Januar 2008). 112 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 256 f.; Groß, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 13 Rn. 95.
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Aspekten des Grundrechtsschutzes (insbesondere den Gleichheitsrechten) begründen und findet Niederschlag auch in Art. 72 Abs. 2 GG. Durch das Erfordernis hinreichender demokratischer Legitimation ist ein gewisses Maß an Vollzugshomogenität auch von Art. 20 Abs. 2 GG vorgegeben und durch die Vorgaben der Art. 83 ff. GG sichergestellt. Auch auf rechtstaatliche Aspekte i. S. e. Willkürverbots lässt sich jenes Leitbild aufbauen. Hier klingt an, was auch selbst Leitbildcharakter hat. Verwaltungsorganisation ist möglichst grundrechtsschonend auszugestalten. Insbesondere darf sie nicht so verfasst werden, dass die Ausübung von grundrechtlich geschützten Freiheiten – sei es auch nur faktisch – unnötig erschwert wird. Ähnlich wie das Verwaltungsverfahren dem Schutz der Grundrechte dienen kann und u. U. muss, gilt dies entsprechend für die Verwaltungsorganisation.113 Durch die Bindung aller deutscher Staatsgewalt an gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, der Verpflichtung einer effektiven Umsetzung (Art. 23, 24 und Präambel GG) und der unmittelbaren Geltung völkerrechtlicher Regeln (Art. 25 GG) können sich auch in dieser Hinsicht Vorgaben i. S. e. Interpretationsmaxime ergeben, welche in die Bewertung von Verwaltungsformen einzustellen ist.114 Der vielfach zitierte Topos einer effektiven Verwaltung ist äußerst vage und seine Verwendung schillernd.115 Denn jene geforderte Effektivität bedarf ihrerseits eines bestimmbaren Bezugspunkts, eines Zwecks, Maßstabs oder Ziels, welches es zu fördern, zu überprüfen oder zu erreichen gilt. Insofern muss dieses vermeintliche Leitbild im spezifischen Zusammenhang konkretisiert werden. Im Rahmen der Bundesverwaltung bspw. bezieht sich die gewünschte Effektivität auf eine möglichst straffe, reibungslose, flexible und wirtschaftliche Verwaltung.116 Das erklärt sich nicht zuletzt aus der Annahme des GG, dass eine dezentrale Exekutive aufgrund ihrer örtlichen Nähe grds. einen Vorteil in dieser Hinsicht aufweisen soll.117 Wo dies nicht der Fall ist, ordne das GG Bundesverwaltung an oder lasse sie jedenfalls zu. Unterstützt von Vorgaben des Haushaltsrechts (vgl. Art. 109, 115 GG) können Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltung so auch ihrerseits legitimes Ziel von Verwaltungsorganisation sein. 113 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 64 ff.; Masing, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 7 Rn. 53 f. 114 Ruffert, in: Calliess/ders., EUV – EGV, Art. 249 Rn. 48 ff. m. w. N. 115 BVerfGE 110, 33 (50 f.); Baer, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 11 Rn. 69 f.; auch bereits Oldiges, NVwZ 1987, 737 ff. 116 BVerfGE 110, 33 (50 f.); dazu bereits ausführlich oben Kapitel 1 A. II., Kapitel 4 A. 117 Vgl. Art. 28, 30, 83 GG und dazu oben Kapitel 4 A. II. 2. b).
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Maßstab für Verwaltungshandeln ist aber regelmäßig nicht nur die „Binneneffektivität“, sondern – jedenfalls im Regelfall außenwirksamer Verwaltungsaktivität – gleichzeitig auch die Außenperspektive. Effektiv muss die Verwaltung auch in der Hinsicht organisiert sein, dass die rechtssystematischen Anforderungen zur Entfaltung kommen. Grundrechte, Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat determinieren Verwaltungshandeln und Verwaltungsorganisation allgemein und konkret und stehen derart in einer Wechselwirkung zueinander. Effektivität von Verwaltung bemisst sich also wesentlich an ihrem Zweck. Dieser kann – wie gezeigt – zum einen systematisch hergeleitet werden. Verwaltung ist aber zum anderen immer auch für eine bestimmte Aufgabe oder für einen bestimmten Aufgabenbereich errichtet worden und in ihrem Handeln an den konkreten Zwecken dieser Aufgaben ausgerichtet. So rückt eine aufgaben- oder handlungsorientierte Steuerungsperspektive in den Fokus vor allem der Verwaltungsrechtswissenschaft.118 Diese Perspektive ersetzt nicht die systemischen Vorgaben, sondern ergänzt diese. Im Randbereich ebenenübergreifender Verwaltungsverflechtung wächst der politische Spielraum und dementsprechend auch die Möglichkeit interdisziplinär beeinflusste und konkret – bspw. nach den Erfordernissen der Aufgabe – ermittelte Maßstäbe für Verwaltungsorganisation zugrunde zu legen. In dieser Weise wird auch der Erkenntnis Rechnung getragen, dass eine (effektive) Steuerung des Gesamtsystems, angesichts funktionaler Differenzierung und systemeigener Funktionslogiken, ohnehin nicht oder jedenfalls nicht umfassend möglich ist.119 In gewisser Weise hat dieser Ansatz in den letzten Jahren zunehmend Eingang in die rechtswissenschaftliche Debatte gefunden. Die pluralistischen Konzepte von demokratischer Legitimation basieren nicht zuletzt hierauf. Unter dem Begriff des „New Public Management“120 haben sich in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Konzepte zur Effektivitätssteigerung öffentlicher Verwaltung herausgebildet und sind in das sog. „neue Steuerungsmodell“ eingegangen.121 Dieses Modell arbeitet unabhängig von recht118 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 18 ff.; Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 1 Rn. 16 ff.; beide m. w. N. 119 Grundlegend Luhmann, Soziale Systeme, S. 57 ff.; Voßkuhle, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 1 Rn. 19 m.w.N auch zu kritischen und vermittelnden Positionen zu Luhmann. 120 Dazu Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 1 Rn. 50 m. w. N. 121 Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung, Das neue Steuerungsmodell, Begründungen, Konturen, Umsetzungen, Bericht Nr. 5, 1993; dazu Schuppert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 16 Rn. 117 f.
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lichen Kategorien und beschreibt Kriterien sinnvoller Verwaltung aus einer ökonomischen und kundenorientierten Perspektive. Dabei fällt allerdings auf, dass zahlreiche Aspekte dieses Konzept tatsächlich nicht nur rechtlich kompatibel, sondern sogar rechtlich verortbar sind. Das sog. AKV-Prinzip bspw. beschreibt die Einheit von Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung. Jedenfalls nach dem Grundgesetz ist dies der (rechtlich) angeordnete und vorgesehene Regelfall von Verwaltung. Andere Komponenten wie das Controlling, die Budgetierung, die Leistungsvereinbarung und die Wettbewerbsorientierung stammen aus der Ökonomie. Gerade im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende finden sich zahllose Beispiele für den Eingang derart ökonomischer Perspektiven und eines entsprechenden Duktus in die gesetzgeberische Praxis.122 „Deregulierung“, „Privatisierung“, „Private-Public-Partnership“, „der schlanke Staat“, „der aktivierende Staat“, „Electronic Government“, „Governance“ sind Schlagworte und Leitbilder, die sich in dem Zusammenhang eines New Public Management herausgebildet haben.123 Sie sind in der Tat ökonomisch und teilweise sozialwissenschaftlich fundiert, sind in ihrer Bedeutung aber immer auch Ausdruck eines bestimmten Zeitgeistes bzw. politischer Mehrheiten. In jüngster Zeit befinden sich angesichts der finanzwirtschaftlichen Krise die Disziplinen wiederum in einer Phase des Umbruchs.124 Entscheidend ist daher, dass dort wo politische Spielräume eröffnet sind, diese insbesondere mit jenen relativen Steuerungsmodellen gefüllt werden können. Das ist nicht rechtlich zwingend, aber möglich. Bei den Steuerungsmodellen der Verwaltungsrechtswissenschaft geht es daher um politische Steuerung und ihre Rationalisierbarkeit.125 2. Mischverwaltungsformen Wesentlich hängt die verfassungsrechtliche Bewertung von Mischverwaltung vom Grad der Verflechtung ab. Hierfür können Strukturpunkte herausgearbeitet werden. Sie beschreiben vor allem Anfangs- und Endpunkt einer Skala zunehmender Verflechtung. 122 123
s. o. Kapitel 3. Kritisch Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismus-
kritik. 124
Vgl. Donges, Lehren der Finanzmarktkrise; Heinze, Rückkehr des Staates?; Sinn, Kasino-Kapitalismus. 125 So hat sich in der Sozialwissenschaft der Begriff „politische Steuerung“ durchgesetzt; Mayntz, Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme, S. 188 ff.; weitere Nachweise bei Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 1 Fn. 120, 121.
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Kooperation und Verflechtung können funktional oder organisatorisch bestehen.126 Sie können zeitlich begrenzt oder unbegrenzt sein, nur nach innen wirken oder nach außen treten. Mitwirkungen anderer Verwaltungsebenen können verbindlich oder unverbindlich sein. Funktionale Verflechtung, welche lediglich auf beratende, unterstützende, jedenfalls für die Entscheidung unverbindliche Tätigkeit angelegt ist, ist regelmäßig unproblematisch.127 Der Gesetzgeber hat zu begründen, inwiefern die Kooperation hinsichtlich verfassungsrechtlich anerkannter Ziele einen Gewinn verspricht. Die Anforderungen an diese Form der Kooperation sind dabei nicht allzu hoch anzusetzen. Mögliche Schäden für das verfassungsrechtliche Kompetenzgefüge fallen hier regelmäßig gering aus. Das gilt solange Koordinierung und Absprache im Mittelpunkt der Zusammenarbeit stehen. Wenn die Schwelle zu funktionalen „Mitplanungs-, Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse[n] gleich welcher Art“128 hingegen überschritten ist, steigen auch die Anforderungen an die besondere sachliche Begründungspflicht, bzw. eine Begründung ist alsbald gar nicht mehr leistbar. In organisatorischer Hinsicht wird Ähnliches bzgl. der Debatte um Figuren des E-Government und darauf basierender Formen des One-Stop-Government oder bzgl. One-Stop-Agencies virulent. Einheitliche Ansprechpartner wie sie in der Dienstleistungs-RL der EU vorgesehen sind, das elektronische Rathaus, die einheitliche Behördennummer (115) usw. sind immerhin verfestigte und eigenständige organisatorische Gebilde, in welchen die beteiligten Verwaltungsebenen zur Mitwirkung verpflichtet sind. Dies allein bedeutet bereits einen Eingriff in die Eigenverantwortlichkeit. Je eher und je mehr diese Zusammenarbeit über reine Informations- und Kooperationstätigkeit hinausgeht und bspw. eigene Entscheidungsbefugnisse eingeräumt bekommt, desto eher wird diese Form der Mischverwaltung in Konflikt mit der Verfassung treten. Hinzu kommt in diesen Fällen, dass die One-Stop-Strukturen vor allem dem Bürger gegenüber als einheitlicher Ansprechpartner dienen sollen.129 Dies führt zu der Notwendigkeit, dass in der konkreten Ausgestaltung der Koordinierungsfunktion aus rechtsstaatlicher und demokratischer Sicht die tatsächlichen Entscheidungsträger für den Bürger erkennbar bleiben müssen. Werden in diesen Stellen hingegen gemeinsame Entscheidungen im Sinne von Mischrechtsakten dauerhaft pro126 Die Unterscheidung findet sich vor allem bei Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 58; so auch Loeser, Theorie und Praxis der Mischverwaltung, S. 67; vgl. BVerfG 63, 1 (38). 127 Nachweise Mempel, Hartz IV-Organisation, Fn. 431. 128 BVerfGE 39, 96 (120). 129 Vgl. Burgi, JZ 2010, 105 ff.
B. Das grds. Verbot der Mischverwaltung
327
duziert, ohne dass für den Bürger erkennbar ist, wer eigentlich verantwortlich ist, wiegen die verfassungsrechtlichen Probleme entsprechend schwer.130 Wenn durch starke Verflechtung der internen Strukturen jene Verantwortlichkeiten ebenfalls kaum auseinanderzuhalten sind, verschärft das den Legitimationsdruck nochmals. Einfach-gesetzlich fundierte organisatorisch-funktionale Verflechtungen, welche demnach weder intern noch extern aufzulösen sind und den jeweils eigentlich zuständigen Verwaltungsträger rechtlich oder tatsächlich von der Mitwirkung anderer Ebenen abhängig machen, können verfassungsrechtlich schließlich kaum noch gerechtfertigt werden. Das Prinzip von Verantwortungsklarheit und Transparenz kommt hier praktisch vollends zum Erliegen. Ein solcher Grad an Verflechtung ist auch bei Querschnittsaufgaben allenfalls über eine eigene verfassungsunmittelbare Legitimationsgrundlage zu rechtfertigen.
