Vertrauensgrundsatz Und Rechtsstaatlichkeitskrise in Der Eu (German Edition) 3161626923, 9783161626920

Vertrauen ist gut, ist Kontrolle besser? Ein zentraler aktueller Diskurs im EU-Recht kreist um das Verhaltnis zwischen d

133 41 9MB

German Pages 394 [397] Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Erster Teil: Die Genese und Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes in unterschiedlichen Referenzgebieten
1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt
A. Vertrauen als Grundlage des Rechtsinstituts der gegenseitigen Anerkennung
I. Gegenseitige Anerkennung in harmonisierten Bereichen
II. Gegenseitige Anerkennung in nicht harmonisierten Bereichen: Die Cassis-de-Dijon-Doktrin
III. Weißbuch der Kommission aus dem Jahr 1985
IV. Rechtsgrundlage des Anerkennungsgrundsatzes
V. Grenzen des Anerkennungsgrundsatzes: Art. 36 AEUV, zwingende Erfordernisse und Misstrauen
B. Vertrauen als Hindernis für die Durchsetzung eigener Werte in anderen Mitgliedstaaten
C. Vertrauen als Rechtsgrundsatz: Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit
D. Vertrauen als Ziel sekundärrechtlicher Maßnahmen
E. Zwischenergebnis
2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
A. Vertrauen als (stillschweigende) grundlegende Prämisse
B. Übertragbarkeit des Anerkennungsprinzips auf den RFSR
C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen
I. Rechtsetzung: Absolutes Nachprüfungsverbot
II. EuGH-Rechtsprechung: Ableitung von Kontrollverzichtspflichten
III. Stellungnahme
IV. Fazit
D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
I. Entwicklung des Anerkennungsprinzips
II. Begriff und Reichweite des Anerkennungsprinzips in Strafsachen
III. Grenzen des Anerkennungsprinzips
IV. Vertrauen als Grundlage und Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung
1. Unionsrechtspolitik und Unionsrechtsetzung
2. EuGH-Rechtsprechung: Gözütok-und Brügge-Urteil
V. Insbesondere: Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl
1. Grundlagen
2. „Justizbehörde“
3. Ausstellung des Europäischen Haftbefehls: Zweistufiger Rechtsschutz
4. Höherer nationaler Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauens
5. Unionaler Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauens
VI. Grundsätze der Anerkennung und des Vertrauens in weiteren strafrechtlichen Sekundärrechtsakten
VII. Vertrauensstärkung
VIII. Fazit
E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)
I. Rechtsrahmen
II. Vertrauen als „raison d’eˆtre“ des Dublin-Systems
1. Widerlegbarkeit des Vertrauensgrundsatzes: Systemische Mängel im Zielstaat oder fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien
2. Einzelfallprüfung bei drohender Verletzung von Art. 4 GRCh ungeachtet des Vorliegens systemischer Mängel im Zielstaat
3. Keine Widerlegung bei Verletzung von Unionsgrundrechten ohne absoluten Charakter
III. Vorschlag für ein neues Migrations- und Asylpaket
1. Insbesondere: Vorschlag für eine neue Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung
2. Vertrauen als Ziel des neuen Pakets
IV. Fazit
F. EGMR und Vertrauensgrundsatz
I. Bosphorus-Vermutung
II. Vermutung konventionskonformen Handelns
III. Fazit
G. Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauensgrundsatzes im RFSR
I. Unionsgrundrechte mit absolutem Charakter
II. Unionsgrundrechte ohne absoluten Charakter
III. Horizontaler Solange-Vorbehalt
H. Zwischenergebnis
3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht
A. Finanzaufsicht vor der Finanzkrise
I. Vertrauen als Grundlage des Europäischen Passes
II. Das Lamfalussy-Verfahren
III. Der De Larosie`re-Bericht
B. Finanzaufsicht nach der Finanzkrise: Das Europäische System der Finanzaufsicht (ESFS)
I. Europäische Aufsichtsbehörden
1. Institutionelle Struktur
2. Aufgaben und Regulierungsbefugnisse
II. Nationale Aufsichtsbehörden als Hauptakteure
1. Europäischer Pass und Vertrauen
2. Vertrauensstärkung durch Kooperation
III. Fazit
C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht
I. Einheitlicher Aufsichtsmechanismus (SSM)
1. Zentralisierung der Aufsicht bei der EZB
2. Zuständigkeit der Mitgliedstaaten
II. Markteintritt und Zulassungserteilung
III. Europäischer Pass
IV. Verteilung der Aufsichtsbefugnisse
V. Vertrauensstärkung durch Kooperation
1. ESFS
2. SSM
VI. Umgekehrter Vollzug und vertikale Aufhebungsentscheidungen im SSM
VII. Verhältnis zwischen EZB und EBA
D. Inhalt des Vertrauensgrundsatzes
E. Grenzen des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des Europäischen Passes
F. Zwischenergebnis
Zweiter Teil: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip und Ausdruck föderaler Verfasstheit der EU
4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff
A. Vertrauen im Unionsrecht: eine interdisziplinäre Annäherung
I. Dreigliedrige Struktur: Akteure und Bezugspunkte Vertrauens
II. Kooperation und Komplexitätsreduktion
III. Inhärentes Wagnis und Vertrauenswürdigkeit
IV. Widerlegbarkeit
V. Gegenseitigkeit
B. Vertrauen und Recht: Wechselseitige Bedingtheit
C. Vertrauen als Recht
D. Definition
E. Vertrauen, Anerkennung und Gleichwertigkeit
I. Gleichwertigkeit der nationalen Vorschriften und Anerkennungsgrundsatz
II. Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen und Vertrauensgrundsatz
III. Der transnationale Verwaltungsakt
IV. Vertrauen und Anerkennung
F. Zwischenergebnis
5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU
A. Primärrechtliche Verankerung
I. Werte der EU
II. Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten
III. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit
1. Adressaten
a) Horizontalverhältnis
b) Vertikalverhältnis
2. Vertragsakzessorietät
B. Funktionen
I. Praktische Wirksamkeit (effet utile) des Unionsrechts bzw. der einzelnen Kooperationspflichten
II. Wertesicherung im föderalen Verfassungsverbund
1. Vertikale Ebene: Kompetenzsicherung
a) Nationale Verwaltungsbehörden als funktionale europäische Verwaltungsstellen
b) EuGH als Hüter der Werteunion
2. Horizontale Ebene: Zuständigkeitszuordnung
III. Vielfalt in der Einheit
IV. Einheit in der Vielfalt
C. Grenzen
I. Feststellungsbeschluss des Rates nach dem Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren
II. Unionsrechtlicher Ordre-public-Vorbehalt geknüpft an Art. 2 EUV
III. Identitätswahrung der Mitgliedstaaten
1. Abwehrrecht gegen den Vorrang des Unionsrechts
2. Tauglichkeit als Grenze des Vertrauens
IV. Sekundärrechtliche Ausnahmen
D. Trias der Vertrauensgenerierung, Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung
I. Vertrauensgenerierung durch Harmonisierung
II. Vertrauensförderung durch Informationsaustausch
III. Vertrauenssicherung durch Kontrolle
E. Zwischenergebnis
Dritter Teil: Der Vertrauensgrundsatz und die EU-Rechtsstaatlichkeitskrise
6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit alsWert und Strukturprinzip der EU
A. Die Europäische Union als Werteunion
B. Europäische Rechtsstaatlichkeit: Ein über den Wertekatalog hinausgehendes Prinzip
I. Zusammenhang zwischen Rechtsstaatlichkeit und Vertrauen
II. Das Kopenhagener Kriterium der Rechtsstaatlichkeit im Beitrittsverfahren
C. Rückschrittsverbot
D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung und Grenze der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie
I. Unabhängigkeit der Gerichte als konstituierender Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit
II. Das bahnbrechende ASJP-Urteil
III. Weiterentwicklung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit
1. Ernennung der Richter
2. Grundsatz der Unabsetzbarkeit
3. Disziplinarmaßnahmen
E. Unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Vorrang des Unionsrechts
I. Insbesondere: Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen
II. Selbstermächtigung des EuGH jenseits seiner Kompetenzen
F. Zwischenergebnis
7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament
A. Rechtsstaatlichkeitskrise als Vertrauenskrise
B. Die Systemische-Mängel-Doktrin
I. Systemischer Mangel als Rechtsbegriff
II. Ansätze in der EuGH-Rechtsprechung
1. Asylrecht
2. Europäischer Haftbefehl
III. Systemische Mängel und Vertrauensgrundsatz
1. Insbesondere: „Justizbehörden“ im Mechanismus des Europäischen Haftbefehls und richterliche Unabhängigkeit
2. Umkehr der Beweislast
C. Zwischenergebnis
8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung durch Maßnahmen gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise
A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen
I. Art. 7 EUV-Verfahren
1. Der Präventionsmechanismus
2. Der Sanktionsmechanismus
3. Politische Natur und (Un-)Wirksamkeit des Art. 7 EUV-Verfahrens
II. EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips
III. Verbesserungsvorschläge
IV. EU-Justizbarometer
V. Rechtsstaatsdialog im Rat
VI. Mitteilung der Kommission vom Juli 2019
1. Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit
2. Parteienfinanzierung
VII. Fazit
B. Gesetzgebungsinitiativen
I. Konditionalitätsmechanismus
1. Vorschlag der Kommission
2. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020
3. Rechtsstaatsverordnung 2021
4. Stellungnahme
II. ESIF-Dachverordnungen 2013 und 2021
III. Fazit
C. Gerichtliche Initiativen
I. Vertragsverletzungsverfahren
1. Justiziabilität der Rechtsstaatlichkeit
2. Vereinbarkeit mit Art. 7 EUV
3. Erfolgsaussichten
a) Zulässigkeit
b) Begründetheit
aa) Art. 2 S. 1 EUV
bb) Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 47 GRCh
c) Kreative Ermessensausübung durch die Kommission
4. Einziehung durch Verrechnung als effektive Durchsetzungsmaßnahme
II. Vorabentscheidungsverfahren
1. Die Unabhängigkeit des vorlegenden Gerichts im Lichte der frühen EuGH-Rechtsprechung
2. Die Weiterentwicklung des Unabhängigkeitskriteriums
3. Das Banco de Santander-Urteil: Entkontextualisierung des Begriffs der Unabhängigkeit?
4. Das Kriterium der Unabhängigkeit im Rahmen von Art 267 AEUV einerseits und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV andererseits
a) Das Torresi-Urteil als Ausgangspunkt
b) Kontextualisierung
III. Fazit
D. Zwischenergebnis
Resümee
Literaturverzeichnis
Sachregister
Recommend Papers

Vertrauensgrundsatz Und Rechtsstaatlichkeitskrise in Der Eu (German Edition)
 3161626923, 9783161626920

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Studien zum europäischen und deutschen Öffentlichen Recht herausgegeben von Christian Calliess und Matthias Ruffert

47

Konstantina-Antigoni Poulou

Vertrauensgrundsatz und Rechtsstaatlichkeitskrise in der EU

Mohr Siebeck

Konstantina-Antigoni Poulou, geboren 1994; Studium der Rechtswissenschaft an der Aristoteles Universität in Thessaloniki und in Heidelberg; 2023 Promotion (Heidelberg); Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht der Universität Heidelberg; Rechtsreferendariat am Staatsrat in Griechenland; Magister Juris an der Universität Oxford; Rechtsanwältin; Rechtsberaterin im Finanzministerium in Griechenland. orcid.org/0009-0002-4144-3193

Zugleich: Heidelberg, univ., Diss., 2023 ISBN 978-3-16-162692-0 / eISBN 978-3-16-162738-5 DOI 10.1628/978-3-16-162738-5 ISSN 2192-2470 / eISSN 2569-443X (Studien zum europäischen und deutschen Öffentlichen Recht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Beltz Grafische Betriebe in Bad Langensalza auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und dort gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2022/2023 von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Sie entstand im Wesentlichen während meiner Tätigkeit als Mitarbeiterin am Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht. Für die Drucklegung konnten Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur bis März 2023 umfassend, spätere Entwicklungen noch bis Juli 2023 punktuell berücksichtigt werden. Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang Kahl, M.A. Durch die Annahme als Doktorandin und Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl ging ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Seine wertvollen wissenschaftlichen Anregungen und seine weiterführende Kritik haben diese Arbeit wesentlich bereichert. Für seine vorbehaltlose Unterstützung in fachlicher und persönlicher Hinsicht möchte ich ihm nachdrücklich danken. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie für wertvolle inhaltliche Anregungen bin ich Herrn Prof. Dr. Hanno Kube, LL.M. (Cornell) zu Dank verpflichtet. Herzlicher Dank gebührt ferner meinem akademischen Lehrer an der Aristoteles Universität Thessaloniki, Herrn Prof. Dr. Konstantinos Gogos, der durch seine Ratschläge und Diskussionsbereitschaft meinen wissenschaftlichen Werdegang entscheidend gefördert hat. Danken möchte ich darüber hinaus meinen früheren Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl. Sie haben einen wesentlichen Mitanteil daran, dass mir meine Zeit in Heidelberg stets als sehr angenehmer und produktiver Abschnitt meines Lebens in bester Erinnerung bleiben wird. Dies gilt insbesondere für Prof. Dr. Torben Ellerbrok, Prof. Dr. Patrick Hilbert und Prof. Dr. Jacqueline Lorenzen, die durch ihre tatkräftige Unterstützung zum Gelingen dieser Arbeit beitrugen. Wegen ihres besonderen Platzes in meinem (Heidelberger) Herzen seien daneben Dr. Annika Vorfelder, Dr. Robert Pracht und Dr. Felix Kaiser für ihre Freundschaft und ständige Ermutigung namentlich genannt. Für ihre Geduld und (teilweise) grenzüberschreitende Unterstützung bin ich daneben allen meinen Freunden, namentlich Dimitris, Angelika, Ismini, Maria, Marilena, Marina, Nikos, Sophia, Teo, Valia, Vassilis, und meiner UB-Partnerin, Roza, sehr dankbar, die gerade während der Pandemie zu einer unschätzbaren Stütze wurden. Der Konrad-Adenauer-Stiftung bin ich für ihre finanzielle und ideelle Promotionsförderung zu großem Dank verpflichtet.

VI

Vorwort

Für die ehrenvolle Aufnahme meiner Dissertation in die Schriftenreihe „Studien zum europäischen und deutschen Öffentlichen Recht“ möchte ich den Herausgebern, Herrn Prof. Dr. Christian Calliess und Herrn Prof. Dr. Matthias Ruffert, danken. Mein allergrößter Dank gebührt aber meinen Eltern, Giorgos Poulos und Evridiki Christodoulou, die sich mit allen Kräften für die Entstehung dieser Arbeit eingesetzt haben sowie meiner Schwester, Dr. Anastasia Poulou, die seit Kindestagen mein wertvollstes Vorbild war. Ohne ihre stete und großartige Unterstützung hätte dieses Vorhaben nicht gelingen können. Ihnen ist diese Arbeit in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Athen, im Oktober 2023

Konstantina-Antigoni Poulou

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Erster Teil: Die Genese und Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes in unterschiedlichen Referenzgebieten . . .

7

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

A. Vertrauen als Grundlage des Rechtsinstituts der gegenseitigen Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenseitige Anerkennung in harmonisierten Bereichen . . . . . . . . . . II. Gegenseitige Anerkennung in nicht harmonisierten Bereichen: Die Cassis-de-Dijon-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Weißbuch der Kommission aus dem Jahr 1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsgrundlage des Anerkennungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Grenzen des Anerkennungsgrundsatzes: Art. 36 AEUV, zwingende Erfordernisse und Misstrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B.

9 9 11 12 14 15

Vertrauen als Hindernis für die Durchsetzung eigener Werte in anderen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

C. Vertrauen als Rechtsgrundsatz: Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

D. Vertrauen als Ziel sekundärrechtlicher Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . .

25

Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

A. Vertrauen als (stillschweigende) grundlegende Prämisse . . . . . . . . . . .

33

Übertragbarkeit des Anerkennungsprinzips auf den RFSR . . . . . . . . .

36

E.

B.

VIII

Inhaltsverzeichnis

C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsetzung: Absolutes Nachprüfungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. EuGH-Rechtsprechung: Ableitung von Kontrollverzichtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Anerkennungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff und Reichweite des Anerkennungsprinzips in Strafsachen Grenzen des Anerkennungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertrauen als Grundlage und Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unionsrechtspolitik und Unionsrechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. EuGH-Rechtsprechung: Gözütok-und Brügge-Urteil . . . . . . . . . . . V. Insbesondere: Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Justizbehörde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausstellung des Europäischen Haftbefehls: Zweistufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Höherer nationaler Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Unionaler Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauens . . . . . . . VI. Grundsätze der Anerkennung und des Vertrauens in weiteren strafrechtlichen Sekundärrechtsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Vertrauensstärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

D. I. II. III. IV.

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vertrauen als „raison d’eˆtre“ des Dublin-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Widerlegbarkeit des Vertrauensgrundsatzes: Systemische Mängel im Zielstaat oder fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfallprüfung bei drohender Verletzung von Art. 4 GRCh ungeachtet des Vorliegens systemischer Mängel im Zielstaat . . . . 3. Keine Widerlegung bei Verletzung von Unionsgrundrechten ohne absoluten Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vorschlag für ein neues Migrations- und Asylpaket . . . . . . . . . . . . . . 1. Insbesondere: Vorschlag für eine neue Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertrauen als Ziel des neuen Pakets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 40 41 46 48 48 49 50 52 54 54 55 56 56 58 62 65 66 73 76 78 80 82 85

86 89 92 94 94 96 97

Inhaltsverzeichnis

IX

EGMR und Vertrauensgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bosphorus-Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermutung konventionskonformen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 100 106 108

G. Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauensgrundsatzes im RFSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unionsgrundrechte mit absolutem Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unionsgrundrechte ohne absoluten Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Horizontaler Solange-Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109 110 111 112

H. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht . . . . . . . . . . .

117

Finanzaufsicht vor der Finanzkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertrauen als Grundlage des Europäischen Passes . . . . . . . . . . . . . . . Das Lamfalussy-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der De Larosie`re-Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117 118 121 122

Finanzaufsicht nach der Finanzkrise: Das Europäische System der Finanzaufsicht (ESFS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Europäische Aufsichtsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Institutionelle Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufgaben und Regulierungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nationale Aufsichtsbehörden als Hauptakteure . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäischer Pass und Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertrauensstärkung durch Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 124 125 126 128 129 131 132

F. I. II. III.

A. I. II. III. B.

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . I. Einheitlicher Aufsichtsmechanismus (SSM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zentralisierung der Aufsicht bei der EZB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuständigkeit der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Markteintritt und Zulassungserteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Europäischer Pass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verteilung der Aufsichtsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Vertrauensstärkung durch Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ESFS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. SSM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Umgekehrter Vollzug und vertikale Aufhebungsentscheidungen im SSM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Verhältnis zwischen EZB und EBA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133 134 136 138 140 141 143 145 145 146 149 152

D. Inhalt des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154

X E.

Inhaltsverzeichnis

Grenzen des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des Europäischen Passes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Zweiter Teil: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip und Ausdruck föderaler Verfasstheit der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-) Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

A. I. II. III. IV. V.

Vertrauen im Unionsrecht: eine interdisziplinäre Annäherung . . . . . . . Dreigliedrige Struktur: Akteure und Bezugspunkte Vertrauens . . . . Kooperation und Komplexitätsreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhärentes Wagnis und Vertrauenswürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerlegbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165 166 168 168 171 172

B.

Vertrauen und Recht: Wechselseitige Bedingtheit . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

C. Vertrauen als Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

D. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

Vertrauen, Anerkennung und Gleichwertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichwertigkeit der nationalen Vorschriften und Anerkennungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen und Vertrauensgrundsatz III. Der transnationale Verwaltungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vertrauen und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

F.

E. I.

F.

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

177 179 180 181

185

A. I. II. III.

Primärrechtliche Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werte der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Horizontalverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertikalverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsakzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

186 186 187 189 189 190 191 194

B. I.

Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Wirksamkeit (effet utile) des Unionsrechts bzw. der einzelnen Kooperationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195 196

Inhaltsverzeichnis

II. Wertesicherung im föderalen Verfassungsverbund . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertikale Ebene: Kompetenzsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationale Verwaltungsbehörden als funktionale europäische Verwaltungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) EuGH als Hüter der Werteunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Horizontale Ebene: Zuständigkeitszuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vielfalt in der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einheit in der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI 198 199 200 201 202 204 206

C. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Feststellungsbeschluss des Rates nach dem Art. 7 Abs. 2 EUVVerfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unionsrechtlicher Ordre-public-Vorbehalt geknüpft an Art. 2 EUV III. Identitätswahrung der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abwehrrecht gegen den Vorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . 2. Tauglichkeit als Grenze des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sekundärrechtliche Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207 208 209 210 212 214

D. Trias der Vertrauensgenerierung, Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertrauensgenerierung durch Harmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vertrauensförderung durch Informationsaustausch . . . . . . . . . . . . . . III. Vertrauenssicherung durch Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 216 217 219

Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

Dritter Teil: Der Vertrauensgrundsatz und die EURechtsstaatlichkeitskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

A. Die Europäische Union als Werteunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

E.

206

B.

Europäische Rechtsstaatlichkeit: Ein über den Wertekatalog hinausgehendes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenhang zwischen Rechtsstaatlichkeit und Vertrauen . . . . . . II. Das Kopenhagener Kriterium der Rechtsstaatlichkeit im Beitrittsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

C. Rückschrittsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236

D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung und Grenze der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . I. Unabhängigkeit der Gerichte als konstituierender Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228 232

238 238

XII

Inhaltsverzeichnis

II. Das bahnbrechende ASJP-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Weiterentwicklung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ernennung der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsatz der Unabsetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Vorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Insbesondere: Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Selbstermächtigung des EuGH jenseits seiner Kompetenzen . . . . . . .

240 243 243 245 247

E.

251 253 254

Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

256

7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

A. Rechtsstaatlichkeitskrise als Vertrauenskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

B. Die Systemische-Mängel-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Systemischer Mangel als Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ansätze in der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Asylrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäischer Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Systemische Mängel und Vertrauensgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Insbesondere: „Justizbehörden“ im Mechanismus des Europäischen Haftbefehls und richterliche Unabhängigkeit . . . . 2. Umkehr der Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260 260 263 263 265 267

C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung durch Maßnahmen gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise . . . . . . . . . . . . . . .

273

F.

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Art. 7 EUV-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Präventionsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Sanktionsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Politische Natur und (Un-)Wirksamkeit des Art. 7 EUVVerfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . III. Verbesserungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. EU-Justizbarometer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rechtsstaatsdialog im Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Mitteilung der Kommission vom Juli 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267 270

273 274 275 276 277 278 281 283 283 284

Inhaltsverzeichnis

XIII

1. Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 2. Parteienfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285 287 287

Gesetzgebungsinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konditionalitätsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorschlag der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsstaatsverordnung 2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. ESIF-Dachverordnungen 2013 und 2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288 289 290

B. I.

291 294 296 300 302

C. Gerichtliche Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Justiziabilität der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarkeit mit Art. 7 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erfolgsaussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 2 S. 1 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 47 GRCh . . . . . . . c) Kreative Ermessensausübung durch die Kommission . . . . . . 4. Einziehung durch Verrechnung als effektive Durchsetzungsmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unabhängigkeit des vorlegenden Gerichts im Lichte der frühen EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Weiterentwicklung des Unabhängigkeitskriteriums . . . . . . . . 3. Das Banco de Santander-Urteil: Entkontextualisierung des Begriffs der Unabhängigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Kriterium der Unabhängigkeit im Rahmen von Art. 267 AEUV einerseits und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV andererseits a) Das Torresi-Urteil als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303 304 304 306 307 307 309 310 312 315

322 322 323 326

D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

316 318 320 320 321

XIV

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373

Abkürzungsverzeichnis a.E. a.A. ABl. EG/EU AdmLRev. AEUV a.F. AL AöR Az. Bd. BKR BVerfG BVerfGE BVerwG CETA CJEL CJEU CMLRev. CMS CLJ CYELP CYELS DAR ders. d.F. dies. DÖV DRiZ DVBl EBA EBLR ECB ECJ ECLIC ECOFIN EEA EG

auf Englisch anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/der Europäischen Union Administrative Law Review Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Ad Legendum Archiv des öffentlichen Rechts Aktenzeichen Bank Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Comprehensive Economic and Trade Agreement Columbia Journal of European Law Court of Justice of the European Union Common Market Law Review Comparative Migration Studies Cambridge Law Journal Croatian Yearbook of European Law and Policy Cambridge Yearbook of European Legal Studies Deutsches Autorecht derselbe deutsche Fassung dieselbe(n) Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt European Banking Authority European Business Law Review European Central Bank European Court of Justice EU and Comparative Law Issues and Challenges Series Economic and Financial Affairs Council Einheitliche Europäische Akte/Europäische Ermittlungsanordnung Europäische Gemeinschaft(en)

XVI EGMR EGV EJC EJHR EJIR EJLS EJRR EIOPA EMRK ELRev. ELJ endg. EnzEuR EP EPA EPL ERA Forum Erwägungsgr. ESFS ESIF ESMA ESRB EuCLR EuConst eucrim EuG EuGH EuGHVfO EuGRZ EuHb EuR EUV EUZ EuZA EuZW EWG EWGV EWS EZB FAZ Fn. Fordham ILJ FS GA GEAS GewA GFK GG

Abkürzungsverzeichnis Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice European Journal of Human Rights European Journal of International Relations European Journal of Legal Studies Articles European Journal of Risk Regulation European Insurance and Occupational Pensions Authority Europäische Menschenrechtskonvention European Law Review European Law Journal endgültig Enzyklopädie Europarecht European Papers European Policy Analysis European Public Law Journal of the Academy of European Law Erwägungsgrund/Erwägungsgründe European System of Financial Supervision European Structural and Investment Funds European Securities and Markets Authority European Systemic Risk Board European Criminal Law Review European Constitutional Law Review European criminal law and human rights Gericht der Europäischen Union Gerichtshof der Europäischen Union Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäischer Haftbefehl Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union Zeitschrift für Europarecht Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Europäische Zentralbank Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote Fordham International Law Journal Festschrift Generalanwalt am EuGH Gemeinsames Europäisches Asylsystem Gewerbearchiv Genfer Flüchtlingskonvention Grundgesetz

Abkürzungsverzeichnis GLJ Gov. Oppos. GRCh HdB HFR HILJ HJLRev. HVwR ICLQ ICON i.d.n.F. IJRL IPRax i.V.m. JCMS JECL & Pract. JEPP JEurIntegr. JIBLR JöR JPIL JRP JuS JZ Kap. lit. LQR MJ m.w.N. n.F. NILRev. NJECL NJW No. Nr. NStZ NuR NVwZ OLG PELJ PSPP PYIL RabelsZ REALaw RFSR RIW RL

XVII

German Law Journal Government and Opposition Charta der Grundrechte der Europäischen Union Handbuch Humboldt Forum Recht Harvard International Law Journal Hague Journal on the Rule of Law Handbuch des Verwaltungsrechts The International and Comparative Law Quarterly International Journal of Constitutional Law in der neuen Fassung International Journal of Refugee Law Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrecht in Verbindung mit Journal of Common Market Studies Journal of European Competition Law & Practice Journal of European Public Policy Journal of European Integration Journal of International Banking Law and Regulation Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal of Private International Law Journal für Rechtspolitik Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel littera Law Quarterly Review Maastricht Journal of European and Comparative Law mit weiteren Nachweisen neue Fassung Netherlands International Law Review New Journal of European Criminal Law Neue Juristische Wochenschrift number Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Zeitschrift für das gesamte Recht zum Schutze der natürlichen Lebensgrundlagen und der Umwelt Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberlandesgericht Potchefstroom Electronic Law Journal Public Sector Purchase Programme Polish Yearbook of International Law Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Review of European Administrative Law Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Recht der Internationalen Wirtschaft Richtlinie

XVIII Rn. Rs. RTDEur. RuP S. Slg. sog. SRM SSM StV TILJ UAbs. ULRev. verb. Rs. VerfBlog VerwArch VO VuR WM YEL ZaöRV ZAR ZBB ZEuP ZEuS ZfBR ZfPW ZHR ZIS ZRP ZSR ZStW ZVglRWiss

Abkürzungsverzeichnis Randnummer Rechtssache Revue trimestrielle de droit europe´en Recht und Politik Satz/Seite(n)/siehe Amtliche Sammlung des Gerichtshofes der Europäischen Union sogenannte(r) Single Resolution Mechanism Single Supervisory Mechanism Strafverteidiger Texas International Law Journal Unterabsatz Utrecht Law Review verbundene Rechtssachen Verfassungsblog Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik Verordnung Verbraucher und Recht Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankenrecht Yearbook of European Law Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht- und Ausländerpolitik Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für deutsches und internationales Bau- und Vergaberecht Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft

Einleitung Vertrauen ist gut, ist Kontrolle besser?1 Ein zentraler aktueller Diskurs im EURecht kreist um das Verhältnis zwischen der Vertrauenswürdigkeit der Mitgliedstaaten in Bezug auf die rechtmäßige Umsetzung und Anwendung des Unionsrechts einerseits und der Notwendigkeit von Eingriffsmaßnahmen auf EU-Ebene zur Verteidigung der Unionswerte andererseits.2 Die Entwicklung von „Vertrauen“ zum Kernbegriff des Unionsrechts zeigte sich bereits eindrücklich anhand des EMRK-Beitrittsgutachtens des EuGH aus dem Jahr 2014, in welchem der Gerichtshof aus dem Vertrauensgrundsatz folgerte, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts „weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte zu verlangen als das durch das Unionsrecht gewährleistete, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat“.3

Demzufolge wird die Unionsrechtstreue der Mitgliedstaaten bei unionsrechtlichen Kooperationsbeziehungen grundsätzlich nicht in Zweifel gezogen bzw. geprüft. Vertrauen stellt somit nicht eine – unter mehreren – Voraussetzung(en) für die horizontale Verwaltungskooperation zwischen den Mitgliedstaaten dar, sondern die einzige Voraussetzung, auf der zudem das zentrale Rechtsinstitut der gegenseitigen Anerkennung basiert.4 Aufgrund der fehlenden primärrechtlichen Verankerung herrscht allerdings keine Einigkeit über die Rechtsgrundlage des Vertrauensgrundsatzes, dessen (genauen) normativen Gehalt, die Bezugspunkte des Vertrauens sowie die daraus resultierenden Rechtsfolgen für die Mitgliedstaaten und gegebenenfalls die Unionsorgane.

1 Vgl. die Beitragstitel von K. Müller, ZEuS 2016, 345 (345 ff.); A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (105 ff.). 2 S. A. von Bogdandy, ZaöRV 79 (2019), 503 (508 ff.); J.-W. Müller, ELJ 21 (2015), 141 (144 ff.). 3 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 192 – Beitritt der Union zur EMRK. 4 So etwa E. Schmidt-Aßmann, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, 263 (269 f.); ähnlich M. Hartmann, Europäisierung und Verbundvertrauen, 2015, S. 15; E. Schmidt-Aßmann/A.-K. Kaufhold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. II, 3. Aufl. 2022, § 27, Rn. 18.

2

Einleitung

Die Verrechtlichung des herkömmlichen sozialen5 Vertrauensbegriffs basiert weitgehend auf den in Art. 2 EUV proklamierten Unionswerten, die alle Mitgliedstaaten teilen und bei der Durchführung des Unionsrechts stets achten müssen.6 Die Annahme, dass die Unionswerte in den Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommen und in ihrem Inhalt mit den grundlegenden nationalen Wertentscheidungen übereinstimmen, bildet dabei den Kern der Vertrauensvermutung.7 Die in mehreren Mitgliedstaaten ausgebrochene Rechtsstaatlichkeitskrise,8 d.h. die Erosion der Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 S. 1 EUV) durch mitgliedstaatliche Maßnahmen, rückt allerdings die Frage nach den Grenzen des diesen Mitgliedstaaten entgegenzubringenden Vertrauens in den Vordergrund. Dies nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass „Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union keine Option [ist]. Sie ist Pflicht.“9 Wo endet die Autonomie der Mitgliedstaaten, über die Durchsetzung der Unionswerte – insbesondere der Rechtsstaatlichkeit – souverän zu entscheiden und wann ist eine zentrale Reaktion durch die EU angezeigt? Hier offenbart sich ein Spannungsverhältnis zwischen nationalem und unionsrechtlichem Tätigwerden, dessen schonender Ausgleich eine komplexe Aufgabe ist. Vor diesem Hintergrund möchte diese Arbeit zu dem juristischen Vertrauensdiskurs beitragen, indem sie die Entwicklung des Vertrauensbegriffs in der EuGH-Rechtsprechung nachzeichnet, die Rechtsnatur des gegenseitigen Vertrauens anhand des Primärrechts untersucht und dessen Zusammenhang zur Rechtsstaatlichkeit(skrise) darlegt. Sie setzt sich zum Ziel, die Funktionsweise des Vertrauensgrundsatzes anhand verschiedener Referenzgebiete des Unionsrechts aufzuzeigen. In den Blick genommen werden hierbei die Grundfreiheiten, der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie der Bereich der Finanz- und Bankenaufsicht. Die Analyse zeigt die bislang zum Teil inkohärente Handhabung des Vertrauensgrundsatzes in Rechtsetzung und Rechtsprechung, wo dieser als Grundlage des Anerkennungsprinzips, als Ziel von Sekundärrechtsakten und zugleich als eigenständiger Rechtsgrundsatz aufgefasst wird. Uni-

5

M. Hartmann, Europäisierung und Verbundvertrauen, 2015, S. 26 ff.; N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 27 ff. 6 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 168 – Beitritt der Union zur EMRK. 7 I. Pernice, in: J. Krüper/M. Payandeh/H. Sauer (Hrsg.), Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung, 2019, S. 165 (170, 177); ferner unter 6. Kap., A., S. 191 ff. 8 Vgl. A. von Bogdandy, in: S. Kadelbach (Hrsg.), Verfassungskrisen in der EU, 2018, S. 23 (24 ff.); C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 312 ff., Rn. 493 ff. Die Rechtsstaatlichkeitskrise stellt wiederum eine Ausprägung der Polykrise dar, in der sich die EU derzeit befindet, vgl. J.-C. Juncker, Rede im Bayerischen Landtag vom 14. Juni 2018, SPEECH/18/4166; M. Knodt/M. Große Hüttmann/A. Kobusch, in: A. Grimmel (Hrsg.), Die neue Europäische Union, 2020, S. 119 (119); M. Ludwigs/S. Schmahl, in: dies. (Hrsg.), Die EU zwischen Niedergang und Neugründung, 2020, S. 19 (19). 9 J.-C. Juncker, Rede zur Lage der Union 2017 vom 13. September 2017, SPEECH/17/ 3165.

Einleitung

3

onsgesetzgeber und EuGH setzen dem Vertrauensgrundsatz dabei je nach Referenzgebiet unterschiedliche Grenzen, weshalb es bislang weder eine allgemeine Definition des Vertrauensgrundsatzes gibt noch Klarheit vor allem hinsichtlich seiner Reichweite besteht.10 Im Mittelpunkt der nachfolgenden Untersuchung steht insbesondere die Frage, ob sämtliche oder ausschließlich die absolut gewährleisteten Unionsgrundrechte als Grenze des Vertrauens herangezogen werden können. Dabei wird deutlich werden, dass die EGMR-Rechtsprechung einen wertvollen Beitrag zur Klärung dieser Fragestellung leisten kann. Als gemeinsame Topoi der betrachteten Referenzgebiete wird sich die Gleichwertigkeit der nationalen Rechtsordnungen sowie ihre Fähigkeit, das Unionsrecht gleichermaßen zu achten und durchzusetzen, erweisen. Nachdem Vertrauen mittels eines interdisziplinären Zugriffs als Rechtsbegriff definiert und seine Kernmerkmale bestimmt wurden, widmet sich der zweite Teil der Arbeit der Darstellung des Vertrauens als Strukturprinzip der EU. Aufgrund seiner primärrechtlichen Verankerung in Art. 4 Abs. 3 EUV beinhaltet der Vertrauensgrundsatz sowohl eine horizontale Dimension, die das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten betrifft, als auch eine vertikale Dimension, die sich auf das Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bezieht. Somit verkörpert er einen föderalen Grundsatz, der der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts und der Wertesicherung im Europäischen Verfassungs- und Verwaltungsverbund dient, wobei die „Vielfalt in der Einheit“ bzw. die „Einheit in der Vielfalt“11 gewahrt werden.12 Im Weiteren werden sodann die primärrechtlichen Grenzen des Vertrauensgrundsatzes untersucht. Hierbei wird auf Art. 2 EUV, Art. 4 Abs. 2 EUV und Art. 7 Abs. 2 EUV eingegangen. Insgesamt nähert sich die Arbeit dem Vertrauensbegriff somit vorrangig aus einer normativen bzw. dogmatischen Perspektive an unter Ausgrenzung der Frage nach der faktischen Existenz von Vertrauen in der Beziehung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten13 bzw. den Mitgliedstaaten untereinander.14 Die gravierende Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten drängt in diesem Kontext ferner die Frage auf, wie sich die Rechtsstaatlichkeitskrise auf den Vertrauensgrundsatz auswirkt.15 Im dritten Teil der Arbeit werden daher die Rechtsstaatlichkeit als Unionswert sowie ihr enger Zusammenhang 10

Kritisch M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (17). So lautet auch das Motto der Europäischen Union, abrufbar unter european-union.europa.eu/principles-countries-history/symbols/eu-motto de. 12 Vgl. M. Hartmann, Europäisierung und Verbundvertrauen, 2015, S. 23: die EU unterliegt „einer identitätsstiftenden Fiktion rechtlicher Einheit in einer Realität rechtlicher Vielfalt“. 13 K. Drakos/C. Kallandranis/S. Karidis, JCMS 57 (2019), 1228 (1231 ff.); K. Lenaerts, CMLRev. 41 (2004), 317 (318 ff.); vgl. auch die Pressemitteilung IP/21/1867 der Kommission vom 23. April 2021. 14 Vgl. im Bereich des Europäischen Haftbefehlsrechts A. Efrat, JEPP 26 (2019), 656 (658 ff.); P. Popelier/G. Gentile/E. van Zimmeren, ELJ 28 (2022), 167 (172 ff.). 15 Vgl. A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (223 ff.). 11

4

Einleitung

zum Vertrauensgrundsatz dargestellt. Einen Schwerpunkt legt die Arbeit dabei auf die richterliche Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV als konstituierender Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und wesentliche Funktionsbedingung für den Vertrauensgrundsatz, indem sie die einschlägige EuGHRechtsprechung aufarbeitet und kritisch bewertet.16 Eine nicht unabhängige Gerichtsbarkeit, die nicht in der Lage ist, die rechtmäßige Anwendung und Durchsetzung des (Unions-)Rechts sicherzustellen, erschüttert die Vertrauensvermutung innerhalb der EU in ihren Grundfesten und entzieht ihr im Einzelfall sogar die Grundlage.17 Die Arbeit schließt mit der Darstellung des „Waffenarsenals“ der EU zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Untersucht werden erstens die Rechtsinstrumente politischer Natur, namentlich die Aktivierung des Art. 7 EUV, der EURahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips,18 das EU-Justizbarometer,19 der Rechtsstaatsdialog im Rat20 und der Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit,21 wobei Reformen für eine effektivere Umsetzung vorgeschlagen werden. Zweitens werden die gesetzgeberischen Maßnahmen dargestellt und bewertet, insbesondere die Rechtsstaatsverordnung 2021 und der damit eingeführte Konditionalitätsmechanismus. Drittens wird die (direkte und indirekte) gerichtliche Kontrolle anhand von Art. 258 AEUV und Art. 267 AEUV analysiert. Die Untersuchung wird ergeben, dass unter bestimmten Voraussetzungen ein allein auf Art. 2 EUV gestütztes Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden kann und dass das Unabhängigkeitserfordernis als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens nicht einer vertieften Prüfung, die der Prüfung im Rahmen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV entspräche, unterliegen soll.22 Die einzelnen Rechtsinstrumente werden als vertrauensgenerierend, vertrauensfördernd bzw. vertrauenssichernd kategorisiert und hinsichtlich ihrer Effektivität in Bezug auf die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit evaluiert. Insgesamt leistet die Arbeit damit vor allem einen Beitrag zum Europäischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht: Ziel ist es, dem Vertrauensgrundsatz schärfere Konturen zu verleihen und ihn im Europäischen Verfassungsrecht zu verorten, sodass fortan in Literatur und Judikatur mehr systematische Klarheit über seine Reichweite herrscht. Daneben wird ein Beitrag zur Debatte über die vertikale Zuständigkeitsverteilung im Mehrebenensystem aus Unionsrecht und mit-

16 Grundlegend EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 32 – Associac¸a˜o Sindical dos Juı´zes Portugueses (ASJP). 17 Wie hier D. Kochenov/J. Morijn, EPL 27 (2021), 759 (770); L. Pech/K. L. Scheppele, CYELS 2017, 3 (11); P. Zinonos, EPL 25 (2019), 615 (631 ff.). 18 KOM(2014) 158 endg. 19 KOM(2013) 160 endg. 20 Schlussfolgerungen des Rates der EU und der im Rat vereinigten Mitgliedstaaten über die Gewährleistung der Achtung der Rechtsstaatlichkeit vom 12. Dezember 2014 (16134/14). 21 KOM(2019) 343 endg., S. 11 ff. 22 Vgl. EuGH, Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 69 – Getin Noble Bank.

Einleitung

5

gliedstaatlichem Verfassungsrecht geleistet, indem Umfang und Grenzen des Tätigwerdens der Unionsorgane zur Wahrung der Unionswerte bzw. der Rechtsstaatlichkeit abgesteckt werden.

Erster Teil

Die Genese und Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes in unterschiedlichen Referenzgebieten Der Vertrauensgrundsatz findet seinen Ursprung in der EuGH-Rechtsprechung und hat sich allmählich zum Kernbegriff der Rechtsprechung sowie der Rechtsetzung entwickelt. Die Fragen nach seiner genauen Ausgestaltung und rechtlichen Qualität sind mangels einer expliziten primärrechtlichen Verankerung nachwievor umstritten. Aus diesem Grund ist eine Untersuchung des Vertrauensbegriffs an erster Stelle in den Referenzgebieten angezeigt, in denen sich der Unionsgesetzgeber und der EuGH zum Grundsatz des Vertrauens als Grundlage der horizontalen Kooperation bekannt haben. Eine solche Annäherung ist allerdings nur unter Berücksichtigung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung möglich, der mit dem Vertrauensgrundsatz unmittelbar verbunden ist. Der Anerkennungsgrundsatz kennzeichnet die zwischenstaatliche Kooperation in unterschiedlichen Bereichen des Unionsrechts und bezieht sich auf Waren und Dienstleistungen sowie auf gerichtliche Entscheidungen und Hoheitsakte, welche in einem anderen Mitgliedstaat erlassen wurden. Voraussetzung und Grundlage dafür bildet, wie zu zeigen sein wird, das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten.

1. Kapitel

Vertrauen im Binnenmarkt A. Vertrauen als Grundlage des Rechtsinstituts der gegenseitigen Anerkennung I. Gegenseitige Anerkennung in harmonisierten Bereichen Die Genese und ursprüngliche Entwicklung des Vertrauensbegriffs haben im Bereich der Binnenmarktpolitik stattgefunden, auch wenn seine Bedeutung dort mittlerweile etwas in den Hintergrund gerückt ist.1 Anlass dazu war die Auseinandersetzung des EuGH mit Marktbeschränkungen infolge von Doppelprüfungen von bereits im Herkunftsmitgliedstaat kontrollierten Produkten bzw. erworbenen Qualifikationen.2 Der Vertrauensbegriff fand zum ersten Mal im Jahre 1977 Erwähnung,3 nämlich in Bezug auf ein harmonisiertes System gesundheitsbehördlicher Kontrollen in der Rechtssache Bauhuis.4 Der EuGH stellte in die-

1 J. Snell, in: E. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 11 (11): Dies liege daran, dass der Binnenmarkt ursprünglich durch detaillierte Harmonisierungsmaßnahmen aufgebaut wurde; vgl. aber die ausdrückliche primärrechtliche Verankerung der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt in Art. 57 Abs. 1 EWGV: „Um die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten zu erleichtern, erläßt der Rat während der ersten Stufe der Übergangszeit einstimmig und danach mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Versammlung Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise.“ 2 Vgl. etwa EuGH, Rs. 104/75, Slg. 1976, 613, Rn. 26/27 – De Pijper; Rs. 35/76, Slg. 1976, 1871, Rn. 34/36 – Simmenthal I; Rs. 71/76, Slg. 1977, 765, Rn. 19 – Thieffry; Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 14 – Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein; Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357, Rn. 16 ff. – Vlassopoulou/Ministerium für Justiz u.a. Baden-Württemberg; zur jüngeren Rechtsprechung s. EuGH, Rs. C-525/14, ECLI:EU:C:2016:714, Rn. 51 – Kommission/Tschechien. Ausführlicher S. Michaels, Anerkennungspflichten im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2004, S. 213 ff., 399 ff. 3 Vgl. aber KOM(69) 1152 endg., S. 4; eine frühere Bezugnahme auf den Vertrauensbegriff ist hinsichtlich des Verhältnisses der Mitgliedstaaten zu Drittstaaten erkennbar, EuGH, Gutachten 1/75, Slg. 1975, 1335, 1364 – Lokale Kosten („das Vertrauensverhältnis innerhalb der Gemeinschaft“); Rs. 138/77, Slg. 1978, 1645, Rn. 5 – Ludwig/Freie und Hansestadt Hamburg („Prinzip des Mißtrauens gegenüber Drittländern“); Rs. 30/79, Slg. 1980, 151, Rn. 14 – Land Berlin/Wigei („Im übrigen verpflichtet das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten nicht, Drittstaaten das gleiche Vertrauen entgegenzubringen, das […] das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander, kennzeichnen soll […]“). 4 EuGH, Rs. 46/76, Slg. 1977, 5 – Bauhuis.

10

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

sem Zusammenhang fest, dass dieses System auf dem Vertrauen, „das sich die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Garantien entgegenbringen müssen, die sich aus den vor dem Versand von den Gesundheitsbehörden des Versandlandes durchgeführten Kontrollen ergeben“, beruhe.5 Diese Argumentationslinie wurde vom EuGH im Anschluss hieran auch auf andere Bereiche6 des Binnenmarkts übertragen, in denen eine Voll- bzw. Teilharmonisierung erfolgte,7 wie z.B. im Kontext von Fernsehdienstleistungen,8 Hochschulabschlüssen und Berufsqualifikationen,9 Arzneimitteln10 und im Führerscheinrecht.11 Allen diesen Fällen ist gemeinsam, dass sich eine Pflicht zur Anerkennung der in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführten Kontrollen oder erworbenen Qualifikationen ausdrücklich oder implizit aus unionssekundärrechtlichen Rechtsakten ergibt.12 Eine terminologische Klarstellung bzw. den Zusammenhang zwischen Anerkennung und Vertrauen hat der EuGH zu dieser Zeit jedoch nicht vorgenommen bzw. hergestellt.13

5

EuGH, Rs. 46/76, Slg. 1977, 5, Rn. 22/25, 37/39 – Bauhuis; bestätigt durch EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 19 – Hedley Lomas; Rs. C-11/95, Slg. 1996, I-4115, Rn. 88 – Kommission/Belgien; Rs. C-124/95, Slg. 1997, I-81, Rn. 49 – Centro-Com. 6 Dazu auch S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 47. 7 Zu den voll bzw. teilweise harmonisierten Bereichen des Binnenmarkts vgl. C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 107 ff., Rn. 106 ff. bzw. S. 130 ff., Rn. 142 ff. 8 EuGH, Rs. C-11/95, 1996, I-4115, Rn. 88 – Kommission/Belgien. 9 EuGH, Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357, Rn. 16 ff. – Vlassopoulou/Ministerium für Justiz u.a. Baden-Württemberg; Rs. C-238/98, Slg. 2000, I-6623, Rn. 33 – Hocsman; Rs. C-110/01, Slg. 2003, I-6239, Rn. 30 – Tennah-Durez; Rs. C-274/05, Slg. 2008, I-7969, Rn. 30 – Kommission/Griechenland; Rs. C-286/06, Slg. 2008, I-8025, Rn. 65 – Kommission/Spanien; Schlussanträge GA V. Trstenjak, Rs. C-118/09, Slg. 2010, I-13627, Rn. 47 – Koller. Vgl. auch Art. 53 AEUV (ex Art. 47 EGV). 10 EuGH, Rs.C-452/06, Slg. 2008, I-7681, Rn. 25 ff. – Synthon; ausführlich zur Entwicklung des Anerkennungsprinzips im Bereich der Arzneimittel S. Röttger-Wirtz, REALaw 13 (2020), 61 (63 ff.). 11 Vgl. vor den Harmonisierungsmaßnahmen EuGH, Rs. 16/78, Slg. 1978, 2293, Rn. 7 f. – Choquet; nach den Harmonisierungsmaßnahmen EuGH, Rs. C-193/94, Slg. 1996, I-929, Rn. 26 – Skanavi und Chryssanthakopoulos; Rs. C-230/97, Slg. 1998, I-6781, Rn. 41 – Awoyemi; Rs. C-476/01, Slg. 2004, I-5205, Rn. 45 ff. – Kapper; Rs. C-195/16, ECLI:EU:C: 2017:815, Rn. 35, 45 – I; zu den Gründen für eine Versagung der Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins s. insb. EuGH, Rs. C-1/07, Slg. 2008, I-8571, Rn. 39 – Weber; Rs. C-184/10, Slg. 2011, I-4057, Rn. 33 – Gasser; Rs. C-467/10, ECLI:EU:C:2012:112, Rn. 62, 65 – Akyüz; Rs. C-339/14, ECLI:EU:C:2015:333, Rn. 30 – Wittman. Dazu näher M. Brenner, EuR 2010, 292 (293 ff.); H. Janker, DAR 2009, 181 (182 ff.); T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 9. Aufl. 2021, § 26, Rn. 17 f.; M. Schröder, REALaw 13 (2020), 37 (45 ff.). 12 In Steuersachen wird vielmehr der Schwerpunkt in der zwischenstaatlichen Kooperation der Behörden vor dem Erlass eines Verwaltungsakts gelegt, sodass dem Anerkennungsgrundsatz nur eine marginale Bedeutung beigemessen wird, S. Dorigo, REALaw 13 (2020), 109 (126 ff.). 13 Dazu s. unten unter 4. Kap., E. IV., S. 155 f.

A. Vertrauen als Grundlage des Rechtsinstituts der gegenseitigen Anerkennung

11

II. Gegenseitige Anerkennung in nicht harmonisierten Bereichen: Die Cassis-de-Dijon-Doktrin Auch in den nicht harmonisierten Bereichen entwickelte sich der Vertrauensgrundsatz parallel zur allmählichen Herausbildung einer Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung. Letztere hat ihren Ursprung in der Rechtssache Cassis de Dijon14 aus dem Jahr 1979, die den Anwendungsbereich bzw. Schutzbereich des Art. 34 AEUV (ex Art. 30 EWGV) betraf. Die Streitfrage bezog sich darauf, ob die unterschiedlichen Erfordernisse – in diesem Fall die Sicherheitsregelungen – an eine grenzüberschreitend gehandelte Ware zwischen Herkunfts- und Bestimmungsstaat Wettbewerbsnachteile für die ausländischen Waren hervorrufen können. Mangels eines positiv harmonisierten Regimes in diesem Bereich, hat der EuGH bei dieser Gelegenheit den Weg negativer Harmonisierung vorangetrieben, vermittelt durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. In diesem Sinne besagt der Anerkennungsgrundsatz, dass jede Ware, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats ordnungsgemäß hergestellt wurde und sich auf dem Markt befindet, vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen, Zugang zu allen anderen mitgliedstaatlichen Märkten haben muss.15 Der dahinterliegende Grundgedanke ist, dass die Funktionsfähigkeit und Einheit des Binnenmarkts wesentlich beeinträchtigt werden würde, sollten jeweils 27 unterschiedliche Regelungen Anwendung finden.16 Derartige Handelshindernisse müssen nur dann hingenommen werden, „soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes“.17

Diese Formel wurde im Nachhinein expressis verbis als Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung bezeichnet.18 14

EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein. EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 14 – Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein: „Es gibt somit keinen stichhaltigen Grund dafür, zu verhindern, daß in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte alkoholische Getränke in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden; dem Absatz dieser Erzeugnisse kann kein gesetzliches Verbot des Vertriebs von Getränken en gegengehalten werden, die einen geringeren Weingeistgehalt haben, als im nationalen Recht vorgeschrieben ist.“ 16 So etwa K.-H. Ladeur, in: H.-H. Trute u.a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 795 (810). 17 EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 8 – Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein. 18 EuGH, Rs. C-110/05, Slg. 2009, I-519, Rn. 34 – Kommission/Italienische Republik; Rs. C-108/09, Slg. 2010, I-12213, Rn. 48 – Ker-Optika; Rs. C-385/10, ECLI:EU:C:2012:634, Rn. 23 – Elenca; Rs. C-484/10, ECLI:EU:C:2012:113, Rn. 53 – Ascafor und Asidac. Schon früher hatten aber einige Generalanwälte in ihren Schlussanträgen vom „Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung“ Gebrauch gemacht: GA W. Van Gerven, Rs. C-340/89, Slg. 1991, 15

12

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

III. Weißbuch der Kommission aus dem Jahr 1985 Die Kommission hat hierauf sofort mit ihrer Mitteilung über die Auswirkungen des Cassis de Dijon-Urteils reagiert.19 In ihrer Mitteilung legte die Kommission den Schwerpunkt auf zwei grundlegende Aspekte des Anerkennungsgrundsatzes, nämlich zum einen auf die recht- bzw. ordnungsgemäße Herstellung der Ware und zum anderen auf die Möglichkeit einer Abweichung von dem Anerkennungsprinzip, unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Des Weiteren hat sie in ihrem Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarkts von 198520 eine damals neue Harmonisierungsstrategie vorgestellt. In Bereichen, in denen die Harmonisierung materiellen Rechts für die Gewährleistung der Warenverkehrsfähigkeit nicht unerlässlich ist, muss danach die sofortige und uneingeschränkte Anerkennung unterschiedlicher Qualitätsnormen erfolgen.21 Die Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Regelungen, insbesondere hinsichtlich des Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltschutzes, wird dabei erneut in den Vordergrund gestellt.22 Die Beseitigung von Hemmnissen im Sinne von Art. 34 AEUV soll nun grundsätzlich im Wege negativer Harmonisierung (gegenseitige Anerkennung) erfolgen anstatt durch Rechtsangleichung. Die Harmonisierung sei als Integrationshauptinstrument eher zeitraubend und unflexibel.23 Für die anderen Grundfreiheiten gilt Entsprechendes.24 Hinsichtlich des Weißbuches der Kommission ist positiv hervorzuheben, dass es zwischen gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen differenI-2357, Rn. 12 – Vlassopoulou; GA M. Elmer, Rs. C-189/95, Slg. 1997, I-5905, Rn. 53 – Franze´n; GA G. Cosmas, Rs. C-389/96, Slg. 1998, I-4473, Rn. 18 – Aher-Waggon; GA A. La Pergola, Rs. C-184/96, Slg. 1998, I-6197, Rn. 28 ff. – Kommission/Frankreich; GA L.A. Geelhoed, Rs. C-212/03, Slg. 2005, I-4213, Rn. 39 – Kommission/Frankreich: GA L. A. Geelhoed setzt sogar irrtümlich den Anerkennungsgrundsatz mit dem Vertrauensgrundsatz gleich („Ich messe dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – oder, anders formuliert, des gegenseitigen Vertrauens – einen großen Wert bei.“). 19 Mitteilung der Kommission über die Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Februar 1979 in der Rechtssache 120/78 („Cassis de Dijon«), ABl. EG 1980 Nr. C 256, S. 2. Dazu P. Craig/G. de Bu´rca, EU Law, 7. Aufl. 2020, S. 609 ff.; L. W. Gormley, EU Law, 2009, S. 411. 20 KOM(85) 310 endg. 21 KOM(85) 310 endg., S. 22, Rn. 77. Zur Bewertung der „neuen Strategie“ vgl. T. Bruha, ZaöRV 46 (1986), 1 (12 ff.). 22 KOM(85) 310 endg., S. 19, Rn. 65. 23 KOM(85) 310 endg., S. 18, Rn. 64. 24 Vgl. V. Neßler, Richtlinienrecht, 1994, S. 8 m.w.N.; M. Hagenmeyer/T. Teufer, in: M. A. Dauses/M. Ludwigs (Hrsg.), EU-WirtschaftsR-HdB, 56. EL Aufl. 2022, C. IV. Lebensmittelrecht, Rn. 58; U. Haltern, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Bd. II, Art. 34 AEUV, Rn. 174; C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 14 ff., 21 ff.; H.-P. Mansel, RabelsZ 2006, 651 (665, 668); T. Oppermann/C D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 9. Aufl. 2021, § 25, Rn. 14, 22, § 28, Rn. 43; M. Schröder, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 26 AEUV, Rn. 26 f.; T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (351).

A. Vertrauen als Grundlage des Rechtsinstituts der gegenseitigen Anerkennung

13

ziert, auch wenn beide Begriffe inhaltlich nicht genau voneinander abgegrenzt werden. Vertrauen liegt allerdings der neuen Strategie zugrunde.25 Darüber hinaus wird die Verkehrsfähigkeit der Waren nach Geltung des Herkunftslandprinzips26 (bzw. Ursprungslandprinzip27) gewährleistet. Das Herkunftslandprinzip besagt, dass eine Ware, eine Dienstleistung etc., die in einem Mitgliedstaat (Herkunftsmitgliedstaat) nach dessen Vorschriften rechtmäßig hergestellt wurde und/oder in den Verkehr gelangt ist, in der gesamten Union rechtlich unbehindert verkehrsfähig ist, auch wenn der Rechtsbereich, nach welchem die Ware, Dienstleistung etc. zu beurteilen ist, noch nicht unionsrechtlich vollharmonisiert wurde.28 In diesem Sinne hat die Etablierung des Herkunftslandprinzips die bis dahin geltende Annahme zu Fall gebracht, dass Hemmnisse für den freien Warenverkehr bei nationalen Regelungen hinnehmbar waren, solange keine positive Harmonisierung durch die Union stattgefunden hat.29 Mit dieser Entwicklung hat der Binnenmarkt eine neue Ausrichtung erfahren: Einheitlicher Binnenmarkt bedeutet nicht einheitlicher Rechtsraum.30 Sein reibungsloses Funktionieren kann vielmehr auch und gerade durch den Anerkennungsgrundsatz gewährleistet werden. Die zentrale Rolle des Anerkennungsprinzips bei der Verwirklichung des Binnenmarkts führte sogar zu seiner primärrechtlichen Verankerung mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) in Art. 100b Abs. 1 UAbs. 2 EWGV.31 Dadurch wurde dem Rat die Möglichkeit eingeräumt, die Gleichwertigkeit von nicht harmonisierten nationalen Regelungen anzuerkennen. Auch hier galt keine

25

KOM(85) 310 endg., S. 25, Rn. 93. Das Herkunftslandprinzip ist als Synonym des Anerkennungsprinzips zu verstehen, S. Michaels, Anerkennungspflichten im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2004, S. 218; anders W. Kluth/F. Rieger, GewA 2006, 1 (2): Das Herkunftslandprinzip erfordere keine weitere Kontrolle im Sinne eines formellen Anerkennungsakts im Bestimmungsland. 27 Vgl. P.-C. Müller-Graff, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EURecht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 190. 28 KOM(85) 310 endg., S. 22, Rn. 77. Daneben U. Haltern, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 34 AEUV, Rn. 176; T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 36 AEUV, Rn. 47, 143 ff.; H. P. Mansel, RabelsZ 2006, 651 (666); T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 9. Aufl. 2021, § 22, Rn. 31. 29 I. E. Schwärtz, in: E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), FS von der Groeben, 1987, S. 333 (355 f.). Zum Herkunftslandprinzip als eine aus den Grundfreiheiten abgeleitete Kollisionsregel s. T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 36 AEUV, Rn. 154; E. Jayme/C. Kohler, IPRax 2001, 501 (501 ff.); kritisch zum Herkunftslandprinzip s. P. Bernhard, EuZW 1992, 437 (439 ff.). 30 So T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 36 AEUV, Rn. 149; U. Haltern, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 34 AEUV, Rn. 180. 31 Dieser lautete: „Der Rat kann gemäß Artikel 100a beschließen, daß die in einem Mitgliedstaat geltenden Vorschriften als den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats gleichwertig anerkannt werden müssen.“ 26

14

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

automatische Anerkennung der mitgliedstaatlichen Vorschriften. Der Rat hat jedoch von Art. 100b EWGV nie Gebrauch gemacht,32 was letztendlich zu dessen Abschaffung durch den Amsterdamer Vertrag (1997) führte.

IV. Rechtsgrundlage des Anerkennungsgrundsatzes In Ermangelung einer expliziten Verankerung im Primärrecht ergibt sich die Frage, welche primärrechtliche Vorschrift eine adäquate Rechtsgrundlage des Anerkennungsgrundsatzes darstellt. Es wird zum Teil vertreten, dass die Pflicht zur Anerkennung aus den in Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV niedergelegten Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit33 ableitbar sei.34 Die Anerkennung von nationalen Maßnahmen fungiert als Gegengewicht zur Harmonisierung und schützt somit die nationale Diversität. Beide Prinzipien sind zwar für die vertikale Kompetenzausübung im Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten wichtig – eine unmittelbare Ableitung einer Pflicht zur wechselseitigen Anerkennung aus Art. 5 Abs. 3 oder 4 EUV kann jedoch weder angesichts des Wortlauts noch der Rechtsprechung zu diesen Vorschriften bejaht werden. Als geeignete Rechtsgrundlage ist vielmehr Art. 4 Abs. 3 EUV i.V.m. den entsprechenden Grundfreiheiten anzunehmen.35 Dafür spricht die Tatsache, dass die im Binnenmarkt gebotene Anerkennungspflicht mit Blick auf die Verwirklichung der unmittelbaren Wirksamkeit der Grundfreiheiten und somit auf die Vertiefung des Integrationsprozesses angeordnet wurde. Es sind die Unionsbürger, die – in Ausübung ihrer in Art. 34, 45, 49, 56 und 63 AEUV festgelegten Grundfreiheiten – die horizontale Verwaltungskooperation unter Heranziehung des Art. 4 Abs. 3 EUV gefordert haben.36 Umgekehrt obliegen nach dem Loyalitätsgrundsatz den nationalen Verwaltungen konkrete Unterlassungs- bzw. Handlungspflichten,37 um die Wirk32

KOM(93) 669 endg., S. 14, 17. Dazu H. Matthies, in: J. F. Baur/K. J. Hopt (Hrsg.), FS Steindorff, 1990, S. 1287 (1287 ff.). 33 S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 46; P. J. G. Kapteyn/A. McDonnell/K. J. M. Mortelmans u.a., The law of the European Union, 4. Aufl. 2008, S. 115 (145). 34 Vgl. C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 26. 35 So auch C. Franzius, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 4 EUV, Rn. 133 ff., der eine allgemeinere Anerkennungspflicht ablehnt; W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 119; J. Temple Lang, ERA Forum 7 (2006), 476 (500); P. J. G. Kapteyn/A. McDonnell/K. J. M. Mortelmans u.a., The law of the European Union, 4. Aufl. 2008, S. 155. Anders M. Klamert, The Principle of loyalty, 2014, S. 22; K. Lenaerts/P. V. Nuffel, EU Law, 3. Aufl. 2011, S. 120; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 101 (diese sehen Art. 4 Abs. 3 EUV als einzige Rechtsgrundlage an); siehe auch C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 28, die allein die Grundfreiheiten als Rechtsgrundlage ansieht; so auch C. D. Classen, in: U. Becker u.a. (Hrsg.), FS Schwarze, 2014, S. 556 (557). 36 Vgl. S. Lavenex, JEPP 14 (2007), 762 (764); M. P. Maduro, JEPP 14 (2007), 814 (821). 37 C. Franzius, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 4 EUV, Rn. 105 ff.; W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert

A. Vertrauen als Grundlage des Rechtsinstituts der gegenseitigen Anerkennung

15

samkeit des Unionsrechts zu gewährleisten; jedoch fehlt – zumindest im Grundsatz – eine unmittelbare Wirkung gegenüber den Bürgern.38 Aus einer Zusammenschau von der jeweils betroffenen Grundfreiheit und Art. 4 Abs. 3 EUV folgt, dass ungerechtfertigte nationale Maßnahmen des Aufnahmemitgliedstaats eine Verletzung des Loyalitätsprinzips darstellen, indem diese die Ausübung der Grundfreiheiten hindern und somit die Wirksamkeit des Unionsrechts abschwächen.39 Das Verhältnis zum gegenseitigen Vertrauen wurde zum ersten Mal in der Rechtssache Wurmser40 aus dem Jahr 1989 – zehn Jahre nach Cassis de Dijon – vertiefter herausgearbeitet, indem der EuGH die geforderte Anerkennung – damals aber noch nicht so bezeichnet – als „eine besondere Ausprägung des allgemeineren Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten“ angesehen hat.41 Danach dürfen die Behörden des Einfuhrstaats „nicht ohne Not die Wiederholung bestimmter Kontrollen verlangen, wenn dieselben bereits in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführt worden sind und ihre Ergebnisse diesen Behörden zur Verfügung stehen“.42

V. Grenzen des Anerkennungsgrundsatzes: Art. 36 AEUV, zwingende Erfordernisse und Misstrauen Die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung von nationalen Maßnahmen ist weder absolut noch vorbehaltlos.43 Die Tragweite des mit dem Cassis de Dijon-Urteil eingeführten Anerkennungsprinzips wird zunächst durch die Berufung auf

(Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 118 ff.; W. Obwexer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 150 ff.; S Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 88 ff.; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV, Rn. 31 ff. 38 Dazu C. Franzius, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 4 EUV, Rn. 107; W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 43. 39 EuGH, Rs. 71/76, Slg. 1977, 765, Rn. 15/18 – Thieffry; Rs. 222/86, Slg. 4097, Rn. 12 – Heylens; Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357, Rn. 14 f. – Vlassopoulou/Ministerium für Justiz u.a. Baden-Württemberg; Rs. C-432/03, Slg. 2005, I-9665, Rn. 47 – Kommission/Portugal; Rs. C-110/05, Slg. 2009, I-519, Rn. 34 – Kommission/Italy; Rs. C-134/18, ECLI:EU:C:2019:212, Rn. 45 – Vester. 40 EuGH, Rs. 25/88, Slg.1989, 1105 – Wurmser. Bestätigt durch EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 19 f. – Hedley Lomas; Rs. C-11/95, Slg. 1996, I-4115, Rn. 88 – Kommission/Belgium; Rs. C-1/96, Slg. 1998, I-1251, Rn. 47 – Compassion in World Farming. 41 EuGH, Rs. 25/88, Slg.1989, 1105, Rn. 18 – Wurmser. 42 EuGH, Rs. 25/88, Slg.1989, 1105, Rn. 18 – Wurmser. 43 M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (407, 411 f.); S. Weatherill, ELRev. 43 (2018), 224 (225 f.).

16

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

„zwingende Erfordernisse“44 erheblich beschränkt.45 Diese ergänzen die in Art. 36 ΑEUV geregelten Rechtfertigungsgründe,46 gelten aber nur für nichtdiskriminierende Maßnahmen.47 Dadurch entsteht für den Aufnahmemitgliedstaat die Möglichkeit, seine eigenen Regelungen mangels eines Harmonisierungsregimes doch anzuwenden, um den öffentlichen Belangen seiner eigenen Werteordnung48 gerecht zu werden. Die Abwägung zwischen Marktintegration durch gegenseitige Anerkennung nationaler Maßnahmen einerseits und Wahrung nationaler Interessen andererseits wird im Wege der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen.49 Zu den zwingenden Erfordernissen zählen zum Beispiel die öffentliche Sittlichkeit,50 die öffentliche Ordnung, der Gesundheitsschutz,51 der Verbraucherschutz,52 der Umweltschutz,53 die kulturellen und religiösen Werte,54 die Wahrung der nationalen Identität,55 Steuerinteressen56 und der Grundrechtsschutz.57 44

Englisch: „rule of reason“ bzw. „mandatory requirements“. EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 8 – Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein. 46 M. L. Fremuth, EuR 2006, 866 (876); P. J. G. Kapteyn/A. McDonnell/K. J. M. Mortelmans u.a., The law of the European Union, 4. Aufl. 2008, S. 575 (645); S. Weatherill, The internal market, 2017, S. 103 ff. Zur Beweislast s. N. N. Shuibhne/M. Maci, CMLRev. 50 (2013), 965 (965 ff.). Im Schrifttum wird die Meinung vertreten, dass die zwingenden Erfordernisse als eine negative Tatbestandsvoraussetzung von Art. 34 AEUV zu verstehen sind, eine solche dogmatische Einordung steht jedoch dem Warenfreiheitsgrundsatz entgegen; dazu s. statt vieler M. L. Fremuth, EuR 2006, 866 (871 ff.). 47 EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37 – Gebhard; Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13031, Rn. 65 – Gambelli u. a.; verb. Rs. C-344/13 und C-367/13, ECLI:EU:C:2014:2311, Rn. 37 – Blanco und Fabretti; Rs. C-375/14, ECLI:EU:C:2016:60, Rn. 25 – Rosanna Laezza. 48 Grundlegend EuGH, Rs. 34/79, Slg. 1979, 3795, Rn. 15 – Henn und Darby. 49 Vgl. A. Brigola, EuZW 2017, 406 (407 ff.); M. Schwarz, Grundlinien der Anerkennung im RFSR, 2016, S. 176 ff. 50 EuGH, Rs. 34/79, Slg. 1979, 3795, Rn. 15 – Henn und Darby; Rs. 53/80, Slg. 1981, 409, Rn. 12 ff. – Eyssen; Rs. 121/85, Slg. 1986, 1007, Rn. 15 ff. – Conegate; Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 20 – Grogan; Rs. C-268/99, Slg. 2001, I-8615, Rn. 56 – Jany u.a.; BVerwG, NVwZ 2002, 339 (340). 51 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 28 f. – Omega; Rs. C-137/09, Slg. 2010, I-13019, Rn. 65 – Josemans; Rs. C-282/15, ECLI:EU:C:2017:26, Rn. 46 – Queisser Pharma. 52 Grundlegend EuGH, Rs. 382/87, Slg. 1989, 1235, Rn. 10 ff. – Buet u.a./Ministe`re public; Rs. C-441/04, Slg. 2006, I-2093, Rn. 29 – Schmuckhandels; vgl. aus jüngerer Zeit etwa noch Rs. C-525/14, ECLI:EU:C:2016:714, Rn. 45 f. – Kommission/Tschechische Republik. 53 EuGH, Rs. C-2/90, Slg. 1992, I-4431, Rn. 32 – Kommission/Belgium; Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099, Rn. 72 ff. – PreussenElektra; Rs. C-242/17, ECLI:EU:C:2018:804, Rn. 63 f. – L.E.G.O. 54 Grundlegend EuGH, Rs. 145/88 – Sunday Trading. Hier ist insbesondere die EuGHRechtsprechung zu den Glücksspielen relevant: EuGH, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039, Rn. 58– Schindler; Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-8069, Rn. 57 – Liga Protuguesa; eingehend U. Schuster, Kohärenzprinzip in der EU, 2017, S. 80 ff. 55 EuGH, Rs. 208/09, Slg. 2010, I-13693, Rn. 92 – Sayn-Wittgenstein. 56 EuGH, Rs. 319/02, Slg. 2004, I-7477, Rn. 39 – Manninen; Rs. C-513/04, Slg. 2006, I-10967, Rn. 15 – Kerckhaert und Morres. 57 Grundlegend EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 65 ff. – Schmidberger/Öster45

A. Vertrauen als Grundlage des Rechtsinstituts der gegenseitigen Anerkennung

17

Bei der Prüfung, ob eine nationale Maßnahme gerechtfertigt in eine Grundfreiheit eingreift, wird auch die Kohärenz des entsprechenden Regelungsregimes als Schranken-Schranke berücksichtigt.58 Fraglich ist, ob neben den in Art. 36 AEUV geregelten Rechtfertigungsgründen und den zwingenden Erfordernissen auch Misstrauen, d.h. die Widerlegung der Vertrauensvermutung, eine weitere zulässige Durchbrechung des Anerkennungsmechanismus bildet. Diese Frage stellt sich grundsätzlich dann, wenn eine Verwaltungskooperation zwischen den Mitgliedstaaten gefordert wird, wie etwa bei der Anerkennung von Produktsicherheitskontrollen und Dokumenten. Aus Effektivitätsgründen wird hier eine Vertrauensvermutung aufgestellt, sodass der Aufnahmemitgliedstaat grundsätzlich zur Berücksichtigung der in dem Herkunftsmitgliedstaat durchgeführten Kontrollen und an von diesem vorgelegte Dokumente gebunden ist.59 Die Entscheidung eines Mitgliedstaats gilt dabei als Referenzentscheidung.60 Der Aufnahmemitgliedstaat kann bzw. muss hier jedoch die notwendigen Informationen beantragen, um prüfen zu können, dass das materielle Recht des Herkunftsmitgliedstaats tatsächlich befolgt wurde.61 Vertrauensvermutung bedeutet in diesem Sinne die widerlegbare Vermutung der Rechtstreue in Bezug auf die nationalen Vorschriften des Herkunftsmitgliedstaats bzw. das Unionsrecht.62 Darüber hinaus hindert die Anerkennungspflicht den Aufnahmemitgliedstaat nicht, zusätzliche oder ergänzende Kontrollen gemäß Art. 36 AEUV durchzuführen, sofern diese verhältnismäßig sind und auf die bereits durchgeführten

reich; Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 28 f. – Omega. Die vorgebrachten Grundrechte werden vom EuGH jedoch anhand unionsrechtlicher, nicht nationaler Standards bewertet; dazu C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 56; N. Nic Shuibhne, in: P. Koutrakos/dies./P. Syrpis (Hrsg.), Exceptions from EU Free Movement Law, 2016, S. 297 ff.; N. N. Shuibhne, ELRev. (2009), 230 (230 ff.); S. Reynolds, CMLRev. 53 (2016), 643 (643 ff.). 58 Vgl. EuGH, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8149, Rn. 55, 64 f. – Carmen Media; Rs. C-161/09, Slg. 2011, I-915, Rn. 42 – Kakavetsos-Fragkopoulos; Rs. C-333/14, ECLI:EU:C: 2015:845, Rn. 37 – Scotch Whisky Association; Rs. C-98/14, ECLI:EU:2015:386, Rn. 64 – Berlington Hungary. Zur Wertungskohärenz als Einschränkung des Spielraums des nationalen Gesetzgebers und als Rechtfertigungsgrund s. G. Mathisen, CMLRev. 47 (2010), 1021 (1023 ff.); U. Schuster, Kohärenzprinzip in der EU, 2017, S. 79 ff. 59 EuGH, Rs. C-105/94, Slg. 1997, 2971, Rn. 34 – Celestini/Saar-Sektkellerei Faber; Rs. 336/94, Slg. 1997, I-6761, Rn. 19 – Dafeki/Landesversicherungsanstalt Württemberg; Rs. 124/81, Slg. 1983, 203, Rn. 30 – Kommission/Vereinigtes Königreich; Rs. C-378/10, ECLI:EU:C:2012:440, Rn. 60 – VALE E´pı´te´si. 60 C. D. Classen, in: U. Becker u.a. (Hrsg.), FS Schwarze, 2014, S. 556 (557); G. Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 183 ff.; ferner zum Ganzen T. Siegel, Entscheidungsfindung im Verwaltungsverbund, 2009, S. 224 ff. 61 EuGH, Rs. 104/75, Slg. 1976, 613, Rn. 26 ff. – De Pijper; Rs. 251/78, Slg. 1979, 3369, Rn. 23 – Denkavit Futtermittel; Rs. 124/81, Slg. 1983, 203, Rn. 30 – Kommission/Vereinigtes Königreich; Rs. C-378/10, ECLI:EU:C:2012:440, Rn. 61 – VALE E´pı´te´si. 62 Vgl. C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 59. Näher zum Vertrauensbegriff als Rechtsbegriff unter 4. Kap., C., S. 175 f.

18

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

Kontrollen Rücksicht nehmen.63 Diese Kontrollen werden dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht, wenn sie nicht systematisch und in Form von Stichprobenkontrollen ausgeführt werden, da systematische Kontrollen erheblichen Zeitaufwand und letztendlich Hindernisse innerhalb des Binnenmarkts mit sich brächten.64 Sollte sich aber bei konkreten Einzelfällen65 ein Verdacht ergeben, dass nationales bzw. unionales Recht vom Ursprungsstaat verletzt wurde, so wird das unterstellte Vertrauen in die Rechtskonformität beeinträchtigt.66 Dass blindes Vertrauen dem Anerkennungsgrundsatz nicht zugrunde liegt, lässt sich schließlich durch Fälle bestätigen, in denen die automatische Anerkennung durch „blinden Verlass“ auf die Entscheidungen eines anderen Mitgliedstaats in die Beeinträchtigung des Rechts auf Freizügigkeit gemündet ist.67 So hat z.B. Spanien seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht68 verletzt, indem die spanischen Behörden zwei Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Bürgern der Europäischen Union waren, die Einreise in den Schengen-Raum allein aus dem Grund verweigert hatten, dass sie aufgrund einer Erklärung der Bundesrepublik Deutschland im Schengener Informationssystem zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben waren.69 Spanien hätte sich hier nicht allein auf die 63 EuGH, Rs. 124/81, Slg. 1983, 203, Rn. 29 f. – Kommission/Vereinigtes Königreich; Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013, Rn. 51 ff. – Kommission/Frankreich; Rs. 105/94, Slg. 1997, I-2971, Rn. 37 – Celestini/Saar-Sektkellerei Faber. 64 EuGH, Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013, Rn. 56 f. – Kommission/Frankreich; Rs. C-105/94, Slg. 1997, 2971, Rn. 34 – Celestini/Saar-Sektkellerei Faber. 65 Ein allgemeiner Verdacht rechtfertigt keine weiteren systemischen Kontrollen, so EuGH, Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013, Rn. 32, 56 – Kommission/Frankreich. Im Bereich der sozialen Versicherung s. zuletzt EuGH, Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 40 ff. – Altun u.a. 66 S. dazu im Bereich der Anerkennung von Diplomen nach der Richtlinie 93/16/EWG: EuGH, Rs. C-110/01, Slg. 2003, I-6239, Rn. 80 – Tennah-Durez: Der Gerichtshof hat im Wesentlichen (wenn auch nicht ausdrücklich) die gerechtfertigte Widerlegung des Vertrauens als allgemeinen Grundsatz anerkannt; wiederholt in EuG, Rs. T-260/16, ECLI:EU:T:2018: 597, Rn. 49 – Schweden/Kommission; zum Vertrauen als Grundlage der gegenseitigen Anerkennung zuletzt EuGH, Rs. C-675/17, ECLI:EU:C:2018:990, Rn. 31 – Preindl. 67 Grundlegend EuGH, Rs. C-503/03, Slg. 2006, I-1097, Rn. 55 – Kommission/Spanien; Rs. C-33/07, Slg. 2008, I-5157, Rn. 25 – Jipa; Schlüssanträge GA H. Saugmandsgaard Øe, Rs. C-331/16, ECLI:EU:C:2017:973, Rn. 97 – K., der auf gegenseitiges Vertrauen direkt Bezug nimmt; vgl. auch P. Crame´r, in: M. Dougan/S. Currie (Hrsg.), 50 Years of the European Treaties, 2009, S. 43 (59): „this trust cannot be absolute“; J. Snell, in: E. R. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 11 (11): „based on qualified mutual trust“. 68 Konkret aus Art. 1 bis 3, 6 Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl. EG 1964 Nr. 56, S. 850. 69 Vgl. Titel IV des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990, ABl. EG 2000 Nr. L 239, S. 19.

A. Vertrauen als Grundlage des Rechtsinstituts der gegenseitigen Anerkennung

19

Erklärung Deutschlands (blind) stützen dürfen, sondern vorher prüfen müssen, ob die Anwesenheit dieser Personen eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft darstellte.70 Auch in Reaktion auf die Feststellung einer Rechtsverletzung durch den Herkunftsmitgliedstaat wird jedoch weiterhin eine Verwaltungskooperation mit dem Ziel bevorzugt, erneut eine Vertrauensbasis zu schaffen und den Anerkennungsmechanismus wieder in Kraft zu setzen. Die Verwaltungsbehörde, die eine wesentliche Ordnungswidrigkeit festgestellt hat, muss daher in Zusammenarbeit mit der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats für die Behebung des Rechtsverstoßes Sorge tragen.71 Einseitige Maßnahmen seitens des Aufnahmemitgliedstaats, wie etwa die Anwendung seines materiellen Rechts oder die Nichtberücksichtigung des einschlägigen Dokuments, sind somit ausgeschlossen. Allerdings liefert der EuGH weder eine normative Begründung für die Amtshilfepflicht zwischen den mitgliedstaatlichen Behörden noch schreibt er deren konkreten Anwendungsbereich und Grenzen fest.72 Einen Hinweis hinsichtlich der Grenzen bietet das De Pijper-Urteil, nach welchem diese Amtspflicht an ihre Grenzen stößt, wenn die Verwaltungskooperation „die von einer normal funktionierenden Verwaltung vernünftigerweise einzusetzenden Mittel übersteigt“.73 Auch diese Formulierung trägt zur Klarheit der Amtshilfepflicht wenig bei. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der richterlich herausgearbeitete Anerkennungsgrundsatz einen dreistufigen Test beinhaltet: Erstens darf keine unionsrechtliche Vorgabe vorliegen, die nach dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts die Anwendbarkeit einer nationalen Regelung ausschließt. Zweitens wird die potenzielle Berufung des Mitgliedstaats auf zulässige Rechtfertigungsgründe überprüft. Wenn dies der Fall ist, wird drittens die streitige nationale Maßnahme an dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemessen. Es gilt damit kein automatisches bzw. „totales“ Anerkennungsprinzip; zulässige Schranken sind vielmehr in das Prinzip eingebaut.

70

EuGH, Rs. C-503/03, Slg. 2006, I-1097, Rn. 54 f. – Kommission/Spanien sowie Rn. 56: Aus dem Loyalitätsgrundsatz folge allerdings eine Berücksichtigungspflicht der Angaben des ausschreibenden Staates. 71 So EuGH, Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013, Rn. 30 ff. – Kommission/Frankreich: Dass diese Herangehensweise des Gerichtshofs im Rahmen einer Verordnung entwickelt wurde, spricht nicht dagegen, sie auch in nicht harmonisierten Bereichen anzunehmen; in Bezug auf Steuersachen S. Dorigo, REALaw 13 (2020), 109 (125); C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 84; H. Wenander, ZaöRV 71 (2011), 755 (776 f.). 72 M. Winkelmüller, Verwaltungskooperation bei der Wirtschaftsaufsicht im EG-Binnenmarkt, 2002, S. 52 f. 73 EuGH, Rs. 104/75, Slg. 1976, 613, Rn. 14/18, 32 – De Pijper.

20

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

B. Vertrauen als Hindernis für die Durchsetzung eigener Werte in anderen Mitgliedstaaten Eine weitere Frage, die eng mit dem gegenseitigen Vertrauen verbunden ist, betrifft die extraterritoriale Wirkung von (geschriebenen und ungeschriebenen) Rechtfertigungsgründen für den Fall, dass die Mitgliedstaaten schutzwürdige Interessen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfolgen wollen und deshalb handelshindernde Maßnahmen treffen. Der EuGH hat sich in den nicht harmonisierten Bereichen mit dieser Rechtsfrage in der Rechtssache Alpine Investments74 auseinandergesetzt. Anlass war eine niederländische Regelung, die den in den Niederlanden ansässigen Dienstleistungserbringern verbot, mit potenziellen Kunden in einem anderen Mitgliedstaat ohne deren vorherige Zustimmung telefonisch Kontakt aufzunehmen. Der EuGH hat der Niederlande keine Kompetenz zugesprochen, Verbraucher, die in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind, in Schutz zu nehmen.75 Mithin wird eine – wenn auch nur indirekte – extraterritoriale Wirkung von Art. 36 AEUV abgelehnt. Für die harmonisierten Bereiche fehlt hingegen eine vergleichbare Stellungnahme des EuGH, da dieser direkt auf die Unionsvorschriften Bezug nimmt und somit die Frage der extraterritorialen Wirkung von Art. 36 AEUV und von zwingenden Erfordernissen außer Betracht lässt.76 Die Generalanwälte gelangen zum gleichen Ergebnis: Soweit die in einem Mitgliedstaat geschützten Interessen in seinem Gebiet nicht beeinträchtigt sind, ist dieser nicht befugt, seine Ausfuhren aufgrund von im Ausland gegebenen Umständen zu beschränken.77 Die grundlegende Prämisse, die die Bejahung einer extraterritorialen Wirkung der Rechtfertigungsgründe verhindert, ist der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens zum einen in die Gesetzgebung des anderen Mitgliedstaats, zum anderen in die Umsetzung und Durchführung des Unionsrechts.78 Sollten sich Zweifel hinsichtlich der Umsetzung des Unionsrechts oder des hinreichenden Interessenschutzes ergeben, ist die Verwaltungskooperation im Wege des Informationsaustausches zu fördern. Ähnlich ist auf die Frage zu antworten, ob ein Mitgliedstaat bzw. ein 74

EuGH, Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141 – Alpine Investments/Minister van Financie¨n. EuGH, Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141, Rn. 41 – Alpine Investments/Minister van Financie¨n; die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit sah der EuGH allerdings aus anderen zwingenden Erfordernissen als gerechtfertigt an, Rn. 43. 76 S. auch m.w.N. P. J. G. Kapteyn/A. McDonnell/K. J. M. Mortelmans u.a., The law of the European Union, 4. Aufl. 2008, S. 653. 77 Schlussanträge GA W. van Gerven, Rs. C-169/89, Slg. 1990, I-2143, Rn. 10 – van den Burg; GA P. Le´ger, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 31 ff. – Hedley Lomas; GA P. Le´ger, Rs. C-1/96, Slg. 1998, I-1251, Rn. 113 – The Queen/Minister of Agriculture, Fisheries and Food, ex parte Compassion in World Farming. 78 Vgl. Schlussanträge GA W. van Gerven, Rs. C-169/89, 1990, I-2143, Rn. 7, 9 und 10 – van den Burg; dazu auch N. Bernard, Multilevel governance, 2002, S. 53; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 133, Rn. 149. 75

C. Vertrauen als Rechtsgrundsatz: Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit 21

nationales Gericht befugt ist, eine Kontrolle der Vereinbarkeit von Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats mit dem Unionsrecht selbst vorzunehmen,79 um hiermit gegebenenfalls eine Beschränkung der einschlägigen Grundfreiheit zu rechtfertigen.80 Denn sollte ein Mitgliedstaat seine eigenen Werte und Interessen in einem anderen Mitgliedstaat – wenn auch nur mittelbar – durchsetzen, wären die Grundfesten gegenseitigen Vertrauens und des in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerten Gleichheitsgrundsatzes erschüttert.81 Der einzige, in diesem Fall verbleibende, rechtliche Weg ist das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 f. AEUV.82 Der Vertrauensgrundsatz wird also als einzige Grundlage für die Nichtanwendung von Rechtfertigungsgründen, die schutzwürdige Interessen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfolgen wollen, herangezogen.83

C. Vertrauen als Rechtsgrundsatz: Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit Im Bereich der sozialen Sicherung hat der Vertrauensgrundsatz dadurch an Konturen gewonnen, dass der EuGH auf ihn zurückgegriffen hat, um die Bindungswirkung der Entsendebescheinigung zu begründen.84 Auf diese Rechtsprechung wird im Folgenden eingegangen werden. Zunächst gilt, dass die Entsendung von Arbeitnehmern innerhalb der EU ein Ausdruck der Dienstleistungsfreiheit, oft aber zugleich mit dem Begriff des „Sozialdumping“ verbunden ist.85 Zum Schutz dagegen sieht die Verordnung (EG)

79 EuGH, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 30 – Foglia/Novello; Rs. C-318/00, Slg. 2003, I-905, Rn. 45 – Bacardi-Martini und Cellier des Dauphins: Der Gerichtshof hat die Frage allerdings offengelassen. 80 So G. Betlem, in: J. A. E. Vervaele (Hrsg.), Compliance and Enforcement, 1999, S. 391 (398). Dazu EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 19 f. – Hedley Lomas; Rs. C-241/01, Slg. 2003, I-9079, Rn. 49 – National Farmer’s Union. 81 Vgl. auch K. Lenaerts, CMLRev. 54 (2017), 805 (808 ff.). 82 EuGH, Rs. C-11/95, Slg. 1996, I-4115, Rn. 89 – Kommission/Belgien; Rs. C-574/17 P, ECLI:EU:C:2018:598, Rn. 54 ff. – Kommission/Combaro; Schlussanträge GA P. Leger, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 30 – Hedley Lomas; C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 98, die allerdings die Einleitung von einseitigen Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen nicht ausschließt. 83 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 134, Rn. 150. 84 Vgl. auch C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 117 ff., Rn. 120 ff. 85 Laut der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. September 2016 zu Sozialdumping in der Europäischen Union (2015/2255[INI]), ABl. EU 2018 Nr. C 204, S. 111 (115) umfasst der Begriff „Sozialdumping“ eine große Bandbreite missbräuchlicher Praktiken und die Umgehung geltender europäischer und einzelstaatlicher Rechtsvorschriften (einschließlich Gesetze und allgemein verbindlicher Tarifverträge), die durch die unrechtmäßige Minimierung von Personal- und Betriebskosten zur Entwicklung eines unlauteren Wettbe-

22

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit86 Sonderregelungen für Entsendungen vor, welche allerdings mit dem Vorwurf belegt werden, dass sie den Missbrauch günstigerer Sozialversicherungsregime bestimmter Mitgliedstaaten zulassen.87 Dabei gilt, dass der entsandte Arbeitnehmer dem Sozialversicherungsrecht des Herkunftsmitgliedstaats unterliegt.88 Den Gegensatz hierzu stellt der Lex-loci-laboris-Grundsatz dar, wonach die sozialrechtlichen Vorschriften desjenigen Mitgliedstaats anwendbar sind, in dessen Gebiet der Arbeitnehmer seiner Beschäftigung nachgeht.89 Die Erfüllung der Voraussetzungen für die Entsendung eines Arbeitnehmers90 wird durch den Erlass der sog. A1-Bescheinigung (früher E-101-Bescheinigung91) bestätigt, in welcher der zuständige Träger des Herkunftsmitgliedstaats bescheinigt, dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften des Herkunftsmitgliedstaats anzuwenden sind.92 Als unmittelbare Rechtfolge wird dem Aufnahmemitgliedstaat verwehrt, für entsandte Arbeitnehmer die Anwendung seines Sozialversicherungsrechts zu verlangen.93 werbs beitragen sowie Verletzungen von Arbeitnehmerrechten und Ausbeutung der Arbeitnehmer bewirken. 86 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EG 2004 Nr. L 166, S. 1; maßgeblich daneben ist ebenso die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EU 2009 Nr. L 284, S. 1. Zur Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit als bevorzugte Regulierungsstrategie im Vergleich zur Harmonisierung H. Wenander, REALaw 13 (2020), 89 (92 ff.). 87 B.-R. Killmann, EuZW 2020, 716 (723); H. Verschueren, MJ 27 (2020), 484 (485). 88 Art. 12 Verordnung (EG) Nr. 883/2004. 89 Art. 11 Abs. 3 lit. a) Verordnung (EG) Nr. 883/2004. 90 Vgl. Art. 14 Verordnung (EG) Nr. 987/2009. 91 Gemäß Art. 14 Abs. 1 lit. a) i) der früheren Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. EG 1971 Nr. L 149, S. 2; Art. 11 Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. EG 1972 Nr. L 74, S. 1. 92 Art. 19 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 987/2009. Diese Bescheinigung kann auch Rückwirkung entfalten, indem sie sich auf einen Zeitraum erstreckt, der zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung teilweise oder ganz abgelaufen ist, sogar ungeachtet davon, ob der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, zum Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung bereits einen Bescheid erlassen hatte, wonach der betreffende Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt. S. hierzu EuGH, Rs. C-178/97, Slg. 2000, I-2005, Rn. 49 ff. – Banks u.a.; Rs. C-527/16, ECLI:EU:C:2018:669, Rn. 70 ff. – Alpenrind u.a. 93 EuGH, Rs. C-202/97, Slg. 2000, I-883, Rn. 49 – FTS; Rs. C-2/05, Slg. 2006, I-1079, Rn. 21 – Herbosch Kiere; Rs. C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555, Rn. 85 – Kommission/Belgien; Rs. C-620/15, ECLI:EU:C:2017:309, Rn. 38 – A-Rosa Flussschiff; Rs. C-359/16, ECLI:

C. Vertrauen als Rechtsgrundsatz: Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit 23

Der EuGH hat sich früh mit der Bindungswirkung der Entsendebescheinigung und der Frage von deren Anerkennung durch den Aufnahmemitgliedstaat auseinandergesetzt. Dabei hat er der Bescheinigung eine absolute Geltung verliehen. Die Entsendebescheinigung begründet nämlich eine Vermutung dafür, dass der Anschluss des entsandten Arbeitnehmers an das System sozialer Sicherheit des Herkunftsmitgliedstaats ordnungsgemäß ist. In der Folge bindet sie daher den zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats,94 solange sie nicht durch die Ausstellungsbehörde zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird.95 Ähnlich ist die Ausstellungsbehörde nach dem Loyalitätsgrundsatz verpflichtet, den Sachverhalt, der für die Bestimmung der im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Entsendebescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten.96 Könnte der Aufnahmemitgliedstaat bzw. seine Gerichte einseitig über die Rechtmäßigkeit der Bescheinigung urteilen und diese außer Acht lassen, würde er gegen den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen.97 Die Bindungswirkung der Entsendebescheinigung besteht dabei fort, auch wenn die Ausstellungsbehörde einen offensichtlichen Beurteilungsfehler in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen des Sekundärrechtsakts begangen hat bzw. in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise gehandelt hat.98 Etwaige Zweifel über die Gültigkeit bzw. Rechtmäßigkeit der Bescheinigung sind im Wege der Zusammenarbeit und des Dialogs zwischen den Behörden des Ausstellungs- und des Aufnahmemitgliedstaats, gegebenenfalls mit der Mitwirkung der in der Verordnung vorgesehenen Verwaltungskommission, zu beseitigen.99 Die E-101 bzw. A1-Bescheinigung galt EU:C:2018:63, Rn. 36 – Altun u.a.; Rs. C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379, Rn. 39 – Bouygues travaux publics u.a. 94 In Bezug auf die E-101-Bescheinigung EuGH, Rs. C-178/97, Slg. 2000, I-2005, Rn. 40 – Banks u.a.; Rs. C-202/97, Slg. 2000, I-883, Rn. 53 – FTS; Rs. C-2/05, Slg. 2006, I-1079, Rn. 24 – Herbosch Kiere; Rs. C-620/15, ECLI:EU:C:2017:309, Rn. 41 – A-Rosa Flussschiff; in Bezug auf die A1-Bescheinigung Rs. C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555, Rn. 87 – Kommission/ Belgien. 95 EuGH, Rs. C-178/97, Slg. 2000, I-2005, Rn. 42 – Banks u.a.; Rs. C-202/97, Slg. 2000, I-883, Rn. 55 – FTS; Rs. C-2/05, Slg. 2006, I-1079, Rn. 26, 31 – Herbosch Kiere; Rs. C-620/15, ECLI:EU:C:2017:309, Rn. 43, 48 – A-Rosa Flussschiff; Rs. C-356/15, ECLI:EU:C: 2018:555, Rn. 94 – Kommission/Belgien; Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 41 – Altun u.a.; Rs. C-527/16, ECLI:EU:C:2018:669, Rn. 74 – Alpenrind u.a.; verb. Rs. C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 63 – CRPNPAC. 96 EuGH, Rs. C-202/97, Slg. 2000, I-883, Rn. 51 – FTS. 97 EuGH, Rs. C-2/05, Slg. 2006, I-1079, Rn. 20 – Herbosch Kiere; Rs. C-620/15, ECLI: EU:C:2017:309, Rn. 47, 49 – A-Rosa Flussschiff; Rs. C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555, Rn. 86, 94 – Kommission/Belgien; verb. Rs. C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 72 – CRPNPAC. 98 EuGH, Rs. C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555, Rn. 93, 97 f. – Kommission/Belgien; Rs. C-620/15, ECLI:EU:C:2017:309, Rn. 52 f. – A-Rosa Flussschiff; Rs. C-17/19, ECLI:EU:C: 2020:379, Rn. 42 – Bouygues travaux publics u.a. 99 EuGH, Rs. C-178/97, Slg. 2000, I-2005, Rn. 43 – Banks u.a.; Rs. C-202/97, Slg. 2000,

24

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

somit ursprünglich als eine unwiderlegbare Vermutung der rechtmäßigen Anwendung des einschlägigen Unionsrechts.100 Seit dem Jahr 2018 verfolgt der EuGH jedoch eine Rechtsprechungslinie, die der absoluten Bindungswirkung der Entsendebescheinigung Grenzen setzt und den nationalen Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats die Befugnis zuerkennt, E-101 bzw. A1-Bescheinigungen unter zwei kumulativen Voraussetzungen unberücksichtigt zu lassen: Zunächst müssen Indizien dafür vorliegen, dass die Bescheinigung in betrügerischer bzw. rechtsmissbräuchlicher Weise erlangt worden ist.101 Dieser Umstand ist allerdings für sich allein nicht geeignet, die Bindungswirkung der Bescheinigung zu versagen.102 Denn nach den Grundsätzen der loyalen Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens wird durch die Ausstellung der Entsendebescheinigung die Vermutung aufgestellt, dass der betroffene Arbeitnehmer ordnungsgemäß an das System sozialer Sicherheit des Herkunftsmitgliedstaats angeschlossen ist.103 Die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats muss daher unverzüglich Kontakt mit der Ausstellungsbehörde aufnehmen, welche sodann gemäß dem Loyalitätsgrundsatz anhand dieser Beweise erneut zu prüfen hat, ob die Ausstellung der Bescheinigung zu Recht erfolgt ist, und diese gegebenenfalls zurückzuziehen hat.104 Nur wenn die Ausstellungsbehörde nicht innerhalb einer angemessenen Frist eine solche erneute Überprüfung vornimmt, dürfen diese Beweise im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden, um zu erreichen, dass das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats die betreffende Bescheinigung außer Acht lässt.105 Wichtig ist dabei festzuhalten, dass nur die Gerichte und nicht etwa die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats zur Beurteilung der Bindungswirkung der Entsendebescheinigung befugt sind, sodass die Achtung des Rechts auf faires Verfahren der betreffenden Personen gewährleistet wird.106 I-883, Rn. 56 – FTS; Rs. C-2/05, Slg. 2006, I-1079, Rn. 27 f. – Herbosch Kiere; Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 54 – Altun u.a.; vgl. auch Art. 76 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sowie Art. 5 Verordnung (EG) Nr. 987/2009, die die bisherige EuGH-Rechtsprechung kodifiziert haben. Dazu H. Wenander, REALaw 13 (2020), 89 (97), der die Verwaltungskommission als Netzwerk einstuft, das der Vertrauensstärkung zu dienen vermag. 100 Ähnlich C. Brand, EuZA 2020, 440 (445 f.). 101 Die Feststellung des Betrugs unterliegt objektiven sowie subjektiven Elementen, EuGH, Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 50 ff. – Altun u.a. 102 EuGH, verb. Rs. C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 61 – CRPNPAC. 103 EuGH, verb. Rs. C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 62 – CRPNPAC; Rs. C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379, Rn. 40 – Bouygues travaux publics u.a. Zum gegenseitigen Vertrauen als Voraussetzung für die erfolgreiche Koordinierung der nationalen Systeme sozialer Sicherheit vgl. H. Wenander, REALaw 13 (2020), 89 (94 ff.). 104 EuGH, Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 54 – Altun u.a.; verb. Rs. C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 72 – CRPNPAC; H. Wenander, REALaw 13 (2020), 89 (102). 105 EuGH, Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 55 – Altun u.a.; verb. Rs. C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 75 ff. – CRPNPAC. 106 EuGH, Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 54 ff. – Altun u.a.; verb. Rs. C-370/17

D. Vertrauen als Ziel sekundärrechtlicher Maßnahmen

25

Indem in der Rechtsprechung des EuGH gegenseitiges Vertrauen ausdrücklich als Grundsatz des Unionsrechts mit normativem Gehalt eingestuft wird, zeigt sich einmal mehr die dynamische Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes – vor allem im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR).107 Die Zuerkennung von Grenzen der absoluten Bindungswirkung der Entsendebescheinigungen reagiert auf die Anpassungsbedürftigkeit der früheren EuGHRechtsprechung, indem nunmehr auch hier von der widerlegbaren Natur des Vertrauensgrundsatzes ausgegangen wird. Es bestehen allerdings Bedenken gegen die (zu) hohe Schwelle für die Widerlegung der Vertrauensvermutung, die über die offensichtliche Missachtung des Unionsrechts bzw. das Vorliegen eines nachweislichen Betrugs hinausgeht und eine Untätigkeit der Ausstellungsbehörde verlangt.108

D. Vertrauen als Ziel sekundärrechtlicher Maßnahmen Auch in der Rechtsetzung der EU spielt Vertrauen eine prominente Rolle. Dabei wird Vertrauen als Ziel von Maßnahmen zur Schaffung eines verdichteten Rechtsrahmens und von Mindeststandards in Bezug auf die gemeinsamen Interessen der EU begriffen.109 In concreto geht es dabei vor allem um Gesundheits-,

und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 77 – CRPNPAC; Rs. C-17/19, ECLI:EU:C: 2020:379, Rn. 43 – Bouygues travaux publics u.a. 107 Dazu unter 2. Kap., S. 33 ff. 108 Ebenso kritisch gegen die Herangehensweise des EuGH L. Driguez, CMLRev. 58 (2021), 929 (945 ff.); H. Verschueren, MJ 27 (2020), 484 (497 f.); Schlussanträge GA H. Saugmandsgaard ØE, Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2017:850, Rn. 70 – Altun u.a.; Schlussanträge GA H. Saugmandsgaard ØE, verb. Rs. C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2019:592, Rn. 87 ff. – CRPNPAC. 109 Erwägungsgr. 22 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Oktober 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. EG 2000 Nr. L 178, S. 1; Erwägungsgr. 7 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EU 2006 Nr. L 376, S. 36 (Dienstleistungsrichtlinie); Erwägungsgr. 29, 34 Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern, ABl. EU 2009 Nr. L 146, S. 1; Erwägungsgr. 5 Verordnung (EU) Nr. 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen den Mitgliedstaaten des Euroraums, ABl. EU 2011 Nr. L 316, S. 1; Art. 32 Abs. 2 lit. b) Verordnung (EU) 2019/1020 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten sowie zur Änderung der Richtlinie 2004/42/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 765/2008 und (EU) Nr. 305/2011, ABl. EU 2019 Nr. L 169, S. 1; vgl. auch KOM(85) 310 endg., S. 18, Rn. 64; Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung (85/C 136/01).

26

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

Umwelt- und Verbraucherschutzinteressen, die im Rahmen des Art. 36 AEUV bzw. im Sinne von „zwingenden Erfordernissen“ als Rechtfertigungsgründe durch die Mitgliedstaaten – häufig erfolgreich – vorgebracht werden, um eine nationale, die Grundfreiheiten einschränkende Maßnahme durchzusetzen. Ein prominentes Beispiel für eine sekundärrechtliche Vertrauensstärkung stellt die Dienstleistungsrichtlinie dar,110 die auf die Beseitigung der Beschränkungen von Dienstleistungstätigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten zielt. Zur Entstehung der Dienstleistungsrichtlinie hat – unter anderem – das fehlende gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beigetragen,111 welches nun durch eine ausgewogene Kombination aus Harmonisierung und Verwaltungszusammenarbeit gestärkt wird. Die „Sprengkraft“ der Richtlinie hat sich in der Praxis allerdings als gering erwiesen.112 Sie hat zwar Transparenz- bzw. Informationspflichten sowie die Verwaltungszusammenarbeit von nationalen Behörden festgeschrieben,113 Art. 16114 der Richtlinie fußt aber weitgehend auf dem schon durch die Rechtsprechung des EuGH herausgebildeten Spannungsverhältnis zwischen Anerkennung und Beschränkungsmöglichkeiten, sodass den praktischen Hindernissen bei der Durchsetzung der Anerkennung115 mit Art. 16 allein kaum begegnet werden kann.116 Die Kommission bemüht sich daher in ihren neueren Gesetzgebungsvorschlägen, diese Probleme durch bessere Durchsetzungsmechanismen und ein modernisiertes Notifizierungsverfahren zu bewältigen.117

110

Richtlinie 2006/123/EG (Fn. 109). Dazu statt vieler C. Barnard, CMLRev. 45 (2008), 323 (325 ff.); A. Dashwood/M. B. Dougan/B. J. Rodger u.a., Wyatt and Dashwood’s European Union law, 6. Aufl. 2011, S. 599 ff.; S. Weatherill, Mitchell Working Paper Series 2007, 1, 4 ff. 111 Erwägungsgr. 3 Dienstleistungsrichtlinie. Dazu auch G. Davies, in: I. Lianos/O. Odudu (Hrsg.), Regulating Trade in Services, 2012, S. 99 (101 ff.); M. Holoubek, in: J. Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 132 ff.; M. Ludwigs, in: M. A. Dauses/ders. (Hrsg.), EU-WirtschaftsR-HdB, 54. Aufl. 2021, E. I. Grundregeln, Rn. 233 ff. 112 S. KOM(2016) 821 endg., S. 2 f. 113 Ζ.Β. Art. 7, 21, 28 ff. der Richtlinie 2006/123/EG. 114 Zur dessen Anwendungsbereich grundlegend EuGH, Rs. C-593/13, ECLI:EU:C: 2015:399, Rn. 34 ff. – Rina Services u.a. 115 Dazu s. KOM(2002) 441 endg. 116 Der im ersten Dienstleistungsrichtlinie-Vorschlag vorgesehene Art. 16 war radikaler. Danach sollte der grenzüberschreitend agierende Dienstleister zur Aufnahme und Ausübung seiner Tätigkeit ausschließlich den Herkunftslandbestimmungen unterliegen. Dies stellte einen quasi automatischen Anerkennungsgrundsatz dar. Diese Vorschrift ist jedoch auf starken politischen Widerstand gestoßen und hat sich letztendlich nicht durchsetzen können. Dazu auch C. Calliess, Die Dienstleistungsrichtlinie, 2007, S. 14 ff.; ders./S. Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 6, Rn. 31; J. Loder, JEPP 18 (2011), 566 (569 ff.), der die Nicht-Beteiligung der betroffenen Interessengruppen als Grund für den Misserfolg der geltenden Dienstleistungsrichtlinie ansieht. 117 Vgl. KOM(2015) 550 endg.; KOM(2016) 821 endg.

D. Vertrauen als Ziel sekundärrechtlicher Maßnahmen

27

Im Bereich der Warenverkehrsfreiheit wird Vertrauen durch die Festlegung von allgemeinen Anforderungen, denen die Produkte genügen müssen, um in den Verkehr gebracht werden zu können, auf Unionsebene gefördert.118 Weitere, detailliertere Anforderungen erfolgen in Form von „harmonisierten“ bzw. „europäischen“ Normen, die in einem besonderen Verfahren119 durch die Europäischen Normungsorganisationen120 erlassen werden. Diese technischen Normen entfalten aber – anders als die Richtlinien – keine unmittelbare Rechtswirkung.121 Um die Konformität eines Produkts mit den jeweiligen auf Unionsebene harmonisierten Anforderungen (aber nicht mit den technischen Normen) zu verdeutlichen, wird auf diesem die sog. CE-Kennzeichnung angebracht.122 Zur Anbringung des CE-Zeichens ist derjenige Hersteller befugt, der die Konformitätskontrolle entweder selbst oder durch eine Konformitätsbewertungsstelle durchführt.123 Letzteres ist erforderlich, wenn bestimmte Harmonisierungsvorschriften für die Konformitätskontrolle die Beteiligung einer Konformitätsbewertungsstelle vorsehen.124 Auf diese Weise erhält ein Produkt die Zertifizierung, im Binnenmarkt verkehrsfähig zu sein.125 Die Bestätigung, dass eine Konformitätsbewertungsstelle befugt ist, die Konformitätsbewertung durchzuführen, wird als Akkreditierung bezeichnet. Sie obliegt dabei der jeweiligen nationalen Akkreditierungsstelle.126 Das Akkreditierungsverfahren zielt darauf ab, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die fachliche Kompetenz der Konformitätsbewertungsstellen 118

Eine Liste der sekundärrechtlich voll- bzw. teilharmonisierten Bereiche findet sich im Anhang I der Verordnung (EU) 2019/1020. 119 Nach der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur europäischen Normung, zur Änderung der Richtlinien 89/686/EWG und 93/15/EWG des Rates sowie der Richtlinien 94/9/EG, 94/25/EG, 95/16/EG, 97/23/EG, 98/34/EG, 2004/22/EG, 2007/23/EG, 2009/23/EG und 2009/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung des Beschlusses 87/95/EWG des Rates und des Beschlusses Nr. 1673/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EU 2012 Nr. L 316, S. 12, zuletzt geändert durch die Verordnung (EU) 2019/1020. 120 Diese sind das Europäische Komitee für Normung (CEN), das Europäische Komitee für elektrotechnische Normung (CENELEC) und das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI). 121 U. Di Fabio, Produktharmonisierung, 1996, S. 8, 18; H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, 2000, S. 5. 122 Vgl. Art. 30 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr. 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates, ABl. EU 2008 Nr. L 218, S. 30. 123 Art. 30 Abs. 1 und 3 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 124 Die einschlägigen Unionsrechtsakte, die eine Konformitätskontrolle durch die Konformitätsbewertungsstellen vorsehen, sind unter https://ec.europa.eu/growth/tools-databas es/nando/index.cfm?fuseaction=directive.main abrufbar. 125 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-6/05, Slg. 2007, I-4557, Rn. 42 – Medipac – Kazantzidis; Rs. C-277/15, ECLI:EU:C:2016:770, Rn. 37 – Servoprax. 126 Art. 5 Verordnung (EG) Nr. 765/2008.