V. Zusammenfassung Mischverwaltung ist ein Problem der Verwaltungsverantwortung. Diese obliegt grds. der Verwaltungsebene, welche die Aufgabe durch die Verfassung in ihren Bestand zugewiesen bekommt. Werden ihr in der Folge Verantwortlichkeiten entzogen und kommt es zu Formen der Kooperation, Verflechtung oder Mitverwaltung, berührt dies den Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung und das Prinzip von Verantwortungsklarheit und Transparenz. Nicht jeder Aufgabenbereich kann aber auch tatsächlich sinnvoll von einer Verwaltungsebene völlig getrennt von anderen wahrgenommen werden. Die Notwendigkeit, flexibel auf gewandelte Rahmenbedingungen reagieren zu können, fordert gesetzgeberische Spielräume. Typischerweise stellt sich diese Frage im Zusammenhang mit Querschnittsaufgaben. Je nach Grad der Verflechtung und Charakter der Aufgabe kann der Gesetzgeber auch einfachgesetzlich Formen der Mischverwaltung wählen, solange sie punktuell bleiben und erforderlich sind. Der Spielraum des Gesetzgebers bei Querschnittsaufgaben ist relativ groß. Jenseits dieses Spielraums bleibt nur eine Verfassungsänderung, typischerweise durch Aufnahme der Aufgabe in den Katalog der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a ff. GG).
130
Vgl. Cornils, ZG 2008, 185 ff.; Schulz, DÖV 2008, 1028 ff.
328
Kap. 6: Mischverwaltung
C. Mischverwaltung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende In der Fassung bis 2010 teilte die Grundsicherung für Arbeitsuchende ihre Verwaltungsaufgaben dem Bestand des Bundes und der Kommunen zu. Trägerinnen der Aufgaben waren die Bundesagentur für Arbeit bzw. die Arbeitsagenturen vor Ort und die kreisfreien Städte und Kreise. In der Aufgabenwahrnehmung wurden die Träger durch das SGB II131 in ihren Verantwortlichkeiten stark einge- und verschränkt, indem sie regelmäßig ihre Aufgaben in Form der Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) wahrzunehmen hatten (§ 44b SGB II). In maximal 69 Fällen konnten nach § 6a SGB II kommunale Träger allein den Vollzug der Grundsicherungsaufgaben übernehmen. In der Vollzugspraxis fanden sich auch getrennte Verwaltungsformen,132 bei denen die Aufgabenwahrnehmung an der Aufgabenverteilung ausgerichtet war. Im SGB II vorgesehen war dieses Vollzugsmodell nicht, es war schlichte Folge nicht erfolgter ARGEn-Errichtungen aufgrund ausgebliebener Einigungen der Träger.133
I. Verwaltungsform ARGEn Regelfall der Exekutive war also die Einrichtung einer ARGE durch Arbeitsagentur und kommunalen Träger. Die Annahme, aus der Fassung des § 44b Abs. 3 SGB II („Die kommunalen Träger sollen der Arbeitsgemeinschaft die Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach diesem Buch übertragen.“) folge, dass eine echte Wahlmöglichkeit für die Kommunen verblieb,134 kann so nicht geteilt werden. Grundsätzlich sollten die Kommunen nach § 44b SGB II verpflichtet sein, eine ARGE mit den Arbeitsagenturen zu gründen.135 Die ARGEn selbst wurden nicht Trägerinnen der Aufgaben. Allein die Erfüllung wurde ihnen überantwortet.136 Hinsichtlich der konkreten organisatorischen Umsetzung der ARGEn-Errichtung bzw. -Einrichtung 131 Im Folgenden handelt es sich bei §§ des SGB II, soweit nicht anders bezeichnet, um solche des SGB II i. d. F. bis zur Reform 2010. 132 Überblick über die Trägerformen in den einzelnen Kreisen und kreisfreien Städten auf der Homepage der Bundesagentur für Arbeit: http://www.pub.arbeits amt.de/hst/services/statistik/000200/html/sgb2/bmas/zuordnungen_200807.pdf (November 2008). 133 Vgl. Kersten, ZfPR 2005, 130 (132). 134 Abweichendes Votum zu BVerfGE 119, 331 (385 ff.); Bezug nehmend auf Münder, NJW 2004, 3209 (3213); Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 21. 135 BVerfGE 119, 331 (361 ff.). 136 Dazu oben Kapitel 3 C. II 2.
C. Mischverwaltung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
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wurde den beteiligten Partnern weitgehend freie Hand gelassen. Nach § 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II konnte dies durch privat- oder öffentlich-rechtlichen Vertrag geschehen. Die Rechtsform der ARGE konnte dementsprechend ebenso entweder öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ausgestaltet sein.137 Die ARGEn erließen selbstständig eigene Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide „zur Erfüllung ihrer Aufgaben“ (§ 44b Abs. 3 Satz 3 SGB II).138 Dem Betroffenen gegenüber wurde innerhalb des Bescheids nicht mitgeteilt, welcher Aufgabenträger welchen Anteil an welcher konkreten Entscheidung hatte. Die Entscheidung erging einheitlich. Das war auch entsprechend der internen ARGEn-Organisation kaum anders möglich. Jede ARGE hatte einen Geschäftsführer. Der Geschäftsführer wurde vom Trägerbeirat, dem zentralen Gremium der ARGEn gewählt. Hier wurden außerdem Haushaltsplan, Leitlinien und weitrechende Entscheidungen getroffen.139 Im Übrigen bestand eine durchaus bemerkenswerte organisatorische Vielfalt. Allgemein wurde den ARGEn keine Dienstherrenfähigkeit attestiert.140 Insoweit waren in den ARGEn Mitarbeiter der Kommunen und der Arbeitsagenturen beschäftigt. Der für einen „Kunden“ zuständige Mitarbeiter in der ARGE beurteilte Sachverhalte unter allen Gesichtspunkten, mithin aufgabenübergreifend und unter Nutzung des gemeinsamem EDVProgramms A2LL. Die personelle und inhaltliche Organisation der Anlaufstellen war in den ARGEn nicht nach dem Aufgabenbereich der beiden Träger getrennt, sondern nach Gesichtspunkten ökonomischer Leistungserbringung. Dementsprechend waren erhobene Daten und personenbezogene Feststellungen innerhalb der gemeinsamen Datenverarbeitung in jedem Einzelfall u. U. für alle Mitarbeiter, gleich welchem Dienstherren sie zugeordnet waren, gleichermaßen einsehbar.141 Die Entscheidung trat als einheitliche Entscheidung in Form eines Bescheids nach außen. Da das Ob, aber nicht vollumfänglich das Wie der Organisation vorgeben war, kann von einer eingeschränkten Organisationsverantwortlichkeit gesprochen werden. Nach § 44b Abs. 3 Satz 4 SGB II oblag die Aufsicht über die ARGEn der zuständigen Landesbehörde oder der von ihr bestimmten Stelle im Benehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Hierbei han137
Zu den Restriktionen hinsichtlich der grds. freien Wahl s. o. Kapitel 3 C. II 2. Das bedeutet nicht, dass sie die Aufgaben selbst trägt, sondern ist untechnisch zu verstehen bzw. als Aufgabe i. w. S. Dazu oben Kapitel 3 C. II 2. 139 Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 48. 140 Siehe etwa § 4 Abs. 1 Satz 4 MVAGSGB II vom 28. Oktober 2004, MV GVBl 2004, S. 502 ff.; Kersten, ZfPR 2005, 130 ff.; anders hingegen partiell Luthe, in: Hauck/Haines/Noftz (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 11 (2009); Adamy, SozSich 2004, 332 (336). 141 Oben Kapitel 3 C. II. 138
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Kap. 6: Mischverwaltung
delte es sich um Rechtsaufsicht (§ 94 Abs. 3 Satz 1 1. Hs. SGB X).142 Daneben bestanden freilich ohnehin Aufsichtsrechte gegenüber den jeweiligen Aufgabenträgern; für die Arbeitsagenturen sogar gesondert normiert in § 47 Abs. 1 SGB II. Weiterhin übte der Bundesrechnungshof die Finanzaufsicht bzgl. der Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit und der Möglichkeit einer kommunalen Rechungsprüfung aus. Auch eine Rahmenvereinbarung zur Weiterentwicklung der Grundsätze der Zusammenarbeit der Träger der Grundsicherung vom 1. August 2005, zwischen der Bundesanstalt für Arbeit, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und den kommunalen Spitzenverbänden, trug nicht zur Entflechtung der Aufsichtsrechte bei.143 Zusammenfassend kann folgendes Bild der ARGEn gezeichnet werden: Hinsichtlich der Aufgaben bestand eine geteilte Trägerschaft von Bundesagentur und Kommunen. Durch die Errichtung einer gemeinsamen Behörde (ARGE) wurden diese in der Wahrnehmung zusammengeführt (organisatorische Verschränkung). Diese Einrichtung trat nach außen einheitlich auf, so dass nicht erkennbar war, welcher Träger verantwortlich war. Intern wurden die Entscheidungen ebenfalls einheitlich – von einem Mitarbeiter unter allen Gesichtspunkten – getroffen (personelle Verschränkung). Dabei trafen dort verschiedene Aufsichtsbefugnisse aufeinander. Bund, Bundesagentur für Arbeit, Ländern und Kommunen standen insoweit Verantwortlichkeiten zu. Zum einen bzgl. der Einrichtung (Bund und Länder) und zum anderen bzgl. der jeweiligen Träger (sachlich-inhaltliche Verschränkung).
II. Die ARGEn als Mischverwaltung In jeder relevanten Hinsicht waren demzufolge Verschränkungen der Exekutive festzustellen. Unbestritten ist, dass es sich hierbei – in deskriptiver Hinsicht – um eine Form der Mischverwaltung handelte.144 Grds. ist eine 142 Luthe, in: Hauck/Haines/Noftz (Hrsg.), SGB II, § 44b Rn. 7 (2009); Berlit, in: Armborst (Hrsg.), BSHG, § 44b Rn. 55; Rixen, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK SGB, § 44b Rn. 34 ff. 143 Angesichts dessen häuften sich rasch die Klagen, insbesondere der Geschäftsführer über Blockaden und Unklarheiten. Dazu Hesse/Götz, Evaluation, S. 9 ff.; 131 ff. 144 BVerfG 119, 331 ff.; so auch das abweichende Votum ebd. 386 ff.; übereinstimmend Henneke, Landkreis 2008, 196 ff.; ders., Landkreis 2008, 163 ff.; ders., Landkreis 2008, 167 ff.; Schoch, DVBl 2008, 937 ff.; Kluth, ZG 2008, 292 ff.; Knigge, ZFSH/SGB 2009, 526 ff.; Korioth, DVBl 2008, 812 ff.; Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung; Mempel, ArchsozArb 2008, 114 ff.; Meyer, NVwZ 2008, 275 ff.; Schulz, DÖV 2008, 1028 ff.; Wieland, Land-
C. Mischverwaltung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
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solche Form der Verwaltung unzulässig. Allein im Rahmen einer „eng umgrenzten Verwaltungsmaterie“ und nur soweit eine solche Exekutive besonders sachlich erforderlich ist, soll ausnahmsweise etwas anderes gelten.145 Dabei spielt das Maß organisatorisch-personeller und sachlich-inhaltlicher Verflechtung eine entscheidende Rolle bei der verfassungsrechtlichen Bewertung. 1. Eng umgrenzte Verwaltungsmaterie Maßstab für die Bemessung der Verwaltungsmaterie ist anders als bei Art. 87 Abs. 2 GG nicht die Gestalt des Verwaltungsträgers.146 Die Verwaltungsmaterie bemisst sich im Wesentlichen an der Sachaufgabe, aus der sich die Verwaltungsaufgaben ergeben. Anders als die punktuelle Annexkompetenz im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Bundesdurchgriff, hängt die Bemessung dieser nicht allein von den Gesetzgebungskompetenzen ab. Im Bereich gesetzesakzessorischer Verwaltung ist die Sachaufgabe allerdings vor allem durch diese präformiert.147 Die Eingrenzung kann allerdings, wie bei den Querschnittsaufgaben der Art. 91a ff. GG, auch über ein bestimmtes Aufgabenfeld geschehen. Konkrete Verwaltungsaufgaben können hingegen grds. nicht ihrerseits auch die Verwaltungsmaterie beschreiben, es sei denn, sie sind so weitgehend zugeschnitten, dass sie mit der Sachmaterie identisch sind. Innerhalb der unterschiedlichen Verwaltungsmodelle im Rahmen des SGB II war die ARGE der Regelfall. Auch wenn die Zahl der getrennten Trägerschaften aufgrund von Kündigungen der ARGEn seit 2006 anstieg, hielt sie sich bei knapp 30 im Jahr 2010 recht stabil. Dazu kamen 69 Optionskommunen. Alle anderen kreisfreien Städte und Kreise hatten mit den Arbeitsagenturen vor Ort eine ARGE gegründet. Die Betreuung der bis dato bis zu sieben Mio. Arbeitsuchenden nach dem SGB II oblag in der Regel also den ARGEn. Zwar bestand hinsichtlich der konkreten Ausformung ihrer organisatorischen Struktur Spielraum für die zuständigen Akteure. Dieser bezog sich unterdessen nicht auf diejenigen Fragen, welche die ARGEn zu einer Mischverwaltungsform machten. Rechtsform und Willensbildungsprozesse sowie einige dienstrechtliche und organisatorische Details kreis 2008, 184; Wahrendorf/Karmanski, NZS 2008, 281 ff.; Huber, DÖV 2008, 844 ff.; Wenner, SozSich 2008, 34 ff.; Trapp, DÖV 2008, 277 ff.; Winkler, VerwArch 2008, 509 ff.; Schwendy, TuP 2008, Heft 3, 204 ff. 145 BVerfGE 119, 331 (371); 63, 1 (41); Bieback, in: Gagel (Hrsg.), SGB II, Vorbemerkung zu §§ 1 ff. Rn. 75 ff. (Januar 2008). 146 Vgl. oben Kapitel 4 B. I. 1. b). 147 Vgl. oben Kapitel 1 A. II.