28

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

und in die von ihnen ausgestellten Bescheinigungen und dadurch in den Anerkennungsmechanismus selbst zu stärken.127 Vertrauensbildend wirkt daneben die Europäische Kooperation für Akkreditierung (EA), welche damit betraut ist, die Beurteilung der nationalen Akkreditierungsstellen zu organisieren und zu veröffentlichen.128 Das Beurteilungsverfahren wird von der Kommission überwacht.129 Die Akkreditierungs- und Zertifizierungsverfahren spiegeln den Umfang der Kooperation im Europäischen Verwaltungsverbund wider,130 indem den auf diese Weise zustande gekommenen Bescheiden als transnationale Verwaltungsakte in den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten unmittelbare Geltung verliehen wird.131 So intensiv die Bemühungen zur Stärkung des Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten auf der Normsetzungs- und Akkreditierungsebene auch sein mögen, muss gleichwohl auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit dieses Vertrauen den Anforderungen der Marktüberwachung132 genügt. Hiermit beauftragt ist nunmehr133 ein Unionsnetzwerk, welches der strukturierten Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den Vollzugsbehörden der Mitgliedstaaten und der Kommission dient.134 Die nationalen Marktüberwachungsbehörden fördern die ständige und aktive Zusammenarbeit, indem ihre Vertreter sich zu diesem Zweck an den sog. Gruppen zur administrativen Zusammenarbeit (ADCO) beteiligen.135 Die ADCO haben unter anderem die Aufgabe der Förderung der Kommunikation zwischen den Marktüberwachungsbehörden und dem Netzwerk sowie des Aufbaus von gegenseitigem Vertrauen zwischen den nationalen Marktüberwachungsbehörden.136 Sollten die nationalen Marktüberwachungsbehörden feststellen, dass das auf den Markt gebrachte Produkt den für dieses Produkt geltenden unionsrechtlichen Harmonisierungsvorschriften nicht entspricht oder dass es ein ernstes Risiko für Gesundheit, Sicherheit, Umwelt oder ein anderes öffentliches Interesse darstellt, sind diese zur Aussetzung137 bzw. Ab127

S. Erwägungsgr. 12 und 13 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. Art. 10 ff. Verordnung (EG) Nr. 765/2008. Vgl. auch Erwägungsgr. 23 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. Die letzte Beurteilung ist unter https://european-accreditation.org/mutua l-recognition/peer-evaluation/ abrufbar. 129 Art. 10 Abs. 7 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 130 Die Akkreditierungs- und CE-Kennzeichnungsverfahren wurden als erfolgreich bewertet, s. KOM(2017) 787 endg., S. 8. Zur Vertrauensgenerierung und Vertrauensstabilisierung durch Akkreditierung und Zertifizierung E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (144 ff.). 131 Vgl. H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, 2000, S. 29. 132 Verordnung (EU) Nr. 2019/1020 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten sowie zur Änderung der Richtlinie 2004/42/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 765/2008 und (EU) Nr. 305/2011, ABl. EU 2019 Nr. L 169, S. 1. 133 Seit dem 21.06.2021. 134 Art. 29 Verordnung (EU) Nr. 2019/1020. 135 Art. 11 Verordnung (EU) Nr. 2019/1020. 136 Art. 32 Abs. 2 lit. b) Verordnung (EU) Nr. 2019/1020. 137 Art. 26 Verordnung (EU) Nr. 2019/1020. 128

D. Vertrauen als Ziel sekundärrechtlicher Maßnahmen

29

lehnung138 der Überlassung zum freien Verkehr befugt.139 Es gilt also kein Regime „blinden“ Vertrauens in das Akkreditierungs- und Zertifizierungsverfahren. In den nicht harmonisierten Bereichen wird das Vertrauen durch ein ex-ante-Informationsverfahren hinsichtlich technischer Vorschriften für Erzeugnisse sichergestellt.140 Es handelt sich hauptsächlich um ein Frühwarnsystem, nach dem die Mitgliedstaaten in die Pflicht genommen werden, der Kommission jeden Entwurf einer technischen Vorschrift unverzüglich zu übermitteln. Daran schließt sich eine Stillhaltepflicht an, während derer ein Dialog zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat sowie den Mitgliedstaaten untereinander hinsichtlich möglicher Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die beabsichtigte Maßnahme stattfindet.141 Verstößt ein Mitgliedstaat gegen seine Mitteilungspflicht, folgt hieraus die Unanwendbarkeit der betreffenden technischen Vorschriften.142 Daneben wird fortan die Durchsetzung und reibungslose Anwendung des Anerkennungsgrundsatzes durch die Verordnung (EU) Nr. 2019/515 erleichtert.143 Da die Geltendmachung des Anerkennungsgrundsatzes in den nicht harmonisierten Bereichen in der Praxis aufgrund mangelnden Vertrauens zwischen den Verwaltungsbehörden auf große Schwierigkeiten stößt,144 enthält diese Verordnung verfahrenstechnische Regeln zur Beseitigung derartiger Hindernisse.145 Das Kernstück des neuen Ansatzes bildet die freiwillige 138

Art. 28 Verordnung (EU) Nr. 2019/1020. Vgl. dazu EuGH, Rs. C-470/03, Slg. 2007, I-2749, Rn. 62 – AGM-COS.MET; Rs. C-6/05, Slg. 2007, I-4557, Rn. 46 – Medipac; Rs. C-40/04, Slg. 2005, I-7755, Rn. 50 f. – Yonemoto. 140 S. Erwägungsgr. 8 Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft, ABl. EU 2015 Nr. L 241, S. 1. Dazu P. Crame´r, in: M. Dougan/S. Currie (Hrsg.), 50 Years of the European Treaties, 2009, S. 43 (52). 141 Art. 5 und 6 der Richtlinie (EU) 2015/1535. 142 Grundlegend EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 45 ff. – CIA Security International/Signalson und Securitel; Rs. C-336/14, ECLI:EU:C:2016:72, Rn. 67 f. – Ince; Dazu C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 112 ff.; S. Weatherill, YEL 16 (1996), 129 (129 ff.); R. Munoz, in: T. Tridimas/P. Nebbia (Hrsg.), European Union Law, 2004, S. 103 (115 ff.); W. Schroeder, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 34 AEUV, Rn. 16. Zu den Auswirkungen der Unanwendbarkeit zwischen Privatparteien s. P. Craig, ELRev. 34 (2009), 349 (349 ff.). 143 Verordnung (EU) Nr. 2019/515 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2019 über die gegenseitige Anerkennung von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 764/2008, ABl. EU 2019 Nr. L 91, S. 1. Bis dahin galt die Verordnung (EG) Nr. 764/2008, welche jedoch weitgehend – auch vom EuGH – ignoriert wurde: s. EuGH, Rs. C-672/15, ECLI:EU:C:2017:310 – Noria Distribution: Der EuGH nimmt hier keinen Bezug auf die Verordnung (EG) Nr. 764/2008, obwohl diese in dieser Rechtssache anwendbar wäre. Zum Misserfolg der Verordnung (EG) Nr. 764/2008 auch L. De Lucia, REALaw 13 (2020), 7 (13); S. Weatherill, ELRev. 43 (2018), 224 (228). 144 KOM(2017) 787 endg., S. 8 f. 145 Vgl. H. Droste, EWS 2019, 261 (264), der diese Entwicklung insgesamt positiv bewertet; 139

30

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

Selbsterklärung des Herstellers,146 dass Waren in einem Mitgliedstaat rechtmäßig mit dem Ziel in den Verkehr gebracht worden sind,147 unnötigen Aufwand, Verzögerungen und zusätzliche Kosten zu vermeiden. Rechtliche Konsequenz dieser Erklärung ist die Verpflichtung der Behörde des Bestimmungsstaats, keine weiteren Unterlagen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des In-Verkehr-Bringens der Ware vom Wirtschaftsteilnehmer als Nachweis anzufordern.148 Insoweit wird das Vertrauen in den Inhalt und die Richtigkeit der Angaben als gegeben angenommen. Wenn erforderlich, kann die zuständige nationale Behörde direkten Kontakt mit den zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats aufnehmen, um weitere Informationen einzuholen.149 Anhand von entsprechenden Unterlagen kann nun die zuständige Behörde die materielle Überprüfung der gegenseitigen Anerkennung unter Berücksichtigung von Art. 36 AEUV und der zwingenden Erfordernisse vornehmen.150 Der Wirtschaftsakteur darf nichtsdestotrotz während der Durchführung dieser Bewertung die Waren im Bestimmungsstaat auf dem Markt bereitstellen,151 es sei denn, die Waren stellen ein erhebliches Risiko für die Sicherheit, Gesundheit von Menschen oder die Umwelt dar bzw. ihre Bereitstellung ist aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit oder der öffentlichen Sicherheit generell verboten.152 Sofern sich Widerstände bezüglich der Durchsetzung des Anerkennungsgrundsatzes ergeben, kann sich der betroffene Wirtschaftsteilnehmer an das SOLVIT-Netzwerk153 wenden und eine außergerichtliche Lösung finden. Das SOLVIT-Verfahren wird durch die Beteiligung der Kommission ergänzt, die eine eigene rechtliche Bewertung der eventuellen Verletzung der gegenseitigen Anerkennung vornimmt.154 Die Befugnisse der Kommission nach Art. 258 AEUV

dazu auch C. Barnard, The Substantive Law of the EU, 6. Aufl. 2019, S. 194 f.; L. De Lucia, REALaw 13 (2020), 7 (13 ff.). 146 Gegebenenfalls auch vom Einführer oder Händler, so Anhang Teil II Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 147 Art. 4 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 148 Art. 5 Abs. 4 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 149 Art. 5 Abs. 7 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. Der Informationsaustausch soll innerhalb von 15 Arbeitstagen erfolgen, so Art. 10 Abs. 3 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 150 Art. 1 Abs. 2, Erwägungsgr. 4 und 5 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. Im Erwägungsgr. 4 wird ausdrücklich erwähnt, dass „[d]er Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung […] nicht absolut [gilt].“ 151 Art. 5 Abs. 3 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 152 Art. 5 Abs. 3 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 153 SOLVIT ist mit der Empfehlung der Kommission vom 17.9.2013 zu den Grundsätzen für SOLVIT, 2013/461/EU (ABl. EU 2013 Nr. L 249, S. 9) eingerichtet. Es handelt sich um einen von den Verwaltungen jedes Mitgliedstaats bereitgestellten Dienst, der Lösungen für Personen sowie für Unternehmen finden soll, wenn ihre Rechte durch die Behörden eines anderen Mitgliedstaats verletzt wurden. Die deutsche SOLVIT-Stelle ist z.B. im Bundeswirtschaftsministerium angesiedelt. 154 Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. Dazu auch H. Droste, EWS 2019, 261 (263).

E. Zwischenergebnis

31

sowie die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einhaltung des Unionsrechts bei der Behandlung von Problemen, die bei der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auftreten, bleiben davon unberührt.155 Aus dem SOLVIT-Verfahren folgen keine rechtsverbindlichen Entscheidungen, sodass nationale Rechtsbehelfe weder ersetzt noch gehemmt werden.156 Positiv hervorzuheben ist in diesem Rahmen die besondere Betonung gegenseitigen Vertrauens, welches „eine beispiellose Integration der Märkte innerhalb der EU“ ermöglicht und auf welchen auch das reibungslose Funktionieren der gegenseitigen Anerkennung beruht.157 Mit Blick auf die Stärkung des Vertrauens158 schreibt die Verordnung (EU) Nr. 2019/515 einen neuen Rahmen für die ständige Zusammenarbeit der nationalen Behörden miteinander und mit der Kommission sowie für die Schulung und den Austausch von Beamten fest.159 Nicht zuletzt wird dafür Sorge getragen, dass eine Zusammenarbeit zwischen nationalen Behörden durch Produktinfostellen und Wirtschaftsteilnehmer erfolgt, damit für die Letzteren die notwendigen Informationen über die Funktionsweise der gegenseitigen Anerkennung jederzeit zur Verfügung stehen.160 Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Unionsgesetzgeber mit der neuen Verordnung viel Wert auf vertrauensbildende Maßnahmen gelegt hat, deren Wirksamkeit jedoch abzuwarten bleibt.161

E. Zwischenergebnis Im Binnenmarkt bildet das gegenseitige Vertrauen die Grundlage für die einzelnen Pflichten zur gegenseitigen Anerkennung und Kooperation zwischen den nationalen Behörden.162 In der Vergangenheit stand allerdings Vertrauen als Integrationsinstrument für eine längere Zeit im Schatten der Harmonisierung und wurde insgesamt unterschätzt, wenn nicht sogar als nachteilig für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts beurteilt.163 Dabei wird keine klare Ab155

Erwägungsgr. 40 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. Teil III, Nr. 5 und 6 SOLVIT-Empfehlung. 157 Vgl. KOM(2017) 787 endg., S. 1, 10. 158 Vgl. Erwägungsgr. 48 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 159 Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 160 Art. 9 Verordnung (EU) Nr. 2019/515. 161 Vgl. Erwägungsgr. 7 Verordnung (EU) Nr. 2019/515; KOM(2017) 787 endg., S. 11. 162 Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung EuGH, Rs. C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282, Rn. 40 f. – Donnellan; Rs. C-574/17 P, ECLI:EU:C:2018:598, Rn. 50 – Kommission/Combaro; Rs. C-675/17, ECLI:EU:C:2018:990, Rn. 31 – Preindl. Eine Kontrolle, mit der sichergestellt werden soll, dass die Anerkennung tatsächlich erfolgt ist, sei überflüssig und erscheine unverhältnismäßig angesichts der Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen zwischen den Verwaltungsbehörden, EuGH, Rs. C-168/20, ECLI:EU:C:2021:907, Rn. 122 – MH und ILA (Droits a` pension en cas de faillite). 163 J. Snell, in: E. R. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 11 (14); A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (231 f.). 156

32

1. Kapitel: Vertrauen im Binnenmarkt

grenzung zwischen den Grundsätzen des Vertrauens und der Anerkennung vorgenommen, sodass Unklarheit darüber besteht, in welchem Maße sich die Wirkungsrichtung beider Begriffe unterscheidet. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die praktischen Hindernisse, die sich bei der Umsetzung des Anerkennungsgrundsatzes ergeben,164 zumal sich die nationalen Behörden in der Praxis immer wieder auf Rechtfertigungsgründe berufen, um ihre eigenen Standards durchsetzen zu können. Mithin ist zu erkennen, dass weder der Anerkennungsgrundsatz vorbehaltlos noch der Vertrauensgrundsatz uneingeschränkt gelten können. Obwohl es an einer Definition für den Vertrauensbegriff mangelt, wird „Vertrauen“ sowohl in der Rechtsprechung als auch der Rechtspolitik und Rechtsetzung als Schlüsselwort für die Verwirklichung des Binnenmarkts begriffen.165 Der EuGH folgert aus dem Vertrauen, dass die Durchführung von Prüfungen bzw. Kontrollen dem Herkunftsmitgliedstaat obliegen und daher weitere Kontrollen durch den Bestimmungsstaat grundsätzlich ausgeschlossen sind. Auch etwaige Ordnungswidrigkeiten seitens des Herkunftsmitgliedstaats sind im Wege der Kooperation zu beseitigen. Der dahinterliegende Gedanke ist die Gleichwertigkeit allgemein der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und konkreter der jeweiligen Qualitätsstandards. Gegenseitiges Vertrauen hat in den letzten Jahren im Bereich der sozialen Sicherheit an Gewicht als Rechtsgrundsatz im Binnenmarkt gewonnen, indem der EuGH explizit die widerlegbare Vermutung der Ordnungsmäßigkeit der Entsendebescheinigungen auf den Vertrauensgrundsatz zurückgeführt hat. Dass der Vertrauensgrundsatz seine Entfaltung vor allem in der binnenmarktrechtlichen EuGH-Rechtsprechung gefunden hat, folgt aus seiner dynamischen Entwicklung im RFSR, auf welche sogleich eingegangen wird. Insgesamt gilt für den Binnenmarkt, dass Vertrauen zugleich als Grund der gegenseitigen Anerkennung wie auch als Ziel sekundärrechtlicher Maßnahmen und dabei als Rechtsgrundsatz mit normativem Gehalt fungiert. Die unterschiedlichen Funktionen, die dem Vertrauensbegriff im Binnenmarkt zukommen, mögen allerdings den Eindruck erwecken, dass seine Entwicklung auf eine eher pragmatische und weniger aus dogmatischen Gründen gebotene Herangehensweise der Unionsorgane zurückzuführen ist.166 Auch die Grenzen der Vertrauensvermutung variieren je nachdem, ob es sich um einen voll, teilweise oder nichtharmonisierten Bereich handelt, sodass die Frage nach der genauen Reichweite des Vertrauens im Binnenmarkt letztlich unbeantwortet bleibt.167

164 C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 106 ff.; E. Schmidt-Aßmann, in: H. Haller u.a. (Hrsg.), FS Winkler, 1997, S. 995 (1010 f.); J. Snell, in: E. R. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 11 (14). 165 Vgl. zuletzt EuGH, Rs. C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282, Rn. 41 – Donnellan. 166 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 103, Rn. 98. 167 Vgl. C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 142 f., Rn. 167.

2. Kapitel

Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Im RSFR erfährt der Vertrauensgrundsatz seine stärkste Ausprägung.1 Anders als im Binnenmarkt gelten im RFSR die Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, als Referenzentscheidungen, auf welche sich die Anerkennung bezieht. Wie noch darzulegen sein wird, hat dabei vor allem die EuGHRechtsprechung als Katalysator für die Ausformung und Konstitutionalisierung des Vertrauensgrundsatzes gewirkt.

A. Vertrauen als (stillschweigende) grundlegende Prämisse Der Vertrauensgrundsatz hat für das Unionsziel des RFSR (vgl. Art. 3 Abs. 2 EUV) eine erhebliche Bedeutung erlangt.2 Die EU verfügt in diesem Bereich über eine geteilte Zuständigkeit (vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV), die sie unter Beachtung der in Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV festgelegten Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ausüben muss. Die vom RFSR erfassten Politikbereiche sind Grenzkontrolle, Asyl und Einwanderung (Art. 67 Abs. 2 AEUV), justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und polizeiliche Zusammenarbeit (Art. 67 Abs. 3 AEUV) sowie justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen (Art. 67 Abs. 4 AEUV).3 Grundlegender Baustein des RFSR ist das Prinzip der gegen1

So auch C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (374 f.). S. dazu den Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, vom Rat (Justiz und Inneres) am 3.12.1998 angenommener Text: ABl. EG 1999 Nr. C 19, S. 1. Zur Entwicklung des RFSR vgl. S. Breitenmoser/R. Weyeneth, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Bd. II, Vor Art. 67–76 AEUV, Rn. 1 ff.; V. Röben, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 67 AEUV, Rn. 1 ff.; O. Suhr, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 67 AEUV, Rn. 5 ff.; W. Weiß/H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 67 AEUV, Rn. 3 ff.; zu den Änderungen insbesondere durch den Lissabon-Vertrag s. J. Monar, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 749 (771 ff.); P.-C. Müller-Graff, EuR 2009, Beiheft 1, 105 (105 ff.). 3 S. Breitenmoser/R. Weyeneth, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EURecht, 7. Aufl. 2015, Vor Art. 67–76 AEUV, Rn. 41; W. Weiß/H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 67 AEUV, Rn. 8. 2

34

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

seitigen Anerkennung,4 welches sich auf gegenseitiges Vertrauen stützt. Dies gilt schon seit den Schlussfolgerungen von Tampere aus dem Jahr 1999 – dem ersten Mehrjahresprogramm für den RFSR –, die die gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen zum „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit erklärten,5 ohne aber Bezug auf das gegenseitige Vertrauen zu nehmen. Die Rolle des Vertrauens tritt erst mit der Mitteilung der Kommission von 2004 über die Bilanz des Tampere-Programms und Perspektiven in Erscheinung.6 In ihr wurde festgestellt, dass die Stärkung wechselseitigen Vertrauens im justiziellen Bereich erforderlich sei.7 Auf Vertrauensdefizite hatte die Kommission hinsichtlich der Zusammenarbeit von Justizbehörden schon kurz zuvor hingewiesen.8 Darüber hinaus hat der Rat mit dem Haager Programm aus dem Jahr 2005 – dem zweiten Mehrjahresprogramm (2004–2010) für den RFSR – in der Stärkung des RFSR insgesamt die Gewährleistung der Sicherheit der Gemeinwesen, des gegenseitigen Vertrauens und der Rechtsstaatlichkeit gesehen.9 Der Akzent wurde noch stärker auf das gegenseitige Vertrauen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen gelegt, dem ein eigener Abschnitt gewidmet wurde.10 Als die Kommission vier Jahre später eine Bilanz des Erreichten zog, stellte sie fest, dass die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung insbesondere in Strafsachen nicht reibungslos funktioniere sowie dass die im Haager Programm vorgeschlagenen Rechtsinstrumente nicht aufgenommen seien.11 Aufbauend hierauf hat das Stockholmer Programm12 – das dritte Mehrjahresprogramm (2010–2014) – die Gewährleistung gegenseitigen Vertrauens und Verständnisses zur Hauptaufgabe Europas erklärt, wobei der Schwerpunkt auf die „vollständige und wirksame Umsetzung, Durchsetzung und Bewertung der bestehenden Instrumente“ gelegt wurde.13 Die Stärkung des Vertrauens im europäischen Rechtsraum wurde trotz der bis dahin erreichten Fortschritte als Herausforderung für die kommenden Jahre bezeichnet.14 Erwähnt 4

Vgl. etwa Art. 67 Abs. 4, Art. 70, Art. 81 Abs. 1 und Art. 82 Abs. 1 AEUV. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen von Tampere vom 15. und. 16. Oktober 1999, Nr. 33; vgl. auch EuGH, Rs. C-60/12, ECLI:EU:C:2013:733, Rn. 30 – Bala´zˇ: das gegenseitige Vertrauen wird als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit bezeichnet. 6 KOM(2004) 401 endg. 7 KOM(2004) 401 endg., S. 6. In der englischen Fassung werden die Begriffe „mutual confidence“ und „mutual trust“ gleichberechtigt nebeneinander verwendet. 8 KOM(2004) 328 endg., Rn. 16, 18, 22, 29. 9 Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. EU 2005 Nr. C 53, S. 2. Zur Umsetzung des Programms s. KOM(2006) 331 endg. 10 KOM(2006) 331 endg., Abschnitt 3.2. 11 KOM(2009) 263 endg., S. 15. 12 Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste Schutz der Bürger, ABl. EU 2010 Nr. C 115, S. 1. Zum Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms s. KOM(2010) 171 endg. 13 KOM(2010) 171 endg., S. 5. 14 KOM(2014) 144 endg., S. 4. 5

A. Vertrauen als (stillschweigende) grundlegende Prämisse

35

wurden nun Unabhängigkeit, Qualität und Leistungsfähigkeit der Justizsysteme sowie die Achtung des Rechtsstaatsprinzips als unerlässliche Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen.15 Nicht zuletzt hat das ΕMRK-Beitrittsgutachten16 des EuGH zur Betonung des Vertrauensgrundsatzes als Strukturprinzip des Unionsrechts mit Verfassungsrang wesentlich beigetragen. Der Vertrauensgrundsatz ermöglicht die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen und verlangt von jedem Mitgliedstaat, „dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten“.17 Daraus folgen zwei unmittelbare, negative Verpflichtungen: Zum einem ist es den Mitgliedstaaten untersagt, ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen. Zum anderen müssen die Mitgliedstaaten – von Ausnahmefällen abgesehen – auf eine Prüfung verzichten, ob ein anderer Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat.18 Der Vertrauensgrundsatz stand als „besonderes Merkmal des Unionsrechts“19 im Mittelpunkt der Herangehensweise des EuGH, um den damaligen Beitritts-Übereinkommensentwurf als Verstoß gegen die Unionsrechtsordnung einzustufen:20 Die EMRK schreibe nämlich vor, dass die Union und die Mitgliedstaaten nicht nur in ihren Beziehungen zu den Vertragsparteien, die nicht Mitgliedstaaten der Union seien, sondern auch in ihren gegenseitigen Beziehungen als Vertragsparteien anzusehen seien, selbst wenn für diese Beziehungen das Unionsrecht gelte. Deswegen würde sie von einem Mitgliedstaat verlangen, die Beachtung der Grundrechte durch einen anderen Mitgliedstaat zu prüfen, obwohl das Unionsrecht diese Mitgliedstaaten zu gegenseitigem Vertrauen verpflichte.21 Der EMRK-Beitritt sei somit geeignet, das Gleichgewicht, auf dem die Union beruhe, sowie die Autonomie des Uni15

KOM(2014) 144 endg., S. 4. EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 – Beitritt der Union zur EMRK; befürwortend K. Lenaerts, CMLRev. 54 (2017), 805 (806). 17 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 192 – Beitritt der Union zur EMRK. 18 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 192 – Beitritt der Union zur EMRK. 19 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 179 ff. – Beitritt der Union zur EMRK. 20 Dazu kritisch H. Battjes/E. Brouwer, REALaw 8 (2015), 183 (193); D. Halberstam, GLJ 16 (2015), 105 (113 ff.); C. Kohler, ZEuS 2016, 135 (151); E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 149 ff.; V. Mitsilegas, eucrim 2015, 90 (92): Durch das unterstellte Vertrauen sieht der Autor eine erhebliche Untergrabung der rechtlichen Position des Individuums im Bereich des Strafrechts; M. Smith, ELJ 25 (2019), 561 (566 f.) betrachtet dies als verpasste Gelegenheit, die europäische Rechtsstaatlichkeit als Verfassungsprinzip zu untermauern; S. Peers, GLJ 16 (2015), 213 (220 f.), der ebenso behauptet, dass der Grundrechtsschutz – den Verträgen folgend – dem Vertrauensprinzip im RFSR vorrangig sein sollte. 21 H. P. Aust, EuR 2017, 106 (115 f.). 16

36

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

onsrechts zu beeinträchtigen.22 So hat der EuGH dem Vertrauensgrundsatz Verfassungsrang zugesprochen23 und seine grundlegende Bedeutung für das ganze Unionsrecht klargemacht.

B. Übertragbarkeit des Anerkennungsprinzips auf den RFSR Ziel der Anwendung des Anerkennungsprinzips im RFSR ist die Gewährleistung der Verkehrsfähigkeit nicht nur für Waren, sondern auch für gerichtliche Entscheidungen. Aus der Übertragung des im Binnenmarkt verwurzelten Anerkennungsprinzips auf den RFSR ergibt sich unmittelbar die Frage, inwieweit dies vor dem Hintergrund der in wesentlichen Punkten unterschiedlichen Struktur beider Politiken zu überzeugen vermag. Zunächst ist festzuhalten, dass sowohl die Grundfreiheiten als auch der RFSR zur Schaffung eines Raums ohne Binnengrenzen (Art. 3 Abs. 2 EUV) beitragen sollen. Die Vertiefung des Integrationsprojekts liegt also im Mittelpunkt beider. In diesem Prozess soll den Hoheitsakten eines Mitgliedstaats – sei es die Entscheidung, eine Ware bzw. Dienstleistung auf den Markt zu bringen, sei es eine gerichtliche Entscheidung – mittels der Anerkennung Geltung in den anderen Mitgliedstaaten verliehen werden. Es findet somit jeweils eine horizontale Souveränitätsübertragung statt, indem der Vollstreckungsmitgliedstaat so handeln soll, als wäre die Kontrolle, Zertifizierung bzw. Gerichtsentscheidung auf seinem eigenen Hoheitsgebiet erfolgt. Insbesondere weist der Binnenmarkt gewisse Gemeinsamkeiten mit der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen auf, mit der auch die Förderung des grenzüberschreitenden Handels vorangetrieben wird.24 22 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 194 – Beitritt der Union zur EMRK. Hintergrund der Argumentationslinie des EuGH scheint das Tarakhel-Urteil des EGMR zu sein. Der EGMR legte im Rahmen der Dublin II-Verordnung fest, dass der befasste Konventionsstaat nicht davon befreit ist, eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vorzunehmen und die Durchführung der Ausweisung auszusetzen, sollte eine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung festgestellt werden (EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12, § 104). Der betroffene Staat sei verpflichtet, diese Grundrechtskontrolle vorzunehmen, obwohl der Aufnahmemitgliedstaat keine systemischen Mängel aufweise (§ 115). Ähnlich hatte der EGMR früher erläutert, dass gegenseitigem Vertrauen zwar ein gewisses Gewicht zukommen müsse, eine Widerlegung jedoch im konkreten Fall möglich sei (EGMR, Entscheidung v. 18.03.2014, Ignaoua u.a./Vereinigtes Königreich, Nr. 46706/08, §§ 51 und 55); ferner unten unter 2. Kap., F., S. 99 ff. 23 T. Marguery, REALaw 10 (2017), 113 (114); F. Meyer, EuR 2017, 163 (172); S. Prechal, EP 2 (2017), 75 (91). 24 Vgl. Art. 81 Abs. 2 AEUV; Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 26.–27. Juni 2014 (EUCO 79/14), S. 5, § 11; Erwägungsgr. 26 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012. So auch E. Storskrubb, in: E. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 15 (21); dies., CYELS 2018, 179 (196); dies., in: A. Bakardjieva Engelbrekt u.a. (Hrsg.), Trust in the EU in Challenging Times, 2019, S. 159 (160). Kritisch gegenüber der

B. Übertragbarkeit des Anerkennungsprinzips auf den RFSR

37

Nichtdestotrotz sind die Unterschiede zwischen beiden Rechtsgebieten nicht zu übersehen: An erster Stelle kommt das im Bereich des freien Warenverkehrs verankerte verfassungsrechtliche Mandat, handelshindernde nationale Maßnahmen abzubauen, zum Tragen. Hiervon profitieren die wirtschaftlich aktiven Personen, indem sie aufgrund der unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten befähigt sind, sich durch Berufung auf den Anerkennungsmechanismus gegen die Anwendung von (unterschiedlichen) nationalen Vorschriften des Bestimmungsstaats zu wehren.25 Gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Anerkennung und Verwirklichung der Grundfreiheiten wirken im Binnenmarkt der Ausübung von Hoheitsgewalt entgegen und dienen somit der Marktliberalisierung.26 Anders im Bereich des RFSR: Hier steht die justizielle Zusammenarbeit bzw. die Zusammenarbeit der mitgliedstaatlichen Behörden im Mittelpunkt,27 ohne dass primärrechtlich ein Gebot zur Beseitigung nationaler Vorschriften bestünde. Tragweite und Grenzen des Anerkennungsmechanismus bestimmen sich im RFSR – mangels einer unmittelbaren Anwendung der entsprechenden Vorschriften – nur nach Sekundärrecht.28 Die Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen (in Zivil- und Strafsachen) oder von Verwaltungsakten (im Asylrecht) und das ihr zugrundeliegende Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zu Individualinteressen und zum effektiven Rechtsschutz.29 Hier dient gegenseitiges Vertrauen eher der Durchsetzung der öffentlichen Gewalt.30 Die Bestimmung der genauen Grenzen der Vertrauensvermutung erhält damit umso größeres Gewicht. Schließlich liegt ein Unterschied zwischen beiden Rechtsgebieten in der Natur der anzuerkennenden nationalen Rechtsakte bzw. Vorschriften. Im Rahmen des Binnenmarkts beziehen sich die nationalen Regelungen vorwiegend auf Produkt-

Gleichstellung der Waren mit der justiziellen Zusammenarbeit E. Jayme/C. Kohler, IPRax 2001, 501 (502 ff.). Skeptisch zur Übertragung des Anerkennungsprinzips auf Strafsachen C. Franzius, HFR 2010, 159 (168). 25 So auch L. Marin, EP 2 (2017), 141 (155); M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (409 f.). 26 N. Cambien, EP 2 (2017), 93 (110); ähnlich K. Hamenstädt, REALaw 14 (2021), 5 (9 f.). 27 Vgl. Art. 67 Abs. 3 AEUV. 28 M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (410). 29 C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380 f., 395 ff.), der dabei die Verantwortung des Unionsgesetzgebers, konkrete Ausnahmen vom Vertrauensgrundsatz sekundärrechtlich zu verankern, hervorhebt; S. Lavenex, JEPP 14 (2007), 762 (764); K. Lenaerts, The Fourth Annual Sir Jeremy Lever Lecture vom 30. Januar 2015, 1 (3 f.); L. Marin, EP 2 (2017), 141 (155); K. Nicolaı¨dis, JEPP 14 (2007), 682 (690); S. Prechal, EP 2 (2017), 75 (78). 30 W. van Ballegooij/P. Ba´rd, NJECL 7 (2016), 439 (453); N. Cambien, EP 2 (2017), 93 (110); K. Hamenstädt, REALaw 14 (2021), 5 (10); V. Mitsilegas, EU Criminal Law, 2009, S. 118; M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (408 f.). Vertrauen wirkt allerdings zugunsten des Individuums im Rahmen des ne bis in idem-Grundsatzes, E. Brouwer, ULRev. 9 (2013), 135 (137); T. Reinbacher, Strafrecht im Mehrebenensystem, 2015, S. 536.

38

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

anforderungen, technische Normen sowie Diplome und Berufsqualifikationen. Im RFSR sind alle einschlägigen – sei es materiellen oder prozessualen – Regelungen des gesamten Rechtssystems miteinbezogen, die für den Erlass eines Gerichtsurteils bzw. eines Verwaltungsakts zur Anwendung kommen.31 Letztlich geht es im RFSR weniger um die Frage, ob der Vollstreckungsmitgliedstaat ähnliche nationale Regelungen für die Verkehrsfähigkeit eines Produkts wie der Herkunftsmitgliedstaat vorsieht, als vielmehr darum, ob die gesetzgeberischen Entscheidungen des Herkunftsmitgliedstaats als Rechtssystem, vor allem in Bezug auf den Grundrechtsschutz, vertrauenswürdig sind. Angesichts dieser grundlegenden Unterschiede ist es nicht verwunderlich, dass die Übertragung des Anerkennungsprinzips auf den RFSR auf Kritik gestoßen ist.32

C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen Der Vertrauensgrundsatz betrifft in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen weitgehend das Europäische Zivilprozessrecht. Bereits im Jahre 1979 wird Vertrauen in die Rechtspflege des Ursprungsstaats als Grundlage der Pflicht zur Anerkennung von Gerichtsurteilen gemäß dem Brüsseler Übereinkommen betrachtet.33 Ähnlich gilt nach dem Maßnahmenprogramm von 2001,34 dass die Einführung von gemeinsamen Verfahrensvorschriften zur Festlegung von Mindestgarantien das Vertrauen in die nationalen Rechtssysteme zu stärken vermögen.35 Die Rechtsinstrumente, die im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen verabschiedet worden sind,36 sind zahlreich und haben nach und nach eine beträchtliche Ausdehnung erfahren.37 Die „erste Generation“38 von Rechts-

31 S. Lavenex, JEPP 14 (2007), 762 (765); M. P. Maduro, JEPP 14 (2007), 814 (823); A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (231 f.). 32 M. Nettesheim, EuR 2009, 24 (39 f.); S. Peers, CMLRev. 41 (2004), 5 (23). 33 Bericht von Herrn P. Jenard zu dem Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 1979 Nr. C 59, S. 1 (46). 34 Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil-und Handelssachen, ABl. EG 2001 Nr. C 12, S. 1. 35 Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil-und Handelssachen, ABl. EG 2001 Nr. C 12, S. 1 (5). 36 Überblick bei A. Fra˛ckowiak-Adamska, CMLRev. 52 (2015), 191 (194 ff.); M. Zilinksy, NILRev. 64 (2017), 115 (118 ff.). 37 Vgl. F. Maiani/A. Miglionico, CMLRev. 57 (2020), 7 (15 ff.). 38 A.-K. Kaufhold, EuR 2012, 408 (412); dazu auch R. Wagner, IPRax 2019, 185 (192 f.), der zwischen einer „euphorischen“ und einer „ernüchternden“ Phase unterscheidet. Letztere ist durch die Schwierigkeit, eine Konsensbildung zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen, geprägt.

C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

39

akten, wie etwa die Brüssel I-Verordnung,39 die Verordnung (EG) Nr. 1346/200040 sowie die Brüssel IIa-Verordnung41, haben die Basis für die Aufnahme von Zuständigkeits-, Anerkennungs- und Vollstreckungsregelungen gelegt.42 Die geltenden Rechtsakte beruhen auf dem primärrechtlich (Art. 81 AEUV) verankerten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung,43 aber nur einige nehmen auf das gegenseitige Vertrauen explizit Bezug.44 Durch die Einführung von prozessrechtlichen Regelungen auf europäischer Ebene wird eine Zuständigkeitsordnung zwischen den nationalen Gerichten in der EU geschaffen. Die zunehmende Regelungsdichte im Sekundärrecht wird mit der Gewährleistung von Rechtssicherheit durch Erhöhung der Vorhersehbarkeit für den Betroffenen begründet.45 In Bezug auf die materiell-rechtlichen Regelun39 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2000 L Nr. 12, S. 1. Geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU 2012 Nr. L 351, S. 1. 40 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. EG 2000 Nr. L 160, S. 1. 41 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. EG 2003 Nr. L 338, S. 1. Geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen, ABl. EU 2019 Nr. L 178, S. 1. 42 Zu einem übergreifenden Überblick, was in den letzten zwanzig Jahren in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen erreicht wurde, R. Wagner, IPRax 2019, 185 (192 ff.). 43 S. Erwägungsgr. 3 ff. Verordnung (EU) Nr. 650/2012, ABl. EU 2012 Nr. L 201, S. 107; Erwägungsgr. 3 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, ABl. EU 2012 Nr. L 351, S. 1; Erwägungsgr. 14 und 15 Verordnung (EU) Nr. 606/2013, ABl. EU 2013 Nr. L 181, S. 4; Erwägungsgr. 9, 18, 32, Art. 3 Verordnung (EU) Nr. 1382/2013, ABl. EU 2013 Nr. L 354, S. 7; Erwägungsgr. 2 Verordnung (EU) Nr. 655/2014, ABl. EU 2014 Nr. L 189, S. 59; Erwägungsgr. 65 und 67 Verordnung (EU) Nr. 2015/848, ABl. EU 2015 Nr. L 141, S. 19; Erwägungsgr. 3, 4 und 7 Verordnung (EU) Nr. 2016/1103, ABl. EU 2016 Nr. L 183, S. 1; Erwägungsgr. 3 und 55 Verordnung (EU) Nr. 2019/1111, ABl. EU 2019 Nr. L 178, S. 1. 44 Erwägungsgr. 16 und 17 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, ABl. EU 2012 Nr. L 351, S. 1; Erwägungsgr. 4 Verordnung (EU) Nr. 606/2013, ABl. EU 2013 Nr. L 181, S. 4; Erwägungsgr. 9, 8, 32, Art. 3 und 4 Abs. 2 lit. d) Verordnung (EU) Nr. 1382/2013, ABl. EU 2013 Nr. L 354, S. 7; Erwägungsgr. 65 Verordnung (EU) Nr. 2015/848, ABl. EU 2015 Nr. L 141, S. 19; Erwägungsgr. 3, 54 und 55 Verordnung (EU) Nr. 2019/1111, ABl. EU 2019 Nr. L 178, S. 1. 45 Vgl. Erwägungsgr. 9, 15, 19, 21 und 29 Verordnung (EU) Nr. 1259/2010, ABl. EU 2010 Nr. L 343, S. 10; Erwägungsgr. 37 und 48 Verordnung (EU) Nr. 650/2012, ABl. EU 2012 Nr. L 201, S. 107; Erwägungsgr. 16 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, ABl. EU 2012 Nr. L 351, S. 1; Erwägungsgr 67 Verordnung (EU) Nr. 2015/848, ABl. EU 2015 Nr. L 141, S. 19; Erwägungsgr. 15, 36 und 43 Verordnung (EU) Nr. 2016/1103, ABl. EU 2016 Nr. L 183, S. 1; Erwägungsgr. 15, 37 und 42 Verordnung (EU) Nr. 2016/1104, ABl. EU 2016 Nr. L 183, S. 30; Erwägungsgr. 2 Verordnung (EU) Nr. 2019/1111, ABl. EU 2019 Nr. L 178, S. 1.

40

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

gen ist der Betroffene den Vorschriften des Ursprungsstaats unterworfen. Mittlerweile sind eine Reihe von Mindeststandards für verfahrensrechtliche Regeln auf der Grundlage von Art. 81 Abs. 1 AEUV geschaffen worden.46 Diese sollen flankierend zu der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Zivilsachen wirken und damit die Basis für die gezielte Vereinfachung der Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen legen.47

I. Rechtsetzung: Absolutes Nachprüfungsverbot Zahlreiche Rechtakte48 verzichten auf Ordre-public-Vorbehalte49 bzw. ein Exequaturverfahren50, sodass ein Regime automatischer gegenseitiger Anerkennung herrscht. Dabei entfällt die Möglichkeit einer Prüfung, ob die anzuerkennende gerichtliche Entscheidung mit der öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats offensichtlich unvereinbar ist. Diese Entwicklung wird als Systemwechsel im europäischen Rechtsraum bezeichnet.51 Als einzige zulässige Anerkennungs- bzw. Vollstreckungsversagungsgründe können die Unvereinbarkeit mit einer anderen Entscheidung52 oder die bloßen Modalitäten des Vollstre-

46

B. Hess, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 81 AEUV, Rn. 41 ff.; S. Leible, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 81 AEUV, Rn. 22 ff.; K. Lenzig, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 81 AEUV, Rn. 8; M. Rossi, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 81 AEUV, Rn. 19 ff. 47 B. Hess, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 81 AEUV, Rn. 48; S. Leible, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 81 AEUV, Rn. 13, 52; K. Lenzig, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 81 AEUV, Rn. 5; M. Rossi, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 81 AEUV, Rn. 15. 48 Art. 17 Abs 1 Verordnung (EG) Nr. 4/2009 (Unterhaltspflichte); Art. 5 (unbestrittene Forderungen) sowie Art. 24 Abs. 2, 25 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 (gerichtliche Vergleiche und öffentliche Urkunden); Art. 5 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 (europäisches Mahnverfahren); Art. 23a Verordnung (EG) Nr. 861/2007 i.d.n.F. seit 14.7.2017 (europäisches Verfahren für geringfügige Forderungen). Die von der Kommission vorgeschlagene Abschaffung des Exequaturverfahrens im Rahmen der Überprüfung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 hat keine Unterstützung von den Mitgliedstaaten gefunden und wurde letztendlich von der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 nicht aufgenommen, KOM(2009) 175 endg., S. 2 f. 49 Dazu S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 18 ff.; M. Hazelhorst, NILRev. 65 (2018), 103 (111 ff.); C. Kohler, ZEuS 2016, 135 (137 f.); B. Sujecki, ZEuP 2008, 458 (476 ff.). 50 A. Fra˛ckowiak-Adamska, CMLRev. 52 (2015), 191 (194 ff.); E. Storskrubb, in: A. Bakardjieva Engelbrekt u.a. (Hrsg.), Trust in the EU in Challenging Times, 2019, S. 159 (168 ff.). 51 S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 29; C. Kohler, in: J. F. Baur/H.-P. Mansel (Hrsg.), Systemwechsel im europäischen Kollisionsrecht, 2002, S. 147 (147 ff.); ders., ZSR 2005, 263 (279 ff.); B. Sujecki, ZEuP 2008, 458 (458); in Bezug konkret auf das Insolvenzverfahren B. Laukemann, IPRax 2012, 207 (210). 52 Art. 22 lit. c, d, 23 lit. e, f Verordnung (EG) Nr. 2201/2003; Art. 21 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 805/2004; Art. 22 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006; Art. 22 Abs. 1 Verord-

C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

41

ckungsverfahrensrechts53 gelten. Daraus folgt, dass die Nachprüfung in der Sache bzw. die Frage der Vollstreckbarkeit selbst nur dem Gericht des Ursprungsstaats vorbehalten ist, auch wenn dort eine unzureichende Behandlung bzw. ein gravierender Grundrechtsverstoß stattgefunden hat.54 Es gilt somit ein absolutes Nachprüfungsverbot (re´vision au fond) in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.55 Es gibt allerdings auch Rechtsakte, in denen – wiewohl nur beschränkte – Ordre-public-Kontrollbefugnisse vorgeschrieben sind.56 Der Abschaffung des Exequaturverfahrens und des damit verbundenen Ordre-public-Vorbehalts liegen der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in die ordnungsgemäße Rechtspflege der Mitgliedstaaten sowie der darauf beruhende Anerkennungsgrundsatz zugrunde.57

II. EuGH-Rechtsprechung: Ableitung von Kontrollverzichtspflichten Ausgangspunkt der EuGH-Rechtsprechung zur zivilrechtlichen justiziellen Zusammenarbeit ist die Heranziehung des gegenseitigen Vertrauens als Grundlage und Rechtfertigung für das Verfahren vereinfachter Anerkennung sowie die Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen. Der EuGH hat allmählich zur Konkretisierung des Vertrauensbegriffs beigetragen, indem er dem Vertrauensgrundsatz einen normativen Gehalt beimisst und zunehmend konkrete Pflichten für das Vollstreckungsgericht entnimmt.

nung (EG) Nr. 861/2007 i.d.n.F. seit 14.7.2017; Art. 21 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 4/2009. Dazu EuGH, Rs. C-211/110 PPU, Slg. 2010, I-6673, Rn. 75 – Povse; I. Bach, Grenzüberschreitende Vollstreckung, 2008, S. 205. 53 Art. 20 Abs. 1 UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 805/2004; Art. 21 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006; Art. 21 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 861/2007 i.d.n.F. seit 14.7.2017; Art. 41 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 4/2009. 54 M. Licˇkova´/C. O. Martı´nez, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 179 (184). 55 Schon in den 90er Jahren darauf hingewiesen: Schlussanträge GA A. La Pergola, Rs. C-267/97, Slg. 1999, I-2543, Rn. 19 – Coursier, damals als „confidence“ (in der deutschen Fassung aber als „Vertrauen“) bezeichnet. 56 Vgl. Art. 40 lit a Verordnung (EU) Nr. 650/2012; Art. 13 Abs. 1 lit. a Verordnung (EU) Nr. 606/2013; Art. 33 Verordnung (EU) Nr. 2015/848; Art. 45 Abs. 1 lit. a Verordnung (EU) Nr. 1215/2015; Art. 37 lit. a Verordnung (EU) Nr. 2016/1104; Art. 38 lit. a, 39 Abs. 1 lit. a, 68 Abs. 1 lit. a und Abs 2 lit. a Verordnung (EU) Nr. 2019/1111. 57 Erwägungsgr. 18 Verordnung (EG) Nr. 805/2004; Erwägungsgr. 27 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006. Vgl. auch EuGH, Rs. C-484/15, ECLI:EU:C:2017:199, Rn. 43 – Zulfikarpasˇic´.

42

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Seine erste Erwähnung findet der Vertrauensgrundsatz im Gasser-Urteil.58 Das Brüsseler Übereinkommen59 beruht nach dem EuGH auf dem Vertrauen, das die Vertragsstaaten gegenseitig ihren Rechtssystemen und Rechtspflegeorganen entgegenbringen. Dieses gegenseitige Vertrauen habe es ermöglicht, im Anwendungsbereich des Übereinkommens ein für die Gerichte verbindliches Zuständigkeitssystem zu schaffen und dementsprechend auf die innerstaatlichen Vorschriften der Vertragsstaaten über die Anerkennung und die Vollstreckbarkeitserklärung ausländischer Urteile zugunsten eines vereinfachten Anerkennungsund Vollstreckungsverfahrens für gerichtliche Entscheidungen zu verzichten.60 Diese Pflicht zum Kontrollverzicht seitens des Vollstreckungsgerichts hat der EuGH in der Rechtssache Turner61 bestätigt und explizit angeführt, dass der Vertrauensgrundsatz diesem Gericht untersagt, die Zuständigkeit des Gerichts eines anderen Vertragsstaats zu prüfen.62 In diesem Sinne dient das Vertrauen der Rechtssicherheit, indem es den Beteiligten ermöglicht, das zuständige Gericht mit ausreichender Sicherheit zu bestimmen.63 Ähnlich widerspricht eine „anti-suit injunction“64 im Rahmen der Schiedsgerichtsbarkeit dem Vertrauen, „das die Mitgliedstaaten gegenseitig ihren Rechtssystemen und Rechtspflegeorganen entgegenbringen und auf dem das Zuständigkeitssystem der Verordnung Nr. 44/2001 beruht, denn sie beeinträchtigt das Gericht eines anderen Mitgliedstaats darin, die ihm durch die Verordnung Nr. 44/2001 verliehenen Befugnisse auszuüben, nämlich auf der Grundlage der Bestimmungen der Verordnung über die Anwendbarkeit der Verordnung zu entscheiden.“65

58

EuGH, Rs. C-116/02, Slg. 2003, I-14693 – Gasser. Das Vorabentscheidungsersuchen wurde dem EuGH im Rahmen des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilund Handelssachen vorgelegt. Vgl. auch EuGH, Rs. C-351/89, Slg. 1991, I-3317, Rn. 23 – Overseas Union Insuranve u.a., wobei aber der Gerichtshof keinen Bezug auf den Vertrauensgrundsatz nimmt. 59 Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. 60 Grundlegend, EuGH, Rs. C-116/02, Slg. 2003, I-14693, Rn. 72 – Gasser. Dazu kritisch J. Mance, LQR 2004, 357 (360 f.); andererseits begrüßend C. Thiele, RIW 2004, 285 (287 f.). 61 EuGH, Rs. C-159/02, Slg. 2004, I-3565 – Turner. 62 EuGH, Rs. C-159/02, Slg. 2004, I-3565, Rn. 28 – Turner; zuletzt bestätigt durch EuGH, Rs. C-211/10, Slg. 2010, I-6673, Rn. 40 – Povse; Rs. C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24, Rn. 46 – Liberato; ähnlich folgt aus dem Vertrauensgrundsatz, dass das Gericht des Mitgliedstaats, das infolge einer Unzuständigkeitserklärung angerufen wird, nicht befugt ist, zu prüfen, ob die in diesen Bestimmungen aufgestellten Voraussetzungen für die Unzuständigkeitserklärung des zuvor angerufenen Gerichts erfüllt waren, Rs. C-422/20, ECLI:EU:C:2021:718, Rn. 38 ff. – RK (De´clinatoire de compe´tence). 63 So T. Andersson, EBLR 17 (2006), 747 (751). 64 Eine Anordnung, mit der einer Partei die Einleitung oder Fortführung eines Verfahrens vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verboten wird. 65 EuGH, Rs. C-185/07, Slg. 2009, I-663, Rn. 30 – Allianz; letztens bestätigt durch EuGH, verb. Rs. C-325/18 PPU und C-375/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:739, Rn. 90 – C.E. und N.E.

C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

43

Das unterstellte Vertrauen verlangt darüber hinaus, dass das Vollstreckungsgericht den ihm vorgelegten Fall nicht sachlich prüfen und damit seine eigene Beurteilung nicht an die Stelle der Beurteilung des Erlassgerichts setzen darf. Ähnlich wie im Binnenmarkt gilt auch in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen die im Ursprungsstaat ergangene Gerichtsentscheidung als Referenzentscheidung.66 Dem Vollstreckungsgericht kommt in dieser Hinsicht keine Prüfungsbefugnis hinsichtlich der rechtmäßigen Anwendung des einschlägigen Rechts durch das Erlassgericht zu.67 Davon umfasst ist insbesondere die Beurteilung des Vollstreckungsgerichts hinsichtlich der Zuständigkeitsregeln, deren falsche Anwendung durch das Erlassgericht kein Anerkennungs- bzw. Vollstreckungsversagungsgrund darstellt.68 Vielmehr werden die Vollstreckungsgerichte darauf hingewiesen, durch Informationsaustausch und ständigen Kontakt die justizielle Zusammenarbeit zu vereinfachen und zu beschleunigen.69 In diesem Kontext ist dem Vollstreckungsgericht nicht erlaubt, bei Feststellung der Unvereinbarkeit der anzuerkennenden Entscheidung mit einer anderen Entscheidung, die zuvor in demselben Mitgliedstaat zwischen denselben Parteien in einem Rechtsstreit wegen desselben Anspruchs ergangen ist, die Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung abzulehnen.70 Wäre dem Vollstreckungsgericht eine solche Befugnis zugesprochen,71 wäre der Vertrauensgrundsatz dadurch verletzt, dass das Vollstreckungsgericht seine eigene Beurteilung an die Stelle der Beurteilung des Erlassgerichts setzen würde.72 Dem Rechtssuchenden stehen daher nur die Rechtsbehelfe zur Verfügung, die im Recht des Ursprungsstaats vorgesehen sind. Das Vertrauen in die mitgliedstaatlichen Rechtssysteme und Rechtspflegeorgane bedeutet aber nicht nur Kontrollverzichtspflichten für das Vollstreckungsgericht, sondern verlangt daneben auch die Gewährleistung eines ausreichenden und effektiven Rechtsschutzes durch das zuständige Erlassgericht. Die Wahrung des Vertrauensgrundsatzes setzt konkret voraus, dass die zu vollstreckenden Ent-

66

Vgl. 1. Kap., Fn. 60. EuGH, Rs. C-455/15 PPU, ECLI:EU:C:2015:763, Rn. 46 – P. 68 EuGH, Rs. C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24, Rn. 49 f. – Liberato. 69 EuGH, C-296/10, Slg. 2010, I-11163, Rn. 81 – Purrucker; vgl. auch die Schlussanträge GA Y. Bot, Rs. C-386/17, ECLI:EU:C:2018:670, Rn. 50 – Liberato. 70 EuGH, Rs. C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597, Rn. 36 – Salzgitter Mannesmann Handel. 71 Das EuGH-Urteil betraf die Auslegung von Art. 34 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 44/2001, welche lautet: „Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn […]:(3.) sie mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist; (4.) sie mit einer früheren Entscheidung unvereinbar ist, die in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat zwischen denselben Parteien in einem Rechtsstreit wegen desselben Anspruchs ergangen ist, sofern die frühere Entscheidung die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anerkennung in dem Mitgliedstaat erfüllt, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird.“ 72 EuGH, Rs. C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597, Rn. 35 f. – Salzgitter Mannesmann Handel. 67

44

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

scheidungen in einem gerichtlichen Verfahren ergangen sind, das die Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bietet.73 Im Mittelpunkt steht insbesondere das Recht auf ein faires Verfahren im Ursprungsstaat, das grundrechtlich in Art. 47 GRCh und Art. 6 EMRK niedergelegt ist.74 In dieser Hinsicht ist dem gegenseitigen Vertrauen immanent, dass das angerufene Erlassgericht, seine Zuständigkeit im Hinblick auf die vorgesehenen unionsrechtlichen Regelungen überprüft, indem es diese Prüfung „unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgarantien, die ein faires Verfahren erfordert, [vornimmt].“75 Eine offensichtliche Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör gilt somit – vorausgesetzt der sekundärrechtlichen Verankerung eines Ordre-public-Vorbehalts – gleichzeitig als ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung.76 Der Ordre-public-Vorbehalt muss allerdings nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen, nämlich wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats stünde.77 Bei diesem Verstoß muss es sich um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln.78 In seiner jüngsten Rechtsprechung hat der EuGH eine weitere Anwendungsvoraussetzung des Ordre-public-Vorbehalts eingeführt. Er erlegt nämlich den Rechtssuchenden auf, „von allen gegebenen Rechtsbehelfen Gebrauch [zu machen], um im Vorhinein zu verhindern, dass es zu einem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kommt“.79 Von dieser grundsätzlichen Verpflichtung sind die betroffenen Parteien entbunden, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Einlegen der Rechtsbehelfe im Ursprungsstaat zu sehr erschweren

73 EuGH, Rs. C-484/15, ECLI:EU:C:2017:199, Rn. 43 – Zulfikarpasˇic´; Rs. C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193, Rn. 54 – Pula Parking. 74 In der neuen Verordnung (EU) Nr. 2019/1111 wird das Recht des Kindes auf rechtliches Gehör vor dem zuständigen angerufenen Gericht mehrmals erwähnt, vgl. etwa Art. 21, 26, 27 Abs. 1. 75 EuGH, Rs. C-341/04, Slg. 2006, I-3813, Rn. 41 – Eurofood IFSC. Hier hat sich der EuGH mit der Anerkennung einer Eröffnungsentscheidung eines Insolvenzverfahrens nach der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 (jetzt: Verordnung (EU) Nr. 2015/848) auseinandergesetzt und festgestellt, dass das Vollstreckungsgericht diese Anerkennung versagen kann, wenn die Eröffnungsentscheidung unter offensichtlichem Verstoß gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör einer von einem solchen Verfahren betroffenen Person ergangen ist; ähnlich im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001: EuGH, Rs. C-619/10, ECLI:EU:C:2012:531, Rn. 59 f. – Trade Agency. 76 Vgl. J. Kokott/I. Dervisopoulos, in: S. Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde, 2013, S. 123 (124). 77 Grundlegend, EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 37, 44 – Krombach. 78 Vgl. zuletzt die Schlussanträge GA Y. Bot, Rs. C-386/17, ECLI:EU:C:2018:670, Rn. 85 – Liberato sowie EuGH, Rs. C-455/15 PPU, ECLI:EU:C:2015:763, Rn. 39, 53 – P. 79 EuGH, Rs. C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471, Rn. 68 – Diageo Brands; letztens bestätigt durch EuGH, Rs. C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349, Rn. 48 – Meroni.

C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

45

oder unmöglich machen.80 Schließlich ist das Gericht, das sich für zuständig erklärt hat, aufgefordert, seine Zuständigkeit unter Bewahrung der unionsrechtlichen Regelungen zu prüfen und in der von ihm erlassenen Entscheidung klar zu erläutern, „dass es sich den in dieser Verordnung vorgesehenen unmittelbar anwendbaren Zuständigkeitsvorschriften hat unterwerfen wollen oder nach diesen entschieden hat.“81 Die Reichweite des Vertrauensgrundsatzes ist mit dem Aguirre Zarraga-Urteil82 zum Ausdruck gekommen: Die Brüssel IIa-Verordnung gewährleistet,83 dass gerichtliche Entscheidungen eines Mitgliedstaats in den anderen Mitgliedstaaten84 durch Verzicht auf eine Vollstreckbarkeitserklärung85 automatisch anerkannt und vollstreckt werden können.86 Betroffen davon sind vor allem die Entscheidungen über das Umgangsrecht und über die Kindesrückgabe. Das Verfahren ist nicht nur automatisch, sondern auch unanfechtbar, zumal keine Prüfung auf einen Widerspruch zum ordre public des Vollstreckungsmitgliedstaats erlaubt ist.87 Aus dieser Sicht spielt die Einlegung von Rechtshelfen im Ursprungsstaat hinsichtlich der Vollstreckung solcher Entscheidungen keine Rolle.88 Trotz der Bedenken des ersuchten Gerichts aufgrund der offensichtlichen Fehler der Bescheinigung bezüglich der Angabe zur Anhörung des Kindes hat der EuGH im Aguirre Zarraga-Urteil an der unbedingten Vollstreckungspflicht des ersuchten Staats im Rahmen der Kindesrückgaben festgehalten. Hätte das ersuchte Gericht Kontrollbefugnisse bezüglich der Zuständigkeit des ersuchenden Gerichts bzw. der Begründetheit sowie der Voraussetzungen für den Erlass der Entscheidung, wäre die praktische Wirksamkeit der auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden Verordnung gefährdet.89 In diesem Sinne entspricht die schnellstmögliche Rückgabe dem Wohl des Kindes, das durch unnötigen Zeitverlust schwerwiegend beeinträchtigt wäre. Dieses System beruht auf dem Vertrauen, dass in allen Mitgliedstaaten die Grundrechte beachtet werden.90 Daher müssen 80

EuGH, Rs. C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471, Rn. 68 – Diageo Brands. EuGH, Rs. C-256/09, Slg. 2010, I-7353, Rn. 73 – Purrucker. 82 EuGH, Rs. C-491/10 PPU, Slg. 2010, I-14247 – Aguirre Zarraga. 83 Art. 41 Abs. 1 UAbs. 1, 42 Abs. 1 UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Art. 43 Abs. 1 n.F.). 84 Außer Dänemark, so Erwägungsgr. 96 Verordnung (EU) Nr. 2019/1111. 85 Die Vollstreckbarkeitserklärung (Art. 21 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003) über Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für ein Kind wurde mit der Neufassung der Verordnung (EU) Nr. 2019/1111, Art. 34 Abs. 1, abgeschafft. 86 Vgl. Art. 21 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Art. 30 Abs. 1 n.F.). 87 Eine Ordre-publiC-Klausel ist für gerichtliche Entscheidungen über eine Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe sowie über die elterliche Verantwortung verfügbar, so Art. 38 lit. a Verordnung (EU) Nr. 2019/1111. 88 Art. 41 Abs. 1 UAbs. 2, 42 Abs. 1 UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003; Anders Art. 34 Abs. 2 n.F.: die Entscheidung ungeachtet der Einlegung eines Rechtsbehelfs für vorläufig vollstreckbar erklären. 89 EuGH, Rs. C-211/10, Slg. 2010, I-6673, Rn. 59, 74 – Povse. 90 Grundlegend, EuGH, Rs. C-491/10 PPU, Slg. 2010, I-14247, Rn. 59 – Aguirre Zarraga. 81

46

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt werden.91 Der EuGH betonte dabei die Möglichkeit zur Anhörung des Kindes92 im ersuchenden Mitgliedstaat und stellte weiter fest, dass gegen die Bescheinigung nur mit einer Klage oder Geltendmachung von Zweifeln an ihrer Echtheit nach dem Recht des ersuchenden Mitgliedstaats vorgegangen werden kann.93 Der Vertrauensgrundsatz verbietet insoweit eine Verlagerung der grundrechtlichen Prüfungskompetenz auf das ersuchte Gericht.

III. Stellungnahme Zunächst bestehen Bedenken gegen die Vereinbarkeit einer vollständigen Abschaffung von Kontrollmöglichkeiten mittels der nationalen Ordre-public-Vorbehalte mit dem Anerkennungsgrundsatz sowie mit dem Vertrauensgrundsatz.94 Für das Anerkennungsprinzip gilt, dass dieses grundsätzlich vorbehaltlos gilt, vorausgesetzt der Unionsgesetzgeber hat in den teil- bzw. vollharmonisierten Bereichen eine Abwägung zwischen den Unionswerten und der Wirksamkeit des Unionsrechts selbst vorgenommen.95 Auch eine sekundärrechtliche Verankerung der nationalen Ordre-public-Vorbehalte dient aber nicht unbedingt der Wahrung der nationalen Interessen, denn diese unterliegen in der Praxis strengen Voraus-

91 Grundlegend, EuGH, Rs. C-491/10 PPU, Slg. 2010, I-14247, Rn. 46, 70 – Aguirre Zarraga; nachfolgend EuGH, Rs. C-4/14, ECLI:EU:C:2015:563, Rn. 58 – Bohez; Rs. C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471, Rn. 40 – Diageo Brands; letztens bestätigt durch EuGH, Rs. C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24, Rn. 46 – Liberato. Zum Scheitern des Kindesrückgabenmechanismus s. daneben auch P. Beaumont/L. Walker/J. Holliday, JPIL 12 (2016), 211 (229 f.). 92 Art. 42 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. c Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Art. 47 Abs. 4 n.F.); Art. 42 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. a Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Art. 21, 26, 27 Abs. 1, 47 Abs. 3 lit. b n.F.). 93 EuGH, Rs. C-211/10, Slg. 2010, I-6673, Rn. 73 – Povse; Rs. C-195/08 PPU, Slg. 2008, I-5271, Rn. 85, 88 und 89 – Rinau; letztens bestätigt durch EuGH, Rs. C-428/15, ECLI:EU:C: 2016:819, Rn. 57 – D. 94 Vgl. in diesem Sinne J. Callewaert, ZEuS 2014, 79 (86); C. Kohler, ZEuS 2016, 135 (140); M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (422); T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (375); vgl. auch G. Britz, JZ 68 (2013), 105 (111), die die Abschaffung des Ordre-publiC-Vorbehalts hinsichtlich des Grundrechtsschutzes als strukturellen Schwachpunkt der justiziellen Zusammenarbeit bezeichnet. Ferner BVerfGE 63, 343 (378) zur Voraussetzung der Rechtsstaatlichkeit für die inländische Zwangsvollstreckung aus ausländischen Titeln: „Die Vollstreckbarkeit ausländischer Titel darf von Verfassungs wegen (auch) über den Abschluß von Verträgen grundsätzlich jedenfalls dann eröffnet werden, wenn in Bezug auf die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland zu vollstreckenden Titel ein Maß an Rechtsschutz im Ausland tatsächlich eröffnet war, das gewissen Mindestanforderungen an Rechtsstaatlichkeit genügt.“ 95 Kritisch gegenüber dem gesetzgeberisch eingeräumten Vorrang des Anerkennungsprinzips zulasten der Grundrechte, allerdings in Bezug auf die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 528 ff.

C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

47

setzungen und gelangen daher selten zur Anwendung.96 An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die EU nur über eine geteilte Kompetenz im RFSR97 verfügt und es ihr an einer dem Art. 114 AEUV ähnlichen Kompetenzgrundlage für die Sachrechtsharmonisierung des materiellen Zivilrechts fehlt.98 Auch bei einer Angleichung in verfahrensrechtlicher Hinsicht über Art. 81 Abs. 1 AEUV kommen die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit als Schranken der Kompetenzwahrnehmung zum Tragen, weshalb eine allgemeine Abschaffung von Ordre-public-Vorbehalten bedenklich ist.99 Hiervon unabhängig ist mit Blick auf den Vertrauensgrundsatz der Wegfall jeglicher Sicherheitsventile zu bewerten.100 Auch im Bereich der zivilrechtlichen justiziellen Zusammenarbeit existiert ein schrankenloser Vertrauensgrundsatz nicht.101 Das Fehlen einer sekundärrechtlichen Verankerung von Ausnahmen in Form von Anerkennungs- bzw. Vollstreckungsablehnungsgründen schließt die Existenz ungeschriebener Grenzen am Maßstab des Unionsrechts nicht aus.102 Gravierende Unionsgrundrechtsverletzungen oder systematische Untergrabungen der Rechtsstaatlichkeit, etwa durch „Gleichschaltung“ der unabhängigen Justiz im Ursprungsstaat, müssen aus unionaler Sicht Einfluss auf die Reichweite der Anerkennungspflichten nehmen.103 Das Spannungsverhältnis zwischen effektiver justizieller Zusammenarbeit, Individualrechtsschutz und Wahrung grundlegender Wertentscheidungen der Unionsrechtsordnung scheint dabei alles in allem im Bereich der zivilrechtlichen Zusammenarbeit noch nicht zufriedenstellend zum Ausgleich gebracht zu sein.

96 Dazu ausführlicher B. Hess/T. Pfeiffer, Interpretation of the public policy exception, 2011, S. 46 ff.; X. E. Kramer, in: B. Hess/M. Bergström/E. Storskrubb (Hrsg.), EU civil justice, 2016, S. 97 (101 ff.). 97 So Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV. 98 B. Hess, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 81 AEUV, Rn. 2; S. Leible, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 81 AEUV, Rn. 44, 52; M. Rossi, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 81 AEUV, Rn. 16. 99 S. m.w.N. S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 126 ff. 100 In diese Richtung E. Storskrubb, in: E. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 15 (19); M. Weller, JPIL 11 (2015), 64 (97); T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (379). 101 Ausführlich unter 4. Kap., A., S. 165 ff. 102 Vgl. C. Kohler, ZEuS 2016, 135 (148). 103 Ähnlich S. Bartolini, CMLRev. 56 (2019), 91 (93, 105, 112); M. Hazelhorst, NILRev. 65 (2018), 103 (111); allerdings mit Hinweis auf den durch die Ablehnung einhergehenden Zeitverlust J. Kokott/I. Dervisopoulos, in: S. Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde, 2013, S. 123 (129 f.); M. Licˇkova´/C. O. Martı´nez, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 179 (185 f.): Ordre-publiC-Vorbehalte wirken vertrauensstärkend.

48

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

IV. Fazit Der Vertrauensgrundsatz wird im Rahmen der zivilrechtlichen justiziellen Zusammenarbeit, ähnlich wie im Binnenmarkt, als Grundlage der Pflicht zur Anerkennung begriffen,104 die die praktische Wirksamkeit der einschlägigen Sekundärrechtsakte gewährleistet. Selbst wenn sein normativer Gehalt keinen expliziten Niederschlag in der EuGH-Rechtsprechung findet, leitet der EuGH hieraus konkrete Kontrollverzichtspflichten für das Vollstreckungsgericht ab. Die Bezugspunkte des Vertrauens bilden dabei die Wahrung der Verfahrensgarantien sowie die rechtmäßige Anwendung der unionsrechtlichen Zuständigkeitsregelungen durch das Erlassgericht.105 Insoweit wird von einer Gleichwertigkeitsvermutung der Rechtspflegeorgane und der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten insgesamt ausgegangen, auf welcher der Vertrauensgrundsatz beruht.106 Allerdings sollte der EuGH seine Rechtsprechungslinie hinsichtlich der Reichweite des Vertrauensgrundsatzes, den er in diesem Bereich bisher als unwiderlegbar erachtet, weiterentwickeln und dem Vertrauen dort Grenzen setzen, wo es das Primärrecht fordert.107

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Das gegenseitige Vertrauen nimmt eine prominente Rolle in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ein, indem es als Grundlage des Anerkennungsprinzips verstanden wird.108 Ansatzpunkt für die Pflicht zur Anerkennung ist dabei hauptsächlich die Behebung von Erschwernissen, die die Rechtsverfolgung (bzw. Auslieferung) eines Straftäters innerhalb der Union behindern.109 Die EuGH-Rechtsprechung ist auch in diesem Bereich zentral für das Verständnis des

104

C. Kohler, ZEuS 2016, 135 (138). Vgl. E. Brouwer, EP 1 (2016), 893 (898); A.-K. Kaufhold, in: J. Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen?, 2014, S. 101 (117). 106 EuGH, Rs. C-116/02, Slg. 2003, I–14693, Rn. 67, 72 – Gasser; Rs. C-551/15, ECLI: EU:C:2017:193, Rn. 54 – Pula Parking; Rs. C-484/15, ECLI:EU:C:2017:199, Rn. 40, 43 – Zulfikarpasˇic´; Rs. C-379/17, ECLI:EU:C:2018:806, Rn. 25 – Societa` Immobiliare Al Bosco; Rs. C-579/17, ECLI:EU:C:2019:162, Rn. 39 – GRADBENISˇTVO KORANA. 107 Ausführlich unter 5. Kap., C., S. 206 ff. 108 Vgl. A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 51: „the principle behind the principle“. 109 Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vom Rat (Justiz und Inneres), ABl. EG 1999 Nr. C 19, S. 1 (12 f.); Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, ABl. EG 2001 Nr. C 12, S. 10 (12 f.); KOM(2009) 262 endg., S. 13; E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 145; U. Sieber, ZStW 2009, 1 (2). 105

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

49

Vertrauensbegriffs und insbesondere für sein Verhältnis zu den Unionsgrundrechten (und wird daher im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen).

I. Entwicklung des Anerkennungsprinzips Den Weg hin zu einer vertrauensbasierten justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU haben zunächst die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom Cardiff 1998,110 die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere 1999111 sowie das Maßnahmenprogramm 2001112 bereitet.113 Daneben wurde mit dem Amsterdamer-Vertrag (1999) der Rahmenbeschluss in diesem Bereich eingeführt, der sich zum bevorzugten Angleichungsinstrument entwickelt hat. Sodann formulierte das Haager-Programm von 2005 das Ziel der Anerkennung „gerichtliche[r] Entscheidungen in allen Phasen des Strafverfahrens sowie für solche Verfahren anderweitig relevante[r] Entscheidungen“.114 Im Mittelpunkt des Haager-Programms standen Erwägungen hinsichtlich der Erhebung und Zulässigkeit von Beweismitteln, der Kompetenzverteilung, der Gewährleistung des Ne-bis-in-idem-Grundsatzes, der Vollstreckung rechtskräftiger Gerichtsurteile115 sowie der Stärkung des gegenseitigen Vertrauens und der Gewährleistung von Verfahrensrechten.116 Mit dem Vertrag von Lissabon (2009) und dem Wegfall der „dritten Säule“ wurde die strafrechtliche Zusammenarbeit dem Unionsrecht zugeordnet und der Anerkennungsgrundsatz in Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV verankert. Als Vorbild fungieren dabei unter anderem die Art. 54 ff. SDÜ,117 welche das Verbot der Doppelbestrafung und Doppelverfolgung (Νe-bis-in-idem-

110

Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Cardiff, 15/16 Juni 1998, Nr. 39, abrufbar unter https://www.europarl.europa.eu/summits/car1 de.htm. 111 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, Nr. 35 f. 112 Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, ABl. EG 2001 Nr. C 12, S. 10 (10). 113 Ferner P. Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 2009, S. 27 ff.; L. Klimek, Mutual Recognition, 2017, S. 52 ff.; E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 143 ff. 114 Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. EU 2005 Nr. C 53, S. 12. 115 Aktionsplan des Rates und der Kommission zur Umsetzung des Haager Programms zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. EU 2005 Nr. C 198, S. 1 (18 f.). 116 Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, ABl. EU 2010 Nr. 115, S. 1 (10, 13); KOM(2010) 171 endg. S. 15 f., 21 f. 117 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990, ABl. EG 2000 Nr. L 239, S. 19 ff.

50

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Grundsatz) festschreiben.118 Die Etablierung des Anerkennungsprinzips in Strafsachen wurde im Schrifttum als „Paradigmenwechsel“,119 „Revolution des Rechtshilferechts“120 bzw. „kopernikanische Wende“121 bezeichnet. Ein echtes Europäisches Strafrecht existiert allerdings nicht.122 Die Mitgliedstaaten behalten ihre Souveränität hinsichtlich der einzelnen Rechtsmaterien in ihrem Hoheitsgebiet und sind für die Strafverfolgung und den Gesetzesvollzug allein verantwortlich.123 Der dadurch bedingte Rechtspluralismus wird mittels des Anerkennungsprinzips gewahrt.124 Anerkennung als Alternative zur Harmonisierung vermag die nationale Autonomie zu wahren.125 Die Festlegung von strafverfahrensrechtlichen Mindeststandards auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV einerseits sowie von materiellen Vorschriften auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 1 und 2 AEUV126 andererseits gehört indes zum Kompetenzbereich der EU. Die mitgliedstaatliche Souveränität wird dabei mittels des in Art. 82 Abs. 3 AEUV festgeschriebenen „Notbremseverfahrens“ geschützt, wenn grundlegende Aspekte einer Strafrechtsordnung berührt werden.

II. Begriff und Reichweite des Anerkennungsprinzips in Strafsachen Die herrschende Lehre führt das Anerkennungsprinzip auf die binnenmarktrechtliche Bedeutung zurück: Die gegenseitige Anerkennung in Strafsachen be118 K. Eckstein, ZStW 2012, 490 (513); E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 157. 119 D. Flore, Journal des tribunaux 2002, 273 (281); M. Böse, in: C. Momsen/R. H. Bloy/P. Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233 (240); S. Gleß, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2015, Rn. 426; B. Hecker, Europaisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 2, Rn. 64, § 12, Rn. 37; F.-X. Millet, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 57 (58); C. Schierholt, ZIS 2010, 567 (567). 120 M. Plachta, EJC 11 (2003), 178 (178 ff.). 121 Schlussanträge GA D. Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-303/05, Slg. 2007, I-3633, Rn. 41, 45 – Advocaten voor de Wereld. 122 Für die europaweite Vereinheitlichung des Strafrechts K. Eckstein, ZStW 2012, 490 (526 ff.). 123 M. Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 2012, S. 43 f.; V. Mitsilegas, YEL 31 (2012), 319 (320); A. Suominen, EuCLR 2014, 210 (221 f.), die die nationale Souveränität als Grenze des Anerkennungsprinzpips ansieht. 124 V. Mitsilegas, in: E. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 23 (23 ff.); ders., ELRev. 46 (2021), 579 (580 ff.). 125 S. A. Bloks/T. van den Brink, GLJ 22 (2021), 45 (48 f.), die darauf hindeuten, dass das Anerkennungsprinzip im Rahmen des Europäischen Haftbefehls eine der Harmonisierung entsprechende Auswirkung entfaltet (60 ff.); V. Mitsilegas, ELRev. 46 (2021), 579 (579 f.). Zum Verhältnis vom Anerkennungsprinzip zur Harmonisierung in Strafsachen A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 130 ff. 126 Dabei werden die Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festgelegt, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben.

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

51

deutet, dass eine in einem Mitgliedstaat rechtmäßig erlassene Entscheidung in allen anderen Mitgliedstaaten als solche anzuerkennen ist.127 Die Anerkennungspflicht besteht auch dann, wenn der Anerkennungsstaat zu einem anderen Ergebnis kommen würde.128 Andere Autoren verstehen den Anerkennungsgrundsatz als das Einräumen von Rechtserheblichkeit zugunsten einer ausländischen Entscheidung im Inland129 oder setzen die Anerkennung mit der Vollstreckung(spflicht) und dem Überprüfungsverbot gleich.130 Eine treffende Definition des Anerkennungsprinzips liefern Vogel/Eisele: „Unter gegenseitiger Anerkennung ist zu verstehen, dass jeder Mitgliedstaat (,Vollstreckungsmitgliedstaat‘) gerichtliche Urteile oder Entscheidungen jedes anderen Mitgliedstaats (,Entscheidungsmitgliedstaat‘) als solche anerkennt und diejenige Hilfe leistet, welche zur Vollstreckung des Urteils oder der Entscheidung erforderlich ist. Die Hilfe ist zügig, ohne Verfahrenshürden und im Grundsatz ohne sachliche Nachprüfung des zu vollstreckenden Urteils oder der zu vollstreckenden Entscheidung zu leisten.“131

Dabei sind „gerichtliche Urteile und Entscheidungen“ (Art. 82 Abs. 1 AEUV) anerkennungsfähig. Darunter fallen alle justiziellen Entscheidungen im Laufe des gesamten Strafverfahrens, soweit ihnen eine in der Sache unabhängige, unparteiische Sachprüfung nach Recht und Gesetz vorausgegangen ist.132 Somit sind gegebenenfalls auch staatsanwaltschaftliche Entscheidungen eingeschlos-

127 P. Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 2009, S. 45; W. Bogensberger, in: M. Kellerbauer/M. Klamert/J. Tomkin (Hrsg.), EU Treaties: A Commentary, 2019, Art. 82 AEUV, Rn. 5; N. Kotzurek, ZIS 2006, 123 (123); F. Meyer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Bd. II, Art. 82 AEUV, Rn. 5; C. Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 12, Rn. 40 ff.; O. Suhr, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 82 AEUV, Rn. 5; kritisch dazu S. Gleß, ZStW 2004, 353 (356 ff.); H.-H. Herrnfeld, in: J. Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 67 AEUV, Rn. 20 ff.; A. Klip, European criminal law, 4. Aufl. 2021, S. 473 ff.; M. Nettesheim, EuR 2009, 24 (39 f.); H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 82 AEUV, Rn. 11; N. Thwaites, GLJ 4 (2003), 253 (260). 128 N. Kotzurek, ZIS 2006, 123 (123). 129 P. Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 2010, S. 88; ähnlich E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 189. 130 S. Gleß, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2015, Rn. 447; R. Kert, in: G. VernimmenVan Tiggelen/L. Surano/A. Weyembergh (Hrsg.), The future of mutual recognition, 2009, S. 17 (18); A. Klip, European criminal law, 4. Aufl. 2021, S. 331; J. Polakiewicz, Verfahrensgarantien im Strafverfahren: Fortschritte und Fehltritte in der Europäischen Rechtssetzung 2010, 1 (2); F. Zeder, JRP 2009, 172 (176). 131 J. Vogel/J. Eisele, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 82 AEUV, Rn. 23. 132 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-60/12, ECLI:EU:C:2013:733, Rn. 24 ff. – Bala´zˇ; M. Böse, in: J. Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 82 AEUV, Rn. 24; F. Meyer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 82 AEUV, Rn. 18; H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 82 AEUV, Rn. 9; J. Vogel/J. Eisele, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 82 AEUV, Rn. 42 ff.

52

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

sen. Dafür sprechen zunächst die unterschiedlichen Sprachfassungen des Art. 82 Abs. 1 AEUV,133 daneben aber auch teleologische Gründe angesichts der unterschiedlichen Verfahrensausgestaltung in den Mitgliedstaaten.134 Darüber hinaus hat der EuGH im Rahmen des Art. 54 SDÜ angenommen, als „abgeurteilt“ könne eine Tat auch gelten, wenn eine Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen Auflagen ohne Mitwirkung eines Gerichts endgültig einstelle.135

III. Grenzen des Anerkennungsprinzips Das Anerkennungsprinzip gilt im Europäischen Strafrecht weder vorbehaltlos noch unbeschränkt.136 Vielmehr sind im jeweils anwendbaren Rechtsakt obligatorische137 bzw. fakultative138 Verweigerungsgründe geregelt. Ein allgemeiner „Standard“-Verweigerungsgrund existiert allerdings nicht. Ein allgemeiner, grundrechtsschützender Ordre-public-Vorbehalt ist nur in zwei Rechtsakten als fakultativer Verweigerungsgrund ausdrücklich nominiert,139 wobei in den übrigen Rechtsakten auf die Wahrung der Grundrechte (nur) in den Erwägungsgründen hingewiesen wird.140 Insgesamt dienen die Verweigerungsgründe dem

133 Englisch: judgments and judicial decisions; Französisch: jugements et de´cisions judiciaires; Spanisch: sentencias y resoluciones judiciales. 134 H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 82 AEUV, Rn. 9. 135 Grundlegend, EuGH, verb. Rs. C-187/01 u. C-385/01, Slg. 2003, I-1345, Rn. 42 ff. – Gözütok und Brügge. 136 P. Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 2009, S. 162; J. Geneuss/A. Werkmeister, ZStW 2020, 102 (107); E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 198 ff.; H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 82 AEUV, Rn. 9; A. Suominen, EuCLR 2014, 210 (215 f.). 137 Vgl. Art. 3 Rahmenbeschluss 2002/584/JI (EuHb). 138 Art. 4 und 4a Rahmenbeschluss 2002/584/JI (EuHb); Art. 7 Abs. 1 Rahmenbeschluss 2003/577/JI (Sicherstellung); Art. 7 Abs. 1 Rahmenbeschluss 2005/214/JI (Geldstrafen und Geldbußen); Art. 8 Abs. 1 und 2 Rahmenbeschluss 2006/783/JI (Einziehungsentscheidungen); Art. 9 Abs. 1 Rahmenbeschluss 2008/909/JI (Vollstreckungsanordnung); Art. 11 Abs. 1 Rahmenbeschluss 2008/947/JI (Überwachung von Bewährungsmaßnahmen); Art. 15 Abs. 1 Rahmenbeschluss 2009/829/JI (Überwachungsmaßnahmen); Art. 10 Abs. 1 Richtlinie 2011/99/EU; Art. 11 Abs. 1 Richtlinie 2014/41/EU; Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 2018/1805. 139 Art. 20 Abs. 3 Rahmenbeschluss 2005/214/JI (Geldstrafen und Geldbußen); Art. 11 Abs. 1 lit. f) der Richtlinie 2014/41/EU. 140 Erwägungsgr. 10 ff. Rahmenbeschluss 2002/584/JI (EuHb); Erwägungsgr. 6 Rahmenbeschluss 2003/577/JI (Sicherstellung); Erwägungsgr. 5 Rahmenbeschluss 2005/214/JI (Geldstrafen und Geldbußen); Erwägungsgr. 13 Rahmenbeschluss 2006/783/JI (Einziehungsentscheidungen); Erwägungsgr. 12 Rahmenbeschluss 2008/909/JI (Vorverurteilungen); Erwägungsgr. 13 Rahmenbeschluss 2008/909/JI (Vollstreckungsanordnung); Erwägungsgr. 5 Rahmenbeschluss 2008/947/JI (Überwachung von Bewährungsmaßnahmen); Erwägungsgr. 16 Rahmenbeschluss 2009/829/JI (Überwachungsmaßnahmen); Erwägungsgr. 16 f. Verordnung (ΕU) 2018/1805.

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

53

Schutz der Beschuldigtenrechte bzw. den nationalen Staatsinteressen (z.B. durch Territorialitätsklauseln141).142 Die Erleichterung der strafrechtlichen Zusammenarbeit zulasten des Grundrechtsschutzes wirft die Frage auf, inwieweit die Einführung eines europäischen143 Ordre-public-Vorbehalts dieses Spannungsverhältnis ausgleichen könnte.144 Dieser könnte einen Verweigerungsgrund für die Vollstreckung der ausländischen Entscheidung im Falle einer drohenden Verletzung der Unionsgrundrechte im Ursprungsstaat darstellen. Das Erfordernis eines solchen grundrechtlichen Ordre-public-Vorbehalts folgt aus den (teilweise erheblich) unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, vor allem hinsichtlich des materiellen Strafrechts bzw. Strafprozessrechts.145 Die Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK bzw. die GRCh genügt insofern nicht, denn für die effektive Wahrung des Grundrechtsschutzes muss dem Vollstreckungsmitgliedstaat die Möglichkeit eingeräumt werden, bei einer offensichtlichen Grundrechtsverletzung im Strafverfahren „die Notbremse zu ziehen“. Ein Ordre-public-Vorbehalt läuft dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und seinen Zielen nicht zuwider, denn auch hier ist seine nicht vorbehaltlose Natur zu beachten.146 Eine dem Vollstreckungsmitgliedstaat begrenzt und ausnahmsweise zuerkannte Nachprüfungsbefugnis kann damit nicht ausgeschlossen werden.147 So nahm z.B. im Jahre 2014 das Europäische Parlament eine Entschließung mit Empfehlungen an die Kommission zur Überprüfung des Euro-

141 So J. Vogel/J. Eisele, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 82 AEUV, Rn. 36: „Ein Vollstreckungsmitgliedstaat kann die Anerkennung verweigern, wenn es sich aus seiner Sicht um eine Inlandstat handelt oder der Entscheidungsmitgliedstaat eine extraterritoriale Jurisdiktion in Anspruch nimmt, die nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht gegeben wäre“. 142 E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 201. 143 Dazu T. Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, 2009, S. 132 f. Zur Umsetzung insbesondere des Europäischen Haftbefehls durch die Mitgliedstaaten und zur Einführung ihrerseits eines obligatorischen grundrechtlichen Verweigerungsgrund s. die Landesberichte in: G. Vernimmen-Van Tiggelen/L. Surano/A. Weyembergh (Hrsg.), The future of mutual recognition, 2009. 144 Dafür plädieren M. Böse, in: C. Momsen/R. H. Bloy/P. Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233 (241 f., 244); G. Dannecker, ZVglRWiss 111 (2012), 64 (70 f.); K. Gaeder, NJW 2013, 1279 (1280 f.); J. Geneuss/A. Werkmeister, ZStW 2020, 102 (107 ff.); E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 207 ff.; L. Marin, EuConst 4 (2008), 251 (259); H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 82 AEUV, Rn. 13, 21; A. Suominen, EuCLR 2014, 210 (217 ff.); J. Vogel/J. Eisele, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 82 AEUV, Rn. 37 ff.; in diesem Sinne auch BVerfGE 140, 317 (364 f. Rn. 105); BVerfGE 156, 182 (201 Rn. 44 ff.). Zum unionsrechtlichen Ordre-publiC-Vorbehalt geknüpft an Art. 2 EUV als Grenze des Vertrauensgrundsatzes, s. unter 5. Kap., C. II., S. 178 f. 145 Vgl. zur fehlenden Kongruenz E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 107. 146 T. Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, 2009, S. 126. 147 Vgl. Erwägungsgr. 34 Verordnung (EU) Nr. 2018/1805.

54

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

päischen Haftbefehls an, in der ein zwingender Ablehnungsgrund im Zusammenhang mit Grundrechten vorgeschlagen wurde.148 Darauf antwortend war die Kommission aber der Ansicht, dass ein ausdrücklicher Ablehnungsgrund nicht unerlässlich sei, da die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen eines Grundrechtsverstoßes nach dem Rahmenbeschluss möglich sei.149 Schließlich haben auch die Generalanwälte für eine grund- und menschenrechtliche Überformung des Anerkennungsprinzips plädiert, um diesem ein „humanistisches“ Verständnis zu verleihen.150

IV. Vertrauen als Grundlage und Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung 1. Unionsrechtspolitik und Unionsrechtsetzung Die prominente Rolle des Vertrauens im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit als Grundlage des Anerkennungsprinzips hat sich in der europäischen Rechtspolitik schon früh gezeigt.151 Die Kommission betont in ihrer Mitteilung vom 26.07.2000,152 dass für die erfolgreiche Wirkung des Anerkennungsprinzips gegenseitiges Vertrauen nicht nur in die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats besteht, sondern auch in deren ordnungsgemäße Anwendung.153 Die Entwicklung des Vertrauens zum zentralen Konzept spiegelt sich im Maßnahmenprogramm 2001 und im Haager Programm 2005154 wider, in dem dem gegenseitigen Vertrauen155 ein eigener Absatz gewidmet wird. Demzufolge listet der 148 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27. Februar 2014 mit Empfehlungen an die Kommission zur Überprüfung des Europäischen Haftbefehls (2013/2109[INL]), ABl. EU 2017 Nr. C 285, S. 135 (140). Befürwortend W. van Ballegooij/P. Ba´rd, NJECL 7 (2016), 439 (462). 149 Vgl. Art. 4a Rahmenbeschluss 2002/584/JI (EuHb). Folgemaßnahmen zur Entschließung des Europäischen Parlaments mit Empfehlungen an die Kommission zur Überprüfung des Europäischen Haftbefehls (SP[2014] 447), S. 3; EuGH, Rs. C-158/21, ECLI:EU:C: 2023:57, Rn. 72 ff. – Puig Gordi u.a. 150 Schlussanträge GA P. Cruz Villalo´n, Rs. C-306/09, ECLI:EU:C:2010:404, Rn. 43 – B.; Schlussanträge GA P. Mengozzi, Rs. C-42/11, ECLI:EU:C:2012:151, Rn. 29 – Lopes Da Silva Jorge; Schlussanträge GA E. Sharpston, Rs. C-396/11, ECLI:EU:C:2012:648, Rn. 40 – Radu. 151 Vgl. auch C. Burchard, Die Konstitutionalisierung der gegenseitigen Anerkennung, 2019, S. 486 ff.; E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 228 ff.; A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 110 ff. 152 KOM(2000) 495 endg. 153 KOM(2000) 495 endg., S. 4, 14. 154 Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. EU 2005 Nr. C 53, S. 1 (11). 155 Vgl. auch A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 112 ff., nach welchem die Vertrauensannahme und zugleich der Bedarf für seine Stärkung in der Rechtspolitik bzw. Rechtsetzung zum einen das Fehlen an einer begrifflichen Klarheit des Vertrauens zum Ausdruck bringen und zum anderen einen Widerspruch darstellen, S. 127.

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

55

Haager Aktionsplan konkrete vertrauensbildende Maßnahmen auf156 und das Stockholmer Programm 2010 hebt das Vertrauen als Kerninstrument hervor.157 Ähnlich wird Vertrauen in den Sekundärrechtsakten zur strafjustiziellen Zusammenarbeit als Grundlage und Voraussetzung des Anerkennungsprinzips verstanden.158 Zugleich wird Vertrauen zum Ziel von vertrauensbildenden Maßnahmen, insbesondere in Bereichen, in denen es an einem hinreichenden Maß an Vertrauen fehlt.159 2. EuGH-Rechtsprechung: Gözütok-und Brügge-Urteil Die dynamische Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes in Strafsachen spiegelt sich vor allem in der EuGH-Rechtsprechung,160 wobei die ursprüngliche Vermutung „blinden“ Vertrauens allmählich durch eine widerlegbare Vertrauensvermutung ersetzt wurde.161 Zentrale Rechtsinstrumente für die richterrechtliche Ausarbeitung des Vertrauens durch den EuGH waren das Doppelbestrafungsverbot (Ne-bis-in-idem-Grundsatz) nach Art. 54 SDÜ sowie der Rahmenbeschluss 2002/584/JI.162 Seine erste Konkretisierung hat der Vertrauensgrundsatz im Gözütok-und Brügge-Urteil erhalten. Der EuGH hat ausgeführt, dass das Doppelbestrafungsverbot zwingend impliziere, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme bestehe und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiere, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen 156

Aktionsplan des Rates und der Kommission zur Umsetzung des Haager Programms zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. EU 2005 Nr. C 198, S. 1 (17 f.). 157 Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, ABl. EU 2010 Nr. C 115, S. 1 (5 ff.). 158 Erwägungsgr. 10 Rahmenbeschluss 2002/584/JI (EuHb); Erwägungsgr. 4 Rahmenbeschluss 2003/577/JI (Sicherstellung); Erwägungsgr. 9 Rahmenbeschluss 2006/783/JI (Einziehungsentscheidungen); Erwägungsgr. 5 Rahmenbeschluss 2008/909/JI (Vollstreckungsanordnung); Erwägungsgr. 3 der Richtlinie 2012/13/EU; Erwägungsgr. 15 Verordnung (EU) Nr. 2018/1805. Vgl. auch zum Vertrauen als Grundlage automatisierter Anerkennungsregime in Strafsachen V. Mitsilegas, YEL 31 (2012), 319 (323 ff.). 159 Erwägungsgr. 6 f. Richtlinie 2010/64/EU; Erwägungsgr. 7 f. Richtlinie 2012/13/EU; Erwägungsgr. 5 Richtlinie 2014/42/EU. Einen Überblick über die vertrauensbasierten Maßnahmen geben F. Maiani/A. Miglionico, CMLRev. 57 (2020), 7 (18 ff.). Zum Verhältnis zwischen Anerkennung und Vertrauen in Strafsachen statt vieler V. Mitsilegas, EU Criminal Law after Lisbon, 2016, S. 124 ff. 160 Dazu auch V. Mitsilegas, YEL 31 (2012), 319 (336 ff.); A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (471 ff.). 161 So A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (471 ff.); E. Xanthopoulou, CMLRev. 55 (2018), 489 ff.; dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, 2020, S. 26 ff.; anders C. Burchard, Die Konstitutionalisierung der gegenseitigen Anerkennung, 2019, S. 494: der EuGH-Rechtsprechung entnimmt sich wenig Substantielles zum Vertrauensbegriff. 162 Dazu gleich unter 2. Kap., D. V., S. 56 ff.

56

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Ergebnis führen würde.163 Daraus folgt eine Pflicht des Vollstreckungsmitgliedstaats zum Kontrollverzicht hinsichtlich der in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen, rechtskräftigen Entscheidung.164 Dabei ist eine vorherige Harmonisierung bzw. Angleichung der nationalen Strafrechtssysteme entbehrlich.165

V. Insbesondere: Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl 1. Grundlagen Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHb)166 bildet das „Flaggschiff“ des gegenseitigen Vertrauens in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen.167 Durch das erste Rechtsinstrument im Bereich des Strafrechts, wird ein vereinfachtes System für die Festnahme und Übergabe von Personen eingeführt, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straf-

163

EuGH, verb. Rs. --187/01 und C-385/01, Slg. 2003, I-1345, Rn. 33 – Gözütok und Brügge; Rs. C-436/04, Slg. 2006, I-2333, Rn. 30 – Van Esbroeck; Rs. C-467/04, Slg. 2006, I-9199, Rn. 30 – Gasparini u.a.; Rs. C-150/05, Slg. 2006, I-9327, Rn. 30 – van Straaten; Rs. C-297/07, Slg. 2008, I-9425, Rn. 37 – Bourquain; Rs. C-486/14, ECLI:EU:C:2016:483, Rn. 50 – Kossowski; Rs. C-505/19, ECLI:EU:C:2021:376, Rn. 80 – Bundesrepublik Deutschland (Notice rouge d’Interpol); Rs. C-435/22 PPU, ECLI:EU:C:2022:852, Rn. 93 f. – Generalstaatsanwaltschaft München. Dazu auch A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (472 ff.), der schon in dieser Rechtsprechungslinie die Normativität des Vertrauensgrundsatzes ahnt. 164 EuGH, Rs. C-486/14, ECLI:EU:C:2016:483, Rn. 51 – Kossowski; Rs. C-505/19, ECLI: EU:C:2021:376, Rn. 80 – Bundesrepublik Deutschland (Notice rouge d’Interpol); daneben auch A.-K. Kaufhold, EuR 2012, 408 (414). 165 EuGH, verb. Rs. C-187/01 und C-385/01, Slg. 2003, I-1345, Rn. 32 – Gözütok und Brügge; Rs. C-436/04, Slg. 2006, I-2333, Rn. 29 f. – Van Esbroeck; Rs. C-467/04, Slg. 2006, I-9199, Rn. 29 – Gasparini u.a.; Rs. C-297/07, Slg. 2008, I-9425, Rn. 37 – Bourquain; Rs. C-491/07, Slg. 2008, I-11039, Rn. 41 – Turansky´; Rs. C-129/14 PPU, ECLI:EU:C:2014:586, Rn. 77 – Spasic; Rs. C-486/14, ECLI:EU:C:2016:483, Rn. 44 – Kossowski. 166 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. EG 2002 Nr. L 190, S. 1 (letztens geändert durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, ABl. EU 2009 Nr. L 81, S. 24). 167 Vgl. Schlussanträge GA M. Bobek, Rs. C-717/18, ECLI:EU:C:2019:1011, Rn. 82 – X (Mandat d’arreˆt europe´en – Double incrimination). Der EuGH hat die Unionsrechtskonformität des Rahmenbeschlusses in zwei unterschiedlichen Verfahren überprüft und bejaht: EuGH, Rs. C-303/05, Slg. 2007, I-3633 – Advocaten voor de Wereld (Ungültigkeit wegen des Entfallens der Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit); Rs. C-649/19, ECLI:EU:C: 2021:75 – Spetsializirana prokuratura (Ungültigkeit wegen Verletzung der Art. 6 und 47 GRCh). Einen Überblick des ganzen Verfahrens bieten L. Klimek, European Arrest Warrant, 2015, S. 51 ff., 67 ff.; C. Schäfer, JuS 2019, 856 (856 ff.); A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 58 ff.

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

57

tat verdächtigt werden.168 Es besteht somit die Möglichkeit für den Ausstellungsmitgliedstaat, durch den Erlass eines Europäischen Haftbefehls die Übergabe eines Verfolgten vom Vollstreckungsmitgliedstaat zu verlangen.169 Ziel ist dabei, die Effektivität der justiziellen Zusammenarbeit durch ein vorausgesetztes hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu gewährleisten.170 Insbesondere stellt die teilweise Abkehr vom Erfordernis der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb für bestimmte Delikte eine Besonderheit dieses vereinfachten Übergabesystems dar171 und dient der Beschleunigung des Verfahrens.172 Das Anerkennungsprinzip beruht als Leitmotiv des Rahmenbeschlusses auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Konkret gilt die Vermutung, dass alle nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der GRCh anerkannten Grundrechte zu bieten.173 Diesen Gedanken zufolge sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich dazu verpflichtet, einen gemäß dem RbEuHb ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls ist zwar durch ein hohes Maß an Automatismus kennzeichnet,174 kann bzw. muss nichtdestotrotz aus den in Art. 3–4a RbEuHb aufgezähl-

168 EuGH, Rs. C-303/05, Slg. 2007, I–3633, Rn. 28 – Advocaten voor de Wereld; Rs. C-42/11, ECLI:EU:C:2012:517, Rn. 28 – Lopes Da Silva Jorge; Rs. C-396/11, ECLI:EU:C: 2013:39, Rn. 33 – Radu; Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 37 – Melloni. 169 Der Europäische Haftbefehl entfaltet somit eine extraterritoriale Wirkung, so S. A. Bloks/T. van den Brink, GLJ 22 (2021), 45 (54 ff.); T. Marguery, MJ 25 (2018), 704 (706); V. Mitsilegas, NJECL 6 (2015), 457 (465 f.). 170 Vgl. H. Satzger, NStZ 2016, 514 (514 f.). 171 Hier reicht das Vertrauen am weitesten, so Schlussanträge GA M. Bobek, Rs. C-717/18, ECLI:EU:C:2019:1011, Rn. 69 – X; vgl. auch C. C. Murphy, in: C. Eckes/T. Konstadinides (Hrsg.), Crime within the AFSJ, 2011, S. 224 (233): diese Vorschrift wurde fehlerhaft in bestimmten Mitgliedstaaten umgesetzt. 172 K. Lenaerts, CMLRev. 54 (2017), 805 (814); T. Reinbacher, Strafrecht im Mehrebenensystem, 2015, S. 539. 173 EuGH, C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358, Rn. 50 – F.; verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru; Rs. C-452/16 PPU, ECLI: EU:C:2016:858, Rn. 26 – Poltorak; Rs. C-453/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:860, Rn. 24 – Özc¸elik; Rs. C-571/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:1026, Rn. 90 – Ardic; Rs. C-128/18, ECLI:EU:C: 2019:857, Rn. 46 – Dorobantu; Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 36 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 49 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary). 174 E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 281; V. Mitsilegas, CMLRev. 43 (2006), 1277 (1284).

58

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

ten Ablehnungsgründen175 versagt werden.176 Der Anerkennungsgrundsatz bedeutet in diesem Sinne keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls.177 Beim RbEuHb ist allerdings zu bemängeln, dass kein korrektiver Mechanismus im Fall seiner Fehlanwendung durch den Ausstellungsmitgliedstaat vorgesehen ist.178 Der EuGH trägt somit bei diesem Rechtsinstrument eine besonders erhöhte Verantwortung für die Behandlung von Konfliktfällen.179 2. „Justizbehörde“ Die Definition der „Justizbehörde“ im Sinne des Art. 6 RbEuHb ist für die Ausstellung eines gültigen Europäischen Haftbefehls maßgeblich und ist ständiger Gegenstand der EuGH-Rechtsprechung,180 vor allem unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Rechtsstaatlichkeitskrise in mehreren Mitgliedstaaten. Die nationalen Justizbehörden besitzen eine zentrale Rolle im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, denn sie nehmen eine Reihe von wesentlichen Aufgaben wahr: Über die Ausstellung bzw. (Nicht-)Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls hinaus sind sie mit der Wahrung des Vertrauensgrundsatzes und der Beurteilung von grundrechtsrelevanten Fragen anhand der ihnen vorgelegten Informationen betraut. Ungeachtet der Befugnis der Mitgliedstaaten gemäß Art. 6 RbEuHb, die zuständige Justizbehörde für die Ausstellung bzw. Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu bestimmen, werden der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie durch den autonomen Unionsrechtsbegriff „Justizbehörde“181 Grenzen gesetzt.182 175 EuGH, Rs. C-123/08, Slg. 2009, I-9621, Rn. 57 – Dominic Wolzenburg; Rs. C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 51 – Leymann und Pustovarov; Rs. C-261/09, Slg. 2010, I-11477, Rn. 36 f. – Mantello; Rs. C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39, Rn. 35 f. – Radu; Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 38 – Melloni; Rs. C-192/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:404, Rn. 55 – West; Rs. C-237/15 PPU, ECLI:EU:C:2015:474, Rn. 36 – Lanigan; Rs. C-241/15, ECLI: EU:C:2016:385, Rn. 61 – Bob-Dogi. 176 Vgl. L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (693): diese Verweigerungsgründe laufen dem Vertrauensgrundsatz nicht zuwider, sondern wirken vielmehr vertrauensstärkend; vgl. daneben T. Marguery, EP 5 (2020), 1271 (1276), der in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb einen de facto (unionsrechtlichen) Ordre-publiC-Vorbehalt erblickt; ähnlich J. Geneuss/A. Werkmeister, ZStW 2020, 102 (108 ff.). 177 EuGH, Rs. C-192/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:404, Rn. 64 – West. 178 T. Konstadinides, in: C. Eckes/ders. (Hrsg.), Crime within the AFSJ, 2011, S. 209. 179 Ähnlich L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (686); A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (493); The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 79 ff., 106. 180 Dazu auch T. Harkin, NJECL 12 (2021), 508 (511 ff.); A. Martufi, CMLRev. 59 (2022), 1371 (1375 ff.); T. Niedernhuber, EuCLR 10 (2020), 5 (6 ff.). 181 EuGH, Rs. C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858, Rn. 30 ff. – Poltorak; Rs. C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:861, Rn. 31 ff. – Kovalkovas. 182 S. A. Bloks/T. van den Brink, GLJ 22 (2021), 45 (51 ff.); T. Marguery, EP 5 (2020), 1271 (1284). Der EuGH führt durch die Auslegung von autonomen Unionsrechtsbegriffen eine „ex-post“ bzw. „richterrechtliche“ Harmonisierung herbei (63); L. Mancano, ELRev. 43

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

59

Erstens sind vom Begriff „Justizbehörde“ nicht nur die Richter bzw. die Gerichte eines Mitgliedstaats erfasst, sondern auch die Behörden, die in der betreffenden nationalen Rechtsordnung zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege berufen sind.183 Zunächst fällt die Staatsanwaltschaft, die im Rahmen des Strafverfahrens befugt ist, eine einer Straftat verdächtigte Person zu verfolgen, damit sie vor Gericht gestellt wird, grundsätzlich unter den Unionsbegriff „Justizbehörde“.184 Die Polizeibehörden185 und andere Exekutivorgane eines Mitgliedstaats, wie etwa das Justizministerium186 sind allerdings angesichts ihrer Zugehörigkeit zur Exekutive gänzlich ausgeschlossen.187 In diesem Sinne müssen zweitens Rechts- und Organisationsvorschriften vorhanden sein, die gewährleisten, dass die ausstellende Justizbehörde, bei der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht der Gefahr ausgesetzt ist, etwa einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden,188 selbst wenn eine solche Einzelweisung niemals erteilt wurde.189 Es liegt somit nahe, dass die Unabhängigkeitsgarantien für die Funktionsweise des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls von tragen-

(2018), 69 (74 ff.); ders., CMLRev. 58 (2021), 683 (707); V. Mitsilegas, CMLRev. 57 (2020), 45 (48 ff.). 183 Grundlegend EuGH, Rs. C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858, Rn. 33 f. – Poltorak; Rs. C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:861, Rn. 34, 36 – Kovalkovas; verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 50 – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-509/18, ECLI: EU:C:2019:457, Rn. 30 – PF (Procureur ge´ne´ral de Lituanie); Rs. C-489/19 PPU, ECLI: EU:C:2019:849, Rn. 30 – NJ (Parquet de Vienne); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 46 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); kritisch T. Harkin, NJECL 12 (2021), 508 (523 ff.); A. Martufi, CMLRev. 59 (2022), 1371 (1396 f.). 184 EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 60 – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-509/18, ECLI:EU:C:2019:457, Rn. 39 – PF (Procureur ge´ne´ral de Lituanie); Rs. C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187, Rn. 37 – Svishtov Regional Prosecutor’s Office. 185 EuGH, Rs. C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858, Rn. 46 – Poltorak; Rs. C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4, Rn. 52 – MM. 186 EuGH, Rs. C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:861, Rn. 43 ff. – Kovalkovas. 187 EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 50 – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-489/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:849, Rn. 30 – NJ (Parquet de Vienne); Rs. C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953, Rn. 42 – Openbaar Ministerie (Faux en e´critures); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 46 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 188 EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 74 – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-509/18 ECLI:EU:C:2019:457, Rn. 52 – PF (Procureur ge´ne´ral de Lituanie). 189 EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 89 – OG (Parquet de Lübeck); dazu S. Glaser/S. Hartmann, GLJ 23 (2022), 650 (652 ff.); skeptisch gegenüber der vollen Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften K. Ambos, NJECL 10 (2019), 399 (405); zu den vorgeschlagenen Gesetzesänderungen in Deutschland nach dem Erlass des EuGH-Urteils T. Niedernhuber, EuCLR 10 (2020), 5 (18 ff.); D. Wedel/I. Holznagel, ZRP 2020, 143 (144 ff.).

60

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

der Bedeutung sind.190 Aus diesem Grund muss drittens die zuständige nationale Justizbehörde in der Lage sein, ihre Aufgaben in objektiver Weise wahrzunehmen, unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, ist.191 Mit anderen Worten ist sie zu einem unabhängigen Handeln verpflichtet.192 Die Unabhängigkeit der ausstellenden Staatsanwaltschaften wird nicht in Frage gestellt, wenn diese unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive unterworfen werden können, die endgültige Beurteilung aber durch ein Gericht erfolgt. Sofern zwingend vorgeschrieben ist, dass die Haftbefehle, bevor sie von den Staatsanwaltschaften übermittelt werden können, von einem Gericht gebilligt werden, das eine eigenständige Entscheidung trifft, die den Haftbefehlen ihre endgültige Form gibt, sind die Erfordernisse in Bezug auf die Objektivität und Unabhängigkeit erfüllt.193 Das Erfordernis der Unabhängigkeit verbietet auch nicht interne Weisungen, die den Beamten der Staatsanwaltschaft von ihren Vorgesetzten, die selbst Beamte der Staatsanwaltschaft sind, auf der Grundlage des Unterordnungsverhältnisses erteilt werden können.194 Wenn ein Europäischer Haftbefehl von einer Behörde ausgestellt wird, die nicht unter den Begriff „Justizbehörde“ im Sinne des Art. 6 RbEuHb fällt, besteht für die vollstreckende Justizbehörde nicht die Gewissheit, dass die Ausstellung dieses Haftbefehls einer justiziellen Kontrolle unterlag, sodass die Vertrauensvermutung nicht gerechtfertigt ist.195 Die Rechtsfolge ist, dass der durch diese Behörde ausgestellte Europäische Haftbefehl nicht als „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 RbEuHb angesehen werden kann und daher seine Vollstreckung verweigert werden muss.196

190

L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (689, 695 f.). EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 73 – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-509/18 ECLI:EU:C:2019:457, Rn. 51 – PF (Procureur ge´ne´ral de Lituanie); Rs. C-489/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:849, Rn. 38 – NJ (Parquet de Vienne); verb. Rs. C-566/19 PPU und C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077, Rn. 61 – Parquet ge´ne´ral du Grand-Duche´ de Luxembourg; Rs. C-625/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1078, Rn. 40 – Openbaar Ministerie (Parquet Sue`de); Rs. C-627/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1079, Rn. 31 – Openbaar Ministerie (Procureur du Roi de Bruxelles). 192 Die Unabhängigkeit aller beteiligten Behörden stellt jedoch keine conditio sine qua non für die Funktionsweise des Vertrauensgrundsatzes im RFSR, vgl. C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (385 f.). 193 EuGH, Rs. C-489/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:849, Rn. 49 – NJ (Parquet de Vienne). 194 EuGH, verb. Rs. C-566/19 PPU und C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077, Rn. 56 – Parquet ge´ne´ral du Grand-Duche´ de Luxembourg. 195 EuGH, Rs. C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858, Rn. 45 – Poltorak; Rs. C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:861, Rn. 44 – Kovalkovas. 196 EuGH, Rs. C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858, Rn. 52 – Poltorak; Rs. C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:861, Rn. 45 – Kovalkovas. 191

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

61

Auch die „vollstreckende Justizbehörde“197 muss denselben Anforderungen an Unabhängigkeit wie die Ausstellungsbehörde genügen. Denn die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls kann gleichermaßen wie dessen Ausstellung die Freiheit der betreffenden Person beeinträchtigen, da sie zur Inhaftierung der Person und Übergabe zur Strafverfolgung im Ausstellungsmitgliedstaat führt.198 Daneben stellt das Vollstreckungsverfahren – anders als das Ausstellungsverfahren, das auf einem zweistufigen grundrechtlichen Schutz basiert199 – die einzige im RbEuHb vorgesehene Stufe des Schutzes dar, die die Beachtung der grundrechtlichen Garantien zu gewährleisten vermag.200 Die Einhaltung der Unabhängigkeitsanforderungen durch die vollstreckende Justizbehörde setzt voraus, dass ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf gegen die durch diese erlassene Vollstreckungsentscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat vorhanden sein muss.201 Vor dem Hintergrund, dass primär die ausstellende Justizbehörde erhebliche Grundrechtsentscheidungen treffen muss und daher in erster Linie für die Gewährleistung der Grundrechte der gesuchten Person verantwortlich ist,202 muss sie über die Möglichkeit verfügen, den EuGH mit einer Vorlage zur Vorabentscheidung (Art. 267 AEUV) zu befassen.203 Davon umfasst sind auch Vorlagefragen, die sich auf die Verpflichtungen der vollstreckenden Justizbehörde beziehen, während das vorlegende Gericht die ausstellende Justizbehörde des Europäischen Haftbefehls ist.204 Eine Vorlage von der ausstellenden Justizbehörde sei schließlich auch dann zulässig, wenn der Europäische Haftbefehl zwar aufgehoben worden ist, die Justizbehörde aber vorhat, einen neuen Europäischen Haftbefehl zu erlassen.205 Die Klärung von Fragen über die Voraussetzungen eines gültigen Europäischen Haftbefehls und die Konkretisierung der autonomen Unionsrechtsbegriffe durch den EuGH über das Vorabentscheidungsverfahren ist besonders geeignet, die einheitliche Auslegung bzw. Umsetzung des RbEuHb in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten und den Anerkennungspflichten zur Durchsetzung zu verhelfen.

197 Es handelt sich um einen autonomen unionsrechtlichen Begriff, so EuGH, Rs. C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953, Rn. 38 – Openbaar Ministerie (Faux en e´critures). 198 EuGH, Rs. C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953, Rn. 51 – Openbaar Ministerie (Faux en e´critures). 199 Dazu gleich unter 2. Kap., D. V. 3., S. 62 ff. 200 EuGH, Rs. C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953, Rn. 52 f. – Openbaar Ministerie (Faux en e´critures). 201 EuGH, Rs. C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953, Rn. 54 f. – Openbaar Ministerie (Faux en e´critures). 202 EuGH, Rs. C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27, Rn. 50 – Piotrowski. 203 EuGH, Rs. C-268/17, ECLI:EU:C:2018:602, Rn. 29 – AY. 204 EuGH, Rs. C-268/17, ECLI:EU:C:2018:602, Rn. 28 – AY. 205 EuGH, Rs. C-649/19, ECLI:EU:C:2021:75, Rn. 38 f. – Spetsializirana prokuratura (De´claration des droits).

62

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

3. Ausstellung des Europäischen Haftbefehls: Zweistufiger Rechtsschutz Der Europäischer Haftbefehl muss nicht nur von einer „Justizbehörde“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 RbEuHb erlassen werden, sondern auch eine „justizielle Entscheidung“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 RbEuHb darstellen. In diesem Rahmen muss er auf einer separaten justiziellen Entscheidung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 lit. c) RbEuHb beruhen,206 was impliziert, dass es sich um eine Entscheidung handelt – ein nationaler Haftbefehl207 –, die mit der Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht identisch ist.208 Ein automatisches bzw. vereinfachtes Ausstellungsverfahren stünde hingegen dem Vertrauensgrundsatz entgegen,209 zumal die verfolgte Person dann nicht auf der ersten Ebene in den Genuss der Verfahrens- und Grundrechte kommen könnte, deren Schutz die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats nach dem anzuwendenden nationalen Recht, im Hinblick auf den Erlass eines nationalen Haftbefehls, zu gewährleisten hätte.210 Daraus folgt, dass das durch den Europäischen Haftbefehl geschaffene Übergabesystem einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte gewährt: Zu dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe beim Erlass der nationalen justiziellen Entscheidung hinzu kommt der Schutz, der auf der zweiten Stufe bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls durch die ausstellende Justizbehörde gewährleistet werden muss.211 Nur dann beruht das Vertrauen der Vollstreckungsbehörde auf der Annahme, dass die Ausstellungsbehörde bereits im Voraus eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt hat bzw. unabhängig gehandelt hat.212 Vor diesem Hintergrund ist die Gewährleistung der Verfahrens- und Grundrechte der verfolgten Person auf einer ersten Ebene eine unabdingbare Voraussetzung für die Vertrauensvermutung zwischen den beteiligten Behörden.213 Als nationaler Haftbefehl ist dabei ein nationaler Rechtsakt zu verstehen, der einem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, auch dann, wenn er in den Rechtsvor-

206

Dazu auch T. Marguery, EP 5 (2020), 1271 (1282 f., 1286 ff.). Der nationale Haftbefehl kann von einer Polizeibehörde erlassen werden, solange dieser durch die Staatsanwaltschaft überprüft und bestätigt wird, vgl. EuGH, Rs. C-453/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:860, Rn. 30 – Özc¸elik. 208 EuGH, Rs. C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385, Rn. 58 – Bob-Dogi; Rs. C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4, Rn. 51 – MM. 209 Vgl. Schlussanträge GA Y. Bot, ECLI:EU:C:2016:131, Rn. 57 f. – Bob-Dogi. 210 Grundlegend EuGH, Rs. C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385, Rn. 55 – Bob-Dogi. 211 EuGH, Rs. C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385, Rn. 55 f. – Bob-Dogi; verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 67 – OG (Parquet de Lübeck); letztens EuGH, Rs. C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187, Rn. 42 – Svishtov Regional Prosecutor’s Office; vgl. auch A. Martufi, CMLRev. 59 (2022), 1371 (1398 ff.); T. Niedernhuber, EuCLR 10 (2020), 5 (10 ff.). 212 So Schlussanträge GA Y. Bot, ECLI:EU:C:2016:131, Rn. 96 – Bob-Dogi; C. Heimrich, NJECL 10 (2019), 389 (396 f.). 213 Vgl. EuGH, Rs. C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4, Rn. 49 – MM; Rs. C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187, Rn. 49 – Svishtov Regional Prosecutor’s Office. 207

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

63

schriften des Ausstellungsmitgliedstaats nicht als „nationaler Haftbefehl“ bezeichnet wird, aber gleichwertige Rechtswirkungen erzeugt. Dieser Begriff erfasst somit nicht alle Rechtsakte, mit denen Strafverfolgungsmaßnahmen gegen eine Person eingeleitet werden, sondern nur solche, die mit einer justiziellen Zwangsmaßnahme die Festnahme dieser Person ermöglichen sollen, um sie zwecks Vornahme strafverfahrensrechtlicher Handlungen einem Richter vorzuführen.214 Die Nichterfüllung dieser Anforderungen führt zur Ungültigkeit des entsprechenden Europäischen Haftbefehls.215 Daraus folgt die Nichtanwendbarkeit des RbEuHb sowie die Pflicht der vollstreckenden Justizbehörde, den Europäischen Haftbefehl nicht zu vollstrecken216 sowie gegebenenfalls die nationalen Vorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats anzuwenden.217 Das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 47 GRCh) fordert darüber hinaus die Gewährleistung gewisser Garantien auch auf der zweiten Schutzebene, nämlich bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls. Die zuständige ausstellende Justizbehörde muss dementsprechend überprüfen können, ob die für die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls erforderlichen Voraussetzungen eingehalten wurden und ob seine Ausstellung in Anbetracht der Besonderheiten des Einzelfalls verhältnismäßig war.218 In diesem Sinne muss die verfolgte Person im Verfahren der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls in den Genuss der Verfahrens- und Grundrechte kommen und dementsprechend die zuständige Ausstellungsbehörde die einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen erfüllen.219 Dies impliziert, dass, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, in diesem Mitgliedstaat die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere seiner Verhältnismäßigkeit gerichtlich überprüfbar sein müssen.220 Daher muss die verfolgte Person vor ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat

214 EuGH, Rs. C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4, Rn. 51 – MM; Rs. C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187, Rn. 40 – Svishtov Regional Prosecutor’s Office. 215 EuGH, Rs. C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4, Rn. 56 – MM. 216 Grundlegend EuGH, Rs. C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385, Rn. 64, 66 – Bob-Dogi. 217 EuGH, Rs. C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4, Rn. 79 f. – MM. 218 EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 71 f. – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-489/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:849, Rn. 31, 37 – NJ (Parquet de Vienne). 219 EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 66 ff. – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-509/18 ECLI:EU:C:2019:457, Rn. 45 ff. – PF (Procureur ge´ne´ral de Lituanie); Rs. C-489/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:849, Rn. 36 – NJ (Parquet de Vienne); verb. Rs. C-566/19 PPU und C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077, Rn. 52 – Parquet ge´ne´ral du Grand-Duche´ de Luxembourg. 220 EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 75 – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187, Rn. 42 ff. – Svishtov Regional Prosecutor’s Office.