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Kap. 6: Mischverwaltung
determinierten wenn überhaupt nur das Maß durch die ARGEn institutionalisierter Mischverwaltung. Und auch das Maß variierte durch diese Entscheidungen allenfalls graduell. Der Erlass einheitlicher Verwaltungsakte folgte zwingend aus § 44b Abs. 3 Satz 3 SGB II. Die parallelen Aufsichtsbefugnisse von Land und Bund über ihre Träger und die gemeinsame im Einvernehmen über die ARGEn waren ebenso übergreifendes Merkmal wie die ganzheitliche Fallbearbeitung und die trägerübergreifende Nutzung und der Zugriff auf sämtliche Datenbestände. Diese Form der Mischverwaltung wurde durch das SGB II institutionalisiert und verstetigt. Denn eine Ablösung oder ein Auslaufen, jedenfalls eine zeitliche Befristung der ARGEn-Konstruktion, war nicht vorgesehen.148 Diese dauerhafte Mischverwaltung war auch keine, welche allein auf Kooperation angelegt war. Die Träger kooperierten nicht innerhalb der ARGEn, sie entschieden zusammen bzw. füreinander und einheitlich. Der Erlass einheitlicher Verwaltungsakte belegt dies ebenso, wie er die Außenwirksamkeit der Mischverwaltung expliziert. Innerhalb der Verwaltungsakte war für den Betroffenen nicht ersichtlich, welcher Träger ihm gegenüber für welche Entscheidung verantwortlich zeichnete. Das wäre allein durch einen Blick in die bzw. vielmehr einer umfangreichen Nachzeichnung der gesetzlichen Bestimmungen u. U. denkbar gewesen.149 Auch hier allerdings erschwerte die verflochtene interne Organisation die Rekonstruktion des verantwortlichen Trägers.150 In großem Umfang wurden dem jeweils anderen Träger innerhalb der ARGE also „Mitplanungs-, Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse“151 eingeräumt. Mit dem Maß der Verflechtung steigt der Anforderungsdruck an die, die Mischverwaltung möglicherweise legitimierenden Motive und Ziele. Die Aufgaben der Grundsicherung sind zu einem erheblichen Teil Querschnittsaufgaben und als solche durchaus mischverwaltungsaffin. Kooperation und Zusammenarbeit ist gerade bei einer solchen Sachmaterie eher möglich und sinnvoll. Durch die Gemeinschaftsaufgaben erkennt das GG die Notwendigkeit solcher Verwaltungsformen an. Dennoch ist die allein einfachgesetzliche Etablierung von Mischverwaltung auch in diesem Zusammenhang nur bedingt möglich, bei einer besonders intensiven Form der Mischverwaltung ist eine verfassungsunmittelbare Legitimierung erforderlich, auch das zeigen die Art. 91a ff. GG. 148 Anders als grds. bei der Option, welche schon begrifflich als Experiment bezeichnet wird und auch zu Beginn zeitlich befristet wurde. 149 Darauf stellt das abweichende Votum u. a. entscheidend ab BVerfGE 119, 331 (386 ff.). 150 BVerfGE 119, 331 (361 ff.). 151 BVerfGE 119, 331 (370).
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Bei den ARGEn handelte es sich um eine sehr weitgehende Form inhaltlicher, organisatorischer, personeller und funktionaler Verflechtung.152 Diese führte wiederum dazu, dass Verantwortlichkeiten von den Aufgabenträgern vielfach gelöst und neu verteilt wurden und die neu geschaffenen Verantwortlichkeiten für Außenstehende kaum mehr zu überblicken waren. Legitimationsmodi des Bundes, der Länder sowie der Kommunen fanden sich in den ARGEn praktisch nicht mehr getrennt voneinander wieder. Die Mitarbeiter entschieden über Sachbereiche mit, für die sie in demokratischer Hinsicht nicht legitimiert waren und das sogar ohne dies in der Entscheidung kenntlich zu machen. Nicht allein aufgrund fehlender Dienstherrenfähigkeit wiesen die ARGEn auch keine autonomen u. U. hinreichenden Legitimationsmodi auf. Auch eine verantwortliche Steuerung der Verwaltung in sachlich-inhaltlicher Art war angesichts der stark verflochtenen Aufsichtsstrukturen nahezu nicht möglich. Diese stark ausgeprägte Form der Mischverwaltung erstreckte sich also letztlich auf die gesamte Wahrnehmung der Grundsicherung und blieb nicht auf eine eng umgrenzte Sachmaterie beschränkt. Damit erfasste sie einen erheblichen Teil der Fürsorge und der Arbeitsvermittlung. Diesen Befund stellte auch das BVerfG klar heraus, was bereits für die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit genügte.153 2. Besondere sachliche Begründung Dennoch folgten im einschlägigen Urteil des BVerfG auch einige Feststellung bzgl. einer etwaigen sachlichen Begründung dieser Mischverwaltung. Der Beschwerdegegner (Bund vertreten durch die Bundesregierung) verwies auf das konfliktträchtige Gesetzgebungsverfahren. Angesichts der unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, war die Regierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf die Zustimmung der CDU/ CSU angewiesen. Hier hätten sich aber zwei Auffassungen über die Zuständigkeit und Trägerschaft der Grundsicherung diametral gegenübergestanden. Auf der einen Seite die Befürworter einer rein kommunalen Zuständigkeit und Trägerschaft, auf der anderen Seite die Vertreter einer Ankoppelung an die Bundesagentur für Arbeit als ausschließliche Trägerin und damit eine Bundeszuständigkeit.154 Nur eine Einbeziehung beider sei als Kompromiss möglich gewesen. Beide Seiten seien aber durchaus der Auffassung gewesen, der ursprüngliche Sinn des Reformbausteins Hartz-IV wäre verfehlt worden, wenn eine Trennung in dieser Hinsicht auch zu einer getrennten 152 153 154
Oben Kapitel 6 C. BVerfGE 119, 331 (371 ff.). Zu EGG und Hartz-Gesetzgebung oben Kapitel 3.
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Kap. 6: Mischverwaltung
Aufgabenwahrnehmung geführt hätte. Daher verpflichtete der Gesetzgeber die Träger – außerhalb der 69 Optionskommunen – zu einer gemeinsamen Exekutive. Insoweit sei eine Mischverwaltung in Form der ARGEn dem Grunde nach alternativlos gewesen.155 Diesen Einlassungen begegnete das BVerfG mit der Anmerkung, allein die Diskussion über alternative einheitliche Zuständigkeiten und Trägerschaften habe in geradezu beispielhafter Weise gezeigt, dass es Alternativen gab. Dass eine politische Mehrheit für das eine wie für das andere Modell fehlte, sei unbeachtlich.156 So sehr das BVerfG hiermit der Bundesregierung die eigene Argumentation entgegenhielt, stellte es ebenso deutlich heraus, dass die einheitliche Exekutive eine verfassungsrechtlich anerkannte Zielsetzung ist, welche grds. auch in der Lage ist, bestimmte Verwaltungsformen zu legitimieren. Das gilt vor allem im Bereich neuer Herausforderungen, mithin im Zusammenhang mit neu entstehenden Querschnittsaufgaben. Die Spielräume sind hier bereits weiter als in der Aufgabenverteilung.157 Das BVerfG verweist ausdrücklich nicht auf Verwaltungsmodelle jenseits einer One-Stop-Agency. Vielmehr deutet es auf eine Zuständigkeit allein des Bundes oder ausschließlich der bzw. über die Länder der Kommunen an.158 Ist eine vollständige Zuweisung von Aufgaben in den Bestand einer Verwaltungsebene möglich, so geht diese einer derart weitgehenden Form der Mischverwaltung vor. Der Gesetzgeber muss diese Möglichkeiten nutzen oder wenn er die Aufgabenbestände erhalten will, die Sachmaterie als Gemeinschaftsaufgabe verfassungsunmittelbar anerkennen. Möglicherweise ist im Randbereich ebenenübergreifender Verwaltungstätigkeit ein Spielraum, der den Wechsel zu einer aufgabenbezogenen Perspektive und u. U. auch ein gesetzgeberisches „trial and error“ ermöglicht, anzuerkennen.159 Bei einer derart 155 So die Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung zu BVerfGE 119, 331 (333 ff.). 156 BVerfGE 119, 331 (371 ff.); zum allgemeinen politischen Trend der „Alternativlosigkeit“ kritisch Prantl, Für „Angie“ kommt „Tina“, süddeutsche.de: http:// www.sueddeutsche.de/politik/fuehrung-fall-merkel-fuer-angie-kommt-tina-1.944947. 157 Vgl. das insofern weitergehende abweichende Votum BVerfGE 119, 331 (386 ff.). 158 So das BVerfG ausdrücklich, mit dem Verweis auf die entsprechenden Vorschriften, BVerfGE 119, 331 (371): „Das Anliegen, die Grundsicherung für Arbeitsuchende ‚aus einer Hand’ zu gewähren, ist zwar ein sinnvolles Regelungsziel. Dieses kann aber sowohl dadurch erreicht werden, dass der Bund für die Ausführung den Weg des Art. 87 GG wählt, als auch dadurch, dass der Gesamtvollzug nach der Grundregel des Art. 83 GG insgesamt den Ländern als eigene Angelegenheit überlassen wird.“ 159 Diesen Gesichtspunkt macht das abweichende Votum stark BVerfGE 119, 331 (386 ff.).
C. Mischverwaltung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
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grundlegenden und umfassenden Form der Mischverwaltung, wie sie bei den ARGEn festzustellen war, lag ein solcher Spielraum nicht vor.
III. Ergebnis Demzufolge völlig zu Recht hat das BVerfG die Verwaltung der Grundsicherung als Verstoß gegen das grds. Verbot der Mischverwaltung beurteilt. Da dies im Rahmen einer Kommunalverfassungsbeschwerde erfolgte, ist damit nochmals klar gestellt, dass auch die Kommunen als dritte Verwaltungsebene eigenständig durch das Mischverwaltungsverbot unmittelbar geschützt werden.
Kapitel 7
Grundgesetzänderung, Art. 91e GG Im Anschluss an das Urteil des BVerfGs wurden zahlreiche Vorschläge für eine Verwaltungsreform diskutiert. Einfachgesetzliche Modelle konkurrierten mit verfassungsändernden, solche getrennter Aufgabenwahrnehmung mit solchen einer One-Stop-Agency.1 Im Frühjahr 2010 einigte sich die Bundesregierung (CDU/CSU und FDP) mit der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf eine Verfassungsänderung.2 Gemeinsam mit einfachgesetzlichen Anpassungen und Änderungen3 ist Art. 91e GG durch Gesetz vom 21. Juli 2010 eingefügt worden, um die aufgezeigten Schwierigkeiten in diesem Bereich zu lösen4: – Die fehlende Aufgabenzuständigkeit des Bundes für die Regelleistungen,5 – die außerdem auch unstatthafte Zuweisung jener Aufgaben zur Bundesagentur für Arbeit6 und – die unzulässige Mischverwaltung in den gemeinsamen Einrichtungen (ARGEn).7 Art. 91e GG ist systematisch den Gemeinschaftsaufgaben zugeordnet und lautet: 1 Dazu zahlreiche Vorschläge von BMAS und Ländern zu sog. kooperativen Jobcentern, Zentren für Arbeit (ZAG), dazu eingehend Dyllick/Lörincz/Neubauer, ZFSH/SGB 2009, 204 ff.; Gusy/Worms, RuP 2008, 146 ff.; http://www.bmas.de/ portal/41722/2010__01__26__jobcenter.html; zur zwischenzeitlich bereits angestrebten Änderung des Grundgesetzes zuletzt eingebracht von Seiten der SPD Ende 2009, BT-Drs. 17/183; zuvor als Regierungsentwurf diskutiert, http://www.verdi.de/ sozialearbeit/themen/sozialaemter_sozialhilfe/sozialaemter_sozialhilfe/data/090213_ ge_ggaenderung_2_.pdf, dazu bspw. http://www.verdi-wir-in-der-ba.de/argen/BRH_ Stellungnahme_ZAG_09_02_27.pdf. 2 Pressemitteilung des BMAS vom 31. März 2010, 2010 ist das Jahr der Bewährung, http://www.bmas.de/portal/43740/2010__03__31__arbeitsmarktzahlen.html. 3 Gesetz vom 3. August 2010, BGBl I 2010, S. 1112 ff.; BT-Drs. 17/1940 und 17/1555. 4 BGBl I 2010, S. 944; dazu bereits Henneke, Landkreis 2010, 159 ff. 5 s. dazu oben Kapitel 4 B. II. 2. 6 Oben Kapitel 4 B. II. 1. 7 Hierzu oben Kapitel 6 C.