64

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können, und zwar zumindest auf einer der beiden Schutzstufen.221 In welcher Art dieser Schutz gewährt wird, obliegt nach dem Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie allein dem Ausstellungsmitgliedstaat.222 Die Einrichtung eines gesonderten Rechtsbehelfs stellt in dieser Hinsicht nur eine Möglichkeit dar.223 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit einer solchen gerichtlichen Kontrolle der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls keine Voraussetzung dafür darstellt, dass diese Behörde als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 RbEuHb betrachtet wird.224 Wenn das Prozessrecht des Ausstellungsmitgliedstaats keinen gesonderten Rechtsbehelf vorsieht, ist der RbEuHb im Lichte des Art. 47 GRCh dahin auszulegen, dass ein Gericht, das in einem zeitlich nach Übergabe der gesuchten Person liegenden Stadium des Strafverfahrens zu entscheiden hat, die Voraussetzungen für den Erlass dieses Haftbefehls inzident prüfen können muss, wenn dessen Gültigkeit vor ihm bestritten wird.225 Anders ist allerdings der Fall eines zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls zu beurteilen. Hier muss kein gesonderter Rechtsbehelf gegen die Ausstellungsentscheidung vorgesehen werden: Ein solcher Haftbefehl geht auf ein vollstreckbares Urteil zurück, mit dem gegen den Betroffenen eine Freiheitsstrafe verhängt wird und die Unschuldsvermutung, die dem Betroffenen zugutekommt, in einem gerichtlichen Verfahren widerlegt wird, das den sich aus Art. 47 GRCh ergebenden Anforderungen genügen muss.226 Das Recht auf effektiven Rechtsschutz wird also auf der ersten Schutzstufe gewährleistet, sodass die vollstreckende Justizbehörde darauf vertrauen kann, dass alle einschlägigen Garantien und insbesondere die Unionsgrundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze im Ausstellungsmitgliedstaat eingehalten wurden.227

221

EuGH, Rs. C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187, Rn. 43, 47 f. – Svishtov Regional Prosecutor’s Office; verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 68 – OG (Parquet de Lübeck); früher bereits angedeutet Rs. C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016: 861, Rn. 43 – Kovalkovas; ferner A. Martufi, CMLRev. 59 (2022), 1371 (1398 ff.). 222 EuGH, verb. Rs. C-566/19 PPU und C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077, Rn. 65 – Parquet ge´ne´ral du Grand-Duche´ de Luxembourg; Rs. C-625/19 PPU, ECLI:EU:C: 2019:1078, Rn. 43 – Openbaar Ministerie (Parquet Sue`de); Rs. C-648/20 PPU, ECLI:EU:C: 2021:187, Rn. 58 – Svishtov Regional Prosecutor’s Office. 223 EuGH, verb. Rs. C-566/19 PPU und C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077, Rn. 64 ff. – Parquet ge´ne´ral du Grand-Duche´ de Luxembourg; Rs. C-625/19 PPU, ECLI:EU:C: 2019:1078, Rn. 44 – Openbaar Ministerie (Parquet Sue`de). 224 EuGH, Rs. C-625/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1078, Rn. 30 – Openbaar Ministerie (Parquet Sue`de); Rs. C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187, Rn. 38 – Svishtov Regional Prosecutor’s Office. 225 EuGH, Rs. C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4, Rn. 72 – MM. 226 EuGH, Rs. C-627/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1079, Rn. 33 ff. – Openbaar Ministerie (Procureur du Roi de Bruxelles). 227 EuGH, Rs. C-627/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1079, Rn. 36 – Openbaar Ministerie (Procureur du Roi de Bruxelles).

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

65

Aus der vorstehenden Analyse folgt, dass die Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz zwar für die Aufgabenwahrnehmung der ausstellenden Justizbehörde maßgeblich, für die Einstufung der Letzteren als solche jedoch keine konstitutive Voraussetzung sind.228 Wenn die Staatsanwaltschaften in ihrer Eigenschaft als Justizbehörden einen Europäischen Haftbefehl ausstellen möchten, müssen sie der richterlichen Aufsicht unterliegen und ihre Ausstellungsentscheidungen überprüft werden.229 Der EuGH versucht mit dieser Rechtsprechung einen schonenden Ausgleich zwischen der Wahrung der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten einerseits und der Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes für die verfolgte Person andererseits zu finden.230 4. Höherer nationaler Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauens Die Reichweite des Vertrauensgrundsatzes wurde zunächst in der Rechtssache Melloni231 aufgegriffen. Sie betraf die Tauglichkeit von grundrechtsschützenden nationalen (spanischen) Vorschriften als Grenze des Vertrauensgrundsatzes und als Ablehnungsgrund für die Vollstreckung eines in Italien ausgestellten Europäischen Haftbefehls. Als Anknüpfungspunkt wurde dabei Art. 53 GRCh herangezogen, der es einem Mitgliedstaat grundsätzlich gestattet, den in seiner Verfassung garantierten Schutzstandard für die Grundrechte anzuwenden, wenn er höher als der sich aus der GRCh ergebende ist.232 Ein höheres Maß an Schutz ist erlaubt, sofern weder das Schutzniveau der GRCh noch Vorrang, Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.233 Eine gegenteilige Auslegung, wonach die nationalen Anforderungen der Anwendung unionsrechtlicher Vorschriften entgegenzuhalten wären, würde gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen.234 Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts darf deshalb nicht durch die Geltendmachung von nationalen Vorschriften beeinträchtigt werden.235 Dies gelte umso mehr für unionsrechtlich voll harmo-

228

Ähnlich T. Niedernhuber, EuCLR 10 (2020), 5 (11). T. Niedernhuber, EuCLR 10 (2020), 5 (12), nach welcher die vollstreckende Justizbehörde dabei mit der Prüfung einer Reihe von Voraussetzungen belastet ist, was sehr zeitaufwändig ist. 230 Dazu A. Martufi, CMLRev. 59 (2022), 1371 (1379 ff.). 231 EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 – Melloni. 232 Zur Auslegung von Art. 53 GRCh vgl. H. D. Jarass, GrCh, 4. Aufl. 2021, Art. 53 GRCh, Rn. 11 ff.; K. von Papp, ELRev. 43 (2018), 511 (516 ff.); kritisch gegenüber der Auslegung von Art. 53 GRCh durch den EuGH S.-P. Hwang, ZEuS 2016, 369 (371 ff.). 233 EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 60 – Melloni. 234 Anders BVerfGE 140, 317 (347 Rn. 63 ff.), wo das BVerfG die Vereinbarkeit der Übergabe mit Art 1 Abs. 1 GG im Wege der Identitätskontrolle geprüft hat; vgl. aber aus der jüngsten Rechtsprechung BVerfGE 152, 216 (233 ff. Rn. 42 ff.) und BVerfGE 156, 182 (196 f. Rn. 36 f.), wonach bei unionsrechtlich vollharmonisierten Bereichen grundsätzlich die Unionsgrundrechte und nicht die deutschen Grundrechte als Prüfungsmaßstab maßgeblich sind; ferner R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, 2022, S. 232 ff. 235 EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 58 f. – Melloni. 229

66

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

nisierende Rechtsakte wie den RbEuHb.236 Die Berufung auf Art. 53 GRCh, um die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, würde zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung führen und daher die Wirksamkeit des RbEuHb beeinträchtigen.237 Die vollstreckende Behörde kann sich daher nicht auf die einen höheren Grundrechtsschutz gewährenden nationalen Vorschriften berufen, um die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen und dadurch den Vertrauensgrundsatz zu durchbrechen.238 5. Unionaler Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauens Die grundrechtsrelevanten Erwägungen erschöpfen sich nicht im zweistufigen Schutz im Ausstellungsverfahren des Europäischen Haftbefehls, sondern sind für die Ablehnung seiner Vollstreckung besonders relevant.239 Die ursprüngliche EuGH-Rechtsprechung in Bezug auf die Ablehnung der Vollstreckung aus unionsgrundrechtlichen Gründen, wie etwa des Anspruchs auf rechtliches Gehör240 im Ausstellungsmitgliedstaat, ist durch eine zurückhaltende Tendenz geprägt.241 Dies wird damit begründet, dass dadurch die Tragweite des Vertrauens beeinträchtigt und das vorgesehene Übergabesystem zum Scheitern gebracht wäre.242 Dazu müsse ein gewisser Überraschungseffekt kommen, um eine Flucht des Straftäters effektiv verhindern zu können.243 Den Wendepunkt in der EuGH-Rechtsprechung markiert das Aranyosi und Ca˘lda˘raru-Urteil,244 in dem der EuGH über die Frage der Tauglichkeit einer drohenden Verletzung von Art. 4 GRCh als Grenze der Vollstreckungspflicht im Europäischen Haftbefehlsrecht geurteilt hat. Unter Hinzuziehung des Erwä236

EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 63 – Melloni. EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 63 – Melloni; anders BVerfGE 140, 317 (355 Rn. 83): „Insoweit wird der den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschende Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens durch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt“; V. Mitsilegas, CMLRev. 57 (2020), 45 (56 f.). 238 C. Franzius, ZaöRV 75 (2015), 383 (400), laut dem die Anwendbarkeit nationaler Grundrechte in nicht vollständig harmonisierten Bereichen daher ein „Lippenbekenntnis“ zu bleiben droht. 239 Vgl. L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (687 f.), der die Begriffe „Grundrechtsverletzungen“ und „außergewöhnliche Umstände“ gleichsetzt. Zu welchem Zeitpunkt (vor, während oder nach der Übergabe) Grundrechtseingriffe eintreten können, vgl. T. Marguery, MJ 25 (2018), 704 (709 ff.). 240 EuGH, Rs. C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39, Rn. 39 – Radu. 241 Anders aber Schlussanträge GA E. Sharpston, Rs. C-396/11, ECLI:EU:C:2013:648, Rn. 39 – Radu, die für die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bei vorliegender Verletzung der Menschenrechte plädiert hat. 242 EuGH, Rs. C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39, Rn. 39 – Radu; Rs. C-399/11, ECLI:EU:C: 2013:107, Rn. 63 – Melloni. 243 EuGH, Rs. C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39, Rn. 40 – Radu. 244 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru. 237

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

67

gungsgrunds 10 des RbEuHb245 sowie seiner Erwägungen im ΕMRK-Beitrittsgutachten246 hat der EuGH die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen bejaht.247 Konkret hat er den absoluten Charakter des in Art. 4 GRCh aufgestellten Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung herangezogen und festgestellt, dass die Vollstreckungsbehörde, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, verpflichtet sei, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Übergabe der Person an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats zu entscheiden hat.248 Für die durch die Vollstreckungsbehörde vorzunehmende Beurteilung hat der EuGH dabei einen zweistufigen Test eingeführt.249 In Bezug auf die Anwendung der ersten Stufe des sog. Aranyosi-Tests bestehen konkrete Pflichten für die beteiligten Justizbehörden: Zunächst muss sich die vollstreckende Justizbehörde auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen. Diese Angaben können sich unter anderem aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entschei-

245 Dieser lautet: „Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“ 246 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 – Beitritt der Union zur EMRK. 247 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 82 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru; bestätigt in EuGH, Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 49 – Dorobantu; Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 43 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 56 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary); Rs. C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733, Rn. 39 – R O. 248 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 88 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru; dazu A. Lübbe, NVwZ 2017, 674 (675), wonach der EuGH aus dem absoluten Charakter des Art. 4 GRCh eine Grenze des Vertrauensgrundsatzes entnimmt. 249 Ähnlich bereits BVerfGE 140, 317 (350 Rn. 71), wenn das BVerfG ausführt, dass allein das Vorliegen systemischer Mängel die Vollstreckungsverweigerung eines Europäischen Haftbefehls nicht begründen kann, sondern vielmehr eine Einzelfallprüfung erforderlich sei; vgl. G. Anagnostaras, CMLRev. 53 (2016), 1675 (1702); V. Mitsilegas, ELRev. 46 (2021), 579 (589): der EuGH habe sich insoweit an die Vorgehensweise des BVerfG angelehnt. Der zweite Prüfungsschritt der Einzelfallprüfung entfällt, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats an einen Drittstaat ausgeliefert wird, EuGH, Rs. C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 55 ff. – Petruhhin.

68

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

dungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben.250 Allein diese Feststellung ist allerdings für die Ablehnung der Vollstreckung des betreffenden Europäischen Haftbefehls nicht ausreichend. Die vollstreckende Justizbehörde muss ferner konkret und genau prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene aufgrund der Bedingungen seiner beabsichtigten Inhaftierung im Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.251 Was die zweite Stufe des Aranyosi-Tests anbelangt, muss die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 15 Abs. 2 RbEuHb die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten,252 unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Zum anderen ist die ausstellende Justizbehörde verpflichtet, der vollstreckenden Justizbehörde diese Informationen zu erteilen.253 Diese Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden erfolgt im Geiste des in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV verankerten Loyalitätsgrundsatzes.254 Daraus folgt eine Berücksichtigungspflicht für die vollstreckende Justizbehörde, wenn diese eine Zusicherung von der ausstellenden Behörde erhält, dass die betroffene Person keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund ihrer konkreten und genauen Haftbedingungen erfahren wird.255 Hat die ausstellende Justizbehörde diese Zusicherung erteilt, muss sich die vollstreckende Justizbehörde in Anbetracht des Vertrauensgrundsatzes darauf verlassen, wenn keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen.256 Die Befugnis der vollstreckenden Justizbehörde alle Informationen, die sie

250 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 89 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru. 251 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 92, 94 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru. 252 Vgl. auch EuGH, Rs. C-571/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:1026, Rn. 91 – Ardic; Rs. C-551/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:991, Rn. 63 – IK: „die ausstellenden und die vollstreckenden Justizbehörden [müssen] im Hinblick auf eine wirksame justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen umfassend von den Instrumenten Gebrauch machen, die insbesondere in Art. 8 Abs. 1 und in Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehen sind, um das gegenseitige Vertrauen zu fördern, das dieser Zusammenarbeit zugrunde liegt“. 253 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 95 ff. – Aranyosi und Ca˘lda˘raru. 254 EuGH, Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 104, 109 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary). 255 EuGH, Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 111 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary). 256 EuGH, Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 112 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary); Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 68 – Dorobantu; kritisch gegenüber der Verbindlichkeit der Zusicherungen V. Mitsilegas, ELRev. 46 (2021), 579 (595 f.).

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

69

einholen kann, zu nutzen, um festzustellen, ob objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben vorliegen, die eine echte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestätigen können, bleibt von der Erteilung einer solchen Zusicherung unberührt.257 Eine von einer anderen als der zuständigen Behörde – etwa dem Justizministerium – erteilte Zusicherung ist dagegen nicht verbindlich und ist durch eine Gesamtbeurteilung aller der vollstreckenden Justizbehörde zur Verfügung stehenden Informationen zu würdigen.258 Dabei sind die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats nur verpflichtet, die Haftbedingungen in den Haftanstalten zu prüfen, in denen diese Person nach den ihnen vorliegenden Informationen konkret inhaftiert werden soll.259 Angesichts der Tatsache, dass im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestvorschriften hinsichtlich des persönlichen Raumes pro Gefangenem existieren, ist für die Gesamtbeurteilung durch die vollstreckende Justizbehörde auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen.260 Falls für die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besteht, ist die Vollstreckung des Haftbefehls aufzuschieben, aber nicht aufzugeben.261 In der Zwischenzeit darf die vollstreckende Justizbehörde die betreffende Person nach Art. 6 GRCh in Haft behalten, sofern das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt worden ist und keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt.262 In der Praxis kann jedoch der Aufschub bis zur Beseitigung der Gefahr der Ablehnung der Vollstreckung gleichkommen.263 Die rechtsstaatlich bedenklichen Entwicklungen in Polen und Ungarn haben zu Spannungslagen in der vertrauensbasierten strafrechtlichen Zusammenarbeit geführt. Der EuGH hatte in seinem grundlegenden LM-Urteil die Auswirkungen der Rechtsstaatskrise auf das durch den Europäischen Haftbefehl gesicherte Übergabesystem und den Vertrauensgrundsatz zu beurteilen. Konkret musste er feststellen, ob im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Übergabe eine Verletzung

257 EuGH, Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 68 f. – Dorobantu; Schlussanträge GA M. C. Sa´nchez-Bordona, Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:547, Rn. 72 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary). 258 EuGH, Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 114 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary). 259 EuGH, Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 66 – Dorobantu; Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 87 ff. – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary). 260 EuGH, Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 71 ff. – Dorobantu. 261 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 98 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru; vgl. auch A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (490 f.). Dazu kommt Art. 17 Abs. 7 RbEuHb zum Tragen, wonach der Vollstreckungsmitgliedstaat Eurojust von diesem Umstand in Kenntnis setzt. 262 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 100 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru. 263 M. Böhm, NStZ 2017, 77 (79).

70

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

des Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht und des Grundrechts auf ein faires Verfahren im Sinne des Art. 47 Abs. 2 GRCh vorliegt. Zunächst hat er auf die fundamentale Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens264 und des Erfordernisses der Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls hingewiesen.265 Denn, wie dargestellt,266 müssen die beteiligten Justizbehörden den Anforderungen eines gerichtlichen wirksamen Rechtsschutzes und insbesondere der Unabhängigkeitsgarantie genügen, damit das Übergabeverfahren unter justizieller Kontrolle stattfindet.267 In diesem Sinne beruht das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten auf der Prämisse, dass die Strafgerichte der übrigen Mitgliedstaaten den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen, zu denen u.a. gehört, dass sie unabhängig und unparteiisch sind.268 Für die Prüfung, ob das in Art. 47 Abs. 2 GRCh festgeschriebene Recht auf ein faires Verfahren verletzt wird, greift der EuGH auf den in Aranyosi und Ca˘lda˘raru eingeführten zweistufigen Test zurück.269 Demzufolge muss die vollstreckende Justizbehörde im ersten Prüfungsschritt feststellen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr besteht, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird, weil die Justiz dieses Mitgliedstaats systemische oder allgemeine Mängel aufweist, sodass die Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats gefährdet sein kann.270 Dabei stellt die 264 EuGH, Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 45 – Dorobantu; Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 35 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 48 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary); Rs. C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191, Rn. 35 – SF (Mandat d’arreˆt europe´en – Garantie ´ tat d’exe´cution); Rs. C-551/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:991, Rn. 34 – IK de renvoi dans l’E (Exe´cution d’une peine comple´mentaire). 265 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 55 f. – Minister for Justice and Equality (LM). Dazu T. Marguery, EP 5 (2020), 1271 (1279): der EuGH hat dadurch den Zusammenhang zwischen gegenseitiger Anerkennung, gegenseitigem Vertrauen und den Unionswerten hergestellt; ähnlich M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (27). 266 S. unter 2. Kap., D. V. 2., S. 58 ff. 267 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 56 – Minister for Justice and Equality (LM). 268 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 58 – Minister for Justice and Equality (LM). 269 Vgl. M. Licˇkova´/C. O. Martı´nez, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 179 (191), die eine Übertragung des Aranyosi-Tests auch im Bereich der zivilrechtlichen justiziellen Zusammenarbeit nicht ausschließen, sollte es Fälle über die (fehlende) Unabhängigkeit der ersuchenden Gerichte geben. 270 Für die konkrete Beurteilung, ob ein Verstoß gegen das Grundrecht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 47 Abs. 2 GRCh vorliegt, ist nicht jede Unregelmäßigkeit im Verfahren zur Ernennung von Richtern als ein solcher Verstoß anzusehen. Vielmehr muss eine solche Unregelmäßigkeit vorliegen, die die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt wird, vgl. EuGH, verb. Rs. C-562/21 PPU and C-563/21 PPU,

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

71

schlichte Einleitung des Art. 7 Abs. 1 EUV-Verfahrens durch die Kommission ein starkes Indiz hierfür dar, entbindet aber die vollstreckende Justizbehörde nicht von der Durchführung der Prüfung in concreto.271 Eine solche Auslegung würde die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gegenüber diesem Mitgliedstaat unter Missachtung der insoweit bestehenden Zuständigkeit des Europäischen Rates und des Rates faktisch aussetzen.272 Für die Gesamtwürdigung durch die vollstreckende Justizbehörde im ersten Prüfungsschritt sind die einschlägigen Urteile der europäischen Gerichte (EuGH und EGMR) wie auch die Rechtsprechung der nationalen Verfassungsgerichte des Ausstellungsmitgliedstaats, insbesondere diejenige, die den Vorrang des Unionsrechts und den verbindlichen Charakter der EMRK in Frage stellt,273 besonders relevant. Im zweiten Prüfungsschritt muss sodann die vollstreckende Justizbehörde konkret und genau prüfen, ob es unter den gegebenen Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.274 Im Rahmen dieser Prüfung muss die vollstreckende Justizbehörde unter anderem untersuchen, inwieweit sich die systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats auf die Rechtslage der gesuchten Person in concreto auswirken können.275 In diesem Zusammenhang besteht für die vollstreckende Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 RbEuHb die Pflicht, die ausstellende Justizbe-

ECLI:EU:C:2022:100, Rn. 72 f. – Openbaar Ministerie (Tribunal e´tabli par la loi dans l’E´tat membre d’e´mission). 271 Dies wäre nur der Fall, wenn der Europäische Rat unter den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 EUV eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung des Art. 2 EUV im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt hätte, vgl. EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018: 586, Rn. 69 ff. – Minister for Justice and Equality (LM); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 57 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); kritisch dazu M. Payandeh, JuS 2018, 919 (921). 272 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 59 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); verb. Rs. C-562/21 PPU and C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, Rn. 63 – Openbaar Ministerie (Tribunal ´ tat membre d’e´mission). e´tabli par la loi dans l’E 273 Vgl. insbeondere das Urteil K 3/21 des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober 2021 zum Verhältnis des polnischen Verfassungsrechts zum EU-Recht, in dem einige Bestimmungen des EU-Vertrags für verfassungswidrig erklärt wurden. 274 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 61 ff. – Minister for Justice and Equality (LM); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 53 ff. – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); verb. Rs. C-562/21 PPU and C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, Rn. 82 ff. – Openbaar Ministerie (Tribunal e´tabli par la loi dans l’E´tat membre d’e´mission). 275 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 74 – Minister for Justice and Equality (LM); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 61 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); Rs. C-158/21, ECLI: EU:C:2023:57, Rn. 111 ff. – Puig Gordi u.a.

72

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

hörde um alle zusätzlichen Informationen zu ersuchen, die für die Feststellung einer solchen Gefahr erforderlich sind.276 Dabei stellt jedes Verhalten der ausstellenden Justizbehörde, das ihre fehlende loyale Zusammenarbeit belegt, einen relevanten Gesichtspunkt für die Einzelfallprüfung dar.277 Kann die vollstreckende Justizbehörde nach diesen Informationen nicht ausschließen, dass die betroffene Person im ersuchenden Mitgliedstaat eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, muss sie davon absehen, den Europäischen Haftbefehl gegen diese Person zu vollstrecken.278 Der EuGH hat sich mit diesen Leitentscheidungen bemüht, den Vorrang des Sekundärrechts mit dem unionsrechtlichen Grundrechtsschutz und den übrigen Strukturprinzipien des Unionsrechts in Einklang zu bringen.279 Die Vertrauensvermutung stößt dabei an ihre Grenzen, wenn Rechte mit absolutem Charakter bzw. der Wesensgehalt nicht absolut geltender Unionsgrundrechte280 drohen verletzt zu werden.281 Dabei entwickelt er mittels eines zweistufigen Tests282 das Prüfungsschema bzw. die anzuwendenden Kriterien für die mitgliedstaatlichen Gerichte. Diese sind für deren Anwendung bzw. die Letztentscheidung über die tatsächlichen Umstände verantwortlich und verfügen bei deren Umsetzung283

276 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 76 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733, Rn. 42 – R O; verb. Rs. C-562/21 PPU and C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, Rn. 84 – Openbaar Ministerie (Tribunal e´tabli par la loi dans l’E´tat membre d’e´mission). 277 EuGH, verb. Rs. C-562/21 PPU and C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, Rn. 85 – Openbaar Ministerie (Tribunal e´tabli par la loi dans l’E´tat membre d’e´mission). 278 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 78 – Minister for Justice and Equality (LM); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 61 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); verb. Rs. C-562/21 PPU und C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, Rn. 46, 101 – Openbaar Ministerie (Tribunal e´tabli par la loi dans l’E´tat membre d’e´mission). 279 Ähnlich M. Ruffert, JuS 2016, 853 (855). 280 Vgl. allerdings J. Geneuss/A. Werkmeister, ZStW 2020, 102 (121 f.) zu den strukturellen Unterschieden zwischen Art. 4 und Art. 47 Abs. 2 GRCh. 281 M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (18, 25 f., 33); ähnlich F.-X. Millet, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 57 (70). 282 Vgl. aber für die Abschaffung des zweiten Schritts, wenn die Verletzung des Art. 47 Abs. 2 GRCh geprüft wird, J. Geneuss/A. Werkmeister, ZStW 2020, 102 (127 ff.); ähnlich V. Mitsilegas, ELRev. 46 (2021), 579 (598 ff.). 283 Die Umsetzung des Aranyosi-Tests stellt eine große Herausforderung für die nationalen Gerichte dar, so W. van Ballegooij/P. Ba´rd, NJECL 7 (2016), 439 (463); P. Ba´rd, ELJ 28 (2022), 185 (200 ff.); M. Krajewski, EuConst 14 (2018), 792 (804 ff.); E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 71; L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (706); M. Payandeh, JuS 2018, 919 (921); A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (491). Vgl. auch M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (41 ff.): der EuGH sollte die erste Stufe des Aranyosi-Tests, nämlich die abstrakt-generelle Gefährdungslage selbst beurteilen. Der High Court Irlands hat den Europäischen Haftbefehl vollstreckt, Urteil vom 19. November 2018, [2018] IEHC 639, The Minister for Justice and Equality v Celmer No. 5, Rn. 117; vgl. aber OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17.02.2020 – Ausl

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

73

über einen weiten Ermessensspielraum.284 Eine Prüfungsbefugnis des Vollstreckungsmitgliedstaats hinsichtlich der Einhaltung der rechtsstaatlichen, insbesondere grundrechtlichen Garantien im Ausstellungsmitgliedstaat besteht nur ausnahmsweise und bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte.285 Die Ablehnung oder der Aufschub der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sind als ultima ratio zu verstehen, wobei etwaige Spannungslagen vorrangig im Geiste des Loyalitätsgrundsatzes durch Kooperation der Justizbehörden zu lösen sind.286

VI. Grundsätze der Anerkennung und des Vertrauens in weiteren strafrechtlichen Sekundärrechtsakten Der Vertrauensgrundsatz ist auch für die sonstigen strafrechtlichen Sekundärrechtsakte erheblich. So hat der EuGH hinsichtlich des Art. 12 Abs. 1287 des Rahmenbeschlusses 2006/783/JI (Einziehungsentscheidungen)288 ausgeführt, dass dieser auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht. Daraus folgt, dass ein gegenseitiges Vertrauen darauf besteht, dass jeder der Mitgliedstaaten die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts anerkennt, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde.289 Ähnliches gilt für den Rahmenbeschluss 2005/214/JI (Geldstrafen und Geldbußen),290 dem der Anerkennungsgrundsatz zugrunde liegt, sodass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, eine Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße ohne jede weitere Formalität anzuerkennen291 und unverzüglich alle erforderlichen Maßnah301 AR 156/19, Rn. 83 ff., das die Auslieferung des Verfolgten nach Polen zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der derzeitigen aktuellen Entwicklungen in Polen im Rahmen der „Justizreform“ untersagt hat. 284 S. A. Bloks/T. van den Brink, GLJ 22 (2021), 45 (63), nach denen die Rolle der nationalen Gerichte im europäischen Rechtsraum dadurch erheblich verstärkt wird; L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (701, 704 ff.); T. Marguery, MJ 25 (2018), 704 (708). 285 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-562/21 PPU and C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, Rn. 61 ´ tat membre d’e´mission). – Openbaar Ministerie (Tribunal e´tabli par la loi dans l’E 286 L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (702 ff.). 287 Dieser lautet: „Unbeschadet des Absatzes 3 ist für die Vollstreckung einer Einziehungsentscheidung das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats maßgebend; nur dessen Behörden können über die Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen.“ 288 Rahmenbeschluss 2006/783/JI des Rates vom 6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen, ABl. EU 2006 Nr. L 328, S. 59 (ersetzt durch die Verordnung (EU) 2018/1805 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 über die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen, ABl. EU 2018 Nr. L 303, S. 1). 289 EuGH, Rs. C-97/18, ECLI:EU:C:2019:7, Rn. 33 – ET. 290 Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. EU 2005 Nr. L 76, S. 16. 291 Vgl. aber Art. 20 Abs. 3 Rahmenbeschluss 2005/214/JI, wonach die Vollstreckung auf-

74

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

men zu ihrer Vollstreckung zu treffen.292 Diese Auslegung sei geboten, da für das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten angemessene Garantien vorgesehen sind.293 Die Vollstreckungsbehörde kann, wenn sie Zweifel hat, ob die Voraussetzungen für die Anerkennung der Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße in einem konkreten Fall erfüllt sind, bei der Ausstellungsbehörde zusätzliche Informationen einholen.294 Aus dem Vertrauensgrundsatz folgt insbesondere, dass die Vollstreckungsbehörde grundsätzlich an die Beurteilung der in Rede stehenden Zuwiderhandlung durch die Behörde des Ausstellungsmitgliedstaats gebunden ist.295 Auch im Rahmen der Richtlinie 2014/41/EU296, die auf dem Anerkennungsprinzip beruht,297 geht der EuGH davon aus, dass der Vertrauensgrundsatz eine widerlegbare Vermutung beinhaltet, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten.298 Dadurch erfolgt eine Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Anordnungs- und der Vollstreckungsbehörde:299 Danach ist es der Vollstreckungsbehörde nicht erlaubt, die Nichteinhaltung der Voraussetzungen für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) zu heilen, zumal dies darauf hinauslaufen würde, der Vollstreckungsbehörde eine Befugnis zur Kontrolle der materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Entscheidung zuzuerkennen.300 In diesem Sinne obliegt es dem Anordnungsmitgliedstaat, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die Vollstreckungsbehörde ihre Rechtshilfe im Einklang mit dem Unionsrecht sachgerecht leisten kann.301 Eine Abweichung von dem Grundsatz, dass eine EEA zu vollstrecken ist, ist ausnahmsweise nach einer Einzelfallprüfung möglich,302 wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die

grund von Verletzung der Unionsgrundrechte verweigert werden kann; dazu auch EuGH, Rs. C-338/20, ECLI:EU:C:2021:805, Rn. 26 f. – Prokuratura Rejonowa Ło´dz´-Bałuty. 292 EuGH, Rs. C-60/12, ECLI:EU:C:2013:733, Rn. 29 – Bala´zˇ; Rs. C-338/20, ECLI:EU:C: 2021:805, Rn. 24 – Prokuratura Rejonowa Ło´dz´-Bałuty. 293 EuGH, Rs. C-60/12, ECLI:EU:C:2013:733, Rn. 30 – Bala´zˇ. 294 EuGH, Rs. C-60/12, ECLI:EU:C:2013:733, Rn. 31 – Bala´zˇ. 295 EuGH, Rs. C-136/20, ECLI:EU:C:2021:804, Rn. 41, 45 – LU (Recouvrement d’amendes de circulation routie`re). 296 Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. EU 2014 Nr. L 130, S. 1. 297 A. H. Weiss, NJECL 13 (2022), 180 (182 ff.); vgl. aber K. Ambos/P. Rackow, JZ 76 (2021), 329 (330 ff.): das Anerkennungsprinzip hat ich in diesem Bereich als äußerst problematisch erwiesen. 298 EuGH, Rs. C-584/19, ECLI:EU:C:2020:1002, Rn. 40 – Staatsanwaltschaft Wien (Ordres de virement falsifie´s); Rs. C-724/19, ECLI:EU:C:2021:1020, Rn. 51 – Spetsializirana prokuratura; Rs. C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902, Rn. 54 – Gavanozov II. 299 Ähnlich in Bezug auf den RbEuHb M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (22). 300 EuGH, Rs. C-724/19, ECLI:EU:C:2021:1020, Rn. 53 – Spetsializirana prokuratura. 301 EuGH, Rs. C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902, Rn. 58 – Gavanozov II. 302 Nach Art. 11 Abs. 1 lit. f Richtlinie 2014/41/EU.

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

75

Vollstreckung einer EEA mit den Unionsgrundrechten unvereinbar wäre.303 Allerdings wäre in der Konsequenz eine solche Unvereinbarkeit, konkret mit Art. 47 GRCh, stets zu bejahen, wenn im Anordnungsstaat kein Rechtsbehelf vorhanden ist. Dies würde allerdings zur systematischen Abweichung vom Grundsatz der Vollstreckung führen, was der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2014/41/EU wie dem Vertrauensgrundsatz zuwiderlaufen würde.304 Daraus folge, dass – wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung zu einem Verstoß gegen Art. 47 GRCh führen würde – der Erlass einer EEA nicht mit den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit vereinbar sei, und daher zu unterlassen ist.305 Hiermit hat also der EuGH die de facto-Aussetzung des Anerkennungsmechanismus aufgrund der Verletzung eines Unionsgrundrechts erstmals anerkannt.306 Ebenso leitet der EuGH aus dem Vertrauensgrundsatz ein Nachprüfungsverbot in anderen Rahmenbeschlüssen ab. So kann z.B. im Rahmen des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI (Vollstreckungsanordnung)307 ein Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats nach seinem nationalen Recht in Bezug auf den von der verurteilten Person bereits im Ausstellungsmitgliedstaat verbüßten Teil der Strafe eine Strafverkürzung nicht gewähren, wenn die zuständigen Ausstellungsbehörden gemäß ihrem nationalen Recht keine solche Strafverkürzung gewährt haben. Dadurch würde das Vollstreckungsgericht eine Überprüfung des im Ausstellungsmitgliedstaats verbüßten Haftzeitraums vornehmen und somit das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtssysteme der anderen Mitgliedstaaten unterminieren.308 Ausdruck des Vertrauens in die Gleichwertigkeit aller nationalen Rechtssysteme ist schließlich die Möglichkeit der Vollstreckung einer Sanktion im Vollstreckungsmitgliedstaat (statt im Ausstellungsmitgliedstaat), wenn die Voraussetzungen des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb erfüllt sind.309 Auch der Rahmenbeschluss 2008/675/JI (Vorverurteilungen)310 trägt zur Förderung des Vertrauens im europäischen Rechtsraum bei, indem er eine „Rechts303

EuGH, Rs. C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902, Rn. 59 – Gavanozov II; ähnlich Schlussanträge GA Y. Bot, Rs. C-324/17, ECLI:EU:C:2019:312, Rn. 78 ff. – Gavanozov. 304 EuGH, Rs. C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902, Rn. 59 – Gavanozov II. 305 EuGH, Rs. C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902, Rn. 60 ff. – Gavanozov II. 306 A. H. Weiss, NJECL 13 (2022), 180 (186 ff.), die dabei die Gewährleistung eines effektiven Unionsgrundrechtsschutzes in den Mitgliedstaaten als notwendige Voraussetzung betrachtet, die vorab erfüllt werden muss, damit die Mitgliedstaaten von den Vorteilen der Anerkennungsmechanismen überhaupt profitieren dürfen. 307 Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union, ABl. EU 2008 Nr. L 327, S. 27. 308 EuGH, Rs. C-554/14, ECLI:EU:C:2016:835, Rn. 47 ff. – Ognyanov. 309 Vgl. dazu Art. 25 des Rahmenbeschluss 2008/909/JI (Vollstreckungsanordnung); Schlussanträge GA M. C. Sa´nchez-Bordona, Rs. C-573/17, ECLI:EU:C:2018:957, Rn. 96 ff. – Popławski. 310 Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in

76

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

kultur“ unterstützt, wonach schon in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen grundsätzlich zu berücksichtigen sind.311 In diesem Sinne läuft ein in einem Mitgliedstaat vorgesehenes besonderes Anerkennungsverfahren, das im Hinblick auf eine frühere Verurteilung durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zur Prüfung verpflichtet, ob dieses Gericht die Grundrechte der betroffenen Person beachtet hat, dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich zuwider.312

VII. Vertrauensstärkung Art. 82 Abs. 2 AEUV schreibt die Festlegung von Mindestvorschriften im Strafverfahrensrecht in einzeln bestimmten Bereichen vor. Voraussetzung dafür ist, dass die gezielte Rechtsangleichung der Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit dient sowie dass diese erforderlich ist. Dabei müssen die Unionsorgane die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigen. Das Erforderlichkeitskriterium impliziert die Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV.313 Dieser Artikel scheint dafür geeignet zu sein, angesichts der weiterhin bestehenden Unterschiede im Bereich des nationalen Prozessrechts vertrauensbildende Maßnahmen durch eine punktuelle Rechtsangleichung zu schaffen und somit zur erfolgreichen Umsetzung des Anerkennungsprinzips beizutragen. Der Unionsgesetzgeber hat tatsächlich eine Reihe von Richtlinien zur Stärkung von Verfahrensrechten erlassen.314 Allen Richtlinien ist

anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren, ABl. EU 2008 Nr. L 220, S. 32. 311 EuGH, Rs. C-390/16, ECLI:EU:C:2018:532, Rn. 36 – Lada. 312 EuGH, Rs. C-390/16, ECLI:EU:C:2018:532, Rn. 37 f. – Lada. 313 F. Meyer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 82 AEUV, Rn. 46; V. Mitsilegas, CMLRev. 43 (2006), 1277 (1307); J. Öberg, EuCLR 5 (2015), 19 (23 f.); ders., EuConst 2020, 33 (37); H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 82 AEUV, Rn. 46; J. Vogel/J. Eisele, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 82 AEUV, Rn. 95. Vgl. auch BVerfGE 123, 267 (411 ff.). 314 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. EU 2010 Nr. L 280, S. 1; Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. EU 2012 Nr. L 142, S. 1; Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI, ABl. EU 2012 Nr. L 315, S. 57; Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommu-

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

77

gemeinsam, dass gemäß den Erwägungsgründen die Festlegung von gemeinsamen Mindestvorschriften betreffend Verfahrensrechte darauf abzielt, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern.315 Die Auslegung der in Art. 82 Abs. 2 AEUV festgelegten Voraussetzungen kann indes nicht darauf hinauslaufen, dass alle Maßnahmen erlassen werden dürfen, soweit sie vertrauensbildend wirken. Eine solche Auslegung ist nicht überzeugend und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen geht sie über den Wortlaut der Vorschrift hinaus. Wollte der Unionsgesetzgeber die Einführung von vertrauensbildenden Maßnahmen erlauben, so hätte er dies ausdrücklich formulieren müssen. Denn solche Maßnahmen bedeuten nicht ohne weiteres die Erleichterung des Anerkennungsmechanismus in der justiziellen Zusammenarbeit.316 Zum anderen liegt das materielle Strafrecht im Kern der nationalen Souveränität und die Union hat insofern nur eine begrenzte Kompetenz. Beschränkungen der nationalen Kompetenz müssen deswegen hier dem Erforderlichkeitskriterium genügen. Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber, wenn er Richtlinien zur Vertrauensstärkung verabschieden will, darzulegen hat, dass die zu erlassenden Regelungen konkrete Hindernisse für den Anerkennungsmechanismus beseitigen und einen positiven Einfluss auf seine Funktionsfähigkeit haben werden.317 Diese Begründungspflicht ist in Art. 296 Abs. 2 AEUV festgeschrieben. Sonst wäre theoretisch jegliche vertrauensbildende Maßnahme unter Art. 82 Abs. 2 AEUV zulässig, was in eine Kompetenzüberschreitung des Unionsgesetzgebers münden würde.318

nikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ABl. EU 2013 Nr. L 294, S. 1; Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, ABl. EU 2016 Nr. L 65, S. 1; Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ABl. EU 2016 Nr. L 132, S. 1; Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, ABl. EU 2016 Nr. L 297, S. 1. 315 Erwägungsgr. 3, 4, 9 Richtlinie 2010/64/EU; Erwägungsgr. 3, 4, 10 Richtlinie 2012/13/ EU; Erwägungsgr. 4 bis 6, 8 Richtlinie 2013/48/EU; Erwägungsgr. 4, 10 Richtlinie (EU) 2016/ 343; Erwägungsgr. 2 Richtlinie (EU) 2016/800; Erwägungsgr. 2 Richtlinie (EU) 2016/1919. 316 V. Mitsilegas, YEL 31 (2012), 319 (365 f.). 317 So J. Öberg, EuConst 16 (2020), 33 (38 f.), der dabei die Einführung eines dem Art. 114 AEUV ähnlichen evidenzbasierten Test für die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 82 Abs. 2 AEUV vorschlägt (43 ff.). 318 J. Öberg, EuConst 16 (2020), 33 (43); ähnlich F. Meyer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 82 AEUV, Rn. 46.

78

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

VIII. Fazit Das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten319 bildet die Grundlage für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und die konkreten Anerkennungspflichten in den Sekundärrechtsakten.320 Damit verbunden ist die Vermutung der Gleichwertigkeit der nationalen Strafverfahren321 bzw. der Wahrung des Unionsrechts in allen nationalen Rechtssystemen.322 Selbst die Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, bewirkt nicht die Aussetzung der Anwendung des Unionsrechts in diesem Mitgliedstaat. Folglich bleiben die unionsrechtlichen strafrechtlichen Vorschriften und die mit diesen verbundenen Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung in diesem Staat bis zu seinem tatsächlichen Austritt aus der Union vollumfänglich in Kraft.323 Die tatsächliche Vereinbarkeit aller nationalen Strafsystemen mit den rechtsstaatlichen Garantien stellt jedoch keine Selbstverständlichkeit dar, sodass Vertrauen nicht blind unterstellt werden darf.324 Die Bindung der Mitgliedstaaten an der EMRK wirkt dabei positiv, ist aber für sich nicht ausreichend, ein hinreichendes Maß an Vertrauen zu schaffen.325 Angesichts der fehlenden Kongruenz der nationalen Rechtssys319

KOM(2014) 144 endg., S. 4; Erwägungsgr. 4 Richtlinie 2010/64/EU; Erwägungsgr. 4 Richtlinie 2012/13/EU; Erwägungsgr. 8 Richtlinie 2013/48/EU. Die Existenz eines solchen Vertrauens bezweifeln allerdings K. Ambos/P. Rackow, JZ 76 (2021), 329 (337): „um eine weitere Erosion des Vertrauens in die europäische Kriminalpolitik abzuwenden […]“; W. van Ballegooij/P. Ba´rd, NJECL 7 (2016), 439 (455); S. A. Bloks/T. van den Brink, GLJ 22 (2021), 45 (46, 62); ausweislich einer empirischen Forschung A. Efrat, JEPP 26 (2019), 656 (663 ff., insb. 670 f.); T. Konstadinides, in: C. Eckes/ders. (Hrsg.), Crime within the AFSJ, 2011, S. 192 (220); D. Mansell, EuCLR 2012, 36 (40 ff.); B. Misoski/I. Rumenov, ECLIC 1 (2017), 364 (372); P. Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 2010, S. 101; M. ThunbergSchunke, Whose responsibility?, 2013, S. 107; F. Zimmermann, Strafgewaltkonflikte in der EU, 2014, S. 55 ff. 320 S. A. Bloks/T. van den Brink, GLJ 22 (2021), 45 (50); T. Konstadinides, in: C. Eckes/ders. (Hrsg.), Crime within the AFSJ, 2011, S. 192 (195); P. Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 2010, S. 97; M. Thunberg-Schunke, Whose responsibility?, 2013, S. 93 f.; U. Sieber, ZStW 2009, 1 (31, 33 f.); A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (469). 321 A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 224 ff. 322 Vgl. Schlussanträge GA Y. Bot, ECLI:EU:C:2016:140, Rn. 114 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru; D. Curtin/I. Dekker, in: P. Beaumont/C. Lyons/N. Walker (Hrsg.), Convergence and Divergence in European Public Law, 2002, S. 53 (74); T. Marguery, EP 1 (2016), 943 (945). 323 EuGH, Rs. C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733, Rn. 39 – R O; Rs. C-661/17, ECLI: EU:C:2019:53, Rn. 80 – M.A. u.a. 324 C. Heard/D. Mansell, NJECL 2 (2011), 353 (354); H. Rosenau/S. Petrus, in: C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), EUV/AEUV/GRCh/EAGV, 2. Aufl. 2018, Art. 82 AEUV, Rn. 5; F. Zimmermann/S. Glaser/A. Motz, EuCLR 2011, 55 (61 ff.). 325 KOM(2004) 328 endg., S. 7, 9, Rn. 22, 29; Erwägungsgr. 6 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. EU 2010 Nr. L 280, S. 1; Erwägungsgr. 7 Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. EU 2012 Nr. L

D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

79

teme326 ist vielmehr ein hinreichendes Maß an Kenntnis und Akzeptanz der Alltagspraxis der Justiz in den Mitgliedstaaten erforderlich, welche wiederum einen gewissen Grad an Rechtsangleichung voraussetzen.327 Dem gegenseitigen Vertrauen wird ein normativer Gehalt zugesprochen, der im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen von jedem Mitgliedstaat verlangt, dass dieser – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.328 Diese in der ursprünglichen Rechtsprechung als unwiderlegbar begriffene Vermutung kann bei Vorliegen entgegenstehender Anhaltspunkte enttäuscht werden329 und in die Aussetzung des Kooperationsersuchens münden. Grundsätzlich trägt somit der ersuchende Mitgliedstaat die Verantwortung für die Wahrung der Unionswerte bzw. der Unionsgrundrechte;330 eine Verlagerung der Grundrechtsprüfung auf den ersuchten Mitgliedstaat wird aber ausnahmsweise bejaht.331 Der EuGH hat in diesem Zusammenhang einen zweistufigen Test und die anzuwendenden Kriterien zum

142, S. 1; Schlussanträge GA Y. Bot, Rs. C-486/14, ECLI:EU:C:2015:812, Rn. 81 – Kossowski. 326 T. Konstadinides, in: C. Eckes/ders. (Hrsg.), Crime within the AFSJ, 2011, S. 211; V. Mitsilegas, CMLRev. 43 (2006), 1277 (1310). 327 M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (422); H. Satzger, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 82 AEUV, Rn. 13; ähnlich P. Gallagher, ERA Forum 9 (2009), 495 (500); T. Marguery, MJ 25 (2018), 704 (716 f.); V. Mitsilegas, ELRev. 46 (2021), 579 (605 f.); vgl. aber C. C. Murphy, in: C. Eckes/T. Konstadinides (Hrsg.), Crime within the AFSJ, 2011, S. 224 (239 ff.), die Rechtsangleichung wirkt nicht ohne Weiteres vertrauensstärkend; ähnlich V. Mitsilegas, YEL 31 (2012), 319 (367 f.). Daneben auch A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 144 ff. und 244 ff., zu weiteren, der Vertrauensstärkung dienenden außerrechtlichen bzw. Soft-law-Instrumenten. 328 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 78 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru; Rs. C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858, Rn. 26 – Poltorak; Rs. C-453/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:860, Rn. 24 – Özc¸elik; Rs. C-571/17 PPU, ECLI:EU:C: 2017:1026, Rn. 90 – Ardic; Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 46 – Dorobantu; Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 36 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589, Rn. 49 – Generalstaatsanwaltschaft (Conditions of detention in Hungary). 329 W. van Ballegooij/P. Ba´rd, NJECL 7 (2016), 439 (455); T. Marguery, EP 1 (2016), 943 (945 ff.); ders., MJ 25 (2018), 704 (707 f.); ders., EP 2020, 1271 (1272 f.); M. ThunbergSchunke, Whose responsibility?, 2013, S. 103; E. van Sliedregt, EuConst 3 (2007), 244 (252). 330 S. A. Bloks/T. van den Brink, GLJ 22 (2021), 45 (54); L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (691); T. Reinbacher/M. Wendel, EuGRZ 43 (2016), 333 (337, 341). 331 L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (691); T. Reinbacher/M. Wendel, EuGRZ 43 (2016), 333 (337 ff., 341).

80

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

RbEuHb entfaltet, infolgedessen die zuständigen vollstreckenden Justizbehörden die Letztentscheidung über die (Nicht-)Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls treffen müssen. Die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls kann aus drei Gründen erfolgen, nämlich wenn ein im RbEuHb festgeschriebener fakultativer bzw. obligatorischer Verweigerungsgrund zum Tragen kommt, eine Unionsrechtsverletzung droht oder der Europäische Haftbefehl ungültig ist. Ähnliche grundsätzliche Nachprüfungsverbote für den ersuchten Mitgliedstaat aufgrund des Vertrauensgrundsatzes werden in sonstigen strafrechtlichen Sekundärrechtsakten begründet.332 Die Aussetzung des Vertrauens und die Ablehnung der auf diesem beruhenden Anerkennungsbzw. Vollstreckungspflicht sollen auch hier die Ausnahme und die quasi-automatische Anerkennung den Regelfall darstellen.333

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) Einen ebenso wichtigen Pfeiler des RSFR wie der justiziellen Zusammenarbeit bildet das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS).334 Danach entwickelt die Union eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung gewährleistet werden soll (Art. 78 Abs. 1 AEUV).335 Für die Umsetzung der Asylpolitik gilt der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten (Art. 80 AEUV), der wiederum mit gegenseitigem Vertrauen einhergeht.336 Trotz der Schlussfolgerungen von Tampere (1999), einen einheitlichen europäischen Rechtsrahmen im Asylrecht zu schaffen, beinhaltet das GEAS kein einheitliches Asylverfahren für alle Mitgliedstaaten.337 Die einzelnen Anträge auf internationalen Schutz sind weiterhin grundsätzlich den jeweiligen nationalen

332

T. Marguery, EP 5 (2020), 1271 (1273). Vgl. EuGH, Rs. C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902, Rn. 59 – Gavanozov II. 334 Einen Überblick über die Grundstrukturen des unionalen Asylraums bietet D. Fröhlich, Asylrecht, 2011, S. 193 ff. 335 Zur historischen Entwicklung des Asylrechts G. Brinkmann, ELJ 10 (2004), 182 (182 ff.); D. Fröhlich, Asylrecht, 2011, S. 127 ff.; L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 15 ff. 336 Erwägungsgr. 22 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin III-Verordnung), ABl. EU 2013 Nr. L 180, S. 31. 337 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen von Tampere vom 15. und. 16. Oktober 1999, Nr. 15. 333

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

81

Vorschriften unterworfen,338 die jedoch gegebenenfalls durch auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV ergriffenen Harmonisierungsmaßnahmen der EU überformt werden. Bei der Umsetzung der Asylpolitik wird seit geraumer Zeit gegenseitigem Vertrauen – vornehmlich in der EuGH-Rechtsprechung – eine zentrale Bedeutung beigemessen.339 Die im Jahre 2015 ausgebrochene Flüchtlingskrise340 hat erhebliche strukturelle Schwächen341 und Mängel bei der Gestaltung und Umsetzung des Europäischen Asylsystems342 und insbesondere der Dublin-Bestimmungen offenbart.343 Wenige Mitgliedstaaten – vor allem Griechenland und Italien – wurden damals mit der Verantwortung für die überwiegende Mehrheit der in der Union ankommenden Asylbewerber belastet. Unmittelbare Folge des damit einhergehenden Drucks auf die Kapazitäten der Asylsysteme der betreffenden Mitgliedstaaten war die Missachtung der EU-Vorschriften in einigen Fällen.344 Als Reaktion darauf hat der Rat der Europäischen Union auf Grundlage der Notfallklausel des Art. 78 Abs. 3 AEUV zwei Beschlüsse zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland erlassen,345 die Ausdruck des in Art. 80 AEUV verankerten Solidaritätsgrundsatzes sind.346 In diesen war die Verteilung von Asylsuchenden auf an338

Vgl. D. Fröhlich, Asylrecht, 2011, S. 302 ff.; S. Morgades-Gil, IJRL 27 (2015), 433 (437); N. Vavoula, GLJ 22 (2021), 391 (393). 339 Vgl. Erwägungsgr. 4 Entscheidung des Rates vom 5. Oktober 2006 über die Einrichtung eines Mechanismus zur gegenseitigen Information über asyl- und einwanderungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (2006/688/EG), ABl. EU 2006 Nr. L 283, S. 40; E. Brouwer, ULRev. 9 (2013), 135 (137); S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 34 ff. 340 D. Thym, DVBl 2018, 276 (277), laut dem die Flüchtlingskrise zugleich eine Krise der Rechtsintegration bescheinigt; ähnlich K. Hailbronner/D. Thym, JZ 71 (2016), 753 (759); ferner W. Weiß, ZEuS 2019, 113 (114 ff.). 341 D. Thym, DVBl 2018, 276 (284): „das Dublin-System [leidet] unter schwerwiegenden Konstruktionsfehlern“; ders., CMLRev. 53 (2016), 1545 (1546 ff.); M. Wendel, GLJ 17 (2016), 1005 (1008): „[…] system is inherently flawed“. 342 Die systematische Missachtung der asylrechtlichen Unionsvorschriften soll als Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip betrachtet und durch die entsprechenden Korrektivmaßnahmen (Einleitung des Art. 7 EUV-Verfahrens, des EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips bzw. des Art. 258 AEUV) adressiert werden, s. E. Tsourdi, EuConst 17 (2021), 471 (493 ff.). 343 Vgl. KOM(2016) 197 endg., S. 3 ff.; ferner J. Bast, in: M. Knodt/A. Tews (Hrsg.), Solidarität in der EU, 2014, S. 143 (150); J. Bergmann, ZAR 2015, 81 (82 f.); E. Küc¸ük, ELJ 22 (2016), 448 (451 ff.); K. Hailbronner/D. Thym, JZ 71 (2016), 753 (759 ff.); D. Thym, DVBl 2018, 276 (278 f.); M. Wendel, JZ 71 (2016), 332 (333). Zur deutschen Rechtsrealität während der Flüchtlingskrise s. K. F. Gärditz, Die Verwaltung 52 (2019), 259 (281 ff.). 344 KOM(2016) 270 endg., S. 3. 345 Beschluss (EU) 2015/1523 des Rates vom 14. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland, ABl. EU 2015 Nr. L 239, S. 146; Beschluss (EU) 2015/1601 des Rates vom 22. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland, ABl. EU 2015 Nr. L 248, S. 80. 346 So auch G. Sharma, ZEuS 2019, 197 (212, 214).

82

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

dere Mitgliedstaaten zur Unterstützung der besonders belasteten Mitgliedstaaten vorgesehen.347 Hiergegen haben die Slowakei und Ungarn eine Nichtigkeitsklage vor dem EuGH erhoben, wenngleich vergeblich.348 Auf die Weigerung Ungarns, Polens und der Tschechischen Republik, aus Gründen der Aufrechterhaltung ihrer öffentlichen Ordnung und der Wahrung der inneren Sicherheit sich an der Umverteilung zu beteiligen, reagierte die Kommission mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem EuGH, der einen Verstoß der Staaten gegen das Solidaritätsprinzip und die Verpflichtungen aus den Beschlüssen feststellte.349

I. Rechtsrahmen Grundpfeiler des GEAS sind neben dem Dublin-System (Dublin III-Verordnung)350 die auf Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassenen Minimalstandards und insbesondere die Richtlinie 2011/95/EU351 zu den Voraussetzungen für die Gewährung von internationalem Schutz, die Richtlinie 2013/32/EU352 zum

347

Vgl. Art. 5 der Beschlüsse. EuGH, verb. Rs. C-643/15 und 647/15, ECLI:EU:C:2017:631 – Slowakei/Rat. 349 EuGH, verb. Rs. C-715/17, C-718/17 und C-719/17, ECLI:EU:C:2020:257, Rn. 178 ff. – Kommission/Polen (Me´canisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale); vgl. auch verb. Rs. C-643/15 und C-647/15, ECLI:EU:C:2017:631, Rn. 302, 329 – Slowakei/Rat. 350 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin III-Verordnung), ABl. EU 2013 Nr. L 180, S. 31; Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. EU 2014 Nr. L 39, S. 1; vgl. auch die Vorläufer der Dublin III-Verordnung: Dubliner Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags, ABl. EG 1997 Nr. C 254, S. 1; Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. EU 2003 Nr. L 50, S. 1. 351 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. EU 2011 Nr. L 337, S. 9. 352 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. EU 2013 Nr. L 180, S. 60. 348

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

83

entsprechenden Verfahren und die Richtlinie 2013/33/EU353 zu den Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten.354 Dabei ist vorwegzunehmen, dass der Begriff „internationaler Schutz“ den Status als Flüchtling wie den subsidiären Schutzstatus umfasst. Letzterer bezieht sich auf einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling zwar nicht erfüllt, vor einer Rückkehr in sein Herkunftsland aber geschützt werden muss.355 Die Flüchtlingseigenschaft gewährt mithin eine stärkere Rechtsstellung als der subsidiäre Schutz.356 Für die Verteilung der Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylanträgen zwischen den Mitgliedstaaten sowie die Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat findet die Dublin III-Verordnung Anwendung. Im Regelfall357 ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, dessen Land-, See- oder Luftgrenze der Antragsteller (illegal) überschritten hat (the state of first entry rule).358 Die Überstellung eines Asylsuchenden an den zuständigen Mitgliedstaat kommt erst dann in Betracht, wenn dieser seinen Antrag in einem unzuständigen Mitgliedstaat stellt bzw. sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat befindet. Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bedarf in diesem Rahmen der intensiven zwischenstaatlichen administrativen Zusammenarbeit im Sinne eines weitreichenden Informationsaustausches,359 der im GEAS vertrauensstärkend zu wirken vermag.360 Dabei müssen die Mitgliedstaaten den schon in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK)361 festgelegten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Nonrefoulement-Grundsatz) achten, wonach Flüchtlinge nicht in Länder zurückgewiesen werden dürfen, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht sein würden oder in denen die konkrete Gefahr einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung droht.362 Im Rahmen des unionalen Asylraums gelten dem Vertrauensgrundsatz 353 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. EU 2013 Nr. L 180, S. 96. 354 Einen Überblick über die wichtigsten Regelungen und ihre Umsetzung in das deutsche Recht bietet B. Huber, NVwZ 2014, 548 (548 ff.). 355 Art. 2 lit. f) Richtlinie 2011/95/EU. 356 Vgl. Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU. 357 Für Minderjährige und Antragsteller, deren Familienangehörige ein einem (anderen) Mitgliedstaat sind, sind Art. 8 bis 11 Dublin III-Verordnung vorrangig anwendbar. 358 Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung. Lässt sich aber der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für seine Prüfung zuständig, Art. 3 Abs. 2 Dublin III-Verordnung. 359 N. Vavoula, GLJ 22 (2021), 391 (408 ff.). 360 N. Vavoula, GLJ 22 (2021), 391 (394 ff., 398). 361 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951. 362 Art. 33 GFK; vgl. zur Auslegung des Non-refoulement-Grundsatzes im Lichte der EuGH- und EGMR-Rechtsprechung K. F. Hinterberger/S. Klammer, NVwZ 2017, 1180 (1181 ff.); L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 34 f.

84

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

folgend alle EU-Mitgliedstaaten als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige,363 wenngleich diese Sicherheitsvermutung widerlegbar ist.364 Mit den Dublin-Verordnungen365 wurde somit ein System geschaffen, in dem jedem Asylsuchenden ein zuständiger Mitgliedstaat zugeteilt wird und dessen Antrag durch diesen Mitgliedstaat zügig bearbeitet wird.366 Die Funktionsweise des Dublin-Systems beruht – mangels eines durch einen einheitlichen Rahmen etablierten positiven Anerkennungsprinzips367 – auf einem Verfahren negativer gegenseitiger Anerkennung:368 Allein der zuständige Mitgliedstaat wird nämlich für die Bearbeitung der Asylanträge in die Pflicht genommen und erkennt die Verweigerung des unzuständigen Mitgliedstaats an, den Asylantrag selbst zu prüfen.369 Anders formuliert, erkennen somit alle Mitgliedstaaten die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats für die Prüfung eines Asylantrags an und verweigern daher die Übernahme eines Antragstellers. Art. 21 Abs. 1 Dublin III-Verordnung sieht dementsprechend vor, dass der unzuständige Mitgliedstaat (Überstellungsmitgliedstaat) einen anderen Mitgliedstaat (Aufnahmemitgliedstaat) ersuchen kann, einen Antragsteller aufzunehmen, wenn er diesen Mitgliedstaat als für die Prüfung des Antrags zuständig befindet. So ist z.B. in dem Fall, dass eine Person über Italien in die EU gelangt ist, danach aber nach Deutschland kommt und dort ihren Asylantrag stellt, Italien der zuständige Mitgliedstaat für die Antragsbearbeitung. Deutschland (ersuchender Mitgliedstaat) wird den Antrag ablehnen und sodann Italien (ersuchter Mitgliedstaat) zwecks der Übergabe der Person ersuchen (Einleitung des Dublin-Verfahrens). Diesem Verfahren liegt das Ziel der zügigen und vereinfachten Erledigung von Asylanträgen zugrunde;370 etwaige Abweichungen davon sollen nur in Ausnahmefällen stattfinden.371 Dabei besteht für den unzuständigen Mitgliedstaat – anders als für den zuständigen Mitgliedstaat – keine Pflicht, den 363

Erwägungsgr. 3 Dublin III-Verordnung; E. Brouwer, ULRev. 9 (2013), 135 (138); E. Küc¸ük, ELJ 22 (2016), 448 (450). Die Überstellungen im Rahmen des Dublin-Systems können daher als Unterfälle völkerrechtlicher refoulement-Fälle klassifiziert werden, L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 39. 364 D. Fröhlich, AL 2016, 268 (271). 365 S. 2. Kap., Fn. 350. 366 Erwägungsgr. 4 f. Dublin III-Verordnung; H. Battjes/E. Brouwer, REALaw 8 (2015), 183 (183 f.); S. Morgades-Gil, IJRL 27 (2015), 433 (434); L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 24 f.; M. Wendel, JZ 71 (2016), 332 (332). 367 Für die Einführung eines auf positiver gegenseitiger Anerkennung beruhenden, einheitlichen Asylrechts plädiert V. Mitsilegas, MJ 24 (2017), 721 (732 ff.); ähnlich G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1187). 368 E. Guild, ELRev. 29 (2004), 198 (206); V. Mitsilegas, YEL 31 (2012), 319 (321, 334); ders., MJ 2017, 721 (725 f.); K. Nicolaı¨dis, JEPP 14 (2007), 682 (690); E. Xanthopoulou, CMLRev. 55 (2018), 489 (492). 369 V. Mitsilegas, CMS 2 (2014), 181 (184). 370 Vgl. EuGH, Rs. C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813, Rn. 59 – Abdullahi; Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 82 – Jawo; G. Sharma, ZEuS 2019, 197 (200). 371 Vgl. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-Verordnung.

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

85

Asylsuchenden an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, sondern ihm wird das Ermessen eingeräumt, sein Recht auf einen Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung in Anspruch zu nehmen und den eingereichten Antrag selbst zu prüfen.372 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass im DublinVerfahren – anders als im Binnenmarkt und im RFSR – der ersuchende Mitgliedstaat, d.h. der (unzuständige) Überstellungsmitgliedstaat von der Unionsrechtstreue des ersuchten, d.h. des (zuständigen) Aufnahmemitgliedstaats bei der Vollstreckung der Überstellungsentscheidung ausgehen muss. Hier werden also die Rollen des Vertrauenden bzw. des Vertrauensempfängers,373 dem System negativer Anerkennung folgend, umgekehrt.

II. Vertrauen als „raison d’eˆtre“ des Dublin-Systems Vertrauen fand im Bereich des Asylrechts seine erste Erwähnung in der Dublin III-Verordnung.374 Seitdem wurde in der Migrationsagenda der Kommission vom Jahre 2015 nur sporadisch seine Bedeutung bzw. die Erforderlichkeit der Stärkung betont.375 Eine zentrale Rolle besitzt dieses hingegen in der EuGHRechtsprechung, in der es als Daseinsgrund (raison d’eˆtre) der Union und Voraussetzung für die Verwirklichung des GEAS hervorgehoben wird.376 Als dem Dublin-System zugrundeliegender Grundsatz formuliert das Vertrauen die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der GRCh sowie der GFK und der EMRK steht.377 Der Vertrauensvermutung, die im Rahmen des Dublin-Systems mit der

372 Dabei handelt es sich um eine föderativ-vielfaltswahrende Norm, deren Ausübung der Loyalitätsgrundsatz Grenzen ziehen kann, vgl. M. Wendel, JZ 71 (2016), 332 (335, 339 f.); ähnlich zu den unionsrechtlichen Grenzen der Selbsteintrittsmöglichkeit W. Weiß, ZEuS 2019, 113 (122 ff.); zur Behandlung der Ermessensklausel in der EGMR- und der EuGHRechtsprechung S. Morgades-Gil, IJRL 27 (2015), 433 (437 ff.); konkret zum Verwaltungsermessen bzw. dessen Reduktion auf Null M. Wendel, GLJ 17 (2016), 1005 (1011 ff.). 373 Dazu ferner unter 4. Kap., A. I., S. 166 ff. 374 Erwägungsgr. 22 Dublin III-Verordnung. 375 KOM(2015) 240 endg., S. 15 f. 376 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I–13905, Rn. 83 – N.S. u.a.; vgl. aber R. Marx, NVwZ 2014, 198 (201), laut dem dieses Vertrauen längst missbraucht worden sei; die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bezweifelnd A. Lübbe, ZAR 2015, 125 (126); V. Moreno-Lax, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 77 (77 f., 83), die gleichzeitig darauf hinweist, dass, während eine gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Gewährung von Rechten an die Asylbewerber bisher ausgeblieben ist, die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen, die Rechte der Asylbewerber einschränken, quasi-automatisch erfolgt (88 ff.); E. Tsourdi, EuConst 17 (2021), 471 (473). 377 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I–13905, Rn. 80 – N.S. u.a.; Erwägungsgr. 1 Verordnung (EU) Nr. 514/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 zur Festlegung allgemeiner Bestimmungen für den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds und das Instrument für die finanzielle Unterstützung der polizeilichen

86

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Vermutung, dass EU-Mitgliedstaaten sichere Staaten sind, unauflöslich verbunden ist, werden indes bei gravierenden Grundrechtsverletzungen im zuständigen Mitgliedstaat Grenzen gezogen. 1. Widerlegbarkeit des Vertrauensgrundsatzes: Systemische Mängel im Zielstaat oder fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien Eine richtungsweisende Entscheidung stellt insoweit N.S. u.a.378 dar, deren Sachverhalt zwei Klagen gegen eine Überstellung nach Griechenland betraf. Der EuGH hat zunächst in Bezug auf die damals geltende Dublin II-Verordnung379 betont, dass der Vertrauensgrundsatz die Grundlage des Dublin-Systems bildet, das darauf abzielt, die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags zuständigen Staats zu erhöhen und damit dem forum shopping zuvorzukommen.380 Demnach gelte die Vermutung der Rechtstreue im Hinblick auf das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte, unwiderleglich sei sie indes nicht.381 Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoße, sodass eine ernstzunehmende Gefahr einer mit den Unionsgrundrechten unvereinbaren Behandlung der Asylbewerber bei deren Überstellung bestehe.382 Zur Widerlegung der Vertrauensvermutung und damit zur Abweichung von den Zuständigkeitsregeln genügt hierbei nicht jede geringe Verletzung eines Rechts, sondern bedarf es eines qualifizierten Grades an Schwere und Vorhersehbarkeit, der mit dem Begriff der systemischen Mängel konkretisiert wird.383 Demnach liegt ein Überstellungsverbot vor, wenn dem Überstellungsmitgliedstaat nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens bzw. der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im Aufnahmemitgliedstaat zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh führen würde.384 In diesem Fall muss der Überstellungs-

Zusammenarbeit, der Kriminalprävention und Kriminalitätsbekämpfung und des Krisenmanagements, ABl. EU 2014 Nr. L 150, S. 112. 378 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905 – N.S. u.a. 379 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. EG 2003 Nr. L 50, S. 1. 380 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 79 – N.S. u.a. Zur Rolle des EuGH in der Bewältigung der Migrations- bzw. Flüchtlingskrise vgl. auch G. Sharma, ZEuS 2019, 197 (201 ff.). 381 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 104 – N.S. u.a.; Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 84 – Jawo; E. Brouwer, EP 1 (2016), 893 (906 ff.). 382 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 80 f. – N.S. u.a.; vgl. auch BVerwG, NVwZ 2014, 1039 (1040 Rn. 9). 383 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 86 – N.S. u.a.; K. Hailbronner/D. Thym, NVwZ 2012, 406 (408); M. Wendel, DVBl 2015, 731 (734). 384 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 94, 106 – N.S. u.a.; V.

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

87

mitgliedstaat die im Dublin-System festgelegten Zuständigkeitskriterien selbst weiterprüfen.385 Das bloße Argument, das Asylverfahren des Aufnahmemitgliedstaat weise systemische Mängel auf, ist an sich nicht ausreichend und muss anhand von konkreten Anhaltspunkten unter Beweis gestellt werden.386 Mit dem N.S.-Urteil hat der EuGH eine Ausnahme im Einzelfall aufgrund der Verletzung von Art. 4 GRCh anerkannt,387 die sodann in Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin IIIVerordnung aufgenommen wurde. Eine Unwiderlegbarkeit der Vertrauensvermutung hat der EuGH dabei ausdrücklich abgelehnt. Die „blinde“ Annahme, dass der für die Entscheidung über einen Asylantrag zuständige Mitgliedstaat die Grundrechte des Asylbewerbers achtet, wäre mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zur grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung der Dublin-Verordnung unvereinbar und würde die Garantien in Frage stellen, mit denen der Schutz und die Beachtung der Grundrechte durch die Union und ihre Mitgliedstaaten sichergestellt werden sollen.388 Dies wäre insbesondere bei einer Bestimmung der Fall, die bestimmte Staaten in Bezug auf die Beachtung der Grundrechte als „sichere Staaten“ qualifiziert, wenn sie als unwiderlegbare Vermutung auszulegen wäre, die keinen Gegenbeweis zuließe.389 Dadurch stellt der EuGH klar, dass die Wirksamkeit des Dublin-Systems nicht zu einer Aushöhlung des Grundrechtsschutzes führen darf, und setzt dem Vertrauensgrundsatz Grenzen. Zugleich statuiert er aber zur Gewährleistung der Effektivität des Dublin-Systems hohe Anforderungen an die Widerlegung der Vertrauensvermutung.390 Die Argumentationslinie des EuGH im N.S.-Urteil bringt dieses Spannungsverhältnis zwischen effektivem Grundrechtsschutz und der Gewährleistung der Wirksamkeit des Unionsrechts deutlich zum Ausdruck. Die genauen Voraussetzungen für die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes waren Gegenstand des kurze Zeit später erlassenen Abdullahi-Urteils,391 diesmal Mitsilegas, CMS 2 (2014), 181 (193) spricht insoweit von einer generellen Pflicht des Überstellungsmitgliedstaats zur Prüfung der Grundrechtskonformität des Aufnahmemitgliedstaats. Die Ansicht des Autors widerspricht jedoch dem Vertrauensgrundsatz. Daneben auch H. Battjes/E. Brouwer, REALaw 8 (2015), 183 (189 f.): die praktische Umsetzung dieses verschwommenen Prüfungsmaßstabs stelle eine große Herausforderung für die nationalen Gerichte dar, die die Widerlegung der Vermutungswirkung bzw. die Verteilung der Beweislast unterschiedlich behandeln (193 ff., 213 f.); in Bezug auf die deutschen Gerichte J. Bergmann, ZAR 2015, 81 (85 f.). 385 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 95 ff. – N.S. u.a. 386 EuGH, Rs. C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813, Rn. 60 ff. – Abdullahi; E. Xanthopoulou, CMLRev. 55 (2018), 489 (494 f.) sieht im Abdullahi-Urteil die Einführung einer zusätzlichen Voraussetzung für die Widerlegung der Vertrauensvermutung durch den EuGH; diese Voraussetzung war aber schon in seinem N.S.-Urteil enthalten. 387 Die Herangehensweise des EuGH hat sich der vorherigen EGMR-Rechtsprechung und insbesondere dem M.S.S./Belgien und Griechenland-Urteil angenähert, s. unter 2. Kap., F., S. 99 ff. 388 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 99 f. – N.S. u.a. 389 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 101 – N.S. u.a. 390 In diesem Sinne E. Nanopoulos, CLJ 72 (2013), 276 (279). 391 EuGH, Rs. C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 – Abdullahi.

88

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

unter dem Gesichtspunkt der Reichweite des Rechts des Antragstellers auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung.392 Der EuGH musste im Wesentlichen die Frage beantworten, ob der Überstellung eines Asylbewerbers an einen Mitgliedstaat die fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien durch den ersuchenden Mitgliedstaat – d.h. unabhängig von der Voraussetzung des Vorliegens systemischer Mängel im ersuchten Mitgliedstaat393 – entgegengehalten werden kann. Der EuGH hat dabei erneut darauf hingewiesen, dass das auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Dublin-System organisatorische Vorschriften festlegt, die die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, und damit bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen.394 Daher könne sich der Asylbewerber in einer Situation, in der der ersuchte Mitgliedstaat seiner Aufnahme zugestimmt hat, nur auf das Vorliegen systemischer Mängel hinsichtlich des Asylverfahrens bzw. der Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat, die in eine Verletzung von Art. 4 GRCh zulasten der Asylbewerber zu münden drohen, berufen, um sich gegen die Überstellungsentscheidung zu wehren.395 Die Dublin-Zuständigkeitsregelungen entfalten somit grundsätzlich keinen drittschützenden Charakter und können mithin nicht durch Inanspruchnahme des Rechts auf ein wirksames Rechtsmittel gerichtlich überprüft werden.396 Drittschützende Wirkung kommt den Überstellungsfristen jedoch bei unverhältnismäßig langer Dauer des Zuständigkeitsverfahrens zu, damit keine Gefahr einer „Refugee-in-orbit“-Situation entsteht, also eine Situation, in der kein Mitgliedstaat als für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig bestimmt wird.397 Eine überlange Verfahrensdauer mündet zugleich in eine Selbsteintrittspflicht (Ermessensreduzierung auf Null) des prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung.398 Der EuGH ist allerdings im Rahmen der Dublin III-Verordnung von seiner Argumentationslinie in Abdullahi abgewichen und hat eine gerichtliche Überprüfung der rechtmäßigen Anwendung der Zuständigkeitskriterien durch den ersuchenden Mitgliedstaat über Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung zugelassen.399 Der Unionsgesetzgeber hat sich nämlich in dieser Regelung dafür ent392

Vgl. Art. 19 Abs. 2 der damals geltenden Dublin II-Verordnung. S. Morgades-Gil, IJRL 27 (2015), 433 (443). 394 EuGH, Rs. C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813, Rn. 53, 56 – Abdullahi. 395 EuGH, Rs. C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813, Rn. 60 – Abdullahi. 396 J. Bergmann, ZAR 2015, 81 (85); C. Günther, ZAR 2017, 7 (10 f.); ähnlich hatte der EuGH im selben Jahr schon dem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung den drittschützenden Charakter abgesprochen, EuGH, Rs. C-4/11, ECLI:EU:C: 2013:740, Rn. 29 f. – Puid. 397 J. Bergmann, ZAR 2015, 81 (87); M. Wendel, DVBl 2015, 731 (740). 398 EuGH, Rs. C-4/11, ECLI:EU:C:2013:740, Rn. 35 – Puid; C. Günther, ZAR 2017, 7 (11). 399 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409, Rn. 34 – Ghezelbash. Diese Kehrtwende hat der EuGH mit der Begründung versehen, dass sich die Dublin III-Verordnung hinsichtlich der dem Asylbewerber gewährten Rechte in wesentlichen Punkten von der 393

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

89

schieden, Asylbewerber am Zuständigkeitsverfahren zu beteiligen, indem die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, Asylbewerber über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten, ihnen Gelegenheit zur Mitteilung der Informationen zu geben, die die fehlerfreie Anwendung dieser Kriterien ermöglichen, und ihnen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung an die Hand zu geben.400 Dieser Rechtsbehelf muss die gerichtliche Kontrolle einer fehlerhaften Anwendung der in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriterien401 und Handlungsfristen umfassen,402 auf die auch nicht deswegen verzichtet werden kann, weil ein anderer Mitgliedstaat bereits seine Zuständigkeit für die Prüfung des fraglichen Antrags auf internationalen Schutz anerkannt hat.403 Die Möglichkeit der Geltendmachung einer fehlerhaften Anwendung der Zuständigkeitskriterien untergrabe nicht den Vertrauensgrundsatz, denn sie beziehe sich lediglich auf die rechtmäßige und effektive Anwendung der Dublin-Regelungen.404 Aus dieser Rechtsprechung geht hervor, dass die externe Kontrolle – in diesem Fall durch die nationalen Gerichte – dem Vertrauensgrundsatz nicht entgegensteht, sondern vielmehr mit diesem korrespondiert.405 2. Einzelfallprüfung bei drohender Verletzung von Art. 4 GRCh ungeachtet des Vorliegens systemischer Mängel im Zielstaat In Fortschreibung seiner Rechtsprechung hinsichtlich der Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes hat der EuGH eine weitere Grenze bei drohender Verletzung des Art. 4 GRCh entwickelt. Er hat ausgeführt, dass die Überstellung eines Asylsuchenden im Rahmen der Dublin-III-Verordnung nur unter solchen Bedingungen vorgenommen werden darf, die ausschließen, dass er tatsächlich Gefahr

Dublin II-Verordnung unterscheidet; vgl. auch R. Marx, NVwZ 2014, 198 (199 f.); S. Peers, ERA Forum 15 (2014), 485 (488, 491). 400 EuGH, Rs. C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409, Rn. 51 – Ghezelbash. Die Kommission hat jedoch in ihrem Vorschlag zur Reform der Dublin-III-Verordnung das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf eingeschränkt, so Art. 28 Abs. 4 des Dublin IV-Vorschlags und Art. 33 Abs. 1 des Dublin IV-Vorschlags, KOM(2020) 610, S. 66. 401 EuGH, Rs. C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409, Rn. 53 – Ghezelbash; Rs. C-155/15, ECLI: EU:C:2016:410, Rn. 26 – Karim; Rs. C-490/16, ECLI:EU:C:2017:585, Rn. 27, 35 – A.S. Vgl. aber M. den Heijer, CMLRev. 54 (2017), 859 (866 ff.); S. Morgades-Gil, IJRL 27 (2015), 433 (444), laut denen der EuGH Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung im Lichte des Art. 47 GRCh hätte auslegen müssen. 402 EuGH, Rs. C-670/16, ECLI:EU:C:2017:587, Rn. 51 ff., 62 – Mengesteab; dafür plädierte bereits A. Lübbe, ZAR 2015, 125 (129 f.). 403 EuGH, Rs. C-490/16, ECLI:EU:C:2017:585, Rn. 33 f. – A.S.; vgl. auch C. Günther, ZAR 2017, 7 (12 f.), der zugleich auf die Gefahr hinweist, dass die so ausgelegte Rechtsschutzmöglichkeit durch die Asylbewerber missbraucht werden kann; D. Thym, DVBl 2018, 276 (283). 404 EuGH, Rs. C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409, Rn. 54 f. – Ghezelbash. 405 Ähnlich M. den Heijer, CMLRev. 54 (2017), 859 (869).

90

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

läuft, bei seiner Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erleiden.406 Durch Berufung auf Art. 52 Abs. 3 GRCh, der den Unionsgrundrechten einen vergleichbaren Schutzstandard wie den EMRK-Rechten zuschreibt, hat der EuGH die EGMR-Rechtsprechung miteinbezogen und ausgeführt, dass ein durch eine physische oder psychische Erkrankung entstehendes Leiden unter Art. 3 EMRK fallen kann, wenn es durch eine von den Behörden zu verantwortende Behandlung verschlimmert wird oder zu werden droht.407 In diesem Fall sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die erforderliche medizinische Versorgung und Hilfe zu gewähren;408 zugleich besteht aber aufgrund des Vertrauensgrundsatzes eine starke Vermutung dafür, dass die den Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten gebotene medizinische Behandlung angemessen sein wird.409 Zur Widerlegung dieser Vermutung muss den Akten entnommen werden können, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im Aufnahmemitgliedstaat, insbesondere in Bezug auf den Zugang zu medizinischer Versorgung, systemische Mängel aufweisen.410 In Fällen von schweren Erkrankungen kann jedoch die Überstellung eines Asylbewerbers als solche für ihn bereits eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh darstellen – unabhängig von den Bedingungen in dem Aufnahmemitgliedstaats. Der ersuchende Mitgliedstaat kann sodann entweder – wenn möglich – Vorsichtsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit dem ersuchten Mitgliedstaat treffen, die Durchführung der Überstellung aussetzen oder gegebenenfalls den Antrag des Asylbewerbers durch Anwendung der in Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung vorgesehenen „Ermessensklausel“ selbst prüfen.411 Somit hat der EuGH die Aussetzung einer Überstellung aufgrund eines inlandsbezogenen Überstellungshindernisses412 zugelassen und zwar unabhängig davon, ob in dem Zielstaat systemische Mängel bestehen.413 406

EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 65 – C. K. u.a. EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 68 f. – C. K. u.a. 408 Vgl. auch Art. 17 bis 19 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. EU 2013 Nr. L 180, S. 96. 409 EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 70 – C. K. u.a. 410 EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 71 – C. K. u.a. 411 EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 76 ff. – C. K. u.a. Diese „Ermessensklausel“ kann aber im Lichte von Art. 4 GRCh nicht in eine Selbsteintrittspflicht umgedeutet werden, vgl. EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 88 – C. K. u.a. Vielmehr ist das Selbsteintrittsrecht von grundrechtsrelevanten Überstellungsverboten entkoppelt, so M. Wendel, DVBl 2015, 731 (740). 412 Zur Unterscheidung zwischen zielstaatsbezogenen und inlandsbezogenen Überstellungshindernissen L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 54 ff. 413 G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1182); K. Hamenstädt, REALaw 14 (2021), 5 (24); A.-K. Kaufhold, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 48, Rn. 56; A. 407

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

91

Darauf rekurrierend hat der EuGH kurze Zeit später die Abkehr von der Voraussetzung systemischer Mängel bei Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Überstellungshindernisses, namentlich bei einer drohenden Verletzung des Art. 4 GRCh im Aufnahmemitgliedstaat, bestätigt.414 Der allgemeine Charakter von Art. 4 GRCh verbiete jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unabhängig davon, ob sich diese aus systemischen Mängeln im Aufnahmemitgliedstaat ergibt. Dabei sei es gleichgültig, ob die betreffende Person zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.415 Eine Überstellung könne auch dann nicht vorgenommen werden, wenn im Aufnahmemitgliedstaat infolge der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger eine solche Gefahr besteht.416 Diese Auslegung wahre den Vertrauensgrundsatz, denn sie berühre nicht die Existenz einer Vermutung für die Einhaltung der Grundrechte in allen Mitgliedstaaten, sondern stelle sicher, dass die Mitgliedstaaten den Ausnahmefällen gebührend Rechnung tragen.417 Zuständig für die Würdigung einer drohenden Verletzung des Art. 4 GRCh ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht des Überstellungsmitgliedstaats, das bei Vorliegen von entsprechenden Angaben dazu verpflichtet ist, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger und genauer Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Grundrechtsschutzstandard die Rechtslage zu beurteilen.418 In seiner jüngsten Rechtsprechung greift der EuGH erneut auf das Vorliegen von systemischen Mängeln im Aufnahmemitgliedstaat zurück,419 was allerdings kein Beleg für den Fortbestand der durch das N.S.-Urteil eingeführten Voraussetzung ist, sondern lediglich dem Umstand Rechnung trägt, dass die Berufung auf die systemischen Mängel im Aufnahmemitgliedstaat eine Möglichkeit für den Asylbewerber darstellt,420 sich gegen seine Überstellung zu wehren.421 Eine Einzelfallprüfung bildet

Lübbe, EuR 2017, 639 (646 f.); M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (13); D. Thym, DVBl 2018, 276 (282); M. Wendel, EuR 2019, 111 (124). Diesen Richtungswechsel in der Rechtsprechung hat schon M. Wendel, DVBl 2015, 731 (741) vorausgesehen. 414 Vgl. EuGH, Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 87 – Jawo. 415 EuGH, Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 88 f. – Jawo. Damit wird die Konformität der Lebensbedingungen im Aufnahmemitgliedstaat mit Art. 4 GRCh erst nach der Anerkennung des Flüchtlingsstatus geprüft, vgl. G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1185 ff.); A. Lübbe, EuR 2019, 352 (356). 416 EuGH, Rs. C-646/16, ECLI:EU:C:2017:586, Rn. 101 – Jafari. 417 EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 95 – C. K. u.a.; Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 89 – Jawo. 418 EuGH, Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 90 – Jawo; verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 88 – Ibrahim. 419 EuGH, Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 85 – Jawo. 420 Ähnlich K. Müller, ZEuS 2016, 345 (357). 421 So auch L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 137 f.

92

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

auf jeden Fall eine weitere Möglichkeit des Asylsuchenden, die Überstellung an den Aufnahmemitgliedstaat zu verhindern.422 Für die Widerlegung der Vertrauensvermutung wird allerdings dahingehend eine hohe Schwelle verlangt, als dass eine drohende Verletzung des Art. 4 GRCh nur bei Situationen extremer materieller Not zu bejahen sei, die es der asylsuchenden Person nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.423 Defizite des staatlichen Sozialsystems, das Fehlen von Integrationsprogrammen bzw. der bloße Umstand, dass im Überstellungsmitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im Aufnahmemitgliedstaat, überschreiten dementsprechend als solche nicht die notwendige Schwelle.424 3. Keine Widerlegung bei Verletzung von Unionsgrundrechten ohne absoluten Charakter Dem Grundgedanken des Dublin-Systems, dass jedem Asylsuchenden nur ein zuständiger Mitgliedstaat gegenübersteht, entspricht Art. 33 Abs. 2 lit. a Richtlinie 2013/32/EU, wonach die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig erachten können, wenn ein anderer Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz gewährt hat. Diese Vorschrift bringt insoweit den Vertrauensgrundsatz zum Ausdruck.425 In diesem Zusammenhang musste der EuGH die Frage klären, ob das Unionsrecht einem Mitgliedstaat untersagt, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn die Lebensbedingungen der Personen, denen in einem anderen Mitgliedstaat subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, entweder gegen Art. 4 GRCh verstoßen oder wenn das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat mit systemischen Mängeln behaftet ist und daher gegen die GFK verstößt, ohne jedoch zugleich gegen Art. 4 GRCh zu verstoßen. An seine vorherige Rechtsprechung anknüpfend hat der EuGH auf die Befugnis des angerufenen Gerichts zur Beurteilung der Frage des Vorliegens einer drohenden Verletzung des Art. 4 GRCh hingewiesen,426 dabei aber betont, dass etwaige Verstöße gegen Bestimmungen der Richtlinie 2013/32/EU, die unterhalb der für eine Verletzung des Art. 4 GRCh erforderlichen Schwelle liegen, die Vermutungswirkung nicht widerlegen können.427 Das Art. 33 Abs. 2 lit. a der

422

Vgl. EuGH, Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 95 – Jawo. EuGH, Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 91 f. – Jawo; verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 89 f. – Ibrahim. 424 EuGH, Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 97 – Jawo; verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 94 – Ibrahim. 425 EuGH, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 85 – Ibrahim; bestätigt in EuGH, Rs. C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103, Rn. 29 – Commissaire ge´ne´ral aux re´fugie´s und aux apatrides. 426 EuGH, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 88 ff. – Ibrahim. 427 EuGH, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 92 – Ibrahim; bestätigt in EuGH, Rs. C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103, Rn. 30 ff., 36 – 423

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

93

Richtlinie 2013/32/EU zugrunde liegende Vertrauen sei auch dann nicht erschüttert, wenn der den subsidiären Schutz gewährende Mitgliedstaat systemische Mängel im Asylverfahren aufweist und dadurch gegen die GFK bzw. die unionsrechtlichen Regelungen dahingehend (systemisch) verstößt, dass die Einhaltung von Art. 18 GRCh428 nicht mehr gewährleistet ist.429 Es sei Sache des zuständigen Mitgliedstaats, dessen Asylverfahren systemische Defizite aufweist, das Verfahren zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus wieder aufzunehmen.430 Dementsprechend stehe ein Verstoß gegen Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 24 Abs. 2 GRCh (Wohl des Kindes) dem Gebrauch der durch Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten Befugnis nicht entgegen, selbst wenn dieser Verstoß erwiesen wäre, zumal diese Unionsgrundrechte keinen absoluten Charakter besitzen und daher unter den in Art. 52 Abs. 1 GRCh genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden können.431 Eine solche Auslegung ermögliche es, die Beachtung des Vertrauensgrundsatzes sicherzustellen, auf dem das Europäische Asylsystem beruhe.432 Aus dieser Rechtsprechungslinie geht hervor, dass der EuGH die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes nur bei einer Verletzung von Uniongrundrechten mit absolutem Charakter anerkennt, wobei er die Augen vor erwiesenen Verletzungen von Unionsgrundrechten ohne absoluten Charakter bewusst verschließt433 und dadurch dem Vertrauensgrundsatz bzw. der Effektivität des Asylsystems Vorrang einräumt.434 Commissaire ge´ne´ral aux re´fugie´s und aux apatrides; kritisch dazu V. Moreno-Lax, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 77 (97 f.), die feststellt, dass der Grundrechtsschutz im Wesentlichen auf die Wahrung von Art. 4 GRCh reduziert wird. 428 Dieser lautet: „Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden „die Verträge“) gewährleistet.“ 429 EuGH, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 100 – Ibrahim. Anders aber die Schlussanträge GA M. Wathelet, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2018:617, Rn. 116 ff. – Ibrahim. Kritisch A. Lübbe, EuR 2019, 352 (359 f.). 430 EuGH, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 100 – Ibrahim. 431 EuGH, Rs. C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103, Rn. 36 – Commissaire ge´ne´ral aux re´fugie´s und aux apatrides. Anders aber S. Morgades-Gil, IJRL 27 (2015), 433 (455), die fordert, dass ein Verstoß gegen das Recht auf Einheit der Familie Einfluss auf die Zuständigkeitsverteilung nehmen sollte. 432 EuGH, Rs. C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103, Rn. 37 – Commissaire ge´ne´ral aux re´fugie´s und aux apatrides. 433 Vgl. in diesem Zusammenhang die EuGH-Entscheidung, Rs. C-808/18, ECLI:EU:C: 2020:1029 – Kommission/Ungarn, mit der Ungarn wegen mehrfacher Verstöße gegen das Unionsrecht, namentlich die Verfahrens-, Aufnahme- und Rückführungsrichtlinie sowie bestimmte Unionsgrundrechte, verurteilt wurde. 434 Vgl. dazu G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1196): „concealed attempts (of the Court) to prioritize mutual trust over individual protection“.

94

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Eine solche starre Auslegung, die an die Unwiderleglichkeit des Vertrauensgrundsatzes auch bei gravierenden bzw. systemischen Verletzungen von Unionsgrundrechten ohne absoluten Charakter festhält, ist nicht nur aus dogmatischer Hinsicht unvertretbar,435 sondern steht auch der Kohärenz der EuGHRechtsprechung entgegen, zumal derartige Verletzungen schon als tauglicher Grund für die Aussetzung des Vertrauens im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch den EuGH anerkannt worden sind.436

III. Vorschlag für ein neues Migrations- und Asylpaket Die Kommission hat im September 2020 ihren Plan für ein neues Migrationsund Asylpaket angekündigt,437 das mehr Kohärenz bei der Migrationspolitik gewährleisten und die strukturellen Schwächen des Dublin Systems beseitigen soll. Für die Reform des GEAS wurden neun Rechtsakte438 erarbeitet mit dem Ziel, ein nahtloses Verfahren an der Grenze einzuführen, das für alle – die Grenze unbefugt überquerenden – Drittstaatsangehörigen gilt und das ein Screening vor der Einreise, ein Asylverfahren und gegebenenfalls ein zügiges Rückführungsverfahren umfasst.439 Dabei soll der Vorschlag für die Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement (AMM-Verordnung) die Dublin III-Verordnung ersetzen,440 die wesentlichsten Regelungen des Dublin-Systems blieben allerdings davon unberührt. 1. Insbesondere: Vorschlag für eine neue Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung Die vorgeschlagene AMM-Verordnung soll eine gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten nach Art. 80 AEUV gewährleisten sowie die rechtmäßigen Interessen der Menschen und ihre bedeutende Bindung zu dem Mitgliedstaat, der ihren Antrag prüft, besser berücksichtigen.441 Dabei stellt insbesondere die Familienzusammenführung unter den vorrangigen Zuständigkeitskriterien ein Schlüsselwort dar: Die Definition von Familie soll nunmehr auch Geschwister bzw. vor der Einreise in die EU geschlossene familiäre Beziehungen umfassen.442

435

Vgl. unter 5. Kap., C. II., S. 208 f. Ähnlich G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1189 ff.); vgl. auch unter 2. Kap., D. V. 5., S. 66 ff. 437 KOM(2020) 609 endg. 438 Diese sind abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/publications/migration-and-asylu m-package-new-pact-migration-and-asylum-documents-adopted-23-september-2020 de. 439 Insgesamt wird das bisherige Asylsystem nur geringfügig verändert, s. R. Lesser/A.-S. Nienhoff, ZAR 2021, 139 (140 ff.). 440 KOM(2020) 610 endg.; zu den wesentlichen Neuerungen der AMM-Verordnung L.-M. Lührs, NVwZ 2021, 1329 (1330 ff.). 441 KOM(2020) 609 endg., S. 7. 442 Art. 2 (g) (v) des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 42. 436

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

95

Dazu sollen die Begriffe „unbegleitete Minderjährige“ bzw. „Wohl des Kindes“ in die vorrangigen Zuständigkeitskriterien für Asylanträge aufgenommen werden.443 Daneben soll ein neues Kriterium festgelegt werden, wonach für die Anträge von Asylsuchenden, die ein Zeugnis bzw. einen Befähigungsnachweis in einem Mitgliedstaat erworben haben, ebenjener Mitgliedstaat zuständig ist.444 Für sonstige Fälle soll das Zuständigkeitskriterium der irregulären Einreise für die Prüfung des Antrags beibehalten werden.445 Schließlich sollen bestehende Vorschriften über die Verlagerung der Zuständigkeit beim Ablauf von vorgesehenen Fristen gestrichen werden, um der Weiterwanderung von Asylsuchenden entgegenzuwirken. Eine Zuständigkeitsverlagerung soll nur dann möglich sein, wenn die betreffende Person das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufgrund einer Ablehnung oder einer Rückkehrentscheidung verlassen hat, ein anderer Mitgliedstaat die Ermessensklausel angewandt hat oder die Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat nicht rechtzeitig durchgeführt wurde.446 Dabei wird betont, dass der Zugang zu materiellen Leistungen (z.B. Unterbringung, Verpflegung, Kleidung, Gesundheitsversorgung, Bildung für Minderjährige) auf den Mitgliedstaat beschränkt werden soll, in dem sich der Antragsteller aufhält, es sei denn, der Mitgliedstaat gewährleistet keinen Lebensstandard im Einklang mit dem Unionsrecht, einschließlich der GRCh, und internationalen Verpflichtungen.447 Der implizite Verweis auf die bisherige EuGH-Rechtsprechung hinsichtlich der Vertrauensvermutung bzw. ihre Widerlegbarkeit bringt das Zusammenwirken der EU-Institutionen, namentlich des EuGH und der Kommission, erneut zum Ausdruck: Was der EuGH im Wege richterrechtlicher Rechtsfortbildung vorantreibt, wird von der Kommission übernommen und den Gesetzgebungsorganen mittels ihres Initiativrechts zur Verabschiedung vorgeschlagen. Eine Neuerung des vorgeschlagenen Pakets stellt die Festlegung eines neuen Solidaritätsmechanismus dar, der das Prinzip der Fairness im EU-Asylsystem verankern und der übermäßigen Belastung der an den Außengrenzen liegenden Mitgliedstaaten Einhalt gebieten soll.448 Dieser Vorschlag entspricht dem jüngsten EuGH-Urteil449 hinsichtlich der Verbindlichkeit und möglichen Rechtsfolgen des Solidaritätsprinzips nach Art. 80 AEUV und sieht freiwillige sowie obligatorische Solidaritätsbeiträge vor: Die Mitgliedstaaten können unter Koordinierung der Kommission freiwillig nach ihrem Ermessen zur Solidarität beitragen 443

Art. 15 des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 55. Art. 20 des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 57. 445 Art. 21 des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 58. 446 Art. 27 des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 67 f. 447 Art. 10 des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 57. 448 Art. 45 ff. des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 76 ff.; die Umsetzung des Solidaritätsmechanismus wird allerdings auf große Herausforderungen stoßen, vgl. F. Trauner, Integration 2021, 40 (46 ff.). 449 EuGH, verb. Rs. C-715/17, C-718/17 und C-719/17, ECLI:EU:C:2020:257 – Kommission/Polen (Me´canisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale). 444

96

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

oder bei Zustimmung zur Umverteilung einen finanziellen Beitrag aus dem EUHaushalt erhalten. Darüber hinaus soll insbesondere für Drucksituationen oder die Gefahr einer Drucksituation ein mehrstufiger Solidaritätsmechanismus bereitgestellt werden, der sogar in rechtsverbindliche Kontingente bei der Umsiedlung von Asylantragstellern münden kann und auch für Such- und Rettungseinsätze eingesetzt werden soll.450 Einen weiteren Ausdruck der Solidarität stellen die sog. Rückkehrpatenschaften dar, bei denen ein Mitgliedstaat einen unter Migrationsdruck stehenden Mitgliedstaat bei der Durchführung der erforderlichen Maßnahmen zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger unterstützen soll. Daneben umfasst der Solidaritätsgedanke weitere Maßnahmen wie die Unterstützung beim Kapazitätsaufbau, operative Unterstützung sowie Bereitstellung von technischem und operativem Fachwissen.451 Der Kommission kommt bei der Koordinierung und Umsetzung stets eine entscheidende Rolle zu.452 Insgesamt bleiben jedoch erhebliche Bedenken bestehen, dass die Verabschiedung des Reformpakets die bisherigen strukturellen Schwächen des DublinSystems zu beseitigen vermag.453 2. Vertrauen als Ziel des neuen Pakets Das Vertrauen bildet ein die Europäische Asylpolitik prägendes Leitmotiv, dem ein eigener Abschnitt in der Mitteilung der Kommission gewidmet wird.454 Zunächst wird betont, dass der Aufbau von Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten nur durch Einhaltung und Umsetzung auf der lokalen Ebene des europäischen Gesamtkonzepts erfolgen kann.455 Verwiesen wird somit nicht nur auf die Festlegung eines gemeinsamen Rahmens, sondern auch auf seine rechtmäßige Umsetzung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten, weswegen durch die gezielten Änderungen und die Schaffung von neuen Rechtsinstrumenten der Akzent auf die engere europäische Zusammenarbeit gesetzt wird. Um den Herausforderungen der Vertrauensstärkung im Asylrecht zu begegnen, sollen die Mitgliedstaaten Berichte hinsichtlich des Funktionierens der nationalen Asylsysteme erstellen, dabei in ihren Aufgaben durch die EU-Agenturen operativ unterstützt werden sowie mittels einer systematischeren Umsetzungskontrolle bestehender und neuer Vorschriften durch die Kommission beaufsichtigt werden.456 Schließ450

Art. 50 ff. des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 88 ff. Art. 55 des Vorschlags, KOM(2020) 610 endg., S. 93 f.; kritisch L.-M. Lührs, NVwZ 2021, 1329 (1334). 452 Die Rolle der Kommission wird durch das neue Paket politisiert, so G. Cornelisse/M. Reneman, ELJ 26 (2020), 181 (183 ff.). 453 G. Cornelisse/M. Reneman, ELJ 26 (2020), 181 (182); L.-M. Lührs, NVwZ 2021, 1329 (1331); E. Tsourdi, EuConst 17 (2021), 471 (494). 454 Abschnitt 2.3, KOM(2020) 609 endg., S. 8. Vgl. auch Erwägungsgr. 2, KOM(2020) 610 endg., S. 27; Art. 1, KOM(2020) 610 endg., S. 41; Erwägungsgr. 1, KOM(2020) 612 endg., S. 16; Erwägungsgr. 2, KOM(2020) 613 endg., S. 19. 455 KOM(2020) 610 endg., S. 4. 456 KOM(2020) 613 endg., S. 8 f. 451

E. Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

97

lich sollen die unterschiedlich ausgestalteten Solidaritätsbeiträge vertrauensstärkend wirken, indem einerseits das reibungslose Funktionieren des in diesen Mitgliedstaaten eingeleiteten Asylverfahrens durch die Entlastung der bisher durch die Flüchtlingsmassenzuströme am stärksten betroffenen Asylsysteme wiederhergestellt werden soll und andererseits die gegenseitige Unterstützung in jeglicher Form als Basis für die Entwicklung eines gemeinsamen Erfahrungshintergrunds in diesem Bereich fungieren soll. Nicht zuletzt wird die zunehmende Bedeutung des Vertrauensbegriffs daraus ersichtlich, dass im Entwurf der neuen AMM-Verordnung in Art. 1 die Stärkung des Vertrauens explizit als Ziel erwähnt wird.457 Zugleich wird jedoch auf die Grenzen der Vertrauensvermutung hingewiesen: Die drohende Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRCh im Aufnahmemitgliedstaat zieht nach sich die Prüfung der Kriterien zur Bestimmung eines anderen Mitgliedstaats.458 Konfliktpotenzial mit der Vertrauensvermutung birgt daneben die Anforderung, dass der Aufnahmemitgliedstaat einen Lebensstandard im Einklang mit dem Unionsrecht, einschließlich der GRCh, und mit internationalen Verpflichtungen gewährleisten muss.459 Die Voraussetzungen für die Widerlegung der Vermutungswirkung werden weitgehend davon abhängig sein, wie der EuGH das Spannungsverhältnis zwischen Effektivität der Verordnung einerseits und Wahrung der Unionsgrundrechte des Asylsuchenden andererseits zum Ausgleich bringen wird.460 Bei Betrachtung der bisherigen EuGH-Rechtsprechung im Asylrecht lässt sich allerdings vorhersagen, dass die Beeinträchtigung der Wirksamkeit der Regelungen nur in sehr begrenzten Fällen, namentlich wenn eine Verletzung von Art. 4 GRCh im Aufnahmemitgliedstaat vorliegt, hingenommen werden wird.

IV. Fazit Im GEAS beruht der Vertrauensgrundsatz auf der Prämisse, dass alle EU-Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen aus der GRCh, der EMRK und der GFK nachkommen und somit als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige gelten. In diesem Sinne bezieht sich die Vertrauensvermutung einerseits auf die Rechtstreue der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Unionsrecht, insbesondere die Uni-

457

Art. 1, KOM(2020) 610 endg., S. 41. Art. 8 Abs. 3, KOM(2020) 610 endg., S. 49. 459 Art. 10, KOM(2020) 610 endg., S. 50. 460 Vgl. in diesem Zusammenhang G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1181): „inherent tensions that exist between the protection of fundamental rights of individuals and the operation of the principle of mutual trust“. 458

98

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

onsgrundrechte,461 sowie völkerrechtliche Verträge462 und andererseits auf die Qualität und die Kapazitäten der nationalen Asylsysteme, die gleichermaßen in der Lage sind, Asylanträge unter Beachtung der Unionsgrundrechte bzw. Menschenrechte effektiv zu bearbeiten.463 Der unionale Asylrechtsraum divergiert von den anderen dargestellten Bereichen des RSFR dahingehend, dass er auf einem System negativer Anerkennung beruht, in dem der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat die Weigerung des unzuständigen Mitgliedstaats anerkennt, den Antrag selbst zu prüfen. Daraus wird gefolgert, dass die mit dem Dublin-System etablierten Zuständigkeitskriterien nicht umgangen werden dürfen sowie dass die Überstellungen der Asylbewerber an den zuständigen Mitgliedstaat grundsätzlich quasi-automatisch durchgeführt werden sollen, um einem „forum shopping“ entgegenzuwirken. Der Überstellungsmitgliedstaat muss daher von einer Prüfung der Grundrechtseinhaltung durch den Aufnahmemitgliedstaat grundsätzlich Abstand nehmen. Der Vertrauensgrundsatz kann allerdings nicht unbegrenzt bzw. auf Kosten der Unionsgrundrechte gelten,464 weshalb eine prognosebasierte Vorverlagerung des Grundrechts- bzw. Menschenrechtsschutzes auf den Überstellungsmitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen zugelassen wird.465 Unter dem deutlichen Einfluss der EGMR-Rechtsprechung hat der EuGH seit geraumer Zeit Abweichungen vom Vertrauensgrundsatz anerkannt, zugleich aber eine hohe Schwelle für die erforderliche Grundrechtsverletzung festgelegt, weshalb sich die Ausnahmen bislang auf Fälle von drohenden (bzw. festgestellten) Verletzungen des Art. 4 GRCh durch die bzw. nach der Überstellung im Aufnahmemitgliedstaat beschränken. Das ursprüngliche Abstellen auf das Kriterium systemischer Mängel im Asylverfahren oder der Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat als unabdingbare Voraussetzung für die Aussetzung der Überstellung ist in der jüngsten EuGH-Rechtsprechung durch eine Einzelfallprüfung der Rechtsstellung des Asylbewerbers als Alternative ergänzt worden. Sonstige Verstöße gegen die Bestimmungen des Unionsrechts bzw. der Unionsgrundrechte ohne absoluten Charakter, die unterhalb der Schwelle von Art. 4 GRCh liegen, sind hingegen nicht geeignet, die Vermutungswirkung zu widerlegen. Diese Rechtsprechung trägt – wie an anderer Stelle darzulegen sein wird466 – allerdings den aus dem Primärrecht abzuleitenden Grenzen des Vertrauensgrundsatzes kaum Rechnung und muss daher in Zukunft weiterentwickelt werden. 461

M. Wendel, DVBl 2015, 731 (734). E. Nanopoulos, CLJ 72 (2013), 276 (278). 463 E. Brouwer, ULRev. 9 (2013), 135 (138); S. Morgades-Gil, IJRL 27 (2015), 433 (441). 464 E. Nanopoulos, CLJ 72 (2013), 276 (279). 465 G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1184): der ersuchende Mitgliedstaat nehme dabei eine Überwachungsfunktion ein; K. Hailbronner/D. Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.); M. Wendel, DVBl 2015, 731 (733), der die vorzunehmende Prognose über die Verletzung von Grund- bzw. Menschenrechten aus rechtspraktischer wie normativer Sicht als problematisch bemängelt. 466 Ausführlich unter 2. Kap., G., S. 109 ff. und 5. Kap., C. II., S. 208 f. 462

F. EGMR und Vertrauensgrundsatz

99

F. EGMR und Vertrauensgrundsatz Vor dem Hintergrund des Vertrauensgrundsatzes, nämlich der Vermutung der Rechtstreue der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Unionsrecht und der daraus folgenden Verpflichtung für den ersuchten Mitgliedstaat, bei den Anerkennungskonstellationen auf eine Prüfung der tatsächlichen Einhaltung der Unionsgrundrechte durch den ersuchenden Mitgliedstaat grundsätzlich zu verzichten, zeigt sich ein Konfliktpotenzial mit den sich aus der EMRK ergebenden Verpflichtungen, die eine solche Prüfung hinsichtlich der Wahrung der EMRK-Rechte gebieten. Dabei wird die Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK in einigen Sekundärrechtsakten467 wie in der EuGH-Rechtsprechung468 als ein zusätzlicher Grund erachtet, der die Vermutung rechtfertigt, dass alle Mitgliedstaaten die internationalen Grundrechts- bzw. Menschenrechtsstandards einhalten.469 Zu beachten ist ferner die Auswirkung der EGMR-Rechtsprechung auf die Herangehensweise des EuGH in ähnlichen Rechtsfragen.470 Umgekehrt nimmt der EGMR in seinen Entscheidungen Rücksicht auf die Besonderheiten des Unionsrechts und insbesondere den Vertrauensgrundsatz im RFSR. Obwohl gemeinsame Ansätze hinsichtlich der Reichweite des Vertrauensgrundsatzes bzw. seiner grundrechtlichen Grenzen in der Rechtsprechungslinie beider Gerichte erkennbar sind,471 ist deren Kooperationsverhältnis insgesamt durch einen Machtkampf um die Letztentscheidungsbefugnis für die Beurteilung von grundrechtsrelevanten Fragen gekennzeichnet.472

467 Erwägungsgr. 6 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. EU 2010 Nr. L 280, S. 1; Erwägungsgr. 7 Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. EU 2012 Nr. L 142, S. 1; Erwägungsgr. 1 Verordnung (EU) Nr. 514/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 zur Festlegung allgemeiner Bestimmungen für den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds und das Instrument für die finanzielle Unterstützung der polizeilichen Zusammenarbeit, der Kriminalprävention und Kriminalitätsbekämpfung und des Krisenmanagements, ABl. EU 2014 Nr. L 150, S. 112. 468 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 112 – N.S. u.a. 469 F. Billing, EuCLR 2 (2012), 77 (87). 470 Dazu ausführlich J. M. Corte´s-Martı´n, REALaw 11 (2018), 5 (10 ff., 18), der konstatiert, der EuGH habe sich in den letzten Jahren bemüht, seine Rechtsprechung in Einklang mit der EGMR-Rechtsprechung zu bringen; ähnlich E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 42, die eine Annäherung der Rechtsprechung beider Gerichte erkennt; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 447, Rn. 750 ff. 471 C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (391). 472 V. Mitsilegas, ELRev. 46 (2021), 579 (583 ff.); ähnlich T. Marguery, EP 1 (2016), 943 (963); B. Misoski/I. Rumenov, ECLIC 1 (2017), 364 (380).

100

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

I. Bosphorus-Vermutung Bei den unionsrechtlichen Kooperationsersuchen zwischen den Mitgliedstaaten und dem damit einhergehenden Konfliktpotenzial aufgrund der konkurrierenden Zuständigkeit der europäischen Gerichte gewinnt die Frage an Gewicht, inwieweit der EGMR die tatsächliche Wahrung der sich aus der EMRK ergebenden Verpflichtungen und dadurch mittelbar den Vertrauensgrundsatz bzw. seine Grenzen anhand der Konventionsrechte überprüfen kann. Die Prüfungskompetenz des EGMR richtet sich dabei nach der sog. Bosphorus-Vermutung: Der EGMR hat in seiner Bosphorus-Entscheidung473 zunächst klargestellt, dass die Übertragung eines Teils der souveränen Staatlichkeit an die EU die EMRKVertragsstaaten nicht von ihren sich aus der EMRK ergebenden Verpflichtungen entbindet.474 Das von der EU geforderte Handeln ist allerdings nach der EMRK gerechtfertigt, solange diese einen der EMRK gleichwertigen Menschenrechtsschutz in materieller wie verfahrensrechtlicher Hinsicht und Durchsetzbarkeit bietet,475 was in Bezug auf das Unionsrecht bzw. den Unionsgrundrechtsschutz der Fall ist.476 Dadurch verzichtet der EGMR auf seine Prüfungskompetenz am Maßstab der EMRK, sofern die Mitgliedstaaten bei ihren Handlungen durch zwingende Unionsakte gebunden sind, die ihnen keinen Handlungsspielraum belassen, und das volle Potenzial der EU-Kontrollmechanismen, wie z.B. das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, ausgeschöpft worden ist.477 Diese Vermutung des gleichwertigen Schutzes stößt allerdings an ihre Grenzen, wenn der Schutz sich als „offensichtlich unzureichend“ („manifestly deficient“) erweisen sollte.478 Aufgrund der Vermutung des gleichwertigen Menschenrechtsschutzes auf EU-Ebene sieht der EGMR einen Grundrechtseingriff in Erfüllung unionsrechtlicher Pflichten des Mitgliedstaats als gerechtfertigt an.479

473

EGMR, Entscheidung v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland, Nr. 45036/98. 474 EGMR, Entscheidung v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland, Nr. 45036/98, §§ 152 f. 475 EGMR, Entscheidung v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland, Nr. 45036/98, § 155. Ausführlich dazu S. Douglas-Scott, CMLRev. 43 (2006), 629 (637 ff.); A. Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 (928 ff.). 476 EGMR, Entscheidung v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland, Nr. 45036/98, §§ 160 ff.; EGMR, Entscheidung v. 06.12.2012, Michaud/ Frankreich, Nr. 12323/11, § 105; skeptisch allerdings A. Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 (936 ff.). 477 S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 94 f.; A. Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 (929, 932); kritisch P. De Hert/F. Korenica, GLJ 13 (2012), 874 (884), der die Abgrenzung zwischen Unionsakten, die den Mitgliedstaaten Ermessen belassen und denen, die den Mitgliedstaaten kein Ermessen belassen, als unklar bezeichnet; S. Kaufmann, EuZW 2021, 984 (986). 478 Dazu S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 99 ff.; P. De Hert/F. Korenica, GLJ 13 (2012), 874 (886 ff.); M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (10 f.). 479 A. Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 (929).