A. Aufgabenzuständigkeit des Bundes für die Regelleistungen
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„(1) Bei der Ausführung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende wirken Bund und Länder oder die nach Landesrecht zuständigen Gemeinden und Gemeindeverbände in der Regel in gemeinsamen Einrichtungen zusammen. (2) Der Bund kann zulassen, dass eine begrenzte Anzahl von Gemeinden und Gemeindeverbänden auf ihren Antrag und mit Zustimmung der obersten Landesbehörde die Aufgaben nach Absatz 1 allein wahrnimmt. Die notwendigen Ausgaben einschließlich der Verwaltungsausgaben trägt der Bund, soweit die Aufgaben bei einer Ausführung des Gesetzes nach Absatz 1 vom Bund wahrzunehmen sind. (3) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.“8
Abs. 1 thematisiert den Regelfall einer gemeinsamen Wahrnehmung der Grundsicherungsaufgaben von Bund und Ländern bzw. Kommunen in einer Einrichtung. Abs. 2 ermöglicht die, nominell begrenzte, Erfüllung der SGB II-Aufgaben allein durch die Kommunen. In Abs. 3 findet sich eine Ausgestaltungsbefugnis für den Bundesgesetzgeber, „das Nähere“ hinsichtlich der Abs. 1 und 2 zu regeln.9
A. Aufgabenzuständigkeit des Bundes für die Regelleistungen Wie bereits festgestellt, kann der Bund für die Regelleistungen über Art. 87 GG seine Aufgabenzuständigkeit nicht begründen. Soll er diese aber wie bislang über das SGB II, nunmehr aber verfassungsrechtlich zulässig in seinen Aufgabenbestand zugewiesen bekommen, muss dies über Art. 91e GG ermöglicht werden. Voraussetzung dafür ist, dass Art. 91e GG (auch) eine Kompetenznorm in dem Sinne ist, dass sie Aussagen zu Fragen der Aufgabenzuständigkeit trifft, so dass hierüber die Aufgabenzuständigkeit von Bund und Ländern bzw. Kommunen für die Grundsicherung herzuleiten wäre. Der Wortlaut des Art. 91e GG ist an dieser Stelle nicht eindeutig. Er stellt allein fest, dass „bei der Ausführung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende [. . .] Bund und Länder [. . .] in der Regel in gemeinsamen Einrichtungen zusammen(wirken).“ Ob darin auch eine Aufgabenzuweisung liegt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Gegen die Annahme, Art. 91e GG regele die Aufgabenzuständigkeit, sprechen systematische Erwägungen. Die Gemeinschaftsaufgaben der 8
BGBl I 2010, S. 944; BT-Drs. 17/1939 und 17/1554. Vgl. zu den Neuregelungen bisher Henneke, Landkreis 2010, 159 ff.; Ruschmeier/Oschmianksy, ZfF 2010, 169 ff. 9
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Kap. 7: Grundgesetzänderung, Art. 91e GG
Art. 91a ff. GG befassen sich grds. mit einzelnen Verwaltungsverantwortlichkeiten, nicht mit Fragen der sachlichen Aufgabenzuständigkeiten. Sie verteilen keine Aufgaben, sondern setzen deren (getrennte) Bestände voraus.10 Erst den Aufgaben grds. folgende Verantwortlichkeiten der Verwaltungsebenen werden modifiziert und ggf. neu verteilt. Das bedeutet, dass aus systematischen Gründen zunächst anzunehmen sein könnte, dass auch Art. 91e GG lediglich an die Aufgabenverteilung nach den allgemeinen Regeln der Art. 83 ff. GG anknüpft. Die Entstehungsgeschichte des Art. 91e GG widerspricht dieser These allerdings. Der Gesetzgeber sah sich nach dem Urteil des BVerfG aufgefordert, entweder die Wahrnehmungsverantwortung wieder an die Aufgabenzuständigkeit zu koppeln und sie so von den ARGEn zu lösen und dieses auch nach außen dem Bürger in der Verwaltungsorganisation transparent zu machen.11 Alternativ konnte die Fortführung des bis dato bestehenden Verwaltungsmodells nur durch Verfassungsänderung legitimiert werden. Nachdem eine einfachgesetzliche Lösung im erstgenannten Sinne nicht erreicht werden konnte und letztlich auch nicht gewollt war, wurden Modelle einer Verfassungsänderung diskutiert. Der Entwurf der Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD aus 2008, der Ende 2009 in vergleichbarer Weise von der SPD noch einmal allein in Bundestag und Bundesrat eingebracht wurde, scheiterte am Widerstand der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und sah eine Grundgesetzänderung vor, die systematisch (Art. 86a GG-E) und inhaltlich die Frage der Bundeszuständigkeit unmittelbar aufnahm und ausdrücklich beantwortete.12 Der Gesetzgeber war sich also des Problems einer Bundeszuständigkeit für Aufgaben der Grundsicherung bewusst.13 Jenes Bewusstsein legt nahe, dass der Bundesgesetzgeber die Frage der Aufgabenzuständigkeit des Bundes mitregeln wollte.14 10
Dazu oben Kapitel 6 A. BVerfGE 119, 331 ff. 12 Entwurf der Bundesregierung abrufbar unter http://www.lag-arbeit-hessen.net/ fileadmin/user_upload/Gesetzentwurf_GG_Traegerschaft_SGB_II_130209.pdf; dazu die Stellungnahme des DLT http://www.bagarbeit-news.de/fileadmin/user_upload/ DLT_Position_zu_ZAG_260209.pdf. 13 Das ergibt sich auch aus zahlreichen Gutachten und Stellungnahmen, welche von Bund und Ländern teils selbst eingeholt, teils zur Kenntnis genommen wurden. Vgl. nur v. Mutius, Grundsicherung für Arbeitsuchende unter einem Dach, S. 7 ff.; Wieland, Organisation des Vollzugs des SGB II, S. 10 ff.; nicht zuletzt auch auf Stimmen in der Literatur, die darauf hingewiesen haben; dazu bspw. Mempel, Hartz IV-Organisation, S. 104 f.; Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, S. 69 ff. 14 Etwas unklar aber insoweit die Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/1939 und 17/1554. 11
A. Aufgabenzuständigkeit des Bundes für die Regelleistungen
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Da die systematische Stellung und auch der Wortlaut des Art. 91e GG eine ausdrückliche Bundeszuständigkeit allerdings nicht ohne Weiteres hergeben, eine sachliche Umgrenzung der Kompetenzbereiche von Bund und Ländern sich dort nicht findet, kann bzw. muss eine solche – angesichts des insoweit eindeutigen Willens des verfassungsändernden Gesetzgebers – implizit hergeleitet werden. Implied powers15 im Bereich der Verwaltungskompetenzen sind vor allem in zwei Fällen denkbar: Zwar existiert keine ausdrückliche Zuweisung der Aufgabe zu einer Verwaltungsebene, aber nur eine dieser Ebenen kann die Aufgabe logisch überhaupt wahrnehmen, weil es nur sie betrifft oder ausschließlich sie über die entsprechende Infrastruktur oder die notwendigen Mittel verfügt (so vor allem Kompetenzen kraft Natur der Sache16). Außerdem sind implizite Kompetenzen denkbar, wenn, in Anknüpfung an eine geschriebene Kompetenz, diese in normativer Hinsicht weit ausgelegt wird (so vor allem die Annexkompetenzen und Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs17). Sowohl Bund, Länder wie auch Kommunen können die Aufgaben der Grundsicherung – zumindest gilt dies für die Regelleistungen – (logisch) wahrnehmen. Ein normativer Anknüpfungspunkt, aus dessen weiter Auslegung sich Verteilungsmaßstäbe für die Aufgabenverteilung ableiten ließen, findet sich in Art. 91e GG nicht.18 Eine implizite Kompetenz könnte sich dementsprechend zunächst nur als abstrakte (Doppel-)Kompetenz für Bund und Länder (und insoweit den Kommunen) zeigen und deren konkrete Ausgestaltung würde nach Art. 91e Abs. 3 GG durch Bundesgesetz erfolgen. Völlig frei ist der Bundesgesetzgeber in seiner Entscheidung freilich nicht. Er ist insoweit vor allem an Art. 28 Abs. 2 GG, an das Recht der kommunalen Selbstverwaltung gebunden. Angesichts der Entstehungsgeschichte und des Willens des verfassungsändernden Gesetzgebers kann nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 28 Abs. 2 GG in seiner Anwendbarkeit völlig ausgeschlossen werden sollte. Allein soweit die Mischverwaltung einen Eingriff (auch) in die kommunale Selbstverwaltung bedeutete, sollte dieser nunmehr legitimiert 15 Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 7 EU Rn. 47 ff.; Adrian, Methodenlehre, S. 409 f. 16 Vgl. BVerfGE 12, 205 (251 f.); 26, 246 (257). 17 Uhle, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 5, Art. 70 Rn. 71 ff. (Oktober 2008). 18 Vgl. Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, S. 105 ff.
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Kap. 7: Grundgesetzänderung, Art. 91e GG
werden. Dies bezieht sich aber eben nur auf Fragen der Aufgabenwahrnehmung. Bei der Aufgabenverteilung ist Art. 28 Abs. 2 GG daher grds. zu berücksichtigen. Im Rahmen des Art. 91e GG geht es ausdrücklich auch um die Rechtsposition der Kommunen. Anders als im Rahmen der Art. 83 ff. GG, in denen die Kommunen als Bestandteile der Länder auftreten und kommunale Aspekte allenfalls innerhalb der Kompetenznormen, wie bei der Auslegung normativer Rechtsbegriffe, Niederschlag finden, werden die Kommunen in Art. 91e GG explizit genannt (Abs. 1 „Gemeinden und Gemeindeverbände“). Für die Aufgabenverteilung findet sich kein normativer bzw. materieller Anknüpfungspunkt, der eine sachliche Abgrenzung der Kompetenzbereiche der Verwaltungsebenen vornehmen würde. Auch entstehungsgeschichtlich spielte die Position der Kommunen eine prominente Rolle.19 So kann der Bund den Kommunen Aufgaben der Grundsicherung durch Bundesgesetz auf der Grundlage des Art. 91e GG nicht beliebig entziehen. Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Aufgabenumverteilung bemisst sich nicht zuletzt an Art. 28 Abs. 2 GG. Kann der Bund in zulässiger Weise den Kommunen aber Aufgaben entziehen, hat er nunmehr über Art. 91e GG die Möglichkeit, sie in eigener Kompetenz zu übernehmen. Damit überwindet Art. 91e GG die bisher fehlende Kompetenz des Bundes bzgl. der Aufgaben der Regelleistungen, weil diese (bislang) zwar nicht zwangsläufig von den Kommunen, aber jedenfalls nicht vom Bund über Art. 87 GG wahrgenommen werden konnten. Gesichert ist damit, dass im Bereich der Grundsicherung neben dem Bund die Länder, bzw. soweit es sich um örtliche Aufgaben handelt die Kommunen, für einzelne Aufgaben zuständig sind und in der Aufgabenwahrnehmung in gemeinsamen Einrichtungen zusammenarbeiten.
B. Aufgabenzuweisung zur Bundesagentur für Arbeit So wie Art. 91e GG zumindest implizit die Möglichkeit eröffnet, über Abs. 3 die Kompetenz des Bundes bspw. für die Aufgaben der Regelleistungen durch Gesetz zu begründen, so kann in diesem Zusammenhang auch die konkrete organisatorische Gestalt der Exekutive im Rahmen eines Bundesgesetzes abweichend zu Art. 87 GG statuiert werden. Das gilt zumindest für die Bundesaufgaben; für die kommunalen Aufgaben mögen sich wiederum spezifische Schranken aus Art. 28 Abs. 2 GG ergeben. 19
Vgl. o. Kapitel 3.