F. EGMR und Vertrauensgrundsatz

101

Der EGMR hat die Anwendbarkeit der Bosphorus-Vermutung in Bezug auf die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen bejaht sowie ihr Verhältnis zum Vertrauensgrundsatz näher bestimmt. Einschlägig ist insofern die Povse/Österreich-Entscheidung480 dargelegt, deren Sachverhalt kurz zuvor auch durch den EuGH im Rahmen der Brüssel IIa-Verordnung beurteilt wurde.481 Der EuGH hatte dabei ausgeführt, dass etwaige seit dem Erlass der zu vollstreckenden Entscheidung eingetretene Änderungen der Lebensumstände betreffend das Kindeswohl (nur) vor dem zuständigen Gericht des Ursprungsstaats geltend gemacht werden könnten, sodass eine Ablehnung der Entscheidungsvollstreckung durch das Vollstreckungsgericht nicht gestattet sei.482 Sodann musste der EGMR die Rechtsfrage beurteilen, ob das Vollstreckungsgericht (Österreich) durch die Entscheidungsvollstreckung Art. 8 EMRK verletzt hat. Zunächst hat der EGMR die Anwendbarkeit des Bosphorus-Grundsatzes bestätigt und ausgeführt, dass die Vermutung der Gleichwertigkeit des EU-Grundrechtsschutzes mit dem Schutz der EMRK greife, da das Vollstreckungsgericht lediglich die rechtlichen Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft Österreichs in der EU umgesetzt habe, ohne dabei ein Ermessen auszuüben.483 Daneben habe das Vollstreckungsgericht gebührend von dem im EU-Recht vorgesehenen Kontrollmechanismus Gebrauch gemacht, indem es den EuGH um eine Vorabentscheidung ersucht hat. Vor diesem Hintergrund sei keine Fehlerhaftigkeit der Kontrollmechanismen für die Einhaltung der EMRK-Rechte festzustellen: Etwaige Verletzungen der EMRK-Rechte dürften durch den ersuchenden Mitgliedstaat überprüft werden, ohne dass der ersuchte Mitgliedstaat dabei Gefahr laufe, seine sich aus der EMRK ergebenden Verpflichtungen zu verletzen.484 Die Bejahung der Bosphorus-Vermutung bei der unionsrechtlichen horizontalen Zusammenarbeit hat die volle Anwendung des Vertrauensgrundsatzes zur Folge, auch wenn der EGMR darauf längere Zeit nicht explizit einging. Im Rahmen der Brüssel IIa-Verordnung nahm er nur sporadisch auf den unionsrechtlichen Anerkennungs- bzw. Vertrauensgrundsatz als Grundlage für die quasiautomatische Rückgabe des Kindes Bezug485 und prüfte dabei wie üblich anhand einer Einzelfallprüfung eine etwaige Verletzung von dem in Art. 8 EMRK festgeschriebenen Recht auf Achtung des Familienlebens durch die Rückgabe.486 Mittlerweile hat er allerdings den Vertrauensgrundsatz als einen der EU eigentümlichen Grundsatz anerkannt487 und diesen in der M.A./Österreich-Entschei480

EGMR, Entscheidung v. 18.06.2013, Povse/Österreich, Nr. 3890/11. Vgl. EuGH, Rs. C-211/10 PPU, Slg. 2010, I-6673 – Povse. 482 EuGH, Rs. C-211/10 PPU, Slg. 2010, I-6673, Rn. 83 – Povse. 483 EGMR, Entscheidung v. 18.06.2013, Povse/Österreich, Nr. 3890/11, §§ 77 f., 82. 484 EGMR, Entscheidung v. 18.06.2013, Povse/Österreich, Nr. 3890/11, § 87. 485 EGMR, Entscheidung v. 26.11.2013, X./Lettland, Nr. 27853/09, §§ 97 f.; EGMR, Entscheidung v. 21.05.2019, O.C.I. u.a./Rumänien, Nr. 49450/17, § 45. 486 Vgl. EGMR, Entscheidung v. 12.07.2011, Sˇneersone und Kampanella/Italien, Nr. 14737/09. 487 Vgl. EGMR, Entscheidung v. 26.11.2013, X./Lettland, Nr. 27853/09, § 97; EGMR, Ent481

102

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

dung488 ausdrücklich herangezogen.489 Dennoch hat er eine Verletzung von Art. 8 EMRK darin gesehen, dass das Vollstreckungsgericht es versäumte, das Rückgabeverfahren zügig und effizient durchzuführen.490 Dagegen lag in der Entscheidungsvollstreckung durch das ersuchte Gericht keine Verletzung von Art. 8 EMRK. Das Verhältnis der Bosphorus-Vermutung zum Vertrauensgrundsatz bzw. seine Reichweite wurde durch den EGMR kurz nach Veröffentlichung des EMRK-Beitrittsgutachtens des EuGH in der grundlegenden Avotin¸sˇ/LettlandEntscheidung491 thematisiert.492 Zunächst weist der EGMR auf die Bedeutung des Vertrauens- bzw. Anerkennungsprinzips für die in diesem Fall anwendbare Brüssel I-Verordnung sowie insgesamt für den RFSR hin,493 betont aber gleichzeitig, dass die zur Schaffung dieses Raums verwendeten Methoden nicht die Grundrechte der dadurch beeinträchtigten Personen verletzen dürften.494 Der Vertrauensgrundsatz könne nicht automatisch und mechanisch angewendet werden, sodass Schutzlücken im Grundrechtsschutz entstünden.495 In diesem Sinne könnte die nur auf Ausnahmefälle beschränkte Prüfungsbefugnis des ersuchten Mitgliedstaats hinsichtlich der Einhaltung der Grundrechte durch den ersuchenden Mitgliedstaat dem von der EMRK auferlegten Erfordernis zuwiderlaufen, dass das ersuchte Gericht zumindest befugt sein muss, eine Prüfung zur Sicherstellung, dass der Schutz dieser Rechte nicht offenkundig mangelhaft ist, durchzuführen.496 Die Grundsätze der Anerkennung und des Vertrauens dürfen insoweit nicht zu einer Situation offenkundig mangelhaften Grundrechtsschutzes führen, welcher das Unionsrecht keine Abhilfe im Sinne einer Möglichkeit zu einer ausnahmsweise zugelassenen Prüfung bzw. Anerkennungsversagung schafft. In einem solchen Fall darf der ersuchte Mitgliedstaat eine derartige Prüfung nicht alleine aus dem Grund unterlassen, dass er Unionsrecht anwendet.497 Bei einer gegenteiligen Auslegung wären sowohl das ersuchte Gericht als auch der EGMR scheidung v. 01.07.2014, Blaga/Rumänien, Nr. 54443/10, § 83; EGMR, Entscheidung v. 06.03.2018, Royer/Ungern, Nr. 9114/16, § 50; EGMR, Entscheidung v. 21.05.2019, O.C.I. u.a./Rumänien, Nr. 49450/17, § 45; EGMR, Entscheidung v. 07.07.2020, Voica/Rumänien, Nr. 9256/19, § 67. 488 EGMR, Entscheidung v. 15.01.2015, M.A./Österreich, Nr. 4097/13. 489 EGMR, Entscheidung v. 15.01.2015, M.A./Österreich, Nr. 4097/13, § 114. 490 EGMR, Entscheidung v. 15.01.2015, M.A./Österreich, Nr. 4097/13, § 137. 491 EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07. 492 Zum Verhältnis zwischen EuGH und EGMR nach Erlass der Avotin¸sˇ-Entscheidung vgl. L. R. Glas/J. Krommendijk, HRLRev. 17 (2017), 567 (572 ff.); P. Gragl, EuConst 13 (2017), 551 (560 ff.); C. Kohler, IPRax 2017, 333 (338). 493 EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, § 113. 494 EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, § 114. 495 EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, §§ 114, 116; EGMR, Entscheidung v. 17.04.2018, Pirozzi/Belgien, Nr. 21055/11, § 62. 496 EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, § 114; EGMR, Entscheidung v. 17.04.2018, Pirozzi/Belgien, Nr. 21055/11, §§ 63 f. 497 EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, § 116; EGMR, Entscheidung v. 14.01.2020, Rinau/Litauen, Nr. 10926/09, § 189.

F. EGMR und Vertrauensgrundsatz

103

aufgrund des kombinierten Effekts des unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatzes und der Bosphorus-Vermutung bei vorbehaltloser gegenseitiger Anerkennung nicht befugt, eine Prüfung der Einhaltung von Grundrechten vorzunehmen.498 Die Bosphorus-Vermutung kann dementsprechend bei im konkreten Einzelfall offensichtlich unzureichendem Schutz widerlegt werden, womit eine Grundrechtsprüfung am Maßstab der EMRK erfolgen kann.499 Der EGMR hat allerdings in der Avotin¸sˇ/Lettland-Entscheidung keine Widerlegung der BosphorusVermutung festgestellt.500 Darüber hinaus hat der EGMR bezüglich des Dublin-Systems betont, dass dieses die sich aus der EMRK ergebende Verantwortlichkeit der Vertragsparteien nicht beseitigt, sicherzustellen, dass die betroffene Person durch ihre Überstellung in einen anderen Vertragsstaat eine Grundrechtsverletzung erleidet.501 Im Dublin-System findet die Bosphorus-Vermutung keine Anwendung, weil den Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung bzw. Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung der Ermessensspielraum eingeräumt wird, einen Asylantrag selbst zu prüfen,502 sodass eine vollumfängliche Überprüfung der mitgliedstaatlichen Handlungen an der EMRK erfolgt.503 So hat der EGMR in der M.S.S./Griechenland504–Entscheidung eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch Belgien darin gesehen, dass die belgischen Behörden im Zeitpunkt der Überstellung der betroffenen Person nach Griechenland wussten oder hätten wissen müssen, dass eine ernsthafte Prüfung des Asylantrags seitens der griechischen Behörden nicht gewährleistet ist.505 Die belgischen Behörden hätten zuerst überprüfen müssen, wie Griechenland sein nationales Asylrecht anwendet, und aufgrund der dort menschenunwürdigen Lebens- und Haftbedingungen die Überstellung untersagen müssen.506 Der EGMR nimmt dabei keinen Bezug auf den unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz, legt aber deutlich fest, dass die EMRK einer unwiderlegbaren Vermutung grundrechtskonformen Verhaltens im DublinSystem entgegensteht.507 498

EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, § 115. S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 99 f.; E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 139. 500 EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, § 126. 501 EGMR, Entscheidung v. 07.03.2000, T.I./Vereinigtes Königreich, Nr. 43844/98, S. 14 f.; EGMR, Entscheidung v. 02.12.2008, K.R.S./Vereinigtes Königreich, Nr. 32733/08, S. 15 f. 502 EGMR, Entscheidung v. 21.01.2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, §§ 339 f. 503 Vgl. aber M. Wendel, DVBl 2015, 731 (740), laut dem die Dublin-Verordnungen ein abschließendes Regelungssystem etablieren, sodass der EGMR hätte die Bosphorus-Vermutung anwenden müssen. 504 EGMR, Entscheidung v. 21.01.2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09. 505 EGMR, Entscheidung v. 21.01.2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, § 358. 506 EGMR, Entscheidung v. 21.01.2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, § 359. 507 L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 101. 499

104

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Erst in der Tarakhel-Entscheidung508 nimmt der EGMR Bezug auf den unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz sowie das N.S.-Urteil des EuGH,509 weist aber zugleich auf die Nichtanwendung der Bosphorus-Vermutung hin510 und legt dabei fest, dass der überstellende Vertragsstaat nicht davon befreit ist, eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vorzunehmen und das Überstellungsverfahren bei einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK auszusetzen.511 Dies gelte unabhängig davon, ob der Aufnahmemitgliedstaat systemische Mängel aufweist.512 Für die Widerlegung der Vertrauensvermutung sind vielmehr die Bedingungen des Einzelfalls maßgeblich; hinsichtlich der Verletzung von Art. 3 EMRK sind vor allem die Umstände entscheidend, die dem Vertragsstaat zum Zeitpunkt der Überstellung bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen.513 In Anlehnung an diese Rechtsprechungslinie hat der EuGH in seinen Urteilen C.K. u.a., Jawo und Ibrahim die Einzelfallprüfung für die Aussetzung des Überstellungsverfahrens aufgrund einer Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh fortentwickelt. Die Gerichte weichen im Wesentlichen bezüglich der Verantwortungsaufteilung bei der Feststellung einer Grundrechtsverletzung voneinander ab: Laut dem EGMR ist der Überstellungsmitgliedstaat für die Verletzung von Art. 3 EMRK verantwortlich, wohingegen laut dem EuGH allein der zuständige Mitgliedstaat die Verantwortung trägt, an den die betroffene Person überstellt wird.514 Schließlich hat der EGMR die Annahme des gleichwertigen Rechtsschutzes gemäß der Bosphorus-Vermutung bei Überstellungsverfahren nach dem RbEuHb in seiner jüngsten Bivolaru u. Moldovan/Frankreich-Entscheidung515 betreffend die Auslieferung von zwei rumänischen Staatsangehörigen von Frankreich nach Rumänien bejaht. Weil er den Handlungsspielraum der vollstreckenden Justizbehörden bezüglich der Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund der vom EuGH entwickelten zweistufigen Prüfung in Bezug auf Art. 4 GRCh als hinreichend klein erachtet,516 beschränkt er seine Prüfung auf die Feststellung eines offensichtlich unzureichenden Schutzes. Hierbei hat der EGMR zum ersten Mal in seiner Rechtsprechung die Vermutung des gleichwertigen Schutzes der Unionsgrundrechte aufgrund offensichtlicher Unzulänglichkeiten als widerlegt angesehen: Der Beschwerdeführer Moldovan hat der französischen Justizbehörde ernsthafte und präzise Beweise vorgelegt, die 508

EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12. EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12, § 33. 510 EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12, § 90. 511 EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12, § 104. 512 EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12, § 115. 513 EGMR, Entscheidung v. 13.01.2015, A.M.E./Niederlande, Nr. 51428/10, § 30. 514 Vgl. EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 95 – C. K. u.a. 515 EGMR, Entscheidung v. 25.03.2021, Bivolaru u. Moldovan/Frankreich, Nr. 40324/16 und 12623/17. 516 EGMR, Entscheidung v. 25.03.2021, Bivolaru u. Moldovan/Frankreich, Nr. 40324/16 und 12623/17, §§ 114 ff. 509

F. EGMR und Vertrauensgrundsatz

105

nach Auffassung des EGMR in Bezug auf die Haftbedingungen in Rumänien ein echtes Risiko der Verletzung von Art. 3 EMRK belegten, was die französischen Gerichte nach den vorliegenden Informationen hätten beachten müssen.517 Die französischen Behörden hätten dabei die Zusicherungen der rumänischen Behörden in Bezug auf die Haftbedingungen im konkreten Gefängnis nicht berücksichtigen dürfen, da diese stereotype Formulierungen bei der Risikobewertung beinhalteten.518 Der Beschwerdeführer Bivolaru hat hingegen vor den französischen Behörden keine hinreichend detaillierten und substantiierten Informationen zu seinen Haftbedingungen vorgelegt, sodass die vollstreckende Justizbehörde nicht über eine ausreichende Tatsachengrundlage für die Prognoseentscheidung verfügte.519 In diesem Fall hat der EGMR mithin die Bosphorus-Vermutung nicht als widerlegt angesehen. Inwieweit der EuGH nach dieser Entscheidung seine Herangehensweise mittels der zweistufigen Prüfung für die drohende Verletzung von Art. 4 GRCh im Rahmen des RbEuHb an die Rechtsprechung des EGMR anpassen wird, bleibt abzuwarten.520 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass die Anwendbarkeit der Bosphorus-Vermutung unmittelbar mit den Grenzen des Vertrauensgrundsatzes verbunden ist. Dabei führt die Unwiderlegbarkeit des unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatzes – d.h. in dem Fall, dass dem Vollstreckungsmitgliedstaat auch dann keine Prüfungsbefugnis eingeräumt wird, wenn offensichtliche Unzulänglichkeiten des Grundrechtsschutzes im Ausstellungsmitgliedstaat vorliegen – zur Nichtanwendung der Bosphorus-Vermutung. In einem solchen Fall wird das mitgliedstaatliche Handeln des Vollstreckungsmitgliedstaats vollumfänglich anhand der Konventionsrechte geprüft.521 Für die Beurteilung der (Nicht-)Erfüllung der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Bosphorus-Vermutung sind insbesondere drei Aspekte ausschlaggebend: das Maß der Verbindlichkeit der Unionsrechtsinstrumente, die Auslegung der anwendbaren Unionsvorschriften durch den EuGH nach Art. 267 AEUV und die Forderung automatischer gegenseitiger Anerkennung.522 Dem Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV kommt in dieser Hinsicht eine besondere Bedeutung zu, da dieses sowohl der Bestimmung des Ermessensspielraums als auch der Durchsetzung des Grundrechtsschutzes 517

EGMR, Entscheidung v. 25.03.2021, Bivolaru u. Moldovan/Frankreich, Nr. 40324/16 und 12623/17, §§ 117 ff. 518 EGMR, Entscheidung v. 25.03.2021, Bivolaru u. Moldovan/Frankreich, Nr. 40324/16 und 12623/17, § 124. 519 EGMR, Entscheidung v. 25.03.2021, Bivolaru u. Moldovan/Frankreich, Nr. 40324/16 und 12623/17, §§ 142 ff. 520 S. Kaufmann, EuZW 2021, 984 (987), sieht diese Entwicklung „als ein starkes Signal“ an; ähnlich G. Ress, EuZW 2021, 711 (713), der dieser Entscheidung des EGMR Auswirkungen auf die künftigen EuGH-Urteile zuspricht. 521 T. Marguery, REALaw 10 (2017), 113 (130), laut dem nichts dagegen spreche, dass die nationalen Gerichte diese Prüfung von Amts wegen vornehmen müssen. 522 Vgl. L. R. Glas/J. Krommendijk, HRLRev. 17 (2017), 567 (580 ff.); A. Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 (932); T. Marguery, REALaw 10 (2017), 113 (124 ff.).

106

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

dient.523 Jedenfalls unterscheidet sich der EGMR vom EuGH hauptsächlich darin, dass der EGMR die Widerlegung des unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatzes nicht auf außergewöhnliche Ausnahmefälle begrenzt, sondern diese in jedem Einzelfall für möglich hält.524 Dies ist wiederum der Tatsache geschuldet, dass der EGMR als reines Grundrechtsgericht nur für die auf das Individuum konzentrierte und institutionell externalisierte Menschenrechtskontrolle zuständig ist.525

II. Vermutung konventionskonformen Handelns Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung den Konventionsstaaten bei zwischenstaatlichen Kooperationsersuchen eine Vermutung konventionskonformen bzw. völkerrechtskonformen Verhaltens zugestanden, wenn er von der Annahme ausgehen kann, dass diese alle ihre internationalen Bindungen und insbesondere die sich aus der EMRK ergebenden Verpflichtungen einhalten.526 Für die Konventionsstaaten, die zugleich EU-Mitgliedstaaten sind, gilt, wie schon dargestellt, die Vermutung der Einhaltung ihrer unionsrechtlichen Bindungen, da diese als internationale Bindungen angesehen werden.527 Insoweit ähnelt die durch den EGMR vorgenommene Vermutung konventionskonformen Verhaltens dem unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz,528 an ihre Widerlegung werden allerdings niedrigere Anforderungen gestellt und sie kann im Einzelfall immer statt523

Vgl. EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, §§ 106 und 109 ff.; so auch S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 97 f. Die Einleitung des Vorlageverfahrens ist nicht immer eine erforderliche Voraussetzung, so EGMR, Entscheidung v. 23.05.2016, Avotin¸sˇ/Lettland, Nr. 17502/07, § 109. 524 E. Brouwer, EP 1 (2016), 893 (917 ff.); C. Kohler, IPRax 2017, 333 (336); L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 103; T. Marguery, REALaw 10 (2017), 113 (133). 525 R. Stotz, ZEuS 2017, 259 (278); M. Wendel, DVBl 2015, 731 (735). 526 EGMR, Entscheidung v. 02.12.2008, K.R.S./Vereinigtes Königreich, Nr. 32733/08, S. 17 f.; EGMR, Entscheidung v. 21.01.2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, § 345; EGMR, Entscheidung v. 18.03.2014, Ignaoua u.a./Vereinigtes Königreich, Nr. 46706/08, §§ 51 ff.; EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12, § 103; ähnlich J. Callewaert, ZEuS 2014, 79 (87 f.): „Vermutung ausreichenden Grundrechtsschutzes“; J. M. Corte´s-Martı´n, REALaw 11 (2018), 5 (19); K. Müller, ZEuS 2016, 345 (358); D. Thym, ZAR 2011, 368 (373); dies als unzureichend für die Annahme einer tatsächlichen Einhaltung bezeichnend T. Schilling, IPRax 2011, 31 (34); eine verallgemeinerte Vermutung konventionskonformen Handelns ablehnend L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 108 f. 527 S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 81 f. 528 EGMR, Entscheidung v. 18.03.2014, Ignaoua u.a./Vereinigtes Königreich, Nr. 46706/ 08, § 55 a.E.: „[T]he mutual trust and confidence underpinning measures of police and judicial cooperation among EU member States must be accorded some weight. Indeed, this reflects the Court’s own general assumption that the Contracting States of the Council of Europe will respect their international law obligations“; ähnlich S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 92: „Spiegelbild des unionsrechtlichen Vertrauens“.

F. EGMR und Vertrauensgrundsatz

107

finden, wenn im vorliegenden Fall hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen.529 Dies beurteilt sich sogar unabhängig davon, ob der Ursprungsstaat allgemeine bzw. systemische Mängel hinsichtlich des Grundrechtsschutzes aufweist.530 Entsprechende Anhaltspunkte können, insbesondere bezogen auf Art. 2 und Art. 3 EMRK entweder von der betroffenen Person vorgebracht531 oder müssen vom Vollstreckungsstaat von Amts wegen eingeholt werden.532 Hinsichtlich der Verletzung verfahrensrechtlicher Garantien (Art. 6 EMRK) im Ursprungsstaat wird die Vermutung konventionskonformen Verhaltens beim Vorliegen der Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung („de´ni de justice flagrant“)533 widerlegt.534 Aus der Perspektive der EMRK führt die Widerlegung der Vermutung des konventionskonformen Verhaltens nicht ohne weiteres zur Pflicht zur Versagung der Zusammenarbeit seitens des ersuchten Konventionsstaats, wenn Durchset-

529

Vgl. EGMR, Entscheidung v. 07.03.2000, T.I./Vereinigtes Königreich, Nr. 43844/98, S. 17; EGMR, Entscheidung v. 02.12.2008, K.R.S./Vereinigtes Königreich, Nr. 32733/08, S. 17 f.; EGMR, Entscheidung v. 21.01.2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, § 353; EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12, § 103; EGMR, Entscheidung v. 13.10.2016, B.A.C./Griechenland, Nr. 11981/15, § 62; bei Fehlen entgegenstehender Anhaltspunkte kann die Vermutung nicht widerlegt werden, vgl. EGMR, Entscheidung v. 18.06.2013, Povse/Österreich, Nr. 3890/11, § 87. 530 Vgl. EGMR, Entscheidung v. 21.01.2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, § 342; ebenso S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 85; A. Lübbe, ZAR 2014, 105 (106). 531 EGMR, Entscheidung v. 18.03.2014, Ignaoua u.a./Vereinigtes Königreich, Nr. 46706/08, § 51. 532 Vgl. hinsichtlich der Verletzung von Art. 3 EMRK: EGMR, Entscheidung v. 21.01.2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, § 358; EGMR, Entscheidung v. 21.10.2014, Sharifi u.a./Italien und Griechenland, Nr. 16643/09, § 232; EGMR, Entscheidung v. 23.03.2016, F.G./Schweden, Nr. 43611/11, § 115; EGMR, Entscheidung v. 14.03.2017, Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15, § 115; EGMR, Entscheidung v. 14.11.2019, N.A./Finnland, Nr. 25244/18, §§ 73 f.; EGMR, Entscheidung v. 13.10.2020, Zakharov und Varzhabetyan/Russland, Nr. 35880/14 und 75926/17, § 48. Hinsichtlich Art. 2 EMRK: EGMR, Entscheidung v. 14.11.2019, N.A./Finnland, Nr. 25244/18, § 85; EGMR, Entscheidung v. 26.05.2020, Makuchyan und Minasyan/Azerbaijan und Ungarn, Nr. 17247/13, §§ 192 ff.; EGMR, Entscheidung v. 02.06.2020, A. und B./Rumänien, Nr. 48442/16 und 48831/16, §§ 116 ff. 533 Zum Maßstab der eklatanten Rechtsverweigerung des EGMR bzw. zu seiner Übertragung auf die EuGH-Rechtsprechung im LM-Urteil vgl. Schlussanträge GA E. Tanchev, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:517, Rn. 80 ff. – Minister for Justice and Equality (LM); J. Geneuss/A. Werkmeister, ZStW 2020, 102 (123 ff.), laut denen der EuGH mit dem zweistufigen Test hinsichtlich der Verletzung von Art. 47 Abs. 2 GRCh einen strengeren Maßstab angewendet und somit denjenigen der eklatanten Rechtsverweigerung implizit abgelehnt habe; anders aber irischer High Court, Urteil vom 19. November 2018, [2018] IEHC 639, The Minister for Justice and Equality v Celmer No. 5, Rn. 18, 24, der den zweistufigen Test des EuGH im Ergebnis als gleichbedeutend mit dem Test der eklatanten Rechtsverweigerung des EGMR ansieht. 534 EGMR, Entscheidung v. 04.05.2010, Stapleton/Irland, Nr. 56588/07, §§ 27 ff.; EGMR, Entscheidung v. 15.06.2017, Harkins/Vereinigtes Königreich, Nr. 71537/14, §§ 62 ff.

108

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

zungsmechanismen im Ursprungsstaat vorhanden sind, die den Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf für die Geltendmachung von Konventionsverletzungen (Art. 34 EMRK) sicherstellen.535 Falls es dagegen angesichts einer irreparablen Verletzung des entsprechenden Rechts bzw. einer unzureichenden Wirksamkeit des Rechtsschutzes im Ursprungsstaat nicht möglich ist, die drohende Verletzung des betreffenden EMRK-Rechts zu kompensieren, so ist die Versagung der Kooperation durch den ersuchten Konventionsstaat geboten.536

III. Fazit Der EGMR hat mit der Bosphorus-Entscheidung eine widerlegbare Vermutung gleichwertigen Grundrechtsschutzes auf Unionsebene statuiert und seine Prüfungskompetenz angesichts der Besonderheiten des Unionsrechts, zu denen zuvörderst der Vertrauensgrundsatz zählt, eingeschränkt. Für die Anwendbarkeit der Bosphorus-Vermutung und damit die Entlastung des ersuchten Mitgliedstaats von seiner Verantwortung als Vertragsstaat der EMRK muss erstens ein zwingender Unionsakt vorliegen, der die Mitgliedstaaten in ihren Handlungen bindet und ihnen dabei kein Ermessen belässt, sowie müssen zweitens Abhilfemöglichkeiten im Sinne von Rechtsdurchsetzungsmechanismen durch das Unionsrecht vorhanden sein.537 Die Bosphorus-Vermutung wird allerdings widerlegt, wenn das Unionsrecht dem ersuchten Mitgliedstaat keine Prüfungsbefugnis in Bezug auf die Einhaltung der Grund- bzw. Menschenrechte durch den ersuchenden Mitgliedstaat zuspricht, obwohl der Grundrechtsschutz durch letzteren offensichtlich unzureichend ist. Fehlt es an unionsrechtlichen Versagungsgründen, die eine solche Prüfung durch den ersuchten Mitgliedstaat erlauben, kann dieser seiner Verpflichtung zur Einhaltung der Konventionsrechte nicht mit der Begründung entkommen, dass er EU-Recht anwendet. Mit anderen Worten lehnt der EGMR ein blindes Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten als konventionswidrig ab.538 Rechtsfolge der Widerlegung des gleichwertigen Grundrechtsschutzes im Unionsrecht ist die Prüfung des mitgliedstaatlichen Handelns durch den EGMR am Maßstab der EMRK, was sich mittelbar auf die Reichweite des Vertrauensgrundsatzes auswirkt. Darüber hinaus stellt der EGMR grundsätzlich die Vermutung des konventionskonformen Handels der Konventionsstaaten auf, die teilweise dem unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz ähnelt. Diese Vermutung kann jederzeit bei entgegenstehenden Anhaltspunkten im Wege einer Einzelfallprüfung widerlegt werden. Eine Verletzung der EMRK-Rechte mündet jedoch dann nicht in die Ablehnung des Kooperationsersuchens zwischen den Vertragsstaaten, wenn Ab535

Vgl. EGMR, Entscheidung v. 15.12.2009, Kaplan/Deutschland, Nr. 43212/05, S. 9; ferner S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 86 ff. 536 S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 89 f. 537 T. Marguery, REALaw 10 (2017), 113 (123 ff.). 538 T. Marguery, REALaw 10 (2017), 113 (130).

G. Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz

109

hilfe im Wege eines effektiven Rechtsschutzes im ersuchenden Mitgliedstaat geschaffen werden kann. Die Widerlegung der Bosphorus-Vermutung bedeutet dabei nicht unmittelbar, der ersuchte Mitgliedstaat hätte die Entscheidung des ersuchenden Mitgliedstaats nicht anerkennen bzw. vollstrecken müssen, sondern eröffnet nur die Prüfungskompetenz des EGMR im konkreten Fall. In diesem Sinne sind die Anforderungen an die Prüfungsbefugnis des ersuchten Mitgliedstaats bei der Nichtanwendung der Bosphorus-Vermutung von der Frage zu trennen, ob die innerunionale Zusammenarbeit aus der Perspektive der EMRK versagt werden muss.

G. Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauensgrundsatzes im RFSR Die Bindung der Mitgliedstaaten primär an die Unionsgrundrechte und sekundär an die völkerrechtlichen Grund- bzw. Menschenrechtskataloge bildet – zusammen mit den anderen in Art. 2 EUV niedergeschriebenen Unionswerten – das Fundament des Vertrauensgrundsatzes, der wiederum eine Vermutung der Beachtung der Unionsgrundrechte durch die Mitgliedstaaten aufstellt.539 Der EuGH hat allerdings in Bezug auf den RFSR bestimmte grundrechtsbezogene Grenzen des Vertrauensgrundsatzes entwickelt und im Falle der Feststellung einer Verletzung der einzelnen Unionsgrundrechte den Aufschub oder gegebenenfalls die Versagung der Kooperation angeordnet. Es besteht also keine unwiderlegbare Vermutung der Beachtung der Grundrechte, denn ein lückenloser Grundrechtsschutz ist in der Praxis nicht möglich.540 Die Anerkennung von Ausnahmen geknüpft an den Grundrechtsschutz und die damit einhergehende Widerlegung der Vermutungswirkung anhand von konkreten Beweisen wirkt dabei besonders vertrauenssichernd.541 Die Schwelle für die Widerlegung ist indes nicht einheitlich, sondern richtet sich nach der Art des betroffenen Grundrechts und der Abwägung zwischen der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts und dem Grundrechtsschutz durch den EuGH. Die Feststellung einer grundrechtlichen Grenze führt dabei zu einer Verlagerung der Grundrechtsprüfung auf den ersuchten Mitgliedstaat, der sonst aufgrund des Vertrauensgrundsatzes auf eine eigene Kontrolle hätte verzichten müssen.542 Diese dem ersuchten Mitgliedstaat aus-

539

Vgl. J. Callewaert, ZEuS 2014, 79 (80 f.). J. Callewaert, ZEuS 2014, 79 (83). 541 Vgl. zur Vertrauenssicherung durch Kontrolle unter 5. Kap., D. III., S. 219. 542 Demgegenüber erfolgt im Dublin-Verfahren die Grundrechtsprüfung durch den ersuchenden (Überstellungs-)Mitgliedstaat. Ferner R. Stotz, ZEuS 2017, 259 (273): dadurch erfolgt die Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten im grundrechtssensiblen RFSR. Eine wesentliche Funktion des Vertrauensgrundsatzes liegt in der Verantwortungsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Wertesicherung, vgl. unter 5. Kap., B. II. 2., S. 202 ff. 540

110

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

nahmsweise zugesprochene Prüfungsbefugnis hinsichtlich einer drohenden Grundrechtsverletzung im ersuchenden Mitgliedstaat besteht bei Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte unabhängig von anderen, in den Sekundärrechtsakten ausdrücklich verankerten Ausnahmen.543 Wie sich aus dem schon Dargelegten erkennen lässt, hat der EuGH diese Kontrollbefugnis bislang auf bestimmte Unionsgrundrechte beschränkt, wobei entscheidend war, ob sie absoluten Charakter besitzen.

I. Unionsgrundrechte mit absolutem Charakter Die erste Ausnahmekategorie geknüpft an die Unionsgrundrechte hat der EuGH im grundrechtssensiblen Bereich des Asylrechts entwickelt. Eine Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat sei bei Vorliegen von systemischen Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Asylbewerbers im Sinne des Art. 4 GRCh begründen, unzulässig.544 Diese Rechtsprechungslinie hat der EuGH auf die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen übertragen545 und der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls anhand des zweistufigen Aranyosi-Tests Grenzen gezogen. Dieser beinhaltet die Prüfung, ob systemische Mängel oder allgemeine, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel bezüglich der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat vorliegen, woran sich eine Einzelfallprüfung anschließt. Angesichts des absoluten Charakters von Art. 4 GRCh bleibt jedoch offen, ob eine Einzelfallprüfung auch unabhängig von der Existenz systemischer Mängel zur Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen kann.546 Im Asylrecht hat der EuGH indes neuerlich die Widerlegung der Vertrauensvermutung anhand einer Einzelfallprüfung bei drohender Verletzung des Art. 4 GRCh anerkannt, ohne dabei eine weitere Prüfung vorzunehmen, ob die Gefahr des Grundrechtsverstoßes auf systemische Mängel zurückzuführen ist.547 Eine solche Einzelfallprüfung bei Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für eine Verletzung eines absoluten Unionsgrundrechts ist im RFSR insgesamt zu befürworten,548 543

I. Canor, CMLRev. 50 (2013), 383 (394). EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905 – N.S. u.a. 545 K. Müller, ZEuS 2016, 345 (355 f.). 546 M. Wendel, DRiZ 2018, 176 (177); dies bejahend K. Müller, ZEuS 2016, 345 (358); eine abnehmende Bedeutung der systemischen Mängel erkennen F. Maiani/A. Miglionico, CMLRev. 57 (2020), 7 (40); ähnlich in Bezug auf das Asylrecht C. Hruschka, NVwZ 2017, 691 (696); vgl. aber D. Thym, NVwZ 2018, 609 (611): „[D]ie Abgrenzung zwischen systemischen Mängeln und einer einzelfallbezogenen Anwendung [präsentiert sich] zunehmend als rechtliches Kontinuum anstatt als kategorische Alternative“. 547 EuGH, Rs. C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 91 f. – C. K. u.a.; Rs. C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 95 – Jawo. 548 C. Franzius, ZaöRV 75 (2015), 383 (407); M. Schwarz, Grundlinien der Anerkennung im RFSR, 2016, S. 303 f. 544

G. Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz

111

weil dadurch einerseits mehr Kohärenz in der EuGH-Rechtsprechung und andererseits eine Annäherung an die EGMR-Rechtsprechung geschaffen wird.549

II. Unionsgrundrechte ohne absoluten Charakter Die Rechtsstaatlichkeitskrise und speziell die Gefährdung von Art. 47 Abs. 2 GRCh haben die Frage nach der Widerlegungsmöglichkeit des Vertrauensgrundsatzes jenseits absoluter Unionsgrundrechte in den Vordergrund gerückt. Der EuGH hat dies in seiner jüngsten Rechtsprechung im Rahmen des RbEuHb bejaht und den in Bezug auf Art. 4 GRCh eingeführten zweistufigen AranyosiTest angewendet. Als Prüfungsmaßstab wurde das Vorliegen einer auf systemischen oder allgemeinen Mängeln in der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats beruhenden Gefahr, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt angetastet wird, herangezogen.550 Auch hier wird das Zusammenspiel von systemischen Mängeln und der daran anschließenden Einzelfallprüfung deutlich, ohne dass bislang die Frage geklärt ist, ob die Verletzung des Wesensgehalts von nicht absoluten Unionsgrundrechten für sich – d.h. ohne Rückgriff auf die Voraussetzung des Vorliegens etwaiger systemischer Mängel im ersuchenden Mitgliedstaat – eine Versagung des Kooperationsersuchens begründen kann. In Anlehnung an die EGMR-Rechtsprechung soll eine Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes geknüpft an Unionsgrundrechte ohne absoluten Charakter dann möglich sein, wenn keine Abhilfe im ersuchenden Mitgliedstaat im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes möglich ist – also wenn ein Verstoß gegen den Wesensgehalt des Art. 47 Abs. 2 GRCh vorliegt – oder eine schwerwiegende bzw. irreparable Verletzung vorliegt, sodass sich der Rechtsschutz im ersuchenden Mitgliedstaat als nutzlos erweist.551 Im Endeffekt soll mithin nur die Verletzung des Wesensgehalts der Grundrechte gemäß Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh eine Grenze des Vertrauensgrundsatzes darstellen.552 Die Annahme, dass jegliche Verletzung der Unionsgrundrechte ungeachtet ihrer Schwere eine solche Grenze darstellt, ginge zu weit, denn dadurch wäre der Vertrauensgrundsatz und das damit verbundene Zuständigkeitsverteilungssystem zwischen den Mitgliedstaaten gefährdet. In diesem Sinne kommt der Bestimmung des unklaren Begriffs des Wesensgehalts553 eine maßgebliche Bedeutung zu. Dieser ist zumindest als der absolute

549

Vgl. J. M. Corte´s-Martı´n, REALaw 11 (2018), 5 (7). EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 – Minister for Justice and Equality (LM). 551 Vgl. auch E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 145 f.; E. Xanthopoulou, CMLRev. 55 (2018), 489 (505 ff.). 552 Ähnlich G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1188 ff.); J. Callewaert, ZEuS 2014, 79 (89 f.); M. Schwarz, Grundlinien der Anerkennung im RFSR, 2016, S. 303 f. 553 Dazu M. Brkan, EuConst 14 (2018), 332 (338 ff.); K. Lenaerts, GLJ 20 (2019), 779 (782 ff.); H. D. Jarass, GrCh, 4. Aufl. 2021, Art. 52 GRCh, Rn. 29. 550

112

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Kern jedes Grundrechts zu verstehen, der einen den absoluten Grundrechten entsprechenden Schutz genießt.554

III. Horizontaler Solange-Vorbehalt Der Eintritt einer unionsgrundrechtlichen Grenze bewirkt eine (Vor-)Verlagerung des Grundrechtsschutzes auf den ersuchten Mitgliedstaat und mündet in den Aufschub bzw. die Verweigerung des Kooperationsersuchens. Der EuGH hat dadurch in seiner Rechtsprechung die nationalen Gerichte als Wächter des Grundrechtsschutzes in den anderen Mitgliedstaaten in diesen eingebunden und deren Rolle als funktionale Unionsgerichte bestätigt. Diese Aufgabenverteilung entspricht Art. 19 Abs. 1 EUV, wonach der EuGH zusammen mit den nationalen Gerichten mit dem unionsrechtlichen Grundrechtsschutz im EU-Mehrebenensystem betraut ist. In diesem Sinne wird die Verantwortung für die Grundrechtswahrung dem Vertrauensgrundsatz folgend dem ersuchenden Mitgliedstaat überlassen und nur ausnahmsweise auf den ersuchten Mitgliedstaat übertragen, wobei der EuGH die Aufgabenwahrnehmung durch die nationalen Gerichte in vertikaler Hinsicht stets überwacht.555 Diese Regel-Ausnahme-Struktur kann in Anlehnung an die Solange-Rechtsprechung des BVerfG556 als „horizontales Solange“557 bezeichnet werden. Die Mitgliedstaaten sind demnach einerseits dazu aufgefordert, die unionsrechtlichen Kooperationsersuchen durchzuführen und die nationalen Akte der anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen bzw. zu vollstrecken, solange diese die europäischen Grundrechte gemäß GRCh im Wesentlichen beachten. Andererseits wird den Mitgliedstaaten ausnahmsweise beim Vorliegen gravierender Verletzungen der Unionsgrundrechte die Befugnis zugesprochen, die Grundrechtseinhaltung durch den ersuchenden Kooperationsstaat zu überprüfen, sodass eine horizontale Umkehrung der Grundrechtsverantwortlichkeit stattfindet.558 Einem Regime blinden Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten wird somit eine Absage erteilt und vielmehr dem effektiven Grundrechtsschutz im Unionsrecht mittels einer horizontal ausgeübten Kontrolle der Vorzug gegeben. Damit verbunden ist schließlich die Frage, ob eine derartige (Vor-)Verlagerung der Grundrechtsprüfung zu einer unzulässigen Umgehung der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der GRCh nach Art. 51 Abs. 1 GRCh führt. Denn das Unionsrecht regelt nicht jede Sachmaterie des RFSR, sondern belässt we-

554 G. Anagnostaras, GLJ 21 (2020), 1180 (1190); vgl. auch K. Lenaerts, GLJ 20 (2019), 779 (783), wonach bei absoluten Grundrechten Inhalt und Wesensgehalt deckungsgleich seien. 555 Ferner unter 5. Kap., B. II., S. 198 ff. 556 BVerfGE 73, 339 (378 ff., 387). 557 Begriff von I. Canor, ZaöRV 73 (2013), 249 (269 ff.); ähnlich C. Franzius, ZaöRV 75 (2015), 383 (383 f., 406 ff.): „horizontales Solange-Prinzip“. 558 I. Canor, CMLRev. 50 (2013), 383 (401); ähnlich A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (319 ff.).

H. Zwischenergebnis

113

sentliche Bereiche in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und beschränkt sich auf die Festlegung des Rechtsrahmens der Kooperation, sodass der ersuchende Mitgliedstaat außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 51 Abs. 1 GRCh handelt.559 Ein prominentes Beispiel bildet das Dublin-System, in dem das Unionsrecht die Zuständigkeitskriterien für die Bearbeitung der Asylanträge festlegt, die Bearbeitung selbst sich aber nach nationalem Recht richtet, sodass der zuständige Mitgliedstaat hierbei nicht an die GRCh gebunden ist. Durch die prognosebasierte Vorverlagerung des Grundrechtsschutzes auf den Überstellungsmitgliedstaat werden jedoch ebendiese nationalen Regelungen bzw. Umstände im Aufnahmemitgliedstaat am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft.560 Mithin liegt eine Ausweitung der Prüfungskompetenz der Mitgliedstaaten jenseits des Art. 51 Abs. 1 GRCh, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände im Aufnahmemitgliedstaat vorliegen, die allerdings keinen Anknüpfungspunkt zum Unionsrecht aufweisen (z.B. Lebensumstände).561 Diese Möglichkeit folgt aus Art. 2 EUV562 bzw. dem Rückschrittsverbot in Bezug auf die Unionswerte, das es den Mitgliedstaaten untersagt, das in Art. 2 EUV festgelegte Mindestniveau an Schutz für diese Werte, zu denen auch der Grundrechtsschutz gehört, zu unterschreiten.563

H. Zwischenergebnis Die im RFSR erlassenen Sekundärrechtsakte beruhen auf dem Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, eine abschließende Klarheit hinsichtlich der Reichweite des Vertrauensgrundsatzes bzw. seiner Grenzen besteht indes bislang nicht.564 Die Kontur des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des RFSR wurde in den letzten Jahren durch den EuGH erheblich ausgeformt, indem er sich zu seinem Verhältnis zum unionsrechtlichen Grundrechtsschutz in unterschiedlichen Konstellationen äußern musste.565 Auch wenn Vertrauen in die Rechtset559 Vgl. E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 122 ff.; V. Mitsilegas, YEL 31 (2012), 319 (321). 560 I. Canor, CMLRev. 50 (2013), 383 (395 f.); ähnlich A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (229). 561 Dafür plädiert bereits C. D. Classen, in: U. Becker u.a. (Hrsg.), FS Schwarze, 2014, S. 556 (569). 562 A. von Bogdandy/M. Kottmann/C. Antpöhler u.a., ZaöRV 72 (2012), 45 (67 ff.); ähnlich, jedoch ohne Bezug auf Art. 2 EUV I. Canor, CMLRev. 50 (2013), 383 (398), der Art. 4 Abs. 3 EUV heranzieht; anders E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 136, die die Vorverlagerung des Grundrechtsschutzes als Ausdehnung der Bindung des ersuchten Mitgliedstaats an die GRCh zur Vermeidung einer vorhersehbaren Grundrechtsverletzung im ersuchenden Mitgliedstaat betrachtet, dabei aber keine normative Rechtsgrundlage benennt. 563 EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 61 ff. – Repubblika. Ähnlich C. Franzius, ZaöRV 75 (2015), 383 (405); ferner unter 6. Kap., C., S. 236 f. 564 Vgl. F. Maiani/A. Miglionico, CMLRev. 57 (2020), 7 (26 ff.). 565 F.-X. Millet, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 57 (62 ff.).

114

2. Kapitel: Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

zung anderer Staaten als Grundlage für vereinfachte, teilweise auch vorbehaltlose Anerkennungsmechanismen in den einzelnen Referenzgebieten, insbesondere in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen, anerkannt wird,566 hat die EuGH-Rechtsprechung verdeutlicht, dass kein Regime blinden Vertrauens herrschen darf. Jedenfalls im RFSR wird nach dem EMRK-Beitrittsgutachten des EuGH von der Gleichwertigkeit der nationalen Rechtssysteme bzw. der Rechtspflegeorgane ausgegangen, die gleichermaßen in der Lage sind, das Unionsrecht unter Beachtung der Unionsgrundrechte umzusetzen bzw. durchzuführen. Eben dieser Gedanke begründet den normativen Gehalt des Vertrauensgrundsatzes, nämlich die Vermutung der Rechtstreue seitens der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Unionsrecht. Seine stärkste Ausprägung findet der Vertrauensgrundsatz im Bereich der zivilrechtlichen Zusammenarbeit, in welchem der EuGH Kontrollverzichte für das ersuchte Gericht aus dem Vertrauensgrundsatz ableitet, dabei aber bisher keine grundrechtlichen Grenzen anerkannt hat. Ganz anders hat sich indes die EuGH-Rechtsprechung vornehmlich hinsichtlich der Unionsgrundrechtstreue in den grundrechtssensiblen Bereichen des Strafrechts und des Asylrechts entwickelt. Der EuGH hat – trotz des von ihm ursprünglich vertretenen Vorrangs der Wirksamkeit des Unionsrechts gegenüber dem Grundrechtsschutz – den Grundrechtsschutz in seiner jüngsten Rechtsprechung als Ausnahme des Vertrauensgrundsatzes benannt und dazu einen zweistufigen Test ausgearbeitet, der durch die nationalen Gerichte umgesetzt werden muss. Dabei kann eine Grundrechtsprüfung sowohl retrospektiv, d.h. in Bezug auf in der Vergangenheit liegende Umstände, wie prospektiv, d.h. in Bezug auf in der unmittelbaren Zukunft liegende Umstände, stattfinden.567 In diesem Zusammenhang wird allein der unionale – im Gegensatz zum nationalen bzw. internationalen – Grundrechtsschutz als Grenze des Vertrauens aufgefasst,568 wobei Art. 4 GRCh und Art. 47 Abs. 2 GRCh im Mittelpunkt stehen. Dies darf indes keinesfalls die Geeignetheit anderer Unionsgrundrechte ausschließen, die Vermutungswirkung zu widerlegen und somit die ersuchte Kooperation aufzuschieben bzw. auszusetzen, wenn diese Grundrechte in ihrem Wesensgehalt angetastet werden.569 Diese Entwicklung vom Effektivitätsvorrang hin zu einer einzelfallbezogenen Prüfung durch den ersuchten Mitgliedstaat ist nicht zuletzt deswegen zu begrüßen, weil sie eine Annäherung an die entsprechende EGMR-Rechtsprechung und eine Bestätigung des Vorrangs der Unionsgrundrechte gegenüber sekundärrechtlichen Anerkennungspflichten darstellt. Die Verletzung des Rückschrittsverbots in Bezug auf die Werte des Art. 2 566 Die Existenz eines solchen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bezweifelnd C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (384, 399). 567 C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (392 ff.). 568 Vgl. J. Callewaert, ZEuS 2014, 79 (80). 569 So auch C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 414 ff., Rn. 698 ff.

H. Zwischenergebnis

115

EUV ist daher aus der Warte des Unionsrechts auch jenseits des Art. 51 Abs. 1 GRCh nicht hinnehmbar. Somit kann sich der Vertrauensgrundsatz keinesfalls nur als eine bloße, der Wirksamkeit des Unionsrechts dienende Fiktion der Grundrechtseinhaltung erweisen.570 Vor diesem Hintergrund kann bzw. soll nicht ausgeschlossen werden, dass die Widerlegung der Vertrauensvermutung auch in Bereichen, in denen der EuGH von einem quasi-blinden Vertrauensregime ausgeht (z.B. in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen) aufgrund einer Verletzung von absoluten bzw. in ihrem Wesensgehalt angetasteten Unionsrechten möglich bleibt.571

570

So auch K. Müller, ZEuS 2016, 345 (367). Ähnlich C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 413, Rn. 695. 571

3. Kapitel

Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht In der Literatur bzw. der bisherigen EuGH-Rechtsprechung wird der Schwerpunkt im Hinblick auf die Funktionsweise des Vertrauensgrundsatzes überwiegend auf die Grundfreiheiten bzw. den RFSR gelegt. Das mag den Eindruck erwecken, dass die Vermutung der Unionsrechtstreue nur in diesen Rechtsgebieten relevant ist. Der Vertrauensgrundsatz durchzieht aufgrund seines primärrechtlichen Rangs1 aber sämtliche Bereiche des Unionsrechts, sodass die Heranziehung zusätzlicher Referenzgebiete angezeigt ist. Dieses Kapitel widmet sich daher der Frage nach der Rolle und der Reichweite des Vertrauens im Bereich der durch ein hohes Maß an Zentralisierung gekennzeichneten Finanz- bzw. Bankenaufsicht und legt dabei besonderes Augenmerk auf die vertikalen und horizontalen Kooperationsbeziehungen zwischen den beteiligten europäischen und nationalen Behörden.2

A. Finanzaufsicht vor der Finanzkrise Die Liberalisierung der Finanzmärkte im – durch das Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im Jahr 1987 geschaffenen3 – Binnenmarkt hat große Herausforderungen für die laufende Finanzaufsicht über die Finanzinstitute bewirkt und das Bedürfnis nach einer engeren Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in den Vordergrund gerückt. Die herkömmliche, auf den dezentralen Verwaltungsvollzug durch die Mitgliedstaaten angewiesene Finanzaufsicht hat dabei insbesondere infolge der Finanz- und Schuldenkrise der Jahre 2008 bis 2011 schrittweise grundlegende Änderungen erfahren und wurde durch neue, unionsrechtseigene Aufsichtsmodelle erheblich umgestaltet.

1

Vgl. unter 5. Kap., A., S. 186 ff. Das Vertrauen der Anleger in die Finanzmärkte wird daher in dieser Arbeit nicht behandelt. Zu dieser Thematik P. O. Mülbert/A. Sajnovits, ZfPW 2016, 1 (2 ff.); C. Ohler, in: M. Ruffert (Hrsg.), EnzEuR, Bd. V, 2. Aufl. 2020, § 10, Rn. 15; ders., Die Verwaltung 49 (2016), 309 (317); A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 79 f. 3 Durch Art. 13 EEA wurde der gemeinsame Markt durch den Binnenmarkt abgelöst; vgl. Art. 8a EWGV und Art. 26 Abs. 2 AEUV. 2

118

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

I. Vertrauen als Grundlage des Europäischen Passes Die Aufsicht über Finanzinstitute bzw. Kreditinstitute erfolgte im Binnenmarkt ursprünglich ausschließlich auf mitgliedstaatlicher Ebene, nämlich durch die nationalen Aufsichtsbehörden. Der europäische Einfluss machte sich aber schon früh insbesondere bei grenzüberschreitend tätigen Finanzinstituten bemerkbar.4 Der damalige EWG-Vertrag beinhaltete konkret eine Spezialvorschrift,5 auf deren Grundlage die aufsichtsrechtlichen Doppelkontrollen bei grenzüberschreitender Tätigkeit der Unternehmen aufgehoben werden sollten. Hauptziel war dabei die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts (auch) für Finanzdienstleistungen,6 wobei das gegenseitige Vertrauen in die Wirksamkeit der durch einen anderen Mitgliedstaat ausgeübten Finanzaufsicht einen wesentlichen Bestandteil einer erfolgreichen grenzüberschreitenden Überwachung ausmachte.7 Zu diesem Zweck wurden zwei Richtlinien, namentlich die erste8 und die zweite9 Bankenrichtlinie, zur Verringerung materiell-rechtlicher Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen hinsichtlich der Ausübung der Grundfreiheiten durch die Kreditinstitute erlassen, deren gleichartige Umsetzung in den Mitglied-

4

A.-K. Kaufhold, Die Verwaltung 49 (2016), 339 (341); im Bereich der Bankenaufsicht H. Hirte/T. Heinrich, in: P. Derleder/K.-O. Knops/H. G. Bamberger (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, 2009, § 73, Rn. 13 ff.; T. O. Koslowski, Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde und ihre Befugnisse, 2014, S. 8 ff. 5 Art. 57 Abs. 2 EWGV lautete: „Zu dem gleichen Zweck erläßt der Rat vor dem Ende der Übergangszeit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Versammlung Richtlinien zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten. Hierbei ist Einstimmigkeit für die Sachgebiete erforderlich, die in mindestens einem Mitgliedstaat durch Gesetz geregelt sind, sowie für Maßnahmen, die sich auf den Schutz des Sparwesens, insbesondere die Gewährung von Krediten und die Ausübung einer Banktätigkeit, sowie auf die Voraussetzungen für die Ausübung der ärztlichen, arztähnlichen und pharmazeutischen Berufe in den einzelnen Mitgliedstaaten beziehen. Im Übrigen beschließt der Rat während der ersten Stufe einstimmig und danach mit qualifizierter Mehrheit.“ 6 KOM(1999) endg., S. 1 ff. 7 KOM(1999) endg., S. 15. 8 Erste Bankenrichtlinie 77/780/EWG des Rates vom 12. Dezember 1977 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, ABl. EG 1977 Nr. L 322, S. 30. 9 Zweite Bankenrichtlinie 89/646/EWG des Rates vom 15. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute und zur Änderung der Richtlinie 77/780/EWG, ABl. EG 1989 Nr. L 386, S. 1; zu den Einzelvorschriften der zweiten Bankenrichtlinie P. Bader, EuZW 1990, 117 (118 ff.). Die ihr nachfolgenden Richtlinien 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, ABl. EG 2000 Nr. L 126, S. 1 und Richtlinie 2006/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, ABl. EU 2006 Nr. L 177, S. 1 haben die Regelungen der zweiten Bankenrichtlinie kaum geändert.

A. Finanzaufsicht vor der Finanzkrise

119

staaten eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung eines einheitlichen Binnenmarkts darstellte.10 Der EuGH hat in diesem Zusammenhang im Parodi-Urteil11 betont, dass der Bankensektor einen im Hinblick auf den Verbraucherschutz besonders sensiblen Bereich darstellt, sodass etwaige Beeinträchtigungen der Dienstleistungsfreiheit durch zusätzliche nationale Regelungen unter Berufung auf zwingende Erfordernisse, zu denen auch der Verbraucherschutz zählt, im Ergebnis regelmäßig als gerechtfertigt angesehen werden.12 Das Anerkennungsprinzip wird somit in diesem Bereich – trotz seiner Verwurzelung in den Grundfreiheiten – praktisch durch sekundärrechtliche Vorschriften ins Werk gesetzt.13 Die Anforderungen für die Zulassungserteilung wurden dementsprechend durch die zweite Bankenrichtlinie angeglichen.14 Damit wurden die Marktzutrittsschranken für andere Mitgliedstaaten im Wege der schon im Cassis de Dijon-Urteil herausgearbeiteten gegenseitigen Anerkennung abgebaut.15 So wurde es den im Herkunftsmitgliedstaat16 zugelassenen Kreditinstituten anhand einer einzigen Zulassung ermöglicht, ihre Tätigkeiten in der gesamten Union durch die Einrichtung einer Zweigstelle oder im Wege der grenzüberschreitenden Dienstleistung auszuüben, ohne ein erneutes Erlaubnisverfahren zu durchlaufen. Diese für alle Mitgliedstaaten verbindliche Zulassung wurde als „Europäischer Pass“ bezeichnet17 und stellte einen typischen transnationalen Verwaltungsakt dar.18

10

P. Lutz, ZVglRWiss 2014, 496 (498). EuGH, Rs. C-222/95, Slg. 1997, I-3899 – SCI Parodi/Banque de Bary. 12 EuGH, Rs. C-222/95, Slg. 1997, I-3899, Rn. 21 f. – SCI Parodi/Banque de Bary. 13 EuGH, Rs. C-222/95, Slg. 1997, I-3899, Rn. 24 – SCI Parodi/Banque de Bary. So auch T. Roth, Die indirekte Bankenaufsicht durch die EZB, 2018, S. 56; anders C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (313), der die Pflicht zur Anerkennung in diesem Bereich ausschließlich auf die Bankenrichtlinien zurückführt. 14 Art. 3 erste Bankenrichtlinie 77/780/EWG; vgl. nunmehr Art. 33 f. Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG, ABl. EU 2013 Nr. L. 176, S. 338 (CRD-IV-Richtlinie). 15 Erwägungsgr. 4, Art. 18 zweite Bankenrichtlinie 89/646/EWG; vgl. nunmehr Art. 35 f. CRD-IV-Richtlinie; T. Roth, Die indirekte Bankenaufsicht durch die EZB, 2018, S. 56 f. 16 Der Herkunftsmitgliedstaat ist der Mitgliedstaat, in dem sich der Sitz des Unternehmens befindet, so Art. 3 erste Bankenrichtlinie 77/780/EWG; Erwägungsgr. 8 zweite Bankenrichtlinie 89/646/EWG; vgl. nunmehr Art. 13 Abs. 2 CRD-IV-Richtlinie. 17 Vgl. Erwägungsgr. 15 CRD-IV-Richtlinie; J. H. Dalhuisen, EBLR 11 (2000), 373 (376 f.); N. Moloney, CMLRev. 40 (2003), 809 (810); C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (313); C. Ohler, in: P. Derleder/K.-O. Knops/H. G. Bamberger (Hrsg.), Deutsches und europäisches Bank- und Kapitalmarktrecht, Bd. II, 3. Aufl. 2017, § 90, Rn. 11; M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 146; P.-H. Verdier, HILJ 52 (2011), 56 (73). 18 C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (313); F. Schwetz, Grenzüberschreitende Verwaltungsakte, 2021, S. 61. Zum Begriff „transnationaler Verwaltungsakt“ s. 4 Kap., E. III, S. 180 f. 11

120

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Neben der Ausstellung des Europäischen Passes waren die Aufsichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats mit der laufenden Aufsicht über die grenzüberschreitend tätigen Kreditinstitute und ihre in anderen Mitgliedstaaten errichteten Zweigstellen beauftragt.19 Für rechtlich selbständige Tochterunternehmen, für die eine separate Zulassung erforderlich war, war jedoch der Mitgliedstaat ihrer Ansiedlung für die Aufsicht zuständig.20 Aus integrationsrechtlicher Perspektive wurden durch diese Zuständigkeitsverlagerung21 der Aufsichtspflichten auf die Herkunftsbehörde etwaige Doppelkontrollen bzw. Doppelbelastungen vermieden22 und wurde ein einheitlicher Rahmen geschaffen, innerhalb dessen die Aufsicht über grenzüberschreitende Tätigkeiten im Interesse der gesamten Union geregelt wurde. Rechtspolitisch rechtfertigt sich die Entscheidung für die Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats aus der Tatsache, dass die Aufsichtspflichten bzw. Aufsichtsinstrumente dort am effektivsten umgesetzt werden können,23 was allerdings Risiken für den Aufnahmemitgliedstaat birgt.24 Aus diesem Grund war der Aufnahmemitgliedstaat von der laufenden Aufsicht über die Zweigstellen nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern ihm wurden eingeschränkte Kontroll- bzw. Eingriffsbefugnisse gegenüber dem betreffenden Kreditinstitut, wie zum Beispiel die Berichterstattung über seine Tätigkeiten, zugewiesen.25 Die Pflicht zur (automatischen) Anerkennung des Europäischen Passes durch den Aufnahmemitgliedstaat rückt als dessen Grundlage den Vertrauensgrundsatz auch im Bereich der Finanzaufsicht in den Vordergrund. Die Verteilung der Aufsichtsbefugnisse unter den zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden beruht (implizit) auf der Annahme der Gleichwertigkeit der nationalen Aufsichtssysteme sowie der rechtskonformen Umsetzung bzw. Anwendung der Unionsvorschriften im gemeinsamen europäischen Interesse26 in den Mitgliedstaaten.27 Dabei müssen sich die Mitgliedstaaten dahingehend Vertrauen entgegenbringen, dass die zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden gleichermaßen in der Lage sind, ihre Aufsichtsaufgaben unter Wahrung des Unionsrechts effektiv wahrzu-

19 Art. 13 Abs. 2 und 18 Abs. 2 zweite Bankenrichtlinie 89/646/EWG; C. Ohler, in: P. Derleder/K.-O. Knops/H. G. Bamberger (Hrsg.), Deutsches und europäisches Bank- und Kapitalmarktrecht, Bd. II, 3. Aufl. 2017, § 90, Rn. 14; P. Royla, Grenzüberschreitende Finanzmarktaufsicht, 2000, S. 41 f. 20 Art. 6 zweite Bankenrichtlinie 89/646/EWG; skeptisch T. Tröger, TILJ 48 (2013), 177 (215 f.). 21 A. K. Schnyder, Europaisches Banken-und Versicherungsrecht, 2005, Rn. 116. 22 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 73. 23 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 73. 24 N. Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht in der EU, 2015, S. 212. 25 Erwägungsgr. 15, 22 zweite Bankenrichtlinie 89/646/EWG. 26 Vgl. Art. 7 CRD-IV-Richtlinie. 27 Ähnlich P. Bader, EuZW 1990, 117 (118); N. Kohtamäki, Die Reform der Bankenaufsicht, 2012, S. 60; vgl. aber C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (317), der Vertrauen als ein „außerrechtliches sozialpsychologisches Phänomen“ betrachtet und deswegen seine Verortung im Recht ablehnt.

A. Finanzaufsicht vor der Finanzkrise

121

nehmen. Darauf hatte die Kommission bereits in ihrem Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarkts im Jahr 198528 hingewiesen und sodann die Angleichung von materiell-rechtlichen Anforderungen durch die Bankenrichtlinien vorangetrieben.

II. Das Lamfalussy-Verfahren In ihrem Aktionsplan für Finanzdienstleistungen aus dem Jahre 199929 hat die Kommission das gegenseitige Vertrauen in die Wirksamkeit der Finanzaufsicht und der Regulierung in den Mitgliedstaaten sowie deren effektive Zusammenarbeit als einen wesentlichen Bestandteil der erfolgreichen grenzüberschreitenden Überwachung hervorgehoben.30 In Anlehnung daran hat der ECOFIN-Rat einen „Ausschuss der Weisen“ im Sinne eines speziellen Komitologieverfahrens31 unter dem Vorsitz von Alexandre Lamfalussy mit dem Auftrag eingesetzt, Vorschläge für eine wirksame und effiziente Gesetzgebung und Zusammenarbeit im Bereich der Finanzaufsicht zu erarbeiten. Die Regulierung der Finanzmärkte sollte nach dem Lamfalussy-Verfahren auf vier Ebenen erfolgen:32 Erstens sollte der Unionsgesetzgeber „Rahmenrichtlinien“33 nach dem hier einschlägigen Mitentscheidungsverfahren gemäß Art. 251 EGV34 verabschieden35 und sodann zweitens die Kommission mithilfe der Komitologieausschüsse36 delegierte 28

KOM(85) 310 endg., S. 25, Rn. 93 und S. 27, Rn. 104. KOM(1999) 232 endg. 30 KOM(1999) 232 endg., S. 15. 31 Schlussbericht des Ausschusses der Weisen über die Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte vom 15.02.2001. Die Komitologie beruhte bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf ex-Art. 202 EGV sowie den Beschlüssen des Rates 87/373/EWG, 1999/468/EG und 2006/512/EG zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse. Näher zum Lamfalussy-Verfahren E. Gören, SSM, 2019, S. 55 ff.; M. Lutter/W. Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmensund Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2018, § 14, Rn. 42 ff.; D. Kolassa, in: H. Schimansky/H.-J. Bunte/H.-J. Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-HdB, 5. Aufl. 2017, § 135, Rn. 45 ff.; M. Rötting/C. Lang, EuZW 2012, 8 (8 ff.); K. U. Schmolke, EuR 2006, 432 (433 ff.); allgemein zur Komitologie-Praxis S. Augsberg, in: J. P. Terhechte (Hrsg.), EU-Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2022, § 6, Rn. 68. 32 Vgl. R. M. Lastra, International Financial and Monetary Law, 2. Aufl. 2015, S. 388, die hier den Vorzug eines bottom-up-Ansatzes sieht. 33 Englisch: Framework principles. 34 Vgl. den heutigen Art. 288 Abs. 3 AEUV. 35 Schlussbericht des Ausschusses der Weisen über die Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte vom 15.02.2001, S. 29 ff. 36 Zu diesem Zweck wurden zwei Ausschüsse gebildet, nämlich der EU-Bankenausschuss (European Banking Committee, EBC), errichtet durch den Beschluss der Kommission vom 05. November 2003 zur Einsetzung des Europäischen Bankenausschusses, ABl. EU 2004 Nr. L 3, S. 36, und der Ausschuss der EU-Bankaufsichtsbehörden (Committee of European Banking Supervisors, CEBS), errichtet durch den Beschluss der Kommission vom 05. November 2003 zur Einsetzung des Ausschusses der europäischen Bankaufsichtsbehörden, ABl. EU 2004 Nr. L 3, S. 28. 29

122

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Rechtsakte bzw. Durchführungsrechtsakte zu den technischen Einzelheiten erlassen.37 Die dritte Ebene diente der Umsetzung der erlassenen Regelungen und der Gewährleistung ihrer einheitlichen Anwendung in allen Mitgliedstaaten.38 In diesem Kontext sollten die nationalen Aufsichtsbehörden in Ausschüssen (zusammengesetzt aus ihren Vertretern) unverbindliche Leitlinien erarbeiten und Informationen hinsichtlich der grenzüberschreitend tätigen Finanzinstitute austauschen. Die vierte und letzte Ebene betraf die Rechtsüberwachung und Durchsetzung der europäischen Regelungen durch die Kommission, gegebenenfalls durch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens.39 Im Lamfalussy-Verfahren bestanden allerdings kaum Mechanismen für eine horizontale Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten, die für eine effektive Durchsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben von großer Bedeutung sind.40

III. Der De Larosie`re-Bericht Die Schwächen des Lamfalussy-Verfahrens haben sich mit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 und der daraus folgenden Insolvenz zahlreicher Finanzinstitute gezeigt.41 Aus diesem Anlass hat sich die EU bemüht, mit Hilfe einer Expertengruppe unter Vorsitz von Jacques de Larosie`re einen Bericht über die Ursachen der Finanzkrise und die bisherigen Schwachstellen des europäischen Aufsichtsmodells zu erstellen sowie Empfehlungen zu ihrer Beseitigung herauszuarbeiten.42 Dabei wurden das mangelnde gegenseitige Vertrauen, die fehlenden Mechanismen gestärkter horizontaler Zusammenarbeit bei der Beaufsichtigung von Finanzinstituten sowie die unkoordinierten Handlungsmöglichkeiten der nationalen Behörden als Hauptfaktoren des Misserfolgs herausgestellt.43 Das bisherige Aufsichtsmodell habe sich ausschließlich auf die Aufsicht auf der Mikroebene beschränkt, nämlich auf die Stabilität eines einzelnen Finanzinstituts, ohne dabei auf seine Stellung als Teil eines größeren wirtschaftlichen Zusam-

37

Schlussbericht des Ausschusses der Weisen über die Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte vom 15.02.2001, S. 30 ff. 38 Schlussbericht des Ausschusses der Weisen über die Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte vom 15.02.2001, S. 46 ff. 39 Schlussbericht des Ausschusses der Weisen über die Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte vom 15.02.2001, S. 49. 40 N. Kohtamäki, Die Reform der Bankenaufsicht, 2012, S. 92 ff.; N. Moloney, CMLRev. 40 (2003), 809 (817); A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 68. 41 N. Moloney, CMLRev. 47 (2010), 1317 (1319). 42 Ferner N. Moloney, CMLRev. 51 (2014), 1609 (1619 ff.). 43 The high-level group on financial supervision in the EU (De Larosie`re report), 25 February 2009, abrufbar unter https://ec.europa.eu/economy finance/publications/pages/publi cation14527 en.pdf, S. 41, Rn. 159 f.

B. Finanzaufsicht nach der Finanzkrise

123

menhangs Rücksicht zu nehmen.44 Aufgrund der Verflechtung der wirtschaftlichen Geschäfte und der Banken- bzw. Kapitalmärkte müsse die Aufsicht hinsichtlich systemischer Risiken vielmehr präventiv wirken, sodass die durch den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems ausgelösten Auswirkungen wirtschaftlich gesunde Finanzinstitute nicht in Gefahr bringen.45 Vor diesem Hintergrund sollte das Unionsrecht den Schwerpunkt nicht mehr auf die Liberalisierung der Finanzmärkte im einheitlichen Binnenmarkt setzen, sondern die Vorbeugung gegen systemische Risiken bzw. deren Bewältigung und die Gewährleistung der Stabilität des Finanzsystems zu ihrer Zielsetzung erheben.46

B. Finanzaufsicht nach der Finanzkrise: Das Europäische System der Finanzaufsicht (ESFS) Der Unionsgesetzgeber hat das bisherige dezentrale Finanzaufsichtsmodell nach Maßgaben des De Larosie`re-Berichts grundlegend umgestaltet und im Jahre 2010 das Europäische System der Finanzaufsicht (ESFS) eingeführt.47 Aus primärrechtlicher Perspektive entspricht diese Entwicklung einem dynamischen Verständnis der materiellen Gesetzgebungszuständigkeiten, die gegebenenfalls die Grundlage für die Organisationsgewalt im Unionsgefüge bilden.48 Das ESFS stellt ein Aufsichtsmodell dar, das in drei sektorspezifischen EU-Agenturen 44

The high-level group on financial supervision in the EU (De Larosie`re report), 25 February 2009, abrufbar unter https://ec.europa.eu/economy finance/publications/pages/publi cation14527 en.pdf, S. 10, Rn. 25 f. 45 The high-level group on financial supervision in the EU (De Larosie`re report), 25 February 2009, abrufbar unter https://ec.europa.eu/economy finance/publications/pages/publi cation14527 en.pdf, S. 38, Rn. 145 ff. 46 The high-level group on financial supervision in the EU (De Larosie`re report), 25 February 2009, abrufbar unter https://ec.europa.eu/economy finance/publications/pages/publi cation14527 en.pdf, S. 44, Rn. 173 ff.; R.M. Lastra, International Financial and Monetary Law, 2015, S. 386, 389; C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 113; ders. Die Verwaltung 49 (2016), 309 (311); zum Wandel zur Systemaufsicht A.-K. Kaufhold, Die Verwaltung 46 (2013), 21 (24 ff.); A. Thiele, in: C. Manger-Nestler/L. Gramlich (Hrsg.), Kontinuität und Wandel bei europäisierten Aufsichts- und Regulierungsstrukturen, 2016, S. 125 (128 ff.); zu den Begriff Systemaufsicht und Systemrisiken A.-K. Kaufhold, Systemaufsicht, 2016. 47 Allgemein zur historischen Entwicklung des ESFS A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 494 ff.; einen Überblick zum ESFS bieten M. Lehmann/C. Manger-Nestler, ZBB 2011, 2 (3 ff.). Zur verbleibenden Rolle der nationalen Aufsichtsbehörden angesichts der Institutionalisierung durch das ESFS am Beispiel von Italien F. Cacciatore, EJRR 10 (2019), 502 (505 ff.), die auf Grundlage einer empirischen Analyse zu dem Ergebnis kommt, dass die Bereitwilligkeit der nationalen Aufsichtsbehörden, ihre Organisationsstruktur abzuändern bzw. Teil ihrer Befugnisse supranationalen Einrichtungen zu überlassen, davon abhängt, ob die betroffene Unionseinrichtung direkt durch die Verträge legitimiert ist oder sie eher (nur) über delegierte Befugnisse verfügt. 48 C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (325).

124

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

(ESAs49), namentlich der Europäischen Bankaufsichtsbehörde50 (EBA51), der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde52 (ESMA53) und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung54 (EIOPA55), sowie den nationalen Aufsichtsbehörden und dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (ESRB56) seine organisatorische Grundlage findet.57 Die ESAs sind zusammen mit den nationalen Aufsichtsbehörden für die mikroprudenzielle Aufsicht58 zuständig, während die makroprudenzielle Aufsicht59 dem der EZB angegliederten ESRB obliegt. Gegenstand der folgenden Untersuchung ist das Aufsichtsmodell auf Mikroebene, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Rolle des Vertrauens als Grundlage der Zusammenarbeit zwischen den ESAs und den nationalen Behörden sowie den nationalen Aufsichtsbehörden untereinander. Um auf die einzelnen Kooperationsbeziehungen eingehen zu können, ist zunächst eine kurze Darstellung der Struktur des ESFS angezeigt.

I. Europäische Aufsichtsbehörden Die Errichtung der ESAs markiert den Aufbau des europäischen sektoriellen Aufsichtssystems, in dessen Rahmen diese Aufsichtsaufgaben über die nationale 49

European Supervisory Authorities. Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/78/EG der Kommission, ABl. EU 2010 Nr. L 331, S. 12 (EBA-Verordnung). 51 European Banking Authority. 52 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/77/EG der Kommission, ABl. EU 2010 Nr. L 331, S. 84. 53 European Securities Markets Authority. 54 Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/79/EG der Kommission, ABl. EU 2010 Nr. L 331, S. 48. 55 European Insurance and Occupational Pensions Authority. 56 European Systemic Risk Board; Verordnung (EU) Nr. 1092/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über die Finanzaufsicht der Europäischen Union auf Makroebene und zur Errichtung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken, ABl. EU 2010 Nr. L 331, S. 1. 57 Art. 1 Verordnung (EU) Nr. 1092/2010. 58 Die mikroprudenzielle Aufsicht beinhaltet die Überwachung einzelner Institute. 59 Die makroprudenzielle Aufsicht besteht in der Überwachung des Finanzsystems als Ganzes. 50

B. Finanzaufsicht nach der Finanzkrise

125

Aufsicht im Sinne einer Oberaufsicht wahrnehmen.60 Die drei ESAs sind EUEinrichtungen mit eigenem Haushalt61 und eigener Rechtspersönlichkeit, die in den Mitgliedstaaten Rechtsfähigkeit genießen62 und eine im Wesentlichen identische Organisationsstruktur mit fast gleichen Aufgaben und Befugnissen aufweisen.63 1. Institutionelle Struktur Der Rat der Aufseher bildet das Hauptorgan der ESAs und setzt sich aus dem Vorsitzenden, den Leitern der jeweils zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden und jeweils einem Vertreter der Kommission, der EZB,64 des ESRB und der jeweils beiden anderen ESAs zusammen.65 Der Rat fasst alle Entscheidungen und erlässt alle Beschlüsse, übt die Regulierungsbefugnisse aus66 und gibt die Leitlinien für die Arbeiten der ESAs vor, stimmberechtigt sind allerdings zur Wahrung der nationalen Interessen67 ausschließlich die nationalen Vertreter der Aufsichtsbehörden.68 Darüber hinaus verfügen die ESAs über einen Verwaltungsrat, der die Ausführung ihrer Aufträge sowie die Wahrnehmung der ihnen sekundärrechtlich zugewiesenen Aufgaben gewährleisten soll.69 Zwischen den drei ESAs ist zudem ein Informations- bzw. Kooperationskanal im Wege eines aus den jeweiligen Vorsitzenden der ESAs zusammengesetzten gemeinsamen Ausschusses vorgesehen, der der sektorübergreifenden Abstimmung dient.70 Sämtliche Mitglieder aller Organe der ESAs genießen Unabhängigkeit in dreifacher Hinsicht: Sie handeln allein im Interesse der Union weisungsfrei von anderen EUOrganen bzw. EU-Einrichtungen, von den mitgliedstaatlichen Regierungen sowie von sonstigen öffentlichen oder privaten Stellen.71

60

Ähnlich J. A. Kämmerer, NVwZ 2011, 1281 (1287). Art. 62 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 62 Art. 5 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 63 J. A. Kämmerer, NVwZ 2011, 1281 (1282 ff.); N. Kohtamäki, Die Reform der Bankenaufsicht, 2012, S. 146; C. Ohler, in: M. Ruffert (Hrsg.), EnzEuR, Bd. V, 2. Aufl. 2020, § 10, Rn. 105, 114 ff.; ders. Die Verwaltung 49 (2016), 309 (326 ff.); A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 505 ff.; A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 72. 64 Das ist nur bei der EBA der Fall, vgl. Art. 40 Abs. 1 lit. d) EBA-Verordnung. 65 Art. 40 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 66 Art. 43 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 67 So auch J. A. Kämmerer, NVwZ 2011, 1281 (1287); C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (326); A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 506. 68 Art. 44 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 69 Art. 45 ff. Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 70 Art. 54 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 71 Art. 42, 46, 49 und 52 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. Aufgrund der Zusammensetzung des Rates der Aufseher verbleibt jedoch eine „gewisse Rückkopplung an die Interessen der Mitgliedstaaten“, vgl. F. Walla, in: R. Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2014, § 11, Rn. 44; ähnlich M. Lehmann/C. Manger-Nestler, EuZW 2010, 87 (89). 61

126

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Die vertikale institutionelle Verflechtung, d.h. die Einbindung der europäischen und der nationalen Ebene im Rat der Aufseher, dient der Vertrauensstärkung zwischen den beteiligten Aufsichtsbehörden. Denn einerseits bleiben die nationalen Aufsichtsbehörden zuständig für die laufende Aufsicht über die Finanzinstitute und können dabei ihre jahrelange Erfahrung zum Einsatz bringen, andererseits sind sie im Rat der Aufseher vertreten. Die Vertretung aller nationalen Behörden in einem europäischen Gremium ermöglicht die Kenntnisnahme der Aufsichtspraxis der anderen Aufsichtsbehörden und den Aufbau von Vertrauen in die Aufgabenwahrnehmung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Sollte dabei die Aufsichtspraxis in einem Mitgliedstaat Defizite aufweisen, kann die zuständige ESA ihre Regulierungsbefugnisse zur Herstellung von Konvergenz unter den unterschiedlichen nationalen Aufsichtsmodellen in Anspruch nehmen. 2. Aufgaben und Regulierungsbefugnisse Die Hauptaufgabe der ESAs liegt in der Gewährleistung der Stabilität und Effektivität des Finanzsystems.72 Zu diesem Zweck werden den ESAs gewisse Aufgaben bzw. Befugnisse zuerkannt: Sie bereiten Entwürfe für gemeinsame technische Regulierungs-73 und Durchführungsstandards74 vor, die dann die Kommission gemäß Art. 290 und Art. 291 Abs. 2 AEUV erlassen kann, erlassen selbst unverbindliche Leitlinien und Empfehlungen, tragen zur kohärenten Anwendung der verbindlichen Rechtsakte der Union bei, überwachen die Marktentwicklungen und sollen eine gemeinsame Aufsichtskultur schaffen.75 Von besonderer Bedeutung sind dabei die unverbindlichen Leitlinien und Empfehlungen,76 die eine indirekte Rechtswirkung dadurch entfalten, dass die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Anstrengungen unternehmen müssen, um diesen Leitlinien nachzukommen, und dass sie bei Nichtbefolgung der Leitlinien ihren Standpunkt begründen müssen.77 Darüber hinaus wird den ESAs unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise die Befugnis zum Erlass von verbindlichen Beschlüssen gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden zugesprochen.78 Die ESAs übernehmen in-

72

Vgl. Art. 1 Abs. 5 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. Art. 10 ff. Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 74 Art. 15 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 75 Art. 8 f. Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 76 EuGH, Rs. C-911/19, ECLI:EU:C:2021:599, Rn. 45 – FBF. 77 Art. 1 Abs. 3 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010; EuGH, Rs. C-911/19, ECLI: EU:C:2021:599, Rn. 69 – FBF. N. Kohtamäki, Die Reform der Bankenaufsicht, 2012, S. 183 bezeichnet dies als Prinzip „Handeln oder Rechtfertigen“. 78 Über die für alle ESAs gemeinsamen Befugnisse hinaus verfügt die ESMA über zwei zusätzliche Befugnisse, nämlich die Aufsicht über Ratingagenturen direkt auszuüben (Art. 21 ff. Verordnung (EU) Nr. 1060/2009, ABl. EU 2009 Nr. L 302, S. 1) und durch Beschluss Handelsverbote für Leerverkäufe auszusprechen (Art. 28 Verordnung (EU) Nr. 936/2012, ABl. EU 2012 Nr. L 86, S. 1). 73

B. Finanzaufsicht nach der Finanzkrise

127

sofern die Rechtsaufsicht, als sie etwaige Verstöße gegen das Unionsrecht durch die nationalen Behörden abstellen bzw. die einheitliche Anwendung der Aufsichtsregelungen gewährleisten.79 Wenn die nationalen Aufsichtsbehörden den Empfehlungen der jeweiligen ESA80 oder sogar einer diesbezüglichen Stellungnahme der Kommission81 zur Einhaltung des Unionsrechts nicht nachkommen, ist die zuständige ESA befugt, unbeschadet der Befugnisse der Kommission nach Art. 258 AEUV verbindliche Beschlüsse zur Einhaltung des Unionsrechts direkt an die beaufsichtigten Finanzinstitute zu richten.82 Daneben sind die ESAs bei Feststellung einer Krisensituation durch den Rat der EU, nämlich im Fall von ungünstigen Entwicklungen, die das ordnungsgemäße Funktionieren und die Integrität von Finanzmärkten oder die Stabilität des Finanzsystems in der Union als Ganzes oder in Teilen ernsthaft gefährden könnten,83 befugt, verbindliche Beschlüsse zur Wiederherstellung der Stabilität des Finanzsystems an die nationalen Stellen und im Fall von deren Untätigkeit auch direkt an die beaufsichtigten Finanzinstitute zu richten.84 Den für diese Fälle vorgesehenen verbindlichen Beschlüssen wird Vorrang vor allen von den zuständigen Behörden in gleicher Sache erlassenen früheren Beschlüssen eingeräumt.85 Schließlich richten die ESAs Beschlüsse im Falle von Meinungsverschiedenheiten zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden zum einen an die betreffenden Aufsichtsbehörden, um den Streitpunkt zu klären, zum anderen direkt an die beaufsichtigten Finanzinstitute, wenn es den ESAs nicht gelingt, die Meinungsverschiedenheiten in ihrer Rolle als Vermittler beizulegen.86 Angesichts der Tatsache, dass den ESAs grundsätzlich keine unmittelbaren Aufsichtsaufgaben gegenüber den beteiligten Finanzinstituten zukommen, fungieren sie weniger als rein europäische Institutionen,87 sondern eher als Kontrollbzw. Koordinierungsgremien der nationalen Aufsichtsbehörden.88 Als solche pflegen sie das Vertrauensklima zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden, indem sie die (Nicht-)Einhaltung des Unionsrechts durch die nationalen Stellen überwachen und bei Krisenfällen tätig werden. Diese – wenngleich begrenzten – Kontrollbefugnisse der ESAs sollen das unionsrechtskonforme Handeln der nationalen Aufsichtsbehörden sowie die effektive Wahrnehmung der aufsichtsrechtlichen Aufgaben sicherstellen. In diesem Sinne übernehmen die ESAs teilweise die Rolle der Kommission als Hüterin der Verträge, sind aber dabei für die 79

Art. 17 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. Art. 17 Abs. 2 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 81 Art. 17 Abs. 4 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 82 Art. 17 Abs. 6 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 83 Art. 18 Abs. 1 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 84 Art. 18 Abs. 4 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 85 Art. 17 Abs. 7 und Art. 18 Abs. 5 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 86 Art. 19 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 87 C. V. Gortsos, in: M. Andenas/G. Deipenbrock (Hrsg.), European Financial Markets, 2016, S. 277 (279). 88 U. Reifner, VuR 2011, 410 (410); A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 507, 510. 80

128

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Ausübung ihrer Eingriffsbefugnisse von der vorherigen förmlichen Beteiligung der Kommission abhängig.89 Die Vertrauensstärkung zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden erfolgt im Wege des durch die ESAs koordinierten bi- und multilateralen Informationsaustausches, der eine unabdingbare Voraussetzung für die vertrauensbasierte Zusammenarbeit und Kontrolle innerhalb eines Mehrebenensystems darstellt.90 Den ESAs steht nämlich die Befugnis zu, alle Informationen von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten einzuholen, die sie zur Wahrnehmung der Aufgaben benötigen,91 sowie bei den Aufsichtskollegien in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden alle relevanten Informationen zur Erleichterung von deren Tätigkeiten zu erfassen und auszutauschen.92 Der ständige Informationsfluss ist außerdem geeignet, eine gemeinsame Aufsichtskultur und eine Kohärenz der Aufsichtspraktiken zu schaffen, was eine Kernaufgabe der ESAs darstellt.93 Zur Koordination sind sie insbesondere mit der Aufgabe beauftragt, den Umfang der Informationen zu bestimmen, gegebenenfalls deren Zuverlässigkeit zu überprüfen und sodann diese Informationen zu zentralisieren, damit sie allen nationalen Behörden zur Verfügung stehen.94 Diese einzigartigen, vertikalen Kooperationsmechanismen vermögen in erheblichem Maße die Effizienz des ESFS zu gewährleisten.95

II. Nationale Aufsichtsbehörden als Hauptakteure Ungeachtet der den ESAs zugesprochenen Befugnisse verbleiben die nationalen Aufsichtsbehörden nach der Errichtung des ESFS weiterhin die maßgeblichen Akteure.96 Indem ihnen die Ausübung der täglichen Aufsichtsaufgaben vorbehalten ist, tragen sie die grundsätzliche Verantwortung für das ordnungsgemäße Funktionieren des europäischen Finanzsystems sowie die Vermeidung von Krisensituationen.97 Dabei sind nach dem Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie allein die Mitgliedstaaten für die Entscheidung über das bevorzugte Aufsichtsmodell zuständig,98 wobei sie entsprechend dem Loyalitätsgrundsatz vertrauensvoll und in uneingeschränktem gegenseitigem Respekt mit den 89

A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 510 bezeichnet die ESAs als Hilfsorgane der Kommission. 90 Dazu ferner unter 5. Kap., D. II., S. 217 f. 91 Art. 35 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 92 Art. 21 Abs. 2 lit. a) Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 93 Art. 29 Abs. 1 lit. b) und Art. 31 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 94 Art. 31 Abs. 2 lit. a), b) und f) Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 95 A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 161. 96 A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 513. 97 N. Kohtamäki, Die Reform der Bankenaufsicht, 2012, S. 65; M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 145; A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 529. 98 Zu den unterschiedlichen Aufsichtsmodellen C. Buttigieg, ERA Forum 15 (2014), 197 (215 ff.).

B. Finanzaufsicht nach der Finanzkrise

129

anderen Teilnehmern am ESFS zusammenarbeiten und insbesondere die Weitergabe von angemessenen und zuverlässigen Informationen untereinander sicherstellen müssen.99 Ein institutionell abgesichertes Gremium, bei dem die verlässliche Weitergabe von solchen Informationen erfolgen könnte, ist in den entsprechenden Verordnungen bislang allerdings nicht vorgesehen. 1. Europäischer Pass und Vertrauen Die Errichtung des ESFS hat die Grundstruktur der Ausübung der Niederlassungs- bzw. Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Finanzinstitute nicht berührt, sodass die Umsetzung des Europäischen Passes weiterhin vom gegenseitigen Vertrauen zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden abhängt.100 Die Richtlinie 2014/65/EU über Wertpapierdienstleistungen101 schreibt dabei konkrete Regelungen hinsichtlich des Markteintritts der Finanzinstitute, des Europäischen Passes sowie der laufenden Beaufsichtigung der Finanzinstitute vor.102 Zunächst ist für die Erbringung von Wertpapierdienstleistungen durch ein Finanzinstitut eine vorherige Zulassung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats erforderlich,103 wobei die zuständige nationale Behörde überprüft, ob der Antragsteller die nationalen bzw. unionsrechtlichen Anforderungen erfüllt.104 Wird dem Antragsteller eine Zulassung erteilt, gilt diese in der gesamten Union. Das Finanzinstitut kann in allen anderen Mitgliedstaaten seine Dienstleistungen ungehindert erbringen105 und/oder Zweigniederlassungen errichten, ohne dass der Aufnahmemitgliedstaat insoweit zusätzliche Anforderungen stellen darf.106 Als einzige verfahrensrechtliche Voraussetzung ist die vorherige Mitteilung an die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats über das grenzüberschreitende Tätigwerden des Finanzinstituts festgeschrieben.107 Die Aufsichtsbehörde des Herkunftsmitgliedstaats übermittelt sodann die eingeholten Angaben der zuständigen Behörde des Aufnahmemitgliedstaats und teilt diese der betreffenden Wertpapierfirma mit.108 Konsequenterweise ist dem Herkunftsmitgliedstaat die 99

Art. 2 Abs. 4 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. So auch C. Buttigieg, ERA Forum 18 (2017), 41 (43). 101 Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (Neufassung), ABl. EU 2014 Nr. L 173, S. 349 (MiFID-II-Richtlinie). Die MiFID-II-Richtlinie vermag eine künftige Finanzkrise zu vermeiden, so M. D. Repiquet, MJ 26 (2019), 833 (840 ff.). 102 Ähnliche Regelungen sind auch von der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 vorgesehen betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (Neufassung), ABl. EU 2009 Nr. L 335, S. 1, Art. 14 ff. und Art. 145 ff. a.F. 103 Art. 5 Abs. 1 MiFID-II-Richtlinie. 104 Art. 7 MiFID-II-Richtlinie. 105 Art. 6 Abs. 3 i.V.m. Art. 34 Abs. 1 MiFID-II-Richtlinie. 106 Art. 6 Abs. 3 i.V.m. Art. 35 Abs. 1 MiFID-II-Richtlinie. 107 Art. 34 Abs. 2 und Art. 35 Abs. 2 MiFID-II-Richtlinie. 108 Art. 34 Abs. 3 und Art. 35 Abs. 3 MiFID-II-Richtlinie. 100

130

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Befugnis vorbehalten, einem Finanzinstitut die erteilte Zulassung zu entziehen. Dies ist insbesondere zu verlangen, wenn das Finanzinstitut die Zulassung aufgrund falscher Erklärungen oder auf sonstige rechtswidrige Weise erhalten hat; die unionsrechtlich vorgesehenen Voraussetzungen, auf denen die Zulassung beruht, nicht mehr erfüllt; gegen die Bestimmungen zur Durchführung des anwendbaren Unionsrechts in schwerwiegender Weise systematisch verstoßen hat oder einen der Fälle erfüllt, in denen das nationale Recht den Entzug vorsieht.109 Die laufende Aufsicht über das unionsweit tätige Finanzinstitut obliegt dem Herkunftsmitgliedstaat.110 Dem Aufnahmemitgliedstaat sind aber aus Effektivitäts- bzw. Effizienzgründen begrenzte Befugnisse gegenüber den in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Instituten eingeräumt,111 die insbesondere zum Tragen kommen, wenn klare und nachweisliche Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, dass eine in ihrem Hoheitsgebiet tätige Firma unionsrechtswidrig handelt. Zunächst ist die Mitteilung solcher Erkenntnisse an den Herkunftsmitgliedstaat erforderlich, der alle geeigneten Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtskonformität ergreifen muss.112 Bei Untätigkeit des Herkunftsmitgliedstaats bzw. Unzulänglichkeit der eingeleiteten Maßnahmen ergreifen die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats alle erforderlichen Maßnahmen zur Sicherstellung des ordnungsgemäßen Funktionierens des Markts.113 Zudem können sie die ESMA in ihrer Eigenschaft als Vermittlerin mit der Angelegenheit befassen.114 Das Vertrauen zwischen den Aufsichtsbehörden in die ordnungsgemäße Anwendung des Unionsrechts wird durch unterschiedliche Kontrollstufen abgesichert: Die Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Tätigkeiten durch die Finanzinstitute sind neben dem Zulassungsverfahren anhand des Zulassungsentzugsverfahrens stets überprüfbar. Dazu dienen die den Aufnahmemitgliedstaaten zugewiesenen Kontrollbefugnisse der Umsetzung des Anerkennungsprinzips und der Durchsetzung des Vertrauensgrundsatzes, indem die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats eine etwaige unzureichende Handhabung durch den Herkunftsmitgliedstaat nicht hinnehmen müssen, sondern gegebenenfalls unter Inanspruchnahme der supranationalen Agentur auf das rechtswidrige Handeln des Finanzinstituts unmittelbar reagieren können. Ein solches „Sicherheitsventil“ verstärkt die Bereitwilligkeit des Aufnahmemitgliedstaats, den Europäischen Pass in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen.115

109

Art. 8 MiFID-II-Richtlinie. S. Erwägungsgr. 90 und Art. 69 MiFID-II-Richtlinie. 111 Art. 85 Abs. 2 MiFID-II-Richtlinie. 112 Art. 86 Abs. 1 S. 1 MiFID-II-Richtlinie. 113 Art. 86 Abs. 1 S. 2 lit. a) MiFID-II-Richtlinie. 114 Art. 86 Abs. 1 S. 2 lit. b) MiFID-II-Richtlinie i.V.m. Art. 19 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010. 115 Zur Widerlegbarkeit des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des Europäischen Passes vgl. unter 3. Kap., E., S. 155 ff. 110

B. Finanzaufsicht nach der Finanzkrise

131

2. Vertrauensstärkung durch Kooperation Zur Gewährleistung der Wirksamkeit der Finanzaufsicht und der kohärenten und einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie der Konvergenz der unterschiedlichen Aufsichtspraxen wird die horizontale und vertikale Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Aufsichtsbehörden angeordnet.116 Das Fehlen solcher verstärkter Kooperationsmechanismen auf institutioneller Ebene bei der rein national gesteuerten Finanzaufsicht wurde als Hauptgrund der Finanzkrise ausgemacht.117 Die MiFID-II-Richtlinie konkretisiert in dieser Hinsicht den in Art. 4 Abs. 3 EUV primärrechtlich verankerten Loyalitätsgrundsatz und sieht explizit vor, dass alle zuständigen Behörden untereinander Amtshilfe leisten, insbesondere bei Ermittlungen, Überwachungen oder Einziehung von Geldbußen. Insbesondere die Behörden des Herkunfts- und Aufnahmemitgliedstaats können in enger Zusammenarbeit eine Überwachung, eine Überprüfung vor Ort oder eine Ermittlung ersuchen,118 wobei die zuständige ESA, namentlich die ESMA, Entwürfe technischer Regulierungsstandards zur Präzisierung der auszutauschenden Informationen ausarbeitet.119 Eine verdichtete Form der Zusammenarbeit stellen die sog. Aufsichtskollegien dar, die für die wichtigsten grenzübergreifend tätigen Finanzgruppen eingerichtet werden.120 Wie eingangs dargelegt, sind die Tochterunternehmen vom Regelungsgehalt des Europäischen Passes ausgeschlossen und unterliegen dem Zulassungsverfahren bzw. der Aufsicht ihres Sitzstaats, der ein anderer Staat als jener des Mutterunternehmens ist.121 Dies hat zur Folge, dass eine Finanzgruppe in die Zuständigkeit mehrerer Aufsichtsbehörden fällt, nämlich die Mutterfirma in die Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats und ihr(e) Tochterunternehmen in die Zuständigkeit des Aufnahmemitgliedstaats bzw. der Aufnahmemitgliedstaaten. Der Unionsgesetzgeber hat aus diesem Grund dafür Sorge getragen, dass die unionsweite Beaufsichtigung von Finanzinstituten auf sog. konsolidierter Basis in der Hand einer Behörde, der sog. konsolidierenden Aufsichtsbehörde, liegt. Die Aufsicht auf konsolidierter Basis ist dabei im Mitgliedstaat der Mutterfirma angesiedelt,122 davon unberührt bleibt jedoch die Zuständigkeit des

116

Art. 79 MiFID-II-Richtlinie; so auch M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 149; W. Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 28 ff.; A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 155. 117 N. Moloney, CMLRev. 47 (2010), 1317 (1319). 118 Art. 80 Abs. 1 MiFID-II-Richtlinie. 119 Art. 80 Abs. 3 MiFID-II-Richtlinie. 120 Art. 21 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010. 121 M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 147; C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (315). 122 Art. 111 Abs. 1 UAbs. 2 CRD-IV-Richtlinie. Wenn aber das Tochterunternehmen einer Mutterwertpapierfirma ein Kreditinstitut ist, wird die Aufsicht auf konsolidierter Basis von der für das Kreditinstitut zuständigen Behörde ausgeübt, so Art. 111 Abs. 1 UAbs. 3 CRDIV-Richtlinie.

132

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Aufnahmemitgliedstaats für die Aufsicht über ein Tochterunternehmen auf Einzelbasis.123 Zur Sicherstellung der gegenseitigen Mitteilung von aufsichtsrechtlichen Erkenntnissen zwischen den in unterschiedlichen Mitgliedstaaten angesiedelten Aufsichtsbehörden ist die Schaffung von Aufsichtskollegien durch die sog. konsolidierende Aufsichtsbehörde angezeigt.124 Dort tauschen die beteiligten Aufsichtsbehörden mit Hilfe der ESMA alle relevanten Informationen aus den verschiedenen Staaten, in denen die Finanzgruppe tätig ist, aus und aggregieren sie zu einer gemeinsamen Risikoeinschätzung. Ihre Zusammenarbeit kann unter anderem auf schriftlichen Vereinbarungen zwischen der konsolidierenden Aufsichtsbehörde und den entsprechenden nationalen Aufsichtsbehörden beruhen.125 Zudem sollen unnötige aufsichtsrechtliche Doppelanforderungen beseitigt und eine Angleichung bzw. Kohärenz bei der Anwendung des Unionsrechts sichergestellt werden.126 Die Aufsichtskollegien verfügen allerdings über keine aufsichtlichen Befugnisse gegenüber den Finanzinstituten, sodass die gemeinsam getroffenen Entscheidungen innerhalb des Aufsichtskollegiums der Umsetzung durch die jeweils zuständige Behörde nach innerstaatlichem Recht bedürfen.127 Des Weiteren können sich die beteiligten Aufsichtsbehörden zur Effizienzsteigerung auch auf eine freiwillige Delegation von Aufgaben und Zuständigkeiten einigen,128 wobei der ESMA bei der Koordinierung der Behörden und der Sicherstellung der ordnungsmäßigen Anwendung des Unionsrechts eine führende Rolle zukommt.129

III. Fazit Das ESFS stellt ein System besonderer Verflechtung von auf unterschiedlichen Ebenen tätigen Behörden dar, das durch die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden und die damit einhergehende Vertrauensstärkung die Qualität und Wirksamkeit der Finanzaufsicht in der EU zu verbessern vermag. Derartige behördliche Verbundstrukturen in Form von Netzwerken130 sind allerdings kein Novum im Europäischen Verwaltungsrecht.131 Die Bedeutung der 123

Vgl. Art. 113 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie; C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (316). Art. 116 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie. 125 Art. 116 Abs. 3 CRD-IV-Richtlinie. 126 Vgl. Erwägungsgr. 36 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010. 127 C. Ohler, in: M. Ruffert (Hrsg.), EnzEuR, Bd. V, 2. Aufl. 2020, § 10, Rn. 98; kritisch G. Tönningsen, Grenzüberschreitende Bankenaufsicht, 2018, S. 93. 128 Vgl. Art. 28 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010. 129 S. A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 114. 130 Dazu M. P. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 273 ff.; N. I. Simantiras, Netzwerke im europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 19 ff. 131 Vgl. S. Augsberg, in: J. P. Terhechte (Hrsg.), EU-Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2022, § 6, Rn. 53 ff.; W. Kahl, Der Staat 50 (2011), 353 (359); E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 5, Rn. 33 f.; W. Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 85 ff.; A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 39 ff. 124

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

133

dauerhaften und effektiven Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden innerhalb des integrierten Netzwerkes des ESFS132 kommt insbesondere in der Aufsicht über unionsweit tätige Finanzgruppen zum Ausdruck,133 wobei die nationalen Aufsichtsbehörden unter Koordinierung der ESAs die unionsrechtlich festgelegten Mindeststandards hinsichtlich der zu beaufsichtigenden Finanzinstitute und der von ihnen zu erfüllenden Anforderungen berücksichtigen müssen. Vor diesem Hintergrund ist die Finanzaufsicht nach der Finanzkrise als ein Geflecht nationaler und supranationaler Akteure zu verstehen, das auf die Konvergenz der Aufsichtspraxis134 und die Vertrauensstärkung zwischen allen beteiligten Behörden abzielt.135 Dabei sind drei Ebenen institutioneller Finanzaufsicht zu unterscheiden: Erstens die rein nationale Ebene, da die Wahl des Aufsichtsmodells und die laufende Finanzaufsicht weiterhin in die mitgliedstaatliche Autonomie fallen, zweitens die horizontale Zusammenarbeit zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden bei der Wahrnehmung ihrer Aufsichtsaufgaben und drittens eine vertikale Ebene, die durch eine gewisse Zentralisierung durch die Errichtung der ESAs auf EU-Ebene und die Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden gekennzeichnet ist.136 Dabei ist ein umfangreiches Instrumentarium für den Aufbau von Vertrauen in die Gleichwertigkeit der nationalen Aufsichtsmodelle und in die einheitliche und rechtmäßige Anwendung des nationalen Rechts bzw. Unionsrechts vorgesehen. Die institutionalisierte Kooperation aller auf unterschiedlichen Ebenen tätigen Aufsichtsbehörden im Hinblick auf die Entscheidungsfindung im Rat der Aufseher und in Aufsichtskollegien bei unionsweit tätigen Finanzgruppen sowie die zahlreichen Überwachungs- bzw. Kontrollbefugnisse, die den ESAs, dem Herkunftsmitgliedstaat, aber unter bestimmten Voraussetzungen auch dem Aufnahmemitgliedstaat zugesprochen werden, sollen die Wirksamkeit der Finanzaufsicht auf lange Sicht sicherstellen.

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht Die Bankenaufsicht erlangt als Sondergebiet der Finanzaufsicht eigenständige Bedeutung, zumal die Errichtung des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) für die Mitgliedstaaten der Eurozone das bisherige Aufsichtsmodell des ESFS erheblich modifiziert hat. Eine parallele Untersuchung des institutionellen

132

Vgl. Erwägungsgr. 9 EBA-Verordnung. H.-D. Assmann/P. Buck-Heeb, in: H.-D. Assmann/R. A. Schütze/P. Buck-Heeb (Hrsg.), Hdb. des Kapitalanlagerechts, 5. Aufl. 2020, § 1, Rn. 64; J. A. Kämmerer, NVwZ 2011, 1281 (1287); A. Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 517 ff. 134 C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (327). 135 S. M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 154. 136 Zur Drei-Säulen-Struktur M. P. Ladler, in: J. M. Grimm/M. P. Ladler (Hrsg.), EURecht im Spannungsverhältnis zu den Herausforderungen im Internationalen Wirtschaftsrecht, 2012, S. 11 ff. 133

134

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Rechtsrahmens, der Aufteilung der aufsichtsrechtlichen Aufgaben zwischen den europäischen und den nationalen Aufsichtsbehörden sowie der vertikalen bzw. horizontalen Kooperationsmechanismen ist daher angezeigt, um sich der Tragweite des Vertrauensgrundsatzes im Rechtsgebiet der Bankenaufsicht anzunähern und daneben das Verhältnis des SSM zum ESFS137 darzulegen.

I. Einheitlicher Aufsichtsmechanismus (SSM) Die Errichtung des SSM ist als Reaktion auf die begrenzte Fähigkeit des ESFS anzusehen, die Ausbreitung und Vertiefung einer Krise im Finanzsektor effektiv zu verhindern. Der für die Bankenaufsicht zuständigen EBA ist es nämlich zuvor nicht gelungen, durch die in der Gründungsverordnung vorgesehenen Bankenstresstests138 die Unterkapitalisierung bestimmter nationaler Banken aufzudecken.139 Die Bankenaufsicht durch die nationalen Aufsichtsbehörden hat sich als ineffizient erwiesen,140 vor allem weil diese etwaige Schwierigkeiten des eigenen Finanzsystems herunterspielten, um einen Vertrauensverlust in ihren Märkten zu vermeiden. Das Ergebnis der daraus folgenden radikalen Reform der Bankenaufsicht war die Errichtung der Europäischen Bankenunion141 mit dem Ziel, zukünftige Krisen der Banken durch eine stufenweise Verlagerung von Vollzugsmöglichkeiten auf die europäische Ebene zu vermeiden bzw. zu bewältigen,142 wobei im Folgenden der genaue Kompetenzverlust für die Mitgliedstaaten und die Zuständigkeitszuweisung im europäischen Mehrebenensystem im Mittelpunkt der Ausführungen stehen. Die Europäische Bankenunion betrifft grundsätzlich die an der Währungsunion teilnehmenden Mitgliedstaaten und besteht aus dem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM143) und dem Einheitlichen Abwicklungsmechanismus 137

Dazu ferner statt aller T. Tröger, ZBB 2013, 373 (376 ff.). Art. 32 Abs. 2 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 139 C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (330). 140 Ausführlich zum Misserfolg der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden KOM(2012) 510 endg. Grund dafür ist die Tatsache, dass die nationalen Aufseher auf ihre eigenen nationalen Interessen Rücksicht genommen und die notwendigen Restrukturierungsmaßnahmen nicht rechtzeitig ergriffen haben, vgl. T. Roth, Die indirekte Bankenaufsicht durch die EZB, 2018, S. 57; J. Snell, in: E. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 11 (14). 141 C. Hettinger, in: R. Schulze/A. Janssen/S. Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 4. Aufl. 2020, § 32, Rn. 14; J.-H. Binder, in: ders./C. V. Gortsos (Hrsg.), The European Banking Union, 2016, S. 1 (1 ff.); C. Manger-Nestler, in: H.-J. Blanke/S. Pilz (Hrsg.), Die „Fiskalunion“, 2014, S. 299 (305 ff.). 142 Dazu ferner W.-R. Schenke, in: J. Ziekow/J. H. Seok (Hrsg.), Systemkrisen und Systemvertrauen, 2015, S. 63 ff. 143 Englisch: Single Supervisory Mechanism; Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank, ABl. EU 2013 Nr. L 287, S. 63 (SSM-Verordnung). 138

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

135

(SRM144). Dadurch hat der Unionsgesetzgeber Sorge dafür getragen, einerseits die Gewährleistung der Stabilität des Euro-Finanzsystems an die EZB zu übertragen und andererseits die Vollzugsineffizienzen des bisherigen ESFS durch die nationalen Aufsichtsbehörden zu beseitigen.145 Dieses neue, hochverdichtete Aufsichtsmodell146 innerhalb des europäischen Mehrebenengefüges147 besteht aus der EZB und den national zuständigen Aufsichtsbehörden (NCAs148) der teilnehmenden Mitgliedstaaten.149 Die Benennung der dazu zuständigen Behörden fällt in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten.150 Der räumliche Geltungsbereich der auf Grundlage des Art. 127 Abs. 6 AEUV151 erlassenen SSM-Verordnung erstreckt sich grundsätzlich auf den Euroraum,152 wobei für die nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten die Möglichkeit besteht, sich auf freiwilliger, einzelvertraglicher Basis zu beteiligen.153 Die konkrete Aufgabenverteilung und die 144 Englisch: Single Resolution Mechanism; Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. EU 2014 Nr. L 225, S. 1. 145 Erwägungsgr. 2, 4 f., 11 f., Art. 1 UAbs. 1 SSM-Verordnung; J.-H. Binder, in: ders./C. V. Gortsos (Hrsg.), The European Banking Union, 2016, S. 1 (5 f.); P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (189); K. Peters, WM 2014, 396 (398). Zur Trennung von Bankenaufsicht und Geldpolitik innerhalb der EZB s. Beschluss der EZB vom 17.09.2014 über die Umsetzung der Trennung zwischen der geldpolitischen Funktion und der Aufsichtsfunktion der Europäischen Zentralbank (EZB/2014/39), ABl. EU 2014 Nr. L 300, S. 57. 146 Vgl. C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 61; ähnlich H. Berger, WM 2015, 501 (501); E. Peuker, JZ 69 (2014), 764 (766); G. Tönningsen, Grenzüberschreitende Bankenaufsicht, 2018, S. 103. 147 M. Lehmann/C. Manger-Nestler, ZBB 2014, 2 (2); ähnlich K. Alexander, ELRev. 40 (2015), 154 (154). 148 Englisch: National Competent Authorities. 149 Art. 6 Abs. 1 SSM-Verordnung. 150 Art. 2 Nr. 2 SSM-Verordnung. 151 Die Primärrechtskonformität der SSM-Verordnung auf Grundlage von Art. 127 Abs. 6 AEUV befürwortend K. Lackhoff, JIBLR 29 (2014), 13 (14 f.); ders., SSM, 2017, Rn. 51 ff.; A. Pizzolla, ELRev. 43 (2018), 3 (15 ff.); T. Roth, Die indirekte Bankenaufsicht durch die EZB, 2018, S. 64 f.; J. Ruthig, ZHR 178 (2014), 443 (451 ff.); die Primärrechtskonformität ablehnend J. A. Kämmerer, NVwZ 2013, 830 (832 ff.); M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 214 ff.; C. Manger-Nestler, in: H.-J. Blanke/S. Pilz (Hrsg.), Die „Fiskalunion“, 2014, S. 299 (313 ff.); N. Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht in der EU, 2015, S. 269 ff., 273. Ferner m.w.N. F. Kazimierski, Rechtsschutz im Rahmen der Europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 49 ff. In seinem Urteil vom 30. Juli 2019 hat das BVerfG festgestellt, dass die SSM-Verordnung den skizzierten Rahmen der von Art. 127 Abs. 6 AEUV erteilten Ermächtigung nicht in offensichtlicher Weise überschreite, da der EZB die Aufsicht über Kreditinstitute in der Eurozone nicht vollständig übertragen werde, BVerfGE 151, 202 (311 ff. Rn. 171 ff.). Näher zu diesem „Grundsatzurteil“ M. Ludwigs/T. Pascher/P. Sikora, EWS 2020, 1 (2 ff.). 152 Vgl. Art. 127 Abs. 6 i.V.m. Art. 139 Abs. 2 AEUV. 153 Art. 7 SSM-Verordnung; vgl. bislang Beschluss (EU) 2020/1015 der Europäischen Zen-

136

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

praktischen Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen der EZB und den NCAs innerhalb des SSM werden durch die Verordnung (EU) Nr. 468/2014154 bestimmt. 1. Zentralisierung der Aufsicht bei der EZB Im Hinblick auf die mikroprudenzielle Aufsicht verfügt die EZB gemäß Art. 4 Abs. 1 SSM-Verordnung über die ausschließliche Zuständigkeit für die Wahrnehmung der dort aufgelisteten Aufsichtsaufgaben im Hinblick auf alle Kreditinstitute, die in den teilnehmenden Mitgliedstaaten angesiedelt sind.155 Ergänzend sieht Art. 6 SSM-Verordnung eine Unterscheidung zwischen „bedeutenden“ und „weniger bedeutenden“ Kreditinstituten vor und weist nur die direkte Aufsicht über bedeutende Kreditinstitute der EZB zu.156 Aus einer systematischen Auslegung der Vorschriften folgt, dass sich die ausschließliche Zuständigkeit der EZB auf die bedeutenden Kreditinstitute beschränkt, denn eine vollständige Übertragung der Bankenaufsicht auf die EZB wäre mit dem Wortlaut von Art. 127 Abs. 6 AEUV und dem daraus folgenden Verbot der Übertragung der gesamten Bankenaufsicht auf die EZB (Maximalübertragungsverbot157) unvereinbar.158

tralbank vom 24. Juni 2020 zur Eingehung einer engen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Zentralbank und der Българска народна банка (Bulgarische Nationalbank) (EZB/2020/30), ABl. EU 2020 Nr. L 224I, S. 1; Beschluss (EU) 2020/1016 der Europäischen Zentralbank vom 24. Juni 2020 zur Eingehung einer engen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Zentralbank und der Hrvatska narodna banka (EZB/2020/31), ABl. EU 2020 Nr. L 224I, S. 4. 154 Verordnung (EU) Nr. 468/2014 der Europäischen Zentralbank vom 16. April 2014 zur Einrichtung eines Rahmenwerks für die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Zentralbank und den nationalen zuständigen Behörden und den nationalen benannten Behörden innerhalb des einheitlichen Aufsichtsmechanismus, ABl. EU 2014 Nr. L 141, S. 1 (SSMRahmenVO). 155 Grundlegend EuGH, Rs. C-450/17 P, ECLI:EU:C:2019:372, Rn. 38 – Landeskreditbank Baden-Württemberg/Kommission; kritisch dazu T. Tröger, EuZW 2017, 461 (472 f.). Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 SSM-Verordnung sei so auszulegen, dass die Kompetenz zur Aufsicht über weniger bedeutende Kreditinstitute bei den Mitgliedstaaten liegt und daher nie der EZB übertragen wurde, A. Witte, EuR 2017, 648 (652 f.); ähnlich E. Gören, SSM, 2019, S. 148 f.; M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 211 spricht von einer geteilten Kompetenz zwischen der EZB und den NCAs, wobei die EZB für die Zulassung, den Zulassungsentzug und die Kontrolle der Eigentümerstruktur eines Kreditinstituts und die Mitgliedstaaten für alle weiteren Aufsichtsaufgaben verantwortlich sind. 156 Im Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 4 SSM-Verordnung. 157 M. Ludwigs/T. Pascher/P. Sikora, EWS 2020, 85 (86). 158 Grundlegend BVerfG, BVerfGE 151, 202 (303 ff. Rn. 160 ff.); so auch E. Gören, SSM, 2019, S. 187 f. Ein weiteres Argument gegen ein so weitreichendes Verständnis der EZBZuständigkeiten, folgt aus der Nicht-Durchsetzung des ursprünglichen Vorschlags der Kommission zur SSM-Verordnung, wonach die EZB zentrale Aufsichtsaufgaben hinsichtlich aller Kreditinstitute in der Eurozone ausgeübt hätte, vgl. KOM(2012) 511 endg., S. 4.

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

137

Die Zentralisierung der Aufsicht über die – aktuell 110159 – bedeutenden Banken rechtfertigt sich daraus, dass es sich um systemrelevante Kreditinstitute handelt, die die Stabilität des Finanzsystems erheblich beeinflussen.160 Als Kriterien für die Einstufung eines Kreditinstituts als bedeutend gelten die Größe des Instituts, seine Relevanz für die Wirtschaft der EU sowie die Bedeutung seiner grenzüberschreitenden Tätigkeiten.161 Diese Einstufung erfolgt auf der obersten Konsolidierungsebene, sodass auch konzernangehörige Banken als bedeutend bezeichnet werden, auch wenn sie für sich genommen die Signifikanzschwelle nicht überschreiten.162 Dem entsprechenden Beschluss der EZB163 kommt für die Klassifizierung des Kreditinstituts als bedeutend konstitutive Bedeutung zu.164 Zudem überprüft die EZB jährlich, ob die Einstufungskriterien weiterhin erfüllt sind, sodass eine Zuständigkeitsänderung im Nachhinein möglich ist. Jedenfalls gelten Institute als bedeutend, die Tochterunternehmen in zumindest zwei teilnehmenden Mitgliedstaaten errichtet haben und deren grenzüberschreitende Aktivitäten einen wesentlichen Teil ihrer Aktiva und Passiva ausmachen.165 Darüber hinaus trägt die EZB die Verantwortung für die Systemaufsicht über die NCAs und das wirksame und einheitliche Funktionieren des SSM.166 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass eine übergeordnete, unabhängige, mit umfassenden Befugnissen ausgestattete Aufsichtsbehörde die Aufsichtsaufgaben besser und effizienter mit Blick auf das gemeinsame europäische Interesse ausüben kann.167 Zu diesem Zweck ist der EZB das Recht vorbehalten, die Aufsicht über einzelne wenige Kreditinstitute an sich zu ziehen, wenn dies zur Sicherstellung der kohärenten Anwendung hoher Aufsichtsstandards erforderlich ist (sog. „Selbsteintrittsrecht“).168 Den Beschluss über den Selbsteintritt trifft die EZB autonom.169 Sie kann daher jederzeit entscheiden, ein Kreditinstitut in den teilnehmenden Mitgliedstaaten zu beaufsichtigen.170 Zu den Kriterien für einen solchen Beschluss zählt auch die Nichteinhaltung der Anweisungen der EZB und/oder 159 EZB, Liste der beaufsichtigten Banken, abrufbar unter www.bankingsupervision.eur opa.eu/banking/list/html/index.de.html. 160 M. Lehmann/C. Manger-Nestler, ZBB 2014, 2 (13); J. A. Kämmerer, ZBB 2017, 317 (319) sieht die Systemrelevanz als einen neuen rechtlichen Maßstab der Bankenunion. 161 Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 SSM-Verordnung. 162 Art. 40 Abs. 1 SSM-RahmenVO. 163 Art. 39 Abs. 1 und 44 Abs. 2 SSM-RahmenVO. 164 M.w.N. P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (194); C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 150; G. Tönningsen, Grenzüberschreitende Bankenaufsicht, 2018, S. 106; A. Witte, EuR 2017, 648 (650). 165 Art. 6 Abs. 4 SSM-Verordnung und Art. 39 ff. SSM-RahmenVO. 166 Art. 6 Abs. 1 S. 2 SSM-Verordnung. 167 C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (331). 168 Art. 6 Abs. 5 lit. b SSM-Verordnung i.V.m. Art. 69 SSM-RahmenVO. 169 K. Lackhoff, JIBLR 28 (2013), 454 (460). 170 N. Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht in der EU, 2015, S. 272; für eine enge Auslegung J. A. Kämmerer, WM 2016, 1 (3); C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 159; ähnlich BVerfGE 151, 202 (314 f. Rn. 178 [„außergewöhnliche Maßnahme“]).

138

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

der Rechtsakte im Zusammenhang mit den Aufsichtsaufgaben der EZB durch die NCAs.171 Dies impliziert, dass das Selbsteintrittsrecht hier als eine Art Sanktion gegenüber den NCAs im Fall eines Bruchs der vertrauensbasierten Zusammenarbeit in Anspruch genommen werden kann. Umgekehrt kann die EZB einen Zuständigkeitswechsel herbeiführen, indem sie ein bedeutendes Kreditinstitut aufgrund von besonderen Umständen als weniger bedeutend einstuft,172 wobei allein der EZB die ausschließliche Befugnis eingeräumt wird, den Inhalt des Begriffs „besondere Umstände“ zu bestimmen.173 Schließlich ist die EZB ausschließlich zuständig für die Entscheidung über die Erteilung bzw. den Entzug der Zulassung von allen Kreditinstituten, d.h. unabhängig von deren Einstufung als bedeutend bzw. weniger bedeutend, innerhalb des Anwendungsbereichs der SSM-Verordnung. 2. Zuständigkeit der Mitgliedstaaten Die Aufsicht gegenüber den weniger bedeutenden Kreditinstituten wird grundsätzlich durch die NCAs wahrgenommen.174 Nach Ansicht des EuGH verfügt die EZB über eine ausschließliche Zuständigkeit für die Wahrnehmung der in Art. 4 SSM-Verordnung aufgelisteten Aufgaben im Hinblick auf alle Kreditinstitute,175 sodass die NCAs die EZB bei der Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben durch eine dezentralisierte Umsetzung in Bezug auf weniger bedeutende Kreditinstitute lediglich unterstützen.176 Somit nehmen sie als durchführende Stellen der EZB keine originären, sondern abgeleitete Befugnisse wahr.177 Die Auffassung 171

Art. 67 Abs. 2 lit. d) und e) SSM-RahmenVO (Art. 67 Abs. 2 lit. e) spricht von den in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 SSM-Verordnung genannten Rechtsakten, was aber offensichtlich ein redaktionelles Versehen ist. Gemeint war wohl ein Verweis auf die in Art. 6 Abs. 3 UAbs. 1 SSM-Verordnung genannten Rechtsakte). 172 Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 SSM-Verordnung, Art. 39 Abs. 4 und 70 SSM-RahmenVO. 173 EuGH, Rs. C-450/17 P, ECLI:EU:C:2019:372, Rn. 49 – Landeskreditbank BadenWürttemberg/Kommission. 174 Art. 6 Abs. 4 SSM-Verordnung. 175 In diesem Sinne auch K. Neumann, EuZW-Beilage 2014, 9 (12); E. Wymeersch, Financial Law Institute Working Paper Series WP 2012-07, 1 (5 ff.). 176 EuGH, Rs. C-450/17 P, ECLI:EU:C:2019:372, Rn. 40 f. – Landeskreditbank BadenWürttemberg/Kommission; Rs. C-686/18, ECLI:EU:C:2020:567, Rn. 43 – Adusbef u.a.; so auch A. Pizzolla, ELRev. 43 (2018), 3 (17 f.); anders BVerfGE 151, 202 (311 ff. Rn. 171 ff.); das BVerfG-Urteil steht dabei in einem klaren Widerspruch zur EuGH-Rechtsprechung, vgl. P. Faraguna/D. Messineo, CMLRev. 57 (2020), 1629 (1635 f.); M. Gentzsch/A. Brade, EuR 2019, 602 (618); vgl. aber C. Manger-Nestler, in: P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR, Bd. IV, 2. Aufl. 2021, § 25, Rn. 195: die Formulierung des EuGH stellt unter Beweis, dass er die NCAs „offenbar als integrale Bestandteile eines Verbundsystems begreift, das […] der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in einer Realität mitgliedstaatlicher Vielfalt dient.“ 177 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 153 bezeichnet die NCAs als einen faktischen, aber nicht organisationsrechtlichen Verwaltungsunterbau der EZB; T. Roth, Die indirekte Bankenaufsicht durch die EZB, 2018, S. 68. Zur Unterscheidung zwi-

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

139

des EuGH wird im Schrifttum dahingehend kritisiert, dass sie einerseits die Tatsache außer Betracht lässt, dass Art. 4 Abs. 1 SSM-Verordnung die ausschließlichen Aufgaben der EZB im Rahmen des Art. 6 SSM-Verordnung überträgt – der die weniger bedeutenden Institute den NCAs unterordnet178 –, und andererseits die Tatsache vernachlässigt, dass die Union im Bereich der Bankenaufsicht als Bestandteil der Binnenmarktpolitik179 über eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit180 verfügt.181 Auch das BVerfG geht grundsätzlich von der originären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten über weniger bedeutende Kreditinstitute aus,182 solange die EZB von ihrem Selbsteintrittsrecht keinen Gebrauch macht.183 Zur Klärung dieser Rechtsfrage hätte das BVerfG eine Vorlage an den EuGH aufgrund dessen Auslegungsmonopols für das Unionsrecht richten müssen.184 Jedenfalls fungieren die NCAs bei der Aufgabenwahrnehmung im SSM als funktionale Unionsbehörden,185 deren Unabhängigkeit in Art. 19 Abs. 1 SSMVerordnung abgesichert wird. In der sachlichen Zuständigkeit der NCAs verbleiben zudem die Materien, die außerhalb des Anwendungsbereichs der SSMVerordnung liegen, etwa die Beaufsichtigung von Kreditinstituten, die keine Kreditinstitute im Sinne des Unionsrechts sind, die aber nach nationalem Recht wie Kreditinstitute zu beaufsichtigen sind, ferner die Beaufsichtigung von Kreditinstituten aus Drittländern, die in der Union eine Zweigstelle errichten oder grenzüberschreitend Dienstleistungen erbringen, und die Kreditinstitute hinsichtlich der Märkte für Finanzinstrumente und die Bekämpfung des Missbrauchs des schen Zuständigkeit, Befugnis und Verantwortung in diesem Kontext s. A. Pizzolla, ELRev. 43 (2018), 3 (14 f.). 178 Selbst der Wortlaut von Art. 6 Abs. 4 SSM-Verordnung leidet an Unklarheit: In der deutschen („Zuständigkeiten“) und französischen („des compe´tences“) Fassung ist von Zuständigkeit die Rede, in der englischen („responsibilities“) und griechischen („ευθυ νες“) Fassung hingegen von Verantwortung der NCAs. 179 J. A. Kämmerer, NVwZ 2013, 830 (833). 180 Vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV. 181 Vgl. auch die Erwägungsgr. 5 und 15 SSM-Verordnung, die eher von einer originären mitgliedstaatlichen Zuständigkeit im SSM ausgehen; T. Tröger, EuZW 2017, 461 (472); A. Witte, EuR 2017, 648 (652). Für eine der EZB teilweise übertragene Zuständigkeit nur hinsichtlich bedeutender Kreditinstitute vgl. J. Brixner/M. Schaber, Bankenaufsicht, 2016, S. 21 f.; J. A. Kämmerer, ZBB 2017, 317 (320): „Mythos von der ausschließlichen Aufsichtskompetenz der EZB“; K. Lackhoff, SSM, 2017, Rn. 947 ff.; G. Tönningsen, Grenzüberschreitende Bankenaufsicht, 2018, S. 109 ff. 182 BVerfGE 151, 202 (311 ff. Rn. 171 ff.); so auch M. Almhofer, Die Haftung der EZB, 2018, S. 87; M. Gentzsch/A. Brade, EuR 2019, 602 (619); A. Glos/M. Benzing, in: J.-H. Binder/A. Glos/J. Riepe (Hrsg.), Hdb-Bankenaufsichtsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2, Rn. 84. 183 BVerfGE 151, 202 (315 Rn. 179); C. Wehmhörner, NVwZ 2020, 342 (345) diagnostiziert insoweit ein „Spannungsverhältnis“ zur EuGH-Rechtsprechung. 184 So auch M. Gentzsch/A. Brade, EuR 2019, 602 (619). Kritisch zum Verzicht seitens des BVerfG, dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen hinsichtlich der primärrechtskonformen bzw. systematischen Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 SSM-Verordnung vorzulegen M. Ludwigs/T. Pascher/P. Sikora, EWS 2020, 85 (88 f.). 185 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 61.

140

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Finanzsystems für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sowie der Verbraucherschutz.186

II. Markteintritt und Zulassungserteilung Die Ansiedlung eines Kreditinstituts ist in der gesamten EU zulassungsbedürftig. Wie bereits dargelegt, müssen im ESFS – das weiterhin für die im SSM nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten den einzigen Rechtsrahmen darstellt – die NCAs überprüfen, ob die unionsrechtlich angeglichenen Zulassungsbedingungen durch die betreffenden Kreditinstitute erfüllt sind.187 Die EBA ist als zuständige ESA dafür verantwortlich, durch Entwürfe technischer Regulierungsstandards Konvergenz im Hinblick auf die zu übermittelnden Informationen an die NCAs zu schaffen.188 Der SSM unterscheidet sich hingegen vom ESFS durch die Zentralisierung des Zulassungsverfahrens bei der EZB, die die ausschließlich zuständige Behörde für die Erteilung und den Entzug der Zulassung aller Kreditinstitute ist.189 Schon an dieser Stelle ist allerdings eine funktionale Verknüpfung der nationalen mit der europäischen Ebene ersichtlich, zumal die NCA des Herkunftsmitgliedstaats zuständig für die Bearbeitung der Zulassungsanträge der Banken und die Vorbereitung des entsprechenden Beschlussentwurfs bzw. die Bekanntgabe des Beschlusses an das betroffene Kreditinstitut ist.190 Die Beteiligung der NCAs und der EZB an einem gemeinsamen, mehrstufigen Verfahren191 dient der Vertrau186

Erwägungsgr. 28 SSM-Verordnung. Vgl. Erwägungsgr. 16 und Art. 8 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie. 188 Art. 8 Abs. 2 CRD-IV-Richtlinie. 189 Erwägungsgr. 20, Art. 4 Abs. 1 lit. a), 14 Abs. 2 SSM-Verordnung und Art. 78 SSMRahmenVO; vgl. auch Beschluss (EU) 2019/1376 der Europäischen Zentralbank vom 23. Juli 2019 zur Übertragung der Befugnis zum Erlass von Beschlüssen zur Nutzung des Europäischen Passes, zum Erwerb qualifizierter Beteiligungen und zum Entzug von Zulassungen von Kreditinstituten (EZB/2019/23), ABl. EU 2019 Nr. L 224, S. 1. 190 Art. 14 Abs. 1, 2 und 4 SSM-Verordnung. 191 Vgl. erstmals EuGH, Rs. C-219/17, ECLI:EU:C:2018:1023 – Berlusconi und Fininvest („mehrteiliges Verwaltungsverfahren“ unter den Schlagwörtern); ähnlich Schlussanträge GA M. C. Sa´nchez-Bordona, Rs. C-219/17, ECLI:EU:C:2018:502, Rn. 57 ff. – Berlusconi und Fininvest: „mehrphasiges oder gemischtes Verwaltungsverfahren“; allgemein zu dieser Thematik vgl. H. C. H. Hofmann, AdmLRev. 61 (2009), 199 (202 ff.); ders., in: ders./A. Türk (Hrsg.), Legal Challenges in EU Administrative Law, 2009, S. 136 (138 ff.); H. C. H. Hofmann/G. C. Rowe/A. Türk, Administrative law and policy of the EU, 2011, S. 405 ff.; insb. hinsichtlich der damit verbundenen Rechtsschutzprobleme im Bereich der Bankenunion vgl. F. Brito Bastos, CMLRev. 56 (2019), 1355 (1367 ff.); F. Herna´ndez Ferna´ndez, REALaw 14 (2021), 5 (15 ff.); A. Witte, ELRev. 45 (2020), 569 (571 ff.) bzw. hinsichtlich der Auswirkung der Rechtswidrigkeit des nationalen Aktes auf die Gültigkeit der auf unionaler Ebene erlassenen Entscheidung F. Brito Bastos, CMLRev. 55 (2018), 101 (105 ff.); ferner T. Ellerbrok, VerwArch 2022, 302 (323 ff.), der in diesem Zusammenhang die Einführung eines umgekehrten Vorabentscheidungsverfahrens als „adäquate[n] ,Schlussstein‘ im europäischen Rechtsschutzverbund“ bezeichnet. 187

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

141

ensstärkung und unterstützt somit konstruktiv das Funktionieren des SSM.192 Dabei kann die Ablehnung des Zulassungsantrags entweder durch die EZB oder gegebenenfalls durch die NCAs erfolgen: Erfüllt der Antragsteller nicht alle Zulassungsbedingungen des einschlägigen nationalen Rechts, so lehnt die NCA den Antrag auf Zulassung ab; stellt hingegen die EZB bei der Prüfung des Beschlussentwurfs fest, dass die Voraussetzungen des Unionsrechts für die Zulassung nicht erfüllt sind, erhebt sie Widerspruch gegen den Beschlussentwurf und teilt die Gründe für die Ablehnung schriftlich mit.193 Die im Rahmen des Zulassungsverfahrens erfolgte Feststellung durch die zuständige NCA, dass die einschlägigen Voraussetzungen des nationalen Rechts erfüllt sind, entfaltet gegenüber der EZB rechtliche Bindungswirkung.194 Die Bindungskraft der nationalen Entscheidung gegenüber der EZB folgt aus dem Vertrauensgrundsatz, der die Vermutung der rechtmäßigen Anwendung des einschlägigen nationalen Rechts durch die NCA begründet. Sollte die EZB Zweifel haben, dass die Zulassungsvoraussetzungen nach dem nationalen Recht erfüllt sind, sind diese im Geiste des Loyalitätsgrundsatzes unter Kontaktaufnahme mit der NCA auszuräumen bzw. münden, soweit sie substantiiert sind, in der Ablehnung des Antrags.195

III. Europäischer Pass Der Europäische Pass bildet im ESFS auch nach der Finanzkrise die Grundlage der Ausübung der Grundfreiheiten für Banken.196 Ähnlich wie die Finanzinstitute unterliegen die Kreditinstitute außerhalb der Eurozone einem Anzeigeverfahren, wonach das Kreditinstitut der NCA des Herkunftsmitgliedstaats seine Absicht mitteilen muss,197 eine Zweigstelle in einem anderen Mitgliedstaat zu errichten.198 Nachdem die NCA des Herkunftsmitgliedstaats die Richtigkeit der ihr durch das Kreditinstitut übermittelten Informationen überprüft hat, muss sie diese Informationen der NCA des Aufnahmemitgliedstaats mitteilen.199 Das betroffene Kreditinstitut kann sodann entweder nach entsprechender Mitteilung der NCA des Aufnahmemitgliedstaats oder bei deren Nichtäußerung seine Tätigkeiten durch seine Zweigstelle aufnehmen.200 Eine Ablehnung des Antrags für 192

KOM(2017) 591 endg., S. 13. Art. 14 Abs. 2 und 3 SSM-Verordnung, Art. 77 ff. SSM-RahmenVO. 194 A.-K. Kaufhold, Die Verwaltung 49 (2016), 339 (361 Fn. 114); F. Kazimierski, Rechtsschutz im Rahmen der Europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 270. 195 Vgl. entsprechend EuGH, Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013, Rn. 30 ff. – Kommission/Frankreich; ähnlich im Ergebnis in Bezug auf den Zulassungsentzug H. Berger, WM 2015, 2361 (2367). 196 Erwägungsgr. 19 ff. CRD-IV-Richtlinie; vgl. oben unter 3. Kap., A. I., S. 118 ff. 197 EuG, verb. Rs. T-351/18 und T-584/18, ECLI:EU:T:2021:669, Rn. 249 ff. – Ukrselhosprom PCF und Versobank/EZB: das Anzeigeverfahren ist dabei zwingend und nicht von rein formalem Charakter. 198 Art. 35 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie. 199 Art. 35 Abs. 3 CRD-IV-Richtlinie. 200 Art. 36 Abs. 2 CRD-IV-Richtlinie. 193

142

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch die NCA des Herkunftsmitgliedstaats ist nur für den Fall vorgesehen, dass die Angemessenheit der Verwaltungsstrukturen und der Finanzlage des betreffenden Kreditinstituts in Anbetracht der geplanten Tätigkeiten anzuzweifeln ist.201 Im Falle einer solchen Ablehnung oder bei Nichtäußerung der NCA des Herkunftsmitgliedstaats können die dortigen Gerichte angerufen werden.202 Dasselbe Anzeigeverfahren gilt für die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit.203 Die EBA erarbeitet dabei Entwürfe technischer Regulierungsstandards bzw. Durchführungsstandards über die an die NCAs zu übermittelnden Informationen, um die Konvergenz der nationalen Verfahren zu fördern. Kreditinstitute, die innerhalb des SSM tätig sind und Zweigstellen errichten möchten, sind demselben Anzeigeverfahren unterworfen.204 Als zusätzliche Voraussetzung gilt dabei, dass, wenn es sich um Zweigstellen bedeutender Kreditinstitute handelt, die NCA des Herkunftsmitgliedstaats darüber unmittelbar nach dem Informationseingang die EZB informieren muss.205 Die EZB ist dann zuständig für die Genehmigung der Errichtung der Zweigstelle. Kann die Zweigstelle errichtet werden und ihre Tätigkeiten aufnehmen, teilt sie dies dem Kreditinstitut und der NCA des Aufnahmemitgliedstaats mit.206 Bei der Errichtung von Zweigstellen von weniger bedeutenden Kreditinstituten ist hingegen die NCA des Herkunftsmitgliedstaats für den Empfang der Informationen und deren Bearbeitung zuständig, muss aber neben der NCA des Aufnahmemitgliedstaats auch der EZB über die Genehmigung der Zweigstelle berichten.207 Dasselbe Verfahren ist auch für die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit anwendbar.208 Für den Fall, dass ein in einem am SSM nicht teilnehmenden Mitgliedstaat tätiges Kreditinstitut eine Zweigstelle im SSM errichten bzw. seine Dienstleistungen im SSM erbringen möchte, muss die NCA dieses Mitgliedstaats mit der zuständigen NCA des Aufnahmemitgliedstaats in Kontakt treten, welche sodann die EZB darüber unterrichten muss.209 Im umgekehrten Fall, nämlich wenn ein im SSM angesiedeltes Kreditinstitut seine Grundfreiheiten außerhalb des SSM ausüben möchte, teilt es dies nur der NCA seines Landes mit, unabhängig davon, ob es sich um ein bedeutendes oder weniger bedeutendes Kreditinstitut handelt.210 Die Zuordnung als bedeutendes Kreditinstitut ist in diesem Zusammenhang aber maßgeblich für die Ausübung der aus dem Unionsrecht abgeleiteten Aufsichtsbefugnisse durch die EZB. 201

Art. 35 Abs. 3 und 4 UAbs. 1 CRD-IV-Richtlinie. Art. 35 Abs. 4 UAbs. 2 CRD-IV-Richtlinie. 203 Art. 39 CRD-IV-Richtlinie. 204 Art. 11 SSM-RahmenVO. 205 Art. 11 Abs. 1 SSM-RahmenVO. 206 Art. 11 Abs. 3 SSM-RahmenVO. 207 Art. 11 Abs. 4 SSM-RahmenVO. 208 Art. 12 SSM-RahmenVO. 209 Art. 13 Abs. 1 und Art. 15 SSM-RahmenVO. 210 Art. 17 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 SSM-RahmenVO. 202

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

143

IV. Verteilung der Aufsichtsbefugnisse Macht das Kreditinstitut im ESFS Gebrauch von seinen Grundfreiheiten, indem es den Europäischen Pass in Anspruch nimmt, können daraus nur seine Zweigstellen Nutzen ziehen.211 Dabei obliegt die Aufsicht über die Zweigstellen weiterhin dem Herkunftsmitgliedstaat.212 Die in diesem Sinne quasi-automatische Erbringung von Dienstleistungen sowie die damit verbundene Aufsichtspflicht durch den Herkunftsmitgliedstaat gelten nicht für rechtlich selbständige Tochterunternehmen oder die Beteiligung an bereits bestehenden Unternehmen.213 Die Tochterunternehmen bzw. Unternehmensgruppen unterliegen hinsichtlich der Zulassung und der Aufsicht den Regelungen des Sitzstaats, was zu schwierigen aufsichtsrechtlichen und organisatorischen Problemen führen kann.214 Aus diesem Grund hat das Unionsrecht dafür Sorge getragen, dass die Aufsicht bei europaweit tätigen Kreditinstituten, ähnlich wie bei den Finanzinstituten, auf konsolidierter Basis grundsätzlich durch die NCA des Staats erfolgt, in dem das übergeordnete Finanzinstitut, das sog. Mutterunternehmen, seinen Sitz hat.215 Insoweit bleiben die Aufsichtsbefugnisse der NCA des Aufnahmemitgliedstaats für die Aufsicht auf Einzelbasis unberührt.216 Dadurch besteht ein hohes Bedürfnis nach einer vertrauensbasierten Kooperation zwischen den beteiligten Aufsichtsbehörden,217 damit die Aufsicht einheitlich und möglichst wirksam erfolgen kann. Diese Funktion übernehmen Aufsichtskollegien, an denen die sog. konsolidierende Aufsichtsbehörde und die zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden beteiligt sind.218 In einer Gesamtbetrachtung ist die Rechtslage in den Mitgliedstaaten durch die Einrichtung des ESFS letztlich weitgehend unberührt geblieben. Bei der Beaufsichtigung von grenzüberschreitend tätigen Kreditinstituten stehen allerdings der NCA des Aufnahmemitgliedstaats begrenzte Kontrollbefugnisse zu,219 etwa die Möglichkeit zur Anforderung eines Berichts des Kreditinstituts über seine Tätigkeiten für Informationszwecke oder statistische Zwecke.220 Von größerer Bedeutung sind allerdings die Befugnisse des Aufnahmemitglied-

211

Art. 17 CRD-IV-Richtlinie. Art. 49 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie; T. Roth, Die indirekte Bankenaufsicht durch die EZB, 2018, S. 56. 213 S. Jörgens, Die koordinierte Aufsicht über europaweit tätige Bankengruppen, 2002, S. 37. 214 S. Jörgens, Die koordinierte Aufsicht über europaweit tätige Bankengruppen, 2002, S. 60. 215 Vgl. Erwägungsgr. 13 zweite Bankenrichtlinie 89/646/EWG; vgl. nunmehr Art. 111 CRD-IV-Richtlinie. 216 Vgl. Art. 113 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie; C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (316). 217 Art. 6 Abs. 1 lit. a) und Art. 115 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie. 218 Art. 116 Abs. 1 und 6 CRD-IV-Richtlinie. 219 Vgl. Erwägungsgr. 28 CRD-IV-Richtlinie. 220 Art. 40 CRD-IV-Richtlinie. 212

144

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

staats in Bezug auf die (Nicht-)Einhaltung des anwendbaren Rechts. Wird die NCA des Aufnahmemitgliedstaats darauf aufmerksam, dass das betreffende Kreditinstitut die anwendbaren nationalen bzw. unionalen Regelungen missachtet oder zu missachten droht, unterrichtet sie darüber die NCA des Herkunftsmitgliedstaats, die sodann unverzüglich geeignete Maßnahmen ergreifen muss, damit das Kreditinstitut die vorschriftswidrige Situation beendet oder damit das Risiko einer Nichteinhaltung der Regelungen abgwendet wird.221 Bleibt hingegen der Herkunftsmitgliedstaat untätig oder sind die getroffenen Maßnahmen für die Problembehebung ungeeignet, kann die NCA des Aufnahmemitgliedstaats die EBA um Unterstützung bitten.222 In Krisensituationen und sofern die NCA des Herkunftsmitgliedstaats noch keine Maßnahmen ergriffen hat, kann die NCA des Aufnahmemitgliedstaats angemessene Sicherungsmaßnahmen ergreifen.223 Schließlich kann die NCA des Aufnahmemitgliedstaats geeignete Maßnahmen treffen, um in ihrem Hoheitsgebiet Verstöße gegen die Bestimmungen, die sie nach Maßgabe der CRD-IV-Richtlinie oder aus Gründen des Allgemeininteresses erlassen hat, zu verhindern oder zu ahnden.224 Die Aufteilung der Aufsichtsaufgaben innerhalb des SSM wurde schon an anderer Stelle näher dargelegt.225 In diesem Kontext sind darüber hinausgehend die Fallkonstellationen von Interesse, die die Beaufsichtigung von Kreditinstituten des ESFS betreffen, die im SSM grenzüberschreitend tätig werden und umgekehrt. Errichtet ein im ESFS eingerichtetes Kreditinstitut eine Zweigstelle im SSM, stehen die Aufsichtsbefugnisse entweder der entsprechenden NCA des Aufnahmemitgliedstaats oder der EZB zu, je nach Einstufung der Zweigstelle als bedeutend oder weniger bedeutend.226 Zielt hingegen ein Kreditinstitut im ESFS darauf ab, seine Dienstleistungsfreiheit im SSM auszuüben, werden die Aufsichtsbefugnisse des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich aller Kreditinstitute allein durch die EZB ausgeübt.227 Im umgekehrten Fall, wenn ein im SSM angesiedeltes Kreditinstitut in einem am SSM nicht teilnehmenden Staat seine Niederlassungs- bzw. Dienstleistungsfreiheit ausübt, liegen alle Aufsichtsbefugnisse des Herkunftsmitgliedstaats entweder bei der EZB oder bei den NCAs des Herkunftsmitgliedstaats, je nach Einstufung des betreffenden Kreditinstituts als bedeutend oder weniger bedeutend.228

221

Art. 41 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie. Art. 41 Abs. 2 CRD-IV-Richtlinie. 223 Art. 43 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie. 224 Art. 44 CRD-IV-Richtlinie. 225 Vgl. unter 3. Kap., C. I., S. 134 ff. 226 Art. 13 Abs. 2 und Art. 14 SSM-RahmenVO. 227 Art. 16 Abs. 1 SSM-RahmenVO. 228 Art. 17 SSM-RahmenVO. 222

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

145

V. Vertrauensstärkung durch Kooperation Die Finanzkrise hat das Fehlen vertrauensgenerierender bzw. vertrauensstärkender Mechanismen sowie die Mängel einer vertrauensbasierten Zusammenarbeit zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden aufgezeigt.229 Aus diesem Grund wurde der Fokus über die Angleichung des materiellen Bankrechts hinaus auf die enge und regelmäßige Zusammenarbeit und die Konvergenz der unterschiedlichen Aufsichtspraxis in den Mitgliedstaaten erweitert. Einem Europäischen Verwaltungsverbund eigene Kooperationsmechanismen, die eine gemeinsame Aufsichtskultur zu schaffen bzw. das Vertrauen in die ordnungsgemäße Anwendung der entsprechenden Regelungen zu verstärken vermögen, sind nunmehr im ESFS und SSM im Bereich der Bankenaufsicht sekundärrechtlich vorgesehen. 1. ESFS Zunächst wird im ESFS die Konvergenz hinsichtlich der aufsichtsrechtlichen Praxis durch die Regulierungsbefugnisse der EBA vorangetrieben, indem Letztere Entwürfe für technische Regulierungsstandards bzw. Durchführungsstandards ausarbeitet und der Kommission vorlegt.230 Beabsichtigt die Kommission, einen solchen Entwurf nicht oder nur teilweise zu billigen, sendet sie ihn an die EBA zurück und erläutert, warum sie ihn nicht billigt, oder gegebenenfalls, warum sie Änderungen vorgenommen hat,231 sodass der EBA eine Disziplinarfunktion gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden zukommt.232 Vergleichbar steht der EBA das Recht zu, durch unverbindliche Leitlinien und Beschlüsse für die einheitliche und kohärente Anwendung des Unionsrechts zu sorgen, die von den NCAs sowie der EZB beachtet werden müssen („Comply-or-explain“-Mechanismus).233 Die Wahrung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts wird darüber hinaus durch institutionalisierte Kooperationsmechanismen verfolgt. In vertikaler Hinsicht kommt die Zusammenarbeit der auf unterschiedlichen Ebenen tätigen Aufsichtsbehörden bei der Beteiligung der Leiter der NCA jedes Mitgliedstaats am Rat der Aufseher – dem Hauptorgan der EBA – zum Ausdruck, wobei einzig die Vertreter der NCAs stimmberechtigt sind.234 In horizontaler Hinsicht bilden die durch die konsolidierende Aufsichtsbehörde235 errichteten 229

The high-level group on financial supervision in the EU (De Larosie`re report), 25 February 2009, abrufbar unter https://ec.europa.eu/economy finance/publications/pages/publi cation14527 en.pdf, S. 41, Rn. 159 f.; C. Buttigieg, ERA Forum 15 (2014), 197 (198 f.); ders., ERA Forum 2017, 41 (42). 230 Art. 10 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 EBA-Verordnung. 231 Art. 10 Abs. 1 UAbs. 6 und Art. 15 Abs. 1 UAbs. 5 EBA-Verordnung. 232 J. A. Kämmerer, NVwZ 2011, 1281 (1283). 233 Art. 16 Abs. 1 und 3 EBA-Verordnung i.V.m. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 SSM-Verordnung; ferner zum Verhältnis der EZB zur EBA unter 3. Kap., C. VII., S. 152 f. 234 Art. 40 Abs. 1 EBA-Verordnung. 235 Vgl. Art. 111 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie, wonach die konsolidierende Aufsichtsbehörde

146

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Aufsichtskollegien bei europaweit tätigen Unternehmensgruppen die stärkste Form der Zusammenarbeit im Bereich der Bankenaufsicht. Sie sind aus Vertretern der für das Mutterunternehmen sowie das/die Tochterunternehmen zuständigen Behörden zusammengesetzt.236 Dabei besteht die Möglichkeit, schriftliche Koordinierungs- und Kooperationsvereinbarungen zu treffen oder sogar die aufsichtsrechtlichen Aufgaben hinsichtlich der Tochterunternehmen im Wege einer bilateralen Vereinbarung auf die zuständige NCA für das Mutterunternehmen zu übertragen.237 Daneben wird hinsichtlich der Wahrnehmung sämtlicher Aufsichtsaufgaben besonderer Wert auf die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Aufsichtsbehörden und der EBA, insbesondere zwischen den Behörden des Herkunfts- und Aufnahmemitgliedstaats, gelegt, damit eine effiziente und effektive Aufsicht über das Kreditinstitut und seine Zweigstellen erfolgen kann und gegebenenfalls rechtzeitig geeignete Maßnahmen zur Verhinderung etwaiger Verstöße gegen das Unionsrecht durch das Kreditinstitut getroffen werden.238 In diesem Zusammenhang können die NCAs des Herkunftsmitgliedstaats in enger Abstimmung mit jenen des Aufnahmemitgliedstaats Nachprüfungen vor Ort bzw. Inspektionen der Zweigstellen vornehmen.239 Dadurch soll das Vertrauen in die Gleichwertigkeit der nationalen Aufsichtsmodelle bzw. die Unionsrechtstreue der nationalen Aufsichtsbehörden gestärkt werden. 2. SSM In ähnlicher Weise wird auch im SSM eine Kongruenz und einheitliche Aufsicht über die Kreditinstitute innerhalb der Eurozone angestrebt, wobei die EZB für das wirksame und einheitliche Funktionieren des SSM verantwortlich ist.240 Die NCAs nehmen – der allgemeinen Unterstützungspflicht bei der Erfüllung der in der SSM-Verordnung festgelegten Aufgaben folgend241 – Hilfsaufgaben gegenüber der EZB wahr.242 Dies ist mit der Pflicht der NCAs verbunden, von sich aus der EZB stets alle Informationen zur Verfügung zu stellen, die für die Wahrnehmung der der EZB durch die SSM-Verordnung übertragenen Aufgaben erfor-

bei einem Mutterunternehmen, das ein Kreditinstitut ist, diejenige NCA ist, die die Zulassung erteilt hat. 236 Art. 116 Abs. 1 und 6 CRD-IV-Richtlinie. 237 Art. 115 Abs. 2 CRD-IV-Richtlinie. 238 Art. 50 und Art. 117 CRD-IV-Richtlinie. 239 Art. 52 CRD-IV-Richtlinie; der Aufsichtsbehörde des Herkunftsmitgliedstaats kommt dabei keine eigene Zwangsbefugnis im Aufnahmemitgliedstaat zu, vgl. C. Ohler, in: P. Derleder/K.-O. Knops/H. G. Bamberger (Hrsg.), Deutsches und europäisches Bank- und Kapitalmarktrecht, Bd. II, 3. Aufl. 2017, § 90, Rn. 15. 240 Art. 6 Abs. 1 S. 2 SSM-Verordnung. 241 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 65; ders., Die Verwaltung 49 (2016), 309 (334). 242 Art. 6 Abs. 3 S. 1 SSM-Verordnung.

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

147

derlich sind.243 Dabei sind die NCAs stets den an sie gerichteten Anweisungen bzw. im Bereich der indirekten Aufsicht durch die EZB hinsichtlich weniger bedeutender Kreditinstitute den allgemeinen Weisungen der EZB unterworfen244 und müssen regelmäßig der EZB über die Ausübung ihrer Aufgaben Bericht erstatten.245 Die Rechtsakte der EZB gelten somit als unmittelbares Binnenrecht246 und deuten auf eine strukturelle, hierarchische Überordnung der EZB über die nationalen Stellen hin.247 Für die laufende Aufsicht über bedeutende Banken sind die gemeinsamen Aufsichtsteams, die sog. Joint Supervisory Teams (JSTs), vorgesehen, die hauptsächlich der Erleichterung des Informationsaustausches zwischen der EZB und den NCAs dienen.248 Jedes gemeinsame Aufsichtsteam setzt sich aus Mitarbeitern der EZB und der NCAs zusammen249 und wird von einem von der EZB benannten JST-Koordinator geleitet, der wiederum von einem von der NCA benannten Unterkoordinator unterstützt wird.250 Angesichts der Tatsache, dass die Einrichtung und Zusammensetzung eines JST ausschließlich der EZB obliegt,251 sind die JSTs als funktionaler Arm bzw. als Behörde der EZB anzusehen, deren Handlungen der EZB rechtlich zurechenbar sind.252 Dadurch wird ein Netzwerk geschaffen, in dem die NCAs über die durch die EZB ausgeübte Aufsicht über die (als bedeutend eingestuften) Banken in ihrem Mitgliedstaat stets informiert werden253 und gleichzeitig ihre jahrelang gesammelte Erfahrung nutzen können. Die JSTs sind allerdings nicht zum Erlass von aufsichtsrechtlichen Beschlüssen befugt, sie sind aber für die Sammlung von Informationen und deren Bewertung zuständig.254 Daneben besteht eine weitere organisatorische Verflechtung der unionalen mit der nationalen Ebene in Gestalt der Vorbereitung der Beschlussentwürfe durch das Aufsichtsgremium,255 das uneingeschränkt zuständig für die

243

Art. 6 Abs. 2 UAbs. 1 SSM-Verordnung. Art. 6 Abs. 3 S. 2 und Abs. 5 lit. a) SSM-Verordnung i.V.m. Art. 22 Abs. 1 SSM-RahmenVO. Im ESFS sind hingegen vor dem Beschlusserlass durch die EBA ein förmliches Verwaltungsverfahren (Art. 39 EBA-Verordnung) sowie ein Rechtsbehelf gegen den Beschluss (Art. 60 f. EBA-Verordnung) vorgesehen. 245 Art. 6 Abs. 6 UAbs. 3 SSM-Verordnung; vgl. auch Art. 97 ff. SSM-RahmenVO. 246 C. Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), 309 (333). 247 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 34, 61. 248 Ferner P. Hilbert, in: L. Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019, S. 111 (126 ff.). 249 Art. 6 Abs. 4 SSM-RahmenVO; K. Lackhoff, JIBLR 29 (2014), 498 (501). 250 Art. 3 bis 6 SSM-RahmenVO. 251 Art. 4 Abs. 1 SSM-RahmenVO. 252 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 69. 253 P. Hilbert, in: L. Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019, S. 111 (130). 254 Art. 26 Abs. 8 SSM-Verordnung. 255 Es handelt sich um ein EZB-internes Organ, vgl. Art. 26 Abs. 1 UAbs. 1 SSM-Verordnung. 244

148

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Planung und Wahrnehmung der Aufgaben der EZB im SSM ist.256 Dieses Organ ist gemischt zusammengesetzt und besteht aus einem Vorsitzenden, der nicht Mitglied des EZB-Rats ist, einem stellvertretenden Vorsitzenden, der Mitglied des EZB-Direktoriums ist, vier weiteren Vertretern der EZB und einem Vertreter jeder NCA.257 Es liegt also nahe, dass die EZB selbst im Bereich der direkten Bankenaufsicht weitgehend auf die NCAs angewiesen ist, die sich wiederum gegenseitig unterstützen bzw. untereinander eng zusammenarbeiten müssen. Die vertrauensbasierte Zusammenarbeit innerhalb des SSM zeigt sich des Weiteren in der Beaufsichtigung von grenzüberschreitend tätigen Unternehmensgruppen auf konsolidierter Basis.258 Die EZB nimmt dabei als konsolidierende Aufsichtsbehörde die Beaufsichtigung der in einem teilnehmenden Mitgliedstaat niedergelassenen Muttergesellschaften von Kreditinstituten wahr, wenn das Mutterunternehmen auf konsolidierter Basis259 bedeutend ist.260 Die Errichtung eines Aufsichtskollegiums ist in diesem Rahmen entbehrlich, wenn die Gruppe sowieso insgesamt der Aufsicht der EZB unterliegt.261 Falls dagegen Aufsichtsbehörden in nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten beteiligt sind, weil gruppenangehörige Institute dort niedergelassen sind, führt die EZB im zwingend zu errichtenden Aufsichtskollegium262 den Vorsitz.263 Wenn schließlich die konsolidierende Aufsichtsbehörde außerhalb des SSM angesiedelt ist, richtet sich die Teilnahme der EZB und der NCAs am Aufsichtskollegium nach Art. 10 SSM-RahmenVO. Insoweit wird die vertrauensbasierte Zusammenarbeit aller NCAs, unabhängig davon, ob sie im SSM oder außerhalb des SSM angesiedelt sind, durch die Errichtung der Aufsichtskollegien institutionell abgesichert. Zur Vertrauensstärkung zwischen den beteiligten Aufsichtsbehörden sieht schließlich die SSM-Verordnung – neben den im ESFS bestehenden Kooperationsmechanismen, die auch im Rahmen des SSM einschlägig sind – den Personalaustausch bzw. die gegenseitige Entsendung von Mitarbeitern zwischen den NCAs vor.264 Darüber hinaus ist der EZB die Befugnis vorbehalten, zu verlangen, dass Aufsichtsteams der NCAs, die in Bezug auf ein Kreditinstitut in einem teilnehmenden Mitgliedstaat Aufsichtsmaßnahmen ergreifen, gegebenenfalls

256 Ausführlicher dazu C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 35 ff.; P. Hilbert, in: L. Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019, S. 111 (129 f.). 257 Art. 26 Abs. 1, 3, 5 SSM-Verordnung. 258 Vgl. Art. 8 SSM-RahmenVO. 259 Vgl. C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 70, laut dem dadurch grundsätzlich besondere Risiken frühzeitig erkannt bzw. bewältigt werden sollen, die im Einzelunternehmen nicht ersichtlich wären. 260 Sonst verbleibt die Aufsicht auf konsolidierter Basis über weniger bedeutende Mutterunternehmen bei den NCAs, vgl. Art. 4 Abs. 1 lit. g) SSM-Verordnung i.V.m. Art. 8 SSMRahmenVO. 261 Art. 17 Abs. 2 SSM-Verordnung. 262 Art. 116 Abs. 1 CRD-IV-Richtlinie. 263 Art. 9 SSM-RahmenVO. 264 Art. 31 Abs. 1 SSM-Verordnung.

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

149

auch Mitarbeiter der NCA eines anderen teilnehmenden Mitgliedstaats einbeziehen.265 Schließlich muss die EZB umfassende und förmliche Verfahren (einschließlich Ethikverfahren und verhältnismäßiger Überprüfungszeiträume) einrichten, um etwaigen Interessenkonflikten aufgrund einer Anschlussbeschäftigung von Mitgliedern des Aufsichtsgremiums und Mitarbeitern der EZB bei Instituten des Privatsektors, die der aufsichtlichen Zuständigkeit der EZB unterliegen, entgegenzuwirken.266 Diese auf das Personal der NCAs bezogenen Regelungen dienen der Vertrauensstärkung zwischen den Aufsichtsbehörden, indem der Rahmen für eine gemeinsame Praxiserfahrung geschaffen wird und etwaige Hindernisse zu einer vertrauensbasierten Zusammenarbeit beseitigt werden. Eine auf Dauer angelegte Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden ist geeignet, Defizite bei der Aufgabenwahrnehmung in einem Mitgliedstaat zu erkennen. Sodann kann die EZB als Hüterin des SSM, Vorkehrungen treffen bzw. Verstöße gegen das Unionsrecht durch Anweisungen an die betreffende NCA rechtzeitig beseitigen.

VI. Umgekehrter Vollzug und vertikale Aufhebungsentscheidungen im SSM Der SSM stellt einen Europäischen Verwaltungsverbund267 par excellence268 dar, der durch seine strukturellen und institutionellen Verflechtungen nationaler und unionaler Stellen unmittelbar der Vertrauensstärkung zwischen den beteiligten Aufsichtsbehörden dient. Zudem unterstreichen zwei Neuerungen die Rolle des SSM als „Labor“ für die Weiterentwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts.269 Das erste Novum liegt in der Anwendung nationaler Vorschriften durch die EZB, mit denen die Mitgliedstaaten Richtlinien umsetzen sowie Optionsrechte aus einer Verordnung ausüben.270 Der Vollzug „in umgekehrter Rich265

Art. 31 Abs. 2 SSM-Verordnung. Art. 31 Abs. 3 SSM-Verordnung. 267 Zum Begriff „Verwaltungsverbund“ G. Britz, EuR 2006, 46 (47 ff.); M. Ruffert, DÖV 2007, 761 (761 ff.); F. Schoch, in: ders./J.-P. Schneider (Hrsg.), VwVfG, 2021 (Stand des Gesamtwerks), Einleitung, Rn. 460 ff.; E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 5, Rn. 22 ff.; W. Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 20 ff., 47 ff.; frühere Verwendung des Verbundbegriffs bei W. Kahl, Die Verwaltung 29 (1996), 341 (360); zum fehlenden normativen Gehalt W. Kahl, Der Staat 50 (2011), 353 (355); E. Peuker, JZ 69 (2014), 764 (767). 268 E. Gören, SSM, 2019, S. 109 f.; P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (191); M. Lehmann/C. Manger-Nestler, ZBB 2014, 2 (9 f.); C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 61; E. Peuker, JZ 69 (2014), 764 (766); J. Ruthig, ZHR 178 (2014), 443 (472); K. Vossen, Rechtsschutz in der europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 44 f. 269 P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (192); A.-K. Kaufhold, Die Verwaltung 49 (2016), 339 (340); T. Roth, Die indirekte Bankenaufsicht durch die EZB, 2018, S. 16; K. Vossen, Rechtsschutz in der europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 46. 270 Erwägungsgr. 34 und Art. 4 Abs. 3 SSM-Verordnung; kritisch dazu E. Peuker, JZ 69 (2014), 764 (765 ff.); K. Lackhoff, in: H. Posser/H. Pünder/U. J. Schröder (Hrsg.), Liber 266

150

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

tung“271 bricht das herkömmliche Verständnis des Europäischen Verwaltungsverbunds,272 der durch klare Funktionstrennung, Trennung der Rechtsanwendungshoheit und damit auch klare Gerichtszuständigkeiten gekennzeichnet ist, und trägt somit zu einer dynamischen Weiterentwicklung des Begriffs bei. In diesem Zusammenhang sind also die NCAs – die im SSM als funktionale Unionsbehörden agieren – und die EZB als funktionale Einheit zu verstehen. Ähnliches gilt für das materielle Aufsichtsrecht, das hier aus der Gesamtheit der unionsrechtlichen und nationalen Vorschriften besteht. Dabei dient die unionsrechtskonforme Auslegung bzw. Anwendung nationalen Rechts durch eine übergeordnete Stelle, nämlich die EZB, der Annäherung voneinander abweichender mitgliedstaatlicher Umsetzungen.273 Der Vollzug nationalen Rechts durch die EZB untermauert den Vertrauensgrundsatz dahingehend, dass, zumindest in Bezug auf die bedeutenden Kreditinstitute, von der einheitlichen bzw. unionsrechtskonformen Anwendung des materiellen Aufsichtsrechts in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ausgegangen werden kann.274 Amicorum Ehlers, 2015, S. 177 (188); anders aber F. Kazimierski, Rechtsschutz im Rahmen der Europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 91 ff.; ferner A.-K. Kaufhold, JöR 66 (2018), 85 (88 ff.); C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 179 ff.; G. Schuster, EuZWBeilage 2014, 3 (8); A. Witte, MJ 21 (2014), 89 (105 ff.). Die Primärrechtskonformität des umgekehrten Vollzugs grundsätzlich bejahend A.-K. Kaufhold, JöR 66 (2018), 85 (99 ff.), die gleichzeitig auf die Notwendigkeit eines umgekehrten Normenkontrollverfahrens hinweist (106 ff.); anders E. Peuker, JZ 69 (2014), 764 (767 ff.), nach dem der umgekehrte Vollzug sowohl mit dem nationalen Verfassungsrecht als auch mit dem Primärrecht unvereinbar ist. 271 E. Peuker, JZ 69 (2014), 764 (765); K. Vossen, Rechtsschutz in der europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 207 ff. 272 A.-K. Kaufhold, JöR 66 (2018), 85 (90, 93); C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 179; F. Schoch, in: ders./J.-P. Schneider (Hrsg.), VwVfG, 2021 (Stand des Gesamtwerks), Einleitung, Rn. 470; K. Vossen, Rechtsschutz in der europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 208 charakterisiert diese Konstruktion als „äußert exotisch“. 273 A.-K. Kaufhold, JöR 66 (2018), 85 (91); G. Schuster, EuZW-Beilage 2014, 3 (8). 274 Zu den sich aus Art. 4 Abs. 3 SSM-Verordnung ergebenden Rechtsschutzproblemen J. A. Kämmerer, WM 2016, 1 (3 f.); M. Martini/Q. Weinzierl, NVwZ 2017, 177 (178 ff.); C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 180; G. Schuster, EuZW-Beilage 2014, 3 (8). Für die Heranziehung des nationalen Rechts als Prüfungsmaßstab im Rahmen des Art. 263 AEUV C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 180; S. Tusch/B. Herz, EuZW 2015, 814 (816); W.-R. Schenke, in: J. Ziekow/J. H. Seok (Hrsg.), Systemkrisen und Systemvertrauen, 2015, S. 63 (77); dabei sollen die Rechtsprechung und Auslegung nationalen Rechts durch die nationalen Gerichte bzw. Verfassungsgerichte im Wege eines umgekehrten Vorabentscheidungsverfahrens berücksichtigt werden, A.-K. Kaufhold, Die Verwaltung 49 (2016), 339 (366); dies., JöR 66 (2018), 85 (107 f.); M. Martini/Q. Weinzierl, NVwZ 2017, 177 (182 f.); K. Vossen, Rechtsschutz in der europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 259 ff.; die Beachtung der nationalen höchstrichterlichen Rechtsprechung befürwortend, auch ohne ein umgekehrtes Vorabentscheidungsverfahren, E. Gören, SSM, 2019, S. 212; G. Schuster, EuZW-Beilage 2014, 3 (8). Das nationale Bankenaufsichtsrecht, soweit es Richtlinien umsetzt, wird durch Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 SSM-Verordnung in die Unionsrechtsordnung inkorporiert und kann damit Prüfungsmaßstab einer Nichtigkeitsklage sein, so F. Kazimierski, Rechtsschutz im Rahmen der Europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 249 ff.;

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

151

Die zweite Neuerung betrifft die Befugnis der am SSM beteiligten Verwaltungsbehörden, die auf einer anderen Ebene erlassenen Aufsichtsbeschlüsse bei einem späteren Zuständigkeitswechsel aufzuheben.275 Wie schon an anderer Stelle dargelegt,276 ist die Klassifizierung eines Kreditinstituts als bedeutend oder weniger bedeutend entscheidend für die Bestimmung der Zuständigkeit der Aufsichtsbehörden. Eine Zuständigkeitsänderung in beide Richtungen277 kann indes im Nachhinein jederzeit278 durch einen Beschluss der EZB erfolgen,279 wenn sich die Kriterien hinsichtlich der Signifikanz eines Kreditinstituts geändert haben, sodass Letzteres nunmehr in die Aufsichtszuständigkeit der EZB bzw. der NCAs fällt. Ein Zuständigkeitswechsel kann außerdem infolge einer EuGH-Entscheidung stattfinden, falls ein Einstufungsbeschluss der EZB im Rahmen einer vom Kreditinstitut erhobenen Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 4 und 264 AEUV für nichtig erklärt wird.280 Unmittelbare Rechtsfolge dieses Zuständigkeitswechsels ist die Möglichkeit vertikaler Aufhebungsentscheidungen,281 indem die NCAs Aufsichtsmaßnahmen der EZB nun aufheben können und umgekehrt. Das Erlassverfahren ist also in diesem Zusammenhang von dem Aufhebungsverfahren zu unterscheiden und getrennt zu überprüfen. Dadurch wird die hierarchische Überordnung der EZB abgefedert282 und ein neues Merkmal im Europäischen Verwaltungsverbund eingeführt.283 Auch hier kommt daher der Verbundgedanke in Gestalt einer funktionalen Einheit der beteiligten Behörden besonders deutlich zum Ausdruck.284 Allerdings bleiben die Weisungsrechte285 bzw. das Selbsteintrittsrecht286 der EZB unberührt. Aus dieser rechtlichen Konstellation folgt, dass sowohl die nationalen als auch die europäischen Gerichte angerufen werden können, die gegebenenfalls eine inzidente vertikale Rechtmäßigkeitskontrolle eines auf einer anderen Ebene erlassenen Beschlusses vornehmen müssen. Gegen eine top-down-Aufhebung, d.h. die Aufhebung eines nationalen Verwaltungsakts durch einen Beschluss der a.A. A.-K. Kaufhold, JöR 66 (2018), 85 (90); ähnlich J. A. Kämmerer, WM 2016, 1 (3); M. Martini/Q. Weinzierl, NVwZ 2017, 177 (180); K. Vossen, Rechtsschutz in der europäischen Bankenaufsicht, 2020, S. 216 ff. 275 Ausführlich P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (192 ff.). 276 S. unter 3. Kap., C. I., S. 134 ff. 277 Vgl. Art. 39 Abs. 1 und 2 SSM-RahmenVO. 278 Art. 43 SSM-RahmenVO. 279 Art. 39 Abs. 1, Art. 44 Abs. 2 S. 1 und Art. 45 Abs. 1 S. 1 SSM-RahmenVO. 280 P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (196 ff.). 281 P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (204 ff.). 282 Zur Verbundverwaltungsstruktur als einer „kooperativ abgefederten Hierarchie“ E. Schmidt-Aßmann, in: H.-J. Cremer (Hrsg.), FS Steinberger, 2002, S. 1375 (1389); ders., in: ders./B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 1 (14). 283 Allgemein zu den Phänomenen der Verbundverwaltung W. Kahl, Der Staat 50 (2011), 353 (366 ff.). 284 In diesem Sinne auch P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (204). 285 Art. 9 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 SSM-Verordnung, Art. 22 Abs. 1 SSM-RahmenVO. 286 Art. 6 Abs. 5 lit. b) SSM-Verordnung, Art. 39 Abs. 5, Art. 67 ff. SSM-RahmenVO.

152

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

EZB,287 ist die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV statthaft und somit das EuG/der EuGH das zuständige Gericht. Bei der gerichtlichen Kontrolle des Aufhebungsbeschlusses der EZB wird das EuG/der EuGH auch die Rechtmäßigkeit der aufgehobenen nationalen Entscheidung inzident prüfen müssen.288 Im umgekehrten Fall einer bottom-up-Aufhebung, d.h. bei der Aufhebung eines EZB-Beschlusses durch die nach dem Zuständigkeitswechsel zuständige NCA, ist die nationale Gerichtsbarkeit für die Rechtmäßigkeitsprüfung der Aufhebungsentscheidung zuständig und das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV wie üblich für unionsrechtliche Rechtsfragen anwendbar. Die Möglichkeit einer nachträglichen Aufhebung aufsichtsrechtlicher Maßnahmen durch eine andere als die für deren Erlass zuständige Behörde sowie die entsprechende Einbindung der nationalen bzw. europäischen Gerichtsbarkeit bestätigen die funktionale Einheit des SSM und schaffen somit einen Mehrwert für den Vertrauensgrundsatz, indem unter bestimmten Voraussetzungen eine Kontrollstufe hinsichtlich der rechtmäßigen Anwendung des Aufsichtsrechts eingeführt wird.289

VII. Verhältnis zwischen EZB und EBA Die EZB ist in ihrer Eigenschaft als Aufsichtsbehörde Bestandteil des ESFS290 und muss in enger vertrauensbasierter Zusammenarbeit mit allen ESAs ihre Aufgaben unbeschadet der Zuständigkeiten und Aufgaben der anderen Teilnehmer im Rahmen des ESFS wahrnehmen.291 Die Teilnahme eines nicht stimmberechtigten Vertreters der EZB am Rat der Aufseher, dem Hauptorgan der EBA,292 stellt den institutionellen Ausdruck dieser Zusammenarbeit dar. Das Verhältnis von EZB und EBA293 weist dabei sowohl komplementäre als auch konkurrierende Merkmale auf.294 Komplementär angesichts der Tatsache, dass die durch 287

Im Sinne von Art. 288 Abs. 4 AEUV. In diesem Rahmen wäre allerdings die Auslegung des einschlägigen nationalen Rechts durch ein umgekehrtes Vorabentscheidungsverfahren sinnvoll, vgl. P. Hilbert, Die Verwaltung 50 (2017), 189 (210). 289 Zur Vertrauenssicherung durch Kontrolle vgl. unter 5. Kap., D. III., S. 219. 290 Vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. f) EBA-Verordnung. 291 Erwägungsgr. 31 und Art. 3 Abs. 3 SSM-Verordnung. 292 Art. 40 Abs. 1 lit. d) EBA-Verordnung. 293 Ferner dazu E. Gurlit, EuZW-Beilage 2014, 14 (14 ff.); N. Moloney, CMLRev. 51 (2014), 1609 (1663 ff.). Allgemein zum Verhältnis zwischen ESFS und SSM sowie zur Änderung der Abstimmungsmodalitäten im Rat der Aufseher der EBA hinsichtlich der am SSM teilnehmenden und nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten E. Gören, SSM, 2019, S. 250 f.; C. V. Gortsos, in: M. Andenas/G. Deipenbrock (Hrsg.), European Financial Markets, 2016, S. 277 (285 ff.); M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 221 ff.; P. Schammo, in: P. J. Birkinshaw/A. Biondi (Hrsg.), Britain Alone!, 2016, § 16; A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 185 ff. 294 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 98; A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 187. 288

C. Bankenaufsicht als Sondergebiet der Finanzaufsicht

153

die EBA ausgearbeiteten Entwürfe für technische Regulierungsstandards und technische Durchführungsstandards, die dann die Kommission mittels einer Verordnung oder eines Beschlusses erlassen kann,295 zum rechtlichen Rahmen für die Wahrnehmung der aufsichtsrechtlichen Aufgaben der EZB im SSM gehören.296 Die Zuständigkeiten der EZB und der EBA überschneiden sich bzw. konkurrieren allerdings im Bereich der mikroprudenziellen Aufsicht miteinander.297 Denn beide Behörden sind vom Unionsgesetzgeber mit der Gewährleistung der Wirksamkeit, des effektiven Funktionierens und der Kohärenz der nationalen Aufsichtssysteme beauftragt298 und zur Entwicklung eines einheitlichen Rahmenwerks gefordert.299 Die im Rahmen des ESFS als „nationale Behörden“ bezeichneten NCAs300 müssen einerseits die Leitlinien und Empfehlungen der EBA berücksichtigen, andererseits unterliegen sie den Leitlinien und Weisungen der EZB, solange sie im SSM tätig sind.301 In dieser Hinsicht wirken die EBA und die EZB auf die Annäherung und Koordinierung der nationalen Aufsichtsergebnisse hin. Eine konfliktgeladene Konstellation kann sich daraus ergeben, dass die EZB zum Erlass von Verordnungen befugt ist,302 die unmittelbar als Recht für den Euroraum gelten und gegebenenfalls über die Leitlinien der EBA hinausgehen, sodass gleiche Tätigkeiten im ESFS unterschiedlichen Anforderungen unterliegen könnten.303 Um den Erlass sich gegeneinander konterkarierender Maßnahmen zu vermeiden, sollen EZB und EBA nach dem explizit in den Sekundärrechtsakten niedergelegten304 Loyalitätsgrundsatz diesbezüglich in enger Abstimmung handeln.305 Eine funktionale hierarchische Unterordnung der EZB unter die EBA kann allerdings dann nicht ausgeschlossen werden, wenn die EBA ihre Kontrollbefugnisse hinsichtlich der Rechtsaufsicht bei Verletzungen des Unionsrechts, der Bewältigung von Krisensituationen sowie der Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen nationalen Aufsichtsbehörden in Anspruch nimmt. In einem solchen Fall genießen die durch die EBA erlassenen Beschlüsse Vorrang vor widersprechenden Aufsichtsmaßnahmen der NCAs bzw. der EZB, was zum paradoxen Ergebnis der Unterordnung eines unmittelbar auf primär-

295

Vgl. Art. 10 Abs. 4 und Art. 15 Abs. 4 EBA-Verordnung. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 SSM-Verordnung. 297 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 97 ff.; U. H. Schneider, EuZW 2013, 452 (456). 298 Art. 1 Abs. 5 UAbs. 2 EBA-Verordnung; Art. 6 Abs. 1 und 5 SSM-Verordnung. 299 Art. 6 Abs. 7 SSM-Verordnung, Art. 8 Abs. 1 lit. a) und Art. 29 Abs. 2 EBA-Verordnung. 300 Art. 2 Abs. 2 lit. f), Art. 4 Abs. 2 lit. i) EBA-Verordnung; Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 SSMVerordnung. 301 Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 S. 1 und 3 SSM-Verordnung. 302 Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 S. 1 und 3 SSM-Verordnung. 303 M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 224. 304 Art. 2 Abs. 4 EBA-Verordnung; Art. 6 Abs. 2 SSM-Verordnung. 305 Ähnlich, allerdings ohne Bezugnahme auf den Loyalitätsgrundsatz M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 224. 296

154

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

rechtlicher Grundlage beruhenden EU-Organs unter eine durch Sekundärrecht geschaffene Agentur führt.306 Die der EBA ausnahmsweise zugesprochene Rechtsaufsicht wirkt insoweit vertrauenssichernd, als etwaige Verstöße gegen das Unionsrecht durch die EZB als Aufsichtsbehörde des ESFS abgestellt werden.

D. Inhalt des Vertrauensgrundsatzes Der genaue Inhalt des Vertrauensgrundsatzes wurde bislang weder in der Literatur noch in der EuGH-Rechtsprechung herausgearbeitet. Dies kann der Tatsache geschuldet sein, dass im Bereich der Finanz- bzw. Bankenaufsicht die Grundsätze der Anerkennung bzw. des Vertrauens zugunsten der Verwirklichung der Grundfreiheiten und der damit verbundenen Grundrechte wirken und sich daher kein Spannungsverhältnis zwischen Vertrauen und Grundrechtsschutz ergibt.307 Daneben vermögen die den unionalen Aufsichtsbehörden zugesprochenen Kontrollbefugnisse, die institutionellen Verflechtungen der beteiligten Stellen sowie die in den einschlägigen Sekundärrechtsakten des ESFS und des SSM festgelegten Kooperationsmechanismen die Wahrung des Aufsichtsrechts in unterschiedlichen Zeitpunkten sicherzustellen und somit einer Widerlegung der Vermutung der Unionsrechtstreue grundsätzlich entgegenzuwirken. Denn ein festes Fundament für die vertrauensbasierte Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, das durch vertrauensfördernde und vertrauenssichernde Elemente weiter gefestigt wird, wirkt entsprechend positiv auf die Beständigkeit des Vertrauensgrundsatzes. Vor dem Hintergrund, dass die effiziente und effektive Aufsicht über die Finanz- bzw. Bankenaufsicht weitgehend auf dem Informationsaustausch zwischen den Aufsichtsbehörden beruht,308 umfasst der Vertrauensgrundsatz neben der Vermutung der Rechtstreue im Hinblick auf das Unionsrecht bzw. das anzuwendende nationale Recht insbesondere die Vermutung der Zuverlässigkeit der ermittelten Informationen, die für die Erfüllung der unionsrechtlichen Aufsichtsaufgaben bzw. Kooperationspflichten erforderlich sind.309 Dies lässt sich auch 306

Kritisch E. Gurlit, EuZW-Beilage 2014, 14 (17); M. Herdegen, WM 2012, 1889 (1893); M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 222; N. Moloney, CMLRev. 51 (2014), 1609 (1665); vgl. aber T. Tröger, ZBB 2013, 373 (389), die EZB erscheine de facto als mächtigerer Standardsetzer als die EBA. 307 Vgl. in Bezug auf den Binnenmarkt insgesamt E. Schmidt-Aßmann/A.-K. Kaufhold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. II, 3. Aufl. 2022, § 27, Rn. 22a; ferner oben unter 2. Kap., B., S. 36 f. 308 P. Hilbert, in: L. Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019, S. 111 (126 ff.). 309 Das EuG hat zuletzt die Anwendbarkeit der widerlegbaren Vertrauensvermutung im Verhältnis zwischen der Kommission, den nationalen Wettbewerbsbehörden und den nationalen Gerichten bei der Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV erstmalig bestätigt, vgl. EuG, T-791/19, ECLI:EU:T:2022:67, Rn. 85, 88 – Sped-Pro/Kommission; dazu M. Bernatt,

E. Grenzen des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des Europäischen Passes

155

den Ausführungen des EuG implizit entnehmen, soweit das Gericht davon ausgeht, dass „die Übermittlung falscher Angaben an eine nationale Aufsichtsbehörde (durch das betreffende Kreditinstitut) insofern von besonderer Schwere ist, als sie die Zuverlässigkeit der von den beaufsichtigten Kreditinstituten übermittelten Angaben in Frage stellen kann, die erforderlich ist, um die Wirksamkeit und Effizienz ihrer Aufgabe sowie das System gegenseitigen Vertrauens zwischen den NCAs zu gewährleisten, das durch die Schaffung des Anzeigeverfahrens, des sogenannten ,EU-Pass-Verfahrens‘, innerhalb des SSM gewährleistet werden soll.“310

Ähnlich gilt im gesamten ESFS, dass „im Einklang mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit […] die Teilnehmer […] vertrauensvoll und in uneingeschränktem gegenseitigem Respekt zusammenarbeiten und insbesondere die Weitergabe von angemessenen und zuverlässigen Informationen untereinander sicherstellen.“311

Zu diesem Zweck sind die ESAs in ihrer Rolle als Koordinatorinnen befugt, unter anderem die Zuverlässigkeit der durch die NCAs ermittelten Informationen sofern möglich und zweckmäßig zu überprüfen, bevor sie diese zentralisieren, damit diese Informationen sodann allen NCAs zur Verfügung stehen.312 Daraus folgt, dass die kooperierende Aufsichtsbehörde nach dem Vertrauensgrundsatz nicht verpflichtet ist, die Zuverlässigkeit der ihr übermittelten Informationen – zum Beispiel im Rahmen des Europäischen Passes und des damit verbundenen Anzeigeverfahrens313 – zu überprüfen. In diesem Kontext wird die Übermittlung falscher Angaben durch das betreffende Unternehmen mit dem Entzug seiner Zulassung sanktioniert.

E. Grenzen des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des Europäischen Passes Auch wenn der Vertrauensgrundsatz auf einem festen Fundament beruht, das wegen der verdichteten Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden bislang nicht angetastet worden ist, rechtfertigt dies nicht seinen „blinden“ Geltungsanspruch. Seine Reichweite wird deshalb am Beispiel des Europäischen Passes untersucht, der, wie eingangs dargestellt,314 die zentrale Ausprägung des AnerkennungsCMLRev. 60 (2023), 199; D. Krimphove, EuR 2022, 639 (643 ff.); B. Van Rompuy, JECL & Pract. 13 (2022), 1 (2 f.). 310 EuG, verb. Rs. T-351/18 und T-584/18, ECLI:EU:T:2021:669, Rn. 262 – Ukrselhosprom PCF und Versobank/EZB. 311 Art. 2 Abs. 4 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 312 Art. 31 Abs. 2 lit. a), b) und f) Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 313 Vgl. unter 3. Kap., Β. ΙΙ. 1., S. 129 ff. (Finanzaufsicht) sowie 3. Kap., C. III., S. 141 f. (Bankenaufsicht). 314 Unter 3. Kap., A. I., S. 118 ff.

156

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

grundsatzes bei der Ausübung der Grundfreiheiten im Bereich der Finanz- bzw. Bankenaufsicht bildet. Im ESFS unterliegt ein Finanzinstitut lediglich dem Anzeigeverfahren, wonach die beteiligten Aufsichtsbehörden von seinen grenzüberschreitenden Tätigkeiten Kenntnis nehmen und ihre Aufsichtsaufgaben effektiv weiter ausüben können. Dabei gilt die Annahme, dass die einschlägigen Regelungen hinsichtlich der Zulassungsvoraussetzungen durch die NCAs des Herkunftsmitgliedstaats rechtmäßig angewandt werden. Inwiefern die Ausübung der Niederlassungs- bzw. Dienstleistungsfreiheit in der Praxis auf Schwierigkeiten stößt, zum Beispiel durch Erhöhung der aufsichtsrechtlichen Hürden in Form von detaillierten Auskunftsersuchen durch den Aufnahmemitgliedstaat, hängt vom Maß des Vertrauens zwischen den beteiligten Behörden ab.315 Die unionsrechtlichen Vorschriften hinsichtlich der Finanzaufsicht sehen in diesem Zusammenhang keine Versagungsgründe vor, die der Anerkennung bzw. Vollstreckung des Europäischen Passes durch den Aufnahmemitgliedstaat nach dem Abschluss des Anzeigeverfahrens entgegenzuhalten wären.316 Die Anerkennung erfolgt insoweit automatisch und vorbehaltlos. Selbst im Rahmen des Anzeigeverfahrens ist eine Verweigerung der Übermittlung der Angaben durch die NCA des Herkunftsmitgliedstaats an die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats nur für den Fall vorgesehen, dass die Angemessenheit der Verwaltungsstrukturen oder der Finanzlage des betreffenden Finanzinstituts bzw. der betreffenden Wertpapierfirma anzuzweifeln ist.317 Ebenso automatisch und vorbehaltlos wird der Europäische Pass im Bereich der Bankenaufsicht sowohl im ESFS318 als auch im SSM319 anerkannt. Vor diesem Hintergrund fällt die Möglichkeit der Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes, der die Grundlage des Europäischen Passes darstellt, weg. Dabei kann zum Beispiel das Vorliegen systemischer Mängel bei der Aufgabenwahrnehmung der Aufsichtsbehörde im Herkunftsmitgliedstaat, etwa in Gestalt einer systematischen Verletzung des Unionsrechts bzw. der Unabhängigkeitsanforderungen, durch die NCA des Aufnahmemitgliedstaats nicht vorgebracht werden, um sich der Errichtung einer Zweigstelle in seinem Hoheitsgebiet zu widersetzen.320 Der Verzicht auf solche Verweigerungsgründe findet teilweise darin seine Rechtfertigung, dass dem Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Eingriffsbefugnisse zugesprochen werden, wenn die NCA des Herkunftsmitgliedstaats bei schwer-

315 C. Buttigieg, ERA Forum 18 (2017), 41 (45); ähnlich M. P. Ladler, Finanzaufsicht in der EU, 2014, S. 148. 316 Art. 34 Abs. 3 und Art. 35 Abs. 6 MiFID-Richtlinie. 317 Art. 35 Abs. 3 und 5 MiFID-Richtlinie. 318 Art. 33 und 35 CRD-IV-Richtlinie. 319 Art. 11 ff. SSM-RahmenVO. 320 Das Selbsteintrittsrecht verleiht der EZB die Möglichkeit, die Beaufsichtigung weniger bedeutender Kreditinstitute bei der Nichteinhaltung ihrer Anweisungen oder der Rechtsakte im Zusammenhang mit den Aufsichtsaufgaben der EZB durch die NCAs an sich zu ziehen, so Art. 67 Abs. 2 lit. d) und e) SSM-RahmenVO.

E. Grenzen des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des Europäischen Passes

157

wiegenden Verletzungen gegen das Unionsrecht durch das betreffende Unternehmen untätig bleibt. Bedenken gegen die allgemeine Fähigkeit der NCAs, ihre aufsichtsrechtlichen Aufgaben effizient wahrzunehmen und dadurch die Finanzstabilität aufgrund eines „Dominoeffekts“ zu gefährden,321 haben im Sekundärrecht keinen Platz, sodass die Berufung des Aufnahmemitgliedstaats auf systemische Verletzungen des Unionsrechts bzw. systemische Mängel in Bezug auf die Aufgabenwahrnehmung durch die NCA des Herkunftsmitgliedstaats keinen zulässigen Grund für die Nichtanerkennung des Europäischen Passes darstellt. Insoweit ist durch den Europäischen Pass ein blindes Vertrauen vorgeschrieben, was mit dem unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz unvereinbar ist. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang die Unabhängigkeit der beteiligten Aufsichtsbehörden, insbesondere der NCAs. Die Wahrnehmung der aufsichtsrechtlichen Aufgaben durch funktional unabhängige Aufsichtsbehörden ist für deren Schutz vor politischer Kontrolle bzw. Interessenkonflikten mit den beaufsichtigten Instituten von erheblicher Bedeutung.322 Die Einhaltung der Unabhängigkeitsgarantien durch die beteiligten Behörden ist insoweit mit dem Fortbestand des Vertrauensgrundsatzes und somit der Annahme verbunden, dass diese das einschlägige Aufsichtsrecht ordnungsgemäß und im gemeinsamen europäischen Interesse anwenden. Die Einzelheiten der Unabhängigkeitserfordernisse im ESFS und im SSM bedürfen deshalb einer näheren Untersuchung. Zunächst genießen im ESFS nur die ESAs und die Mitglieder ihrer Organe funktionale Unabhängigkeit.323 Die stimmberechtigten Mitglieder des Rats der Aufseher sowie dessen Vorsitzende, der Verwaltungsrat und der Exekutivdirektor, müssen also bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben keine Weisungen von den Unionsorganen, den mitgliedstaatlichen Regierungen bzw. den beaufsichtigten Finanzinstituten befolgen. Auch die ESAs als solche müssen gegenüber den EUOrganen, einschließlich der Kommission, unabhängig handeln.324 Die nationalen Finanzaufsichtsbehörden sind indes entsprechenden Unabhängigkeitsgarantien unionsrechtlich nicht unterworfen; Letztere richten sich allein nach innerstaatlichem Recht.325 Das Fehlen eines solchen Rechtsrahmens birgt freilich die Ge-

321 Statt aller A.-K. Kaufhold, Systemaufsicht, 2016, S. 12, 47 f.; N. Kohtamäki, Die Reform der Bankenaufsicht, 2012, S. 61 spricht insoweit von der Gefahr einer „institutionellen Ansteckung auf dem Finanzbinnenmarkt“. 322 Basel Committee on Banking Supervision, Core Principles for Effective Banking Supervision (September 2012), principle 2; E. Ferran/V. Babis, The European SSM, Paper No. 10/2013, S. 16; A.-K. Kaufhold, Systemaufsicht, 2016, S. 164 ff.; so auch BVerfGE 151, 202 (334 Rn. 223); a.A. E. Gören, SSM, 2019, S. 246. 323 Art. 1 Abs. 5 UAbs. 4, Art. 42, 46, 49, 52 und 59 Verordnungen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 324 Dieser Unabhängigkeit werden allerdings durch die Meroni-Rechtsprechung bzw. den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts Grenzen gesetzt, vgl. U. Häde, EuZW 2011, 662 (663 f.); N. Kohtamäki, Die Reform der Bankenaufsicht, 2012, S. 206 f.; K. Michel, Institutionelles Gleichgewicht und EU-Agenturen, 2015, S. 219 ff. und 227 ff. 325 Erwägungsgr. 123 MiFID-Richtlinie; Art. 4 Abs. 4 CRD-IV-Richtlinie.

158

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

fahr einer unzureichenden Unabhängigkeit der nationalen Finanzaufsichtsbehörden, die wiederum die Integrität des gesamten Finanzsystems gefährden könnte.326 Ganz unterschiedlich sind die unionsrechtlichen Anforderungen an die Unabhängigkeit in der Bankenaufsicht im SSM. Die EZB verfügt nach Art. 130 AEUV327 über eine weitgehende Unabhängigkeit, die auch in Art. 19 Abs. 1 SSMVerordnung Niederschlag findet.328 Über die Gewährleistung der funktionalen Unabhängigkeit hinaus gelten Bestimmungen insbesondere für die Gewährleistung der persönlichen Unabhängigkeit des Vorsitzenden und des stellvertretenden Vorsitzenden, dessen Ernennung und Entlassung nach Billigung des Vorschlags der EZB durch das Europäische Parlament durch einen Durchführungsbeschluss des Rates erfolgen.329 Ebenso müssen die Mitglieder des Aufsichtsgremiums und des Lenkungsausschusses unabhängig und objektiv im Interesse der Union als Ganzes handeln und dürfen von den Organen oder Einrichtungen der Union, von der Regierung eines Mitgliedstaats oder von öffentlichen oder privaten Stellen weder Weisungen anfordern noch entgegennehmen. Denselben Anforderungen sind daneben auch die NCAs hinsichtlich ihrer innerhalb des SSM wahrzunehmenden Aufgaben unterworfen,330 mit dem Ziel, die Ausübung politischer Kontrolle bei der Wahrnehmung ihrer aufsichtsrechtlichen Aufgaben zu eliminieren.331 Die Gewährleistung ihrer Unabhängigkeit bzw. alle organisationsrechtlichen Fragen hinsichtlich der NCAs obliegen dabei ihren Mitgliedstaa326

Die fehlende Unabhängigkeit der nationalen Finanzaufsichtsbehörden wurde in der Tat festgestellt, vgl. S. Mack, Jenseits von Wirecard – Europa braucht unabhängige Finanzaufsichtsbehörden, nicht nur in Deutschland, Studie vom 26. April 2021, abrufbar unter htt ps://hertieschool-f4e6.kxcdn.com/fileadmin/2 Research/1 About our research/2 Researc h centres/6 Jacques Delors Centre/Publications/20200422 Wirecard Mack DE.pdf. 327 I.V.m. Art. 127 Abs. 6 und Art. 282 Abs. 3 AEUV; dazu C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 82. 328 A.A. E. Gören, SSM, 2019, S. 235: dabei handele sich um eine die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank in Aufsichtsangelegenheiten konstituierende Vorschrift. Kritisch hinsichtlich der mangelnden demokratischen Legitimation der EZB E. Gören, SSM, 2019, S. 237 ff.; E. Peuker, JZ 69 (2014), 764 (770); J. Ruthig, ZHR 178 (2014), 443 (468); B. Wolfers/T. Voland, BKR 2014, 177 (182 ff.); a.A. N. Moloney, CMLRev. 51 (2014), 1609 (1637), der die Überprüfung der aufsichtlichen Tätigkeit der EZB durch die zahlreichen Berichtspflichten für ausreichend hält; ähnlich K. Lackhoff, SSM, 2017, Rn. 65 ff.; A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 198 ff.; ferner dazu A.-K. Kaufhold, JöR 66 (2018), 85 (102 ff.); C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 84 ff.; die demokratische Legitimation der unabhängigen Unionseinrichtungen seinem Zwei-Stufen-Test (spezifische Rechtfertigung für die Legitimationsreduktion und gegebenenfalls zusätzliche Kompensation) zufolge bejahend BVerfGE 151, 202 (327 ff. Rn. 208 ff.). Zur Frage nach der demokratischen Legitimation aller Finanzaufsichtsbehörden U. Häde, EuZW 2011, 662 (664 ff.). 329 Art. 26 Abs. 3 und 4 SSM-Verordnung. 330 Art. 19 Abs. 1 SSM-Verordnung. Die demokratische Legitimation der unabhängigen nationalen Behörden im SSM ebenso bejahend BVerfGE 151, 202 (333 ff. Rn. 219 ff.). 331 M. Hellwig, Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods 2014, 1 (14).

F. Zwischenergebnis

159

ten, da die Kompetenz zur Einrichtung und Festlegung der Voraussetzungen für ihre Tätigkeitswahrnehmung nicht auf die EU übertragen wurde.332 In Anbetracht der unterschiedlichen Unionsvorgaben hinsichtlich der Unabhängigkeitsgarantien der NCAs im ESFS und im SSM kann es zu dem paradoxen Ergebnis kommen, dass im Rahmen des ESFS einige NCAs, die gleichzeitig als NCAs im SSM tätig werden, unabhängig handeln (müssen), andere dagegen nicht. Vor diesem Hintergrund verlangt der Vertrauensgrundsatz grundsätzlich, alle nationalen Unabhängigkeitsbestimmungen als gleichwertig zu betrachten sowie von deren ordnungsgemäßer Anwendung auszugehen. Wenn aber die Mitgliedstaaten den unionsrechtlich geforderten Unabhängigkeitserfordernissen im SSM nicht nachkommen bzw. die Unabhängigkeit ihrer NCAs im ESFS nicht ausreichend gewährleisten, ist die Unwiderleglichkeit des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des Europäischen Passes nicht mehr zu begründen.

F. Zwischenergebnis Der Vertrauensgrundsatz ist nicht nur für die Grundfreiheiten bzw. den RFSR relevant, sondern durchzieht als primärrechtliches Strukturprinzip sämtliche Bereiche des Unionsrechts. Die Finanz- bzw. Bankenaufsicht stellt ein solches Referenzgebiet dar, das besonders geeignet ist, die Rolle und Reichweite des Vertrauens jenseits grundrechtssensibler Rechtsgebiete aufzuzeigen. Der Bereich der Finanzaufsicht hat im europäischen Rechtsraum nach dem Ausbruch der Finanzkrise erhebliche Veränderungen erfahren. Die Finanzaufsicht erfolgt heute im Wege verdichteter Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden. Sowohl das ESFS als auch der SSM stellen einen Europäischen Verwaltungsverbund dar, wobei Letzterer durch ein hohes Maß an Zentralisierung gekennzeichnet ist. Die durch die Errichtung des ESFS und des SSM eingeführten Innovationen legen den Akzent auf die auf Dauer angelegte, institutionelle Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Akteuren aller Ebenen mit dem Ziel, das durch den Zusammenbruch des Finanzsystems verlorene Vertrauen wiederherzustellen. Dazu dienen insbesondere die vertikalen und horizontalen Kooperationsverhältnisse zwischen den beteiligten unionalen und nationalen Aufsichtsbehörden sowie zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden untereinander, die je nach Konstellation vertrauensgenerierend, vertrauensfördernd und/oder vertrauenssichernd wirken. Vor der Finanzkrise erfolgte die Aufsicht über Finanz- bzw. Kreditinstitute im Binnenmarkt ausschließlich auf mitgliedstaatlicher Ebene, wobei das gegenseitige Vertrauen in die Wirksamkeit der durch die anderen Mitgliedstaaten ausgeübten Finanzaufsicht die Grundlage einer erfolgreichen grenzüberschreitenden

332 C. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, 2015, § 5, Rn. 62; A.-K. Wolff, Cooperation Mechanisms, 2019, S. 79.

160

3. Kapitel: Vertrauen im Bereich der Finanzaufsicht

Überwachung darstellte. Allein die Zulassung im Herkunftsmitgliedstaat ermöglichte einem Finanzinstitut durch das Instrument des „Europäischen Passes“, seine Tätigkeiten in der gesamten Union durch die Einrichtung einer Zweigstelle oder im Wege der grenzüberschreitenden Dienstleistung auszuüben, ohne ein erneutes Erlaubnisverfahren zu durchlaufen. Die Aufsichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats waren mit der laufenden Aufsicht über die grenzüberschreitend tätigen Finanzinstitute und ihre in anderen Mitgliedstaaten errichteten Zweigstellen beauftragt, wobei dem Aufnahmemitgliedstaat eingeschränkte Kontroll- bzw. Eingriffsbefugnisse zugestanden wurden. Die Finanzkrise hat allerdings die Schwachstellen dieses europäischen Aufsichtsmodells, sprich das mangelnde gegenseitige Vertrauen, die fehlenden Mechanismen horizontaler Zusammenarbeit bei der Beaufsichtigung von Finanzinstituten sowie die unkoordinierten Handlungsmöglichkeiten der nationalen Behörden in den Fokus gerückt. Auch nach der Einführung des ESFS verbleiben die NCAs weiterhin die maßgeblichen Akteure, indem ihnen die täglichen Aufsichtsaufgaben vorbehalten sind. Die Errichtung der ESAs soll allerdings nunmehr in dreierlei Hinsicht Vertrauen bilden und stärken:333 Erstens wirkt die institutionelle Beteiligung der NCAs am Rat der Aufseher vertrauensgenerierend, indem alle Entscheidungen und Beschlüsse der ESAs nach Kenntnisnahme der Aufsichtspraxis der anderen Aufsichtsbehörden und in enger Kooperation aller beteiligten Akteure zustande kommen. Zweitens wird Vertrauen durch den ständigen Informationsfluss gefördert, der für eine gemeinsame Aufsichtskultur und eine Kohärenz der Aufsichtspraktiken unerlässlich ist und eine Kernaufgabe der ESAs ausmacht. Drittens übernehmen die ESAs ausnahmsweise die Rechtsaufsicht, soweit sie etwaige Verstöße gegen das Unionsrecht durch die NCAs abstellen bzw. die einheitliche Anwendung der Aufsichtsregelungen gewährleisten. Auch dies wirkt vertrauenssichernd. Schließlich wird Vertrauen durch die horizontalen Kooperationsmechanismen, etwa die Aufsichtskollegien bei unionsweit tätigen Finanzinstituten, verstärkt. Die Europäische Bankenunion ist hingegen durch einen hohen Grad an Zentralisierung gekennzeichnet. Die Aufsicht über bedeutende Kreditinstitute kommt der EZB zu, nur die Aufsicht über weniger bedeutende Kreditinstitute bleibt den NCAs überlassen. Auch hier wird die Wahrnehmung aufsichtlicher Aufgaben durch vertikale und horizontale Kooperationsmechanismen gestärkt, die für die Vertrauensförderung maßgeblich sind: Die NCAs sind zusammen mit der EZB an einem gemeinsamen, mehrstufigen Zulassungsverfahren für die Kreditinstitute beteiligt. Daneben wird durch die Errichtung der sog. gemeinsamen Aufsichtsteams (bei der laufenden Aufsicht über bedeutende Kreditinstitute) sowie durch die Aufsichtskollegien (bei grenzüberschreitend tätigen Unternehmensgruppen) der Informationsaustausch und die dauerhafte Kooperation zwi-

333 Vgl. die Trias der Vertrauensgenerierung, Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung unten unter 5. Kap., D., S. 215 ff.

F. Zwischenergebnis

161

schen den Aufsichtsbehörden ermöglicht. Dazu ist in der SSM-Verordnung der Personalaustausch bzw. die gegenseitige Entsendung von Mitarbeitern zwischen den NCAs explizit vorgesehen. Nicht zuletzt gehören zu den besonderen Merkmalen des SSM die Anwendung nationaler Vorschriften direkt durch die EZB sowie die Möglichkeit vertikaler Aufhebungsentscheidungen, indem die NCAs Aufsichtsmaßnahmen der EZB aufheben können und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund umfasst der Vertrauensgrundsatz die Vermutung der rechtmäßigen Anwendung des einschlägigen Unionsrechts bzw. nationalen Rechts und insbesondere die Vermutung der Zuverlässigkeit der übermittelten Informationen durch die zuständige NCA, die für die Erfüllung der unionsrechtlichen Aufsichtsaufgaben bzw. Kooperationspflichten erforderlich sind. Einen Ausdruck des Vertrauensgrundsatzes stellt der Europäische Pass dar, der das zentrale Rechtsinstrument für die Ausübung der Grundfreiheiten sowohl im ESFS als auch im SSM darstellt. Dabei müssen sich die Finanz- bzw. Kreditinstitute für die quasi-automatische Anerkennung des Europäischen Passes an ein zwingendes Anzeigeverfahren halten, aufgrund dessen die NCAs des Herkunftsund Aufnahmemitgliedstaats von ihren grenzüberschreitenden Tätigkeiten Kenntnis nehmen und ihre Aufsichtsaufgaben effektiv weiter ausüben können. Dabei gilt die Vermutung, dass die einschlägigen Regelungen hinsichtlich der Zulassungsvoraussetzungen durch die NCAs des Herkunftsmitgliedstaats rechtmäßig angewandt werden. Dem Aufnahmemitgliedstaat steht allerdings beim Anzeigeverfahren nicht das Recht zu, sich der Ansiedlung eines Finanz- bzw. Kreditinstituts in seinem Hoheitsgebiet zu widersetzen. Die Anerkennung erfolgt insoweit automatisch und vorbehaltlos. Die Vertrauensvermutung erweist sich somit als unwiderlegbar. Das ist mit dem unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz unvereinbar. Der NCA des Aufnahmemitgliedstaats sollte ermöglicht werden, den Europäischen Pass nicht anzuerkennen, soweit die Aufsichtswahrnehmung durch die NCA des Herkunftsmitgliedstaats, der auch die laufende Aufsicht über das Unternehmen obliegt, systemische Mängel aufweist. Dies wäre der Fall, wenn die NCA des Herkunftsmitgliedstaats das Unionsrecht systemisch verletzt und dadurch die Stabilität des Finanzsystems gefährdet. Einen weiteren Versagungsgrund für die Anerkennung des Europäischen Passes könnte der Verstoß gegen Unabhängigkeitsgarantien darstellen, die für die NCAs gelten und unauflöslich mit der Annahme verbunden sind, dass Letztere das einschlägige Aufsichtsrecht ordnungsgemäß und im gemeinsamen europäischen Interesse anwenden. Dies ist für das ESFS besonders relevant, zumal die nationalen Aufsichtsbehörden – anders als die NCAs im SSM – keinen unionsrechtlichen Unabhängigkeitsgarantien unterworfen sind. Aus diesem Grund besteht die Gefahr, dass das nationale Recht die Aufsichtsbehörden nicht ausreichend vor politischer Kontrolle bzw. Interessenkonflikten mit den beaufsichtigten Instituten schützt und so die Integrität des gesamten Finanzsystems bedroht wird. Diese Regelungslücke hinsichtlich der Reichweite des Vertrauensgrundsatzes sollte daher durch unionsgesetzgeberisches Handeln geschlossen werden. Ausnahmen zur quasi-automatischen Anerkennung des Europäischen Passes müssen sekundärrechtlich eingeführt werden.

Zweiter Teil

Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip und Ausdruck föderaler Verfasstheit der EU Gegenseitiges Vertrauen ist – trotz skeptischer Stimmen in der Literatur – ein Rechtsbegriff mit normativem Charakter und verbindlichen Rechtswirkungen. Seine Bedeutung geht allerdings über die eines „normalen“ Rechtsgrundsatzes noch hinaus. Es handelt sich um ein Strukturprinzip des Unionsrechts, das die gesamte Unionsrechtsordnung prägt. Verankerung findet der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in Art. 4 Abs. 3 EUV. Er entfaltet seine normative Wirkung sowohl in vertikaler Hinsicht zwischen der EU und den Mitgliedstaaten als auch auf horizontaler Ebene zwischen den Mitgliedstaaten. Dabei nimmt der Vertrauensgrundsatz mehrere Funktionen ein: Er verhilft den Kooperationspflichten zur praktischen Wirksamkeit, gewährleistet dabei die Wertesicherung innerhalb des Europäischen Verfassungsverbunds und wahrt so die föderale Verfasstheit der EU. Seine Reichweite ist jedoch nicht unbegrenzt, sondern unterliegt primärund sekundärrechtlichen Grenzen. Um einer Schwächung des Vertrauens entgegenzuwirken, ist die Trias aus Vertrauensgenerierung, Vertrauensstabilisierung sowie Vertrauenssicherung von besonderer Bedeutung.

4. Kapitel

Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff Aus einer Gesamtschau des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens folgt, dass dieser eine prominente Rolle sowohl in der Rechtsetzung als auch in der EuGHRechtsprechung besitzt. Dabei besteht bislang keine Einigkeit darüber, ob es sich um einen Rechtsbegriff mit normativem Gehalt oder um ein politisches Ziel handelt.1 Das Vertrauen wurde lange Zeit als ein grundsätzlich außerrechtlicher Begriff verstanden, der sich dem Recht nur schwer zuordnen lässt, dem aber durchaus rechtliche Relevanz zukommt.2 Im Folgenden wird darzulegen sein, dass gegenseitiges Vertrauen einen normativen Rechtsbegriff mit konkreten Rechtsfolgen bildet. Die Annäherung an eine belastbare Definition des Vertrauens soll dabei anhand einer interdisziplinären Untersuchung erfolgen, in die insbesondere die Akteure und Bezugspunkte des Vertrauens einbezogen und im Recht kontextualisiert werden. Nachdem der Vertrauensgrundsatz definiert wurde, kann schließlich seine Abgrenzung von den Begriffen der gegenseitigen Anerkennung und der Gleichwertigkeit der nationalen Vorschriften bzw. Rechtsordnungen erfolgen.

A. Vertrauen im Unionsrecht: eine interdisziplinäre Annäherung Vertrauen bildet einen Kernbegriff in vielen unterschiedlichen Disziplinen, etwa in der Psychologie, der Wirtschaft, der Politologie sowie der Soziologie.3 Im Rahmen dieser Arbeit sind jedoch nur solche Disziplinen relevant, die Vertrauen in systemischen und übergreifenden Konstellationen untersuchen, damit ein sachlicher Zusammenhang mit den Strukturen der EU als Verbund hergestellt 1 Vgl. S. Alegre, in: G. de Kerchove/A. Weyembergh (Hrsg.), La confiance mutuelle, 2005, S. 41 (41); C. Kohler, ZEuS 2016, 135 (150); von einer „Fiktion“ spricht A. Nussberger, in: H.-M. Heinig/F. Schorkopf (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz, 2019, S. 192 (199); S. Swoboda, ZIS 2018, 276 (295). 2 R. Bieber, in: S. Lorenzmeier/H.-P. Folz (Hrsg.), FS Vedder, 2017, S. 27 (56); C. Franzius, HFR 2010, 159 (163); A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (234). 3 Dazu auch T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (344 f.). Einen Überblick über die unterschiedlichen Ausprägungen von Vertrauen bietet M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011; gegen eine interdisziplinäre Vertrauensdefinition C. Burchard, Die Konstitutionalisierung der gegenseitigen Anerkennung, 2019, S. 472 ff.

166

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

werden kann. Dafür kommt insbesondere die Soziologie in Betracht, die sich eingehend mit der Erzeugung von Vertrauen in Kooperationsschemata in komplexen sozialen Systemen sowie Institutionen auseinandersetzt. Diese Erkenntnisse lassen sich für ein umfassendes Verständnis gegenseitigen Vertrauens in der Rechtswissenschaft fruchtbar machen,4 indem die wesentlichen Merkmale des Vertrauensbegriffs zusammengetragen und sodann in die Rechtswissenschaft übertragen bzw. dort kontextualisiert werden.

I. Dreigliedrige Struktur: Akteure und Bezugspunkte Vertrauens Vertrauen weist grundsätzlich eine dreigliedrige Struktur auf, indem Subjekt A Subjekt B ein Objekt C anvertraut bzw. indem A darauf vertraut, dass B das Verhalten C vornehmen wird.5 In jeder Vertrauensbeziehung sind also immer zwei Vertrauensakteure, nämlich ein Vertrauen gewährender Akteur (im vorliegenden Beispiel Subjekt A), ein Vertrauen empfangender Akteur (im vorliegenden Beispiel Subjekt B) sowie ein Vertrauensgegenstand (Verhalten oder Objekt C) einbezogen. Dabei ist das Maß an Vertrauen immer kontextabhängig und entspricht der Erwartungshaltung des Vertrauenden bezogen auf eine konkrete Situation oder ein bestimmtes Verhalten.6 In dieser Dreigliedrigkeit kann Vertrauen nicht nur „gesichtsabhängige“, d.h. auf zwischenmenschliche Beziehungen bezogene, sondern auch „gesichtsunabhängige“, d.h. auf größere Organisationsstrukturen bzw. Institutionen bezogene, Beziehungen beschreiben.7 Es setzt allerdings einen höheren Abstraktionsgrad voraus, damit sich Vertrauen in ein „Systemvertrauen“ wandeln kann.8 In diesem 4 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 192, Rn. 264 f.; A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (108 ff.); A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (247 f.) spricht daher von einem „hybriden Charakter“ Vertrauens; ders., The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 11 ff.; ähnlich zum engen Zusammenhang zwischen der soziologischen und rechtlichen Ausprägung von Vertrauen L. Marin, EP 2 (2017), 141 (155). 5 A. Baier, Ethics 96 (1986), 231 (236); R. Hardin, Trust and Trustworthiness, 2002, S. 7, 9; D. Gambetta, in: ders. (Hrsg.), Trust, 1988, S. 213 (217); M. Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 1994, S. 82; P. Sztompka, Trust, 1999, S. 55; ähnlich A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1995, S. 49 Nr. 5; vgl. auch im rechtswissenschaftlichen Diskurs E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 8; A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (239). 6 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 34; E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (135); P. Sztompka, Trust, 1999, S. 55; A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (239). 7 So A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1995, S. 112; vgl. auch A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (111 ff.). 8 E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 242; N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 27, 60 ff.; ähnlich J. Sydow, in: R. Bachmann/A. Zaheer (Hrsg.), Handbook of Trust Research, 2006, S. 377 (380 ff.); konkret zum Vertrauen in die Regierung als „System“ R. Hardin, Trust and Trustworthiness, 2002, S. 151 ff. Zu den Begriffen „Systemrisiko“ und „Systemaufsicht“ vgl. A.-K. Kaufhold, Systemaufsicht, 2016, S. 342 ff.

A. Vertrauen im Unionsrecht

167

Rahmen können solche Entitäten die Rolle des Vertrauensempfänger und/oder des Vertrauenden einnehmen,9 wobei die Funktionsfähigkeit des Systems den Vertrauensgegenstand bildet. Anders aber als beim personalisierten Vertrauen bedarf es beim entpersonalisierten Vertrauen eines Übergangs von primär emotionalen zu primär darstellungsgebundenen Vertrauensgrundlagen.10 Das Konzept des Systemvertrauens ist in all seinen Komponenten auf den europäischen Rechtsraum übertragbar.11 So können die Mitgliedstaaten insgesamt als Rechtssysteme sowie die nationalen Gerichte und Behörden als Organisationsstrukturen12 sowie gegebenenfalls die EU-Organe sowohl als Vertrauende als auch als Vertrauensempfänger gedacht werden.13 Darüber hinaus weist der unionsrechtliche Vertrauensgrundsatz jeweils zwei Bezugspunkte auf, nämlich einen konkreten und einen abstrakten.14 Konkreter Bezugspunkt bzw. Vertrauensgegenstand ist die Rechtstreue im Hinblick auf das Unionsrecht (bzw. in Ermangelung einer Unionsvorschrift das anzuwendende nationale Recht) des ersuchenden Mitgliedstaats im konkreten Kooperationsverhältnis. Das Vertrauen in die Rechtstreue bezieht sich dabei sowohl auf die Umsetzung als auch auf die rechtmäßige Anwendung des Unionsrechts in Gestalt des Primär- und Sekundärrechts.15 Auf der Bindung an das Unionsrecht gründet sich die Annahme seiner rechtmäßigen Umsetzung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten.16 Neben der Unionsrechtstreue im konkreten Fall umfasst der Vertrauensgrundsatz ein abstraktes (System-)Vertrauen in die allgemeine Fähigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, das Unionsrecht zu wahren und durchzusetzen.17 Diesem Vertrauen liegt die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen zugrunde, die gleichwertige Regelungen vorsehen und daher gleichermaßen in der Lage sind, das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte durch ein wirksames Rechtsschutzsystem zu gewährleisten.18 Vor diesem Hintergrund ist das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten als unmittelbare Folge aus ihrer EUMitgliedschaft zu betrachten.19 Die Konkretisierung der Bezugspunkte des Ver9 Konkret zur Frage, ob Systeme Vertrauenssubjekte sein können, J. Sydow, in: R. Bachmann/A. Zaheer (Hrsg.), Handbook of Trust Research, 2006, S. 377 (382 f.). 10 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 27. 11 Wie hier E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 12 f. 12 So auch C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 205, Rn. 288; T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (345). 13 Ähnlich A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 170 f. 14 Vgl. in diesem Sinne M. Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 2012, S. 47. 15 P. Crame´r, in: M. Dougan/S. Currie (Hrsg.), 50 Years of the European Treaties, 2009, S. 43 (53); S. Prechal, EP 2 (2017), 75 (83). Zur Vertrauensgenerierung durch Harmonisierung unter 5. Kap., D. I., S. 216 f. 16 E. Brouwer, EP 1 (2016), 893 (917). 17 Vgl. stellvertretend EuGH, Rs. C-159/02, Slg. 2004, I-3565, Rn. 25 – Turner; Rs. C-491/10 PPU, Slg. 2010, I-14247, Rn. 70 – Aguirre Zarraga. 18 Zum Begriff der Gleichwertigkeit unter 4. Kap., Ε., S. 177 ff. 19 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 228, Rn. 345; vgl. auch Schlussanträge GA Y. Bot, Gutachten 1/17, ECLI:EU:C:2019:72, Rn. 81 – CETA EU-Kanada.

168

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

trauens spielt eine tragende Rolle für seine Grenzen sowie die Höhe der Schwelle, die jeweils für seine Widerlegung überschritten werden soll.20

II. Kooperation und Komplexitätsreduktion Vertrauenssysteme entstehen vor allem bei der Zusammenarbeit zwischen zwei Parteien,21 wobei die eine Partei auf das Verhalten der anderen angewiesen ist.22 Vertrauen gewinnt erst dann an Gewicht, wenn Ungewissheit und Unbeherrschbarkeit, insbesondere in komplexen Systemen, bestehen, wobei Vertrauen diese Komplexität zu reduzieren vermag.23 Da sicheres Wissen und umfassende Informationen innerhalb eines Systems nicht bestehen, sind die daran beteiligten Parteien auf alternative Handlungsstrategien angewiesen, selbst wenn diese ein gewisses Maß an Risiko beinhalten.24 In diesem Sinne geht der Vertrauende von einer bestimmten Erwartung aus und kann konkrete Handlungen im Rahmen eines Kooperationsverhältnisses vornehmen. Dabei können sich die Interessen des Vertrauenden und des Vertrauensempfängers überschneiden.25 Auf europäischer Ebene wird die Komplexität reduziert, die durch die Unterschiede der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entsteht.26 Durch das Vertrauen in die Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen bzw. der Unionsrechtstreue aller beteiligten Akteure und die im Wege der gegenseitigen Anerkennung erfolgte Zusammenarbeit gelingt es, gemeinsame Interessen auf europäischer Ebene zu verfolgen, wie etwa die strafrechtliche Bekämpfung transnationaler Kriminalität, der Schutz der EU-Außengrenzen und die Gewährleistung eines stabilen Finanzsystems. Dabei ermöglicht Vertrauen die zwischenstaatliche Zusammenarbeit ohne eine vorherige Vollharmonisierung der entsprechenden Sachmaterie und kann daher als Integrationsinstrument Bedeutung erlangen.27

III. Inhärentes Wagnis und Vertrauenswürdigkeit Vertrauen als „Hypothese künftigen Verhaltens“ bedeutet immer eine Mischung aus Wissen und Nichtwissen: Das Vorhandensein vollständigen Wissens macht

20

Dazu unter 4. Kap., A. IV., S. 181 ff. P. Sztompka, Trust, 1999, S. 62. 22 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 53. 23 Näher M. Hartmann, Europäisierung und Verbundvertrauen, 2015, S. 28 ff.; N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 27 ff. 24 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 29 f.; P. Sztompka, Trust, 1999, S. 25. 25 Dazu, dass die Verfolgung von eigenen Interessen der Antrieb jeder Vertrauensbeziehung ist, R. Hardin, Trust and Trustworthiness, 2002, S. 3 ff.; A. M. Hoffman, EJIR 8 (2002), 375 (382). 26 Ähnlich C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 205, Rn. 290. 27 A.-K. Kaufhold, in: J. Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen?, 2014, S. 101 (102, 122). 21

A. Vertrauen im Unionsrecht

169

Vertrauen entbehrlich, wobei umgekehrt das vollständige Fehlen von Wissen keine vernünftige Vertrauensgrundlage darstellen kann.28 In diesem Sinne setzt Vertrauen eine Risikosituation und ein Risikobewusstsein voraus,29 indem der Vertrauende nur erwarten kann, dass seine Interessen durch den Vertrauensempfänger geschützt bzw. erfüllt werden.30 Dieses vom Vertrauenden eingegangene Risiko wird dadurch reduziert, keinesfalls aber eliminiert, wenn das Vertrauen auf vergangene Erfahrungen gestützt werden kann.31 Vertrauen erweist sich damit als reflexiv.32 Solche objektiven Anhaltspunkte dienen zwar der Vertrauensbildung, verschaffen aber keine Gewissheit über das zu erwartende Verhalten des Vertrauensempfängers. Vertrauen bleibt daher immer ein Wagnis.33 Dabei hängt die Entscheidung des Vertrauenden, ob eine Vertrauensgrundlage hinreichend ist, weitgehend von der Vertrauenswürdigkeit des Vertrauensempfängers ab.34 Wenn epistemologische Gründe dafür vorliegen, dass der Vertrauensempfänger die Erwartungen des Vertrauenden höchstwahrscheinlich nicht enttäuschen wird, wird auch die Vertrauensgrundlage belastbarer.35 Dabei gilt: Je wichtiger die anvertrauten Interessen sind, desto strikter wird regelmäßig die Prüfung der Vertrauenswürdigkeit des Vertrauensempfängers sein.36 Aus diesem Grund ist der Informationsaustausch in diesem Zusammenhang von grundlegender Bedeutung.37 Im Hinblick auf das Systemvertrauen wird der Vertrau28 D. Gambetta, in: ders. (Hrsg.), Trust, 1988, S. 213 (218); G. Simmel, Soziologie, 1908, S. 346. 29 U. Frevert, in: dies. (Hrsg.), Vertrauen, 2003, S. 7 (9); A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (235). Aus diesem Grund schlägt C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 527 ff., Rn. 919 ff., vor, Vertrauen als ein Instrument für Risikomanagement zu betrachten. 30 So R. Hardin, Trust and Trustworthiness, 2002, S. 11; A. M. Hoffman, EJIR 8 (2002), 375 (376 f.); G. Möllering, Trust, 2006, S. 110 bezeichnet dies als „leap of faith“. 31 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 40. 32 A. Giddens, The Constitution of Society, 1986, S. 27; G. Möllering, Trust, 2006, S. 84 ff.; J. Sydow, in: R. Bachmann/A. Zaheer (Hrsg.), Handbook of Trust Research, 2006, S. 377 (385); P. Sztompka, Trust, 1999, S. 71 f.; A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (106): „Das Vertrauen […] schöpft sein Potential aber oft aus der Vergangenheit.“. 33 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 31. 34 A. M. Hoffman, EJIR 8 (2002), 375 (378 f.); P. Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, 2015, S. 211 ff.; P. Sztompka, Trust, 1999, S. 70; A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (238 f.). 35 In diesem Sinne A. M. Hoffman, EJIR 8 (2002), 375 (378); N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 36. Es wird dabei zwischen der selbstgewonnenen („primary trustworthiness“) und der abgeleiteten („derived trustworthiness“) Vertrauenswürdigkeit unterschieden P. Sztompka, Trust, 1999, S. 70 f.; ähnlich A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1995, S. 107. 36 U. Frevert, in: dies. (Hrsg.), Vertrauen, 2003, S. 7 (8); A. M. Hoffman, EJIR 8 (2002), 375 (379). 37 S. Alegre, in: G. de Kerchove/A. Weyembergh (Hrsg.), La confiance mutuelle, 2005, S. 41 (43): „mutual trust must be based on mutual knowledge that such trust is reasonable“; P. Sztompka, Trust, 1999, S. 71; T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (347).

170

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

ende in der Regel keine ausreichenden Informationen zur Organisationsstruktur bzw. zur Funktionsfähigkeit des betreffenden Systems zur Verfügung haben, sodass er vor allem auf dessen allgemeine Reputation und Kenntnisse über dessen bisherige Leistungsfähigkeit angewiesen ist.38 Eine belastbare Vertrauensgrundlage gewährt ein gewisses Maß an normativer Kohärenz, Stabilität und Transparenz des Systems, was für den Erhalt bzw. die Förderung des Systemvertrauens maßgeblich ist.39 Im europäischen Rechtsraum kann erwartet werden, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts, dieses und insbesondere die Unionsgrundrechte beachten. Die Erfüllung dieser Erwartung im Rahmen der unterschiedlichen Kooperationsbeziehungen wirkt sich positiv auf die Vertrauenswürdigkeit eines Mitgliedstaats aus. Darüber hinaus stützt sich die Vertrauenswürdigkeit aller Mitgliedstaaten im Unionsrecht auf ihre kulturelle Nähe und gemeinsame Rechtstradition(en) und insbesondere auf die gemeinsamen Werte gemäß Art. 2 EUV, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit.40 Die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sind als gleichwertig und daher als grundsätzlich vertrauenswürdig zu betrachten.41 Dabei bilden sekundärrechtlich geschaffene Mindeststandards bzw. Informationsaustauschmechanismen eine belastbare Vertrauensgrundlage und wirken vertrauensstärkend.42 Schließlich sind unionsrechtlich vorgesehene Überwachungs-, Durchsetzungs- bzw. Sanktionsmechanismen von maßgeblicher Bedeutung für die Festigung des bereits bestehenden Vertrauens43 sowie die Sicherstellung, dass vereinzelte Vertrauensverletzungen durch einen Mitgliedstaat seine Vertrauenswürdigkeit als Rechtssystem und somit das Vertrauen in diesen nicht in Zweifel gezogen werden.44

38 J. Sydow, in: R. Bachmann/A. Zaheer (Hrsg.), Handbook of Trust Research, 2006, S. 377 (381); ähnlich P. Sztompka, Trust, 1999, S. 71 ff. 39 P. Sztompka, Trust, 1999, S. 122 ff.; ihm zustimmend G. Hosking, Trust: A History, 2014, S. 194. 40 In diesem Sinne P. Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, 2015, S. 219 f. 41 Vgl. auch zur Bedeutung des Grundsatzes der Gleichwertigkeit für die Vertrauensvermutung A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (245 f.); ähnlich J. Gundel, in: R. Schulze/A. Janssen/S. Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 4. Aufl. 2020, § 3, Rn. 146. 42 Dazu näher unter 5. Kap., D. II., S. 217 f. In der Praxis kann es beim Informationsaustausch zu großen Herausforderungen kommen (z.B. was die Sprache oder Zuverlässigkeit der Informationen angeht), vgl. C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 592 f., Rn. 1076. 43 Näher N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 124 bezeichnet dies als institutionalisiertes Misstrauen; J. Sydow, in: R. Bachmann/A. Zaheer (Hrsg.), Handbook of Trust Research, 2006, S. 377 (385 ff.); P. Sztompka, Trust, 1999, S. 87 ff., 125. 44 Dazu näher 5. Kap., D. III., S. 219.

A. Vertrauen im Unionsrecht

171

IV. Widerlegbarkeit Ein weiteres Kernmerkmal von Vertrauen liegt in der ihm immanenten Möglichkeit der Enttäuschung bzw. seiner Widerlegbarkeit. Der Vertrauensempfänger kann, unabhängig von der Vertrauensgrundlage und dem Maß seiner Vertrauenswürdigkeit, das Vertrauen immer verletzen.45 Aus diesem Grund müssen dem Vertrauen auch Grenzen gesetzt werden.46 Der Vertrauende geht allerdings im Bewusstsein der möglichen Vertrauensenttäuschung eine Vertrauensbeziehung mit dem Vertrauensempfänger ein und hat insoweit seine Verletzlichkeit gewissermaßen akzeptiert.47 Vertrauen ist also das Ergebnis einer rationalen Abwägung, in der der Schaden beim Vertrauensbruch größer sein kann als der Vorteil, der aus dem Vertrauenserweis gezogen wird.48 Blindes Vertrauen stellt demnach begrifflich einen Widerspruch in sich dar und ist mit reiner Hoffnung gleichzusetzen. Wird das Vertrauen verletzt und werden somit die Erwartungen des Vertrauenden enttäuscht, wird Letzterer eine erneute Bewertung der Vertrauensgrundlage vornehmen (müssen) und über die mögliche Rücknahme des angezeigten Vertrauens für künftige Kooperationsbeziehungen mit demselben Vertrauensempfänger entscheiden.49 Schrittweise aufgebautes (System-)Vertrauen kann aber nicht auf einmal entzogen werden, sondern verfällt entsprechend ebenfalls schrittweise.50 Dabei besteht eine Vertrauensschwelle: Der Vertrauensempfänger genießt nämlich einen gewissen Kredit, sodass nicht jede Vertrauensverletzung einen Vertrauensentzug zur Folge hat.51 Bei Überschreitung dieser Schwelle schlägt Vertrauen allerdings in Misstrauen um. Dieser Befund steht mit dem dynamischen bzw. kontextabhängigen Charakter des Vertrauens im Einklang.52 Vertrauen erweist sich somit als faktensensibel und nicht als faktenresistent. Für den unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz sind daraus folgende Schlussfolgerungen zu ziehen: Zunächst kann die Erwartung, dass alle Mitgliedstaaten die Werte des Art. 2 EUV und insgesamt das Unionsrecht auch tatsächlich beachten, jederzeit enttäuscht werden, sodass niemals von einem blinden Vertrauen ausgegangen werden kann.53 Zur Wahrung der auf dem Spiel stehenden Interes45 A. Baier, Ethics 96 (1986), 231 (235); A. M. Hoffman, EJIR 8 (2002), 375 (378); A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (236). 46 U. Frevert, in: dies. (Hrsg.), Vertrauen, 2003, S. 1; N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 36; ähnlich A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (108, 115). 47 M. Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 1994, S. 99 ff., 102; ähnlich N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 29; T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (346). 48 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 28 f. 49 In diesem Sinne G. Möllering, Trust, 2006, S. 84 ff.; ähnlich N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 35. 50 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 96 f. 51 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 96 f. 52 Dazu s. unter 4. Kap., A. I., S. 166 ff. 53 Ähnlich C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne,

172

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

sen müssen dem Vertrauensgrundsatz vielmehr Grenzen gesetzt werden. Die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes bedarf allerdings der Überschreitung einer bestimmten Schwelle, damit das schon aufgebaute Vertrauen in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht bereits bei Einzelverletzungen entzogen wird. Nur wiederholte bzw. systematische Verletzungen des jeweils konkreten Vertrauens können seine Widerlegung bzw. seine Umwandlung in Misstrauen rechtfertigen. Anders ist jedoch der Fall zu beurteilen, wenn die Vermutung der Unionsrechtstreue im Rahmen eines konkreten Kooperationsersuchens anhand objektiver Nachweise enttäuscht wird.54 Hier wird das konkrete Vertrauen in die rechtmäßige Anwendung des Unionsrechts entzogen, das abstrakte Systemvertrauen in die Rechtsordnung des betroffenen Mitgliedstaats allerdings beibehalten.