C. Legalisierung der Mischverwaltung
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C. Legalisierung der Mischverwaltung Die Auflösung oder die Legalisierung der bisher unzulässigen Mischverwaltung war zentrales Anliegen aller Reformvorschläge und somit auch der in Rede stehenden Verfassungsänderung. Eine einheitliche Aufgabenzuständigkeit wurde politisch kaum diskutiert. Vielmehr richteten sich die Vorschläge an geteilten Zuständigkeiten von Bund und Kommunen aus und wollten entweder eine Zusammenarbeit beider unter einem Dach, aber in getrennter Wahrnehmung oder, wie es sich letztlich durchgesetzt hat, eine Legalisierung der Mischverwaltung durch Verfassungsänderung. Ausnahmen zum grds. Verbot der Mischverwaltung ergeben sich nur, soweit sie entweder punktuell und notwendig oder verfassungsunmittelbar vorgesehen sind,20 wie im Fall des Art. 91e Abs. 1 GG. Hiernach erfüllen Bund und Länder bzw. Kommunen die Aufgaben der Grundsicherung in gemeinsamen Einrichtungen. Sie geben Verantwortlichkeiten ab, die originär ihnen für ihre Aufgaben zustehen und dies partiell u. U. zu Gunsten des anderen. Als verfassungsunmittelbar vorgesehene Mischverwaltung ist dies grds. möglich. Das verfassungsrechtliche Problem der Mischverwaltung wurzelt in den Staatsstrukturprinzipien. Diese sind auch durch eine Verfassungsänderung nicht beliebig strapazierbar (Art. 79 Abs. 3 GG). Äußerste Grenzen von Mischverwaltung sind allgemein dort zu ziehen, wo die Unterscheidbarkeit der Verwaltungsebenen völlig aufgelöst wird oder dort, wo für einzelne Aufgaben der zuständigen Ebene die Verwaltungsverantwortung endgültig und vollständig entzogen wird, es mithin zu einer absoluten Trennung von Aufgabe und Verantwortung kommt, der Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung mithin jede Relevanz verliert.21 In diesem Sinne und im Rahmen jener absoluten Grenzen ermöglicht es Art. 91e GG dem Gesetzgeber, ein weitreichendes Maß an Verflechtung und Verschränkung der Verwaltungsebenen zu schaffen. Daraus folgt zugleich, dass Art. 91e GG selbst nicht als „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ bezeichnet werden kann.22 Das bisherige Modell der ARGEn und auch die neuen Jobcenter (§ 6d SGB II), welche mit den ARGEn nahezu identisch sind,23 überschreiten diese Grenzen nicht. Sie beteiligen die zuständigen Ebenen an Organisation und Erfüllung der Grundsicherung. Auch die in Art. 91e Abs. 2 GG ermöglichte Verstetigung bisheriger und Zulassung neuer kommunaler Träger ist 20 21 22 23
s. o. Kapitel 5 B. II., 6 B. II. Vgl. BVerfGE 119, 331 (366); Grawert, Verwaltungsabkommen, S. 195. Zieglmeier, KommJur 2010, 441 (442). BGBl I 2010, S. 1112 (1114 f.); s. auch BT-Drs. 17/1940 und 17/1555.
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in dieser Hinsicht zu verstehen. Zwar kann der Bund bspw. die Erfüllungsverantwortung für seine Aufgaben an kommunale Träger übergeben, damit verliert er aber weder die Finanzierungs- (Art. 91e Abs. 2 Satz 2 GG) noch die Gewährleistungs- oder Auffangverantwortung.24
D. Unzulässiger Aufgabendurchgriff des Bundes, Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG Die verfassungsrechtlichen Probleme der bisherigen SGB II-Verwaltung werden also überwiegend gelöst (Mischverwaltung). Teilweise bietet Art. 91e Abs. 3 GG die Grundlage für eine einfachgesetzliche Lösung (Aufgabenverteilung). Dabei sieht sich der Gesetzgeber aber im Vergleich zu 2005 veränderten verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen gegenüber. Die Föderalismusreform hat in Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG und Art. 85 Abs. 1 Satz 2 GG25 dem Bundesgesetzgeber untersagt, Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben zu übertragen. War der sog. unmittelbare Bundesdurchgriff auf die Kommunen bis dahin punktuell zulässig,26 könnte dies mittlerweile anders zu bewerten sein. Dass ursprünglich in der Aufgabenübertragung des § 6 SGB II a. F. ein solcher Aufgabendurchgriff zu sehen war, ist unstrittig; seine Zulässigkeit zwar wiederum nicht, von dieser ist im Ergebnis aber auszugehen.27 Durch die Grundgesetzänderung und die Reform des SGB II verändern sich die Rahmenbedingungen der Aufgabenzuständigkeiten und der -verantwortlichkeiten. Diese Änderungen können Aufgabenübertragungen darstellen. Sollte dies so sein, stellt sich zunächst die Frage nach der Anwendbarkeit des (allgemeinen) Aufgabenübertragungsverbots aus Art. 84 Abs. 1 Satz 7, 85 Abs. 1 Satz 2 GG im Rahmen des Art. 91e GG. Die Beantwortung hängt davon ab, ob und inwiefern Art. 91e GG als lex specialis das allgemeine Verbot der Aufgabenübertragung ausnahmsweise durchbricht, er insoweit etwas abweichendes bestimmt. Um das näher untersuchen zu können, ist zunächst allgemein zu klären, was unter dem Aufgabenübertragungsverbot der Art. 84 Abs. 1 Satz 7, 85 Abs. 1 Satz 2 GG zu verstehen ist.
24 Vgl. Schultze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, § 12 Rn. 51 ff. 25 Im Folgenden wird nur noch Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG angegeben. 26 s. o. Kapitel 5 A. I. 2. c) bb). 27 Dazu oben Kapitel 5 B. I. 2.
D. Unzulässiger Aufgabendurchgriff des Bundes, Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG
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I. Im Allgemeinen: Das Aufgabenübertragungsverbot Zeitlich beschränkt sich der Anwendungsbereich auf Aufgabenzuweisungen seit 2006, mithin auf neue Zuweisungen.28 Für die bis 2006 erfolgten Aufgabendurchgriffe bildet Art. 125a Abs. 1 GG den Maßstab möglicher Änderungen. Danach sind, so die wohl h. M., zwar u. U. punktuelle Anpassungen, aber zumindest keine Wesensänderungen der übertragenen Aufgaben möglich.29 Im Einzelfall ist dabei zu sehen, ob sich gesetzliche Veränderungen in diesem Rahmen halten. Das hängt neben der kommunalen Mehrbelastung sicher auch davon ab, welches Maß an Anpassungen angesichts veränderter Rahmenbedingungen notwendig ist. Grds. kann sich eine solche Notwendigkeit und damit zumindest ein höheres Maß an Anpassungsbefugnis auch durch die Verfassungs- oder Rechtswidrigkeit des status quo ergeben.30 Vor Etablierung des Verbots waren punktuelle Zuweisungen u. U. zulässig. Davon nicht umfasst waren Übertragungen unmittelbar als Selbstverwaltungsaufgaben.31 Das ausdrückliche Verbot von Aufgabenzuweisungen durch den Bund seit 2006 tritt hinter diesen Schutzumfang jedenfalls nicht zurück. Klärungsbedürftig bleibt, wie sich das Verbot im Übrigen ausgewirkt hat.32 Martin Burgi unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem „Tätigkeitsbereich“ (Ob) und dem „Tätigwerden“ (Wie) der Kommunen.33 Änderungen an erstgenanntem sind seiner Auffassung nach grds. unzulässig, Änderungen an letztgenanntem grds. möglich. Bei Übertragungen nur bestimmter Verantwortlichkeiten oder möglicherweise kostenintensiven Veränderungen vorhandener Verantwortlichkeiten ohne Übergang einer Aufgabe an sich stellt sich hingegen die Frage, welchen Bereich dies genau betrifft, schlägt das eine doch häufig auf das andere durch. Hier kann es zu Abgrenzungs28
Vgl. BVerfGE 119, 331 ff. BVerfGE 111, 10 (30); 111, 226 (269); 112, 226 (250); Stettner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 125a Rn. 10; dagegen Degenhart, NVwZ 2006 1209 (1215) m. w. N. 30 Vgl. Knitter, NdsVBl 2009, 73 ff.; zu dem Verhältnis des Aufgabenübertragungsverbots und Art. 125a GG grds. und der Übertragbarkeit der Rechtsprechung des BVerfG im Rahmen des Ladenschlussurteils, dies., Das Aufgabenübertragungsverbot. 31 BVerfGE 22, 180 (207 f.); außerdem bereits oben Kapitel 5 B. 32 So auch Henneke, NdsVBl 2007, 57 ff.; anders grds. Knitter, Das Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, S. 110 ff., welche die Übertragung als Selbstverwaltungsaufgaben bereits nach Art. 84 Abs. 1 GG a. F. nicht grds. für ausgeschlossen hält und dementsprechend auch Änderungen des Aufgabencharakters grds. für von Art. 125a GG gedeckt ansieht. 33 Burgi, DVBl 2007, 70 (77). 29
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schwierigkeiten kommen. Präziser scheint es daher zu sein, zwischen der Aufgabenzuständigkeit und der Übertragung bzw. Veränderung einzelner Verwaltungsverantwortlichkeiten zu unterscheiden. Die Begründung der Aufgabenzuständigkeit der Kommunen unmittelbar durch Bundesgesetz ist vom Übertragungsverbot jedenfalls ausgeschlossen, die Übertragung und Veränderung einzelner Verantwortlichkeiten nicht zwingend. Dazu gilt es Kriterien herauszuarbeiten. Bis 2006 betonte das BVerfG stets, dass Art. 84 Abs. 1 GG a. F. dem Schutz der Länder zu dienen bestimmt gewesen sei.34 Die Folgen der unmittelbaren Einbeziehung der Kommunen in die Exekutive waren allerdings massiv. In den Fällen unmittelbarer Bundesdurchgriffee standen die Kommunen nämlich zunächst recht schutzlos dar. Dies ergab sich aus den unterschiedlich ausgestalteten Finanzbeziehungen der staatlichen Ebenen zueinander. Übertrug der Bund den Ländern öffentliche Aufgaben zur Erfüllung, trugen sie gemäß Art. 104a Abs. 1 GG die Finanzierungslast. Gaben die Länder die Aufgaben an die Kommunen weiter, waren diese nunmehr verpflichtet, die Aufgaben zu erfüllen und zu finanzieren. Dies folgte bereits aus der Verfassungsautonomie der Länder (vgl. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) und ihrer Zugriffskompetenz auf die Kommunen.35 Daraus ergab sich freilich aber auch, dass in diesen Fällen den Kommunen die landesverfassungsrechtlichen Schutzvorschriften zu Gute kamen.36 Bis zur Einführung der Konnexitätsprinzipien in die Landesverfassungen waren dies innerhalb der allgemeinen Finanzgarantien im Wesentlichen die kommunalen Finanzausgleichssysteme, die einen gewissen, jedoch keinen vollständigen, Schutz brachten. Übertrug der Bund den Kommunen unmittelbar die Aufgabenerfüllung, griffen die landesverfassungsrechtlichen Schutzvorschriften nicht. Der Bund konnte aus diesen Vorschriften nicht verpflichtet werden; er war nicht Adressat dieser Verfassungsnormen.37 Zwar enthält das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG eine allgemeine Finanzausstattungsgarantie. Sie sichert den Kommunen eine aufgabenadäquate Finanzausstattung, enthält jedoch keine Pflicht zur vollständigen Kostendeckung. Daher führte dies regelmäßig zu einer unausgeglichenen Mehrbelastung der Kommunen.38 34 BVerfGE 119, 331 (358); vgl. auch BVerfGE 22, 180 (209 f.); Henneke/Ruge, in: Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84 Rn. 10. 35 Dazu Schoch, NVwZ 2004, 1273 ff. 36 Vgl. Worms, DÖV 2008, 353 (357 f.). 37 Wendt, Finanzierungsverantwortung in: Burmeister (Hrsg.), FS Stern, S. 603 (612); Hellermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 104a Rn. 56 ff. 38 Am Beispiel des Schwangeren- und Familiengesetzes Holtkamp, Wer hat Schuld an der Verschuldung?, S. 13.
D. Unzulässiger Aufgabendurchgriff des Bundes, Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG
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Insgesamt zeigt sich, dass in einem Mehrebenensystem wie dem föderalen Staat die unterste Ebene zum Verlierer dieses Verschiebens von Erfüllungs- und Finanzierungslasten zu werden droht.39 Beide können als wesentliche Einflussfaktoren der rasanten kommunalen Verschuldungszunahme der letzten Jahre angenommen werden.40 Zu beobachten ist dies vor allem dort, wo Kommunen durch die allgemeinen Finanzgarantien auf wenig konkrete anderweitige Einnahme- oder Einsparungsmöglichkeiten verwiesen werden konnten, insbesondere bei stark konjunkturabhängigen Instrumenten auf der Einnahmeseite. In Zeiten geringen Wirtschaftswachstums und zunehmender Arbeitslosigkeit stieg die Verschuldung der Kommunen Mitte der 1990er Jahre sowie zwischen 2001 und 2005 dramatisch an.41 Ähnliches ist seit der Wirtschaftskrise 2008 erneut zu beobachten. Die Forderungen aus Wissenschaft und Politik nach einer Neujustierung des Systems öffentlicher Finanzbeziehungen mehrten sich seitdem zusehends.42 Dieses strukturelle Problem der Kommunen, welches auch historisch durchaus nicht neu ist, wurde in den Ländern durch die mittlerweile flächendeckende Einführung der Konnexitätsregelungen43 zumindest partiell behoben. Jenseits von Art. 106 Abs. 8 GG, welcher nach allgemeiner Auffassung eine teilweise Durchbrechung des finanzverfassungsrechtlichen Dualismus von Bund und Ländern darstellt,44 unterhält der Bund zu den Kommunen keine finanziellen Beziehungen und darf dies auch grds. nicht. Die Kommunen waren also unter „Umgehung“ der landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregelungen mit den finanziellen Folgen der übertragenen Aufgaben konfrontiert, ohne finanziell nennenswert Regress nehmen zu können. So wurde die Forderung nach einem Verbot bundesunmittelbarer Aufgabenübertragungen angesichts zunehmender finanzieller Belastungen lauter. Die verfassungsändernde Mehrheit der großen Koalition folgte 2006 dem kommunalen Begehren. Ganz deutlich also stand der Schutz der Kommunen vor einer exekutiven und finanziellen Überlastung im Zentrum der Debatte um Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG. Die Belastung der Kommunen beschränkt sich, 39 Grundlegend dazu Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung. Als „stetigen Verteilungskampf zwischen den verschiedenen föderalen Ebenen“ bezeichnet es Holtkamp, Wer hat Schuld an der Verschuldung?, S. 12; dazu auch Schoch, Das landesverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip, 122. 40 Überblick zu der Situation in den Kreisen Wohltmann, Finanzwirtschaftliche Rahmenbedingungen der Kreisfinanzen, 201. 41 Siehe dazu Holtkamp, Wer hat Schuld an der Verschuldung?, S. 3; Schwarting, Einige Gedanken zur fiskalischen Disziplin kommunaler Gebietskörperschaften in Deutschland, in: Genser (Hrsg.), Haushaltspolitik und öffentliche Verschuldung, S. 131 ff. 42 So bspw. Wagner/Rechenbach, ZRP 2003, 308. 43 Dazu ausführlich Worms, DÖV 2008, 353 (355). 44 Vgl. BVerfGE 14, 221 (231).