V. Gegenseitigkeit Da Vertrauen auch einseitig entstehen kann, ist Gegenseitigkeit keine unabdingbare Voraussetzung von Vertrauensbeziehungen, in diesen gleichwohl häufig zu finden.55 Soweit sich zwei Parteien in der Rolle des Vertrauenden bzw. des Vertrauensempfängers wechselseitig an einer Vertrauensbeziehung beteiligen, begründet dies einen Anreiz, vertrauenswürdig zu handeln, denn jede Partei ist immer wieder auf die Handlungen der anderen angewiesen.56 Die Gegenseitigkeit des unionsrechtlichen Vertrauens bedeutet, dass die Mitgliedstaaten darauf vertrauen, dass sie auf Kooperationsersuchen untereinander eingehen werden, soweit sie selbst dazu bereit sind.57 Auf EU-Ebene ist diese Gegenseitigkeit insbesondere aufgrund der Anforderungen der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts geboten, sowie auf Grundlage des Gedankens, dass alle Mitgliedstaaten denselben Verpflichtungen unterliegen sollen.58 Der Fortbestand dieser Gegenseitigkeit ist allerdings stets mit der Annahme verbunden, dass die kooperierenden Mitgliedstaaten dieses Vertrauen nicht missbrauchen.

2020, S. 203, Rn. 285; E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 92; T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (347 f.). 54 Ähnlich C. Warin, REALaw 13 (2020), 7 (23 ff.), laut welcher das Vorliegen einer offensichtlichen Unionsrechtsverletzung durch den ersuchenden Mitgliedstaat die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle des entsprechenden Verwaltungsakts durch das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats eröffnet. 55 Näher R. Hardin, Trust and Trustworthiness, 2002, S. 14 ff.; ähnlich D. Gambetta, in: ders. (Hrsg.), Trust, 1988, S. 213 (219 f.). 56 R. Hardin, Trust and Trustworthiness, 2002, S. 17. 57 P. Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, 2015, S. 218. 58 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 206 f., Rn. 292.

B. Vertrauen und Recht: Wechselseitige Bedingtheit

173

B. Vertrauen und Recht: Wechselseitige Bedingtheit Vertrauen und Recht stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander, unabhängig von der Kategorisierung des Vertrauens als Rechtsbegriff.59 Die Fragen, ob Vertrauen Recht ersetzen kann (und umgekehrt) und ob Recht Vertrauen entbehrlich macht oder vielmehr erst ermöglicht, bedürfen eigenständiger Untersuchung. Zuvörderst ist allerdings auf die identische Zielsetzung beider Begriffe hinzuweisen, nämlich darauf, dass Vertrauen als außerrechtliches Phänomen, ähnlich wie Recht, normative Erwartungen schafft, indem von einem bestimmten Verhalten der Individuen ausgegangen wird. Damit entfalten Vertrauen und Recht dieselbe erwartungsstabilisierende Funktion.60 Darüber hinaus ist das Verhältnis vom Vertrauen und Recht durch ihre wechselseitige Bedingtheit gekennzeichnet.61 Zunächst besteht stets ein Bedürfnis nach Vertrauen in Recht. Denn Rechtsnormen können für sich genommen noch keine Erwartungssicherheit bieten, sie sind damit stets auf das Vertrauen der Akteure angewiesen.62 Bezugspunkte können dabei sowohl die Qualität des Rechts als auch seine Durchsetzbarkeit sein: Einerseits werden die Komplexität der Rechtsvorschriften und die damit verbundenen Informationsdefizite bzw. Unsicherheiten in einer Rechtsordnung durch ein entsprechendes Maß an Vertrauen in die Qualität dieses Rechtssystems, nämlich seine Beständigkeit, Stabilität und Konsistenz, kompensiert.63 Andererseits muss darauf vertraut werden, dass die Rechtsnormen, gegebenenfalls unter Heranziehung der Gerichte, auch tatsächlich durchgesetzt bzw. vollstreckt werden.64 In diesem Zusammenhang sind das (abstrakte) Vertrauen in das Funktionieren des Rechtssystems und das (konkrete) Vertrauen in die beteiligten Akteure eng verwoben. Dabei gilt: Je größer das Vertrauen in das Recht und seine Durchsetzbarkeit ist, insbesondere durch Durchsetzungs- bzw. Sanktionsmechanismen im Falle von Rechtsverstößen, desto geringer kann das Vertrauen in den anderen sein und umgekehrt.65 59

Anders M. Bobek, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 433 (433): „Not many notions pair as poorly with law as does trust“. 60 A. von Bogdandy, EuR 2017, 487 (504); ders., EuConst 14 (2018), 675 (692); N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 150 ff. 61 Vgl. M. Hartmann, Europäisierung und Verbundvertrauen, 2015, S. 30 f.; A.-K. Kaufhold, in: J. Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen?, 2014, S. 101; dies., in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 48, Rn. 85; E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (130); A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (123). 62 A.-K. Kaufhold, in: J. Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen?, 2014, S. 101 (113, 115 ff.); E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (130). 63 E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (130 f.); A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (121 f.). 64 H. Kube, AöR 146 (2021), 494 (500 f.). 65 E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der

174

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

Neben der abstützenden Funktion des Vertrauens für das Recht kann auch Vertrauen durch Recht erzeugt und stabilisiert werden.66 Rechtsnormen bieten einen zuverlässigen Rahmen, in welchem Handeln durch die Akteure „gewagt“ werden kann.67 Durch ihren verbindlichen Anordnungscharakter wird das vom Akteur einzugehende Risiko herabgesetzt, allerdings nicht eliminiert.68 Das Recht kann darüber hinaus vertrauensstiftend wirken, indem es durch die Festlegung von bestimmten Mindestanforderungen bzw. Austauschmechanismen (entweder von Informationen oder von Personal eines Systems) die Vertrauenswürdigkeit der Vertrauensakteure positiv beeinflussen sowie durch konkrete Regelungen dem Vertrauen Grenzen setzen kann. Schließlich können die rechtlich vorgesehenen Durchsetzungsmechanismen das Vertrauen sowohl in das Rechtssystem selbst als auch in den Vertragspartner sichern. Recht und Vertrauen stehen folglich in engem Zusammenhang, können sich aber gegebenenfalls auch gegenseitig ausschließen. So macht ein hohes Maß an rechtlicher Absicherung Vertrauen überflüssig. Umgekehrt kann eine Vertrauensbeziehung unabhängig von einer Abstützung durch Recht bestehen.69 Ähnlich gilt in komplexen Sozialordnungen, dass der Vertrauensbruch nicht als Unrecht sanktioniert wird, während die bloße Existenz von Recht nicht automatisch mit der Gewährung von Vertrauen gleichgesetzt werden kann.70 Letztlich kommt es auf das richtige Maß an, in dem sich Recht und Vertrauen gegenseitig ergänzen und abstützen.

Krise, 2011, S. 129 (131); A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (125). 66 A.-K. Kaufhold, in: J. Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen?, 2014, S. 101 (123 f.); H. Kube, AöR 146 (2021), 494 (500), der Recht als Substrat von Vertrauen bezeichnet; E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (131 f.); A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (121 f). 67 A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (107). 68 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 41; A. K. Weilert, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 105 (107). 69 A.-K. Kaufhold, in: J. Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen?, 2014, S. 101 (116); E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (130). 70 N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 41 ff.; ähnlich E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (131): „das Recht ,schafft‘ das Vertrauen nicht selbst“.

C. Vertrauen als Recht

175

C. Vertrauen als Recht Die Rechtsqualität, genauer Rechtsprinzipienqualität, des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens wird in der Literatur in den letzten Jahren und insbesondere nach dem EuGH-Gutachten 2/13 zum EMRK-Beitritt nunmehr bejaht.71 Dies lässt sich in der Tat anhand von rechtstheoretischen Erwägungen begründen.72 Zunächst muss der Inhalt einer Vorschrift für seine Zuordnung zum Recht einen „Sollensgehalt“ aufweisen.73 Eine solche „Sollensanordnung“74 ist bezüglich des Vertrauensgrundsatzes zu bejahen:75 Der EuGH hat mit der Vertrauensvermutung den Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt, grundsätzlich von der Beachtung des Unionsrechts und insbesondere von der Grundrechtseinhaltung der anderen Mitgliedstaaten auszugehen.76 Dieser widerlegbaren Vertrauensvermutung kommt darüber hinaus insoweit Rechtswirkung zu,77 als der ersuchte Mitgliedstaat bei der Durchführung des Unionsrechts auf die Anwendung eines höheren nationalen Grundrechtsschutzniveaus sowie eine erneute Prüfung der tatsächlichen Beachtung des Unionsrechts verzichten muss.78 Daher ist der Vertrauensgrundsatz dem Recht als verbindliche Norm (Rechtsprinzip) mit eigenständigem, normativem Gehalt79 zuzuordnen. 71

L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (62 f.); A.-K. Kaufhold, in: J. Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen?, 2014, S. 101 (115, 120); dies., in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 48, Rn. 67 ff.; K. Lenaerts, CMLRev. 54 (2017), 805 (813); F. Meyer, EuR 2017, 163 (168 ff.); E. Storskrubb, CYELS 20 (2018), 179 (180); T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (369); vgl. bereits Schlussanträge GA D. Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-297/07, Slg. 2008, I-9425, Rn. 45 – Bourquain. 72 Dazu auch A.-K. Kaufhold, in: J. Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen?, 2014, S. 101 (120 ff.), die das Vertrauensprinzip als ein Optimierungsgebot qualifiziert; wie hier E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 95 ff. 73 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 9. Aufl. 2020, S. 40 ff.; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 4 f.; E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 325 ff.; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, S. 61, 82. 74 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, S. 82 f. 75 So auch R. Bieber, in: S. Lorenzmeier/H.-P. Folz (Hrsg.), FS Vedder, 2017, S. 27 (39 f.), der allerdings die rechtliche Wirkung des Vertrauensgrundsatzes schon in früheren EuGHUrteilen anerkannt sieht; ähnlich A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (226), der Vertrauen als Optimierungsgebot bezeichnet; anders aber E. Kloska, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Strafrecht, 2016, S. 249 ff. 76 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 191 – Beitritt der Union zur EMRK. 77 Krit. A. von Bogdandy, in: ders./J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, S. 13 (26), nach dem die Qualifizierung als Prinzip als solche keine spezifischen Rechtsfolgen auslöst. 78 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 192 – Beitritt der Union zur EMRK; vgl. auch A.-K. Kaufhold, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 48, Rn. 68, 73. 79 Ähnlich C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 225 ff., Rn. 336 ff., die allerdings die rechtliche Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes in seiner Funktion als Auslegungsprinzip sieht.

176

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

D. Definition Der vorstehenden interdisziplinären Annäherung lässt sich eine Definition des Vertrauens im Unionsrecht entnehmen.80 Als Rechtsgrundsatz ordnet es zur Reduktion der Komplexität, die sich aufgrund der Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen im Rahmen des dezentralen Unionsrechtsvollzugs ergeben, gegenüber den Mitgliedstaaten bzw. gegebenenfalls den EU-Organen an, wechselseitig von einer widerlegbaren, doppelten Vermutung auszugehen: Zum einen ist die Rechtstreue in Bezug auf das anzuwendende Unionsrecht81 – bzw. in Ermangelung einer Unionsvorschrift das anzuwendende nationale Recht – (konkretes Vertrauen), zum anderen die Fähigkeit aller nationalen Rechtsordnungen, gegebenenfalls auch der unionalen Rechtsordnung, das Unionsrecht rechtmäßig anzuwenden und durchzusetzen (abstraktes Systemvertrauen), zu unterstellen.82 Aus dieser Vermutungswirkung folgen für den ersuchten Mitgliedstaat zwei Kontrollverzichte, nämlich der Verzicht, ein höheres nationalen Grundrechtsschutzniveau zu verlangen sowie eine erneute Prüfung der tatsächlichen Beachtung des Unionsrechts vorzunehmen. Vertrauen erweist sich dabei als faktensensibel und kann jederzeit enttäuscht werden. Das (konkrete) Vertrauen in die Rechtstreue der Mitgliedstaaten im konkreten Fall kann anhand von objektiven, entgegenstehenden Nachweisen widerlegt werden. Die Widerlegung des (abstrakten) Systemvertrauens unterliegt allerdings einer höheren Schwelle und erfolgt erst durch wiederholte bzw. systemische Rechtsbrüche.

80

Vgl. aber A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (248): eine Definition sei unmöglich. Ähnlich E. Schmidt-Aßmann/A.-K. Kaufhold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. II, 3. Aufl. 2022, § 27, Rn. 20: „widerlegliche Vermutung der Unionsrechtskonformität einer Maßnahme“. 82 Mit Differenzierungen C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 182 ff., Rn. 245 ff., die den Vertrauensgrundsatz als Vermutung der „Vereinbarkeit der nationalen rechtlichen Lösungen“ („compatibilite´ de solutions juridiques nationales“) definiert. Dabei wird unterschieden zwischen Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht einerseits („e´qui-conformite´ d’application de normes communes“) und Vereinbarkeit der ausländischen Regelungen mit der eigenen Rechtsordnung andererseits („e´quiadmissibilite´ de solutions juridiques nationales diffe´rentes“). Im letzteren Fall handelt es sich im Wesentlichen um eine Vermutung der Gleichwertigkeit der nationalen Regelungen. Allerdings wird nach dem Vertrauensgrundsatz nicht vermutet, dass die nationalen Rechtsordnungen gleichwertig sind und gleichwertige Qualitätsstandards bzw. Regelungen vorsehen. Vielmehr gilt: Weil die nationalen Rechtsordnungen gleichwertig sind, besteht ferner die Vermutung der Rechtstreue der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das anzuwendende Unionsrecht, gegebenenfalls das nationale Recht, s. gleich unten unter 4. Kap., E. II., S. 179 f. 81

E. Vertrauen, Anerkennung und Gleichwertigkeit

177

E. Vertrauen, Anerkennung und Gleichwertigkeit Es liegt auf der Hand, dass der Vertrauensgrundsatz in engem Zusammenhang mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung steht.83 Gleichwohl weisen beide Rechtsinstitute eine unterschiedliche Struktur auf und sind voneinander abzugrenzen. Eine klare Abgrenzung ist jedoch weder in der EuGH-Rechtsprechung bzw. Rechtsetzung noch in der Literatur zu finden.84 Die Gleichwertigkeit der nationalen Regelungen bildet dabei den gemeinsamen Nenner beider Grundsätze, was eine scharfe Abgrenzung der Begriffe noch mehr erschwert. Das Verhältnis der Begriffe zueinander lohnt daher einer näheren Untersuchung, welche dabei vor allem unter Berücksichtigung der Rechtswirkungen zu erfolgen hat.

I. Gleichwertigkeit der nationalen Vorschriften und Anerkennungsgrundsatz Als Rechtsinstitut der Integration innerhalb des Europäischen Verwaltungsverbunds beruht der Anerkennungsgrundsatz zunächst auf einem Automatismus und nicht etwa auf Regulierung.85 Er besagt, dass die mitgliedstaatlichen Vorschriften grundsätzlich als gleichwertig anzusehen bzw. anzuerkennen sind.86 Das Verhältnis beider Begriffe zueinander lässt sich am Beispiel des Binnenmarkts illustrieren: Die Frage nach der Gleichwertigkeit87 der nationalen Regelungen

83 C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 141 ff. sieht den Vertrauensgrundsatz und die gegenseitige Anerkennung als zwei Seiten einer Medaille an; ähnlich A.-K. Kaufhold, EuR 2012, 408 (429). 84 Vgl. die Schlussanträge GA Y. Bot, Rs. C-486/14, ECLI:EU:C:2015:812, Rn. 43 – Kossowski, der Vertrauen nicht als Voraussetzung, sondern vielmehr als unmittelbare Folge der gegenseitigen Anerkennung betrachtet. 85 Vgl. P.-C. Müller-Graff, ZVglRWiss 2012, 72 (73); ähnlich S. Dorigo/M. Eliantonio/R. Lanceiro, REALaw 13 (2020), 183 (184). 86 W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 181; P.-C. Müller-Graff, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EURecht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 191; vgl. auch U. Haltern, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 34 AEUV, Rn. 170 spricht dabei von einem Prinzip der „funktionalen Parallelität“; ähnlich M. Schwarz, Grundlinien der Anerkennung im RFSR, 2016, S. 274 ff.: „Prinzip funktionaler Äquivalenz“. Die Gleichwertigkeitsannahme gilt auch in den harmonisierten Bereichen, EuGH, Rs. 35/76, Slg. 1976, 1871, Rn. 34 ff. – Simmenthal Spa/Ministero delle finanze. 87 Dazu EuGH, Rs. 104/75. Slg. 1976, 613, Rn. 28 – De Pijper; Rs. 35/76, Slg. 1976, 1871, Rn. 34/36 – Simmenthal I; Rs. 46/76, Slg. 1977, 5, Rn. 16/19 f., 37/39 – Bauhuis; Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 14 – Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein; Rs. 272/80, Slg. 1981, 3277, Rn. 14 – Frans-Nederlandse Maatschappij voor biologische Producten; Rs. 25/88, Slg. 1989, 1105, Rn. 18 – Wurmser; Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357, Rn. 16 ff. – Vlassopoulou/Ministerium für Justiz u.a. Baden-Württemberg; Rs. C-525/14, ECLI:EU:C: 2016:714, Rn. 48 – Kommission/Tschechien; Rs. C-675/17, ECLI:EU:C:2018:990, Rn. 31 – Preindl. S. auch C.-M. Happe, Die grenzüberschreitende Wirkung von nationalen Verwal-

178

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

wird auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung der einschränkenden Maßnahme des Bestimmungsstaats behandelt.88 Zusätzliche Kontrollen des Bestimmungsstaats sind nicht erforderlich, wenn ähnliche Kontrollen bereits im Herkunftsmitgliedstaat durchgeführt wurden und deren Ergebnisse den Anforderungen des Bestimmungsstaats genügen. Die Feststellung, ob die einschlägigen nationalen Vorschriften gleichwertig sind, kann sich nur im Wege eines Vergleichs beider Vorgaben ergeben. Diesen Vergleich nimmt mitunter der EuGH selbst,89 grundsätzlich aber die nationalen Gerichte90 vor.91 Dass die Gleichwertigkeit der nationalen Vorschriften keine unabdingbare Voraussetzung für die Anwendung des Anerkennungsgrundsatzes darstellt,92 zeigen die Fälle, in denen keine ähnlichen Vorschriften im Herkunftsmitgliedstaat vorgesehen sind oder sogar trotz gleichwertiger Vorgaben die Anerkennung nationaler Maßnahmen nicht erfolgt. Das Fehlen von ähnlichen technischen Regelungen bedeutet in der Tat nicht ohne weiteres die Aussetzung des Anerkennungsgrundsatzes, denn die Mitgliedstaaten sind dazu berechtigt, unterschiedliche Regelungen festzulegen.93 Hier wird anhand der herkömmlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung in concreto beurteilt, ob die Anwendung der einschlägigen nationalen Vorschrift des Bestimmungsstaats aufgrund von öffentlichen Belangen gerechtfertigt ist.94 Umgekehrt schließt das Vorliegen gleichwertiger Schutzvorschriften nicht die Möglichkeit aus, dass der Bestimmungsstaat seine eigenen Standards unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durchsetzt.95 tungsakten, 1987, S. 108; V. Neßler, Richtlinienrecht, 1994, S. 6, 29; S. Michaels, Anerkennungspflichten im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2004, S. 274 f.; M. Schröder, REALaw 13 (2020), 37 (42); andere Autoren sprechen von „Äquivalenz“ G. Buchholtz, NVwZ 2016, 1353 (1358); M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (412); ähnlich in Bezug auf die Hochschuldiplome A. Weber, NVwZ 1990, 1 (5): „Vergleichbarkeit“. 88 L. De Lucia, REALaw 13 (2020), 7 (9); vgl. auch EuGH, Rs. 188/84, Slg. 1986, 419, Rn. 16 – Kommission/Frankreich. 89 EuGH, Rs. 124/81, Slg. 1983, 203, Rn. 25 f. – Kommission/Vereinigtes Königreich; Rs. 188/84, Slg. 1986, 419, Rn. 16 ff. – Kommission/Frankreich; Rs. 16/78, Slg. 1978, Rn. 7 – Choquet; Rs. 193/94, Slg. 1996, I-929, Rn. 24 – Skanavi und Chryssanthakopoulos. 90 EuGH, Rs. 27/70, Slg. 1980, 3839, Rn. 15 – Fietje; Rs. 272/80, Slg. 1981, 3277, Rn. 17 – Frans-Nederlandse Maatschappij voor biologische Producten. 91 Dazu T. Tridimas, The General Principles of EU law, 2. Aufl. 2006, S. 218 ff.; M. Winkelmüller, Verwaltungskooperation bei der Wirtschaftsaufsicht im EG-Binnenmarkt, 2002, S. 23 ff. 92 So auch C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 210, Rn. 300. 93 C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 34; X. Groussot/G. T. Pe´tursson/H. Wenander, EP 1 (2016), 865 (884); M. Ortino, ICLQ 56 (2007), 309 (314). 94 EuGH, Rs. C-184/96, Slg. 1998, I-6197, Rn. 26 f. – Kommission/Frankreich. 95 EuGH, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7633, Rn. 69 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International; Rs. C-244/06, Slg. 2008, I-505, Rn. 49 – Dynamic Medien; Rs. C-225/15, ECLI:EU:C:2016:645, Rn. 40 – Politano`; Rs. C-3/17, ECLI:EU:C:2018:130, Rn. 41 – Sporting Odds; C. Janssens, Mutual Recognition, 2013, S. 31 ff.; M. P. Maduro, JEPP 14 (2007), 814 (820).

E. Vertrauen, Anerkennung und Gleichwertigkeit

179

Die Funktion gegenseitiger Anerkennung liegt somit im Binnenmarkt in der Gewährleistung des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen,96 Personen und Kapital, ohne vorherige Rechtsangleichung der entsprechenden nationalen Regelungen. In diesem Sinne entfaltet das Anerkennungsprinzip eine deregulierende Funktion.97 Es spiegelt eine transnationale Verflechtung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wider; auf eine einheitliche transnationale Verwaltung kommt es jedoch nicht an. In systematischer Hinsicht bildet es somit das Produkt aus dem Prinzip des dezentralen Vollzugs und den Grundfreiheiten.98 Vergleichbar gilt im RFSR sowie im Bereich der Finanz- bzw. Bankenaufsicht, dass die sekundärrechtlich geschaffenen Anerkennungsmechanismen, wie etwa der Europäische Haftbefehl oder der Europäische Pass, unabhängig von einer tatsächlichen Gleichwertigkeit bzw. Vergleichbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften gelten. Selbst wenn die Mitgliedstaaten ein unterschiedliches Grundrechtsschutzniveau gewährleisten, unterschiedliche materielle und/oder verfahrensrechtliche Anforderungen vorsehen bzw. über unterschiedliche Finanzaufsichtsmodelle verfügen,99 können die etwaigen Unterschiede der Anerkennungspflicht nicht entgegengehalten werden.100 Vor diesem Hintergrund stellt die Gleichwertigkeit der nationalen Vorschriften eine naheliegende, aber keine unabdingbare Voraussetzung für die Funktionsweise des Anerkennungsgrundsatzes dar.101

II. Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen und Vertrauensgrundsatz Der Gleichwertigkeit bezüglich des materiellen Schutzniveaus in den jeweiligen Rechtsgebieten folgt die Gleichwertigkeit der nationalen Rechtsordnungen insgesamt als grundlegende normative Wertentscheidung der EU-(Wirtschafts)Verfassung.102 Die Gleichwertigkeit der unterschiedlich ausgestalteten Rechtssys96

H.-P. Mansel, RabelsZ 2006, 651 (665); S. Lavenex, JEPP 14 (2007), 762 (764). T. Bruha, ZaöRV 46 (1986), 1 (26 f.); daneben auch L. De Lucia, REALaw 13 (2020), 7 (8 ff.) zu der unterschiedlichen Funktion des Anerkennungsprinzips je nach Konstellation, nämlich den Rechtspluralismus, den verwaltungsrechtlichen sowie den wirtschaftlichen Pluralismus („regulatory pluralism, administrative and that of the market“) zu wahren; ähnlich S. Dorigo/M. Eliantonio/R. Lanceiro, REALaw 13 (2020), 183 (187 ff.). 98 M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (410); M. Winkelmüller, Verwaltungskooperation bei der Wirtschaftsaufsicht im EG-Binnenmarkt, 2002, S. 209 f. 99 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 – Melloni; Rs. C-681/13, ECLI: EU:C:2015:471, Rn. 43 – Diageo Brands; Schlussanträge GA D. Ruiz-Jarabo Colomer, verb. Rs. C-187/01 u. C-385/01, Slg. 2003, I-1345, Rn. 124 – Gözütok und Brügge. 100 Mit Ausnahme der Ordre-publiC-Vorbehalte, s. unter 5. Kap., C. IV., S. 219 f. 101 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 210, Rn. 300. 102 Zum Vertrauen in die Gleichwertigkeit der Rechtssysteme als Voraussetzung der gegenseitigen Anerkennung s. V. Neßler, Richtlinienrecht, 1994, S. 29 Fn. 115; A.-K. Kaufhold, EuR 2012, 408 (422); E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, Kap. 7, Rn. 2 spricht vom „Vertrauen in die Ordnungsgemäßheit der 97

180

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

teme der Mitgliedstaaten103 und das darauf fußende Vertrauen in die Ergebnisse dieser Rechtssysteme bilden nämlich die grundlegende Prämisse für die Funktionsfähigkeit des gesamten Integrationsprojekts.104 In diesem Sinne ist die Gleichwertigkeit der nationalen Rechtsordnungen eine implizite Grundannahme, auf der die Vertrauensvermutung basiert.105 Da die Mitgliedstaaten die Unionswerte gemäß Art. 2 EUV teilen und ihre verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen innerhalb der EU gleichermaßen respektiert werden (Art. 4 Abs. 2 EUV) und daher als gleichwertig betrachtet werden, kann von der Vermutung der Rechtstreue der Mitgliedstaaten ausgegangen werden.106 Dieser Gedanke liegt den Nachprüfungsverboten für die Vollstreckungsgerichte zugrunde, die der EuGH aus dem Vertrauensgrundsatz auch ohne eine vorherige Harmonisierung bzw. Angleichung des Sachrechts ableitet.107 Dabei gilt: Ein a priori größeres Vertrauen in die eigene Rechtsordnung bzw. Verwaltung bildet keine hinreichende Grundlage für die Widerlegung der Vertrauensvermutung. Umgekehrt besteht keine Pflicht zum blinden, diffusen Vertrauen in die Verwaltung des ersuchenden Mitgliedstaats. In Einzelfällen können daher konkrete Nachweise das gegenseitige Vertrauen erschüttern und in die Widerlegung der Vertrauensvermutung münden.108

III. Der transnationale Verwaltungsakt Eine unmittelbare rechtsdogmatische Konsequenz des auf dem Vertrauen in die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen fußenden Anerkennungsprinzips bildet das Rechtsinstitut des transnationalen Verwaltungsakts im horizontalen europäischen Verwaltungskooperationsrecht.109 Nationalen Verwaltungsentscheigetroffenen Entscheidungen“; B. Sujecki, ZEuP 2008, 458 (473); H. Wenander, REALaw 13 (2020), 89 (91, 93). 103 E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 106 f. sieht allerdings eine solche Gleichwertigkeitsannahme mangels einer tatsächlichen Kongruenz der einzelnen Rechtssysteme als verfehlt an und plädiert deswegen für weitere Harmonisierungsbemühungen. 104 P.-C. Müller-Graff, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 191. Vgl. auch Schlussanträge GA D. Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-102/02, Slg. 2004, I-5405, Rn. 22 – Beuttenmüller; ferner C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 145 ff., Rn. 173 ff. 105 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-187/01 u. C-385/01, Slg. 2003, I-1345, Rn. 33 – Gözütok und Brügge; Rs. C-554/14, ECLI:EU:C:2016:835, Rn. 47 f. – Ognyanov; Rs. C-559/14, ECLI: EU:C:2016:349, Rn. 47 – Meroni; Rs. C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27, Rn. 52 – Piotrowski; Rs. C-435/22 PPU, ECLI:EU:C:2022:852, Rn. 93 f. – Generalstaatsanwaltschaft München. Näher s. unter 4. Kap., A. I., S. 166 ff. 106 Ferner unten unter 5. Kap., B. III., S. 203 ff. 107 S. oben unter 2. Kap., C. I., S. 40 f. und D. VI., S. 54 ff. 108 So auch C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 158, Rn. 198; ferner s. unter 4. Kap., A. IV., S. 181 ff. 109 G. Buchholtz, NVwZ 2016, 1353 (1356); T. Ellerbrok, JA 2022, 969 (970 ff., ins. 973); C. Franzius, HFR 2010, 159 (173); L. De Lucia, REALaw 13 (2020), 7 (15 ff., 26 f.), der in den

E. Vertrauen, Anerkennung und Gleichwertigkeit

181

dungen ist danach eine transnationale, unionsweite Wirkung beizumessen – eine Wirkung, die die Relativität der traditionellen Annahme zeigt, dass die Geltung von nationalen Verwaltungsakten territorial begrenzt ist.110 Eine Beibehaltung der traditionellen, territorial begrenzten Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihr Hoheitsgebiet erweist sich im Bereich der horizontalen EU-Verwaltungskooperation vielmehr als begründungsbedürftige Ausnahme. Als normative Grundlage für die unionsweite Wirkung kommen die Anerkennungsklauseln in Betracht, die entweder im nationalen Recht selbst bzw. im Unionssekundärrecht zu finden sind, sowie das richterrechtlich entwickelte Anerkennungsprinzip, das in den Grundfreiheiten i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EUV wurzelt.111 Im Falle eines fehlerhaften Verwaltungsaktes ist dem Ursprungsstaat zwar die Möglichkeit der Aufhebung vorbehalten, die Wirkung des Verwaltungsakts wird aber von den Behörden des Bestimmungsstaats blockiert.112 Letztendlich wird die Rechtsanwendung von der (Nicht-)Anerkennung des Verwaltungsakts durch einen anderen Mitgliedstaat abhängig gemacht.113

IV. Vertrauen und Anerkennung Vor diesem Hintergrund ist schließlich der Vertrauensgrundsatz vom Anerkennungsgrundsatz abzugrenzen: Zunächst stellt gegenseitiges Vertrauen einen die gesamten EU-Verträge durchziehenden Rechtsgrundsatz dar,114 der mit dem An-

harmonisierten Bereichen zwischen dem Verwaltungsakt mit „automatischen transnationalen Effekt“ und dem transnationalen Verwaltungsakt, der einem Anerkennungsakt durch den Bestimmungsstaat bedarf, unterscheidet; V. Neßler, Richtlinienrecht, 1994, S. 29; ders., NVwZ 1995, 863 (865 f.); M. Ruffert, Die Verwaltung 34 (2001), 453 (484); F. Schwetz, Grenzüberschreitende Verwaltungsakte, 2021, S. 23 ff.; differenzierend U. Lienhard, NuR 2002, 13 (14): es müsse von einem „gemeinschaftlichen Verwaltungsakt“ gesprochen werden; skeptisch zum Rechtsinstitut des transnationalen Verwaltungsakts J. Becker, DVBl 2001, 855 (858 ff.), der eine Regelung der Verwaltungskooperation vorzieht. Dazu auch BVerfGE 31, 145 (174) zur Anerkennung von EU-Hoheitsakten in der deutschen Rechtsordnung. 110 K.-H. Ladeur, in: H.-H. Trute u.a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 810. 111 M. Ruffert, Die Verwaltung 34 (2001), 453 (477, 480); G. Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 143 f. 112 G. Buchholtz, NVwZ 2016, 1353 (1356); V. Neßler, Richtlinienrecht, 1994, S. 29 ff.; ders., NVwZ 1995, 863 (865); F. Schwetz, Grenzüberschreitende Verwaltungsakte, 2021, S. 39 f.; zu den sich daraus ergebenden Rechtsschutzproblemen vgl. D. Düsterhaus, REALaw 8 (2015), 151 (157 ff.); L. Arroyo Jime´nez, GLJ 22 (2021), 344 (355 ff.). 113 E. Schmidt-Aßmann, DVBl 1993, 924 (935). 114 Dazu N. Cambien, EP 2 (2017), 93 (99); X. Groussot/G. T. Pe´tursson/H. Wenander, EP 1 (2016), 865 (866); A.-K. Kaufhold, EuR 2012, 408 (426 f.); F. Meyer, EuR 2017, 163 (174 f.); anders P. Crame´r, in: M. Dougan/S. Currie (Hrsg.), 50 Years of the European Treaties, 2009, S. 58, der behauptet, dass gegenseitiges Vertrauen kein Rechtsprinzip, sondern eine unsichere, reflexive soziale Situation („fragile reflexive social Situation“) ist; ähnlich C. Franzius, HFR 2010, 159 (163): „Vertrauen ist keine rechtliche Kategorie, kann für das Recht aber eine Rolle spielen“. Ausführlicher unter 5. Kap., S. 185 ff.

182

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

erkennungsgrundsatz zwar eng verwoben ist,115 allerdings unabhängig von einer Pflicht zur Anerkennung gilt.116 Die Autonomie des Vertrauensgrundsatzes zeigt sich besonders darin, dass die Widerlegung der Vertrauensvermutung zugleich die Ablehnung der Anerkennung bedeutet,117 wobei die Ablehnung der Anerkennung auch aus anderen Gründen erfolgen kann, welche allerdings die Vertrauensvermutung nicht unbedingt berühren.118 Darüber hinaus entfalten beide Grundsätze eine unterschiedliche Rechtswirkung. Einerseits legt der Vertrauensgrundsatz eine widerlegbare Vermutung der Rechtstreue in Bezug auf das Unionsrecht119 fest und bewirkt somit konkrete Kontrollverzichte für den ersuchten Mitgliedstaat. Andererseits beruht das Anerkennungsprinzip auf gerade dieser Vermutung und ermöglicht die Verkehrsfähigkeit eines in einem Mitgliedstaat erlassenen Produkts bzw. die Anerkennung einer Gerichtsentscheidung in allen anderen Mitgliedstaaten, vorbehaltlich von Rechtfertigungsgründen aufgrund öffentlicher Belange. Das Vertrauen in die Gleichwertigkeit der nationalen Entscheidungen sowie in ihre unionsrechtskonforme Umsetzung erlaubt und setzt zugleich aber auch die Grenzen für die horizontale Souveränitätsübertragung im Wege gegenseitiger Anerkennung von Hoheitsakten.120 Vor diesem Hintergrund bildet Vertrauen die notwendige Voraussetzung und Grundlage für die erfolgreiche Anwendung des Anerkennungsprinzips.121 Dabei wohnt die Widerlegbarkeit dem Vertrauensgrundsatz inne, wobei die gegenseitige Anerkennung theoretisch automatisch und vorbehaltlos er-

115 Vgl. H. Wenander, REALaw 13 (2020), 89 (99), der den Anerkennungsgrundsatz als „concretised trust“ bezeichnet. 116 Vgl. C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 212, Rn. 305; in Bezug auf den RFSR vgl. F.-X. Millet, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 57 (62). 117 Dazu auch im Bereich des Führerscheinrechts M. Schröder, REALaw 13 (2020), 37 (52 f.). 118 Die Verwaltungskooperation wird allerdings mit der Ablehnung der Anerkennung beendet. Mithin fungieren die Grenzen der Anerkennung zugleich als faktische Grenzen des Vertrauensgrundsatzes, selbst wenn die Vertrauensvermutung als solche nicht widerlegt wird, s. unter 5. Kap., C. IV., S. 219 f. 119 In diesem Sinne M. Schröder, REALaw 13 (2020), 37 (52). 120 S. A. Bloks/T. van den Brink, GLJ 22 (2021), 45 (54, 59); X. Groussot/G. T. Pe´tursson/H. Wenander, EP 1 (2016), 865 (867 f.); S. Lavenex, JEPP 14 (2007), 762 (765); K. Nicolaı¨dis, JEPP 14 (2007), 682 (685); M. P. Maduro, JEPP 14 (2007), 814 (819); C. Rizcallah, ELJ 25 (2019), 37 (39); H. Wenander, ZaöRV 71 (2011), 755 (782): „balance between […] control and trust“. 121 So auch K. Hamenstädt, REALaw 14 (2021), 5 (11); E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 102; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 212, Rn. 306; differenzierend M. Bobek, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 433 (438), der jenseits des Vertrauens andere Anreize für die Anerkennungsmechanismen für vertretbar hält.

F. Zwischenergebnis

183

folgen kann.122 Ihre vorbehaltlose Natur ergibt sich im Unionsrecht aus der EuGH-Rechtsprechung sowie den jeweiligen sekundärrechtlichen Rechtsakten.

F. Zwischenergebnis Vertrauen stellt weder eine Leerformel noch ein außerrechtliches Phänomen dar, das im Recht nur eine marginale Rolle spielt. Vielmehr bildet es einen unionalen Rechtsbegriff. Unter Berücksichtigung auch interdisziplinärer Erkenntnisse kann Vertrauen als Rechtsgrundsatz des Unionsrechts mit eigenständigem, normativem Gehalt und verbindlicher Rechtswirkung beschrieben werden, der eine widerlegbare, Kontrollverzichte anordnende Vermutungsregel aufstellt. Demnach sind die Mitgliedstaaten bzw. gegebenenfalls die Unionsorgane verpflichtet, wechselseitig von einer widerlegbaren doppelten Vermutung auszugehen: Zum einen soll die Rechtstreue in Bezug auf das anzuwendende Unionsrecht bzw. nationale Recht (konkretes Vertrauen), zum anderen die Fähigkeit aller nationalen Rechtsordnungen, gegebenenfalls auch der europäischen Rechtsordnung, das Unionsrecht rechtmäßig anzuwenden und durchzusetzen (abstraktes Systemvertrauen), angenommen werden. Unmittelbare Rechtsfolge ist die Auferlegung von Kontrollverzichten für die Mitgliedstaaten. Dadurch trägt Vertrauen zur Reduktion der Komplexität bei, die sich aufgrund der Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen im Rahmen des dezentralen Unionsrechtsvollzugs ergibt. Vertrauen weist als ein aus der Soziologie in die Rechtswissenschaften übertragener Begriff folgende Kernmerkmale auf: Erstens eine dreigliedrige Struktur, in der die Mitgliedstaaten bzw. die nationalen Gerichte und Behörden sowie gegebenenfalls die EU-Organe sowohl als Vertrauende als auch als Vertrauensempfänger gedacht werden können. Dazu stellen die Rechtstreue der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Unionsrecht bzw. das anzuwendende nationale Recht sowie die allgemeine Fähigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, das Unionsrecht zu wahren und durchzusetzen, die Bezugspunkte des Vertrauens dar. Zweitens wird durch Vertrauen auf die Reduktion der Komplexität abgezielt, die durch die Unterschiede der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entsteht. Drittens kann nicht gewährleistet werden, dass das entgegengebrachte Vertrauen letztlich enttäuscht wird, weshalb als viertes Merkmal seine immanente Widerlegbarkeit gilt. Schließlich wird das Vertrauen im Rahmen einer Kooperationsbeziehung gegenseitig, d.h. durch alle bzw. gegenüber allen kooperierenden Mitgliedstaaten, entgegengebracht. Darüber hinaus steht Vertrauen in einem engen Zusammenhang zum Recht, indem einerseits ein Bedürfnis nach Vertrauen in Recht, konkret in seine Qualität

122

(414).

L. Arroyo Jime´nez, GLJ 22 (2021), 344 (353 f.); M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405

184

4. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als (Verfassungs-)Rechtsbegriff

bzw. seine Durchsetzbarkeit besteht sowie andererseits Vertrauen durch Recht erzeugt und stabilisiert wird. Dazu kommt die Zuordnung des unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatzes zum Recht, indem dieser den Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt, grundsätzlich von der Beachtung des Unionsrechts und insbesondere von der Grundrechtseinhaltung der anderen Mitgliedstaaten auszugehen und somit einen eigenständigen, normativen Gehalt aufweist. Aufgrund dieser Merkmale kann schließlich die Abgrenzung des Vertrauens von den Begriffen der Anerkennung und der Gleichwertigkeit erfolgen. Dabei stellt Vertrauen eine conditio sine qua non für die erfolgreiche Anwendung des Anerkennungsprinzips dar, wobei die Gleichwertigkeit der nationalen Rechtsordnungen eine implizite Grundannahme ist, auf der sich die Vertrauensvermutung beruht. Allerdings sind die Begriffe „Vertrauen“, „Anerkennung“ und „Gleichwertigkeit“ sehr eng miteinander verbunden sind, sodass eine scharfe begriffliche Trennung nicht immer möglich ist.

5. Kapitel

Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU Der Vertrauensgrundsatz geht über eine „normale“ rechtlich bindende Norm bzw. Prinzip hinaus. Er stellt vielmehr ein Strukturprinzip des Unionsrechts dar.1 Dies bedeutet, dass es sich um einen im Primärrecht verankerten Grundsatz handelt, der eine normativ begründende Funktion für die Unionsrechtsordnung als Ganze entfaltet.2 Als fundamentales Strukturprinzip durchdringt der Vertrauensgrundsatz das gesamte Unionsrecht,3 indem es die horizontalen Kooperationsverhältnisse bestimmt und zugleich die föderative Struktur des Unionsgefüges widerspiegelt und sichert. Insoweit stellt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ein besonderes Merkmal des Unionsgefüges dar.4

1

Vgl. EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 158 – Beitritt der Union zur EMRK („Grundprinzipien“). Der Vertrauensgrundsatz wird in der Literatur als Strukturprinzip („foundational principle“), Verfassungsprinzip („constitutional principle“), „Verfassungsgrundsatz“ bzw. „normatives Fundamentalprinzip“ qualifiziert, vgl. E. Brouwer, EP 1 (2016), 893 (896); D. Düsterhaus, REALaw 8 (2015), 151 (155); ders., ZEuP 2018, 10 (22 f.); D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (70); X. Groussot/G. T. Pe´tursson/H. Wenander, EP 1 (2016), 865 (867 f.); E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 199; K. Lenaerts, CMLRev. 54 (2017), 805 (806, 813); T. Marguery, EP 1 (2016), 943 (944); F. Meyer, EuR 2017, 163 (172 f.); M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (4 f.); C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 221, Rn. 326; A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (480). 2 Zur Definition von Strukturprinzipien F. Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001 S. 62 f. sowie von Grundprinzipien des Unionsrechts A. von Bogdandy, in: ders./J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, S. 13 (27). 3 A. Willems, GLJ 20 (2019), 468 (480). Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird im Gutachten 2/13 nur beispielhaft erwähnt, EuGH, Gutachten 2/13, ECLI: EU:C:2014:2454, Rn. 191 – Beitritt der Union zur EMRK; so auch R. Bieber, in: S. Lorenzmeier/H.-P. Folz (Hrsg.), FS Vedder, 2017, S. 27 (29); vgl. auch EuG, T-791/19, ECLI: EU:T:2022:67, Rn. 85, 88 – Sped-Pro/Kommission. 4 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 178 ff. – Beitritt der Union zur EMRK.

186

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

A. Primärrechtliche Verankerung Die Verortung des Vertrauensgrundsatzes unter den Strukturprinzipien des Unionsrechts ist seiner primärrechtlichen Verankerung geschuldet,5 die allerdings mangels einer expliziten Erwähnung in den Verträgen einer näheren Untersuchung bedarf. Dabei rücken aufgrund ihres thematischen Zusammenhangs zum Vertrauensgrundsatz insbesondere Art. 2 EUV, Art. 4 Abs. 2 EUV sowie Art. 4 Abs. 3 EUV in den Blick.

I. Werte der EU Der Rang eines verfassungskräftigen Grundsatzes könnte dem Vertrauen zunächst aufgrund seiner Anbindung an Art. 2 EUV zukommen.6 Der EuGH greift in seinen Urteilen immer wieder die Begründung auf, das Unionsrecht beruhe auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass diese die Werte mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründe. Diese Prämisse impliziere und rechtfertige die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden.7 Dies soll aber nicht 5 Den primärrechtlichen Rang des Vertrauensgrundsatzes ausschließlich aus dem EuGHGutachten 2/13 zum Beitritt zur EMRK ableitend F. Meyer, EuR 2017, 163 (173); K. Lenaerts, CMLRev. 54 (2017), 805 (806, Fn. 3); kritisch dazu E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 200 f.; anders T. Ostropolski, NJECL 6 (2015), 166 (166 f.): dem Vertrauensprinzip fehle eine primärrechtliche Verankerung; ähnlich A. Fra˛ckowiak-Adamska, CMLRev. 59 (2022), 113 (141): die Rechtsquelle des Vertrauensgrundsatzes ist allein die EuGH-Rechtsprechung; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 219 ff., Rn. 321 ff., die den Vertrauensgrundsatz als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts qualifiziert und diesem somit primärrechtlichen Rang zuspricht, S. 222, Rn. 329. 6 L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 78 ff., die den Vertrauensgrundsatz als Konkretisierung des Wertes der Gleichheit erblickt, S. 80, dabei aber übersieht, dass Art. 2 EUV die inhaltliche und nicht die rechtliche Grundlage Vertrauens darstellt; vgl. auch Art. 2 i.V.m. Art 7 EUV als die Rechtsgrundlage des Vertrauensgrundsatzes (ohne weitere Begründung) annehmend A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (284); ähnlich unter Heranziehung zusätzlich von Art. 49 EUV A. von Bogdandy, EuR 2017, 487 (505); für die Herleitung aus Art. 2 i.V.m. Art. 3 EUV plädiert L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79 ff.), was jedoch deshalb abzulehnen ist, weil Adressatin des Art. 3 EUV allein die EU ist, wobei die Mitgliedstaaten über Art. 4 Abs. 3 EUV an Art. 3 EUV gebunden sind; ähnlich bezeichnet C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (383), Vertrauen als „a functional construction principle for the ASFS“, das die Grundentscheidungen des Unionsgesetzgebers in diesem Bereich zu legitimieren vermag. 7 St. Rspr. seit EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 168 – Beitritt der Union zur EMRK; kritisch zur Moralisierung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung durch die Entwicklung des „rechtsethischen Konzept[s] gegenseitigen Vertrauen“ M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (7).

A. Primärrechtliche Verankerung

187

als Aussage zur normativen Herleitung des Vertrauensgrundsatzes angesehen werden,8 sondern vielmehr als Hinweis auf den sachlichen Zusammenhang des Art. 2 EUV zum Vertrauensgrundsatz, der zugleich als sein Fundament9 und seine äußerste Grenze10 fungiert.11 Darüber hinaus legt Art. 2 EUV keine positive Verpflichtung für die Mitgliedstaaten fest, ein bestimmtes Schutzniveau der Unionswerte zu schaffen, geschweige denn kann diese Bestimmung mangels Konkretisierung im Primärbzw. Sekundärrecht konkrete Pflichten der Mitgliedstaaten in ihren Kooperationsbeziehungen begründen.12 Selbst aus dem Rückschrittsverbot in Bezug auf die Unionswerte13 kann keine Pflicht zum Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten abgeleitet werden. Denn diese Unterlassungspflicht der Mitgliedstaaten – namentlich jeden nach Maßgabe der Unionswerte eintretenden Rückschritt in ihrer Rechtsordnung zu vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die den entsprechenden Wert untergraben würden14 – bezieht sich auf das vertikale Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten und nicht auf die horizontalen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, wenn diese kooperieren. Eine normative Anknüpfung des Vertrauensgrundsatzes an Art. 2 EUV ist demzufolge abzulehnen.

II. Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten Als weitere mögliche primärrechtliche Verankerung des Vertrauensgrundsatzes kommt seine Anbindung an Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV in Betracht. Dabei wird die Auffassung vertreten, aus dem Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten sei ein Gebot abzuleiten, dass sich die kooperierenden Mitgliedstaaten einem Kooperationsverlangen nicht entziehen dürften.15 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass alle Mitgliedstaaten die Werte des Art. 2 EUV gleichermaßen achten müssen. Daraus folge, dass der ersuchte Mitgliedstaat ein Kooperationsersuchen

8 So aber L.-M. Lührs, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, 2021, S. 80; S. Montaldo, EP 1 (2016), 965 (969). 9 S. unter 6. Kap., A., S. 225 ff. 10 Dazu näher unter 5. Kap., C. II., S. 208 f.; konkret zur Rechtsstaatlichkeitskrise vgl. 7. Kap., S. 259 ff. 11 Ähnlich, allerdings zur Frage der normativen Verankerung an Art. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 2 EUV, E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 204; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 9. 12 C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 12: die Werte des Art. 2 EUV dienen eher als Auslegungsleitlinie und Normenkontrollmaßstab. 13 S. unter 6. Kap., C., S. 236 ff. 14 Mit Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 64 – Repubblika. 15 K. Lenaerts, CMLRev. 54 (2017), 805 (807 ff.); kritisch C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (382).

188

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

nicht durch eine „Selbstüberhöhung“, namentlich indem er seine eigenen Werte geltend macht, ablehnen dürfe.16 Die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen stehe einer erneuten Prüfung durch die anderen Mitgliedstaaten entgegen. Eine Verweigerung der Kooperation bzw. Durchführung einer erneuten Prüfung würde daher eine Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit der Mitgliedstaaten darstellen. Dieser Ansatz überzeugt allerdings aus folgenden Gründen nicht: Zunächst folgt aus Art. 4 Abs. 2 EUV, der sich an dem völkerrechtlichen Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten orientiert,17 dass den Mitgliedstaaten, soweit keine sekundärrechtlichen Vorgaben erlassen worden sind,18 die Entscheidung freisteht, ob und wie sie mit anderen Mitgliedstaaten kooperieren. Diese Freiheit der Kooperation kann allerdings nicht in eine Pflicht zum Vertrauen übersetzt werden.19 Daher bedeutet eine Verweigerung des unionsrechtlichen Kooperationsersuchens keine „Selbstüberhöhung“, sondern schlicht, dass die Kooperationsvoraussetzungen durch den ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten sind.20 Vielmehr lässt sich aus dem Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten eine Vermutung der Rechtstreue aller Mitgliedstaaten bzw. ein Kontrollverzicht im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit des anzuerkennenden Rechtsakts in Bezug auf ihre horizontale Kooperation kaum begründen, zumal Adressatin des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV allein die EU ist.21 Daraus folgt, dass der Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten hauptsächlich auf den Schutz der Mitgliedstaaten als Unterworfene der Hoheitsgewalt der Union vor etwaigen Ungleichbehandlungen abzielt22 und daher als Grundlage für die primärrechtliche Verankerung des Vertrauensgrundsatzes ungeeignet ist.23

16

K. Lenaerts, CMLRev. 54 (2017), 805 (808 f.). W. Obwexer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 18; A. Puttler, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 11; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 7; vergleichend zu beiden Grundsätzen, C. D. Classen, EuR 2020, 255 (257 ff.). 18 C. D. Classen, EuR 2020, 255 (262), der darin darauf hinweist, dass ein Unterschied zum völkerrechtlichen Grundsatz liegt. 19 M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (17) mit dem Verweis darauf, dass sonst im allgemeinen Völkerrecht eine ähnliche umgeschriebene Kooperationspflicht gelten müsste. 20 In diesem Sinne C. D. Classen, EuR 2020, 255 (263). 21 S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 8; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV, Rn. 13. 22 Näher C. D. Classen, EuR 2020, 255 (264 ff.). 23 Zum gleichen Ergebnis kommend E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 202 ff. 17

A. Primärrechtliche Verankerung

189

III. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Der Vertrauensgrundsatz ist vielmehr auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit24 nach Art. 4 Abs. 3 EUV zurückzuführen.25 Die Heranziehung des Loyalitätsgrundsatzes als geeignete Rechtsquelle für die primärrechtliche Verankerung des Vertrauensgrundsatzes wird mit der parallelen Normstruktur begründet.26 Denn einerseits richten sich beide Grundsätze an die Mitgliedstaaten und die EU als Normadressaten, andererseits sind sie in ihrer Wirkung durch den Grundsatz der Vertragsakzessorietät geprägt und damit auf die anderweitig im Unionsrecht begründeten Pflichten beschränkt. Dabei trägt der Vertrauensgrundsatz zur Weiterentwicklung des Loyalitätsgrundsatzes erheblich bei, indem er mit seinem eigenen normativen Gehalt diese Pflichten in horizontaler sowie in vertikaler Hinsicht festigt. 1. Adressaten Der Loyalitätsgrundsatz nach Art. 4 Abs. 3 EUV weist eine dreidimensionale Struktur auf,27 indem er die Mitgliedstaaten und die Europäische Union sowie die Mitgliedstaaten untereinander dazu verpflichtet, sich bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, gegenseitig loyal zu verhalten. Zu diesem Zweck müssen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben sowie die

24

Englisch: principle of sincere cooperation; Französisch: principe de coope´ration loyale; im deutschen Schrifttum häufig als „Unionstreue“ bezeichnet; insgesamt zu der variierenden Terminologie W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 92 ff. 25 Vgl. wenngleich implizit EuGH, Rs. C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 58 – Achmea; F. Blobel/P. Spath, ELRev. 30 (2005), 528 (535); A. von Bogdandy/L. D. Spieker, EuR 2020, 301 (330); C. Closa, in: ders./D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 15 (17); D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (76 f.); E. Herlin-Karnell, ELRev. 38 (2013), 79 (80); G. Majone, Mutual Trust, 1995, S. 1 f.; F. Meyer, EuR 2017, 163 (179 f.); N. I. Simantiras, Netzwerke im europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 124; L. D. Spieker, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 237 (259); L. Tichy´, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 87 (92 f.); H. Wenander, ZaöRV 71 (2011), 755 (768, 776); anders M. Potacs, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159 (164), der ohne nähere Begründung den Vertrauensgrundsatz als Grundlage des Loyalitätsgrundsatzes ansieht. Art. 4 Abs. 3 EUV als normative Grundlage des Vertrauensgrundsatzes ablehnend, weil ihm die Rechtskraft („legal force“) fehlt, Kontrollverzichte in Bezug auf die Grundrechtsprüfung zu begründen, C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (382 f.). 26 Ähnlich A.-K. Kaufhold, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 48, Rn. 86; S. Prechal, EP 2 (2017), 75 (91 f.); O. De Schutter, in: G. de Kerchove/A. Weyembergh (Hrsg.), La confiance mutuelle, 2005, S. 79 (103). 27 Der Grundsatz der Unionstreue sogar eine vierdimensionale Struktur, vgl. W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 109.

190

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe unterstützen und alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten. a) Horizontalverhältnis Obwohl der Wortlaut von Art. 4 Abs. 3 EUV das vertikale Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten in den Mittelpunkt stellt, sind vom diesem auch die horizontalen Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten untereinander erfasst, soweit sich diese aus dem Unionsrecht ergeben.28 Von einer solchen horizontalen Bindung geht der EuGH seit Langem aus und ist ohne weitere Ausführungen von einer Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ausgegangen.29 Die genauen Rechtsfolgen und die Reichweite dieser Kooperationspflicht sind allerdings noch nicht abschließend geklärt.30 Der Vertrauensgrundsatz trägt in diesem Zusammenhang zur Konkretisierung der horizontalen Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten bei und fungiert somit komplementär zum Loyalitätsgrundsatz, indem er das „Wie“ der Kooperation weiter ausformt. Die den Vertrauensgrundsatz prägende Gegenseitigkeit fügt sich dabei in den Wortlaut des Art. 4 Abs. 3 S. 1 EUV ein, wenn dieser von einer gegenseitigen Achtung und Unterstützung spricht.31 Der Vertrauensgrundsatz besagt, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer sich aus dem Unionsrecht ergebenden, horizontalen Kooperationspflichten von einer (widerlegbaren) Rechtstreuevermutung im Hinblick auf das Unionsrecht ausgehen müssen.32 Die Anknüpfung des Vertrauensgrundsatzes an das Loyalitätsprinzip findet durch die bisherige EuGH-Rechtsprechung Bestätigung. Der EuGH nimmt im Bereich des Binnenmarkts seit geraumer Zeit implizit einen sachlichen Zusammenhang zwischen beiden Prinzipien an.33 Neben dem EuGH haben auch einige 28 A. Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU, 2001, S. 61; W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 179 ff.; M. Klamert, in: M. Kellerbauer/ders./J. Tomkin (Hrsg.), EU Treaties: A Commentary, 2019, Art. 4 TEU, Rn. 47 ff.; W. Obwexer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 150 ff.; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 100; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV, Rn. 6. 29 Vgl. zum Beispiel in Bezug auf Art. 5 EWGV a.F. bzw.10 EGV a.F., EuGH, Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013, Rn. 36 – Kommission/Frankreich; Rs. 235/87, Slg. 1988, 5589, Rn. 19 – Matteucci/Communaute´ franc¸aise de Belgique; Rs. C-251/89, Slg. 1991, I-2797, Rn. 57 – Athanasopoulos u.a./Bundesanstalt für Arbeit; in Bezug auf Art. 4 Abs. 3 EUV EuGH, Rs. C-116/11, ECLI:EU:C:2012:739, Rn. 62 f. – Bank Handlowy und Adamiak. 30 W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 179. 31 So auch D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (77). 32 Ähnlich, allerdings ohne Bezug auf Art. 4 Abs. 3 EUV, C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 189 f., Rn. 259. 33 EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 19 – Hedley Lomas, der eine Verbindung zwischen den Begriffen Wirksamkeit des Unionsrechts, Loyalitätsgrundsatz und Vertrauen

A. Primärrechtliche Verankerung

191

Generalanwälte auf die enge Beziehung beider Prinzipien hingewiesen.34 Nachdem der EuGH sodann deutlicher zu erkennen gab, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit auch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens impliziere,35 hat er dies kürzlich – allerdings ohne nähere Begründung– explizit festgestellt.36 b) Vertikalverhältnis Wenn der Vertrauensgrundsatz an das Loyalitätsprinzip anknüpft und dementsprechend seiner Struktur ähnelt, ergibt sich die Frage, inwieweit Vertrauen ebenso die vertikale Beziehung zwischen den Mitgliedstaaten und den EU-Organen durchdringt.37 Da die vertikale Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes bisher weder in der EuGH-Rechtsprechung noch in der Literatur näher beleuchtet worden ist,38 bedarf sie genauer Untersuchung. Hier wird die Meinung vertreten, dass Vertrauen nicht nur in der horizontalen, sondern auch in der vertikalen Dimension, die sich ausweislich folgender Fallkonstruktionen sowohl auf das Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten als auch umgekehrt der Mitgliedstaaten zur EU erstreckt, Bedeutung entfaltet. Die vertikale Ausprägung des Vertrauens ist allerdings mit einer geringeren Aussagekraft behaftet, denn die Kompetenz- bzw. Zuständigkeitsfragen werden grundsätzlich anhand des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) gelöst. Zunächst vertrauen die Unionsorgane darauf, dass die Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit bzw. die Unionsgrundrechte bei der Durchführung des Unionsrechts beachten und verzichten daher grundsätzlich darauf, deren tatsächliche Wahrung zu überprüfen. Wenn aber nachweisliche Gründe vorliegen, dass die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet

herstellt; D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (76) bezeichnet dabei den Verweis auf das Vertrauen als unkonventionell. 34 Schlussanträge GA D. Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-297/07, Slg. 2008, I-9425, Rn. 45 – Bourquain („das gegenseitige Vertrauen […] eine ähnliche Rolle spielt wie der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“); Schlussanträge GA P. Mengozzi, verb. Rs. C-316/07, C-358/07, C-359/07, C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Slg. 2010, I-8069, Rn. 104 – Stoß („das gegenseitige Vertrauen [Art. 10 EG]“). 35 EuGH, Rs. C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 40 – Altun u.a.; verb. Rs. C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 62 – CRPNPAC. 36 EuGH, Rs. C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379, Rn. 40 – Bouygues travaux publics u.a. 37 Die Anwendung im Vertikalverhältnis ohne weitere Ausführungen bejahend L. D. Spieker, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 237 (259); A. Willems, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, 2021, S. 175; ablehnend D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (76 f.); C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 189, Rn. 258, S. 228 ff., Rn. 344 ff. 38 Vgl. nur EuGH, Rs. C-831/18 P, ECLI:EU:C:2020:481, Rn. 81 – Kommission/RQ, wo das gegenseitige Vertrauen zwischen der Kommission und den nationalen Behörden angesprochen wird.

192

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

ist, entfällt das Vertrauensfundament und geht das Vertrauen in die Rechtstreue der Mitgliedstaaten verloren. So lässt sich der Mitteilung der Kommission über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten entnehmen, dass die in bestimmten Mitgliedstaaten herrschende Rechtsstaatlichkeitskrise die Vertrauensannahme in ihren Grundfesten erschüttert und die Einleitung zusätzlicher Maßnahmen auf europäischer Ebene unerlässlich macht.39 In diesem Rahmen stellt der verabschiedete ex-post-Konditionalitätsmechanismus40 einen positiven Ausdruck der Vertrauenskrise dar, die das Verhältnis der EU gegenüber den die Werte verletzenden Mitgliedstaaten kennzeichnet.41 Dabei verliert der Vertrauensgrundsatz nicht an normativer Kraft: Es gilt weiterhin die Annahme, dass alle Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit achten und die EUAusgaben ausreichend schützen. Nur bei Vorliegen eines Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit, der die wirtschaftliche Haushaltsführung der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigt oder ernsthaft zu beeinträchtigen vermag, können finanzielle Sanktionen verhängt werden. Die Konditionalitätsregelung steht daher im Einklang mit dem Vertrauensgrundsatz. Anders wäre allerdings die Vereinbarkeit mit dem Vertrauensgrundsatz zu beurteilen, wenn die Rechtsstaatsverordnung einen ex-anteKonditionalitätsmechanismus einführen würde, der die Überprüfung der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit vor der Ausgabe der EU-Mittel verlangen würde. Eine solche Regelung wäre gegebenenfalls für diejenigen Mitgliedstaaten denkbar, gegen die ein Feststellungsbeschluss nach dem Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren erlassen wurde.42 In einem solchen Fall müssten diese Mitgliedstaaten im Vorfeld der Ausgaben nachweisen, dass die festgestellte schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Unionswerte die Haushaltsführung und die finanziellen Interessen der EU nicht unmittelbar beeinträchtigt oder ernsthaft zu beeinträchtigen droht. Eine weitere Ausprägung der vertikalen Dimension des Vertrauensgrundsatzes zeigt sich in der EuGH-Rechtsprechung in Bezug auf die Beweislast für den gerügten Verstoß gegen das Unionsrecht, insbesondere für die Feststellung im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens einer wiederholt angewandten, fortbestehenden Praxis, die gegen das Unionsrecht verstößt.43 Die Beweislast obliegt

39

KOM(2018) 324 endg., S. 1 f. Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, ABl. EU 2020 Nr. L 433I vom 22.12.2020, S. 1; ferner unter 8. Kap., B. I., S. 289 ff. 41 Näher zur Rechtsstaatlichkeitskrise als Vertrauenskrise unter 7. Kap., S. 259 ff.; konkret in Bezug auf den Konditionalitätsmechanismus unter 8. Kap., B. I., S. 289 ff. 42 Zum Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren als äußerste Grenze des Vertrauensgrundsatzes s. unter 5. Kap., C. I., S. 207 f. 43 Dazu näher unter 8. Kap., C. I. 3., S. 307 ff. 40

A. Primärrechtliche Verankerung

193

dabei allein der Kommission und kann als Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes angesehen werden:44 Der EuGH geht von der Unionsrechtstreue des betreffenden Mitgliedstaats aus und verlangt, dass die Kommission einen hinreichend dokumentierten und detaillierten Nachweis der dem Mitgliedstaat vorgeworfenen, ihm zurechenbaren Praxis darlegt.45 Nur wenn es der Kommission gelingt, hinreichende Anhaltspunkte dafür beizubringen, dass sich bei den Behörden eines Mitgliedstaats eine wiederholt angewandte, fortbestehende Praxis herausgebildet hat, die gegen das Unionsrecht verstößt,46 obliegt es diesem Mitgliedstaat, diese Angaben und deren Folgen substanziiert zu bestreiten.47 Die Vertrauensvermutung besteht also fort, solange keine entgegenstehenden Nachweise vorgebracht werden. Wird der Vertragsverstoß aber durch den verklagten Mitgliedstaat nicht bestritten, kann ein Versäumnisurteil gegen ihn ergehen.48 Ähnlich hat der EuGH kürzlich im Getin Noble Bank-Urteil statuiert, dass, sofern ein nationales Gericht eine Vorabentscheidung ersucht, davon auszugehen ist, dass das Ersuchen die Anforderungen für die Vorlageberechtigung im Rahmen des Art. 267 AEUV erfüllt.49 Es gilt somit eine Vermutung der Erfüllung der Zulässigkeitskriterien des Art. 267 AEUV durch die nationalen Gerichte. Das ist expliziter Ausdruck der vertikalen Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Diese Vermutung „kann jedoch widerlegt werden, wenn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eines nationalen oder internationalen Gerichts zu der Annahme führen würde, dass der Richter, aus dem das vorlegende Gericht besteht, nicht die Eigenschaft eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV i.V.m. Art. 47 Abs. 2 GRCh hat.“50

Auch hier wird das Vertrauen also nicht blind gewährt. Was schließlich die vertikale Ausprägung des Vertrauens der Mitgliedstaaten gegenüber der EU angeht, so betrifft diese primär das Kooperationsverhältnis zwischen den nationalen Verfassungs- bzw. obersten Gerichten und dem EuGH. Die Vertrauensvermutung, dass die EU-Organe rechtstreu handeln bzw. die Unionsgerichtsbarkeit rechtstreu handelt, indem sie die Unionsgrundrechte und insgesamt die europäische Rechtsstaatlichkeit achten, mündet in den grundsätzlichen Verzicht der nationalen Verfassungsgerichte, die vertragsmäßige Kompe-

44

Ähnlich L. D. Spieker, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 237 (259). 45 EuGH, Rs. C-441/02, Slg. 2006, I-3449, Rn. 49 – Kommission/Deutschland. 46 EuGH, Rs. C-287/03, Slg. 2005, I-3761, Rn. 28 f. – Kommission/Belgien; Rs. C-387/99, Slg. 2004, I-3751, Rn. 42 – Kommission/Deutschland; Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 28 – Kommission/Irland. 47 EuGH, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 47 – Kommission/Irland. 48 EuGH, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965, Rn. 7, 9 – Kommission/Griechenland; Rs. C-70/89, Slg. 1990, I-4817, Rn. 15 f. – Kommission/Italien. 49 Grundlegend EuGH, Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 69 – Getin Noble Bank. 50 EuGH, Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 72 – Getin Noble Bank.

194

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

tenzwahrnehmung (ultra-vires-Kontrolle51) sowie die Wahrung essenzieller Grundrechtsstandards (Solange-II-Doktrin52) durch die Unionsorgane zu prüfen.53 Wird jedoch diese Annahme widerlegt und ein rechtswidriges Handeln durch die Unionsorgane festgestellt, kann es zu erheblichen Problemen im Integrationsprozess kommen.54 Die Stabilisierung bzw. Förderung des Vertrauens kann in diesem Rahmen vor allem durch die möglichst weitgehende Anwendung des Vorabentscheidungsverfahrens erfolgen.55 2. Vertragsakzessorietät Ein weiteres gemeinsames Merkmal der Grundsätze der Loyalität bzw. des Vertrauens liegt in ihrem akzessorischen Charakter in Bezug auf die konkreten Rechtspflichten, die sich aus dem Primär- bzw. Sekundärrecht ergeben. Zunächst beziehen sich beide Grundsätze auf das „Wie“ der Kooperation bzw. der Verwirklichung des Unionsrechts und knüpfen insoweit an andere Pflichten.56 In diesem Sinne sind sie primär darauf gerichtet, den effet utile der Unionsrechtsvorschriften zu gewährleisten und den unionsrechtlich vorgesehenen Kooperationspflichten zur Durchsetzung zu verhelfen.57 Verstöße gegen die Normen können folglich durch den EuGH gerichtlich überprüft und sanktioniert werden. Allerdings entfalten sie weder unmittelbare Wirkung gegenüber den Mitglied51

Vgl. BVerfGE 123, 267 (353 ff. Rn. 239 ff.). Vgl. BVerfGE 73, 339 (378 ff., 387). Teilweise geht aber der Unionsgrundrechtsschutz über den grundgesetzlichen Grundrechtsschutz hinaus, vgl. C. D. Classen, JZ 74 (2019), 1057 (1057 ff.). 53 Ähnlich W. Kahl, in: H. Kube/G. Morgenthaler/C. Seiler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. I, 2013, § 27, Rn. 29; P. Kirchhof, NJW 2020, 2057 (2059); die nationalen Gerichte und der EuGH müssen sich insgesamt, insbesondere im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, gegenseitig Vertrauen entgegenbringen, s. K. Lenaerts, EuR 2015, 3 (6, 10). 54 Vgl. die Reaktionen auf das PSPP-Urteil (BVerfGE 154, 17 [94 Rn. 116, S. 149 f. Rn. 228]), in dem das BVerfG die Kompetenzüberschreitung durch die EZB bejaht hat: Schlussanträge GA E. Tanchev, Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2020:1053, Rn. 83 – A.B. u.a.: der Ultra-vires-Ansatz im PSPP-Urteil untergrabe die europäische Rechtsstaatlichkeit; Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland durch die Kommission (abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/inf 21 2743), das aber aufgrund der förmlichen Zusage Deutschlands, den Vorrang des EU-Rechts und die Autorität des EuGH anzuerkennen, eingestellt wurde (abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/ presscorner/detail/de/inf 21 6201). 55 Vgl. Schlussanträge GA P. Cruz Villalo´n, Rs. C-62/14, ECLI:EU:C:2015:7, Rn. 67 – Gauweiler u.a.: der Loyalitätsgrundsatz umfasse in seiner Ausprägung im Vorabentscheidungsverfahren auch ein Element des Vertrauens zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH. 56 A. Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU, 2001, S. 60; W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 100; S. Prechal, EP 2 (2017), 75 (91); R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV, Rn. 25. 57 In diesem Sinne S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 110 f.; F. Maiani/A. Miglionico, CMLRev. 57 (2020), 7 (11 f.), die allerdings die Qualifizierung des Vertrauens als Rechtsgrundsatz ablehnen. 52

B. Funktionen

195

staaten58 noch finden sie in den Bereichen außerhalb des Unionsrechts Anwendung. Der Loyalitätsgrundsatz begründet dabei Handlungspflichten sowie Unterlassungspflichten der Mitgliedstaaten. Einerseits müssen die Mitgliedstaaten im positiven Sinne „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art“ zur Erfüllung ihrer unionsrechtlichen Verpflichtungen ergreifen. Andererseits sind sie im negativen Sinne dazu verpflichtet, alle Handlungen bzw. Maßnahmen zu unterlassen, die der Verwirklichung der Ziele der Union zuwiderlaufen (würden). Der Vertrauensgrundsatz entspricht auch in dieser Hinsicht der dualen Ausprägung des Loyalitätsgrundsatzes: Zum einen können aus dem Vertrauensgrundsatz positive Pflichten, wie etwa die Bereitstellung von zusätzlichen Informationen zwischen den beteiligten nationalen Behörden im Rahmen eines Kooperationsersuchens, abgeleitet werden,59 zum anderen folgen aus dem Vertrauensgrundsatz zwei negative Verpflichtungen, nämlich das Verbot einer „Selbstüberhöhung“, wonach sich die Mitgliedstaaten zur Versagung eines Kooperationsersuchens nicht auf ein höheres nationales Grundrechtsschutzniveau berufen dürfen, sowie ein Kontrollverzicht in Bezug auf die Achtung des Unionsrechts durch den ersuchenden Mitgliedstaat. Vertrauen, ähnlich wie die Loyalität, dient insoweit dazu, die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts bzw. der konkreten Kooperationspflicht sowie ihre Durchsetzung in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten.60

B. Funktionen Der Vertrauensgrundsatz leistet als Strukturprinzip des Unionsrechts und Ausprägung des Loyalitätsgrundsatzes einen eigenen Beitrag zur Weiterentwicklung der föderalen Struktur des Unionsrechtsgefüges.61 In horizontaler Hinsicht dient Vertrauen der praktischen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Kooperationspflichten zwischen den Mitgliedstaaten und bestimmt dazu die Verantwortungsverteilung für die Wertesicherung auf eine Weise, die die Einheit in Vielfalt wahrt. In vertikaler Hinsicht sichert der Vertrauensgrundsatz die Verfahrensautonomie 58 In Bezug (nur) auf den Vertrauensgrundsatz vgl. C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 224, Rn. 335. Der Loyalitätsgrundsatz kann ausnahmsweise unmittelbar autonome Pflichten der Mitgliedstaaten oder der Union begründen, s. dazu W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 107; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 72; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV, Rn. 72. 59 Vgl. z.B. in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl Art. 15 Abs. 2 RbEuHb; E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 208. 60 Dazu gleich unter 5. Kap., B. I., S. 196 ff. 61 Vgl. C. Möllers, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 227 (266).

196

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

der Mitgliedstaaten und den Grundsatz des indirekten Vollzugs des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten (Art. 197 Abs. 1 AEUV und Art. 291 Abs. 1 AEUV) und verlagert die Verantwortung für die Wertesicherung innerhalb der föderativ geprägten Unionsrechtsordnung primär auf die Mitgliedstaaten. In diesem Sinne fungiert Vertrauen letztlich als ein Steuerungsinstrument, das die Hoheitsausübung bzw. Souveränitätsübertragung62 zwischen den unterschiedlichen Ebenen in vertikaler wie horizontaler Hinsicht zur Wahrung der föderalen Merkmale der Unionsrechtsordnung koordiniert.63

I. Praktische Wirksamkeit (effet utile) des Unionsrechts bzw. der einzelnen Kooperationspflichten Der Vertrauensgrundsatz wird vom EuGH seit geraumer Zeit als normativer Baustein für die Funktionsfähigkeit der Kooperationssysteme und die Anwendung des Anerkennungsgrundsatzes aufgegriffen. Als Kooperationssysteme sind dabei solche Systeme gemeint, die eine unionsrechtlich angeordnete Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten beinhalten.64 Schon im Jahre 1977 ging der EuGH im Urteil in der Rechtssache Bauhuis davon aus, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten ein grundlegender Bestandteil des durch das Sekundärrecht eingeführten Systems sei, ohne das der Sekundärrechtsakt gegenstandslos würde.65 Seinen „Höhepunkt“ erreichte der Vertrauensgrundsatz allerdings im N.S.-Urteil im Jahre 2011, in dem der EuGH die grundlegende Bedeutung von Vertrauen für das gesamte europäische Rechtssystem hervorgehoben hat. Im Hinblick auf mögliche Ausnahmen vom Vertrauensgrundsatz betont der EuGH, dass der „Daseinsgrund der Union“ und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auf dem Spiel stünden.66 Gegenseitiges Vertrauen liegt somit als „Daseinsgrund“ der Union allen unionsrechtlich geschaffenen Kooperationssystemen sowie der EU als Rechtssystem zugrunde und besagt, dass zu vermuten ist, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht bzw. das anzuwendende nationale Recht rechtskonform anwenden und beachten.67 Der Unionsrechtsgesetzgeber schafft dabei den allgemeinen, ein62

C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 490 ff., Rn. 842 ff., laut der durch den Vertrauensgrundsatz eine horizontale Souveränitätsübertragung erfolgt. Allerdings ist die extraterritoriale Wirkung von nationalen Entscheidungen bzw. Verwaltungsakten eine rechtsdogmatische Folge des (auf dem Vertrauen fußenden) Anerkennungsgrundsatzes, s. oben unter 4. Kap., E. III., S. 180 f. Insoweit fehlt es dem Vertrauensgrundsatz an Integrationskraft, vgl. E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 238. 63 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 475 ff., Rn. 809 ff. 64 E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 214. 65 EuGH, Rs. 46/76, Slg. 1977, 5, Rn. 37/39 – Bauhuis. 66 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 83 – N.S. u.a. 67 D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (74).

B. Funktionen

197

heitlichen Rahmen des jeweiligen Kooperationssystems, der grundsätzlich auf einem System positiver Anerkennungspflichten beruht,68 wobei die Funktionsfähigkeit und der Erfolg des Kooperationssystems von der Koordinierung der einschlägigen unterschiedlichen, nationalen Regelungen abhängig sind.69 Das Vertrauen bestimmt darüber hinaus in seiner horizontalen Ausprägung die Herangehensweise der nationalen Behörden untereinander durch die Auferlegung von Kontrollverzichten und verhilft dadurch den einzelnen Sekundärrechtsakten zur praktischen Wirksamkeit.70 Die praktische Wirksamkeit (effet utile) des Unionsrechts71 wird in diesem Zusammenhang in der EuGH-Rechtsprechung mehrmals mit dem Vertrauensgrundsatz eng verkoppelt. Im Bereich des Binnenmarkts betonte der EuGH in Hedley Lomas, dass die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen treffen müssen, um die Geltung und die Wirksamkeit des (damaligen) Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, indem sich die Mitgliedstaaten hinsichtlich der in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet durchgeführten Kontrollen gegenseitig Vertrauen entgegenbringen müssen.72 Ähnlich gilt im RFSR und konkreter im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, dass das auf dem Vertrauensgrundsatz beruhende Zuständigkeitssystem der praktischen Wirksamkeit der Brüssel-Verordnungen dient.73 Auch im GEAS soll mit der Vertrauensvermutung „eine klare und praktikable Methode eingerichtet werden, mit der rasch bestimmt werden kann, welcher Mitgliedstaat für die Entscheidung über einen Asylantrag zuständig ist.“74 Schließlich sieht der EuGH im System des Europäischen Haftbefehls in der Verletzung des Vertrauensgrundsatzes eine Verletzung der Wirksamkeit des Unionsrechts sowie umgekehrt in der Verwirklichung des Vertrauensgrundsatzes die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Sekundärrechtsaktes.75

68

Das GEAS bildet allerdings ein System negativer Anerkennungspflicht, s. oben unter 2. Kap., E., S. 80 ff. 69 D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (73). Umgekehrt bedarf auch das nationale Recht unionaler Regelungen zu seiner vollen Wirksamkeit, A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 28. 70 Ähnlich S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 107 ff.; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 111, Rn. 112. 71 Zum effet utile als teleologische Auslegungsmethode des EuGH T. Bergmann, in: J. Bergmann (Hrsg.), EU-Handlexikon, 6. Aufl. 2021, „Effet utile“; M. Potacs, EuR 2009, 465 (467 ff.); S. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008, S. 111 ff. 72 EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 19 – Hedley Lomas. 73 EuGH, Rs. C-379/17, ECLI:EU:C:2018:806, Rn. 26 – Societa` Immobiliare Al Bosco. 74 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 84 – N.S. u.a. 75 EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 63 – Melloni; Rs. C-396/11, ECLI: EU:C:2013:39, Rn. 40 f. – Radu; Rs. C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27, Rn. 61 – Piotrowski; Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 79, 84 – Dorobantu; Rs. C-136/20, ECLI:EU:C: 2021:804, Rn. 45 – LU (Recouvrement d’amendes de circulation routie`re); F. Maiani/A. Miglionico, CMLRev. 57 (2020), 7 (11); S. Montaldo, EP 1 (2016), 965 (976); in Bezug konkret auf den Ne-bis-in-idem-Grundsatz N. Thwaites, GLJ 4 (2003), 253 (258 ff.).

198

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

Über die Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes für die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des anwendbaren Sekundärrechts hinaus dient dieser auch der praktischen Wirksamkeit der einzelnen Kooperationspflichten bei der horizontalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.76 Denn die Vertrauensvermutung verwehrt grundsätzlich dem ersuchten Mitgliedstaat die Möglichkeit einer erneuten Prüfung des transnationalen Verwaltungsakts bzw. der Anwendung zusätzlicher Verfahrensregeln.77 Somit wird in einem gewissen Maß ein Automatismus der Kooperationspflichten erreicht und daher ihre praktische Wirksamkeit auf Grundlage des Vertrauens verwirklicht.78 Zugleich wird die Funktionsfähigkeit des gesamten Kooperationssystems auf Dauer gewährleistet, indem den einzelnen Kooperationsersuchen in aller Regel nachgekommen wird.79 Vor diesem Hintergrund trägt der Vertrauensgrundsatz zur effektiven Durchführung bzw. zum Vollzug der unionsrechtlichen Verpflichtungen maßgeblich bei.80

II. Wertesicherung im föderalen Verfassungsverbund Der Vertrauensgrundsatz spielt eine tragende Rolle in Bezug auf die Wertesicherung im europäischen Verfassungsverbund und formt diesen vor allem in seinen horizontalen Komponenten weiter aus.81 Die Europäische Union ist ein durch föderale Elemente gekennzeichneter Verfassungsverbund.82 Damit wird 76

Vgl. S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 142 ff.; E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 217 f.; F. Maiani/A. Miglionico, CMLRev. 57 (2020), 7 (42); F. Meyer, EuR 2017, 163 (178 f.). 77 F. Meyer, EuR 2017, 163 (178); ähnlich M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (7). Zum Begriff des „transnationalen Verwaltungsakts“ s. unter 4. Kap., E. III., S. 180 f. 78 Vgl. zum Automatismus anstatt von Regulierung P.-C. Müller-Graff, ZVglRWiss 2012, 72 (73); ähnlich M. Schwarz, ELJ 24 (2018), 124 (135) „choice between action and inaction“; die automatisierten Kooperationspflichten als „intendierten Integrationserfolg“ bezeichnend F. Meyer, EuR 2017, 163 (178). 79 E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 218 f. 80 F. Meyer, EuR 2017, 163 (177) bezeichnet es aus diesem Grund als „Vollzugsprinzip“; ähnlich E. Schmidt-Aßmann/A.-K. Kaufhold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. II, 3. Aufl. 2022, § 27, Rn. 22b: „Interpretations- und Vollzugsprinzip“. 81 Vgl. auch E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 219 ff. 82 Erstmals I. Pernice, in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), L’ espace constitutionnel europe´en, 1995, S. 225 (261 ff.); detaillierter und zusammengefasst bei ders., Der Europäische Verfassungsverbund, 2020, S. 13 ff.; E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 5, Rn. 12. Dazu, dass die EU losgelöst vom Staatsbegriff zu verstehen ist, C. Schönberger, AöR 129 (2004), 81 (84 f.); ähnlich I. Pernice, in: C. Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007, S. 61 (65); anders aber C. Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 2010, S. 61 ff.; U. Everling, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 961 (1004 f.); P. Kirchhof, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 1009 (1023), wobei die EU als Staatenverbund bezeichnet wird. Die EU wird außerdem als „Bund“ (C. Schönberger, AöR 129 [2004], 81 [81 ff.]) sowie als „Netzwerk“ (K.-H. Ladeur, in: C. Franzius/F. Mayer/N. Jürgen [Hrsg.], Strukturfragen der Europäischen Union, 2010, S. 118 [118 ff.]) erfasst.

B. Funktionen

199

ein Mehrebenensystem beschrieben,83 das sich aus der unionalen und der mitgliedstaatlichen Ebene zusammensetzt, ohne dass zwischen den beiden Ebenen eine hierarchische Struktur besteht.84 Es bestehen aber Vernetzungen sowohl in vertikaler Hinsicht zwischen der EU und den Mitgliedstaaten als auch auf horizontaler Ebene zwischen den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen untereinander. Der Vertrauensgrundsatz entfaltet seine Wirkung eben in diesen Verschränkungen der unterschiedlichen Ebenen und wahrt die föderale Verfasstheit der EU. Den Mitgliedstaaten wird dabei einerseits ein gewisser Grad an Autonomie und Spielraum bei der Sicherung der Unionswerte zugesprochen, sodass ihre Souveränität und Verfassungsidentität gewahrt wird, andererseits sind aber ihre Rechtsordnungen stets an eine übergreifend geltende Einheit sowie ein unionsrechtliches Verständnis der Werte des Art. 2 EUV rückgebunden.85 Im Rahmen des horizontalen Föderalismus bestimmt Vertrauen die normativen Strukturen zwischen den Mitgliedstaaten, indem das Vertrauen eine Vermutung der Unionsrechtstreue begründet, und trägt insbesondere zur Fortentwicklung der Lehre des Verfassungsverbundes in ihrer horizontalen Dimension86 im Wege einer horizontalen Konstitutionalisierung bei.87 Daraus folgt, dass Vertrauen in seiner vertikalen Ausprägung eine absichernde Funktion zukommt, während es in seiner horizontalen Ausprägung eine konstitutive Funktion in Bezug auf die Wertesicherung einnimmt. 1. Vertikale Ebene: Kompetenzsicherung Der Vertrauensgrundsatz formt den Grundsatz des indirekten (mitgliedstaatlichen) Vollzugs des Unionsrechts (Art. 197 Abs. 1 AEUV) weiter aus. Soweit keine unionsrechtliche Regelung vorhanden ist, richtet sich der Vollzug des Unionsrechts – dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (Art. 291 Abs. 1 AEUV) folgend und dabei unter Wahrung des Effektivitäts- und des Äquivalenzprinzips – nach dem nationalen Recht.88 Dies ist der Tatsache 83 Zum Begriff T. Groß, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 15, Rn. 39 f. 84 Zu den föderalen Merkmalen H. Bülck, in: Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, 1964, S. 1 (2); F. Mayer, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 559 (596); C. Schönberger, AöR 129 (2004), 81 (99 f.); M. Zuleeg, EuR 2000, 2846 (2846 ff.). 85 Dazu näher unter 5. Kap., B. III. und IV., S. 204 f. und S. 206. 86 Dazu I. Pernice, in: H.-J. Derra (Hrsg.), FS Meyer, 2006, S. 359 (370). 87 M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (4 f.); zust. E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 211. 88 W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 127 f.; W. Obwexer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 103 ff.; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 89 ff. Zur Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten als Teil der nationalen Verfassungsidentität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV s. BVerfGE 151, 202 (343 f. Rn. 243); M. Ludwigs/T. Pascher/P. Sikora, EWS 2020, 1 (4).

200

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

geschuldet, dass der EU aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung die Kompetenz für eine sachgebietsübergreifende Harmonisierung des Verwaltungsrechts fehlt.89 Beim Vollzug des Unionsrechts sind also die nationalen Verwaltungen als Verwaltungsunterbau der EU sowie die nationalen Behörden als europäische Behörden zu betrachten,90 welche primär mit der Verantwortung für die EU-Wertesicherung betraut sind. Davon bleibt die Verantwortung des EuGH nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV unberührt, Reichweite und Grenzen des Vertrauensgrundsatzes zu bestimmen bzw. weiterzuentwickeln sowie etwaiges unionsrechtswidriges Handeln der Mitgliedstaaten im Rahmen von Art. 267 bzw. Art. 258 AEUV zu kontrollieren. a) Nationale Verwaltungsbehörden als funktionale europäische Verwaltungsstellen Der Vertrauensgrundsatz bestimmt zwar in vertikaler Hinsicht nicht die Kompetenzzuordnung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, die ausschließlich durch die primärrechtlich verankerten Kompetenznormen erfolgt, sichert aber den Grundsatz der vertikalen Funktionenteilung91 in zweierlei Hinsicht ab. Zunächst bezieht sich Vertrauen grundsätzlich auf die Mitgliedstaaten bzw. die nationalen Verwaltungsbehörden und beinhaltet die Vermutung, dass diese als funktionale Verwaltungsorgane der EU bei der Durchführung des Unionsrechts dieses auch tatsächlich beachten. Nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie verbleibt es grundsätzlich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, die Achtung der Unionswerte nach Art. 2 EUV sowie die Rechtstreue in Bezug auf das Unionsrecht in ihrem Hoheitsgebiet zu gewährleisten. Wird jedoch festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Prämisse des Vertrauensgrundsatzes, nämlich die Gemeinsamkeit der Werte, nicht mehr beachten und diese schwerwiegend und anhaltend verletzen, wird der EU die Kompetenz zugesprochen, konkrete Sanktionsmaßnahmen zu ergreifen.92 Dabei wird dem Begriff des systemischen Mangels für die Begründung der Kompetenz der EU eine erhebliche Bedeutung beigemessen.93 In dieser Hinsicht lässt sich Art. 7 Abs. 2 und 3 EUV als Ausdruck der Sanktion eines Vertrauensbruchs auf vertikaler Ebene der EU gegenüber einem die Werte verletzenden Mitgliedstaat verstehen.94 Unmittelbare Folge der Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung durch einen Mit-

89 W. Kahl, NVwZ 1996, 865 (869); C. Ladenburger, in: H.-H. Trute u.a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 107 (124). 90 W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 126. 91 V. Götz, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 43 (56 f.). 92 Zu den Reaktionsmöglichkeiten der EU unter 8. Kap., S. 273 ff. 93 Dazu näher unter . Kap., B. I., S. 260 ff. 94 Das Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren bildet somit die äußerste Grenze Vertrauens, s. 5. Kap., C. I., S. 207 f.

B. Funktionen

201

gliedstaat nach Art. 7 Abs. 2 EUV ist, dass für die Verwaltungsbehörden dieses Mitgliedstaats die Voraussetzungen für ihre Qualifizierung als europäische Verwaltungsbehörden im funktionalen Sinne fortan nicht mehr als gegeben angenommen werden dürfen. Da Letztere nicht in der Lage sind, die Rechtstreue in Bezug auf das Unionsrecht in ihrem Hoheitsgebiet zu gewährleisten, werden sie von vertrauensbasierten Kooperationsmechanismen, wie etwa vom Europäischen Haftbefehl, ausgeschlossen.95 Die anderen Mitgliedstaaten werden somit nicht von den daraus folgenden negativen Externalitäten betroffen. Der Vertrauensgrundsatz sichert insoweit die Wahrung der gemäß den Verträgen aufgeteilten Kompetenzen auf vertikaler Ebene und kann bei der Verletzung seines Wesensgehalts in Extremfällen das (vertragsgemäße) Tätigwerden der EU begründen.96 b) EuGH als Hüter der Werteunion Die durch den Vertrauensgrundsatz abgesicherte, vertikale Verantwortungsverteilung bezüglich der Sicherung der Unionswerte wird durch den EuGH überwacht. Denn der EuGH bestimmt als Hüter der Unionsrechtsordnung97 im Rahmen seiner Aufgabe der Auslegung des Unionsrechts nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV nicht nur die Voraussetzungen für die Verantwortungsverteilung in Bezug auf die Wertesicherung im horizontalen Verwaltungsverbund,98 sondern auch die genaue Reichweite bzw. die Grenzen des Vertrauensgrundsatzes wie den Inhalt der systemischen Mängel. Dabei bietet der EuGH den nationalen Gerichten bzw. den nationalen Verwaltungsstellen eine Orientierungshilfe bei der Anwendung des Unionsrechts und arbeitet an der Entwicklung von konkreten Kriterien, die sich auf die Anwendungsvoraussetzungen sowie die Ausnahmen des Vertrauensgrundsatzes beziehen und durch die mitgliedstaatlichen Stellen und gegebenenfalls die nationalen Gerichte anzuwenden sind.99 Insbesondere im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV, in dem dem EuGH die Aufgabe zukommt, den unionsrechtlichen Begriff des Vertrauens bzw. der systemischen Mängel näher zu konkretisieren, soll eine Verantwortungsverlagerung in vertikaler Hinsicht zulasten der nationalen Gerichte erfolgen. Es wäre sogar der Klarheit halber wünschenswert, wenn der EuGH bei der Anwendung des zweistufigen Aranyosi-Tests100 die erste Stufe, nämlich die abstrakt-generelle Gefährdungslage, selbst beurteilen und den nationalen Gerichten (nur) die Durchführung der konkret-individuellen Prüfung überlassen würde.101 Sonst besteht die Gefahr, dass eine divergierende Auslegung 95

Vgl. Erwägungsgr. 10 RbEuHb. A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (325). 97 Dazu F. Mayer, AöR 129 (2004), 411 (415 f.). 98 Dazu gleich unten unter 5. Kap., B. II. 2., S. 202 ff. 99 E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 226; F. Mayer, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 559 (570). 100 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 88 ff. – Aranyosi und Ca˘lda˘raru. 101 So eben M. Wendel, EuR 2019, 111 (126 ff.); ähnlich M. Krajewski, EuConst 14 (2018), 96

202

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

durch die nationalen Gerichte vorgenommen und damit die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten gefährdet wird.102 2. Horizontale Ebene: Zuständigkeitszuordnung Dem Vertrauensgrundsatz kommt daneben auch und gerade für die horizontale Ebene eine maßgebliche Bedeutung zu, womit die Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten angesprochen sind.103 Indem er seine Wirkung weitgehend im Rahmen des horizontalen Föderalismus104 entfaltet, trägt er zur Wahrung der föderalen Verfasstheit der Europäischen Union bei. Denn der Föderalismus bezieht sich in der europäischen Rechtsordnung nicht nur auf die vertikale Kompetenzzuordnung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, sondern auch auf die horizontale Wechselbeziehung der Mitgliedstaaten untereinander.105 Dabei stehen Vielfaltswahrung durch Beibehaltung eines gewissen Grades an Autonomie der beteiligten Akteure und Einheitsstiftung durch Begrenzung dieser Autonomie in einem dynamischen Spannungsverhältnis.106 Vor dem Hintergrund der normativen Verklammerung der nationalen Rechtsordnungen im europäischen Mehrebenensystem,107 die sich im Rechtsinstitut des Anerkennungsgrundsatzes widerspiegelt,108 definiert der Vertrauensgrundsatz die Zuständigkeitszuordnung in Bezug auf die Wertesicherung zwischen den Mitgliedstaaten.109 Die 792 (797); E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 226 f.; vgl. allgemein zur angezeigten Verantwortungsteilung zwischen den beiden Gerichtsbarkeiten K. Lenaerts, EuR 2015, 3 (10 f.). 102 M. Wendel, EuR 2019, 111 (127 f.). 103 Zur horizontalen Dimension des Vertrauens vgl. auch I. Pernice, in: H.-J. Derra (Hrsg.), FS Meyer, 2006, S. 359 (370, 373 ff.). 104 Zum Begriff T. van den Brink, EP 1 (2016), 921 (922 f.); ähnlich zum „horizontalen Verbund“ A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 18 ff. 105 C. Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 2010, S. 62; ähnlich U. Everling, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 961 (1004); S. Oeter, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 73 (105). 106 C. Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 2010, S. 123 ff.; D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (77); H. Bülck, in: Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, 1964, S. 1 (2); S. Oeter, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 73 (105 f.); M. Zuleeg, EuR 2000, 2846 (2846). 107 Die Verkoppelung der unterschiedlichen Rechtsebenen als „Verschränkung“ der Rechtsordnungen bezeichnend M. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der EU, 2004, S. 88 f. 108 Die transnationale Wirkung des anzuerkennenden Verwaltungsakts durchbricht das herkömmliche Souveränitätskonzept, indem die nationalen Regelungssysteme „zur Seite hin“ geöffnet (M. Schwarz, Grundlinien der Anerkennung im RFSR, 2016, S. 96 ff.) bzw. „porös“ werden (so A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, S. 18; ähnlich C. Franzius, HFR 2010, 159 [173]; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 490, Rn. 844: „de´cloisonnement des ordres juridiques“). 109 Ähnlich F. Maiani/A. Miglionico, CMLRev. 57 (2020), 7 (35); C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 112 ff., Rn. 113 ff.

B. Funktionen

203

derartige Verdichtung der Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten wird als horizontale Konstitutionalisierung bezeichnet, die der bisherigen vertikalen Konstitutionalisierung des Verhältnisses von EU und Mitgliedstaaten folgt.110 Somit bildet der Vertrauensgrundsatz einen grundlegenden Baustein zur Weiterentwicklung des Konzepts der föderalen Unionsrechtsordnung, was seine Einstufung als Verfassungsprinzip der EU rechtfertigt. Der Vertrauensgrundsatz spielt – anders als auf der vertikalen Ebene – eine konstitutive Rolle für die horizontale Werteverantwortungsverteilung über den bloßen Grundrechtsschutz hinaus.111 Primär ist der ersuchende Mitgliedstaat nach dem Vertrauensgrundsatz zuständig für die Einhaltung der Unionswerte des Art. 2 EUV.112 Dies bedeutet, dass das innerstaatliche Recht des Ursprungsstaats den Maßstab für die Rechtmäßigkeit des erlassenen Hoheitsakts bildet und die Rechtmäßigkeitskontrolle dementsprechend auch diesem vorbehalten ist.113 Daraus folgt, dass Individualrechtsschutz nur im Ursprungsstaat erlangt werden kann, sowie darüber hinaus, dass der ersuchte Mitgliedstaat an einen rechtswidrigen Hoheitsakt grundsätzlich gebunden bleibt.114 Der Zuordnung der Verantwortung zum ersuchenden Mitgliedstaat liegt der Gedanke zugrunde, dass die etwaigen grundrechts- bzw. wertebezogenen Probleme in diesem Mitgliedstaat effektiver adressiert werden können.115 Da die Widerlegbarkeit der Rechtstreuevermutung dem Vertrauensbegriff innewohnt,116 besteht in einem solchen Fall die Gefahr eines Verantwortungsvakuums.117 Aus diesem Grund wird die Verantwortung für die Wertesicherung bei Enttäuschung der Vertrauensvermutung auf den ersuchten Mitgliedstaat verlagert.118 Der vom transnationalen Verwaltungsakt Betroffene wird dabei über die Unionsgrundrechte geschützt und auf Grundlage einer – gegebenenfalls pro-

110 M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (4 f.); den Begriff übernehmend E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 211 ff. Zum Begriff der Konstitutionalisierung in Bezug auf die Europäische Union M. Knauff, ZaöRV 68 (2008), 453 (472 ff.); C. Möllers, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 227 (266 f.). 111 E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 222 ff.; ähnlich C. D. Classen, in: U. Becker u.a. (Hrsg.), FS Schwarze, 2014, S. 556 (560); M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (36). Zur Verantwortungsverteilung in Bezug auf die Grundrechte S. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, 2018, S. 68 ff., 104 ff.; E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 131 ff. 112 Im Rahmen des Europäischen Haftbefehlsrechts explizit: EuGH, Rs. C-367/16, ECLI: EU:C:2018:27, Rn. 50 – Piotrowski; Rs. C-551/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:991, Rn. 66 – IK (Vollstreckung einer zusätzlichen Strafe); Rs. C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4, Rn. 61 – MM. 113 G. Buchholtz, NVwZ 2016, 1353 (1356). 114 V. Neßler, Richtlinienrecht, 1994, S. 29 ff.; G. Buchholtz, NVwZ 2016, 1353 (1356); E. Schmidt-Aßmann, DVBl 1993, 924 (935). 115 Vgl. E. Brouwer, EP 1 (2016), 893 (918 ff.). 116 Vgl. oben unter 4. Kap., A. IV., S. 181 ff. 117 Anders aber M. Schwarz, Grundlinien der Anerkennung im RFSR, 2016, S. 343. 118 A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (319 f.) sprechen von einer „Umverteilung der Verantwortlichkeit“.

204

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

gnosebasierten – (Vor-)Verlagerung119 den außergewöhnlichen Umständen nicht ausgesetzt.120 Der jeweils ersuchte Mitgliedstaat ist somit zur Wahrung der Unionswerte gleichfalls berufen und nimmt insoweit eine kontrollierende Funktion ein, indem er die Einhaltung der Grundwerte des Art. 2 EUV durch die anderen Mitgliedstaaten überwachen soll.121 Alle nationalen Gerichte werden dadurch in die Pflicht genommen, sich aktiv am Rechtssystem der EU zu beteiligen.122 Dieser Umstand kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solche Zuständigkeitsverlagerung nur unter eng auszulegenden, außergewöhnlichen Umständen stattfindet. Insgesamt ist dadurch aber gewährleistet, dass keine Lücke bezüglich der Wertesicherung im europäischen Rechtsraum entsteht.123

III. Vielfalt in der Einheit Vertrauen nimmt darüber hinaus als föderaler Grundsatz124 eine die „Vielfalt in der Einheit“ wahrende Funktion ein, indem es die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten innerhalb des europäischen Verfassungsverbunds anerkennt. Denn durch das Rechtsinstitut der gegenseitigen Anerkennung werden die jeweiligen nationalen Regelungen als gleichwertig betrachtet und die unterschiedlichen Rechtsordnungen im Wege horizontaler Kooperation verschränkt.125 Dabei sichert der Vertrauensgrundsatz nicht nur den Rechtspluralismus im horizontalen Verfassungsverbund, sondern auch die Achtung des Gebots der Wahrung der nationalen Verfassungsidentität nach Art. 4 Abs. 2 EUV. Die Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der EU stellt zunächst eine implizite Voraussetzung für die Funktionsweise des Vertrauensgrundsatzes dar und entspricht dem qualitativen Unterschied der Mitgliedstaaten untereinander im Vergleich zu Drittstaaten.126 Denn im Rahmen der horizontalen Kooperationsverhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten werden die nationalen Vorschriften und die dort als geeignet qualifizierten Ergebnisse insgesamt als funktional äquivalent respektiert.127 Dies steht im Einklang mit dem normativen Gehalt des Art. 2 EUV, der keine konkrete Wertehomogenität für alle Mitgliedstaaten, sondern nur einen der Vielfalt zugänglichen Mindeststan119

L. Mancano, CMLRev. 58 (2021), 683 (699 ff.). T. Reinbacher/M. Wendel, EuGRZ 43 (2016), 333 (341); ähnlich E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 225. 121 Ausführlich zur horizontalen Solange-Doktrin I. Canor, CMLRev. 50 (2013), 383 (383 ff.). 122 I. Canor, CMLRev. 50 (2013), 383 (414). 123 Vgl. in Bezug auf den Grundrechtsschutz M. Wendel, EuR 2019, 111 (125): „Nochmals: ,Wo‘, nicht ,Ob‘ des Grundrechtsschutzes“. 124 Dazu ausführlich M. Zuleeg, EuR 2000, 2846 (2846 ff.). 125 M. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der EU, 2004, S. 88 f. 126 Ähnlich S. Prechal, EP 2 (2017), 75 (92). 127 D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (77). Näher zur Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen unter 4. Kap., E., S. 177 ff. 120

B. Funktionen

205

dard verlangt.128 Aus diesem Grund gilt die Annahme, dass jeder Mitgliedstaat zur Wertesicherung beitragen und die Verantwortung dafür auf gleichwertige Weise tragen kann. Die Akzeptanz unterschiedlicher nationaler Entscheidungen lässt sich mit dem Begriff des Rechtspluralismus bzw. Verfassungspluralismus beschreiben,129 der auf die europäische Rechtsordnung übertragbar ist.130 Grundlegende Voraussetzung ist dabei, dass eine gewisse „verfassungsrechtliche Toleranz“131 gezeigt wird, damit die wechselseitige Öffnung der Rechtsordnungen innerhalb eines Mehrebenensystems erfolgen kann.132 Diese Grundannahme spiegelt sich in der horizontalen Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes wider, indem einerseits die mitgliedstaatlichen Institutionen bzw. Strukturen als gleichermaßen funktionsfähig angesehen werden und am Unionsrechtsvollzug beteiligt sind133 und andererseits die materiellen nationalen Regelungen trotz ihrer Unterschiede als gleichwertig angenommen werden.134 Somit wird durch den Vertrauensgrundsatz die Vielfalt der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auf horizontaler Ebene gesichert. Der Verfassungspluralismus wird darüber hinaus auch auf vertikaler Ebene durch das Gebot der Identitätswahrung nach Art. 4 Abs. 2 EUV abgesichert.135 Im europäischen Mehrebenensystem, in dem die Mitgliedstaaten Rechtsunterworfene des Unionshandelns sind, fungiert Art. 4 Abs. 2 EUV als „föderales Grundrecht“ der Mitgliedstaaten,136 indem diese Bestimmung nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber dem Unionshandeln verleiht, sondern den Unionsorganen Rücksichtnahmepflichten gegenüber den Mitgliedstaaten auferlegt. Insoweit stellt die Identitätsgarantie eine Ausprägung des Loyalitätsgrundsatzes nach Art. 4 Abs. 3 EUV dar.137 Darüber hinaus setzt sie Art. 2 EUV Grenzen, indem unterschiedliche Verständnisse der Werte anerkannt und respektiert werden.138 In 128

O. Mader, EuZW 2021, 974 (974); ferner unten unter 6. Kap., A., S. 225 ff. „Rechtspluralismus“ bezieht sich auf soziologische Ansätze, wobei „Verfassungspluralismus“ weniger auf Gesellschaft als auf Herrschaft bezogen ist, so F. Mayer, in: U. Volkmann (Hrsg.), Verfassung als Ordnungskonzept, 2016, S. 7 (30). 130 Wie hier E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 232 f.; vgl. auch K. Lenaerts, EuR 2015, 3 (19 ff.). 131 Begriff nach J. H. H. Weiler, in: ders./M. Wind (Hrsg.), European constitutionalism beyond the state, 2003, S. 7 (15 ff.): „constitutional tolerance“. 132 F. Mayer, in: U. Volkmann (Hrsg.), Verfassung als Ordnungskonzept, 2016, S. 7 (29). 133 I. Canor, ZaöRV 73 (2013), 249 (293) bezeichnet dies als „institutionellen Pluralismus“. 134 E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 232 f. spricht in diesem Zusammenhang von einem Pluralismus in institutioneller, materiell- sowie formell-rechtlicher Hinsicht; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 477, Rn. 811. 135 A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (710). 136 I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (193 ff.). 137 I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (195). 138 A. von Bogdandy, EuR 2017, 487 (506); I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (190); J. Raitio, EuR 2020, 522 (533). 129

206

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

dieser Hinsicht sichert der Vertrauensgrundsatz die föderale Struktur der EU, indem er auch in seiner vertikalen Ausprägung von verschiedenen Wertvorstellungen ausgeht und diese anerkennt. Auch bei der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts wird die mitgliedstaatliche Verfassungsidentität nicht angetastet und ein gewisser Raum für nationale Verschiedenheiten belassen, soweit die Unionswerte bzw. die europäische Identität139 nicht gefährdet werden.140

IV. Einheit in der Vielfalt Der Vertrauensgrundsatz wirkt aufgrund seiner Rückbindung an Art. 2 EUV innerhalb des europäischen Mehrebenensystems einheitsstiftend. Denn die Unionswerte bilden nicht nur die Grundlage gegenseitigen Vertrauens, sondern setzen ihm auch Grenzen,141 damit die europäische Identität bewahrt wird. Ein Rückschritt in Bezug auf die Unionswerte unterhalb eines Minimalstandards unter Berufung auf ein eigenes Werteverständnis in einem bestimmten Mitgliedstaat lässt sich weder begründen noch wird er geduldet. Dem Verfassungspluralismus werden anhand von Art. 2 EUV dementsprechend äußerste Grenzen gesetzt. Dadurch wird der europäischen Identität im Sinne einer „Einheit in der Vielfalt“ Schutz gewährt.142

C. Grenzen Wie schon bei Erläuterung des Vertrauensbegriffs ausgeführt,143 gilt dieser nicht ausnahmslos und kann unter bestimmten Umständen widerlegt werden. Der EuGH hat bisher in seiner Rechtsprechung die Voraussetzungen für die Widerlegung nur begrenzt und uneinheitlich herausgearbeitet. Die inkohärente Handhabung des Vertrauensgrundsatzes in der EuGH-Rechtsprechung erklärt sich daraus, dass der EuGH nur im Rahmen des ihm vorliegenden Sachverhalts Aussagen über die Reichweite des Grundsatzes machen und daher keine umfassende Definition des Begriffs liefern kann.144 In diesem Abschnitt werden deshalb die 139 A. Haratsch, EuR 2016, 131 (142 ff.); S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 58. 140 K. Lenaerts, Fordham ILJ 36 (2013), 1302 (1330); ders., EuR 2015, 3 (20); ähnlich S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 20; vgl. dazu EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 37 f. – Omega; Rs. C-208/09, Slg. 2010, I-13693, Rn. 91 ff. – Sayn-Wittgenstein. 141 Dazu gleich unter 5. Kap., C. II., S. 208 f. 142 A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (715); C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 61; I. Canor, CMLRev. 50 (2013), 383 (420 f.). 143 Unter 4. Kap., A., S. 165 ff. 144 Zu Recht, denn ansonsten bestünde die Gefahr eines „gouvernement des juges“, so C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 178, Rn. 236.

C. Grenzen

207

Grenzen des Vertrauensgrundsatzes dogmatisch konkretisiert. Die Untergrabung des Vertrauensfundaments, nämlich des Art. 2 EUV, bildet dabei den Bezugspunkt und begründet die Ausnahmen von dem Vertrauensgrundsatz in zweierlei Hinsicht. Zum einen rechtfertigt die schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Unionswerte nach Art. 7 Abs. 2 EUV die allgemeine Aussetzung des Vertrauens; zum anderen ist eine einzelfallbezogene Aussetzung des Vertrauens unterhalb der Schwelle des Verfahrens nach Art. 7 Abs. 2 EUV möglich, soweit im konkreten Kooperationsersuchen eine Verletzung eines Wertes gemäß Art. 2 EUV festgestellt wird. Daneben sind weitere Ausnahmen denkbar, wie die nationale Verfassungsidentitätsgarantie des Art. 4 Abs. 2 EUV und sekundärrechtliche Ablehnungsgründe. Soweit eine Grenze des Vertrauens überschritten wird, gilt als unmittelbare Rechtsfolge die Versagung der Kooperationspflicht durch den ersuchten Mitgliedstaat, was eine Ablehnung der gegenseitigen Anerkennung des in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Rechtsakts bedeutet. In bestimmten Fällen kann die Kooperation bis zur Aufhebung der rechtsstaatlichen Unzulänglichkeiten aufgeschoben bzw. ausgesetzt werden.145

I. Feststellungsbeschluss des Rates nach dem Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren Art. 7 EUV bildet die Kernvorschrift für die Verletzung der Werte des Art. 2 EUV und bestimmt daher auch die Folgen im Falle einer Untergrabung des Vertrauensfundaments, wie dies in Art. 7 Abs. 2 und 3 EUV geregelt ist.146 Zunächst wird in der Präambel des RbEuHb anerkannt, dass die schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Unionswerte bzw. der Vertrauensgrundlage, die durch einen Beschluss nach dem Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren festgestellt wird, in eine allgemeine Aussetzung des Vertrauens mündet.147 Dies wurde in der EuGH-Rechtsprechung in Bezug auf den Wert der Rechtsstaatlichkeit bestätigt.148 Es ist also über das Haftbefehlsrecht hinaus geboten, die Aussetzung des Vertrauens bei der horizontalen Kooperation in Bezug auf den betroffenen Mitgliedstaat zu bejahen.149 Denn bei der Feststellung eines derartigen Werteverstoßes und der damit verbundenen, begründeten Gefahr, dass der vom Hoheitsakt betroffene Einzelne 145 Vgl. im Bereich des Europäischen Haftbefehls EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 98 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru. 146 Näher zum Art. 7 EUV-Verfahren unter 8. Kap., A. I., S. 274 ff. 147 Erwägungsgr. 10 RbEuHb; anders O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (150), der die Aussetzung des Vertrauens zusätzlich als von der Verhängung von Sanktionen gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV abhängig erblickt. Eine solche Ansicht ist jedoch abzulehnen, da die Vertrauensgrundlage gerade bei der Feststellung der Verletzung des Art. 2 EUV entfällt und die Sanktionsverhängung nach Art. 7 Abs. 3 EUV nur eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit darstellt. 148 EuGH, Rs. C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358, Rn. 49 – F.; Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 70, 72 – Minister for Justice and Equality (LM); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 57 f. – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 149 Vgl. den Einzigen Artikel lit. c des Protokolls (Nr. 24) über die Gewährung von Asyl für

208

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

dieser Verletzung ausgesetzt wird, sind fortan weder die transnationale Wirkung des Hoheitsaktes des ersuchenden Mitgliedstaats noch der Kontrollverzicht durch den ersuchten Mitgliedstaat begründbar. Dabei geht vor allem das schrittweise aufgebaute Systemvertrauen in die allgemeine Fähigkeit des Mitgliedstaats, das Unionsrecht bzw. die Rechtsstaatlichkeit zu wahren, ins Leere, was darauf hindeuten kann, dass jedes künftige konkrete Vertrauen im Rahmen eines Kooperationsersuchens ebenso enttäuscht wird.150 Vor diesem Hintergrund positiviert das Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren den vollständigen Wegfall des Vertrauensfundaments und stellt somit eine klare, eigenständige Grenze des Vertrauens dar.