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Kap. 7: Grundgesetzänderung, Art. 91e GG
das ist spätestens seit der Anerkennung der Aufgabenübertragung als Problem der kommunalen Selbstverwaltung anerkannt, nicht auf den übertragenen Wirkungskreis, sondern wirkt sich ebenso negativ auf die Erfüllung eigener Aufgaben aus. Mittlerweile ist der Schutzgehalt des Art. 84 Abs. 1 GG demnach um ein eigenständiges kommunales Element erweitert worden und kann dementsprechend auch im Rahmen einer Kommunalverfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.45 In gewisser Weise kommt der Bund damit auch der Pflicht aus Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG nach, die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung zu gewährleisten. Hinsichtlich der Übertragung von Verantwortlichkeiten auf die Kommunen folgt daraus, dass diese vom Aufgabenübertragungsverbot grds. erfasst sind, soweit sie mit Belastungen für die Kommunen verbunden sind. Das gilt besonders für die Erfüllungsverantwortung, die grds. auch die Finanzierungsverantwortung nach sich zieht. Weitgehend uninteressant ist dabei, ob dies aus einer Veränderung des materiellen Rahmens folgt oder Ergebnis eines eigenständigen formellen Aufgabenübertragungsaktes ist.46 Demnach ist für die Aufgabenübertragung die Belastung der Kommunen ebenso entscheidend wie die Umgehung der Länderkompetenzen. Damit noch nicht beantwortet sind allerdings die modalen Aspekte der Aufgabenübertragung. Denkbar sind letztlich drei Modelle, wie ein Aufgabenübergang stattfinden kann. Zum einen über einen einseitig verpflichtenden Übertragungsakt. Üblicherweise werden auf diese Weise Aufgaben oder Verwaltungsverantwortlichkeiten durch Gesetz den Verwaltungsebenen zugewiesen.47 Jedenfalls wenn ein solcher Übertragungsakt nicht die Mitwirkung der adressierten Ebene voraussetzt, beschreibt dies das eine Ende der Skala möglicher Aufgabenübergänge. Zum anderen können Aufgaben unbesetzt sein, indem die bisherige Ebene sie frei gibt oder sie von Beginn an unbesetzt waren, weil deren Inanspruchnahme nicht obligatorisch ist. Dann kann im Rahmen der Kompetenzordnung die fakultativ zuständige Ebene auf diese zugreifen. Da diese Aneignung von Aufgaben dann freiwillig geschieht, liegt hierin das andere Ende der Skala von Aufgabenübergängen. Diese Variante ist ebenso wenig eine Aufgabenübertragung durch Bundesgesetz, wie die zuerst genannte eine eben solche sicher darstellt. Schwieriger sind Fälle zu beurteilen, welche zwischen diesen Punkten liegen. Wenn also an der Aufgabenübernahme beide Protagonisten des Art. 84 45 Knitter, Das Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, S. 93 ff.; Suerbaum, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 84 Rn. 28.1 (Februar 2010). 46 I. E. ebenso Knitter, Das Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, S. 123 ff., 197. 47 Oben Kapitel 1 A. II.
D. Unzulässiger Aufgabendurchgriff des Bundes, Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG
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Abs. 1 Satz 7 GG (Bund und Kommunen) und die Länder, die ebenso vom Schutz umfasst sind, beteiligt sind. Diese Fälle sind zahlreich denkbar. So können Zustimmungserfordernisse verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlich vorgesehen oder gegenseitig vereinbart werden. Ein Zusammenwirken kann auf gesetzlicher oder vertraglicher, obligatorischer oder fakultativer Grundlage entstehen. Eine Präzisierung des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG ist schwierig, weil die Beiträge der Beteiligten – anders bspw. als bei Art. 106 Abs. 8 GG – nicht näher beschrieben sind. Art. 106 Abs. 8 GG verlangt, dass die Mehrausgaben der Kommunen vom Bund zu tragen sind, welche er durch besondere Einrichtungen veranlasst hat.48 Nicht sämtliche vom Bund irgendwie verursachten Kosten auf kommunaler Ebene sind vom Bund nach dieser Regelung zu erstatten. Nicht hierzu zählen z. B. finanzielle Folgen aus der grds. Bindung der Kommunen an Bundesgesetze oder ihrer ggf. notwendigen Mitwirkung an deren Vollzug.49 Das gilt auch unabhängig von der Frage, ob die Kommunen faktisch durch Bundesgesetze untereinander gleich oder ungleich betroffen sind. Ungleiche Betroffenheit allein begründet keinen verfassungsunmittelbaren Ausgleichsanspruch, sondern kann allenfalls die Zulässigkeit einer solchen gesetzlichen Regelung verfassungsrechtlichen Zweifeln aussetzen. Nach bislang unbestrittener Auslegung begründet Art. 106 Abs. 8 GG am ehesten einen Ausgleichsanspruch in Fällen, in denen der Bund durch die Eigenschaft einer Kommune als Hauptstadt oder Bundesstadt oder als Bundeswehrstandort in jenen Gemeinden einen besonderen Aufwand veranlasst.50 In solchen Fällen schafft der Bund durch eigene Planungs- u. ä. Entscheidungen Sachverhalte, welche einerseits die betroffenen Kommunen rechtlich binden, ohne dass sie diese selbst verhindern können; andererseits entstehen durch solche Entscheidungen Kosten, welche nicht beim Bund als Vorhaben- oder Entscheidungsträger anfallen, sondern vielmehr von den betroffenen Kommunen zu tragen sind (etwa: Infrastrukturaufwand u. a.). Irgendein Kausalbeitrag im Sinne einer conditio-sine-quanon reicht für die Veranlassung im Rahmen des Art. 106 Abs. 8 GG nicht aus.51 Vielmehr geht es eher um eine Art Zurechnung. Die Mehrbelastung der einzelnen Kommune muss aus einem dem Bund zurechenbaren Verhal48
Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 106 Rn. 149 ff. 49 Vgl. Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 106 Rn. 149 ff. 50 s. etwa Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, Art. 106 Rn. 149 ff. 51 Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 6, Art. 106 Rn. 110; Hidien, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK GG, Band 14, Art. 106 Rn. 1243 (Juni 2002).
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Kap. 7: Grundgesetzänderung, Art. 91e GG
ten erwachsen und vor allem durch dieses begründet worden sein. Das muss zwar keine Aufgabenübertragung sein, insofern ist der Begriff des Veranlassens weiter im Vergleich zu Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, aber die Mehrbelastungen dürfen auch nicht bloßer Reflex allgemeiner Verpflichtungen sein. Insofern mag von einem Sonderopfer gesprochen werden, welches einzelnen Kommunen abverlangt wird.52 Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG fordert demnach einen qualifizierten Beitrag des Bundes auf Tatbestandsebene, nämlich die Übertragung einer Aufgabe. Anders als Art. 106 Abs. 8 GG statuiert Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG keine Ausnahme, sondern einen Grundsatz und ist damit nicht nur in dieser Hinsicht, sondern möglicherweise auch was die Verursachung angeht, weiter zu verstehen. Teilweise wird angenommen, im Rahmen des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG reiche tatsächlich jeder kausale Beitrag i. S. e. conditio-sine-quanon des Bundes aus (strikte Auslegung).53 Diese Auffassung steht aber im Widerspruch zu systematischen und teleologischen Erwägungen. Die Statuierung des Aufgabenübertragungsverbots erwuchs aus der Erkenntnis administrativ und vor allem finanziell überforderter Kommunen. Den Ländern dient das Verbot als Schutz ihres Zugriffsrechts auf die Kommunen; es sichert stärker die verfassungsrechtlich angelegte Exklusivität in diesem Bereich (Art. 20 Abs. 1; Art. 28 Abs. 1 GG). Sind beide Aspekte nicht betroffen, weil eine Aufgabe oder Verantwortlichkeit aufgrund einer Vereinbarung oder einer sonstigen Rechtskreiserweiterung von Ländern und Kommunen übergeht, kann ein Verstoß gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG nicht in jedem Fall angenommen werden. Vielmehr ist es sachgerecht, die konkreten Beiträge der Beteiligten abzugrenzen und sie danach zu beurteilen, ob Länder oder Kommunen unmittelbar oder auch mittelbar belastet werden und die Belastung letztlich für jene auch nicht in zumutbarer Weise zu verhindern gewesen wäre. Auf die Modalitäten der Aufgabenübertragung kommt es dann nicht wesentlich an, sie wirken allenfalls indizierend. Sowohl eine gesetzliche Übertragung wie auch eine Aneignung oder ein vereinbarter Übergang können eine unzulässige Aufgabenübertragung sein oder nicht. Entscheidend ist, ob u. U. auch nur faktisch der Übergang im Rahmen einer Gesamtbetrachtung als erzwungen anzusehen ist. Länder und Kommunen also letztlich keine (echte) Wahl haben, die Aufgabe zu übernehmen. Nur so ist gesichert, dass von Ländern und Kommunen erwünschte Erweiterungen ihrer Handlungsmöglichkeiten nicht von vornherein ausgeschlossen 52
Maunz, in: ders./Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Band 6, Art. 106 Rn. 97. In diese Richtung Knitter, Das Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, S. 120 ff.; Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger im Schnittbereich zwischen Staatsorganisations-, Finanzverfassungs- und kommunalem Selbstverwaltung, S. 177 ff. 53
D. Unzulässiger Aufgabendurchgriff des Bundes, Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG
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werden. Insoweit ist das Aufgabenübertragungsverbot in modaler Hinsicht relativ auszulegen.54
II. Im Besonderen: Das Übertragungsverbot im Rahmen des Art. 91e GG Art. 91e GG geht, wie dies bei den Gemeinschaftsaufgaben insgesamt der Fall ist, den allgemeinen Vorschriften vor, soweit er Aussagen in jeweiliger Hinsicht trifft. Aussagen sind der Vorschrift zum einen über die gemeinsame Wahrnehmung (Abs. 1) und zum anderen über die Zulassung kommunaler Träger (Abs. 2) zu entnehmen. Die Untersuchung über den Aussagehalt des Art. 91e GG richtet sich entsprechend daran aus. Getrennt ist die Frage zu beantworten, ob das allgemeine Aufgabenübertragungsverbot (Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG; Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG) im besonderen Zusammenhang des Art. 91e GG anwendbar ist. 1. Aufgabendurchgriff im Rahmen gemeinsamer Wahrnehmung Wenn in Art. 91e GG jedenfalls implizit auch Fragen der Aufgabenzuständigkeit beantwortet und in diesem Zusammenhang auch Art. 28 Abs. 2 GG maßstäblich ist, spricht viel dafür, dass auch das Aufgabenübertragungsverbot, als Schutzrecht kommunaler Selbstverwaltung, anwendbar ist. Dafür spricht auch die Formulierung des Art. 91e Abs. 1 GG. Dieser benennt die „nach Landesrecht zuständigen Gemeinden und Gemeindeverbände(n)“. Die Aufgabenverteilung soll demnach nach Bundesgesetz (Abs. 3) nur zwischen Bund und Ländern erfolgen und die Länder können dann, ggf. müssen sie sogar, die Kommunen einbeziehen. Damit wird die Formulierung des Art. 91e Abs. 1 GG den Voraussetzungen des Aufgabenübertragungsverbots gerecht. Für künftige Veränderungen im Bereich der Aufgabenzuständigkeit von Bund und Ländern (bzw. Kommunen) findet das Aufgabenübertragungsverbot demzufolge Anwendung. Das gilt i. e. S. für die sachliche Zuordnung der Aufgaben ebenso wie i. w. S. für die Fragen der Aufgabenwahrnehmung, -finanzierung usw. Zu einer Verschiebung im erstgenannten Bereich kam es seit der Verfassungsänderung nicht, insofern ist zwar das Aufgabenübertragungsverbot anwendbar, es ist aber nicht berührt. 54 Für ein absolutes Verständnis aber unter weitgehender Ausklammerung modaler Aspekte plädiert Knitter, Das Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, S. 110 ff.