II. Unionsrechtlicher Ordre-public-Vorbehalt geknüpft an Art. 2 EUV Die Grenze des Art. 7 Abs. 2 EUV im Sinne einer allgemeinen Aussetzung des Vertrauensgrundsatzes bedeutet jedoch nicht, dass Werteverletzungen unterhalb dieser Schwelle in konkreten Fällen nicht zur einzelfallbezogenen Aussetzung des Vertrauens führen können.151 Denn aus der Definition des Vertrauens ergibt sich, dass dieses als faktensensibel und nicht als faktenresistent zu konzipieren ist. Dies hat zur Folge, dass bei Vorliegen objektiver Nachweise, dass ein Wert im Sinne von Art. 2 EUV im konkreten Fall verletzt worden ist, das konkrete Vertrauen in Bezug auf die Unionsrechtstreue verloren geht und die Vertrauensvermutung für dieses Kooperationsersuchen widerlegt wird.152 Dabei ist zu berücksichtigen, dass, anders als beim Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren, die Aussetzung des Vertrauens anhand einer solchen einzelfallbezogenen Prüfung allerdings das Systemvertrauen in die Funktionsfähigkeit bzw. die Rechtsstaatlichkeit des betroffenen Mitgliedstaats nicht erschüttert. Dieser rein unionsrechtliche Ordre-public-Vorbehalt153 gekoppelt an Art. 2 EUV bildet einen einheitlichen Maßstab, anhand dessen denjenigen Hoheitsakten Anerkennung bzw. Vollstreckung versagt werden kann, die andernfalls gegen wesentliche Rechtsgrundsätze der Unionsrechtsordnung verstoßen würden.154 Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. EU 2008 Nr. C 115, S. 305; wie hier E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 172 f.; ähnlich, allerdings ohne Bezug auf Art. 7 Abs. 2 EUV, R. O’Neill, ELJ 28 (2022), 240 (248). S. auch unter 5. Kap., B. II. 1. a), S. 200 f. 150 Zur Schwelle für die Widerlegung des Systemvertrauens s. unter 4. Kap., A. IV., S. 181 ff. 151 Vgl. auch I. Canor, CMLRev. 50 (2013), 383 (399); E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 167 ff. 152 In diesem Sinne auch C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 557 f., Rn. 986 ff. 153 Vgl. auch E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 167 ff.; zu nationalen OrdrepubliC-Vorbehalten in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen oben unter 2. Kap., C. I., S. 40 f. 154 In Anlehnung an J. Kokott/I. Dervisopoulos, in: S. Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde, 2013, S. 123 (124).

C. Grenzen

209

Die Kooperationsversagung erfolgt hier nach einer konkreten Prüfung im Einzelfall durch den ersuchten Mitgliedstaat, inwieweit ein Wert im Sinne des Art. 2 EUV anhand seiner Konkretisierung im acquis communautaire vorliegt.155 Dabei ist zu berücksichtigen, dass soweit die Unionsgrundrechte als Konkretisierungsnormen der Unionswerte zur Anwendung kommen, eine Umgehung des Art. 51 Abs. 1 GRCh über Art. 2 EUV droht, der keine ähnliche Beschränkung enthält und auch in rein nationalen Sachverhalten Anwendung findet.156 Diesem Konflikt ist unter Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 2 EUV, der den Mitgliedstaaten einen Spielraum für die Interpretation der Werte zuerkennt,157 dergestalt zu begegnen, dass Art. 2 EUV nur den Wesensgehalt der Grundrechte umfasst.158 Den vorliegenden Ausführungen ist jedenfalls zu entnehmen, dass auch eine isolierte, nachgewiesene Verletzung der Unionswerte als Grenze des Vertrauens fungieren und seine Aussetzung im Einzelfall begründen kann.

III. Identitätswahrung der Mitgliedstaaten Ausgehend von der Prämisse, dass der unionsrechtliche Vertrauensgrundsatz die föderale Grundstruktur der EU mitbestimmt, ist sich im Folgenden der Frage zu widmen, inwieweit die in Art. 4 Abs. 2 EUV eingebettete nationale Verfassungsidentitätsgarantie eine weitere primärrechtliche Grenze des Vertrauens darstellt. Die Wahrung der nationalen Verfassungsidentität als Gegengewicht zum Vertrauen kommt insbesondere erst dann in Betracht, wenn einerseits die Unionswerte des Art. 2 EUV zwar nicht verletzt werden, insbesondere das Rückschrittsverbot gewahrt wird, andererseits aber die Kernbestandteile der Verfassungsordnung eines Mitgliedstaats ein höheres Schutzniveau hinsichtlich eines der Unionswerte bzw. die Wahrung eines in Art. 2 EUV nicht geschützten Wertes abverlangen. Anders formuliert ist die Frage zu klären, ob der durch Art. 4 Abs. 2 EUV abgesicherte Verfassungspluralismus eine Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz begründen kann, wenn innerhalb der Rechtsordnung des ersuchten Mitgliedstaats eine niedrigere Schwelle für die Verletzung eines unionalen Wertes angelegt wird bzw. ein nur in dieser nationalen Verfassungsordnung so geschützter Wert 155

Zum Verhältnis der Werte zum acquis communautaire D. Kochenov, in: A. Jakab/ders. (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 9 (12 ff.). In Bezug auf die Konkretisierung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit s. unter 6. Kap., B., S. 228 ff. 156 A. von Bogdandy/M. Kottmann/C. Antpöhler u.a., ZaöRV 72 (2012), 45 (68); A. von Bogdandy/L. D. Spieker, EuR 2020, 301 (304). 157 W. Schroeder, in: ders. (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, 2016, S. 3 (11). 158 Vgl. E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 168 f.; L. D. Spieker, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 237 (257 f.); ähnlich A.-K. Kaufhold, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 48, Rn. 77, allerdings ohne Bezug auf Art. 2 EUV; vgl. auch M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (27): Art. 2 EUV könnte auf die Bestimmung des Wesensgehalts eines Unionsgrundrechts Einfluss nehmen.

210

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

verfolgt wird. Dabei ist vorauszuschicken, dass ein Vorbehalt geknüpft an Art. 4 Abs. 2 EUV von den sekundärrechtlichen Ordre-public-Vorbehalten, die jenseits von Art. 4 Abs. 2 EUV gelten, zu unterscheiden ist. Nachdem die materiellen sowie prozessualen Implikationen von Art. 4 Abs. 2 EUV dargestellt wurden, wird der Tauglichkeit der nationalen Verfassungsidentitätsgarantie als Grenze des Vertrauensgrundsatzes nachgegangen. 1. Abwehrrecht gegen den Vorrang des Unionsrechts Die nationalen Verfassungsgerichte verstehen Art. 4 Abs. 2 EUV als ein Abwehrrecht gegen die Doktrin des absoluten Vorrangs des Unionsrechts159 auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht160 und behalten sich daher das Recht vor, dem Unionsrecht bei einer nach ihrer Auffassung bestehenden Verletzung der nationalen Verfassungsidentität in ihrem Hoheitsgebiet die Gefolgschaft zu verweigern.161 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass im Europäischen Verfassungsverbund bzw. Verfassungsgerichtsverbund162 keine Unter- oder Überordnung der beteiligten Akteure besteht, sondern vielmehr Raum für pluralistische Konzeptionen und Wertentscheidungen besteht.163 In diesem Sinne wird Art. 4 Abs. 2 EUV dahingehend interpretiert, dass die Zulässigkeit verfassungsrechtlicher Einwände gegen den Unionsrechtsvorrang primärrechtlich abgesichert wird.164

159 EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253, 1269 f. – Costa/ENEL; jüngst EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 244 ff. – Euro Box Promotion u.a., wonach dem Unionsrecht Vorrang auch gegenüber der gefestigten Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte eingeräumt wird. 160 Grundlegend EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 3 – Internationale Handelsgesellschaft. 161 In Deutschland beruht die Verfassungsidentitätskontrolle auf Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG, vgl. BVerfGE 123, 267 (353 f. Rn. 240); BVerfGE 150, 17 (86 Rn. 101). Das BVerfG bemüht sich allerdings, Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG in Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 2 EUV zu bringen, vgl. insbesondere BVerfGE 123, 267 (354 Rn. 240): „die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität im europäischen Rechtsraum [gehen] Hand in Hand“; BVerfGE 140, 317 (337 f. Rn. 44): „die Identitätskontrolle […] ist vielmehr in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV der Sache nach angelegt […] und entspricht insoweit auch den besonderen Gegebenheiten der Europäischen Union“; vgl. aber zu den Unterschieden zwischen Art. 4 Abs. 2 EUV und Art. 79 Abs. 3 GG BVerfGE 134, 366 (386 Rn. 29); M. Ludwigs, in: W. Kahl/ders. (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 44, Rn. 5 ff.; L. D. Spieker, CMLRev. 57 (2020), 361 (383 f.); R. Streinz, in: C. Stumpf/F. Kainer/C. Baldus (Hrsg.), FS Müller-Graff, 2015, S. 1193 (1205). Einen Überblick über ähnliche Verfassungsidentitätsvorbehalte in anderen Mitgliedstaaten gibt R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, 2022, S. 280 ff. 162 A. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (2 ff.). 163 A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (704 f.) bezeichnen die EU daher als „pluralistischen Verbund“. 164 Ähnlich M. Kumm/V. Ferreres Comella, ICON 3 (2005), 473 (491 f.).

C. Grenzen

211

Die Identitätsgarantie bedeutet jedoch keine „Souveränitätsreserve“ für die Mitgliedstaaten, wonach diese innerhalb des von Art. 4 Abs. 2 EUV geschützten Bereichs einseitig handeln können.165 Aus der Identitätsklausel folgt vielmehr ein Achtungsgebot für die Unionsorgane, die anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips (Angemessenheit) einen schonenden Ausgleich zwischen dem Unionsrechtsvorrang einerseits und dem Schutz nationaler Verfassungsidentität vornehmen müssen.166 Wenn sich aus dieser Abwägung ein Eingriff in die nationale Verfassungsidentität ergibt, folgt daraus entweder die Ungültigkeit der einschlägigen Unionsmaßnahme oder ein Rechtfertigungsgrund für die mitgliedstaatliche Nichtbefolgung einer unionalen Pflicht.167 Die Einbeziehung von Erwägungen in Bezug auf nationale Verfassungsanforderungen hat ursprünglich im Rahmen der Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen stattgefunden.168 Auch wenn der EuGH die Rechtfertigungsebene nicht unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 Abs. 2 EUV geprüft hat, lässt sich dabei die Rücksichtnahme des EuGH auf nationale Verfassungsstrukturen ablesen. Bisher besteht allerdings Unklarheit und Unstimmigkeit darüber, was der Begriff der nationalen Verfassungsidentität genau umfasst.169 In Betracht kommt, über Art. 4 Abs. 2 EUV das zu schützen, was unmittelbar in den nationalen Verfassungen als Identitätsbestandteil benannt wird.170 Daraus folgt, dass nicht alle Verfassungsentscheidungen unionsrechtlich relevant sind, sondern nur solche von grundlegender Bedeutung für die nationale Verfassungsordnung, sofern sie zugleich im Einklang mit den Werten des Art. 2 EUV stehen.171 165

I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (194 ff.); ähnlich A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (725): „Die Achtungspflicht bewirkt […] keinen absoluten Schutz nationaler Identitätsgehalte“; M. Ludwigs, in: W. Kahl/ders. (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 44, Rn. 8; kürzlich hervorgehoben von EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 249 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI: EU:C:2022:99, Rn. 70 – RS. 166 Diesen Ausgleich nimmt sogar der EuGH im Rahmen der Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen vor, s. 5. Kap., Fn. 167. 167 A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (726 f.). 168 Vgl. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 76 ff. – Schmidberger; Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 36 ff. – Omega; Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 45 ff. – The International Transport Workers’ Federation und The Finnish Seamen’s Union. 169 Versuch einer begrifflichen Klärung bei A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (712 ff.); C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 30; A. Haratsch, EuR 2016, 131 (134 ff.); G. Martinico, EPL 27 (2021), 447 (454 ff.); M. Mlynarski, Zur Integration staatlicher und europäischer Verfassungsidentität, 2021, S. 123 ff.; M. Ludwigs, in: W. Kahl/ders. (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 44, Rn. 11 ff.; I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (195 ff.); R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, 2022, S. 294 ff.; für einen nur auf die „institutionelle Vielfalt“ begrenzten Schutzbereich des Art. 4 Abs. 2 EUV B. De Witte, EPL 27 (2021), 559 (561 ff.). 170 A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (713). 171 So auch A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (714 f.); ähnlich M. Mlynarski, Zur Integration staatlicher und europäischer Verfassungsidentität, 2021, S. 122 ff.; I. Pernice, in: J. Krüper/M. Payandeh/H. Sauer (Hrsg.), Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung, 2019, S. 165 (169).

212

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

Was die Verteilung der gerichtlichen Verantwortung für die Prüfung der Achtung der nationalen Verfassungsidentität zwischen den nationalen (Verfassungs-) Gerichten und dem EuGH anbelangt, ist ein möglicher Konflikt über die Letztentscheidungsbefugnis bzw. -pflicht (Art. 267 AEUV) unter Heranziehung des Loyalitätsgrundsatzes zu lösen.172 Demnach sollen die obersten bzw. Verfassungsgerichte nicht einseitig über eine etwaige Verletzung der nationalen Identität urteilen, sondern unter Beachtung ihrer Vorlagepflicht ihre verfassungsrechtlichen Bedenken dem EuGH über das Vorabentscheidungsverfahren vorlegen.173 Der EuGH muss sodann diese verfassungsrechtlichen Belange bei der Auslegung des unionsrechtlichen Begriffs der nationalen Identität berücksichtigen und – auf Basis dieser Informationen – eine Abwägung der gegenläufigen Interessen vornehmen.174 Es besteht also kein a priori-Vorrang weder zugunsten noch zulasten der nationalen Verfassungsidentität. Ob die nationalen Gerichte die vom EuGH durchgeführte Prüfung übernehmen und diese auch umsetzen, kann nicht garantiert werden: Ihnen bleibt immer die Möglichkeit, die Sichtweise des EuGH nicht zu übernehmen und den Vorrang des Unionsrechts zum Schutz der nationalen Verfassungsidentität im konkreten Fall abzulehnen.175 2. Tauglichkeit als Grenze des Vertrauens Die Berufung der Mitgliedstaaten auf die nationale Verfassungsidentität mit dem Ziel, von unionalen Pflichten befreit zu werden, gewinnt mit Blick auf die Tauglichkeit von Art. 4 Abs. 2 EUV als Grenze des Vertrauens erneut an Bedeutung. Aus dem Vertrauensgrundsatz selbst ergibt sich eine negative normative Pflicht, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Kooperation aufgrund eines höheren Schutzniveaus der Grundrechte in seinem Hoheitsgebiet nicht versagen darf. Die Frage allerdings, ob die Beeinträchtigung des Wesensgehalts bestimmter Grundrechte bzw. anderer Werte, die unter die nationale Verfassungsidentität im Sinne des Art. 4 Abs. 2 EUV fallen, die Aussetzung des Vertrauens rechtfertigt, lohnt eine vertiefte Betrachtung. Eine Annäherung an die Identitätsklausel als Grenze des Vertrauens bedarf zuerst einer Unterscheidung zwischen vollharmonisierten und nicht bzw. teilweise harmonisierten Bereichen. In vollharmonisierten Bereichen, in denen der

172

A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (729 f.); G. Martinico, EPL 27 (2021), 447 (459 ff.); I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (213 ff.); R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, 2022, S. 294. 173 Grundlegend EuGH, Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 71 – RS; vgl. auch M. Mlynarski, Zur Integration staatlicher und europäischer Verfassungsidentität, 2021, S. 124 ff. 174 A. Hatje, in: J. Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 4 EUV, Rn. 22; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 47. 175 Dies wäre allerdings unionsrechtswidrig, vgl. A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (731).

C. Grenzen

213

Unionsgesetzgeber eine Abwägung zwischen der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts und dem Grundrechtsschutz selbst getroffen hat, können die Mitgliedstaaten kein höheres Schutzniveau in ihrem Hoheitsgebiet verlangen und aus diesem Grund eine Entlassung von ihrer Kooperationspflicht behaupten.176 In nicht bzw. teilweise harmonisierten Bereichen wird den nationalen verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen und Grundwerten zwar mehr Raum zugesprochen, diese Wertevielfalt darf allerdings weder andere Unionswerte177 noch Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts gefährden.178 Die Beurteilung, inwieweit Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts durch die nationalen Wertentscheidungen gefährdet werden, obliegt dabei nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV allein dem EuGH. Insbesondere die Tatsache, dass der Vertrauensgrundsatz eng mit der Wirksamkeit des Unionsrechts verbunden ist, beschränkt die Berufung auf Art. 4 Abs. 2 EUV als Grenze des Vertrauens bereits deutlich. Die Berufung auf Art. 4 Abs. 2 EUV als Grenze des Vertrauens erweist sich darüber hinaus deshalb als von geringer Bedeutung, weil die durch die Identitätsgarantie geschützten nationalen Grundwerte weitgehend deckungsgleich mit den Unionswerten des Art. 2 EUV sind.179 Dies hat zur Folge, dass nationale verfassungsrechtliche Bedenken seitens der nationalen Gerichte (fast) immer unter dem Gesichtspunkt der Unionswerte formuliert und mittels des unionsrechtlichen Ordre-public-Vorbehalts geknüpft an Art. 2 EUV berücksichtigt werden können. Eine solche Annäherung würde sogar erlauben, dass nationale Grundvorstellungen in das unionsrechtliche Verständnis der Grundwerte einfließen und die nationalen Gerichte an der Ausformung des gemeinsamen Wertefundaments aktiv beteiligt werden.180 Solange also die Identitätsgehalte einer nationalen Verfassungsordnung im Sinne des Art. 4 Abs. 2 EUV mit den Grundwerten im Sinne des

176 Grundlegend EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 57 ff. – Melloni; so auch K. Lenaerts, EuR 2015, 3 (21); F.-X. Millet, EPL 27 (2021), 571 (576 f.); M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (17); anders BVerfGE 140, 317 (354 f. Rn. 82 f.); dazu D. Petric´, EPL 26 (2020), 451 (459 ff.), die grundgesetzliche Menschenwürde sei sowieso durch das Unionsrecht effektiv geschützt; vgl. aber die jüngste BVerfG-Rechtsprechung seit dem Recht auf Vergessen IIUrteil, wonach in vollharmonisierten Bereichen die Unionsgrundrechte und nicht die Grundrechte des GG maßgeblich sind, BVerfGE 152, 216 (233 Rn. 42), den grundgesetzlichen Grundrechten allerdings eine Reservefunktion zukommt (236 Rn. 48). 177 Wie zum Beispiel das Diskriminierungsverbot, vgl. EuGH, Rs. C-399/09, Slg. 2011, I-5573, Rn. 41 ff. – Landtova´. 178 EuGH, Rs. C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358, Rn. 51 ff., 74 – F.; G. Anagnostaras, ELRev. 42 (2017), 234 (248); K. Lenaerts, EuR 2015, 3 (28 Fn. 109); F.-X. Millet, EPL 27 (2021), 571 (582 f.); vgl. aber auch M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (17, 19): in nicht harmonisierten Bereichen sei die Berufung auf Art. 4 Abs. 2 EUV immer zulässig. 179 A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (713); L. D. Spieker, CMLRev. 57 (2020), 361 (389 f.); anders W. Schroeder, in: ders. (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, 2016, S. 3 (11), der „strukturelle Unterschiede“ in dieser Hinsicht zwischen den nationalen Verfassungen und den EU-Verträgen erblickt. 180 Vgl. C. Grabenwarter/P. M. Huber/R. Knez u.a., EPL 27 (2021), 43 (57 ff.); L. D. Spieker, CMLRev. 57 (2020), 361 (391); ähnlich I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (204).

214

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

Art. 2 EUV überstimmen, verdrängt der unionsrechtliche Ordre-public-Vorbehalt den Vorbehalt gekoppelt an Art. 4 Abs. 2 EUV. Daraus folgt, dass die nationale Verfassungsidentitätsgarantie nur für den Schutz von sehr besonderen Merkmalen einer nationalen Verfassungsordnung einschlägig ist, die von Art. 2 EUV nicht umfasst sind181 und diesem auch nicht entgegenstehen, wie etwa die Verteilung der Zuständigkeiten innerhalb eines föderalen Staats,182 die kommunale Selbstverwaltung,183 der Schutz der Amtssprache184 oder das Verbot der Führung von Adelstiteln.185 Es liegt nahe, dass die Identitätswahrung der Mitgliedstaaten nur unter außergewöhnlichen Umständen als Schranke des Vertrauensgrundsatzes zur Anwendung gelangt.186

IV. Sekundärrechtliche Ausnahmen Neben den primärrechtlichen Grenzen, die unabhängig von einer sekundärrechtlichen Absicherung gelten, können weitere Ausnahmen vom Vertrauensgrundsatz sekundärrechtlich geregelt werden, indem konkrete Ablehnungsgründe für die Anerkennung eines Hoheitsakts bzw. Kontrollvorbehalte vorgesehen werden.187 Diese können ebenso auf den Schutz der Unionswerte abzielen.188 Hier gelten somit die Grenzen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zugleich als Grenzen des ihm zugrunde liegenden Vertrauens, selbst wenn kein Vertrauensbruch im Sinne einer Verletzung der Unionsrechtstreue vorliegt.189 Die

181

So auch R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV, Rn. 14. EuGH, Rs. C-156/13, ECLI:EU:C:2014:1756, Rn. 34 – Digibet und Albers. 183 C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 39; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 19. 184 EuGH, Rs. C-222/07, Slg. 2009, I-1407, Rn. 36 – UTECA; Rs. C-391/09, Slg. 2011, I-3787, Rn. 86 – Runevicˇ-Vardyn und Wardyn. 185 EuGH, Rs. C-208/09, Slg. 2010, I-13693, Rn. 92 f. – Sayn-Wittgenstein; Rs. C-438/14, ECLI:EU:C:2016:401, Rn. 64 f. – Bogendorff von Wolffersdorff. 186 Vgl. auch A. von Bogdandy/S. Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (716); A. Hatje, in: J. Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 4 EUV, Rn. 23; F.-X. Millet, EPL 27 (2021), 571 (584 ff.); I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (216); anders aber C. Sa´enz Pe´rez, NJECL 9 (2018), 446 (450 ff.), die Art. 4 Abs. 2 EUV als einen tauglichen Ablehnungsgrund in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen betrachtet. 187 Vgl. A.-K. Kaufhold, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. II, 2021, § 48, Rn. 75; E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 109, die allerdings verkennt, dass die sekundärrechtlich vorgesehenen Ausnahmen als Ausnahmen zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und daher nur mittelbar zum Vertrauen gedacht werden; ähnlich C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 373 ff., Rn. 675 ff. 188 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 374, Rn. 617. 189 Ähnlich K. Hamenstädt, REALaw 14 (2021), 5 (13). 182

D. Vertrauensgenerierung, Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

215

Ausnahmen variieren allerdings je nach Rechtsgebiet, sodass sich keine klare Systematik bezüglich ihrer konkreten Ausgestaltung erkennen lässt.190 Eine häufige, jedoch nicht in allen Sekundärrechtsakten vorgesehene Ausnahmekategorie stellt der nationale Ordre-public-Vorbehalt dar, der innerstaatliche Gemeinwohlkonzepte – jenseits des von Art. 4 Abs. 2 EUV geschützten Bereichs – zu wahren vermag.191 Die Berufung auf solche ausdrücklichen Vorbehalte beschränken die Reichweite der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des Vertrauens, indem dem ersuchten Mitgliedstaat ein weiter Spielraum zuerkannt wird, seine eigenen nationalen Interessen gegen die Anerkennung eines Rechtsaktes eines anderen Mitgliedstaats einzuwenden. Dabei erweist sich die Frage, ob der ersuchende Mitgliedstaat rechtstreu gehandelt hat, als entbehrlich.

D. Trias der Vertrauensgenerierung, Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung Der Vertrauensgrundsatz ist neben seiner rechtlichen auch durch eine soziale Dimension in seiner Umsetzung geprägt.192 Denn es sind die an den jeweils zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden tätigen Akteure, die letztlich die Entscheidung über die Gewährung bzw. Aussetzung des Vertrauens in einem konkreten Fall treffen müssen. Dieses tatsächliche, praxisbezogene Vertrauen kann und darf nicht schlechthin vorausgesetzt werden, sondern muss mit rechtlich flankierenden Maßnahmen generiert bzw. gestärkt werden.193 Es muss also ein berechtigtes an Stelle eines vorausgesetzten Vertrauens entstehen. Dabei ist ein bottom-up- im Gegensatz zu einem top-down-Ansatz angezeigt,194 der das Vertrauen nicht lediglich anordnet, sondern vielmehr die beteiligten Akteure dialogisch miteinbezieht und dadurch ein Verständnis über die jeweiligen nationalen 190

Vgl. C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (395 ff.); kritisch M. Nettesheim, EUZ 2018, 4

(17). 191 Insoweit unterscheidet C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 377 ff., Rn. 623 ff., zwischen „offenen“ („syste`me de restrictions ouvert“) Ausnahmekategorien, d.h. Sekundärrechtsakten, die einen Ordre-public-Vorbehalt vorsehen und „geschlossenen“ („syste`me de restrictions ouvert“), d.h. Sekundärrechtsakten, in denen die Ausnahmen erschöpfend aufgezählt werden. 192 Vgl. M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (20): „amounts to a blending of the normative and the factual“; A. Willems, EJLS 9 (2016), 211 (247 ff.) spricht aus diesem Grund von einem hybriden Charakter des Vertrauens. 193 H. C. Röhl, in: E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 153 (173); E. Schmidt-Aßmann/A.-K. Kaufhold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. II, 3. Aufl. 2022, § 27, Rn. 19a; H. H. Trute, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 9, Rn. 115. In diesem Sinne die Unterscheidung zwischen „formal and material trust“ von E. Brouwer, in: ders./D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 59 (63). 194 Ähnlich M. Bobek, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 433 (436 f.); M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (19).

216

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

Rechtsordnungen zu vermitteln vermag.195 Nicht zuletzt sind Kontrollmechanismen erforderlich, um die Wahrung des Vertrauensgrundsatzes zu sichern, seine Missachtung zu sanktionieren und dadurch den Unionswerten in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Geltung zu verschaffen. Nur das Vorhandensein solcher Rahmenbedingungen kann das Vertrauensfundament sichern und somit eine effektive Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten herbeiführen.

I. Vertrauensgenerierung durch Harmonisierung Zunächst können die Rahmenbedingungen als Voraussetzung für Vertrauen durch Annäherung bzw. Harmonisierung auf unionaler Ebene zustande kommen, sprich der Generierung und dem Aufbau des Vertrauens dienen.196 Das Ausräumen von Differenzen durch die Einführung von Mindeststandards und die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses für konkretisierungsbedürftige Begriffe bieten den Anlass für die Vertrauensgenerierung bzw. Vertrauensstärkung,197 indem diese das dem Vertrauen innewohnende Risiko verkleinern.198 Denn es geht nicht mehr um die allgemeine Frage nach der Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen bei der Durchführung des Unionsrechts und das damit verbundene Absinken der Standards in einzelnen Mitgliedstaaten, sondern konkret um die ordnungsgemäße Anwendung der einschlägigen Sekundärrechtsvorschrift.199 Allerdings wird das Risiko durch die Kongruenz der Rechtssysteme nicht komplett eliminiert, zumal der einheitliche materielle Rahmen nicht unbedingt auch seine Befolgung durch die Mitgliedstaaten bedeutet. Die Frage der ordnungsgemäßen Rechtsanwendung bleibt offen, sodass der Bedarf für Vertrauen bei der horizontalen Kooperation fortbesteht.200 Gleichwohl ist die Schaf195

E. Pache/T. Groß, in: Bundesstaat und Europäische Union zwischen Konflikt und Kooperation, 2007, S. 106 (202) betonen die Notwendigkeit „einer vertrauensgenerierenden Dogmatik“. 196 Vgl. D. Düsterhaus, REALaw 8 (2015), 151 (174); E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (131); ähnlich in Bezug auf die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen P. Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, 2015, S. 220 f. 197 A.-K. Kaufhold, EuR 2012, 408 (416); M. Möstl, CMLRev. 47 (2010), 405 (420 f.); M. Schröder, REALaw 13 (2020), 37 (52 ff.); C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 573 ff., Rn. 1041 ff.; P. Stelkens, in: ders./H. J. Bonk/M. Sachs (Hrsg.), VwVfG, 10. Aufl. 2023, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 185; T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (365); E. Xanthopoulou, CMLRev. 55 (2018), 489 (507 f.); vgl. auch Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. EU 2005 Nr. C 53, S. 1 (2, 11 f.); das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, ABl. EU 2010 Nr. C 115, S. 1 (13 f.). 198 Dazu s. oben unter 4. Kap., A. III., S. 168 ff. 199 P. Crame´r, in: M. Dougan/S. Currie (Hrsg.), 50 Years of the European Treaties, 2009, S. 43 (60). 200 Das Potenzial der Harmonisierung hinsichtlich der Vertrauensstärkung darf daher nicht überschätzt werden, so F. Meyer, EuR 2017, 163 (166).

D. Vertrauensgenerierung, Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

217

fung von einheitlichen Mindeststandards für die gegenseitige Anerkennung geeignet, Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu generieren und die zwischenstaatliche Kooperation maßgeblich zu erleichtern.201

II. Vertrauensförderung durch Informationsaustausch Die Minimierung des Risikos, dass die Vertrauensvermutung im Rahmen eines Kooperationsersuchens enttäuscht wird, kann darüber hinaus durch sekundärrechtlich festgelegte Informationsaustauschmechanismen sowie Dialogstrukturen zwischen den mitgliedstaatlichen bzw. unionalen Behörden gelingen.202 Die dauerhafte Bereitstellung von Informationen hinsichtlich des Zustandekommens des nationalen Verwaltungsakts bzw. der justiziellen Entscheidung sowie der daraus folgenden rechtlichen Konsequenzen fördert und sichert das gewährte Vertrauen,203 indem die Vertrauenswürdigkeit des ersuchten Mitgliedstaats und die Einhaltung des einschlägigen Rechts mittelbar überprüft werden. Dadurch wird nicht nur die Kommunikation zwischen den Behörden erleichtert, sondern auch Transparenz geschaffen, was vertrauensstärkend bzw. vertrauenssichernd wirkt.204 Dabei wäre die Mitwirkung oder Konsultation des ersuchten Mitgliedstaats vor dem Erlass des transnationalen Verwaltungsakts durchaus denkbar.205 Im Rahmen solcher Kooperationsmechanismen206 gewinnen die Mitgliedstaaten an gegenseitiger Erfahrung, was für den Aufbau und die Förderung von Vertrauen ebenso förderlich ist.207 201 Wie hier E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 183 ff.; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 267, Rn. 407 spricht insoweit von einem „teleologischen Verständnis“ („lecture te´le´ologique“) des Vertrauens. 202 A. von Bogdandy/L. Hering, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 25, Rn. 4 stellen im Umkehrschluss fest, dass fehlende Informationen in Unkenntnis und Misstrauen zwischen den Akteuren münden. 203 Vgl. S. Prechal, EP 2 (2017), 75 (83). 204 M. Eifert, in: H.-H. Trute u.a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 307 (330); W. Kahl, Der Staat 50 (2011), 353 (385 f.); F. Meyer, EuR 2017, 163 (184); P. Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, 2015, S. 224 f.; T. Wahl, in: G. Vernimmen-Van Tiggelen/L. Surano/A. Weyembergh (Hrsg.), The future of mutual recognition, 2009, S. 115 (143); T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (370). 205 P. Stelkens, in: ders./H. J. Bonk/M. Sachs (Hrsg.), VwVfG, 10. Aufl. 2023, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 185; im Bereich der Arzneimittel S. Röttger-Wirtz, REALaw 13 (2020), 61 (83 f.). 206 Der Informationsaustausch stellt eine Kooperationsform dar, P. Hilbert, in: L. Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019, S. 111 (114 ff.). 207 M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (14): eine auf gemeinsamer Erfahrung gefestigte Vertrauensbeziehung kann gegebenenfalls eine geringere Prüfungsdichte begründen; E. Pache/ T. Groß, in: Bundesstaat und Europäische Union zwischen Konflikt und Kooperation, 2007, S. 106 (202); E. Schmidt-Aßmann, in: A. Blankenagel (Hrsg.), Liber Amicorum Häberle, 2004, S. 395 (398); in Bezug auf die Netzwerkstruktur M. P. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 133; ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund sei auf europäischer

218

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

Institutionalisierte Kooperations- bzw. Informationsaustauschmechanismen werden mit dem analytischen Begriff208 des Netzwerkes, insbesondere des Behördennetzwerkes,209 beschrieben. Behördennetzwerke beziehen sich grundsätzlich auf polyzentrische Verflechtungen, nämlich zwischen auf unterschiedlichen Ebenen tätigen Hoheitsträgern, welche in eine verdichtete und gefestigte Zusammenarbeit in Bezug auf die Unionsrechtsdurchführung ohne eine formelle hierarchische Struktur210 eingebunden werden.211 Da der Informationsaustausch die wesentlichste Funktion dieser Netzwerke bildet,212 wird das Vertrauen zwischen den Netzwerkteilnehmern gefördert und allmählich stabilisiert.213 Der Informationsaustausch wird daher nicht zu Unrecht als Grundlage des Europäischen Verwaltungsverbundes bezeichnet,214 der letztlich auch einen Informationsverbund215 darstellt, was u.a. in Art. 197 Abs. 2 S. 2 AEUV primärrechtlich zum

Ebene nicht zu erblicken, H. C. Röhl, in: E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 153 (173); S. Röttger-Wirtz, REALaw 13 (2020), 61 (84). 208 U. Mager, in: H.-H. Trute u.a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 369 (373); E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 139, 163; N. I. Simantiras, Netzwerke im europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 25 („lediglich deskriptiver Natur“); anders W. Kahl, in: M. Holoubek/M. Lang (Hrsg.), Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 15 (33), der im Falle einer hinreichenden Institutionalisierung und Formalisierung des Netzwerkes, diesem einen rechtsdogmatischen Gehalt zuerkennt. 209 Behördennetzwerke sind als Netzwerke im engeren Sinne zu verstehen, vgl. W. Kahl, in: M. Holoubek/M. Lang (Hrsg.), Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 15 (31); E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 5, Rn. 33; N. I. Simantiras, Netzwerke im europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 25. 210 E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 139; M. P. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 300 f.; N. I. Simantiras, Netzwerke im europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 23, 40. Es wird jedoch häufig eine faktische Überordnung der Kommission bestehen, vgl. N. I. Simantiras, Netzwerke im europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 42 f.; W. Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 104. 211 W. Kahl, Der Staat 50 (2011), 353 (359); E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 5, Rn. 33; W. Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 61 f. 212 M. P. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 305; N. I. Simantiras, Netzwerke im europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 37. 213 B. Schöndorf-Haubold, in: H.-H. Trute u.a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 575 (583); ähnlich C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 587 f., Rn. 1064 ff. 214 A. von Bogdandy/L. Hering, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 25, Rn. 3; W. Kahl, in: M. Holoubek/M. Lang (Hrsg.), Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 15 (29); E. Schmidt-Aßmann, in: ders./B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 1 (15); ders., Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 171; F. Shirvani, EuR 2011, 619 (620). 215 W. Kahl, Der Staat 50 (2011), 353 (384 ff.)

D. Vertrauensgenerierung, Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

219

Ausdruck gebracht wird. Darüber hinaus können auch andere Formen des Austauschs vertrauensstabilisierend wirken, etwa der Personalaustausch innerhalb eines Netzwerkes bzw. einer Kooperationsstruktur.216 Denn die Herstellung von direkten Kontaktpunkten zwischen den beteiligten Behörden und Amtswaltern minimiert die Unsicherheiten hinsichtlich der nationalen Rechtsunterschieden und kann zu einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts beitragen.217 Solche Informations- bzw. Dialognetzwerke sind für die Vertrauensstabilisierung zentral und daher weiter auszubauen.

III. Vertrauenssicherung durch Kontrolle Vertrauen soll nicht nur generiert und gefördert, sondern auch durch Kontrollmechanismen gesichert werden.218 Selbst wenn einheitliche bzw. angeglichene Maßstäbe für den Unionsrechtsvollzug gelten und Informationskanäle für eine gewisse Kongruenz der Rechtssysteme geschaffen werden, kann hiermit ordnungsgemäße Anwendung des einschlägigen Rechts nicht stets gewährleistet werden. Daher sind zusätzlich institutionalisierte wirksame Überwachungs- bzw. Sanktionsmechanismen erforderlich, um Rechtsbrüche möglichst zu vermeiden, und falls sie doch eintreten, um sie zu sanktionieren und dadurch die Vertrauensgrundlage zu sichern. Kontrolle stellt die Kehrseite des Vertrauens dar, weil sie die Wahrscheinlichkeit der Vertrauensenttäuschung zu minimieren vermag. Überwachungs-, Durchsetzungs- bzw. Sanktionsmechanismen sprechen dafür, dass ein Rechtssystem die Rechtsverletzungen bzw. die dadurch bewirkten Vertrauensverletzungen nicht toleriert, und können somit die Vertrauenswürdigkeit des Rechtssystems steigern und dadurch das Vertrauen absichern.219 Auch wenn diese Kontrollmechanismen als Ausprägung von Misstrauen angesehen werden, wurde schon an anderer Stelle dargelegt, dass Misstrauen keinen der Vertrauensbeziehung fremden Begriff darstellt.220 Vielmehr ist Misstrauen eine komplementäre

216

Vgl. Art. 31 Abs. 1 SSM-Verordnung. Vgl. H. C. Röhl, in: E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 153 (174), der Begleitrechte für Beamte anderer Mitgliedstaaten bei Inspektionen als vertrauensfördernde Maßnahme sieht; in Bezug auf die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen P. Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, 2015, S. 222 f.; T. Wahl, in: G. Vernimmen-Van Tiggelen/L. Surano/A. Weyembergh (Hrsg.), The future of mutual recognition, 2009, S. 115 (143 f.); T. Wischmeyer, GLJ 17 (2016), 339 (364). 218 Die Wichtigkeit der Kontrolle für die Vertrauenssicherung betonend bereits KOM(85) 310 endg., S. 12 f., Rn. 40 f.; so im Ergebnis auch C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 426 ff., Rn. 715 ff. 219 Näher N. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 124; J. Sydow, in: R. Bachmann/A. Zaheer (Hrsg.), Handbook of Trust Research, 2006, S. 377 (385 ff.); P. Sztompka, Trust, 1999, S. 87 ff., 125; ähnlich D. Gerard, in: E. Brouwer/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 69 (79); K. Hamenstädt, REALaw 14 (2021), 5 (15 f.); M. Nettesheim, EUZ 2018, 4 (19). 220 S. oben unter 4. Kap., A. IV., S. 181 ff. 217

220

5. Kapitel: Gegenseitiges Vertrauen als Strukturprinzip der EU

Erscheinung des Vertrauens221 und die institutionalisierten Kontrollmechanismen sind ein Beleg dafür, dass sich die beteiligten Akteure gegenseitig Vertrauen in die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit entgegenbringen sollen.222 Besonders wichtig sind dabei die Art. 258 ff. AEUV sowie vor allem die Überwachungs- und Sanktionsmechanismen auf EU-Ebene,223 die sekundärrechtlich zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit eingeführt wurden.224

E. Zwischenergebnis Gegenseitiges Vertrauen bildet ein Strukturprinzip der europäischen Rechtsordnung, das das gesamte Unionsrecht umfasst. Sein primärrechtlicher Rang folgt aus der Anbindung an den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Loyalitätsgrundsatz, zu dem Vertrauen eine parallele Struktur aufweist. Die Grundsätze ähneln sich sowohl in ihrer Bindungswirkung, die eine horizontale und eine vertikale Dimension aufweist, sodass nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch gegebenenfalls die Unionsorgane als Adressaten gelten, als auch in ihrer Wirkweise, nämlich in der Akzessorietät zu konkreten, primär- bzw. sekundärrechtlichen Rechtspflichten. Dabei nimmt Vertrauen strukturierende Funktionen ein und leistet einen Beitrag zum Konstitutionalisierungsprozess im Unionsrecht. In horizontaler Hinsicht dient es der praktischen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Kooperationspflichten der Mitgliedstaaten und bestimmt dazu die Verantwortungsverteilung für die Wertesicherung in Vielfalt wahrender und Einheit stiftender Weise. In vertikaler Hinsicht sichert der Vertrauensgrundsatz die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten sowie die Zuständigkeit für die Wertesicherung innerhalb der föderal geprägten Unionsrechtsordnung ab. Als Grundsatz gilt Vertrauen nicht ausnahmslos, sondern kann unter bestimmten Voraussetzungen widerlegt werden. Auch wenn der EuGH bisher keine klare Kategorisierung der Ausnahmen vorgenommen hat, können diese dogmatisch aus den Verträgen abgeleitet werden. Als äußerste Grenze von Vertrauen fungiert zunächst der Feststellungsbeschluss des Rates nach dem Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren, der als Bestätigung der Untergrabung des auf Art. 2 EUV be-

221

E. Schmidt-Aßmann/G. Dimitropoulos, in: M. A. Weingardt (Hrsg.), Vertrauen in der Krise, 2011, S. 129 (140); ähnlich M. Bobek, in: S. I. Sa´nchez/M. G. Pascual (Hrsg.), Fundamental Rights in the AFSJ, 2021, S. 433 (440): „a healthy dose of distrust and critical distance is once again called for“; A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (226). 222 H. C. Röhl, in: E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 153 (174); M. Schwarz, Grundlinien der Anerkennung im RFSR, 2016, S. 371. 223 K. Hamenstädt, REALaw 14 (2021), 5 (15), die hierin eine vertikale Dimension des Vertrauens erkennt; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 189, Rn. 259. 224 Dazu ausführlich unten unter 8. Kap., S. 273 ff.

E. Zwischenergebnis

221

ruhenden Vertrauensfundaments in einer allgemeinen Aussetzung des Vertrauens mündet. Auch Werteverletzungen unterhalb dieser Schwelle in konkreten Fällen können eine einzelfallbezogene Aussetzung des Vertrauens begründen, soweit objektive Nachweise diesbezüglich vorliegen. Der unionsrechtliche Ordre-public-Vorbehalt, gekoppelt an Art. 2 EUV, bietet dabei einen einheitlichen Maßstab, anhand dessen die Anerkennung bzw. Vollstreckung eines Hoheitsakts im Einzelfall versagt werden kann. Ein Vorbehalt aufgrund von Art. 4 Abs. 2 EUV kommt dagegen nur in Extremsituationen in Betracht, zumal die nationalen Verfassungsidentitätsgehalte überwiegend mit den Unionswerten deckungsgleich und damit bereits durch den unionsrechtlichen Ordre-public-Vorbehalt geschützt sind. Weitere Ausnahmen aus dem Vertrauensgrundsatz können allerdings sekundärrechtlich geregelt werden, indem konkrete Ablehnungsgründe für die Anerkennung bzw. Vollstreckung eines Hoheitsakts vorgesehen werden. Schließlich sind flankierende Maßnahmen zur Generierung, Stabilisierung sowie Sicherung des Vertrauens für seine effektive Funktionsweise maßgeblich. In diesem Sinne ist die Rede von einem berechtigten statt einem blinden Vertrauen. Zu den vertrauensgenerierenden Maßnahmen zählen vor allem die Harmonisierung auf unionaler Ebene und die Festlegung von gemeinsamen Mindeststandards, denn dadurch wird das dem Vertrauen innewohnende Risiko zwar verkleinert, die Möglichkeit der Enttäuschung der Vertrauensvermutung allerdings nicht eliminiert. Aus diesem Grund sollten Informationsaustauschmechanismen sowie Dialogstrukturen zwischen den mitgliedstaatlichen bzw. unionalen Behörden institutionalisiert werden, die die Kommunikation zwischen den beteiligten Akteuren gewährleisten sowie die Transparenz der Verfahren steigern und somit Vertrauen stabilisieren. Behördennetzwerke sind für solche Funktionen besonders geeignet. Nicht zuletzt ist die Vertrauenssicherung auf eine Reihe von Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionsmechanismen angewiesen, anhand derer Vorkehrungen gegen eventuelle Werteverletzungen getroffen sowie Sanktionsmaßnahmen rechtzeitig ergriffen werden können. Nur die Einführung sich gegenseitig ergänzender Maßnahmen entspricht der dynamischen Entwicklung des Vertrauens und vermag seine Belastbarkeit auf lange Sicht zu sichern.

Dritter Teil

Der Vertrauensgrundsatz und die EU-Rechtsstaatlichkeitskrise Der Begriff der Rechtsstaatlichkeitskrise hat sich in den letzten Jahren zu einem Kernbegriff des Unionsrechts entwickelt und wird als Teil einer übergreifenden, unionalen „Polykrise“ verstanden.1 Wird dabei berücksichtigt, dass der Bezugspunkt des Vertrauensgrundsatzes die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in concreto (Vermutung der Unionsrechtstreue) sowie in abstracto (Vermutung der rechtsstaatlichen Strukturen der einzelnen Mitgliedstaaten) ist, ergibt sich ein kausaler Zusammenhang zwischen der Rechtsstaatlichkeit(skrise) und dem Vertrauensgrundsatz. Dies belegt auch die jüngste EuGH-Rechtsprechung, wenn die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes bei vorliegender Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 47 GRCh) bzw. der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bejaht wird. In den folgenden Kapiteln werden daher der Begriff der Rechtsstaatlichkeit konturiert, dessen Verhältnis zum Vertrauensgrundsatz untersucht und die bisherigen Maßnahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit dargestellt.

1

M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 35.

6. Kapitel

Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU Die Rechtsstaatlichkeit wird explizit in Art. 2 EUV als einer der Grundwerte der EU festgeschrieben, was ihre zentrale Bedeutung für die Rechtsunion hervorhebt und ihre Qualifizierung als Strukturprinzip nicht nur der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, sondern der EU selbst aufzeigt.

A. Die Europäische Union als Werteunion Die EU beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass sämtliche Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, zu denen die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte zählen.1 Als präskriptive Grundlage dafür gilt Art. 2 EUV. Das gemeinsame Bekenntnis zu den Unionswerten, vor allem der Rechtsstaatlichkeit,2 „impliziert und rechtfertigt daneben die Existenz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Beachtung des Unionsrechts“.3 Allein die Bindung der Mitgliedstaaten an Art. 2 EUV scheint dabei die Ableitung des Vertrauensgrundsatzes zu rechtfertigen.4 Die dahinter liegende Ratio bilden demnach die (angebliche5) Kongruenz aller nationalen Rechtssysteme und die Einbettung der Unionswerte, deren Achtung im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten liegt, in diese Rechtssysteme.6 In diesem Sinne fungieren die Wertehomogenität7 bzw. die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Rechtsraums 1 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 168 – Beitritt der Union zur EMRK. 2 So auch A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (224). 3 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 168 – Beitritt der Union zur EMRK. 4 P. M. Huber, Der Staat 56 (2017), 389 (404); C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 266, Rn. 406 spricht insoweit von einem „axiologischen Verständnis“ („lecture axiologique“) des Vertrauens. 5 Vgl. aber E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 106 ff. 6 A. von Bogdandy, ELJ 22 (2016), 519 (534); die Annahme, dass alle Mitgliedstaaten die Unionswerte tatsächlich vollumfänglich teilen, stellt eine Utopie dar bzw. entspricht nicht der Realität, so C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 282 ff., Rn. 441 ff., insbesondere S. 308, Rn. 487. 7 Ferner E. Levits, in: T. Jaeger (Hrsg.), Europa 4.0?, 2018, S. 239 (245 ff.); F. Schorkopf,

226

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

als wesentlicher Integrationsmotor der EU8 und rechtfertigen ihre Bezeichnung als Werteunion9 bzw. Werteverbund.10 Bemerkenswert ist allerdings, dass der Zusammenhang zwischen Unionswerten und Vertrauensgrundsatz erst im Jahr 2014 im Gutachten 2/13 des EuGH (explizit11) hergestellt wurde. Der Grund dafür ist einerseits die ursprüngliche Wahrnehmung der EU primär als Wirtschaftsunion und andererseits das Fehlen einer näheren dogmatischen Ausarbeitung des Vertrauensbegriffs durch die Unionsorgane.12 Als Achillesferse des gemeinsamen Wertebekenntnisses des Art. 2 EUV gelten allerdings die vagen Formulierungen der einzelnen Werte und die Uneinigkeit über deren konkreten Inhalt.13 Mangels einer Definition der Unionswerte in den Verträgen fehlt ein klares Einvernehmen unter den Mitgliedstaaten über den Gehalt der Begriffe, sodass diese einen weiten Interpretationsspielraum eröffnen.14 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Werte der nationalen Rechtsordnun-

Homogenität in der EU, 2000, S. 69 ff.; ähnlich M. Nettesheim, EuR 2022, 525 (533 ff.): „Werteföderalismus“ bzw. „föderale Homogenitätsklausel“; T. Rensmann, in: D. Blumenwitz/G. H. Gornig/D. Murswiek (Hrsg.), Die EU als Wertegemeinschaft, 2005, S. 49 (52): „Wertverbundenheit und Wertgebundenheit“. 8 A. von Bogdandy, ELJ 22 (2016), 519 (520); ähnlich C. Calliess, JZ 59 (2004), 1033 (1034 ff.); B. Speer, DÖV 2001, 980 (981 f.). 9 J. P. Terhechte, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 2 EUV, Rn. 1 ff.; vgl. auch den Begriff der „Wertegemeinschaft“ bei A. von Bogdandy, ZaöRV 79 (2019), 503 (512 f.); C. Calliess, JZ 59 (2004), 1033 (1034 ff.); C. Mandry, in: H. Heit (Hrsg.), Die Werte Europas, 2005, S. 284 (285 ff.); T. Rensmann, in: D. Blumenwitz/G. H. Gornig/D. Murswiek (Hrsg.), Die EU als Wertegemeinschaft, 2005, S. 49 (51 ff.); B. Speer, DÖV 2001, 980 (981, 983); A. Voßkuhle, Die Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, 2018, S. 38. Zur Entstehung der Werteunion E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 158 ff.; C. Mandry, Europa als Wertegemeinschaft, 2009, S. 49 ff.; C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 275 ff., Rn. 422 ff.; B. Speer, DÖV 2001, 980 (983 ff.); A. Voßkuhle, Die Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, 2018, S. 19 ff. 10 So bereits C. Calliess, JZ 59 (2004), 1033 (1041 ff.). 11 Vgl. aber bereits Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – Erläuternder Bericht (vom Rat am 26. Mai 1997 gebilligter Text), ABl. EG 1997 Nr. C 191, S. 13: „Die Gründe für diese Änderung liegen […] in den gemeinsamen Werten, den gemeinsamen Rechtstraditionen und dem gegenseitigen Vertrauen in das ordnungsgemäße Funktionieren der Strafgerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“; Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, ABl. EG 2001 Nr. C 12, S. 10: „Dieses Vertrauen beruht insbesondere auf dem gemeinsamen Sockel von Überzeugungen, der durch ihr Eintreten für die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie des Rechtsstaates gebildet wird.“ 12 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 254 f., Rn. 388 ff. 13 Dazu C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 285 ff., Rn. 448 ff. 14 M. Potacs, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159 (161); J. Schwarze/N. Wunderlich, in: J. Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 2 EUV, Rn. 4; vgl. auch A.

A. Die Europäische Union als Werteunion

227

gen, die letztlich den Ausgangspunkt für die Entstehung der europäischen Werte darstellen, sich im jeweils spezifischen, einem eigenartigen historisch-kulturellen Kontext entwickelt haben15 und sich daher als äußerst subjektiv und kontextbezogen erweisen.16 Trotz dieser Rückkoppelung an die nationalen Werte weisen die europäischen Werte seit ihrer primärrechtlichen Verankerung einen eigenen, autonomen Gehalt auf, der sich im Wege einer wertenden Vergleichung der mitgliedstaatlichen Verfassungen konkretisieren lässt.17 Die Werteklausel des Art. 2 EUV ist somit identitätsstiftend, indem sie der EU ihr eigenes Gepräge im Sinne einer unionsrechtlichen Identität18 gibt, und kann insoweit als eine Art unionsrechtlicher Ewigkeitsklausel betrachtet werden.19 Ungeachtet seiner vagen Formulierung enthält Art. 2 EUV keine rein politischen Programmziele, sondern vielmehr rechtsverbindliche Vorgaben mit stabilisierender Ordnungsfunktion.20 Die Unionswerte binden sowohl die EU21 als auch die Mitgliedstaaten,22 weshalb die nationalen Rechtsstrukturen über Art. 51 Abs. 1 GRCh hinaus am Maßstab von Art. 2 EUV messbar sind.23 Eng damit Bobic´, CYELS 22 (2020), 60 (69), laut der die in Art. 2 EUV niedergeschriebene Wertevielfalt den „normativen Kern“ des Verfassungspluralismus darstellt; ähnlich M. Mlynarski, Zur Integration staatlicher und europäischer Verfassungsidentität, 2021, S. 132 ff. 15 C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 13. 16 B. Speer, DÖV 2001, 980 (981); in diesem Sinne auch T. Schmitz, in: D. Blumenwitz/G. H. Gornig/D. Murswiek (Hrsg.), Die EU als Wertegemeinschaft, 2005, S. 73 (84 f.). 17 C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 33 ff.; ferner zur Konkretisierung der Unionswerte im acquis communautaire vgl. T. L. Boekestein, GLJ 23 (2022), 431 (441 ff.). 18 EuGH, Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 127 – Ungarn/Parlament und Rat; Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98, Rn. 145 – Polen/Parlament und Rat; T. L. Boekestein, GLJ 23 (2022), 431 (434); A. Haratsch, EuR 2016, 131 (142 ff.); M. Mlynarski, Zur Integration staatlicher und europäischer Verfassungsidentität, 2021, S. 129 ff.; I. Pernice, AöR 136 (2011), 185 (203); F. Schorkopf, JZ 75 (2020), 477 (480); A. Voßkuhle, Die Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, 2018, S. 27 f.; A. Weber, DÖV 2017, 741 (747); skeptisch C. Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 2010, S. 68 ff.; M. Nettesheim, EuR 2022, 525 (530 ff.). 19 F. Schorkopf, JZ 75 (2020), 477 (482). Zum Demokratieprinzip im Sinne des Art. 2 EUV als Maßstab für eine zukünftige Ausgestaltung der europäischen Vertragsänderungsverfahren vgl. M. Mlynarski, Zur Integration staatlicher und europäischer Verfassungsidentität, 2021, S. 134 ff. 20 A. von Bogdandy, ZaöRV 79 (2019), 503 (522 f.); I. Kanalan/M. Wilhelm/T. Schwander, Der Staat 56 (2017), 193 (194); M. Potacs, EuR 2016, 164 (171); skeptisch hingegen gegenüber der juristischen Bedeutung der Unionswerte C. Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009, S. 218 f.; D. Kochenov, PYIL 33 (2013), 145 (149 ff.); J.-W. Müller, ELJ 21 (2015), 141 (146). 21 Vgl. Art. 3 Abs. 1 EUV und Art. 21 EUV. 22 Vgl. Art. 7 EUV und Art. 49 Abs. 1 EUV. 23 Vgl. EuGH, Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 232 – Ungarn/Parlament und Rat; Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98, Rn. 264 – Polen/Parlament und Rat; J. Brauneck, NVwZ 2018, 1423 (1428); M. Hilf/F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 12a, 18; M. Klamert/D. Kochenov, in:

228

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

verbunden ist die – mittlerweile von der herrschenden Ansicht in der Literatur sowie in der Rechtsprechung bejahte24 – Frage nach der Justiziabilität von Art. 2 EUV. Gegen eben diese Justiziabilität bzw. Verbindlichkeit der Unionswerte auch in klassischen souveränitätsbezogenen mitgliedstaatlichen Bereichen, wie etwa die Gerichtsorganisation, leisten mehrere Mitgliedstaaten Widerstand, die wiederum in den Bereichen, die außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liegen, auf die Durchsetzung ihrer eigenen Werte pochen.25 Dieser Umstand offenbart ein strukturelles Ungleichgewicht in den EU-Verträgen, die einerseits den Unionswerten eine existenzielle Bedeutung für die EU bzw. den Vertrauensgrundsatz beimessen, andererseits aber der EU sehr beschränkte Kompetenzen für die Verteidigung bzw. Durchsetzung von Art. 2 EUV zuschreiben.26

B. Europäische Rechtsstaatlichkeit: Ein über den Wertekatalog hinausgehendes Prinzip Die europäische Rechtsstaatlichkeit27 wird ausdrücklich im Wertekatalog des Art. 2 S. 1 EUV festgeschrieben,28 ihre Achtung gehört gemäß Art. 49 Abs. 1 EUV zu den Voraussetzungen für die Aufnahme eines Staats in die EU.29 Eine

M. Kellerbauer/M. Klamert/J. Tomkin (Hrsg.), EU Treaties: A Commentary, 2019, Art. 2 TEU, Rn. 4. 24 T. L. Boekestein, GLJ 23 (2022), 431 (444 ff.); A. von Bogdandy, CMLRev. 57 (2020), 705 (705, 712, 716 f.); C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 36; M. Hilf/F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 46a; D. Kochenov, HJRL 7 (2015), 153 (165); ders., in: A. Jakab/ders. (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 9 (10 ff.); O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (137); L. D. Spieker, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 237 (244); A. Voßkuhle, NJW 2018, 3154 (3155); ders., Die Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, 2018, S. 27; F. Weber, JZ 77 (2022), 292 (293). Ferner unter 8. Kap., C. I. 1., S. 304 ff. 25 F. Schorkopf, JZ 75 (2020), 477 (483). 26 D. Kochenov, YEL 34 (2015), 74 (79); S. Priebus, JCMS 60 (2022), 1684 (1686 ff.); J. Wouters, EP 5 (2020), 255 (260 f.); vgl. auch T. Giegerich, in: C. Calliess (Hrsg.), Liber Amicorum Stein, 2015, S. 499 (541 f.), nach dem die Mitgliedstaaten einen entsprechenden Zentralisierungsschub zugunsten der EU derzeit politisch nicht wünschen; ferner M. Nettesheim, EuR 2022, 525 (533 ff.), nach dem in den letzten Jahren ein Umbau der inneren Architektur der EU durch die Einführung von soft law-Instrumenten bzw. der Rechtsfortbildung durch den EuGH stattgefunden hat; ähnlich M. Bainczyk, EuR 2022, 647 (649). 27 Englisch: rule of law; Französisch: e´tat de droit; Griechisch: κρα τος δικαι ου. 28 Vgl. C. D. Classen, EuR 2008, Beiheft 3, 7 (7): die Rechtsstaatlichkeit muss sich als eine Grundlage der EU auch in anderen Vertragsbestimmungen wiederfinden; dazu auch M. Payandeh, JZ 61 (2021), 481 (482). 29 Zur europäischen Rechtsstaatlichkeit – i.V.m. dem Gleichheitsprinzip – als verfassungsrechtliche Grundlage der Rechtsdogmatik im EU-Recht vgl. W. Kahl, AöR 144 (2019), 159 (171 ff.).

B. Europäische Rechtsstaatlichkeit

229

Definition des Begriffs ist jedoch in den Verträgen nicht zu finden.30 Auch wenn das Rechtsstaatsprinzip, wie es der Begriff bereits besagt, einen Staat bzw. staatlichen Rahmen voraussetzt, ist anerkannt, dass die EU auf rechtsstaatlichen Prinzipien fußt31 und daher die Rechtsstaatsidee auf die europäische Ebene übertragbar ist.32 Angesichts der unterschiedlichen Entwicklung des Rechtsstaatsprinzips in den Mitgliedstaaten33 ist seine inhaltliche Konkretisierung auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zurückzuführen.34 Das europäische Verständnis der Rechtsstaatlichkeit umfasst dementsprechend die Kernanforderungen, die allen demokratischen Rechtsstaaten gemeinsam sind, und verlangt, dass die staatliche Herrschaftsgewalt in Übereinstimmung mit der Verfassung und den Gesetzen ausgeübt wird und der gerichtlichen Kontrolle durch unabhängige Gerichte unterworfen ist.35 Dieses Verständnis wurde durch den EuGH in seinem grundlegenden Les Verts-Urteil erstmalig zum Ausdruck gebracht,36 weshalb die Europäische Union fortan zu Recht als Rechts-

30

O. Burlyuk, JCMS 53 (2015), 509 (512), dabei handele es sich um eine bewusste Entscheidung, den Begriff der Rechtsstaatlichkeit offenzulassen; ähnlich L. Pech, EuConst 9 (2010), 359 (369); vgl. daneben zu den primärrechtlichen Ausprägungen der europäischen Rechtsstaatlichkeit C. D. Classen, EuR 2008, Beiheft 3, 7 (10). 31 A. von Bogdandy, in: ders./J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, S. 13 (36 f.); J. Masing, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 10, Rn. 91 ff.; V. Skouris, Demokratie und Rechtsstaat, 2018, S. 25 ff.; A. Voßkuhle, NJW 2018, 3154 (3155). 32 A. Nussberger, in: H.-M. Heinig/F. Schorkopf (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz, 2019, S. 191 (193); L. Pech, EuConst 9 (2010), 359 (363 f.). Ein solches begriffliches Problem wohnt dem englischen Terminus „rule of law“ nicht inne, s. D. Nickel, EuR 2017, 663 (664); L. Pech, EuConst 9 (2010), 359 (364). 33 Zum unterschiedlichen Verständnis des Begriffs vgl. E. Levits, in: T. Jaeger (Hrsg.), Europa 4.0?, 2018, S. 239 (252). Zum Vergleich zwischen deutschem und britischem Rechtsverständnis des Rechtsstaatsprinzips N. MacCormick, JZ 39 (1984), 65 (65 ff.) sowie zwischen deutschem, französischem und britischem Rechtsverständnis L. Heuschling, E´tat de droit, Rechtsstaat, Rule of Law, 2002; P. M. Huber, in: H.-M. Heinig/F. Schorkopf (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz, 2019, S. 207 (212); W. Kahl, in: ders./M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. III, 2022, § 66, Rn. 1 ff. 34 Vgl. KOM(2014) 158 endg., S. 2; M. Payandeh, JZ 61 (2021), 481 (484). Die Ermittlung gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen erfordert einen institutionalisierten Dialog mit den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten im Wege eines umgekehrten Vorlageverfahrens, vgl. P. M. Huber, EuR 2022, 145 (162 ff.). 35 A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (288); C. D. Classen, EuR 2008, Beiheft 3, 7 (8 f.); W. Kahl, in: ders./M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. III, 2022, § 66, Rn. 18 ff.; E. Tsourdi, EuConst 17 (2021), 471 (476 ff.); A. Voßkuhle, NJW 2018, 3154 (3154). So auch KOM(2019) 163 endg., S. 1. 36 EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 – Les Verts/Parlament. Kritisch zum EuGH, der die Rechtsstaatlichkeit instrumentalisiert und nur zur Wahrung seiner eigenen Kompetenz sowie des Vorrangs des Unionsrechts benutzt habe, M. Smith, ELJ 25 (2019), 561 (565 ff.).

230

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

gemeinschaft37 bzw. Rechtsunion38 bezeichnet wurde. Die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit binden sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten,39 sind allerdings auf unionaler Ebene schwer durchzusetzen.40 Einen weiteren, konkreteren Einblick in den Inhalt und die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für die europäische Rechtsordnung gewährt die Kommission in ihrer Mitteilung aus dem Jahr 2014 über einen neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips.41 Es ist zwar anerkannt, dass die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsätze und Normen auf nationaler Ebene je nach Verfassungssystem der Mitgliedstaaten unterschiedlich sein können, doch lässt sich eine nicht erschöpfende Auflistung der Grundsätze erstellen, die das Rechtsstaatsprinzip im Kern als gemeinsamen Wert der EU im Sinne des Art. 2 EUV definieren.42 Dazu gehören das Rechtmäßigkeitsprinzip,43 die Rechtssicherheit,44 das Willkürverbot,45 unabhängige und unparteiische Gerichte,46 eine wirksame richterliche Kontrolle,47 die Achtung der Grundrechte48 und die Gleichheit vor dem Gesetz.49 Auch wenn der Wortlaut des Art. 2 EUV auf ein eher engeres

37

Englisch: community based on law. Begriff bereits bei W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33 ff.; so auch A. von Bogdandy, EuConst 14 (2018), 675 (677 f.); C. Calliess, in: ders./W. Kahl/K. Schmalenbach (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der EU, 2014, S. 64 (64 f.); T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (66 f.); F. Mayer, NJW 2017, 3631 (3634 ff.); ders., in: C. Franzius/ders./J. Neyer (Hrsg.), Die Neuerfindung Europas, 2019, S. 111 (113 ff.); L. Pech, EuConst 9 (2010), 359 (359 ff.); E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 44; R. Ullerich, Rechtsstaat und Rechtsgemeinschaft im Europarecht, 2011, S. 174 ff.; A. Voßkuhle, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. III, 2022, § 59, Rn. 1 f. Grundlegend EuGH, Rs. C-583/11 P, ECLI: EU:C:2013:625, Rn. 90, 94 – Inuit Tapiriit Kanatami u.a./Parlament und Rat. Zu den Herausforderungen der Rechtsgemeinschaft E.-J. Mestmäcker, in: P. Behrens/M. Kotzur/K. Lammers (Hrsg.), Sechs Dekaden europäischer Integration, 2015, S. 31 (31 ff.). 38 EuGH, Rs. C-335/09 P, ECLI:EU:C:2012:385, Rn. 48 – Polen/Kommission. 39 M. Payandeh, JZ 61 (2021), 481 (484 f.). 40 D. Kochenov, YEL 34 (2015), 74 (79, 89 ff.); J. P. Terhechte, EuR 2008, 143 (187). S. Simon, AöR 143 (2018), 597 (619), der daher die Europäische Rechtsgemeinschaft als eine Freiwilligkeitsgemeinschaft bezeichnet, welche auf „freiwilliges Mitmachen“ angewiesen ist. 41 KOM(2014) endg. 42 KOM(2014) endg., S. 4; ferner W. Kahl, in: ders./M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. III, 2022, § 66, Rn. 18 ff. 43 EuGH, Rs. C-496/99 P, Slg. 2004, I-03801, Rn. 63 – Kommission/CAS Succhi di Frutta. 44 EuGH, verb. Rs. 42 und 45/59, Slg. 1961, 111, 172 – S.N.U.P.A.T./Hohe Behörde. 45 EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 19 – Hoechst/Kommission. 46 EuGH, verb. Rs. C-174/98 P, Slg. 2000, 1, Rn. 17 – Niederlande und Van der Wal/ Kommission. 47 EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 38 f. – Unio´n de Pequen˜os Agricultores/ Rat. 48 EuGH, Rs. C-550/09, Slg. 2010, I-6213, Rn. 44 – E und F; Rs. C-583/11 P, ECLI:EU:C: 2013:625, Rn. 91 – Inuit Tapiriit Kanatami u.a./Parlament und Rat. 49 EuGH, Rs. C-550/07 P, Slg. 2010, I-8301, Rn. 54 – Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission.

B. Europäische Rechtsstaatlichkeit

231

Begriffsverständnis hindeutet, gehen die Unionsorgane insgesamt von einem weiten, materiellen Verständnis der Rechtsstaatlichkeit aus.50 Der EuGH hat schließlich in seinem ASJP-Urteil51 zur Operationalisierung der europäischen Rechtsstaatlichkeit beigetragen,52 indem er betont hat, dass Art. 19 Abs. 1 EUV eine Konkretisierung des Wertes der in Art. 2 EUV proklamierten Rechtsstaatlichkeit darstellt.53 Das Vorhandensein einer wirksamen, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienenden gerichtlichen Kontrolle sei dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent.54 Diese Anforderung werde nicht durch Art. 51 Abs. 1 GRCh beschränkt, sondern gelte allgemein für alle mitgliedstaatlichen Gerichtssysteme, soweit diese in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen tätig sind und über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts entscheiden müssen.55 Zur Gewährleistung des in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV geregelten wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes müsse zudem die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte sichergestellt werden.56 Dabei ist anzumerken, dass das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit zugleich zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren (Art. 47 Abs. 2 GRCh) gehört, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird.57 Daraus folgt, dass die Ausgestaltung der nationalen Gerichtssysteme und die Unabhängigkeitsanforderungen nunmehr nach Maßgabe des Unionsrechts auf den Prüf50

Vgl. auch A. Magen, JCMS 54 (2016), 1050 (1053 f.); M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1090 ff.). Zum formellen bzw. substantiellen Verständnis der Rechtsstaatlichkeit vgl. G. Barrett, EuR 2018, Beiheft 1, 23 (33 f.); P. Craig, Public Law 3 (1997), 467 (467 f.); O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (152). 51 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 – Associac¸a˜o Sindical dos Juı´zes Portugueses (ASJP). 52 Vgl. F. Schorkopf, JZ 75 (2020), 477 (480), laut welchem der EuGH die Rechtsstaatlichkeit „in eine juristisch subsumptionsfähige und durchsetzbare Norm transformiert“ hat. 53 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 32 – ASJP; dazu näher unter 6. Kap., D. II., S. 240 ff. Ähnlich wird der in Art. 2 EUV genannte Wert der Demokratie durch Art. 10 Abs. 1 EUV konkretisiert, wonach die Arbeitsweise der Union auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie beruht, vgl. EuGH, Rs. C-502/19, ECLI:EU:C:2019:1115, Rn. 63 – Junqueras Vies; Rs. C-418/18 P, ECLI:EU:C:2019:1113, Rn. 64 – Puppinck u. a./Kommission; Rs. C-718/18, ECLI:EU:C:2021:662, Rn. 124 – Kommission/Deutschland (Transposition des directives 2009/72 et 2009/73); vgl. darüber hinaus zur Konkretisierung des Wertes der Demokratie im Sinne des Art. 2 EUV EuGH, Rs. C-518/07, ECLI:EU:C:2010:125, Rn. 40 ff. – Kommission/Deutschland. 54 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 36 – ASJP. 55 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 29, 33 ff. – ASJP; dazu auch M. Bonelli/M. Claes, EuConst 14 (2018), 622 (630 ff.); L. Pech/S. Platon, CMLRev. 55 (2018), 1827 (1832 ff.). 56 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 41 ff. – ASJP. 57 Grundlegend EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 48 – Minister for Justice and Equality (LM); vgl. auch A. von Bogdandy, in: ders./J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, S. 13 (62).

232

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

stand gestellt werden können.58 Der Rechtsstaatlichkeit kommt insoweit sowohl eine objektiv-rechtliche als auch eine subjektiv-rechtliche Dimension zu.

I. Zusammenhang zwischen Rechtsstaatlichkeit und Vertrauen Obwohl die Achtung aller Unionswerte das Fundament des Vertrauensgrundsatzes bildet und Art. 2 EUV keine Rangordnung der Werte zu entnehmen ist,59 besteht ein enger Zusammenhang insbesondere zwischen dem Wert der Rechtsstaatlichkeit und dem Vertrauensgrundsatz.60 Versteht man dabei das Rechtsstaatsprinzip als eine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der Werte der Demokratie und der Grundrechte, so spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass, wenn die Rechtsstaatlichkeit gewahrt wird, alle in Art. 2 EUV geschützten Grundwerte beachtet werden61 und dementsprechend vom Vertrauensgrundsatz umfasst sind. Denn die Rechtsstaatlichkeit steht insofern in einer substantiellen bzw. „organischen“ Verbindung zu den anderen Werten des Art. 2 EUV, als sich ihre Achtung als maßgeblich für die Sicherstellung der anderen Werte erweist.62 Über das Verhältnis von Vertrauen und Recht hinaus, welches sich durch eine wechselseitige Bedingtheit auszeichnet,63 hängt die Durchsetzung des Unionsrechts aufgrund der aus kompetenzrechtlichen Gründen sehr beschränkten Durchsetzungs- bzw. Sanktionsmechanismen der EU davon ab, wie dem Vorrang des Unionsrechts in jedem Mitgliedstaat Geltung verschafft wird.64 Das 58

Insofern ist die Organisation der Gerichtsbarkeit „keine rein nationale Kompetenz“ L. Pech/K. L. Scheppele, Is the Organisation of National Judiciaries a Purely Internal Competence?, VerfBlog vom 04. März 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/is-the-organisation-of-national-judiciaries-a-purely-internal-competence/. Ferner dazu unten unter 6. Kap., D., S. 238 ff. 59 M. Hilf/F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 48; E. Levits, in: T. Jaeger (Hrsg.), Europa 4.0?, 2018, S. 239 (247). 60 Ähnlich W. Kahl, in: ders./M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. III, 2022, § 66, Rn. 66; K. Lenaerts, YEL 38 (2019), 3 (7). 61 Vgl. auch die Pressemitteilung IP/14/237 der Kommission vom 11. März 2014; S. Schmahl, in: C. Calliess (Hrsg.), Liber Amicorum Stein, 2015, S. 834 (839), die dabei direkten Bezug auf den Anerkennungsgrundsatz nimmt; vgl. auch O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (142), der das Rechtsstaatsprinzip in Bezug auf die anderen Werte des Art. 2 EUV als Oberbegriff („umbrella principle“) bezeichnet; ähnlich A. Voßkuhle, Die Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, 2018, S. 33. Eine Priorisierung der Rechtsstaatlichkeit nimmt die Kommission vor, KOM(2018) 324 endg., Erwägungsgr. 3; skeptisch dazu F. Schorkopf, EuR 2016, 147 (158 ff.): dieses Denken lenke die Aufmerksamkeit weg von der weiterhin prekären demokratischen Legitimation des hoheitlichen Handelns der Europäischen Union. 62 L. Pech, EuConst 9 (2010), 359 (368). Vgl. auch KOM(2014) endg., S. 5; explizit Erwägungsgr. 6 und Art. 2 a) Verordnung (EU, Euratom) Nr. 2020/2092, ABl. EU 2020 Nr. L 433I, S. 1. 63 Dazu oben unter 4. Kap., B., S. 173 ff. 64 Ähnlich A. von Bogdandy, in: S. Kadelbach (Hrsg.), Verfassungskrisen in der EU, 2018, S. 23 (34).

B. Europäische Rechtsstaatlichkeit

233

Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit aller nationalen Rechtsordnungen stellt demzufolge eine conditio sine qua non für die Fortentwicklung der EU zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen dar.65 Zugleich begründet der Vertrauensgrundsatz die widerlegbare Vermutung der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, sodass beide Begriffe im Endeffekt inhaltlich wie rechtlich unauflöslich miteinander verbunden sind. Daraus folgt, dass die Wahrung rechtsstaatlicher Anforderungen durch die Mitgliedstaaten eine unerlässliche Funktionsbedingung für den Vertrauensgrundsatz darstellt.66

II. Das Kopenhagener Kriterium der Rechtsstaatlichkeit im Beitrittsverfahren Die grundlegende Bedeutung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit und die damit verbundene verfassungsstrukturelle Stabilität eines Beitrittskandidaten hat der Europäische Rat von Kopenhagen im Jahre 1993 hervorgehoben und dabei klargestellt, dass die Kandidatenländer „als Voraussetzung für die Mitgliedschaft […] eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung […] verwirklicht haben [müssen]“ (sog. Kopenhagener Kriterien).67 Die Kommission wird dazu angehalten, angesichts neuer Erweiterungen der EU schon vor den eigentlichen Beitrittsverhandlungen konkrete Maßnahmen zur Sicherstellung der EU-Standards einzufordern. So hat sie zum Beispiel in ihrer Heranführungsstrategie zum Beitritt Bulgariens und Rumäniens eine Justizreform zur Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit und der Effektivität der Gerichte verlangt.68 Heute steht die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit samt der Unabhängigkeit bzw. Unparteilichkeit der Richter im Mittelpunkt der Erweiterungspolitik der EU,69 wobei in dieser Hinsicht zusätzliche Verpflichtungen in die dem Beitritt vorausgehenden Assoziierungsabkommen aufgenommen werden können.70 65

Vgl. auch KOM(2014) endg., S. 2; A. von Bogdandy, in: S. Kadelbach (Hrsg.), Verfassungskrisen in der EU, 2018, S. 23 (33). 66 So auch M. Payandeh, JZ 61 (2021), 481 (489); D. Reynders, RuP 57 (2021), 1 (1). 67 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Kopenhagen vom 21./22. Juni 1993, S. 13; vgl. auch EuGH, Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 104 – Getin Noble Bank. Zu den weiteren Kopenhagener Kriterien gehören eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten, sowie die Fähigkeit, die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu erfüllen, einschließlich der Fähigkeit, die zum EU-Recht (dem „Besitzstand“) gehörenden gemeinsamen Vorschriften, Normen und politischen Strategien wirksam umzusetzen, sowie die Übernahme der Ziele der politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion. 68 ΚOM(2006) 649 endg., S. 5, 22 ff. 69 KOM(2018) 65 endg., S. 3 ff., 10, 17; KOM(2018) 450 endg., S. 2. 70 T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (78). Insgesamt wird allerdings die Heranführungsstrategie der Kommission dem Ziel der Werteförderung unzureichend gerecht, vgl. J. Wouters, EP 5 (2020), 255 (263 ff.); ähnlich C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 328 f., Rn. 523.

234

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

Auch die Beitrittsverhandlungen gemäß Art. 49 EUV sind in 35 Kapitel aufgeteilt, welche die verschiedenen sachlichen Politikbereiche der Union und den dazu ergangenen acquis enthalten. Dieses sog. Screening erlaubt es festzustellen, in welchem Umfang der Beitrittsstaat seine Rechtsordnung noch an das Unionsrecht anpassen muss.71 Dieses Verfahren wird von der Kommission in Zusammenarbeit mit dem Beitrittsstaat wahrgenommen und dient dazu, die Hauptprobleme in den Verhandlungskapiteln rechtzeitig zu identifizieren. Von den 35 Kapiteln ist Kapitel 23, welches der unabhängigen, unparteilichen und integren Gerichtsbarkeit für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit große Bedeutung beimisst, dem Bereich „Justiz und Grundrechte“ gewidmet.72 Die Kommission räumt nunmehr diesem Kapitel Vorrang ein und stellt die Beitrittsverhandlungen solange ein, bis der Beitrittskandidat alle rechtsstaatlichen Mängel beseitigt hat.73 Darüber hinaus ist auf das gezielt gegen Bulgarien und Rumänien eingeleitete Kooperations- und Kontrollverfahren (CVM74) hinzuweisen, das die Kommission für den Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt dieser Länder eingerichtet hat.75 Die Kommission kann in diesem Rahmen Maßnahmen zur Behebung bestehender Unzulänglichkeiten unter anderem im Bereich der erforderlichen Justizreformen treffen und die Fortschritte durch den Erlass von Berichten regelmäßig überprüfen.76 Diese Maßnahmen können auch über den festgelegten Drei-Jahres-Zeitraum hinaus aufrechterhalten werden, solange die Unzulänglichkeiten fortbestehen, bis alle Verpflichtungen seitens beider Länder erfüllt werden. Die im CVM niedergelegten Vorgaben sind für beide Länder verbindlich, sodass diese gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV der besonderen Verpflichtung unterliegen, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu er-

71 W. Meng, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 49 EUV, Rn. 33; C. Ohler, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 49 EUV, Rn. 32. 72 Vgl. European Commission, Chapters of the acquis, abrufbar unter https://neighbourho od-enlargement.ec.europa.eu/enlargement-policy/conditions-membership/chapters-acquis en. 73 J. Sˇelih/I. Bond/C. Dolan, Centre for European Reform 2017, 1 (8). 74 Control and Verification Mechanism. 75 Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung, ABl. EU 2006 Nr. L 354, S. 56; Art. 37 f. Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht, ABl. EG 2005 Nr. L 157, S. 203. Vgl. dazu auch A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (313 ff.); die Effektivität des CVM wird kritisch hinterfragt, vgl. M. A. Vachudova/A. Spendzharova, EPA 1 (2012), 1 (3 ff.); R. Vassileva, EPL 26 (2020), 741 (748 ff., 759). 76 Die Berichte der Kommission sind dahingehend zu bemängeln, dass sie die rechtsstaatlich bedenklichen Entwicklungen in Bulgarien und Rumänien herunterspielen, vgl. R. Vassileva, EPL 26 (2020), 741 (752 ff., 760).

B. Europäische Rechtsstaatlichkeit

235

greifen bzw. von der Durchführung aller Maßnahmen abzusehen, die die Erreichung dieser Vorgaben gefährden könnten.77 In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich die Frage, inwieweit die Erfüllung der Beitrittsvoraussetzungen und insbesondere der Rechtsstaatlichkeit gerichtlich überprüft bzw. durchgesetzt werden kann.78 Zunächst obliegt die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des Art. 2 EUV i.V.m. Art. 49 EUV erfüllt sind, nach Art. 49 Abs. 1 S. 3 EUV allein dem Rat. Sobald dieser einstimmig den formellen Abschluss der Verhandlungen und die Annahme des Aufnahmevertrags beschlossen hat, können bzw. müssen die Mitgliedstaaten den Beitrittsvertrag ratifizieren.79 Dabei wäre es denkbar, dass der EuGH im Wege der Nichtigkeitsklage (vgl. Art. 263 AEUV) angerufen wird, um neben der Achtung der Verfahrensvorgaben80 die tatsächliche Einhaltung der materiellen Beitrittsvoraussetzungen auf den Prüfstand zu stellen.81 Angriffsgegenstand wäre dabei der einstimmige Ratsbeschluss gemäß Art. 49 Abs. 1 S. 3 EUV als Sekundärrechtsakt, nicht hingegen der Beitrittsvertrag zwischen den Mitgliedstaaten, der nach seinem Inkrafttreten dem Primärrecht angehört und daher der gerichtlichen Kontrolle durch den EuGH entzogen ist.82 Als Prüfungsmaßstab wäre in einem solchen Fall Art. 2 EUV i.V.m. Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV heranzuziehen. Danach könnte festgestellt werden, inwieweit der Rat die Achtung und Weiterförderung der Grundwerte des Art. 2 EUV durch das Kandidatenland zu Unrecht als gegeben angenommen hat. Die Kontrolldichte wäre allerdings gering und müsste sich angesichts des dem Rat zukommenden erheblichen Ermessensspielraums auf die Kontrolle der Verletzung der äußersten Ermessensgrenzen im Sinne einer „krassen Fehlbeurteilung“ beschränken.83 Von den in Art. 263 Abs. 2 AEUV auf77 EuGH, verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 172 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“. Der rumänische Verfassungsgerichtshof lehnt die Verbindlichkeit der Vorgaben des CVM allerdings ab, vgl. Urteile vom 23.01.2018 – 33/2018 und vom 13.03.2019 – 137/2019; die beabsichtigte Nichtbefolgung der EuGH-Urteile stellt eine ernsthafte Bedrohung der Rechtsgemeinschaft dar, so N. Wunderlich, EuR 2019, 557 (570). 78 Der EuGH darf das Vorliegen der rechtlichen Bedingungen für den Beitritt eines Staats nicht vorab prüfen, vgl. EuGH, Rs. 93/78, Slg. 1978, 2203, Rn. 8 – Mattheus/Doego. So auch M. Pechstein, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 49 EUV, Rn. 15. 79 Vgl. Art. 49 Abs. 2 EUV. 80 W. Meng, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 49 EUV, Rn. 37. 81 T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (80 f.); J. P. Terhechte, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 49 EUV, Rn. 35; a.A. W. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 49 EUV, Rn. 13, wonach die Mitwirkungsakte der Organe lediglich vorbereitender Natur seien; ähnlich M. Pechstein, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 49 EUV, Rn. 15. 82 EuGH, verb. Rs. 31 und 35/86, Slg. 1988, 2285, Rn. 9 ff. – LAISA/Rat; T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (81), wonach der EuGH die Durchführung des Ratsbeschlusses nach Art. 278 AEUV aussetzen und somit die Unterzeichnung bzw. Ratifikation des Beitritts durch die Mitgliedstaaten mittelbar verhindern könne. 83 T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (81).

236

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

geführten Klageberechtigten ist es am wahrscheinlichsten, dass die Kommission und nicht der Rat oder das Parlament, welche am Erlass des Ratsbeschlusses aktiv beteiligt sind, eine Klage vor dem EuGH erheben würde, wenn zum Beispiel die von ihr im Rahmen ihrer Anhörung geäußerten Einwände vom Rat und Parlament nicht gebührend berücksichtigt würden. Eine solche Konstellation, in der der EuGH die Erfüllung der materiellen Voraussetzungen des Art. 2 EUV im Rahmen des Beitrittsverfahrens nachprüfen könnte, würde zur tatsächlichen Durchsetzung der Grundwerte bzw. der Rechtsstaatlichkeit beitragen sowie ein solides Fundament für den Vertrauensgrundsatz schaffen.

C. Rückschrittsverbot Obwohl die Union im Rahmen ihrer Erweiterungspolitik über gewisse Kontrollinstrumente verfügt, um die Erfüllung der sog. Kopenhagener Kriterien durch den Beitrittskandidaten überprüfen zu können, fehlt ihr nach dem Beitritt die Kompetenz, bei etwaigen Rückschritten tätig zu werden. Dieses Phänomen wird als „Kopenhagen-Dilemma“84 bezeichnet und unterstreicht die paradoxe Tatsache, dass die Heranführungskonditionalität in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit und die richterliche Unabhängigkeit vor dem Beitritt etwaige Rückfälle nach dem Beitritt nicht zu verhindern vermag. Insoweit ist die Einhaltung der Grundwerte des Art. 2 EUV in Bezug auf die Beitrittskandidaten kontrollierbar bzw. durchsetzbar, in Bezug auf die Mitglieder der EU hingegen nicht. Der EuGH hat jedoch, aufbauend auf seiner bisherigen Rechtsprechung zur richterlichen Unabhängigkeit,85 kürzlich den Weg für die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der Beitrittskriterien des Art. 49 EUV und somit der Grundwerte des Art. 2 EUV eröffnet. In der Rechtssache Repubblika,86 die auf den ersten Blick die Vereinbarkeit des maltesischen Gerichtssystems mit Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV betrifft, führte er aus einer Gesamtschau aus Art. 2 und 49 EUV ein Rückschrittsverbot („non-regression principle“) in Bezug auf die Grundwerte des Art. 2 EUV und insbesondere die Rechtsstaatlichkeit ein.87 Zunächst verweist der EuGH auf Art. 49 EUV, wonach die Union aus Staaten bestehe, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen.88 Dabei hebt er die Bedeutung

84

Vgl. die Rede von Viviane Reding, Safeguarding the rule of law and solving the „Copenhagen dilemma“: Towards a new EU-mechanism, vom 22.04.2013; T. Giegerich, in: C. Calliess (Hrsg.), Liber Amicorum Stein, 2015, S. 499 (523); kritisch gegenüber dem Begriff und ihn als „Anachronismus“ bezeichnend F. Schorkopf, EuR 2016, 147 (149). 85 Dazu gleich unter 6. Kap., D., S. 238 ff. 86 EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311 – Repubblika. 87 Anders P. Pohjankoski, CMLRev. 58 (2021), 1341 (1348), der das Rückschrittsverbot nur aus Art. 49 EUV ableitet. 88 EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 61 – Repubblika.

C. Rückschrittsverbot

237

von Art. 2 EUV für die Verwirklichung des Vertrauensgrundsatzes sowie für den Genuss aller Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge ergeben, hervor.89 Aus diesen Ausführungen folgt, dass die Mitgliedstaaten ihre Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern dürfen, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 Abs. 1 EUV konkretisiert wird. Das Rückschrittsverbot verpflichtet somit die Mitgliedstaaten, jeden nach Maßgabe dieses Wertes eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz zu vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden.90 Das im Repubblika-Urteil eingeführte Rückschrittsverbot gebietet die Gewährleistung eines Mindeststandards für den Schutz der Unionsgrundwerte insgesamt und nicht nur der Rechtsstaatlichkeit. Durch die Auferlegung einer Unterlassungspflicht für die Mitgliedstaaten ermöglicht der EuGH die gerichtliche Kontrolle bzw. die Durchsetzbarkeit der Unionswerte auch nach dem Beitrittszeitpunkt.91 Denn die Achtung der Unionswerte dürfe nicht „auf eine Verpflichtung reduziert werden, der ein Beitrittskandidat im Hinblick auf seinen Beitritt zur Union unterläge und der er danach wieder entsagen könnte“.92 Vielmehr muss die EU in der Lage sein, die Unionswerte im Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben zu verteidigen.93 Insoweit bemüht sich der EuGH, den Respekt der Unionswerte durch die Beitrittskandidaten auch nach deren Beitritt zu kompensieren und den Diskurs über das „Kopenhagen-Dilemma“ abzuschwächen. Insbesondere die Rechtsstaatlichkeit ist als Unionswert über das ihr innewohnende Unabhängigkeitserfordernis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV hinaus mittels der Kontrolle am Maßstab des Rückschrittsverbots auch für Mitgliedstaaten und nicht nur Beitrittskandidaten durchsetzbar.

89

EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 62 f. – Repubblika. EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 64 – Repubblika; bestätigt in EuGH, Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 51 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI: EU:C:2021:393, Rn. 172 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“. 91 So auch A. Łazowski, CMLRev. 59 (2022), 1803 (1814); M. Leloup/D. Kochenov/ D. Aleksejs, ELRev. 46 (2021), 692 (697 ff.); eine kritische Würdigung des Rückschrittsverbots bietet J. Scholtes, EuConst 19 (2023), 59 (68 ff.). 92 EuGH, Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 126 – Polen/Parlament und Rat; Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98, Rn. 144 – Ungarn/Parlament und Rat. 93 EuGH, Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 126 – Polen/Parlament und Rat; Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98, Rn. 144 – Ungarn/Parlament und Rat; so auch V. Borger, CMLRev. 59 (2022), 1771 (1798 ff.). 90

238

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung und Grenze der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in jedem demokratischen Rechtsstaat aufgrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung geboten.94 In der EU wird diese Unabhängigkeit für die Unionsgerichte in Art. 19 Abs. 2 UAbs. 3 S. 1 EUV explizit verankert,95 für die nationalen Gerichte folgt die richterliche Unabhängigkeit hingegen aus der europäischen Rechtsstaatlichkeit und der Bezeichnung der EU als Rechtsunion sowie aus grundrechtlicher Perspektive aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV i.V.m. Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh. Die Sicherstellung der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte liegt im Interesse der gesamten Union. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die nationalen Gerichte eine außerordentliche Rolle für die Durchsetzung des Unionsrechts insgesamt und konkret im RFSR spielen, wenn ihre Entscheidungen extraterritoriale Wirkung entfalten und über die nationalen Grenzen hinaus in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden (müssen). Wie zu zeigen sein wird, deuten die jüngsten Entwicklungen bezüglich der richterlichen Unabhängigkeit auf eine „Prozeduralisierung“ des Vertrauensgrundsatzes hin,96 indem diese nunmehr als Gelingensvoraussetzung und Funktionsbedingung für seine Funktionsweise, vor allem im RFSR, gilt.97

I. Unabhängigkeit der Gerichte als konstituierender Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit Die Unionsgerichte (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV) sind zusammen mit den nationalen Gerichten (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV) mit der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes beauftragt,98 was eigentlich dem Wesen einer Rechtsordnung inhärent ist.99 Im europäischen Integrationsprozess wird deshalb insbesondere den nationalen Gerichten als funktionalen Unionsgerichten100 eine 94 Vgl. EuGH, Rs. C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858, Rn. 35 – Poltorak; verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 124 – A.K.; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 118 – A.B. u.a.; verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 228 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 54 – Repubblika; A. Voßkuhle, NJW 2018, 3154 (3154). 95 Vgl. auch Art. 252 Abs. 2, 253 Abs. 1 und 254 Abs. 2 AEUV. 96 C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 576 ff., Rn. 1046 ff. 97 R. Bustos Gisbert, EuConst 18 (2022), 591 (597). 98 Der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes gehört zum veränderungsfesten Kern des Primärrechts, so V. Röben, HJRL 12 (2020), 29 (58 f.); ähnlich A. Östlund, ELRev. 47 (2022), 175 (176). 99 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 36 – ASJP. Zur demokratischen Verantwortlichkeit der Justiz A. Sanders/L. von Danwitz, GLJ 19 (2018), 769 (804 ff.); A. SeibertFohr, JRP 2012, 161 (166 f.). 100 EuGH, Gutachten 1/09, Slg. 2011, I-1137, Rn. 80 – Schaffung eines einheitlichen Pa-

D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung

239

erhebliche Bedeutung beigemessen, zumal sie an erster Stelle zur Durchsetzung des Unionsrechts aufgerufen sind, wenn die Unionsbürger durch nationale Maßnahmen im Rahmen des dezentralen Vollzugs101 in ihren aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten bzw. Freiheiten verletzt werden. Natürliche und juristische Personen sind in einem solchen Fall – ungeachtet dessen, ob die Voraussetzungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV für eine Direktklage beim EuGH erfüllt sind – grundsätzlich auf den nationalen Rechtsweg verwiesen.102 Darüber hinaus müssen die nationalen Gerichte die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts sicherstellen und dem Loyalitätsgrundsatz folgend für die einheitliche und unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts Sorge tragen sowie gegebenenfalls jede dem Unionsrecht entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen.103 In diesem Zusammenhang ist das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 267 AEUV und der damit verbundene gerichtliche Dialog mit dem EuGH für die Sicherstellung der einheitlichen Auslegung bzw. Anwendung des Unionsrechts und dadurch der Achtung der Rechtsstaatlichkeit von entscheidender Bedeutung.104 Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit wird in Art. 2 EUV nicht erwähnt, er hat jedoch nach dem grundlegenden ASJP-Urteil105 des EuGH eine neue, primärrechtliche Dimension erlangt. Der EuGH hat nämlich zur Operationalisierung der europäischen Rechtsstaatlichkeit beigetragen, indem er in Art. 19 Abs. 1 EUV die Konkretisierung des Wertes der in Art. 2 EUV proklamierten Rechtsstaatlichkeit erblickt,106 und dabei die gerichtliche Kontrolle der nationalen Gerichtssysteme am Maßstab von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bejaht. Art. 2 EUV zieht dabei den nationalen Verfassungsstrukturen im Sinne des Rückschrittsverbots lediglich die äußersten Grenzen107 und kann unter Berück-

tentgerichtssystems; T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (69); P. M. Huber, Der Staat 56 (2017), 389 (403); K. Lenaerts, YEL 38 (2019), 3 (6); R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV, Rn. 61. 101 Vgl. Art. 197 AEUV. 102 T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (69 f.): diese Einbeziehung nationaler Gerichte für die effektive Durchsetzung des Unionsrechts gegenüber den mitgliedstaatlichen Exekutiven und Legislativen bricht die nationale Souveränität auf. 103 W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 142; W. Obwexer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 16 ff.; S. Schill/C. Krenn, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 66, 110; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV, Rn. 64. 104 S. aber P. M. Huber, Der Staat 56 (2017), 389 (403), wonach aus dem Vorabentscheidungsverfahren keine hierarchische Überordnung des EuGH gegenüber nationalen Gerichten folge. Ferner zum Vorabentscheidungsverfahren im Rahmen der Rechtsstaatlichkeitskrise unter 8. Kap., C. II., S. 318 ff. 105 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 – ASJP. 106 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 32 – ASJP. Zur gerichtlichen Durchsetzung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit P. Zinonos, EPL 27 (2021), 383 (387 ff.). 107 T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (73).

240

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

sichtigung von Art. 4 Abs. 2 EUV108 nicht dahingehend ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten ein konkretes Justizmodell vorschreibt.109 Jedoch ist das Unabhängigkeitserfordernis für die nationalen Gerichte nichts Neues. Es ist bereits durch Art. 47 GRCh grundrechtlich abgesichert und für die Mitgliedstaaten verbindlich, soweit diese Unionsrecht durchführen (Art. 51 Abs. 1 GRCh).110 Mittlerweile hat der EuGH die Unabhängigkeitsgarantie dem Wesensgehalt des in Art. 47 Abs. 2 GRCh verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren zugeordnet,111 was impliziert, dass jede Einschränkung dieses Grundrechts im Sinne einer Untergrabung der richterlichen Unabhängigkeit durch nationale Maßnahmen dem Verbot der Missachtung des Wesensgehalts nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh zuwiderlaufen würde und daher ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund stellt die Verletzung des Unabhängigkeitserfordernisses in den nationalen Gerichtssystemen einen grundlegenden Riss in den Rechtsstaatlichkeitsanforderungen des Art. 2 EUV und somit im Vertrauensfundament dar.

II. Das bahnbrechende ASJP-Urteil Das ASJP-Urteil bildet den Wendepunkt in Bezug auf die gerichtliche Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit, indem der EuGH die richterliche Unabhängigkeit als Kern der europäischen Rechtsstaatlichkeit qualifiziert und somit den rechtlichen Weg dafür bereitet hat, die mitgliedstaatlichen Gerichtssysteme am Maßstab von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zu prüfen.112 Hintergrund für die Herangehensweise des EuGH waren die Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen und der

108 Zum Spannungsverhältnis zwischen Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 EUV vgl. T. Giegerich, in: C. Calliess (Hrsg.), Liber Amicorum Stein, 2015, S. 499 (511 f.). 109 EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C: 2021:1034, Rn. 229 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 43 – RS. 110 Vgl. dazu auch die frühere EuGH-Rechtsprechung, die den Begriff der Unabhängigkeit als dem Auftrag des Richters innewohnend betrachtet hat, EuGH, Rs. C-24/92, Slg. 1993, I-1277, Rn. 15 – Corbiau; ausdrücklich in der Rs. C-506/04, Slg. 2006 I, 8613, Rn. 49 – Wilson. 111 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 63 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI: EU:C:2021:393, Rn. 195 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 39 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 94 – Getin Noble Bank. 112 Der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes hat auch vor seiner Kodifizierung durch den Lissabon-Vertrag in Art. 19 Abs. 1 EUV der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie äußere Grenzen gesetzt, sodass das ASJP-Urteil kein Beispiel für einen juristischen Aktivismus darstellt, so R. O’Neill, ELJ 28 (2022), 240 (244 ff.). Zur richterlichen Unabhängigkeit als Begriff des europäischen Rechts vgl. auch R. Bustos Gisberg, EuConst 18 (2022), 591 (592 ff.); B. Smulders, CMLRev. 59 (2022), 105 (109 ff.), der eine Annäherung der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR erkennt.

D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung

241

Misserfolg des politischen Dialogs, diese zu bewältigen. Das Urteil erging im Rahmen einer Klage, die von der Gewerkschaft „ASJP“ der portugiesischen Richter im Namen des portugiesischen Rechnungshofs gegen die vorübergehende Kürzung der Bezüge der Richter auf Grundlage der haushaltspolitischen Leitlinien des portugiesischen Staats erhoben wurde. Die ASJP machte dabei geltend, die Kürzung der Bezüge verstoße gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der nicht nur in der portugiesischen Verfassung, sondern auch im Unionsrecht verankert sei. Auch wenn die portugiesischen Maßnahmen im Ergebnis zwar als unionsrechtskonform beurteilt wurden, widmete sich der EuGH in seinen Erwägungsgründen intensiv der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. Zunächst weist der EuGH auf den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV hin und betont, dass dieser in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen Anwendung findet. Insoweit komme es nicht darauf an, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRCh durchführen.113 Darüber hinaus übertrage Art. 19 Abs. 1 EUV, der eine Konkretisierung des in Art. 2 EUV proklamierten Wertes der Rechtsstaatlichkeit darstelle, die der Rechtsunion entsprechenden Rechtswahrungs- und Rechtsschutzaufgaben dem EuGH zusammen mit den nationalen Gerichten.114 Demnach sei das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle Kernbestandteil des Rechtsstaats, weshalb jeder Mitgliedstaat für die Einrichtung von unabhängigen Gerichten zu sorgen habe.115 Darüber hinaus führt der EuGH eine neue Rechtsformel ein, die besagt, dass, soweit eine nationale Stelle als „Gericht“ über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat, der betreffende Mitgliedstaat dafür zu sorgen hat, dass die Einrichtung im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet.116 Hierfür sei die Unabhängigkeit der Gerichte eine unabdingbare Voraussetzung und dem Auftrag des Richters inhärent – wie auch Art. 47 Abs. 2 GRCh bestätige117 – sowie eine wesentliche Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit insgesamt und insbesondere für den Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV.118 Sodann führt der EuGH unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung im Rahmen der Auslegung von Art. 267 AEUV die wesentlichen Garantien für die richterliche Unabhängigkeit auf: Der Begriff der Unabhängigkeit setze dementsprechend ers-

113

EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 29 – ASJP. EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 31 f. – ASJP. 115 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 36 f. – ASJP. 116 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 40 – ASJP; anders Schlussanträge GA Saugmandsgaard Øe, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2017:395, Rn. 67 – ASJP. 117 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 41 f. – ASJP; verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 120 – A.K. 118 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 43 – ASJP. 114

242

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

tens voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von anderen Stellen Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten (das Außenverhältnis betreffender Aspekt); zweitens müsse die betreffende Einrichtung vor Interventionen bzw. Druck von außen geschützt werden, welche die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (das Innenverhältnis betreffender Aspekt). Schließlich müssten die Nichtabsetzbarkeit der Mitglieder der betreffenden Einrichtung sowie eine entsprechende Vergütung garantiert sein.119 Vor diesem Hintergrund ist für die Anwendbarkeit des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV maßgeblich, dass ein nationales Gericht möglicherweise über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat120 und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRCh handelt.121 Daraus folgt, dass Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV einen weiteren Anwendungsbereich aufweist als Art. 47 Abs. 2 i.V.m. Art. 51 Abs. 1 GRCh.122 Dabei lässt der EuGH die Frage bewusst offen, ob weitere Voraussetzungen neben der richterlichen Unabhängigkeit für die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV abzuleiten sind, und behält sich somit die Kompetenz vor, sich in späteren Urteilen über den genauen normativen Gehalt der Vorschrift zu äußern.123 Insgesamt lässt sich feststellen, dass das ASJP-Urteil den ersten Baustein zur Bekämpfung der Rechtsstaatlichkeitskrise gelegt hat.

119

EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 44 f. – ASJP. Das lässt sich deutlicher aus der englischen Fassung ablesen: „Consequently, to the extent that the Tribunal de Contas (Court of Auditors) may rule, as a ,court or tribunal‘, within the meaning referred to in paragraph 38 above, on questions concerning the application or interpretation of EU law, which it is for the referring court to verify, the Member State concerned must ensure that that court meets the requirements essential to effective judicial protection, in accordance with the second subparagraph of Article 19(1) TEU“ (Hervorhebung durch Verfasserin). 121 Dafür plädiert bereits C. Hillion, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 58 (70 f.). 122 T. von Danwitz, PELJ 21 (2018), 1 (13 f.); P. van Elsuwege/F. Gremmelprez, EuConst 16 (2020), 8 (27 f.); T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (76); M. Klamert/B. Schima, in: M. Kellerbauer/M. Klamert/J. Tomkin (Hrsg.), EU Treaties: A Commentary, 2019, Art. 2 TEU, Rn. 25; K. Lenaerts, YEL 38 (2019), 3 (5); E. Levits, in: T. Jaeger (Hrsg.), Europa 4.0?, 2018, S. 239 (268); L. Pech/S. Platon, CMLRev. 55 (2018), 1827 (1837); P. Pohjankoski, CMLRev. 58 (2021), 1341 (1347); M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1096 f.); A. Torres Pe´rez, CYELS 22 (2020), 279 (293 f.). Ferner s. 8. Kap., C. I. 3 b), S. 309 ff. 123 Zur Frage, ob der EuGH als glaubwürdiger Garant des Unabhängigkeitserfordernisses anzusehen ist, T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (76). 120

D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung

243

III. Weiterentwicklung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit Als Reaktion auf die Unterwanderung der Justiz in Polen hat der EuGH aufbauend auf dem ASJP-Urteil weitere Urteile erlassen, die den Gehalt des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV näher konkretisieren.124 Im Mittelpunkt stehen dabei die nationalen Modalitäten zur Ernennung der Richter, die nationalen Maßnahmen zur Sicherung der Unabsetzbarkeit der Richter sowie die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen die nationalen Richter. 1. Ernennung der Richter Zunächst hat sich der EuGH mit der übergreifenden Frage nach der Vereinbarkeit nationaler Vorschriften über die Ernennung der Richter mit dem Unionsrecht befasst, d.h. mit Vorschriften, die von grundlegender Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren und die Legitimität der Justiz in einem demokratischen Rechtsstaat sind.125 Die Organisation der Justiz fällt zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, unbeschadet dessen müssen diese bei deren Ausübung aber die unionsrechtlichen Verpflichtungen einhalten.126 Das Unionsrecht ist als Prüfungsmaßstab heranzuziehen, da die nationalen Gerichte (deren Mitglieder gemäß dem nationalen Verfahren ernannt worden sind) in Ausübung ihrer Tätigkeit über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen im Sinne von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zu entscheiden haben werden.127 Führen die 124

Vgl. in diesem Zusammenhang auch die entsprechende Rechtsprechung des EGMR zur fehlenden Unabhängigkeit der Justiz in Polen, vgl. EGMR, Entscheidung v. 07.05.2021, Xero Flor w Polsce sp. z o.o./Polen, Nr. 4907/18, §§ 243 ff.; EGMR, Entscheidung v. 22.07.2021, Reczkowicz/Polen, Nr. 43447/19, §§ 216 ff.; EGMR, Entscheidung v. 03.02.2022, Advance ˙ urek/ Pharma SP. z o.o/Polen, Nr. 1469/20, §§ 294 ff.; EGMR, Entscheidung v. 16.06.2022, Z Polen, Nr. 39650/18, §§ 146 ff.; EGMR, Entscheidung v. 06.10.2022, Juszczyszyn/Polen, Nr. 35599/20, §§ 193 ff. 125 EuGH, Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 125 – W.Z˙.; verb. Rs. C-562/21 PPU und C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, Rn. 57 – Openbaar Ministerie (Tribunal e´tabli par la loi dans l’E´tat membre d’e´mission). 126 EuGH, Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Rn. 102 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 52 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 75 – A.K.; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 68 – A.B. u.a.; Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 75 – W.Z˙.; verb. Rs. C-748/19 bis C-754/19, ECLI:EU:C:2021:931, Rn. 36 – Prokuratura Rejonowa w Min´sku Mazowieckim; Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 56, 61 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI: EU:C:2021:393, Rn. 198 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 133 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 48 – Repubblika. 127 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 84 – A.K.; Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 36 ff. – Repubblika.

244

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

Mitgliedstaaten dabei Unionsrecht durch, ergibt sich die Zuständigkeit des EuGH für solche Rechtsfragen zusätzlich aus Art. 47 GRCh. In diesem Fall muss Art. 47 GRCh bei der Auslegung des Art. 19 Abs. 1 EUV gebührend berücksichtigt werden.128 Das Ernennungsverfahren ist dabei insbesondere mit der Voraussetzung des „durch Gesetz errichteten Gerichts“129 unauflöslich verbunden.130 Mit Blick auf die Modalitäten zur Ernennung der Richter kann der bloße Umstand, dass diese von der Exekutive bzw. der Legislative ernannt werden, an sich keine Abhängigkeit schaffen oder Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter aufkommen lassen, solange diese nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt werden und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliegen.131 Es ist jedoch sicherzustellen, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen.132 Denn dadurch könnte das Vertrauen beeinträchtigt werden, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.133 Die Einschaltung eines Gremiums in das Verfahren zur Ernennung von Richtern, das durch eine nationale Verfassung mit der Aufgabe betraut ist, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen, kann dabei grundsätzlich zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen, indem der der Exekutive bzw. Legislative eingeräumte Handlungsspielraum objektiv begrenzt wird.134 Das gilt jedoch nur insoweit, als dieses Gremium selbst von der Legislative und der

128

EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 44 ff. – Repubblika. Dazu ferner C. Rizcallah/V. Davio, EuConst 17 (2021), 581 (583 ff.). 130 EuGH, verb. Rs. C-542/18 RX-II und C-543/18 RX-II, ECLI:EU:C:2020:232, Rn. 74 – Re´examen Simpson/Rat; Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 120 f. – Getin Noble Bank; C. Rizcallah/V. Davio, EuConst 17 (2021), 581 (585, 591). 131 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 133 – A.K.; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 123 – A.B. u.a.; Rs. C-272/19, ECLI:EU:C: 2020:535, Rn. 55 f. – Land Hessen; Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 97 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 56 – Repubblika. 132 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 134 – A.K.; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 123 – A.B. u.a.; Rs. C-272/19, ECLI:EU:C: 2020:535, Rn. 54 – Land Hessen; Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 130 – W.Z˙.; Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 86, 98 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 57 – Repubblika. 133 EuGH, Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI: EU:C:2021:393, Rn. 197 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 110 – W.Z˙. 134 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 136 f. – A.K.; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 124 – A.B. u.a.; Rs. C-896/19, ECLI:EU:C: 2021:311, Rn. 66 – Repubblika. 129

D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung

245

Exekutive hinreichend unabhängig ist.135 Dabei hat das angerufene Gericht alle erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die sowohl die Bedingungen, unter denen die Mitglieder des Gremiums bestellt wurden, als auch die Art und Weise betreffen, wie dieses seine Aufgabe konkret erfüllt.136 In diesem Zusammenhang könnte angesichts der Nichtjustiziabilität von Entscheidungen der Exekutive über die Ernennung von Richtern von großer Bedeutung sein, wie der Rechtsschutz gegen eine Entschließung des Gremiums ausgestaltet ist, insbesondere ob ein Rechtsbehelf eine effektive gerichtliche Kontrolle der Entschließungen des Gremiums gewährleisten kann. Diese müsste sich zumindest auf die Prüfung von Befugnisüberschreitungen, Ermessensmissbrauch, Rechtsfehlern oder offensichtlichen Beurteilungsfehlern erstrecken.137 Das etwaige Fehlen eines solchen gerichtlichen Rechtsbehelfs kann sich zwar in bestimmten Fällen als unproblematisch im Hinblick auf die sich aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ergebenden Anforderungen erweisen. Die Rechtslage ist hingegen anders zu bewerten, wenn alle maßgeblichen Umstände, die ein solches Ernennungsverfahren in einem gegebenen nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext kennzeichnen, bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter wecken können.138 2. Grundsatz der Unabsetzbarkeit Der Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter wird in der jüngsten EuGHRechtsprechung als wesentlicher Kern der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV betrachtet. Dieser erfordere, dass die Richter im Amt bleiben dürfen, bis sie das obligatorische Ruhestandsalter erreicht haben oder ihre Amtszeit, sofern diese befristet ist, abgelaufen ist. Ausnahmen von dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit dürfen nur unter der Voraussetzung gemacht werden, dass dies durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt ist und dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird.139 So ist allgemein anerkannt, dass Richter abberufen werden können, wenn sie wegen Dienstunfähigkeit oder einer schweren Verfehlung nicht mehr zur Ausübung

135 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 138 – A.K.; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 125 – A.B. u.a. 136 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 140 – A.K. 137 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 145 – A.K.; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 128 – A.B. u.a. 138 EuGH, Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 129 – A.B. u.a. 139 EuGH, Rs. C-274/14, ECLI:EU:C:2020:17, Rn. 59 – Banco de Santander; Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Rn. 113 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 76 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); Rs. C-658/18, ECLI:EU:C:2020:572, Rn. 48 – Governo della Repubblica italiana.

246

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

ihres Amtes geeignet sind, wobei angemessene Verfahren einzuhalten sind.140 Eine solche Ausnahme darf ferner nicht geeignet sein, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Gerichte für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen.141 Demnach ist eine nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters an ein anderes Gericht bzw. eine nationale Regelung, die die Exekutive befähigt, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung jederzeit und ohne allgemein bekannte Gründe zu beenden, mit dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter unvereinbar.142 Die Mitgliedstaaten können zwar grundsätzlich einen Richter im dienstlichen Interesse vorübergehend an ein anderes Gericht abordnen, die Entscheidung über die Abordnung bzw. die Entscheidung, mit der die Abordnung beendet wird, muss jedoch anhand von im Vorhinein bekannten Kriterien getroffen und ordnungsgemäß begründet werden.143 Das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit verlangt in dieser Hinsicht insbesondere, dass die für nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern geltenden Regelungen ebenso wie Disziplinarvorschriften144 die erforderlichen Garantien aufweisen, mit denen verhindert wird, dass die Unabhängigkeit durch unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen von außen beeinträchtigt wird.145 Zusätzlich müssen solche Entscheidungen vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht innerhalb angemessener Frist in einem fairen Verfahren angefochten werden können, das die in Art. 47 und 48 GRCh verankerten Rechte, insbesondere die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang gewährleistet.146 Bedenken gegen die Vereinbarkeit mit der primärrechtlich gebotenen Unabhängigkeit bestehen schließlich hinsichtlich solcher nationalen Maßnahmen, die einem politischen Organ gestatten, eine Verlängerung der Amtszeit eines Richters

140

EuGH, Rs. C-274/14, ECLI:EU:C:2020:17, Rn. 59 – Banco de Santander; Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Rn. 113 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 76 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); Rs. C-658/18, ECLI:EU:C:2020:572, Rn. 48 – Governo della Repubblica italiana. 141 EuGH, Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Rn. 115 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 79 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 112 – W.Z˙. 142 EuGH, Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 114 – W.Z˙.; verb. Rs. C-748/19 bis C-754/19, ECLI:EU:C:2021:931, Rn. 81 ff. – Prokuratura Rejonowa w Min´sku Mazowieckim. 143 EuGH, verb. Rs. C-748/19 bis C-754/19, ECLI:EU:C:2021:931, Rn. 72, 79 – Prokuratura Rejonowa w Min´sku Mazowieckim. 144 Dazu gleich unter 6. Kap., D. III. 3., S. 243 ff. 145 EuGH, Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 117 – W.Z˙. 146 EuGH, Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 118, 122 – W.Z˙.