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Kap. 7: Grundgesetzänderung, Art. 91e GG
Die zuletzt im Zuge der Verfassungsänderung vorgenommenen Modifikationen in der Ausgestaltung der gemeinsamen Wahrnehmung, wie bspw. die Einrichtung verschiedener Ausschüsse (Kooperationssausschuss, Bund-Länderausschuss, §§ 18b f. SGB II) und diejenige des Örtlichen Beirats (§ 18c SGB II), deren Bedeutung für das Verwaltungsverfahren; die für die Kommunen verbindliche Feststellung der Erwerbsfähigkeit wesentlich durch die Bundesagentur für Arbeit allein (§§ 44a f. SGB II) oder die Verpflichtung zur Datenerhebung und zum -austausch, werfen zwar ihrerseits eigene verfassungsrechtliche Fragen nicht zuletzt im Zusammenhang mit der kommunalen Selbstverwaltung auf,55 im Hinblick auf Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG ist dies grds. aber nicht zu beanstanden. Es ist nämlich nicht ersichtlich, inwieweit dies zu einer relevanten Mehrbelastung der Kommunen führen könnte oder geführt hat. 2. Aufgabendurchgriff im Rahmen der ausgeweiteten Option Nach Art. 91e Abs. 2 GG kann der Bund „zulassen, dass eine begrenzte Anzahl von Gemeinden und Gemeindeverbänden auf ihren Antrag und mit Zustimmung der obersten Landesbehörde die Aufgaben nach Absatz 1 allein wahrnimmt.“ Die Anwendbarkeit des Aufgabenübertragungsverbots hängt von der genauen Ausgestaltung ab. Dabei ist fraglich, ob die Kommunen im Rahmen der Option lediglich Mitverwaltungsbefugnisse an Bundesaufgaben eingeräumt bekommen oder ein Übergang der Aufgaben erfolgt. Jedenfalls unzulässig wäre eine ausdrückliche Übertragung als Selbstverwaltungsaufgaben; das war weder in § 6a SGB II a. F. vorgesehen noch findet sich dies seit der Reform. Eine Übertragung in dieser Form wäre wohl schon nach Art. 84 Abs. 1 GG in seiner Fassung bis 2006 unzulässig gewesen, weil eine solche Ausweisung bereits nach der alten Rechtslage systemwidrig und darüber hinaus nicht erforderlich gewesen ist.56 Nach der alten einfach-gesetzlichen Rechtslage (SGB II) war allerdings nicht eindeutig, ob die Kommunen im Rahmen der Option eine Art „Delegierte“ oder „Beliehene“ des Bundes waren oder Trägerinnen der Aufgaben wurden.57 Die Option war auf der einen Seite zeitlich befristet und nominell begrenzt, der Bund behielt sich Prüfungskompetenzen vor (§ 6b Abs. 3 SGB II a. F.) und konnte vor allem „mit Zustimmung der obersten Landesbehörde durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates die Zu55
Dazu Henneke, Landkreis 2010, 159 ff.; Vorholz, Landkreis 2010, 164 ff. Vgl. o. Kapitel 5 B. 57 Dazu Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 6b Rn. 2–4b; Wieland, Gutachten, S. 7. 56
D. Unzulässiger Aufgabendurchgriff des Bundes, Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG
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lassung widerrufen.“ (§ 6a Abs. 7 Satz 1 SGB II a. F.). Auf der anderen Seite wiesen die Ausführungsgesetze der Länder den Kommunen auch die Aufgaben im Rahmen der Option regelmäßig als Selbstverwaltungsaufgaben zu, was eher für einen Aufgabenübergang spricht.58 Im Rahmen der Reform des SGB II wurde die Zulassung der kommunalen Träger – soweit diese dies beantragen würden – entfristet (§ 6a Abs. 1 SGB II). Außerdem „wird eine begrenzte Zahl weiterer kommunaler Träger vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales als Träger“ zugelassen. Die Prüfungskompetenz des Bundes bzgl. der Einnahmen und Ausgaben bleibt zwar erhalten (§ 6b Abs. 4 SGB II), aber auch die Widerrufsermächtigung, die im Ermessen des Bundes lag, wurde abgeschafft (vgl. § 6a Abs. 7 SGB II). Zumindest nach der gegenwärtigen Rechtslage muss demnach davon ausgegangen werden, dass die Kommunen durch Zulassung nach Art. 91e Abs. 2 GG die Aufgaben des Bundes übertragen bekommen und grds. in eigener Verantwortung wahrnehmen. Dabei äußert sich Art. 91e Abs. 2 GG nicht selbst zu Fragen der Aufgabenzuständigkeit, erst durch die einfach-gesetzliche Ausformung der Zulassung erfolgt eine Zuständigkeitsverlagerung. Daraus folgt wiederum, dass hierin keine spezielle Regelung zu Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG zu sehen ist und der einfache Gesetzgeber demzufolge an das Aufgabenübertragungsverbot (i. e. S.) gebunden ist. Das gilt jedenfalls, wenn man das Verbot relativ versteht. Vertritt man eine strikte Auslegung des Aufgabenübertragungsverbots aus Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, ist dieses im Rahmen des Art. 91e Abs. 2 GG nicht anwendbar, weil durch die zwingende Zulassung durch den Bund ein kausaler Beitrag stets vorliegt und dieser gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG verstoßen würde. Nur eine relative Auslegung ermöglicht die Anwendbarkeit, weil sie die Auswirkungen der Übertragung zum Maßstab der Zulässigkeit macht. Entscheidend ist danach, wem die Zulassung letztlich zuzurechnen ist und ob die Kommunen in eine für sie – vor allem finanziell (Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG – belastende Lage gebracht werden können. Um 2005 Optionskommune geworden zu sein, musste eine Zulassung erfolgen. Die Zulassung setzte einen Antrag der Kommune voraus (§ 6a Abs. 2 SGB II a. F.).59 Wer antragsbefugt war, richtete sich nach den kommunalrechtlichen Vorgaben in dem jeweiligen Bundesland und für die je58
Bspw. § 1 BWAGSGB II, Gesetz vom 24. April 2004, BWGVBl S. 252 ff.; § 1 NdsASGB II, Gesetz vom 16. September 2004, NdsGVBl S. 220 ff.; andererseits § 1 NRWAGSGB II, Gesetz vom 16. Dezember NRWGBVl 2004, S. 821 ff.; § 9 SächsAGSGB Gesetz vom 6. Juni SächsGVBl 2002, S. 168 ff. 59 Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 6a Rn. 13 ff.
2004, 2004, 2004, 2002,
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weilige Gebietskörperschaft (Kreis, kreisfreie Stadt, abweichende kommunale Träger nach § 6 Abs. 2 SGB II a. F.). Regelmäßig handelte es sich dabei um das Vertretungsorgan (Rat, Kreistag) und nicht um das Exekutivorgan, da das Votum für die Option eine originäre Ermessensentscheidung der Kommune und daher auch von ihren Vertretungsorganen zu treffen war.60 Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales entschied dann durch Verordnung über die Zulassung der Kommunen. Der Antrag unterlag nach § 6a Abs. 4 Satz 1 SGB II a. F. der Zustimmungspflicht der zuständigen obersten Landesbehörde, welche regelmäßig durch die Ausführungsgesetze dasjenige Landesministerium war, welches für das Soziale61 oder für Arbeit62 zuständig war. Die erfolgten Zulassungen kommunaler Träger werden nunmehr auf Antrag entfristet (§ 6a Abs. 1 SGB II). Außerdem wird nach § 6a Abs. 2 SGB II eine begrenzte Zahl neuer Kommunen zugelassen. Diese haben eine Reihe von Anforderungen zu erfüllen. Sie müssen geeignet sein, sich verpflichten eine Zielvereinbarung mit dem Land abzuschließen, den weit überwiegenden Teil des Personals der Bundesagentur für Arbeit zu übernehmen sowie bestimmte Daten zu sammeln und der Bundesagentur zu übermitteln (§ 6a Abs. 2 Nr. 1–5 SGB II). Die Eignung stellt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales anhand von ihm aufgestellter Kriterien fest. Zur Gewähr der Beständigkeit müssen zwei Drittel der kommunalen Vertretungskörperschaft und die zuständige oberste Landesbehörde dem Zulassungsantrag zustimmen (§ 6a Abs. 2 SGB II). Die Zulassung als kommunaler Träger erfolgt also nur, wenn sich Bund, Länder und Kommunen einig sind. Ohne den Beitrag des jeweils anderen ist eine Zulassung nicht möglich. Keine Kommune kann in die Zulassung gezwungen werden; kein Land kann gezwungen werden, einem kommunalen Antrag zuzustimmen. Allein im Rahmen von Ansprüchen aus Gesichtspunkten der willkürfreien Gleichbehandlung ergeben sich Bindungen der Länder, die diese aber wesentlich mitprägen und verfassungsrechtlicher Natur sind. Auch faktisch ist nicht erkennbar, wie eine Kommune in die Option gezwungen werden könnte. Die Konsequenz eines Nicht-Antrags ist die Wahrnehmung der Aufgaben mit dem Bund in einer gemeinsamen Einrichtung nach Art. 91e Abs. 1 GG. Das bedeutet aber nicht an sich einen Nachteil, vielmehr entspricht es der vorgesehenen Regel-Exekutive der Grundsicherung. Die Möglichkeit der Zulassung ist eine Erweiterung des 60 Rixen, in: Eicher/Spellbrink (Hrsg.), SGB II, § 6a Rn. 14. Siehe abweichend zu den Stadtstaaten § 6a Abs. 2 Satz 2 SGB II. 61 Siehe etwa § 2 Abs. 1 NdsAGSGB II vom 16. Oktober 2004, NdsGVBl 2004, S. 358. 62 So bspw. § 2 NRWAGSGB II vom 16. Dezember 2004, NRWGVBl 2004, S. 821; § 1 Nr. 1 ThürZustVO-SGBII vom 24. August 2004, ThürGVBl 2004, S. 704.
E. Ergebnis
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kommunalen Handlungsspielraums. Ihr Verbot würde nicht dem Schutz der Kommunen dienen, sondern ihre Möglichkeiten beschränken. Nach dem oben ausgeführten, vor allem teleologischen Verständnis des Aufgabenübertragungsverbots, ist dies kein Fall, welcher den Anwendungsbereich des Aufgabenübertragungsverbots berührt. Sein Anliegen ist der Schutz der Kommunen. Seine Anwendbarkeit ist demzufolge auszuschließen, wo es eine Erweiterung kommunaler Handlungsspielräume verhindern würde. Die Verursachungsbeiträge von Bund, Ländern und Kommunen sind bei der Beurteilung der Frage nach einem Aufgabenübergriff voneinander in wertender Weise abzugrenzen. Im Zusammenhang mit der Option zeigt sich eindeutig, dass die Verursachungsbeiträge des Bundes eher formaler Natur sind und die Kommunen und die Länder als entscheidende Akteure auftreten. Die Aufgabenübertragung ist demnach diesen und nicht dem Bund i. S. v. Art. 84 Abs. 1 Satz 7 zuzurechnen. Daher liegt in der Ausweitung und Verstetigung der Option und der Zulassung neuer Kommunen in der konkreten, gegenwärtigen Form kein unzulässiger Bundesdurchgriff.
E. Ergebnis Art. 91e GG bedeutet vor allem die Legalisierung der Mischverwaltung von Bund und Kommunen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Damit löst sie das zentrale vom BVerfG benannte Problem.63 Die Zuständigkeit des Bundes bzw. der Bundesagentur für Arbeit werden zwar nicht ausdrücklich thematisiert und die systematische Zuordnung des Art. 91e GG mag unglücklich scheinen, weil im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsaufgaben eher Fragen des Wie der Aufgabenwahrnehmung statt des Ob der Aufgabenzuständigkeit abgehandelt werden. Zumindest implizit ist angesichts des eindeutigen Willens des verfassungsändernden Gesetzgebers aber davon auszugehen, dass der Bund und mit ihm die Bundesagentur für Arbeit in organisatorischer Hinsicht grds. die Aufgabenzuständigkeit im Rahmen der Grundsicherung über Art. 91e GG begründen können. Die Option wird durch Art. 91e Abs. 2 GG verstetigt und erweitert. In dieser Rechtskreiserweiterung der Kommunen und der konstitutiven Einbeziehung der Ländern in den Zulassungsprozess liegt kein verbotener Bundesdurchgriff. Zwar findet Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG auch im Rahmen der neuen Vorschrift Anwendung, greift aber in diesem Fall nicht durch. 63
BVerfGE 119, 331 ff.
Zusammenfassung in Thesen 1. Verfassungsrechtliche Kompetenznormen beziehen ihren Inhalt vor allem aus einer historischen und systematischen Analyse. Sie sind im Laufe der Zeit gewachsen und grenzen sich im verfassungsrechtlichen Gefüge der Verwaltungsebenen voneinander ab. 2. Verwaltungsaufgaben werden regelmäßig durch Gesetz geformt und einer Ebene übertragen (Aufgaben i. e. S.). Dabei folgt der Aufgabe die Verantwortung. Bund, Länder und Kommunen haben das Recht der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung. Die Aufteilung einzelner Verantwortlichkeiten – wie bspw. der Wahrnehmungs-, Aufsichts- oder Finanzierungsverantwortung – auf andere Träger ist demnach zu rechtfertigen. Dies kann verfassungsunmittelbar oder verfassungskonform durch das aufgabenübertragende Gesetz (Aufgaben i. w. S.) geschehen. 3. Vor allem Querschnittsaufgaben weisen Schnittmengen mit Kompetenzbereichen verschiedener Verwaltungsträger auf. Für sie erhöht sich der gesetzgeberische Spielraum einer Aufgabenzuweisung entsprechend. 4. Solche Querschnittsaufgaben finden sich in der Grundsicherung für Arbeitsuchende vor allem im Bereich der Arbeitsvermittlung, die sowohl historisch betrachtet wie auch angesichts ihrer konkreten Gestalt, Bezüge zu traditionell örtlichen Angelegenheiten (Fürsorge) und Bundesaufgaben (Sozialversicherung) aufweist. Eine Zuweisung dieser Aufgaben zur Bundesagentur für Arbeit über Art. 87 Abs. 2 GG war 2005 möglich. 5. Für die Regelleistungen gilt dies hingegen nicht. Eine Zuständigkeit der Bundesagentur ließ sich weder über Art. 87 Abs. 2 GG noch über dessen Abs. 3 Satz 1 oder Satz 2 erreichen. Sie fallen ausschließlich in den Anwendungsbereich des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG und hätten 2005 den Kommunen zugewiesen werden müssen. 6. Die den Kommunen 2005 zugewiesenen Aufgaben der Grundsicherung – vor allem jene im Bereich Heizung und Unterkunft – sind zwar örtliche Aufgaben, sie hätten aber nicht durch den Bund übertragen werden dürfen. Obwohl solche Übergriffe partiell nach Art. 84, 85 GG a. F. (noch) möglich waren, beschränkte sich dies auf punktuelle und erforderliche Übertragungen. Weder das eine noch das andere traf auf den Aufgabenübergriff im Rahmen der Grundsicherung zu.
Zusammenfassung in Thesen
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7. Die vom Gesetzgeber geteilte Zuständigkeit von Bund und Kommunen in der Grundsicherung wurde in der Aufgabenwahrnehmung (Wie) durch die ARGEn zusammengeführt (One-Stop-Agency). Diese Form der durchgreifenden Verflechtung stellte sich als unzulässige Mischverwaltung dar. Zwar ist Mischverwaltung nicht in jedem Fall verfassungswidrig, sondern nur soweit sie einen Verflechtungsgrad erreicht hat, der angesichts von Bundesstaats-, Rechtsstaats- und Demokratieprinzip sowie der kommunalen Selbstverwaltung nicht mehr zu rechtfertigen ist. Dieses Maß war bei den ARGEn überschritten. Das Recht eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung ist zum Schutz der Verwaltungsebenen ebenso gedacht wie zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor demokratischer Verantwortungslosigkeit in der öffentlichen Verwaltung. Gerade diese Verantwortungslosigkeit als Resultat intransparenter Verantwortungsstrukturen hat das BVerfG am 20. Dezember 2007 im Zusammenhang mit den ARGEn gerügt. 8. Im Anschluss daran musste die Verwaltung der Grundsicherung sowohl bzgl. ihrer Aufgabenverteilung (Ob) wie auch ihrer Verwaltungsorganisation (Wie) reformiert werden. 2010 führte der verfassungsändernde Gesetzgeber – nach langer Diskussion – den Art. 91e GG ein und legalisierte die Mischverwaltung der ARGEn (nun JobCenter) als Gemeinschaftsaufgabe. Gleichzeitig wurde dem Bund und mit ihm der Bundesagentur für Arbeit die Begründung der Aufgabenzuständigkeit im Zusammenhang mit den Regelleistungen ermöglicht. Die ausschließliche Wahrnehmung der SGB II-Verwaltung durch zugelassene kommunale Träger wurde durch Reform des Jahres 2010 verstetigt. Neben den bisherigen „Optionskommunen“ können u. U. weitere zugelassen werden. Ob die Auswahl der Kommunen in sachgerechter Weise erfolgen kann – vor allem, wenn die Zahl der Antragsteller diejenige der vorhandenen Plätze übersteigen, wird abzuwarten bleiben. Die Ausweitung und Verstetigung ist jedenfalls kein unzulässiger Aufgabendurchgriff i. S. d. Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG. Den Kommunen wird hier allein ein Vorteil verschafft; sie können nicht in die Zulassung gezwungen werden. Die Auslegung des Aufgabendurchgriffs hat dementsprechend normativ zu erfolgen.
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Sachwortverzeichnis Allzuständigkeit 32, 229, 241, 243, 245, 253, 265, 284–285 Anstalten 43, 122, 138, 142, 161, 164, 169, 216 Äquivalenz, globale 153 Arbeiterfrage 46, 48, 56, 59, 61, 68, 70, 145 Arbeitsgemeinschaft (ARGE) 121, 131, 136, 220, 341 Arbeitshäuser 43–44 Arbeitslosengeld 75, 89, 98, 102, 107, 119, 125, 128, 203 Arbeitslosengeld II 34, 104, 118, 125, 128, 131–132, 134, 137, 186, 193, 204, 212, 222 Arbeitslosenhilfe 89, 91, 98, 101, 103, 107–108, 110, 113, 117, 119, 198, 203, 212 – Anschluss-Arbeitslosenhilfe 89, 91 Arbeitslosenversicherung 56, 75, 78, 84, 89, 91, 116, 143, 146, 152, 197, 202, 204, 212, 214 Arbeitslosigkeit 34, 39, 43–44, 46, 51, 53–54, 60, 63, 68, 70, 74, 86, 89, 93, 96, 98, 101, 103, 107, 116, 120, 146, 151, 195, 198 – originäre 39, 44, 46, 53, 195 – strukturelle 66 Arbeitsmarktpolitik 54, 86, 94, 97, 101, 110, 194, 201–202, 280 Arbeitsnachweis 54, 63, 74–75, 102, 197 Arbeitsvermittlung 34, 36, 52, 54, 67, 74, 77, 81, 84, 89, 101, 107, 116, 121, 136, 194, 202, 213, 215, 219, 280, 283, 333 – kommunale 195, 281
Aufgaben – neue 172, 176, 180, 221, 314 – staatliche 30, 33, 160, 178, 215, 232, 234, 236, 238, 244, 247, 290 – zentrale 167–168, 173 Aufgabenentzug 236, 240 Aufgabenübertragung 32, 124, 164, 177, 246, 273, 279, 342, 346, 348, 353 Aufgabenübertragungsverbot 225, 343, 346, 349, 351 Aufgabenzuweisung 240, 255, 258, 292, 295–296, 300, 337, 340 Aufstocker 58, 98, 117, 198, 213 Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion der Kreise 262 Außenstellen 173, 175, 218, 220 Bedarf 55, 77, 172, 175, 180–181, 185–186, 188, 190, 193, 210, 222, 283 – Erforderlichkeit 184, 189–190, 219, 222, 278 Bedürfnis 166–167, 175, 182–184, 187, 217–218, 222, 309 Bundesagentur für Arbeit 89, 91, 96, 101, 103, 105, 107–108, 110, 115, 121, 126, 137, 193–194, 198, 203, 291 Bundesexekutive 26, 108, 138–139, 164, 167, 172, 180, 191, 193, 222–223, 277, 308 Bundesstaat 23, 83, 139, 293, 307 Bundesverwaltung – fakultative 163 – mittelbare 138, 143, 159–160, 163, 192 – unmittelbare 158, 226
Sachwortverzeichnis Demokratie 23, 67, 71, 83, 303, 310, 312, 316 – Legitimationsmodi 310–311, 313, 333 Dezentralisierung 55, 60 Dualismus der öffentlichen Sozialleistungen 58 Effektivität von Verwaltung 26, 171, 174, 191, 193, 223–224, 264, 288, 309, 321, 323–324 Eigenverantwortlichkeit 241, 243, 246, 248–249, 253, 256, 259, 266–267, 281, 284, 287, 321, 326 Einheitsprinzip 130, 269–270 Einrichtungskompetenz 164 Elberfelder-System 54–55 Entörtlichung 236 Erfüllungsverantwortung 28, 41, 130, 233, 247, 265, 272, 292, 342, 346 Errichtung 56, 81, 89, 121, 124, 139, 142, 146, 157, 159, 164, 168, 175, 177, 216, 277, 293 Erwerbslosenfürsorge 63, 73–74, 197 Fürsorge, öffentliche 76, 84, 103, 117, 208, 217, 281 Gemeinschaftsaufgaben 301–303, 308, 332, 336, 349 Gesetz zur Sicherung der Existenzgrundlagen (EGG) 106, 113, 118, 135 Gesetzgebungskompetenz 27, 68, 84, 119, 144, 154, 175, 182, 184, 213, 224, 228, 278–279, 293, 315 Globalsteuerung 86, 95 Grundsicherung für Arbeitsuchende 34, 76, 88, 102, 111, 118, 120, 132, 137–138, 186, 193, 204–205, 212, 222, 295 Heimatprinzip 38, 41–42, 46, 49, 195
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Implied powers 339 Individualisierung 55, 60, 109, 281 Industrialisierung 42, 48, 57, 196 Institutionelle Rechtssubjektsgarantie 239, 241, 256 Interkommunale Anwendbarkeit des Rechts kommunaler Selbstverwaltung 259 Jobcenter 106, 109, 341 Keynesianismus 85, 116 Kommunalisierung 37, 39–40, 90, 102, 225, 294 – der Armenfürsorge 37, 40 Körperschaft 158, 160–162, 194, 226, 255 – bundesunmittelbare 138, 142, 156–157, 160, 164, 215, 226 Krankenversicherung 79, 117, 144, 151, 203 – Merkmale der 149–150, 212 Kriegsfürsorge 62 Kriegswohlfahrtspflege 63 Liberalismus 47–48 Mischverwaltung 135, 303–304, 327, 333, 341 – deskriptive Ansicht 306 – normative Ansicht 303 Mittel- und Unterbehörden 175, 191–192, 221, 226 Nationalökonomie 47–48 New Public Management 26, 324–325 Normativverantwortung 45, 69 Objektive Rechtsinstitutionsgarantie 239, 241 Ökonomietheorie 95 Ökonomisierung 43–44 One-Stop-Agency 76, 326, 334, 336, 355
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Sachwortverzeichnis
Optionskommune 126, 128–129, 132, 134–136, 331, 334, 351 Ordoliberalismus 85, 116 Organisationsverantwortung 28, 41, 156, 275, 329 Ortsarmenverbände 49, 52, 195 Pädagogisierung 43–44, 99 Pauperismus 46, 51, 195, 288 Pflegeversicherung 149 Proletarisierung 46, 50 Querschnittsaufgaben 33, 144, 300, 303, 322, 327, 331, 334 Rationalisierung 40–41, 66, 98 Rechtsstaat 23, 71, 291, 309 Regelleistungen 62, 76–77, 112–113, 120, 194, 207, 209, 212, 221, 280, 283–284, 337 Rentenversicherung 110, 117, 151, 219 Schuldprinzip 39 Selbstverwaltung 30, 37, 41, 45, 58–59, 65, 69, 77–78, 80, 84, 88–89, 121, 131, 159, 162–163, 193, 227, 231–232, 239, 268, 272, 283, 295, 314–315 – funktionale 162, 260 – kommunale 227, 229, 238, 252, 260, 295, 316, 339 Selbstverwaltungsaufgabe – formelle 282, 284, 287, 290–291, 299 – freiwillige 232, 235 – pflichtige 292 Selbstverwaltungseinrichtungen, bundesunmittelbare 141–142, 156 Sozialdisziplinierung 43 Sozialhilfe 34, 60, 76, 93, 96, 98–99, 103, 109, 111, 119–120, 129, 186, 198, 212, 297
Sozialpolitik 45, 48, 52, 55–56, 59, 61, 67, 76, 78, 94–95, 116, 118, 199 Sozialstaat 95, 100, 116, 324 Sozialstaatsprinzip 83, 93 Sozialversicherung 56–58, 80–81, 87–88, 119, 130, 143–144, 158, 162, 169, 171, 194–195, 198, 213 Sozialversicherungsträger 141, 154, 156, 160–161, 169, 171, 214 Sozialverwaltung 158, 161, 171, 206, 217–219 Subjektive Rechtsstellungsgarantie 239 Subsidiarität 60, 72, 76, 169–170, 217–218, 261 Trennungsgrundsatz 303–304 Unfallversicherung 57 Ungeschriebene Kompetenz, Annexkompetenz 331 Ungeschriebene Kompetenzen – Annexkompetenz 27, 279 – kraft Sachzusammenhangs 202, 204, 339 Unmittelbarer Bundesdurchgriff 131, 274, 293, 344 Unterstützungswohnsitzgesetz (UWG) 49–50, 52, 69, 72, 75 Verantwortungsbereiche 38, 58, 89 Verein für Socialpolitik 48 Versicherungsfremde Leistungen 154, 202–203 Verursachungsprinzips 62 Verwaltungskompetenz 20, 25, 27, 30, 34, 137, 139, 164, 173, 177, 181, 190, 194, 226, 264, 315, 319 Verwaltungsunterbau 138, 160, 163, 167, 170, 172–173, 175, 178, 180, 190–191, 193, 197, 218, 220, 223, 281
Sachwortverzeichnis Wirkungskreis – eigener 232, 235, 251, 264, 317 – übertragener 32, 232, 251, 255, 257, 259, 264, 267, 278, 346
Wirkungskreislehre 232–233, 235 Wohlfahrtsstaat 71 Wohnsitzprinzip 49, 195 Zentralstellen 140, 158
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