D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung

247

über das Regelruhestandsalter hinaus zu gewähren. Laut dem EuGH reicht dabei der bloße Umstand, dass einem Organ der Exekutive die Befugnis zur Entscheidung darüber übertragen ist, ob eine Verlängerung der Amtszeit eines Richters über das Regelruhestandsalter hinaus genehmigt wird, für sich allein genommen nicht aus, um einen Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit zu begründen.147 Es muss jedoch sichergestellt werden, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass solcher Entscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keine berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betroffenen Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen.148 Die Voraussetzungen und Modalitäten für eine mögliche Verlängerung der Amtszeit müssen dementsprechend so ausgestaltet sein, dass die betroffenen Richter vor möglichen Versuchungen geschützt sind, Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, nachzugeben. So sollte insbesondere jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen ebenso wie jede Form der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnte, ausgeschlossen werden.149 3. Disziplinarmaßnahmen Was schließlich das Regime der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit der Richter anbelangt, gehört die Disziplinarordnung für Richter zur Justizorganisation und fällt damit grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.150 Der Grundsatz der Unabhängigkeit dient nämlich nicht dazu, etwaige schwerwiegende und unentschuldbare Verhaltensweisen von Richtern zu billigen, wie etwa die vorsätzliche, böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung die Richter gerade gewährleisten sollen. Ebenso wenig rechtfertigt er Willkür oder Rechtsverweigerung, wenn sie in ihrer Aufgabe als Richter über Streitigkeiten zu entscheiden haben, die ihnen von Rechtssuchenden vorgelegt werden.151 147 EuGH, Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Rn. 119 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 110 f. – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 110 f. – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts). 148 EuGH, Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Rn. 119 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 111 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts). 149 EuGH, Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Rn. 120 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 112 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts). 150 EuGH, Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 136 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges). 151 EuGH, Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 137 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19,

248

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

Daher muss die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der Richter für solche eher außergewöhnlichen Fälle nicht ausgeschlossen werden.152 Die richterliche Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV soll jedoch dem Einsatz der Disziplinarordnung zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter entgegenwirken, weshalb ein etwaiger Fehler eines Richters bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen darf.153 Folglich müssen die Vorschriften, die für Disziplinarmaßnahmen und damit für die potenzielle Abberufung der Richter gelten, die erforderlichen Garantien aufweisen, um jegliche Gefahr zu verhindern, dass solche Maßnahmen zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werden.154 Zu diesem Zweck müssen konkrete Regeln vorhanden sein, die eine Reihe von wesentlichen Garantien für die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz festlegen und dabei bestimmen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind. Die Kontrolle der Einhaltung dieser Regelungen soll durch eine unabhängige Instanz in einem Verfahren erfolgen, das die in den Art. 47 und 48 GRCh niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte ebenso wie die Verhandlung der Sache innerhalb angemessener Frist,155 in vollem Umfang sicherstellt.156 Ebenso müssen die Regeln für ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 238 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C: 2022:99, Rn. 83 – RS. 152 Ähnliches gilt für die persönliche Haftung der Richter für die durch einen Justizirrtum verursachten Schäden EuGH, verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 229 ff. – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“. 153 EuGH, Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 138 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 84 – RS. 154 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 67 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 134, 140 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); ähnlich in Bezug auf die persönliche Haftung der Richter für die durch einen Justizirrtum verursachten Schäden, vgl. EuGH, verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 235 f. – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“. Vgl. in diesem Zusammenhang SWD(2021) 724 endg., S. 6 Fn. 23: die Justizinspektion in Rumänien hat eine Disziplinaruntersuchung gegen einen Richter eingeleitet, der das Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“-Urteil im Ausgangsverfahren umgesetzt hat. 155 EuGH, verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 221 f. – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 191 ff. – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges). 156 EuGH, Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924, Rn. 114 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 67 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 77 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); verb. Rs. C-83/19, C-127/19,

D. Richterliche Unabhängigkeit als primärrechtliche Verpflichtung

249

das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder dieser Instanz so ausgestaltet sein, dass sie keinen berechtigten Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Befugnisse und Aufgaben dieser Einrichtung als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle genutzt werden.157 Der EuGH hatte in diesem Zusammenhang konkret die Vereinbarkeit von Disziplinarmaßnahmen mit dem Unionsrecht zu beurteilen, die wegen der Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV gegen nationale Richter verhängt wurden.158 Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung verleiht Art. 267 AEUV den nationalen Gerichten ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den EuGH in jedem Stadium des Verfahrens, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft.159 Eine nationale Vorschrift kann daher ein nationales Gericht nicht daran hindern, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, die einen wesentlichen Kern des durch Art. 267 AEUV errichteten Systems der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH ausmacht.160 Selbst die bloße Aussicht darauf, dass aufgrund eines solchen Ersuchens oder der Entscheidung, dieses nach der Vorlage aufrechtzuerhalten, gegebenenfalls ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden könnte, ist geeignet, die tatsächliche Ausübung der den nationalen Gerichten zugewiesenen Befugnisse und Funktionen durch die betreffenden nationalen Richter zu beeinträchtigen.161 Demzufolge stellt die Tatsache eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit dar, dass für die Ausübung der in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Richter fallende Befugnis zur Anrufung des EuGH keine Disziplinarverfahren eingeleitet und -strafen verhängt werden dürfen.162

C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 198 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 61, 80, 164, 187 ff. – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges). 157 EuGH, verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 200 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“. 158 EuGH, Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 154 ff., 222 ff. – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges). 159 Näher dazu unter 8. Kap., C. II., S. 318 ff. 160 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 103 f. – A.K.; verb. Rs. C-558/18 und C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234, Rn. 56 ff. – Miasto Łowicz. 161 EuGH, verb. Rs. C-558/18 und C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234, Rn. 58 – Miasto Łowicz; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 93 – A.B. u.a.; Rs. C-564/19, ECLI:EU:C: 2021:949, Rn. 91 – IS (Ille´galite´ de l’ordonnance de renvoi). 162 EuGH, verb. Rs. C-558/18 und C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234, Rn. 59 – Miasto Łowicz; Rs. C-8/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:110, Rn. 47 – RH; Rs. C-564/19, ECLI:EU:C: 2021:949, Rn. 91 – IS (Ille´galite´ de l’ordonnance de renvoi); Rs. C-791/19, ECLI:EU:C: 2021:596, Rn. 228 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 229 f. – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 85 – RS.

250

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

In diesem Zusammenhang wurden schließlich nationale Regelungen über die disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Falle der Nichtbeachtung von (unionsrechtswidrigen) Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichtshofs auf den Prüfstand gestellt. Vor dem Hintergrund, dass weder Art. 2 noch Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV den Mitgliedstaaten ein konkretes Justizmodell vorschreiben, sind nationale Regelungen, wonach die Entscheidungen des Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, grundsätzlich unionsrechtlich zulässig, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive gewährleistet.163 Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV stehen hingegen einer nationalen Regelung entgegen, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts durch die nationalen Richter der übrigen Gerichtsbarkeit deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann und somit nicht lediglich auf ganz außergewöhnliche Fälle beschränkt ist.164 Daneben folgt aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dass eine Entscheidung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens bindet.165 Somit kann es einem nationalen Gericht, das dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV vorgelegt hat, nicht verwehrt sein, das Unionsrecht nach Maßgabe der EuGHEntscheidung unmittelbar anzuwenden, da andernfalls die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung geschmälert würde.166 Die Befugnis der nationalen Gerichte, eine die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts beeinträchtigende nationale Regelung oder Praxis unangewendet zu lassen, ist nach Ansicht des EuGH Bestandteil des Amts des Unionsrichters. Letzteres obliegt dem nationalen Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Normen des Unionsrechts anzuwenden hat, sodass die Ausübung dieser Befugnis eine wesentliche Garantie der sich aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ergebenden richterlichen Unabhängigkeit darstellt.167 Somit steht das Unionsrecht einer nationalen Regelung oder Praxis entgegen, wonach die ordentlichen bzw. Fachgerichte an die Urteile des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind – und aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtspre163

EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C: 2021:1034, Rn. 227 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 44 f. – RS. 164 EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C: 2021:1034, Rn. 241 f. – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 87 – RS. 165 EuGH, Rs. C-173/09, Slg. 2010, I-8889, Rn. 30 – Elchinov; vgl. auch verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 250 ff. – Euro Box Promotion u.a. 166 EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 19/20 – Simmenthal. 167 EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C: 2021:1034, Rn. 257 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 62 – RS.

E. Unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV

251

chung des Verfassungsgerichts nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht der unionsrechtlichen Jurisprudenz der Auffassung sind, dass die nationale Rechtsprechung gegen das Unionsrecht verstößt.168

E. Unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Vorrang des Unionsrechts Um der politischen Vereinnahmung der Justiz entgegenzuwirken und den Durchgriff auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu stärken, hat der EuGH in seiner jüngsten Rechtsprechung die unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV hinsichtlich des Unabhängigkeitserfordernisses anerkannt.169 Unter Verweis auf die unmittelbare Wirkung von Art. 47 GRCh,170 welchem bei der Auslegung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV eine wesentliche Bedeutung beigemessen wird, leitet er ebenso die unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ab, welcher den Mitgliedstaaten eine klare und präzise Ergebnispflicht auferlege, die in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit unbedingt ist.171 Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts sind dabei alle mitgliedstaatlichen Stellen verpflichtet, den unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das nationale Recht bzw. auch das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten die dem Unionsrecht zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen dürfen.172 Konkret ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die dem unmittelbar wirkenden Unionsrecht173 – hier Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV – entgegensteht, unangewendet zu lassen,174 selbst wenn diese Be168

EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C: 2021:1034, Rn. 260 ff. – Euro Box Promotion u.a.; ähnlich EuGH, Rs. C-430/21, ECLI: EU:C:2022:99, Rn. 93 – RS. 169 Ausführlich zur Definition bzw. Entwicklung der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts C. Wohlfahrt, Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts, 2016, S. 10 ff., 24 ff. 170 EuGH, Rs. C-414/16, ECLI:EU:C:2018:257, Rn. 78 – Egenberger. 171 EuGH, Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 145 f. – A.B. u.a.; bestätigt in verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 250 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 253 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 159 – W.Z˙.; Rs. C-508/19, ECLI:EU:C: 2022:201, Rn. 74 – Prokurator Generalny; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 58 – RS. 172 St. Rspr. seit EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Amministrazione delle finanze dello Stato/Simmenthal. 173 Vgl. C. Wohlfahrt, Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts, 2016, S. 67. 174 EuGH, C-573/17, ECLI:EU:C:2019:530, Rn. 61 – Popławski; verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 161 – A.K.; verb. Rs. C-83/19, C-127/19,

252

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

stimmung verfassungsrechtlicher Natur ist.175 Der EuGH verortet somit den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV.176 In materieller Hinsicht sieht der EuGH die Begründung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts in der Gewährleistung der Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts und insbesondere in der Wahrung einerseits der Gleichheit der Mitgliedstaaten und andererseits der Gleichheit der Unionsbürger.177 Nicht zuletzt hat der EuGH in diesem Zusammenhang in aller Klarheit ausgeführt, dass nur unmittelbar wirkende Unionsvorschriften die Nichtanwendung entgegenstehenden nationalen Rechts durch die nationalen Stellen gebieten.178 Praktische Bedeutung erlangt diese Rechtsprechungslinie zuvörderst für die nationalen Richter der ordentlichen bzw. Fachgerichtsbarkeit, die sich unter Heranziehung des Unionsrechts der Aushöhlung ihrer Unabhängigkeit widersetzen können. Wenn also eine nationale Bestimmung die Zuständigkeit für die Entscheidung über eine Rechtsstreitigkeit einem Gericht vorbehält, das den Anforderungen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV nicht genügt, muss dieses diese Bestimmung unangewendet lassen.179 Andernfalls gebietet der Vorrang des Uni-

C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 251 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“. 175 EuGH, Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 150 – A.B. u.a.; verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 251 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; Rs. C-497/20, ECLI:EU:C:2021:1037, Rn. 54 – Randstad Italia. 176 Vgl. auch Schlussanträge GA A. M. Collins, Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:44, Rn. 80 – RS: „Mit Art. 19 Abs. 1 UnterAbs. 2 EUV wird somit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts […] konkreter Ausdruck gegeben“; L. D. Spieker, EuZW 2022, 305 (310); F. Weber, JZ 77 (2022), 292 (299): dadurch schlägt der Vorrang des Unionsrechts vom Element der Supranationalität in eine vorlagefähige Rechtsnorm um; vgl. auch C. Wohlfahrt, Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts, 2016, S. 174 ff., der eine Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts im Wert der Rechtsstaatlichkeit und in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV begründet sieht. 177 EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C: 2021:1034, Rn. 246, 249 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 48, 55 – RS; kritisch F. Weber, JZ 77 (2022), 292 (298 f.); vgl. auch L. D. Spieker, EuZW 2022, 305 (311): diese Grundlegung könnte es rechtfertigen, zwischen mitgliedstaatlichen Verstößen gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zu differenzieren. Ähnlich in Bezug auf die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts C. Wohlfahrt, Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts, 2016, S. 180. 178 EuGH, Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 53 f. – RS; so bereits EuGH, Rs. C-573/17, ECLI:EU:C:2019:530, Rn. 61 f. – Poplawski; ferner D. Miasik/M. Szwarc, CMLRev. 58 (2021), 571 (578 ff., 581); zu den Wirkungen des Vorrangs des Unionsrechts in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen M. Dougan, CMLRev. 56 (2019), 1459 (1467 ff.); W. Kahl, in: ders./M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. III, 2022, § 66, Rn. 20 f. 179 EuGH, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:982, Rn. 157 ff., 166 – A.K.; Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 140 ff., 149 – A.B. u.a.; ähnlich EuGH, Rs. C-508/19, ECLI:EU:C:2022:201, Rn. 74 – Prokurator Generalny.

E. Unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV

253

onsrechts, den von einem Gericht, das kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellt, erlassenen Beschluss als nicht existent anzusehen.180 Dies hat der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens in Bezug auf einen Rechtsbehelf gegen eine nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters eines ordentlichen Gerichts anerkannt, der durch einen Einzelrichter als unzulässig zurückgewiesen wurde.181 Ferner steht der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer nationalen Regelung mit Verfassungsrang entgegen, die durch das Verfassungsgericht dieses Staats derart ausgelegt wird, dass ein untergeordnetes Gericht nicht berechtigt ist, eine mit Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV unvereinbare nationale Bestimmung aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen182 bzw. die Konformität nationaler Rechtsvorschriften mit Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zu prüfen, die das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats mittels einer inzidenten Prüfung bereits für unionsrechtskonform erklärt hat.183

I. Insbesondere: Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen Die angeführte EuGH-Rechtsprechung in Bezug auf die Bindungswirkung von Entscheidungen der Verfassungsgerichte ist von verfassungsrechtlicher Bedeutung und entwickelt die bisherige Vorrangdogmatik erheblich weiter. Das Unionsrecht setzt nämlich aus einer Gesamtschau aus Art. 2, 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 267 AEUV bestimmte Voraussetzungen fest, die für die Entfaltung einer solchen Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Urteile entscheidend sind: Erstens muss das Verfassungsgericht selbst den Anforderungen der Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV genügen.184 Zweitens darf die Bindungswirkung den ordentlichen bzw. Fachgerichten nicht die Befugnis zur Kon-

180

Dazu M. Dougan, CMLRev. 59 (2022), 1301 (1317 ff.). EuGH, Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 159 – W.Z˙. 182 EuGH, verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C:2021:393, Rn. 252 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C:2021:1034, Rn. 262 – Euro Box Promotion u.a. 183 EuGH, Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 66, 78 – RS. Hintergrund war das Urteil des rumänischen Verfassungsgerichts (Curtea ConstitutÀionala˘), wonach die rumänische Verfassung, insbesondere Art. 148 Abs. 2, dem Unionsrecht in dreierlei Hinsicht Grenzen ziehe: Erstens entfalte nur unmittelbar anwendbares Unionsrecht einen Vorrang; zweitens gelte dieser Vorrang nur gegenüber einfachem und nicht verfassungsrechtlichem Recht und drittens dürfe dabei das Unionsrecht nicht die rumänische Verfassungsidentität verletzen. Soweit das rumänische Verfassungsgericht die Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit dem Unionsrecht beurteilt habe, seien die ordentlichen Gerichte nicht mehr befugt, eine solche Prüfung erneut vorzunehmen, vgl. Curtea ConstitutÀionala˘, Urteil vom 08.06.2021 – 390/2021, Rn. 74, 76. 184 EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C: 2021:1034, Rn. 230 – Euro Box Promotion u.a. 181

254

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

formitätsprüfung nationaler Bestimmungen mit dem Unionsrecht, gegebenenfalls unter Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens, entziehen.185 Schließlich stößt die Bindungswirkung an ihre Grenzen, wenn die Verfassungsgerichte die EuGH-Urteile missachten und sich dabei auf die Verfassungsidentität des betreffenden Mitgliedstaats bzw. eine Zuständigkeitsüberschreitung durch den EuGH stützen.186 Denn eine Feststellung eines eventuellen Verstoßes gegen Art. 4 Abs. 2 EUV kann angesichts seines Auslegungsmonopols in Bezug auf das Unionsrecht nur durch den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens und nicht einseitig durch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte erfolgen.187 Demnach ist die Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen aus unionsrechtlicher Sicht nur unter Wahrung der vorgenannten institutionellen bzw. materiellen Voraussetzungen zulässig.188 Anderenfalls müssen die ordentlichen bzw. Fachgerichte die unionsrechtswidrige verfassungsrechtliche Rechtsprechung unberücksichtigt lassen.189

II. Selbstermächtigung des EuGH jenseits seiner Kompetenzen Die dargestellte EuGH-Rechtsprechung zum Vorrang des Unionsrechts lässt sich trotz ihres wesentlichen Beitrags zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit nicht ohne Bedenken in die bisherige Vorrangdogmatik einfügen. Zunächst ist die Anerkennung der unmittelbaren Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zu begrüßen. Hierdurch wird den das Gewaltenteilungsprinzip beeinträchtigenden Mitgliedstaaten eine äußerste unionsrechtliche Grenze gesetzt, die Anwendungsvorrang vor den zu beanstandenden nationalen Bestimmungen beansprucht. Doch wäre diese rechtsstaatliche Garantie sinnentleert, wenn nationalen Richtern die Befugnis entzogen wäre, etwa aufgrund einer drohenden Einleitung von Disziplinarmaßnahmen, entgegenstehendes nationales Recht von Amts wegen unangewendet zu lassen. Aus diesem Grund überrascht die Zuordnung dieser Befugnis zum wesentlichen Bestandteil der richterlichen Unabhängigkeit nicht. Fraglich bleibt allerdings, ob der Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV eine primärrechtliche Verankerung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts rechtfertigt. Dagegen spricht, dass der (uneingeschränkte190) Vorrang des Uni185

EuGH, Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 46 – RS. EuGH, Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 68 – RS. 187 EuGH, Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 69 ff. – RS. 188 L. D. Spieker, EuZW 2022, 305 (309). 189 Vgl. aber die Pressemitteilung des rumänischen Verfassungsgerichts vom 23. Dezember 2021, in der es auf seiner Rechtsprechung beharrt und betont, dass die Lesart des EuGH einer Verfassungsänderung bedürfe und bis dahin das Urteil C-430/21 nicht umsetzbar sei (abrufbar auf Englisch unter www.ccr.ro/en/press-release-23-december-2021/); L. D. Spieker, EuZW 2022, 305 (313) sieht hier die Gefahr, dass die Autorität der nationalen Verfassungsgerichte geschwächt wird; ähnlich C. Hillgruber, JZ 77 (2022), 584 (589); skeptisch F. Weber, JZ 77 (2022), 292 (299). 190 Vor allem gegenüber nationalem Europaverfassungsrecht, vgl. P. Kirchhof, NJW 2022, 1049 (1050 ff.). 186

E. Unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV

255

onsrechts gerade aufgrund seines fehlenden Niederschlags im Text des LissabonVertrags durch die Mitgliedstaaten teilweise in Frage gestellt wird.191 Solche Spannungslagen über die Reichweite des Vorrangs des Unionsrechts können nicht einseitig durch den EuGH, sondern sollten gemeinsam mit den obersten Gerichten bzw. Verfassungsgerichten der einzelnen Mitgliedstaaten gelöst werden. Eine unzulässige Selbstermächtigung des EuGH liegt daher vor, wenn dieser einseitig die Voraussetzungen für die Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen sowie die Rechtsfolgen einer Verletzung des Unabhängigkeitserfordernisses im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV diktiert. Dabei ist zunächst die Tatsache in Erinnerung zu rufen, dass alle Unionsorgane und somit auch der EuGH nur in einem System der begrenzten Einzelermächtigung tätig werden (dürfen). Demzufolge darf die richterliche Auslegung des Primärrechts durch den EuGH nicht die Grenzen zur Rechtsetzung überschreiten und neue Regelungen ohne ausreichende Rückbindung an die Verträge schaffen,192 vor allem in Bereichen, die ausschließlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Daneben werden die Rechtsfolgen eines etwaigen Verstoßes gegen das Unionsrecht – dem Grundsatz der Verfahrensautonomie folgend – durch das nationale Recht bestimmt, sodass der EuGH jenseits seiner übertragenen Kompetenzen handelt, wenn er nationalen Gerichtsentscheidungen die Rechtskraft abspricht, solange diese von nicht unabhängigen Spruchkörpern erlassen worden sind.193 Insoweit ist daher eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips im Sinne des Art. 2 EUV durch den EuGH festzustellen. Vor diesem Hintergrund erzielt der EuGH mit seiner jüngsten Rechtsprechung genau das Gegenteil davon, worum er sich mit allen Kräften bemüht hat, nämlich dem Konflikt über das Letztentscheidungsrecht zwischen ihm und den Verfassungsgerichten ein Ende zu setzen.194

191 C. Hillgruber, JZ 77 (2022), 584 (585 ff.); P. Kirchhof, NJW 2022, 1049 (1052); F. Mayer, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 19 EUV, Rn. 36 ff.; B. W. Wegener, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 19 EUV, Rn. 43 ff. 192 BVerfGE 126, 286 (306 f.). 193 Vgl. EuGH, Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 159 – W.Z˙.; anders M. Dougan, CMLRev. 59 (2022), 1301 (1321 ff.), der die Möglichkeit der Nichtigerklärung einer nationalen Maßnahme bzw. Entscheidung ausnahmsweise direkt durch den EuGH befürwortet, da dadurch Einheit und Vorrang des Unionsrechts effektiver gewährleistet werden könnten und die Verträge einem solchen Vorgehen nicht entgegenstünden. 194 Dazu A. Bobic´, CYELS 22 (2020), 60 (73 ff.), die in dieser Hinsicht zwischen konstruktivem und destruktivem Konflikt unterscheidet.

256

6. Kapitel: Rechtsstaatlichkeit als Wert und Strukturprinzip der EU

F. Zwischenergebnis Die Unionswerte bilden das Fundament des Vertrauensgrundsatzes und haben sich in den letzten Jahren in der europäischen Rechtsdogmatik sowie in der EuGH-Rechtsprechung zum Kernbegriff der Unionsrechtsordnung entwickelt.195 Eine gravierende Abweichung von der Werteklausel des Art. 2 EUV ist angesichts des richterrechtlich entwickelten Rückschrittsverbots unionsrechtlich nicht zulässig. Vielmehr ist die Durchsetzung der Unionswerte, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV durchaus möglich, wobei der unionsrechtliche Anspruch an richterliche Unabhängigkeit als eigenständiger Prüfungsmaßstab und unabhängig von der Anwendbarkeit des Art. 47 GRCh bei der Prüfung der Unionsrechtskonformität nationaler Bestimmungen herangezogen wird. In diesem Sinne stellt der die Rechtsstaatlichkeit konkretisierende Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV eine primärrechtliche, unmittelbar geltende Verpflichtung für die Mitgliedstaaten aus ihrer Mitgliedschaft auf, die die institutionelle Stabilität sowie den Kerngehalt des Prinzips der Gewaltenteilung in den mitgliedstaatlichen Rechtsstrukturen über Art. 51 Abs. 1 GRCh hinaus zu wahren vermag und daher der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie Grenzen setzt.196 Daraus folgt, dass den Mitgliedstaaten kein Freibrief ausgestellt wird, ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht in den ihnen vorbehaltenen Zuständigkeitsbereichen zu verletzen.197 Vielmehr schließt die fehlende (Gesetzgebungs-)Kompetenz der EU die Anwendbarkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten nicht aus. Jedenfalls muss die Auslegung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV unter Wahrung des europäischen Wertepluralismus erfolgen und darf nicht darauf hinauslaufen, dass den Mitgliedstaaten konkrete Vorgaben hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Gerichtssysteme vorgeschrieben werden.198 Dem EuGH fehlen dafür neben der Kompetenz auch die Legitimitätsressourcen.199 Etwaige Wertekollisionen sind unter Einbeziehung der nationalen obersten bzw. Verfassungsgerichte zu lösen, damit die angestrebte Übereinstimmung in den konkreten Gehalten der Unionswerte mit einem materiellen Konsens in den Mitgliedstaaten unterfüttert wird.200 Schließlich bildet die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit eine Funktionsbedingung für den Vertrauensgrundsatz, sodass die durch die nationalen Gerichte erlassenen Entscheidungen innerhalb eines einheitlichen Rechtsraums ohne Grenzen reibungslos verkehrsfähig sein bzw. anerkannt werden müs-

195 Vgl. nur F. Schorkopf, JZ 75 (2020), 477 (477), der insoweit von „de[m] Wertekonstitutionalismus der Europäischen Union“ spricht. 196 Ähnlich P. Zinonos, EPL 25 (2019), 615 (623 ff.). Der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes wird somit zu einer „Metanorm“, vgl. V. Röben, HJRL 12 (2020), 29 (32 ff.). 197 L. Hering, DÖV 2020, 293 (302); R. O’Neill, ELJ 28 (2022), 240 (243). 198 Dazu L. D. Spieker, CMLRev. 59 (2022), 777 (788 ff.). 199 Ähnlich A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (228); M. Smith, ELJ 25 (2019), 561 (574). 200 F. Schorkopf, JZ 75 (2020), 477 (483).

F. Zwischenergebnis

257

sen. Somit findet eine „Prozeduralisierung“ des Vertrauensgrundsatzes statt, indem dieser die Vermutung der Wahrung der Unabhängigkeitsgarantie in den nationalen Gerichtssystemen umfasst.201

201

In diesem Sinne K. Lenaerts, YEL 38 (2019), 3 (6).

7. Kapitel

Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament Im Rahmen der Klärung des Begriffs des Vertrauens wurde bereits dargelegt, dass der unionsrechtliche Vertrauensgrundsatz zwei Bezugspunkte aufweist, nämlich einen konkreten und einen abstrakten.1 Während der konkrete Bezugspunkt die Vermutung der Unionsrechtstreue bei einem konkreten Kooperationsersuchen betrifft, stellt das abstrakte Systemvertrauen die Vermutung der allgemeinen Fähigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auf, das Unionsrecht zu beachten und durchzusetzen.2 Wie darzulegen sein wird, betrifft der Begriff der Rechtsstaatlichkeitskrise das abstrakte Systemvertrauen bzw. seine Widerlegung.

A. Rechtsstaatlichkeitskrise als Vertrauenskrise Angesichts der Tatsache, dass Art. 2 EUV das Fundament des gegenseitigen Vertrauens darstellt, ist die logische Folge einer systematischen Verletzung eines Unionswertes durch einen Mitgliedstaat die Erosion dieses Vertrauens unter den Mitgliedstaaten und somit die Gefährdung der reibungslosen Zusammenarbeit in der EU.3 Insbesondere das Systemvertrauen in die allgemeine Fähigkeit der nationalen Rechtsordnungen, das Unionsrecht ordnungsgemäß umzusetzen, anzuwenden und durchzusetzen, hängt weitgehend davon ab, inwieweit die Mitgliedstaaten ein nationales Gerichtssystem in Konformität mit den Anforderungen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bzw. der richterlichen Unabhängigkeit geschaffen haben, das mit der Aufgabe der Wahrung des Unionsrechts betraut ist.4 1

Oben unter 4. Kap., D., S. 176. Dazu N. Wunderlich, EuR 2019, 557 (577), die die Unionsrechtstreue der Mitgliedstaaten grundsätzlich bejaht. 3 A. von Bogdandy, ZaöRV 79 (2019), 503 (515 f.); A. Voßkuhle, NJW 2018, 3154 (3155). 4 Ähnlich C. F. Germelmann, DÖV 2021, 193 (194); P. Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, 2015, S. 253 ff.; M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 48; A. Voßkuhle, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. III, 2022, § 59, Rn. 28; vgl. auch KOM(2013) 160 endg., S. 2: „Funktionierende Justizsysteme sind auch eine unverzichtbare Voraussetzung, um das gegenseitige Vertrauen zu stärken, das für die Entwicklung und Durchführung der auf gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit gegründeten EUInstrumente unabdingbar ist.“ 2

260

7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament

Das Vorhandensein einer unabhängigen nationalen Gerichtsbarkeit ist eine unerlässliche Bedingung für das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten.5 Die Widerlegung dieses Systemvertrauens in die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit erfolgt dabei nicht auf einmal, sondern schrittweise durch wiederholte und systemische Verletzungen des Wertes der Rechtsstaatlichkeit.6 Wäre der Verfall der Rechtsstaatlichkeit nicht mit weitreichenden Konsequenzen verbunden, wie etwa der Widerlegung des Vertrauens, würde der Wert der Rechtsstaatlichkeit an Überzeugungskraft verlieren.7 In diesem Sinne deutet die Rechtsstaatlichkeitskrise zugleich auf eine Vertrauenskrise hin.8

B. Die Systemische-Mängel-Doktrin Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsstaatlichkeitskrise als heuristischer Begriff geeignet, mitgliedstaatliche Vorgänge in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip zu beschreiben.9 Sie weist somit einen rein deskriptiven Charakter auf, ohne dabei mit konkreten rechtlichen Schlussfolgen verbunden zu sein.10 Daher bedarf sie für den dogmatischen Einsatz und die Ableitung konkreter Rechtsfolgen mit Blick auf den Vertrauensgrundsatz eines weiteren Rechtsbegriffs, nämlich desjenigen des systemischen Mangels.11

I. Systemischer Mangel als Rechtsbegriff Die Kernfrage betrifft den Zeitpunkt, ab dem von einer Rechtsstaatlichkeitskrise in einem Mitgliedstaat gesprochen werden kann. Denn Art. 2 EUV kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass der Verfassungspluralismus innerhalb Europas verdrängt wird.12 Vielmehr ist insbesondere im Lichte des Art. 4 Abs. 2 EUV unionsrechtlich anerkannt, dass die mitgliedstaatlichen Rechtssysteme unterschiedliche Grundrechtsschutzniveaus, institutionelle Einrichtungen und so-

5

Wie hier D. Kochenov/J. Morijn, EPL 27 (2021), 759 (770); L. Pech/K. L. Scheppele, CYELS 2017, 3 (11); P. Zinonos, EPL 25 (2019), 615 (631 ff.). 6 Dazu vgl. oben unter 4. Kap., A. IV., S. 181 ff. 7 A. von Bogdandy/P. Bogdanowicz/I. Canor u.a., CMLRev. 55 (2018), 983 (984); A. Nussberger, in: H.-M. Heinig/F. Schorkopf (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz, 2019, S. 191 (201). 8 In diesem Sinne vgl. H. Kube, AöR 146 (2021), 494 (503 f.); A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (224); C. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (386); P. Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, 2015, S. 248, der die Vertrauenskrise als den Zusammenbruch des allgemeinen Vertrauens bezeichnet. 9 Ferner M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 34 ff. 10 M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 49; M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1081 f.). 11 Statt aller A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (283 ff.); ähnlich M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1082). 12 A. von Bogdandy, CMLRev. 57 (2020), 705 (714).

B. Die Systemische-Mängel-Doktrin

261

gar Regelungen vorsehen. Die primärrechtlich verankerte europäische Vielfalt setzt damit als föderales Merkmal der EU dem Tätigwerden der EU äußere Grenzen.13 Korrektive Maßnahmen bzw. Eingriffe seitens der EU in die rechtsstaatlichen Strukturen eines Mitgliedstaats müssen sich daher auf Ausnahmefälle und schwerwiegende Verstöße gegen die Unionswerte bzw. die Rechtsstaatlichkeit beschränken. Der Begriff des systemischen Mangels ist gerade diesem Ziel verschrieben, nämlich die Rechtssituation dogmatisch zu erfassen, in der die Rechtsverstöße einer nationalen Rechtsordnung gegen die Unionswerte so gravierend sind, dass das Fortbestehen des Systemvertrauens in die rechtsstaatlichen Strukturen des betreffenden Mitgliedstaats nicht ohne weiteres angenommen werden kann. Systemische Mängel können nicht nur die Einleitung unionsrechtlicher Maßnahmen begründen,14 sondern auch einen Ansatzpunkt für die Versagung zwischenstaatlicher Kooperation unter den Mitgliedstaaten darstellen. Systemische Mängel sind zwar einer allgemeingültigen Definition schwer zuzuführen,15 deuten allerdings darauf hin, dass ein Rechtsbruch in Form einer schwerwiegenden Missachtung des Unionsrechts vorliegt.16 Vom Begriff sind also „normale“, in einem Rechtssystem „erwartete“ Rechtsverstöße nicht umfasst,17 sondern lediglich Extremsituationen, in denen der Abbau der Rechtsstaatlichkeit durch wiederholte, schwerwiegende Rechtsverletzungen offensichtlich ist.18 Dieser Definition schließt sich auch die Kommission in ihrer Mitteilung über einen neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips an, wenn sie darauf hinweist, dass die auf nationaler Ebene etablierten Mechanismen zur Sicherung des Rechtsstaatsprinzips nicht mehr richtig funktionieren und daher aus dem Systemversagen eine Bedrohung für den Rechtsstaat erwächst.19 In ihrem späteren Vorschlag für eine Verordnung über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten definiert die Kommission diese als eine „weit verbreitete oder wie-

13

Näher zum Verhältnis von Art. 4 Abs. 2 EUV zu Art. 2 EUV oben unter 5. Kap., C. III., S. 209 ff. 14 A. von Bogdandy, ZaöRV 79 (2019), 503 (523 f.); O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (156). 15 Vgl. A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (298); A. Lübbe, ZAR 2014, 105 (106). 16 A. von Bogdandy, ZaöRV 79 (2019), 503 (524 ff.). Eine andere, weitere Definition des Begriffs bietet A. Lübbe, ZAR 2014, 105 (107 f.) an, die jedoch der aktuellen Auffassung der Unionsorgane nicht entspricht; systemische Mängel seien auf eine Struktur oder strukturelle Lücke im System zurückzuführen, die zu Fehlern führe, unabhängig davon, wie schwer die resultierenden Fehler sind, so A. Lübbe, NVwZ 2017, 674 (678 f.). 17 N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 115 f.: normative Erwartungen werden im Gegensatz dazu auch im Fall ihrer (isolierten) Enttäuschung beibehalten. 18 A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (284). Vgl. eine Definition in dieselbe Richtung im Rahmen des EGMR Committee on Legal Affairs and Human Rights, States with major structural/systemic problems before the European Court of Human Rights: statistics, AS/Jur/Inf (2011) 05 rev 2, S. 2, Rn. 6. 19 KOM(2014) endg., S. 5.

262

7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament

derholt auftretende Praxis, Unterlassung oder Maßnahme des Staats, die das Rechtsstaatsprinzip beeinträchtigt“.20 Systemische Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit lassen sich in Anbetracht dessen als eine qualifizierte Rechtsuntreue im Hinblick auf das Unionsrecht zusammenfassen.21 Einen dogmatischen Ansatzpunkt für den Rechtsbegriff des systemischen Mangels bildet Art. 7 EUV, welcher von einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung bzw. einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Werte des Art. 2 EUV ausgeht, in Verbindung mit den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung der EU und der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, wonach grundsätzlich die Letzteren für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Behebung von Rechtsverstößen nach innerstaatlichem Recht zuständig sind.22 Die EU ist daher nur in Extremfällen, in denen die Grundwerte durch systembedingte Rechtsbrüche bedroht sind und sich die Korrektivmechanismen bzw. Maßnahmen des betroffenen Mitgliedstaats für die Beseitigung dieser Bedrohungen als ungeeignet erweisen, befugt, gezielte Maßnahmen zur Behebung der entsprechenden Defizite im Mitgliedstaat zu ergreifen.23 Nicht unerheblich sind daneben die Folgen, die systemische Mängel im europäischen Rechtsraum auslösen. In vertikaler Hinsicht, d.h. im Verhältnis der Union gegenüber den Mitgliedstaaten, können systemische Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit die Einleitung von unionsrechtlichen Maßnahmen in Extremsituationen begründen.24 Die Kompetenz der EU ergibt sich wiederum aus Art. 7 EUV, der die Ergreifung von Maßnahmen bzw. Verhängung von Sanktionen bei gravierender Verletzung der Unionswerte durch die Mitgliedstaaten innerhalb des Anwendungsbereichs der Verträge vorsieht.25 In horizontaler Hinsicht, d.h. in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten untereinander, können systemische Mängel darüber hinaus in die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes und die Aussetzung der zwischenstaatlichen Kooperation münden.26 Aufgrund der Interdependenz der Mitgliedstaaten27 bei der Verwirklichung des europäischen Integrationsprojekts und der umfassenden Kooperationspflichten

20

KOM(2018) 324 endg., Art. 2 b). M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 65; vgl. auch N. Wunderlich, EuR 2019, 557 (577). Aus einer eher sozialen Perspektive erkennen A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (300) ein systemisches Defizit an Rechtsstaatlichkeit dann an, wenn „in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen das Recht nicht allgemein befolgt wird und damit nicht in der Lage ist, bei einer signifikanten Zahl sozialer Akteure normatives Erwarten zu stabilisieren“. 22 Ähnlich, nur auf Art. 7 EUV Bezug nehmend, A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (292). 23 A. von Bogdandy, CMLRev. 57 (2020), 705 (715 ff.). 24 Dazu näher unter 8. Kap., A., S. 273 ff. 25 A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (292); vgl. auch M. Wendel, EuR 2019, 111 (125), laut dem systemischen Mängeln eine föderative Schutzfunktion zukommt. 26 Vgl. die prominente Rolle des Begriffs im Asylrecht unter 2. Kap., E. II. 1., S. 86 ff. 27 C. Hillion, EPA 8 (2016), 1 (6). 21

B. Die Systemische-Mängel-Doktrin

263

in unterschiedlichen Rechtsgebieten ist mit gewisser Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass systemische Mängel in einem Mitgliedstaat Auswirkungen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats entfalten können.28 In dieser Hinsicht setzt das Vorliegen systemischer Mängel in Bezug auf den Wert der Rechtsstaatlichkeit nicht nur eine defizitäre Rechtsstaatlichkeit im betreffenden Mitgliedstaat im Sinne einer qualifizierten Unionsunrechtstreue (interne Dimension) voraus, sondern auch das Auslösen negativer Auswirkungen auf die Rechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten (externe Dimension), sodass die zwischenstaatliche Zusammenarbeit bedroht wird.29 Die Untergrabung der Unionswerte erschüttert die EU bis in ihre Grundfesten, sodass selbst ihre Existenz gefährdet wird.30

II. Ansätze in der EuGH-Rechtsprechung Auch in der unionsrechtlichen Judikatur finden sich Ansätze einer Annäherung an den Begriff der systemischen Mängel in Fällen zwischenstaatlicher Kooperation, die aufgrund besonders herausgehobener Rechtsverletzungen durch die Mitgliedstaaten gefährdet wurde. Vor allem im RFSR sind die Auswirkungen bzw. die „negativen Externalitäten“31 der in einem Mitgliedstaat vorliegenden systemischen Mängel auf die anderen Kooperationspartner besonders ersichtlich. Die Rechtswirkungen systemischer Mängel auf den Vertrauensgrundsatz und die innerunionale Zusammenarbeit werden daher im Folgenden am Beispiel der EuGH-Rechtsprechung zum Asylrecht und Europäischen Haftbefehl dargestellt. 1. Asylrecht Der Begriff der systemischen Mängel ist erstmals in der Asylrechtsprechung in Bezug auf die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes und die daraus folgende Aussetzung der Überstellung eines Asylsuchenden in Erscheinung getreten.32 Ausgangspunkt sind auch hier ernsthafte Verstöße gegen das Asylrecht, die aufgrund von systemischen Mängeln im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 4 GRCh implizieren.33 Der EuGH hat jedoch in seiner jüngsten Rechtsprechung eine konkret an Art. 4 GRCh geknüpfte Ausnahmekategorie herausgearbeitet, in der die Exis-

28 C. Closa, in: ders./D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 15 (18); M. Fisicaro, EP 4 (2019), 695 (698); G. Toggenburg/J. Grimheden, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 147 (149). 29 M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1082). 30 A. von Bogdandy, CMLRev. 57 (2020), 705 (719). 31 So A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (302). 32 Ferner oben unter 2. Kap., E. II. 1., S. 86 ff. 33 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 86 – N.S. u.a.

264

7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament

tenz systemischer Mängel keine notwendige Voraussetzung für die Nichtvollstreckung der Überstellungsentscheidung darstellt. Es muss aber einem mit einer Nichtigkeitsklage gegen eine Überstellungsentscheidung befassten Gericht möglich sein, im Rahmen der Prüfung dieser Klage nach dem Erlass einer Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände, die für die korrekte Anwendung der Dublin III-Verordnung entscheidend sind, berücksichtigen zu dürfen.34 Dies impliziert, dass die Existenz systemischer Mängel im zuständigen Mitgliedstaat auch nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung rechtlich relevant ist. Diese können für sich genommen eine Überstellung aber nicht verhindern. Ähnlich können systemische Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit im Lichte des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens nicht dazu führen, dass einem Mitgliedstaat seine Befugnis aus Art. 33 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2013/32/EU abzuerkennen ist, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen,35 der mit der Begründung gestellt wird, dass den Antragstellern systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im zuständigen Mitgliedstaat verweigert wird.36 Dies ist nur dann zu bejahen, wenn das Asylsystem des betreffenden Mitgliedstaats in der Praxis auf größere Funktionsstörungen stößt, die so schwerwiegend sind, dass die Antragsteller eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh erfahren würden.37 Bislang ist der EuGH noch nicht der Frage nachgegangen, ob gegen die Vollstreckung einer Überstellungsentscheidung geltend gemacht werden kann, dass der zuständige Mitgliedstaat systemische Mängel im Justizsystem aufweist, aufgrund derer das Recht der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU vor einem unabhängigen Gericht im Sinne des Art. 47 Abs. 2 GRCh bzw. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV nach seiner Übergabe gefährdet ist.38 Unter Berücksichtigung seiner bisherigen Rechtsprechung ist mit gewisser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der EuGH das LM-Urteil übertragen und dementsprechend die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes von der Anwendung des zweistufigen Tests abhängig machen wird.

34

EuGH, Rs. C-194/19, ECLI:EU:C:2021:270, Rn. 43 ff. – Belgischer Staat. Dazu ferner unter 2. Kap., E. II. 3., S. 92 f. 36 EuGH, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 86 ff. – Ibrahim. 37 EuGH, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 89 f. – Ibrahim; Rs. C-540/17, ECLI:EU:C:2019:964, Rn. 34 f. – Hamed. 38 Bezüglich der Bedeutung des in Art. 46 Richtlinie 2013/32/EU niedergelegten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf vgl. EuGH, Rs. C-556/17, ECLI:EU:C:2019:626, Rn. 72 – Torubarov. 35

B. Die Systemische-Mängel-Doktrin

265

2. Europäischer Haftbefehl Wie bereits an früherer Stelle dargestellt,39 hat der EuGH seit seinem AranyosiUrteil in Bezug auf die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Widerlegbarkeit der Vertrauensvermutung anerkannt und einen zweistufigen Test für die Überprüfung, ob ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh vorliegt, eingeführt. Die zwei Stränge belegen, dass der Test darüber hinausgeht, dass die vollstreckende Justizbehörde auf Grundlage von objektiven Angaben das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel feststellt. Vielmehr muss sie für die Bejahung einer Verletzung des Art. 4 GRCh die Auswirkungen solcher Mängel im konkreten Fall prüfen.40 Systemische Mängel in Bezug auf die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat bilden somit eine taugliche, aber nicht ausreichende Voraussetzung für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls. Derselbe Test findet nach dem LM-Urteil in Bezug auf Art. 47 Abs. 2 GRCh Anwendung, wenn die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen systemischer Mängel im Gerichtssystem des ersuchenden Mitgliedstaats bewerten muss.41 Im Rahmen des Europäischen Haftbefehls sind also systemische Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit bzw. das Unabhängigkeitserfordernis für sich genommen nicht ausreichend, den Vertrauensgrundsatz zu widerlegen und die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auszusetzen. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass, wenn ein Europäischer Haftbefehl von einem Mitgliedstaat zur Übergabe einer gesuchten Person zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellt wird, die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen ihrer konkreten Einzelprüfung, d.h. im Rahmen der zweiten Stufe des Tests, auch die Auswirkungen solcher Mängel, die möglicherweise nach der Ausstellung des betreffenden Europäischen Haftbefehls aufgetreten sind, berücksichtigen muss.42 Das Gleiche gilt im Fall eines Europäischen Haftbefehls, der von einem Mitgliedstaat zur Übergabe einer gesuchten Person zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wird, wenn gegen diese Person nach ihrer eventuellen Übergabe ein neues Gerichtsverfahren – gegebenenfalls wegen Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder eines Rechtsmittels gegen die Gerichtsentscheidung, deren Vollstreckung Gegenstand dieses Europäischen Haftbefehls ist – eröffnet wird. In diesem zweiten Fall muss die vollstreckende Justizbehörde

39

Vgl. 2. Kap., D. V. 5., S. 66 ff. EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198, Rn. 92, 94 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru. 41 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 60 ff. – Minister for Justice and Equality (LM). 42 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 66 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 40

266

7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament

jedoch auch prüfen, inwieweit die im Ausstellungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bestehenden systemischen Mängel die Unabhängigkeit des Gerichts dieses Mitgliedstaats beeinträchtigt haben, das die Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung verhängt hat.43 Der EuGH deutet implizit an, dass spätere, der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls nachfolgende Verbesserungen hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit die zum Zeitpunkt seiner Ausstellung bestehenden Mängel nicht kompensieren bzw. nachträglich heilen können. Eng damit verbunden ist die Frage, ob die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus dem Grund versagen darf, dass systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats zum Zeitpunkt der Ausstellung des betreffenden Europäischen Haftbefehls bestanden haben oder im Anschluss daran aufgetreten sind, weshalb diese nicht (mehr) als ausstellende Justizbehörde im Sinne des Art. 6 Abs. 1 RbEuHb zu qualifizieren sein könnte.44 Der EuGH verneint dies mit der Begründung, dass die Existenz solcher Mängel, so gravierend sie auch sein mögen, sich nicht zwangsläufig auf jede Entscheidung auswirke, die die Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats im jeweiligen Einzelfall erlassen können.45 Denn eine gegenteilige Auslegung hätte die faktische Aussetzung der Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gegenüber dem mit systemischen Mängeln behafteten Mitgliedstaat zur Folge46 und würde darüber hinaus dazu führen, dass kein Gericht dieses Mitgliedstaats als „Gericht“ bei der Anwendung anderer Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere des Art. 267 AEUV, angesehen werden könnte.47 Solange also ein Beschluss des Art. 7 Abs. 2 EUV noch nicht erlassen worden ist, muss die vollstreckende Justizbehörde zwar die bestehenden Mängel zum Anlass nehmen, um Wachsamkeit zu üben, ist aber nichtsdestotrotz von der Anwendung des zweistufigen Aranyosi-Tests nicht entbunden.48 Das Vorliegen bzw. die Zuspitzung von systemischen Mängeln in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit kann demnach für sich allein weder einen tauglichen Grund für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darstellen noch zur Infragestellung der Einstufung des Ausstellungsgerichts als Justizbehörde im Sinne des Art. 6 Abs. 1 RbEuHb führen.49 Im Ergebnis ist festzu43

EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 66 ff. – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 44 Zum Begriff „Justizbehörde“ s. oben unter 2. Kap., D. V. 2., S. 58 ff. 45 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 41 f., 50 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 46 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 43, 59 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 47 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 43 f. – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 48 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 60 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 49 Vgl. A. Fra˛ckowiak-Adamska, CMLRev. 59 (2022), 113 (126 f.), wonach der EuGH bei seiner Herangehensweise Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV hätte heranziehen müssen.

B. Die Systemische-Mängel-Doktrin

267

halten, obwohl der EuGH die rechtliche Relevanz von systemischen Mängeln bei den Kooperationsmechanismen erläutert, hat er diese bislang nicht näher definiert.

III. Systemische Mängel und Vertrauensgrundsatz Zunächst herrscht Einigkeit zwischen Rechtswissenschaft und EuGH-Rechtsprechung darüber, dass der Begriff der systemischen Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit Extremsituationen im Sinne von besonders qualifizierten Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip betrifft, in denen die Gewährleistung der geschützten Rechtsgüter in Frage gestellt wird. Wiederholte Rechtsbrüche in bestimmten Rechtsgebieten sind in mit systemischen Mängeln behafteten Mitgliedstaaten zu erwarten mit der Folge, dass die zwischenstaatliche Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedstaaten verhindert wird. Daraus folgt die Funktion systemischer Mängel, als tauglicher – aber nicht ausreichender – Grund für die Widerlegung der Vertrauensvermutung und die Aussetzung der Kooperation zu dienen. Nach der Rechtsprechung des EuGH darf eine Kooperation aber erst dann ausgesetzt werden, wenn systemische Mängel sich im konkreten Einzelfall auf die Rechtsstellung des Betroffenen auswirken. Wie darzulegen sein wird, ist diese Herangehensweise angesichts der EuGH-Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und der faktensensiblen Natur des Vertrauensgrundsatzes kritisch zu hinterfragen. 1. Insbesondere: „Justizbehörden“ im Mechanismus des Europäischen Haftbefehls und richterliche Unabhängigkeit Widmet man sich der EuGH-Rechtsprechung in Bezug einerseits auf die richterliche Unabhängigkeit gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und andererseits auf die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des Europäischen Haftbefehls vertiefter, treten bestimmte Widersprüche zutage. Diese belegen den Kampf des EuGH, die anstehende Rechtsstaatlichkeitskrise unter Heranziehung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zu bewältigen, ohne dabei die Wirksamkeit des Vertrauensgrundsatzes zu beeinträchtigen. Konkret ist hier der Frage nachzugehen, inwieweit die ausstellenden Gerichte im Rahmen des RbEuHb als „Justizbehörden“ im Sinne von Art. 6 RbEuHb gelten (dürfen), wenn die systemischen Mängel an Rechtsstaatlichkeit so gravierend sind, dass der EuGH selbst eine Verletzung der Anforderung der Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV in bestimmten Mitgliedstaaten festgestellt hat. Nach gefestigter EuGH-Rechtsprechung müssen zunächst die im Rahmen des RbEuHb tätigen Justizbehörden den Anforderungen des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes sowie der Unabhängigkeit genügen.50 Daraus folgt, dass

50

Dazu A. Martufi, CMLRev. 59 (2022), 1371 (1375 ff.).

268

7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament

vom Mechanismus des Europäischen Haftbefehls diejenigen nationalen Stellen ausgeschlossen sind, die bei der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls der Gefahr ausgesetzt sind, Weisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden.51 In dieser Hinsicht stellt die Unabhängigkeit der Justizbehörde eine unerlässliche Voraussetzung für die Gültigkeit des Europäischen Haftbefehls dar. Demzufolge muss die vollstreckende Justizbehörde einen von einer nicht unabhängigen Justizbehörde ausgestellten und daher ungültigen Europäischen Haftbefehl nicht vollstrecken und muss sodann die einschlägigen nationalen Verfahrensvorschriften zur Anwendung bringen.52 In diesem Zusammenhang sind laut dem EuGH die nationalen Gerichte als ausstellende Justizbehörden im Sinne von Art. 6 Abs. 1 RbEuHb einzustufen, selbst wenn gravierende systemische Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats vorliegen.53 Dies begründet er damit, dass die Anforderung der Unabhängigkeit es „in einer rechtsstaatlichen Union ausschließt, dass die Gerichte mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet sein und von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen erhalten können“.54 Das Vorliegen systemischer Defizite im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit ist allerdings in der EuGH-Rechtsprechung auch in Fällen relevant, in denen die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit einer Verletzung des Art. 47 GRCh nach der Übergabe im Ausstellungsmitgliedstaat begründet wird. Hier kommt nach der LM-Rechtsprechung die Anwendung des zweistufigen Aranyosi-Tests und damit eine über die Existenz systemischer Mängel hinausgehende Einzelfallprüfung zum Tragen. Rechtsfolge ist dabei die Aussetzung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. In dieser Hinsicht ist erstens darauf hinzuweisen, dass derselbe tatsächliche Hintergrund, d.h. die fehlende Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde, unterschiedlich behandelt werden kann: Wird geltend gemacht, dass die ausstellende Justizbehörde nicht die Anforderungen an die Unabhängigkeit erfüllt, wird der Europäische Haftbefehl für ungültig erklärt und der RbEuHb in diesem Fall keine Anwendung finden. Wird aber die Verletzung des Art. 47 Abs. 2 GRCh für die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes und die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls vorgebracht, muss die vollstreckende Justizbehörde über das Vorliegen systemischer Mängel hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit hinaus im Einzelfall prüfen, ob das Grundrecht auf ein faires Verfahren nach der Übergabe der verfolgten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat in seinem Wesensge-

51 EuGH, verb. Rs. C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456, Rn. 74 – OG (Parquet de Lübeck); Rs. C-509/18 ECLI:EU:C:2019:457, Rn. 52 – PF (Procureur ge´ne´ral de Lituanie). 52 Ferner unter 2. Kap., D. V. 2., S. 58 ff. 53 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 50 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 54 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 49 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission).

B. Die Systemische-Mängel-Doktrin

269

halt verletzt wird.55 Bereits an dieser Stelle ist festzustellen, dass der zweistufige Aranyosi-Test bei der Beurteilung der (Nicht-)Vollstreckbarkeit eines Europäischen Haftbefehls berücksichtigt werden muss, bei seiner Ungültigkeitserklärung hingegen nicht. Der Kernpunkt der Kritik betrifft allerdings den inneren Widerspruch der EuGH-Rechtsprechung hinsichtlich einerseits der (wiederholten) Verletzung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV durch bestimmte Mitgliedstaaten, die durch Gesetzesänderungen die Judikative unter politische Kontrolle gestellt haben,56 und andererseits der Einstufung derselben Gerichte als (unabhängige) Justizbehörden im Rahmen des RbEuHb. Denn die politische Vereinnahmung der Justiz durch gezielte Änderungen des nationalen Gerichtssystems in einem Mitgliedstaat entzieht der Annahme den Boden, dass die Gerichte in unionsrechtlich geprägten Konstellationen „ihrem Wesen nach in völliger Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive handeln“57 werden. Auch würde der Ausschluss der Gerichte, die den Anforderungen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV nicht genügen, vom Begriff der „Justizbehörde“ die Beschränkungen zum Vertrauensgrundsatz nicht über „außergewöhnliche Umstände“ hinaus ausdehnen. Denn die Schaffung eines Gerichtssystems, in dem die politische Kontrolle über die Judikative etabliert wird, stellt einen eklatanten Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und das Prinzip der Gewaltenteilung und insoweit einen außergewöhnlichen Umstand an sich dar.58 Außerdem wäre der Vertrauensgrundsatz sinnentleert, wenn er auch in Fällen offensichtlichen Verstoßes gegen die Unionswerte bzw. die Rechtsstaatlichkeit volle Anwendung fände. Aus diesen Gründen muss also zwischen zwei unterschiedlichen Konstellationen differenziert und die EuGH-Rechtsprechung in Zukunft dementsprechend angepasst werden: Wenn einerseits der EuGH einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV durch einen Mitgliedstaat festgestellt hat bzw. wenn die systemischen Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit im Ausstellungsmitgliedstaat so gravierend sind, dass sie zu einer Verletzung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV führen, sind die Gerichte dieses Mitgliedstaats nicht als Justizbehörden im Sinne des Art. 6 Abs. 1 RbEuHb einzuordnen und die bereits durch diese Gerichte ausgestellten Europäischen Haftbefehle für ungültig zu erklären. Die Anwendung des zweistufigen Aranyosi-Tests ist hierbei entbehrlich.59 Solche Gerichte 55

EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 61 ff. – Minister for Justice and Equality (LM); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 53 ff. – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 56 Vgl. EuGH, Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI: EU:C:2019:982 – A.K. 57 EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 41 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 58 Wie hier A. Fra˛ckowiak-Adamska, CMLRev. 59 (2022), 113 (142). 59 Ähnlich im Ergebnis A. Fra˛ckowiak-Adamska, CMLRev. 59 (2022), 113 (144).

270

7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament

müssen solange vom Erlass Europäischer Haftbefehle ferngehalten werden, bis die rechtsstaatlichen Mängel beseitigt sind.60 Wenn aber andererseits das Gerichtssystem des Ausstellungsmitgliedstaats grundsätzlich die Anforderungen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV erfüllt, die betreffende Person jedoch im Rahmen ihrer Übergabe geltend macht, ihr Recht auf ein faires Verfahren (Art. 47 Abs. 2 GRCh) werde nach ihrer Übergabe in seinem Wesensgehalt aufgrund von systemischen Mängeln im Justizsystem verletzt, findet der zweistufige Aranyosi-Test weiterhin Anwendung. Die Folge wäre allerdings lediglich die Aussetzung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. Diese differenzierte Herangehensweise entspricht schließlich der unterschiedlichen Behandlung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 GRCh durch den EuGH, der Ersteren als objektive Garantie der richterlichen Unabhängigkeit, Letzteren als subjektives Grundrecht auffasst. Schließlich wird sich das Vorliegen rechtsstaatlicher Mängel künftig über das Haftbefehlsrecht hinaus in allen Bereichen justizieller Zusammenarbeit, die auf der Anerkennung von Gerichtsentscheidungen beruhen, auf die Reichweite der Anerkennungspflicht auswirken. Denn die Unabhängigkeit des Erlassgerichts wird in den Sekundärrechtsakten nicht explizit gefordert, sondern implizit vorausgesetzt.61 Die Verletzung dieser Grundvoraussetzung muss daher von den betreffenden Personen vor dem Vollstreckungsgericht geltend gemacht werden können. Mangels eines entsprechenden Versagungsgrunds in den Sekundärrechtsakten kann eine solche Prüfungsbefugnis, die gegebenenfalls zur Aussetzung der Kooperation führen kann, aus dem unionsrechtlichen Ordre-publicVorbehalt gemäß Art. 2 EUV62 i.V.m. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV abgeleitet werden. Die Kontrolldichte hinsichtlich des erforderlichen Maßes an Unabhängigkeit unterscheidet sich dabei je nach Rechtsgebiet bzw. je nachdem, wie intensiv das Erlassgericht grundrechtliche Fragen zu beurteilen hat.63 2. Umkehr der Beweislast Der EuGH geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass die betreffende Person der Vollstreckungsbehörde die Beweise vorlegen muss, die die Verletzung ihrer Grundrechte im Einzelfall im ersuchenden Mitgliedstaat nachweisen, selbst wenn dieser Mitgliedstaat mit systemischen Mängeln in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit behaftet ist. Diese Herangehensweise scheint allerdings zu verkennen, dass das Vorliegen systemischer Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit eine Extremsituation gravierender Rechtsmissachtungen in einem Rechtsgebiet belegt. Berücksichtigt man dabei die faktensensible Natur des Vertrauensgrundsatzes,

60

Vgl. in Bezug auf die Europäische Ermittlungsverordnung EuGH, Rs. C-852/19, ECLI: EU:C:2021:902, Rn. 60 ff. – Gavanozov II. 61 Vgl. EuGH, Rs. C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193, Rn. 54 – Pula Parking. 62 Vgl. 5. Kap., C. II., S. 208 f. 63 Ähnlich im Ergebnis S. Burrer/D. Marusczyk, EuZW 2022, 200 (205 f.).

C. Zwischenergebnis

271

der anhand von objektiven, entgegenstehenden Nachweisen erschütterbar ist,64 ist die Ansicht des EuGH aus dogmatischen Gründen abzulehnen, wonach systemische Mängel für sich genommen keine Auswirkung auf den Vertrauensgrundsatz haben.65 Vielmehr sollten systemische Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit, die allerdings unterhalb der Schwelle einer Verletzung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV liegen und daher einer zusätzlichen Einzelfallprüfung durch den Vollstreckungsmitgliedstaat zuzuführen sind, zur Beweislastumkehr führen: Wenn die betreffende Person Nachweise über das Vorliegen systemischer Mängel im ersuchenden Mitgliedstaat vorbringt, obliegt es der ausstellenden Behörde, die ernsthafte Gefahr einer Verletzung der Grundrechte der betreffenden Person im konkreten Fall auszuschließen.66 Somit gilt: Der Vertrauensgrundsatz wird durch das Vorliegen systemischer Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit im ersuchenden Mitgliedstaat nicht widerlegt, solange die Ausstellungsbehörden der Vollstreckungsbehörde Nachweise vorbringen, die eine ernsthafte Gefahr einer Grundrechtsverletzung im Einzelfall ausschließen.

C. Zwischenergebnis Die Rechtsstaatlichkeitskrise beschreibt die Absicht eines Mitgliedstaats, seine eigene Wertvorstellung durchzusetzen, die allerdings dem Inhalt der europäischen Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 2 EUV widerspricht. Eine derartige Erosion des Vertrauensfundaments, das in der Achtung der Unionswerte liegt, deutet zugleich auf eine Vertrauenskrise und die Gefährdung der innerunionalen Zusammenarbeit hin. Der Begriff des systemischen Mangels in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit ist dabei besonders geeignet, um sich dem deskriptiven Begriff „Rechtsstaatlichkeitskrise“ dogmatisch anzunähern und diesen auf Extremsituationen im Sinne besonders qualifizierter Rechtsuntreue im Hinblick auf das Unionsrecht zu begrenzen, die aufgrund ihrer Schwere negative Auswirkungen auch auf die anderen Mitgliedstaaten entfalten. Den primärrechtlichen Anknüp64 Vgl. zu der Unterscheidung in Bezug auf das Asylrecht A. Lübbe, NVwZ 2017, 674 (679); dies., EuR 2019, 352 (360). 65 Der EuGH stellt dadurch eine Unbeachtlichkeitsregel auf, so A. Lübbe, NVwZ 2017, 674 (676); dies., EuR 2019, 352 (359). 66 So auch A. Fra˛ckowiak-Adamska, CMLRev. 59 (2022), 113 (136 f.); vgl. in diesem Sinne EGMR, Entscheidung vom 25.03.2021, Bivolaru und Moldovan/Frankreich, Nr. 40324/16 und 12623/17, §§ 119 ff., 125; in diese Richtung implizit EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 61 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); vgl. auch J. Kokott/I. Dervisopoulos, in: S. LeutheusserSchnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde, 2013, S. 123 (129): das Vorliegen systemischer Mängel könnte zur Erleichterung der Beweisführung für den Betroffenen führen; ähnlich, allerdings ohne Bezug auf Art. 19 Abs. 1 EUV, C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 563 ff., Rn. 1006 ff., indem sie Vertrauen als ein Instrument für Risikomanagement betrachtet.

272

7. Kapitel: Rechtsstaatlichkeitskrise als Riss im Vertrauensfundament

fungspunkt stellt dabei Art. 7 EUV dar, wonach nur schwerwiegende und anhaltende Verletzungen der Unionswerte unionsrechtlich sanktioniert werden dürfen. Auch die unionsrechtliche Judikatur bestätigt die rechtliche Relevanz von systemischen Mängeln vor allem in Fällen, in denen die zwischenstaatliche Kooperation in Frage gestellt wird. Insbesondere im Asyl- und Haftbefehlsrecht betrachtet der EuGH systemische Mängel im Rahmen des zweistufigen Aranyosi-Tests zur Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes als den berechtigten Anlass einer daran anschließenden Einzelfallprüfung. Die EuGH-Rechtsprechung ist allerdings hinsichtlich zweier Punkte zu bemängeln und in Zukunft dementsprechend weiterzuentwickeln: Erstens sollten nationale Gerichte, die den Unabhängigkeitsanforderungen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV nicht genügen, nicht als „Justizbehörden“ im Sinne von Art. 6 RbEuHb eingestuft und die von ihnen erlassenen Europäischen Haftbefehle ohne Hinzuziehung des AranyosiTests für ungültig erklärt werden. Die Anwendung des Aranyosi-Tests ist hingegen in Fällen einer drohenden Verletzung von Art. 47 Abs. 2 GRCh im Ausstellungsmitgliedstaat weiterhin relevant. Hier sollte zweitens das Vorliegen systemischer Mängel zu einer Beweislastumkehr zugunsten der betroffenen Person führen, sodass es der ausstellenden Behörde obliegt, die ernsthafte Gefahr einer Verletzung der Grundrechte im konkreten Fall auszuschließen. Eine Weiterentwicklung der EuGH-Rechtsprechung in diese Richtung würde Druck auf die mit rechtsstaatlichen Mängeln behafteten Mitgliedstaaten ausüben und zur Beseitigung dieser Mängel beitragen.

8. Kapitel

Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung durch Maßnahmen gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise In Reaktion auf die rechtsstaatlich bedenklichen Entwicklungen in bestimmten Mitgliedstaaten hat die EU das ihr zur Verfügung stehende Instrumentarium zur Rechtsstaatlichkeitsaufsicht1 eingesetzt bzw. maßgeblich weiterentwickelt.2 Hinsichtlich der auf Unionsebene getroffenen Maßnahmen kann zwischen politischen, gesetzgeberischen und gerichtlichen Initiativen differenziert werden, die ein jeweils unterschiedliches Eingriffspotenzial in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aufweisen. Diese Instrumente sind weitgehend dem Ziel verschrieben, den Wert der Rechtsstaatlichkeit als Vertrauensfundament effektiv zu schützen und dadurch die Grundlagen für die Vermutung der Unionsrechtstreue abzusichern. Allen EU-Initiativen ist aber gemeinsam, dass sie nur begrenzt eine Beseitigung der rechtsstaatsbezogenen Mängel herbeiführen können, da dies letztendlich allein Aufgabe der souveränen Mitgliedstaaten ist. Nichtdestotrotz sollte der durch die Unionsmaßnahmen ausgeübte Druck auf die betreffenden Mitgliedstaaten, insbesondere bei einer kumulativen Einsetzung von Rechtsinstrumenten nicht unterschätzt werden.

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen Unter die politischen Initiativen können zunächst diejenigen Verfahren gefasst werden, in denen die Einleitung eines Dialogs zwischen den Unionsorganen einerseits und den Mitgliedstaaten andererseits zur Behebung rechtsstaatsspezifischer Unzulänglichkeiten im Mittelpunkt steht, ohne dass daraus verbindliche Rechtsfolgen für den betreffenden Mitgliedstaat erwachsen.3 Hierunter fallen insbesondere die Verfahren nach Art. 7 EUV, der EU-Rahmen zur Stärkung des

1 Vgl. A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (322): „Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahren“; M. Wendel, EuR 2019, 111 (112 f.): „gerichtliche Rechtsstaatlichkeitsaufsicht“; vgl. aber M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 239 ff., der demgegenüber den Begriff der „Verfassungsaufsicht“ als vorzugswürdig vorschlägt; A. Weber, DÖV 2017, 741 (746): „rechtsstaatliche Verfassungsaufsicht“. 2 Vgl. aber P. Ba´rd, ELJ 28 (2022), 185 (190 ff.), die bemängelt, dass die Unionsorgane das Schutzpotenzial des vorhandenen Instrumentariums nicht ausgeschöpft haben. 3 Einzige Ausnahme stellt insoweit Art. 7 Abs. 2 und 3 EUV dar.

274

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Rechtsstaatsprinzips, der Rechtsstaatsdialog im Rat, das EU-Justizbarometer sowie der Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit.

I. Art. 7 EUV-Verfahren Art. 7 EUV bildet die Spiegelvorschrift zu Art. 49 EUV und ermöglicht es der EU, auf gravierende Verletzungen des Wertefundaments durch einzelne Mitglieder mit angemessenen Sanktionen zu reagieren.4 Obwohl die Art. 7 EUV-Verfahren im Zusammenhang mit den EU-Erweiterungen in den Jahren 2004 und 2007 aufgenommen wurden, können sie – dem Gleichheitsgrundsatz folgend – auf alle und nicht nur auf die damaligen neuen Mitgliedstaaten angewendet werden.5 Die mit dem Amsterdamer Vertrag eingeführte Vorschrift6 zielt darauf, ein Mindestmaß an Wertehomogenität in einer heterogen zusammengesetzten Unionsgemeinschaft zu gewährleisten.7 Aus diesem Grund beschränkt sich die Anwendbarkeit von Art. 7 EUV nicht auf den Anwendungsbereich des Unionsrechts und ist insoweit vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung losgelöst.8 Die ursprüngliche Hauptfunktion von Art. 7 EUV lag darin, eine abschreckende Wirkung für die neuen Mitgliedstaaten zu erzielen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die EU über keine weiteren Rechtsinstrumente gegen Rückfälle in Bezug auf die Unionswerte des Art. 2 EUV verfügt.9 In den Worten der Kommission handele es sich dabei um einen politischen Notfallmechanismus, der auf Ausnahmesituationen mit systematischer und struktureller Dimension abziele.10 Die Bedeutung der primärrechtlichen Vorschrift für die Wiederherstellung des Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten hat seit der (verspäteten) Verfahrenseinleitung gegen Polen11 und Ungarn12 erneut an Ge4 Ähnlich F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 7 EUV, Rn. 11. 5 Anders als z.B. das Kooperations- und Kontrollverfahren, D. Kochenov, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 127 (135). 6 Ursprünglich als reiner Sanktionsmechanismus gedacht, näher D. Kochenov, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 127 (134 f.); W. Sadurski, CJEL 16 (2010), 385 (388 ff.). 7 M. Ruffert, in: C. Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 7 EUV, Rn. 1. 8 KOM(2003) 606 endg., S. 5; L. Besselink, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 128 (141 f.); D. Kochenov, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 127 (137). 9 D. Kochenov/L. Pech, JCMS 54 (2016), 1062 (1064); ähnlich M. Potacs, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159 (167); L. Tichy´, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 87 (89). 10 KOM(2010) 573 endg., S. 12. 11 KOM(2017) 835 endg.; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 1. März 2018 zu dem Beschluss der Kommission, im Hinblick auf die Lage in Polen das Verfahren gemäß Artikel 7 Absatz 1 EUV einzuleiten (2018/2541[RSP]), ABl. EU 2019 Nr. C 129, S. 13. 12 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. September 2018 zu einem Vorschlag, mit dem der Rat aufgefordert wird, im Einklang mit Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen

275

wicht gewonnen. Die Grenzen des Schutzpotenzials von Art. 7 EUV für die Unionswerte wurden jedoch schnell sichtbar13 und sind mit dessen Bezeichnung als „leere Worthülse“ zutreffend zum Ausdruck gebracht worden.14 1. Der Präventionsmechanismus Art. 7 EUV schreibt einen Präventions- sowie einen Sanktionsmechanismus fest. Zunächst muss die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat festgestellt werden (Abs. 1).15 Angesichts der nach Art. 269 AEUV begrenzten Justitiabilität des Art. 7 EUV16 liegt die Gefahrenprognose weitgehend im politischen Ermessen der beteiligten Organe,17 das allerdings überschritten wird, wenn das Nichtvorliegen einer Gefahr evident ist.18 Dieses Verfahren fungiert als Präventionsmechanismus, im Rahmen dessen der betreffende Mitgliedstaat in einen Dialog mit den politischen EU-Institutionen kommen soll, um eine Verletzung der Unionswerte rechtzeitig zu verhindern. Als Initiativberechtigte sind ein Drittel der Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament und die Kommission benannt. Dabei steht dem betroffenen Mitgliedstaat ein Anhörungsrecht nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 über die Europäische Union festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn besteht (2017/2131[INL]), ABl. EU 2019 Nr. C 433, S. 66. Ungarn hat eine Nichtigkeitsklage gegen die Entschließung des Europäischen Parlaments erhoben, die allerdings vom EuGH abgewiesen wurde, vgl. EuGH, Rs. C-650/18, ECLI:EU:C:2021:426 – Ungarn/Parlament. 13 D. Kochenov, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 127 (129 ff., 145), führt die politische Unwilligkeit des Rates, sich aktiver im Kampf gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise zu beteiligen, auf die Tatsache zurück, dass die Einleitung des Art. 7 EUV aufgrund der Interdependenzen im Binnenmarkt und des „spill-over“-Effekts gravierende wirtschaftliche Konsequenzen auch für die anderen Mitgliedstaaten nach sich zieht. 14 A. Williams, ELRev. 31 (2006), 3 (6): „empty signifier“. 15 Anlass für die Einführung des Präventionsmechanismus war der „Fall Österreich“ im Jahre 2000, in dessen Kontext die 14 Mitgliedstaaten bilaterale Sanktionen gegen Österreich verhängt hatten, näher P. Crame´r/P. Wrange, Stockholm University Research Paper No. 19, 2001, 28 (28 ff.); M. Merlingen/C. Mudde/U. Sedelmeier, JCMS 39 (2001), 59 (64 ff.); W. Sadurski, CJEL 16 (2010), 385 (396 ff.). 16 Gerichtlich überprüfbar ist nur die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen, einschließlich der angemessenen Begründung von Maßnahmen; so auch EuG, Rs. T-337/03, Slg. 2004 II, 1041, Rn. 15 – Bertelli Ga´lvez/Kommission; EuGH, Rs. C-650/18, ECLI:EU:C: 2021:426, Rn. 30 – Ungarn/Parlament. Art. 269 AEUV betrifft aber nur die Rechtsakte des Rates bzw. des Europäischen Rates, die im Rahmen des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens erlassen werden, sodass die nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen Entschließungen des Parlaments ganz „normal“ nach Art. 263 AEUV auf ihre Rechtmäßigkeit hin gerichtlich überprüfbar sind, EuGH, Rs. C-650/18, ECLI:EU:C:2021:426, Rn. 31 ff. – Ungarn/Parlament. 17 KOM(2003) 606 endg., S. 6. 18 M. Niedobitek, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 233 (241); F. Schorkopf, Homogenität in der EU, 2000, S. 158 f.

276

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

S. 2 EUV zu. Schließlich steht es im Ermessen des Rates, die Feststellung einer Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung eines in Art. 2 EUV genannten Wertes mit geeigneten Empfehlungen zu verbinden.19 2. Der Sanktionsmechanismus In einem weiteren Schritt und unabhängig von der vorherigen Einleitung des Präventionsmechanismus20 wird das Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Unionswerte festgestellt und somit das Sanktionsverfahren nach Art. 7 Abs. 2 und 3 EUV eingeleitet. Als Initiativberechtigte sind hier – anders als in Abs. 1 – allein ein Drittel der Mitgliedstaaten sowie die Kommission benannt, die jeweils nach politischem Ermessen über die Einleitung des Sanktionsverfahrens entscheiden.21 Nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann – aufgrund des besonderen politischen Gewichts – allein der Europäische Rat einen Feststellungsbeschluss erlassen, der zudem einstimmig eingehen muss. Zuvor muss allerdings den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert haben. Zur Bestimmung der Schwere einer Verletzung sind etliche Kriterien heranzuziehen, etwa der Gegenstand und die Folgen der Verletzung ebenso wie deren systematische Natur.22 Der Erlass eines Feststellungsbeschlusses durch den Europäischen Rat führt schließlich zur letzten Stufe des Sanktionsverfahrens, nämlich zur Aussetzung bestimmter Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat (Abs. 3). Hier ist allein der Rat aktiv, der entscheidet, ob die Feststellung des Europäischen Rates in konkrete Sanktionen münden soll. Dabei wird weder eine Stellungnahme des betroffenen Mitgliedstaats eingeholt noch ist die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich. Der Begriff der auszusetzenden Rechte ist unbeschränkt, sodass die Aussetzung sämtlicher Teilhaberechte im Rahmen der Unionsverträge, wie etwa Anwesenheits-, Rede- und Mitwirkungsrechte in den unionsvertraglich vorgesehenen Gremien, oder auch der Ausschluss finanzieller Ansprüche möglich ist.23 19 Die öffentliche Bekanntmachung der Einleitung des Präventionsmechanismus gegen einen Mitgliedstaat (sog. „naming and shaming“) bildet zwar eine mögliche informelle Sanktion im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 EUV, ihr Auswirkungspotenzial ist jedoch begrenzt, D. Kochenov, in: M. Kellerbauer/M. Klamert/J. Tomkin (Hrsg.), EU Treaties: A Commentary, 2019, Art. 7 TEU, Rn. 24. 20 KOM(2003) 606 endg., S. 5. 21 Das Europäische Parlament kann jedoch nach Art. 89 seiner Geschäftsordnung über einen Vorschlag abstimmen, mit dem die Kommission oder die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, das Verfahren nach Art. 7 Abs. 2 EUV einzuleiten. 22 KOM(2003) 606 endg., S. 9; D. Kochenov, in: M. Kellerbauer/M. Klamert/J. Tomkin (Hrsg.), EU Treaties: A Commentary, 2019, Art. 7 TEU, Rn. 23; O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (156 ff.). 23 D. Kochenov, in: M. Kellerbauer/M. Klamert/J. Tomkin (Hrsg.), EU Treaties: A Commentary, 2019, Art. 7 TEU, Rn. 26 f.; M. Ruffert, in: C. Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/AEUV,

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen

277

Werden hierdurch die Rechte natürlicher oder juristischer Personen stark beschränkt, muss vorab eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen.24 Dem Umfang des Sanktionsbeschlusses werden allerdings inhaltliche Grenzen gesetzt, sodass zum Beispiel die Aussetzung des Erfordernisses der Ratifikation, die Einbeziehung von anderen Organen in die Sanktionswirkungen oder gar der Ausschluss des betroffenen Mitgliedstaats aus der Union nicht unter die möglichen Sanktionsmaßnahmen fallen.25 Denn das Sanktionsverfahren soll allein darauf abzielen, die Einhaltung der Unionswerte in dem betreffenden Mitgliedstaat sicherzustellen, und nicht darauf, diesen Mitgliedstaat aus dem Integrationsprojekt komplett auszuschließen.26 3. Politische Natur und (Un-)Wirksamkeit des Art. 7 EUV-Verfahrens Die Art. 7 EUV-Verfahren räumen sowohl dem Rat als auch dem Europäischen Rat einen weitreichenden Ermessensspielraum ein und zielen darauf ab, Verstöße durch ein umfassendes politisches, aber auch diplomatisches Vorgehen zu beheben.27 Aus diesem Grund wird auch die Zuständigkeit des EuGH nach Art. 269 AEUV allein auf die rechtmäßige Einhaltung der Verfahrensregelungen beschränkt.28 Bei der Ausübung ihres Ermessens müssen die politischen Organe der EU eine Abwägung der kollidierenden Interessen vornehmen, um die Entscheidung treffen zu können, ob die Einleitung des Art. 7 EUV-Verfahrens angezeigt ist.29 Auf der einen Seite steht die Wahrung der Unionswerte des Art. 2 EUV, die durch den betroffenen Mitgliedstaat schwerwiegend verletzt zu werden drohen bzw. bereits verletzt werden. Auf der anderen Seite müssen die Interessen dieses Mitgliedstaats berücksichtigt werden, die sich aus seiner Mitgliedschaft ergeben, darunter auch die Wahrung des Vertrauensgrundsatzes und die reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.30 Denn selbst die Einleitung des 6. Aufl. 2022, Art. 7 EUV, Rn. 28 ff.; F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 7 EUV, Rn. 43. 24 U. Becker, in: J. Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 7 EUV, Rn. 11; U. Kassner, Die Unionsaufsicht, 2003, S. 139 f.; M. Potacs, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159 (165); F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 7 EUV, Rn. 44. 25 L. Besselink, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 128 (129 ff.), der dabei betont, dass sehr gravierende Sanktionen eine Verletzung des Loyalitätsgrundsatzes darstellen können; M. Potacs, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159 (165 f.); F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 7 EUV, Rn. 47. 26 F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 7 EUV, Rn. 47 m.w.N. 27 Aus diesem Grund kann keine Pflicht zu deren Einleitung aus Art. 7 EUV abgeleitet werden, so M. Niedobitek, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 233 (238 f.). 28 V. Skouris, Demokratie und Rechtsstaat, 2018, S. 48. 29 Näher M. Niedobitek, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 233 (238); M. Potacs, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159 (161 ff.). 30 M. Potacs, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159 (163 f.).

278

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Präventionsmechanismus nach Art. 7 Abs. 1 EUV gegen einen Mitgliedstaat hat unmittelbare Auswirkungen auf seine Vertrauenswürdigkeit und damit auch auf das Fortbestehen der Vermutung, dass die Grundwerte der Union und insbesondere die Rechtsstaatlichkeit in diesem Mitgliedstaat tatsächlich geachtet werden.31 Selbst wenn sich die EU-Organe für die Einleitung eines der beiden Art. 7 EUV-Verfahren entscheiden, stellen die in dem Artikel vorgeschriebenen Verfahrensanforderungen, vor allem die Einstimmigkeit im Europäischen Rat und die vorherige Zustimmung des Europäischen Parlaments bezüglich der Einleitung des Sanktionsmechanismus (Abs. 2), eine zusätzliche Hürde dar. Diese Hürde erweist sich als unüberwindlich, wenn zur selben Zeit zwei oder mehrere Mitgliedstaaten mit systemischen Mängeln in Bezug auf die Unionswerte behaftet sind, denn es besteht die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen und ein Veto bei der Abstimmung einzulegen.32 Darüber hinaus belegen die Fälle von Polen und Ungarn, dass die verspätete33 Einleitung des Verfahrens nach Art. 7 Abs. 1 EUV nicht zur Beseitigung von etwaigen rechtsstaatsbezogenen Mängeln ausreicht und deshalb von zusätzlichen Maßnahmen begleitet werden muss.34 Vor diesem Hintergrund bleibt der effektive Schutz der Unionswerte mittels des Art. 7 EUV letztlich insgesamt mehr Wunschdenken als Realität.35

II. EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips Die Kommission hat im Jahr 2014 auf Grundlage von Art. 7 EUV i.V.m. Art. 17 Abs. 1 EUV und Art. 292 S. 4 AEUV36 einen neuen Mechanismus in Form einer 31 Dies wird durch die Anzahl der Vorabentscheidungsverfahren bestätigt, die nach der Einleitung des Art. 7 Abs. 1 EUV-Verfahrens gegen Polen beim EuGH anhängig wurden. Vgl. grundlegend EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 – Minister for Justice and Equality (LM); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 32 G. Halmai, HJRL 11 (2019), 171 (172); D. Kochenov, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 127 (143); A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (224, 227); vgl. das angekündigte Veto des ungarischen Premiers Viktor Orban, Die Welt, Orban stellt sich demonstrativ an die Seite Polens, 08.01.2016, abrufbar unter htt ps://www.welt.de/politik/ausland/article150761520/Orban-stellt-sich-demonstrativ-an-die-S eite-Polens.html; L. Pech/D. Kochenov, Reconnect 2019, 1 (7) schlagen deswegen vor, dass alle Mitgliedstaaten, gegen die Art. 7 Abs. 1 EUV aktiviert wurde, vom Abstimmungsverfahren ausgeschlossen werden sollten. Dies lässt sich aber aus dem Wortlaut der Verträge nicht ableiten. 33 M. Coli, Perspectives on Federalism 10 (2018), 272 (290 f.); D. Kochenov, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 127 (132, 140); M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 488. 34 Zum Verlauf des Verfahrens gegenüber Polen und Ungarn, vgl. M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 489 ff. 35 Ähnlich C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 332, Rn. 531: Art. 7 ist eher von symbolischer Bedeutung. 36 Näher T. Giegerich, in: C. Calliess (Hrsg.), Liber Amicorum Stein, 2015, S. 499 (535 ff.);

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen

279

Mitteilung eingeführt,37 der konkret auf die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit zielt, und dadurch ihre Rolle als Hüterin der Verträge wahrgenommen. Es handelt sich um ein informelles, politisches, dreistufiges Verfahren, welches vor einer etwaigen Einleitung der Art. 7 EUV-Mechanismen stattfinden soll.38 Der Mechanismus soll die Kommission in die Lage versetzen, zusammen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einer systemischen Gefahr für das Rechtsstaatsprinzip entgegenzuwirken, die sich zu einer „eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EUV entwickeln könnte und die Aktivierung der dort vorgesehenen Verfahren erforderlich machen würde.39 Der Rechtsstaatsmechanismus wird eingeleitet, wenn anhand einer Sachstandsanalyse festgestellt wird, dass eine „systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit“40 in einem Mitgliedstaat auch unterhalb der Schwelle einer „eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EUV vorliegt.41 Dies ist zum Beispiel zu bejahen, wenn ein Mitgliedstaat die Integrität, Stabilität oder das ordnungsgemäße Funktionieren seiner Organe und der auf nationaler Ebene vorgesehenen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit systematisch beeinträchtigt.42 Für die Bewertung der Rechtslage in dem betroffenen Mitgliedstaat wird auf diverse Informationsquellen zurückgegriffen, wie etwa auf Dokumente der EU-Grundrechteagentur und des Europarates. Das Verfahren selbst ist zweistufig: Die Kommission leitet als ersten Schritt den Dialog mit dem Mitgliedstaat ein, indem sie diesem eine schriftliche Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit übermittelt.43 Hierin erläutert die Kommission ihre Bedenken und gibt dem Mitgliedstaat die Möglichkeit, sich in

skeptisch bezüglich der Frage, ob die Verträge überhaupt eine geeignete Rechtsgrundlage bieten, vgl. hingegen F. Schorkopf, EuR 2016, 147 (160); V. Skouris, EuR 2015, Beiheft 2, 9 (17); A. Weber, DÖV 2017, 741 (744). 37 KOM(2014) endg. 38 Die Verfahren des Art. 7 EUV können jedoch bei einer plötzlichen Verschlechterung der Lage in einem Mitgliedstaat, die eine energischere Reaktion der EU erfordert, ausnahmsweise auch direkt in Gang gesetzt werden, KOM(2014) endg., S. 8. 39 KOM(2014) endg., S. 7. 40 Kritisch wegen der fehlenden Konkretisierung des Begriffs H. Hofmeister, DVBl 2016, 869 (875); D. Kochenov/L. Pech, EUI Working Paper RSCAS 2015/24, 1 (12). 41 A. von Bogdandy/M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283 (323); A. von Bogdandy/C. Antpöhler/M. Ioannidis, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 218 (226). Zur Frage, ob bzw. welche Grundrechtsverletzungen zur Einleitung des Rechtsstaatsmechanismus bzw. des Art. 7 EUV-Verfahrens führen können, wobei beide Mechanismen als ultima ratio gedacht seien, vgl. A. W. Heringa, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 59 (65 ff.). 42 KOM(2014) endg., S. 7. 43 Dieser Verfahrensschritt ist offenbar durch den ersten Abschnitt des Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 258 AEUV) inspiriert, vgl. F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 7 EUV, Rn. 63.

280

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

der Sache zu äußern. Der Dialog hat im Einklang mit dem Prinzip der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV zu erfolgen.44 Bleibt der erste Verfahrensschritt erfolglos, gibt die Kommission in einem zweiten Schritt eine Empfehlung ab und setzt gegenüber dem Mitgliedstaat eine Frist zur Behebung der bestehenden Defizite. Diese Empfehlung wird, anders als die Kommissionsstellungnahme in der ersten Verfahrensphase, veröffentlicht, um einen gewissen „Naming-and-shaming“-Effekt zu bewirken.45 Anlass für diesen zweiten Verfahrensschritt geben „objektive Hinweise auf die systematische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit“ sowie eine unangemessene Reaktion des betroffenen Mitgliedstaats auf die schriftliche Stellungnahme der Kommission.46 Den letzten Verfahrensschritt bildet schließlich ein „Follow-up“-Prozess. Dabei wird überwacht, ob die problematischen Praktiken fortdauern oder der Kommissionsempfehlung gefolgt worden ist.47 Kommt der Mitgliedstaat der Empfehlung innerhalb der gesetzten Frist nicht zufriedenstellend nach, wird die Einleitung eines der Verfahren nach Art. 7 EUV geprüft.48 Schließlich steht es der Kommission frei, jederzeit ihre Befugnisse nach Art. 258 AEUV in Anspruch zu nehmen.49 Einerseits ist die Tatsache positiv zu beurteilen, dass der Rechtsstaatsmechanismus die Förderung der Rechtsstaatlichkeit abzielt. Zudem wird der Vertrauensgrundsatz gewahrt und die Vermutung der Unionsrechtstreue nicht berührt, da die Einleitung des Rechtsstaatsmechanismus noch keinen Beleg für die Erosion der Rechtsstaatlichkeit darstellt.50 Nicht zuletzt ist auch die Einbeziehung weiterer Experten bzw. Institutionen im Rahmen der Bewertung der Rechtslage des betroffenen Mitgliedstaats zu begrüßen.51 Andererseits zeigt der neue EURahmen auch gewisse Schwächen auf. Erstens wird der Begriff „systemische

44 Diese Erwartung scheint jedoch dann eher unrealistisch zu sein, wenn die Mitgliedstaaten sich bewusst dazu entschieden haben, von den Unionswerten abzuweichen, vgl. H. Hofmeister, DVBl 2016, 869 (875); D. Kochenov/L. Pech, EuConst 11 (2015), 512 (532); dies., JCMS 54 (2016), 1062 (1066). 45 H. Hofmeister, DVBl 2016, 869 (874). 46 D. Kochenov/L. Pech/K. L. Scheppele, RTDEur. 2015, 689 (710). 47 Dieser Verfahrensschritt entspricht der Grundidee des Kooperations- und Kontrollverfahrens. 48 Der Rechtsstaatsmechanismus ist im Jahr 2016 erstmalig für Polen zur Anwendung gelangt. Einen Überblick über die Umstrukturierungsmaßnahmen der PiS-Regierung, die zur Einleitung des Rechtsstaatsmechanismus geführt haben, geben H. Hofmeister, DVBl 2016, 869 (870 ff.); L. Pech/P. Wachowiec/D. Mazur, HJRL 13 (2021), 1 (2 ff.); M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 118 ff. Die Nicht-Aktivierung des Rechtsstaatsmechanismus für Ungarn lässt sich dementsprechend nicht rechtfertigen und ist auf das unbeschränkte Ermessen der Kommission, das Verfahren einzuleiten, zurückzuführen, so D. Kochenov/L. Pech, JCMS 54 (2016), 1062 (1068 ff.). 49 KOM(2014) endg., S. 8. 50 Ähnlich A. von Bogdandy/C. Antpöhler/M. Ioannidis, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 218 (226). 51 Wie hier D. Kochenov/L. Pech, EuConst 11 (2015), 512 (531).

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen

281

Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit“ trotz seiner erheblichen Bedeutung für die Einleitung des Rechtsstaatsmechanismus nicht näher definiert, sodass die Unterscheidung zwischen einer einzelfallbezogenen und einer systemischen Gefährdung nicht geklärt wird.52 Zweitens erweist sich die praktische Wirksamkeit des Rechtsstaatsmechanismus eher als begrenzt,53 denn es können weder verbindliche Empfehlungen für den Mitgliedstaat ausgesprochen noch Sanktionsmaßnahmen verhängt werden.54 Vor diesem Hintergrund kann der Ansicht des Juristischen Dienstes des Rates, wonach der neue EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips nicht mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung vereinbar sei,55 nicht gefolgt werden. Der EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips hat somit einen zusätzlichen, langwierigen und unwirksamen Mechanismus eingeführt, dem im Ergebnis kein großer Mehrwert gegenüber dem Präventionsmechanismus des Art. 7 Abs. 1 EUV zukommt.56

III. Verbesserungsvorschläge Sowohl Art. 7 EUV als auch der Rechtsstaatsmechanismus sind weitgehend hinter ihrer eigentlichen Zielsetzung – dem Entgegenwirken des Verfalls der Unionswerte bzw. der Rechtsstaatlichkeit – zurückgeblieben und stellen insoweit lediglich leere Drohungen dar. Die vor diesem Hintergrund in der Literatur vorgeschlagenen Änderungen beziehen sich hauptsächlich auf die verfahrensrechtlichen Anforderungen des Art. 7 Abs. 2 EUV. Gefordert wird der Wegfall des Einstimmigkeitserfordernisses im Europäischen Rat sowie die Konkretisierung bzw. Abstufung der Sanktionsmaßnahmen des Art. 7 Abs. 3 EUV anhand der Schwere der Verletzung, die im schlimmsten Fall auch den Ausstritt des Mitgliedstaats erfassen müssten.57 52

D. Kochenov/L. Pech, EUI Working Paper RSCAS 2015/24, 1 (12). A.A. A. von Bogdandy/C. Antpöhler/M. Ioannidis, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 218 (228), die der Ansicht sind, die betroffenen Mitgliedstaaten würden unter großen politischen Druck gesetzt. 54 Ähnlich H. Hofmeister, DVBl 2016, 869 (874 f.); L. Pech/K. L. Scheppele, CYELS 2017, 3 (27). 55 Rat der Europäischen Union, Gutachten des juristischen Dienstes, Nr. 10296/14, Rn. 24. Der Rat hat jedoch keine Nichtigkeitsklage gegen die Mitteilung der Kommission erhoben. Kritisch zur Stellungnahme des Rates D. Kochenov/L. Pech/K. L. Scheppele, RTDEur. 2015, 689 (708 f., 712); vgl. auch D. Kochenov/L. Pech, EuConst 11 (2015), 512 (529 f.), nach deren Ansicht Art. 7 EUV sogar die Rechtsgrundlage für die Befugnisse der Kommission im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus darstellt; so auch L. Besselink, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 128 (139 f.); s. zudem P. Oliver/J. Stefanelli, JCMS 54 (2016), 1075 (1076 ff., insb. 1078), wonach der Rat insoweit Art. 13 Abs. 2 EUV verletzt habe. 56 D. Kochenov/L. Pech, EuConst 11 (2015), 512 (533); dies., EUI Working Paper RSCAS 2015/24, 1 (12). 57 L. Besselink, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 128 (129 ff.); M. Coli, Perspectives on Federalism 10 (2018), 272 (279 f.); L. Pech/D. Kochenov, Reconnect 2019, 1 (7). 53

282

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Diese Vorschläge sind jedoch allein deshalb zum Scheitern verurteilt, da sie eine (einstimmige) Vertragsänderung nach Art. 48 EUV voraussetzen. Selbst wenn diese Forderungen erfüllt werden würden, hinge die Wirksamkeit des Art. 7 EUV von dem politischen Willen der EU-Organe und insbesondere dem Rat ab, dem im ganzen Verfahren eine Schlüsselfunktion zukommt, der sich im Kampf gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise bislang allerdings in Zurückhaltung geübt hat.58 Vor diesem Hintergrund wird Art. 7 EUV bei der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten auch in Zukunft nur eine marginale Rolle spielen.59 Was den Rechtsstaatsmechanismus anbelangt, sind Änderungen aufgrund seiner informellen Struktur und seiner Eigenschaft als soft law60 einfacher vorzunehmen. Diesbezüglich sollte die Kommission eine Definition des Begriffs „systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit“ vornehmen, sodass jeder Mitgliedstaat weiß, wann die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus zu erwarten ist.61 Sollte schließlich der Rechtsstaatsmechanismus erfolglos bleiben und sollten die rechtsstaatlichen Defizite im betreffenden Mitgliedstaat fortbestehen, ist die automatische Aktivierung des Art. 7 Abs. 1 bzw. Abs. 2 EUV-Verfahrens (abhängig von der Schwere der Defizite) ohne zusätzlichen Handlungsbedarf seitens der Kommission angezeigt.62 Die Kommission gehört zu den Initiativberechtigten für die Einleitung des Präventions- bzw. Sanktionsmechanismus und muss hierfür einen begründeten Vorschlag erstellen. Die an den betreffenden Mitgliedstaat im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus gerichtete Empfehlung könnte dementsprechend die Grundlage für die Aktivierung der Art. 7 EUV-Verfahren darstellen, ohne dass es einer zusätzlichen Begründung bedürfe.

58

M. Blauberger/D. Kelemen, JEPP 24 (2017), 321 (332); A. von Bogdandy/C. Antpöhler/M. Ioannidis, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 218 (224); M. Coli, Perspectives on Federalism 10 (2018), 272 (291); D. Kochenov, HJRL 11 (2019), 423 (427); ders., in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 127 (130); T. Konstadinides, The rule of law in the EU, 2017, S. 163; L. Pech/P. Wachowiec/D. Mazur, HJRL 13 (2021), 1 (18 ff.). 59 So auch D. Kochenov, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 127 (146 ff.). 60 Dazu näher O. S¸tefan, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 200 (215 ff.). 61 A. von Bogdandy/C. Antpöhler/M. Ioannidis, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 218 (228 ff.) plädieren für die Einrichtung eines unabhängigen Ausschusses für systemische Mängel. Dieser soll für die Überwachung der Werte des Art. 2 EUV in den Mitgliedstaaten zuständig sein und im Falle einer Gefährdung der Unionswerte einen Bericht veröffentlichen, der in die Einleitung des Rechtsstaatsmechanismus mündet. 62 L. Pech/D. Kochenov, Reconnect 2019, 1 (3).

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen

283

IV. EU-Justizbarometer Das EU-Justizbarometer stellt ein weiteres Instrument der Rechtsstaatlichkeitsaufsicht in der Union dar. Es geht auf einen Vorschlag der Kommission in Gestalt eines unverbindlichen Informationswerkzeugs63 von 2013 zurück,64 und soll zur Bewertung der Effizienz aller nationalen Justizsysteme beitragen. Dies soll nicht dazu dienen, eine „Rangliste“ der Justizsysteme zu erstellen, sondern den Dialog zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten bezüglich der Leistungsfähigkeit der nationalen Gerichtssysteme fördern,65 wobei unter Leistungsfähigkeit Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit verstanden werden.66 Die im Rahmen des Justizbarometers erhobenen Daten werden im Europäischen Semester67 gebührend berücksichtigt. Trotz der informellen und überwiegend politischen Natur des Justizbarometers hat dies im Zuge der Rechtsstaatlichkeitskrise an Bedeutung gewonnen und kann bei gravierenden systemischen Mängeln im Justizsystem, die auf eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit hindeuten,68 den Einsatz anderer Verfahren, wie z.B. des Vertragsverletzungsverfahrens, auslösen.69 Die Kommission kann allerdings auf Grundlage des Justizbarometers den Mitgliedstaaten keine Änderungen abverlangen, berücksichtigt die gewonnenen Daten jedoch in ihren Jahresberichten zur Rechtsstaatlichkeit.70

V. Rechtsstaatsdialog im Rat Als Reaktion auf die Vorstellung des EU-Rahmens zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit hat der Rat im Dezember 2014 einen „Rechtsstaatsdialog“ eingeführt,71 der einmal jährlich zur Förderung und Wahrung der Rechtsstaatlichkeit 63

V. Reding, ZRP 2014, 30 (30). KOM(2013) 160 endg.; ferner M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 430 ff. 65 M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 460: er spricht dem Justizbarometer eine lenkende Funktion zu. 66 KOM(2013) 160 endg, S. 3; KOM(2019) 198 endg., S. 3. 67 Das Europäische Semester wurde im Jahr 2010 vom Europäischen Rat eingeführt, vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 17. Juni 2010 (EUCO 13/10), S. 5. Es ist in das Stabilitäts- und Wachstumspaket eingebettet und stellt einen Überwachungsmechanismus dar, der auf die Aufsicht über die Haushaltsplanung der Mitgliedstaaten bzw. die Vermeidung neuer finanzieller Schieflagen abzielt. Jeden Januar veröffentlicht die Kommission den sog. Jahreswachstumsbericht, in dem die wirtschaftliche Lage der gesamten EU sowie der einzelnen Mitgliedstaaten analysiert wird. Vgl. dazu J. Hamer, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 126 AEUV, Rn. 51 ff.; M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 466. 68 Vgl. KOM(2019) 198 endg., S. 11, 62 ff., wo die Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit in Polen durch ein Signalrot abgebildet wird. 69 Ähnlich M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 466. 70 KOM(2020) 580 endg., S. 10, 14; KOM(2021) endg., S. 7. Dazu gleich unter 8. Kap., A. VI. 1., S. 285 f. 71 Schlussfolgerungen des Rates der EU und der im Rat vereinigten Mitgliedstaaten über 64

284

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

stattfinden soll.72 Einerseits fällt positiv auf, dass diese Dialoge parallel und komplementär zu den rechtsstaatsbezogenen Handlungen der anderen EU-Institutionen durchgeführt werden.73 Andererseits wird ihre Bedeutung dadurch relativiert, dass die Schlussfolgerungen, die sich aus dem Dialog ergeben, sehr vage formuliert und rein politischer Natur sind, sodass deren Einhaltung freiwillig und an keine Durchsetzungsmechanismen geknüpft ist.74 Bislang haben diese Rechtsstaatsdialoge keinen wertvollen Beitrag zur Beseitigung von Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit geleistet und haben die Erwartungen, die in sie gesetzt wurden, insoweit nicht erfüllt.75

VI. Mitteilung der Kommission vom Juli 2019 Angesichts des Fortbestehens bzw. der Verschärfung der rechtsstaatlichen Probleme in einzelnen Mitgliedstaaten, vor allem in Polen, hat die Kommission im Juli 2019 eine Mitteilung zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der EU erlassen.76 In dieser Mitteilung wird die fundamentale Bedeutung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit erneut hervorgehoben und werden drei Säulen zu dessen Stärkung festgelegt: Die Förderung einer gemeinsamen Kultur der Rechtsstaatlichkeit im Wege eines breiten Dialogs,77 die Vorbeugung gegen Angriffe auf die

die Gewährleistung der Achtung der Rechtsstaatlichkeit vom 12. Dezember 2014 (16134/14); vgl. auch F. Schorkopf, EuR 2016, 147 (157), laut dem die Entschließung als Kritik am Kommissionsansatz zu lesen ist. 72 Schlussfolgerungen des Rates der EU und der im Rat vereinigten Mitgliedstaaten über die Gewährleistung der Achtung der Rechtsstaatlichkeit vom 12. Dezember 2014 (16134/14), Rn. 1, 6. 73 Vgl. Presidency conclusions – Evaluation of the annual rule of law dialogue (a.E.) vom 19. November 2019 (14173/19), Rn. 10, wonach in Zukunft auf die Jahresberichte der Kommission zur Rechtsstaatlichkeit zurückgegriffen wird. 74 R. Baratta, HJRL 8 (2016), 357 (370); C. Closa, in: ders./D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 15 (32 f.). 75 So auch C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 334, Rn. 536; M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 538 f. 76 KOM(2019) 343 endg. Kurz zuvor hatte die Kommission mit einer anderen Mitteilung die Debatte über mögliche Stärkungsmaßnahmen angestoßen, im Rahmen derer die Organe und Einrichtungen der EU, die Mitgliedstaaten, internationale Organisationen, justizielle Netze, die Zivilgesellschaft sowie die Wissenschaft an den Gesprächen teilgenommen und wertvolle Beiträge geleistet haben, KOM(2019) 163 endg.; kritische Würdigung der Mitteilung der Kommission bei L. Pech/P. Ba´rd, Studie vom Februar 2022, PE 727.551, S. 60 ff.; B. Grabowska-Moroz/D. Kochenov, in: G. Amato/B. Barbisan/C. Pinelli (Hrsg.), Rule of Law vs Majoritarian Democracy, 2021, S. 63 (78 ff.). 77 KOM(2019) 343 endg., S. 6 ff. Es bestehen erhebliche Bedenken gegen die Geeignetheit eines verbreiteten Dialogs über die Rechtsstaatlichkeit, die rechtsstaatlichen Probleme in den Mitgliedstaaten zu beseitigen, vor allem wenn man berücksichtigt, dass die anderen Instrumente, wie etwa die Art. 7 EUV-Verfahren bzw. der Rechtsstaatsmechanismus, bisher keine erfolgsversprechenden Ergebnisse in dieser Hinsicht erzielt haben. Vgl. z.B. den schriftlichen Beitrag von Ungarn, laut dem „die Rechtsstaatlichkeit in der EU nicht unter Druck steht und

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen

285

Rechtsstaatlichkeit78 und die Reaktion auf europäischer Ebene beim Versagen der nationalen Mechanismen.79 Insgesamt gelingt es der Kommission aber nicht, die aktuelle, aus rechtsstaatlichen Erwägungen problematische Situation in mehreren Mitgliedstaaten, insbesondere Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, direkt aufzugreifen80 und das Ausmaß von deren Folgen für die Existenz der EU zu skizzieren.81 Die Kommission fasst lediglich die bereits vorhandenen EURechtsinstrumente zur Wahrung und Förderung der Rechtsstaatlichkeit zusammen und besteht auf deren zukünftiger Anwendung. 1. Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit Die einzige Neuerung ist die Einführung einer soft law-Vorbeugungsmaßnahme, des sog. „Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit“.82 Dieser soll die Zusammenarbeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, ebenso wie zwischen den Mitgliedstaaten untereinander fördern, um Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit rechtzeitig zu erkennen, mögliche Lösungen zu entwickeln und frühzeitig zielgerichtete Unterstützung bieten zu können. Ein solches Monitoring soll daneben die positiven rechtsstaatlichen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten dauerhaft sichern und insbesondere die Unumkehrbarkeit von Reformen gewährleisten, die infolge des Eingreifens der EU vorgenommen wurden.83 Dem Monitoring auf Grundlage des Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit sind zwar grundsätzlich alle Mitglieder unterworfen, die Mitgliedstaaten mit erheblichen rechtsstaatlichen Mängeln sind jedoch besonders davon betroffen.84 Zur [keiner] besondere[n] Aufmerksamkeit bedarf“, Ungarn, Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit v. 17.07.2019, S. 2; ebenso skeptisch gegenüber der Mitteilung der Kommission, Polen, Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit v. 17.07.2019, S. 2 f.; vgl. auch B. Grabowska-Moroz/D. Kochenov, in: G. Amato/B. Barbisan/C. Pinelli (Hrsg.), Rule of Law vs Majoritarian Democracy, 2021, S. 63 (65 ff.). 78 KOM(2019) 343 endg., S. 10 ff. 79 KOM(2019) 343 endg., S. 15 ff. 80 Vgl. zur Rechtsstaatserosion in Bulgarien: R. Vassileva, EPL 26 (2020), 741 (748 ff.), die in dieser Hinsicht die Effektivität des CVM bemängelt; in Rumänien: B. Iancu, in: A. von Bogdandy/P. Sonnevend (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, 2015, S. 153 (153 ff.); in Polen: L. Pech/P. Wachowiec/D. Mazur, HJRL 13 (2021), 1 (5 ff.); W. Sadurski, Poland’s Constitutional Breakdown, 2019, S. 58 ff.; M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 118 ff.; U. Stäsche, ZEuS 2021, 561 (572 ff.); in Ungarn: M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 146 ff.; U. Stäsche, ZEuS 2021, 561 (583 ff.). 81 Aus diesem Grund sehr kritisch D. Kochenov, HJRL 11 (2019), 423 (426 ff.). 82 KOM(2019) 343 endg., S. 11 ff. 83 KOM(2019) 343 endg., S. 11. 84 KOM(2019) 343 endg., S. 11. Bisher hat die Kommission zwei Jahresberichte über die Lage der Rechtsstaatlichkeit veröffentlicht, vgl. KOM(2020) 580 endg., S. 32. Dort werden einerseits die hohen Standards im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in den meisten Mitgliedstaaten betont, andererseits wird auf die Korruption und Bedrohungen für die Medienfreiheit und den Medienpluralismus in manchen Mitgliedstaaten hingewiesen; KOM(2021) 700 endg., S. 36, in dem die Kommission viele positive Entwicklungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten feststellt.

286

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Sicherstellung einer aktiven Beteiligung der Mitgliedstaaten soll ein Netzwerk von mitgliedstaatlichen Kontaktstellen eingerichtet werden, welches als Forum zur Erörterung von Querschnittsthemen, darunter gegebenenfalls auch möglichen Entwicklungen des Instrumentariums der EU zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und zum Austausch von Informationen im Geiste des Loyalitätsgrundsatzes, dient.85 Auf Grundlage dieser Informationen wird die Kommission einen jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit mit den wichtigsten Entwicklungen in jedem Mitgliedstaat veröffentlichen, der die Grundlage von Debatten im Europäischen Parlament und im Rat bilden86 und dadurch insgesamt das Vertrauen in die rechtsstaatlichen Strukturen der Mitgliedstaaten stärken könnte.87 Bedenkt man dabei aber, dass gewisse Mitgliedstaaten den Bedarf eines Dialogs über die Rechtsstaatlichkeit bezweifeln,88 zeigen sich bereits die Grenzen dieses informellen Rahmens als Grundlage für eine vertrauensbasierte Zusammenarbeit.89 Der Evaluierungszyklus ähnelt dem Kooperations- und Kontrollmechanismus im Beitrittsverfahren mit dem Unterschied, dass Ersterer auf alle Mitgliedstaaten Anwendung finden soll. Dies impliziert, dass die Kommission fortan sämtliche rechtsstaatsbezogenen Bereiche innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung überwachen wird und zwar unabhängig davon, ob diese in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.90 Auch wenn die Grenzen der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bei soft lawInstrumenten verschwimmen,91 muss jedes neue Rechtsinstrument einer geeigneten Rechtsgrundlage zugeordnet werden können.92 Eine taugliche Grundlage solcher informellen Überwachungsbefugnisse in Bezug auf die Wahrung der Unionswerte zugunsten der Kommission bildet Art. 7 EUV i.V.m. Art. 17 Abs. 1 EUV,93 da mittels solcher Maßnahmen die Früherkennung von schwerwiegenden Verletzungen bzw. die rechtzeitige Einleitung des geeigneten Art. 7 EUV-Verfahrens gewährleistet werden kann.

85

KOM(2019) 343 endg., S. 12 f. KOM(2019) 343 endg., S. 13 f. 87 KOM(2020) 580 endg., S. 32. Die Berichte der Kommission erwecken allerdings falsche Hoffnungen, indem sie das Ausmaß der Rechtsstaatserosion in den betreffenden Mitgliedstaaten herunterspielen und damit den Eindruck erwecken, diese könnten zügig beseitigt werden, vgl. L. Pech/P. Ba´rd, Studie vom Februar 2022, PE 727.551, S. 66 ff. 88 Vgl. Ungarn, Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit von 17. Juli 2019, S. 2; Polen, Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit von 17. Juli 2019, S. 1 ff. 89 So auch D. Kochenov, HJRL 11 (2019), 423 (431). 90 B. Grabowska-Moroz/D. Kochenov, in: G. Amato/B. Barbisan/C. Pinelli (Hrsg.), Rule of Law vs Majoritarian Democracy, 2021, S. 63 (73 f.), die deswegen vor einer Veränderung der bisherigen EU-Struktur warnen. 91 Vgl. O. S¸tefan, in: A. Jakab/D. Kochenov (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 200 (201 f., 212). 92 L. Senden, Soft law in European Community Law, 2004, S. 478 ff. 93 In diesem Sinne A. von Bogdandy, CMLRev. 57 (2020), 705 (725 f.). 86

A. Begrenzte Wirkung der politischen Initiativen

287

2. Parteienfinanzierung In der Mitteilung der Kommission werden darüber hinaus die europäischen Parteien dazu aufgerufen, ihre Mitglieder zur Einhaltung der Unionswerte und insbesondere der Rechtsstaatlichkeit aufzufordern, da dies eine Voraussetzung für die Eintragung der Parteien bzw. ihre Finanzierung nach der Verordnung Nr. 1141/201494 darstelle.95 Wenn die Kommission fundierte Zweifel an der Einhaltung der Unionswerte hat, kann sie die Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen zur Prüfung auffordern, ob die in der Verordnung festgelegten Voraussetzungen (immer noch) erfüllt sind.96 Die Behörde kann die betreffende politische Partei im Falle eines offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoßes gegen die Einhaltung der Unionswerte aus dem Parteienregister löschen,97 was zur Folge hätte, dass die Voraussetzungen für die Finanzierung der Partei aus EU-Mitteln nicht länger erfüllt sind.98 Die Herstellung einer Verbindung zwischen den europäischen politischen Parteien und ihren Mitgliedern in den nationalen Parlamenten, indem die Ersteren die Verantwortung dafür tragen, dass ihre Mitglieder auf nationaler Ebene die Unionswerte achten, stellt ein zu begrüßendes Novum dar und könnte sich zu einem effektiven Instrument für die Wertesicherung in der EU entwickeln.99

VII. Fazit Die traditionellen Mechanismen zur Wahrung der Unionswerte bzw. der Rechtsstaatlichkeit, namentlich Art. 7 EUV und der im Jahr 2014 eingeführte Rechtsstaatsmechanismus, entfalten eine nur begrenzte Wirkung und haben sich bisher im Kampf gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise als weitgehend ineffektiv erwiesen. Aus diesem Grund wurden weitere Instrumente auf unionaler Ebene eingeführt, wie etwa der jährliche Rechtsstaatsdialog im Rat sowie der Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit, die das Ziel verfolgen im Wege einer institutionalisierten Diskussion auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Anforderungen in den Mitgliedstaaten hinzuwirken. Diese informellen Instrumente sind zu begrüßen, da der institutionalisierte Dialog überhaupt es ermöglicht, die Kom-

94 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen, ABl. EU 2014 Nr. L 317, S. 1. 95 Erwägungsgr. 12 f., Art. 3 lit. c Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014. 96 Erwägungsgr. 15, 22, Art. 10 Abs. 3 UAbs. 1 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014. 97 Diese Partei kann jedoch etwa in Gestalt von Vereinigungen auf nationaler Ebene fortbestehen, so M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, 2021, S. 535. 98 Art. 10 Abs. 3 UAbs. 5, Art. 17 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014. 99 Ähnlich F. Schorkopf, EuR 2016, 147 (154). Das Fehlen einer solcher Verantwortung stellte bisher ein bedeutendes demokratisches Defizit der EU dar, so D. Kelemen, Gov. Oppos. 52 (2017), 211 (221) und hat sogar zur Etablierung autoritärer Staaten beigetragen (215 ff.).

288

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

munikation zwischen und mit den Mitgliedstaaten aufrechtzuerhalten und dabei gegenläufige Wertevorstellungen allmählich aneinander anzunähern. Erst dann kann ein gemeinsames Verständnis über die wesentlichen Gehalte der Rechtsstaatlichkeit bzw. der Werte im Sinne des Art. 2 EUV im Wege eines bottom-upAnsatzes erzielt werden und Geltung in allen Mitgliedstaaten beanspruchen. Außerdem können die im Rahmen dieser Instrumente erzeugten Informationen die Grundlage für die Einleitung weiterer Durchsetzungsmechanismen, wie etwa des Vertragsverletzungsverfahrens oder der Rechtsstaatsverordnung100, bilden. So wichtig die Pflege dialogischer Kommunikationskanäle auch sein mag, darf dies nicht über die Grenzen solcher weichen Steuerungsinstrumente hinwegtäuschen, wenn es darum geht, schwerwiegende Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit durch die Mitgliedstaaten abzustellen. Wenn insbesondere die Mitgliedstaaten nicht willens sind, auf informellem Wege mit der EU und den anderen Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten, werden diese Mechanismen – wie das Beispiel von Polen und Ungarn zeigt – vielmehr als Koalitionsmöglichkeit zwischen „illiberalen“ Mitgliedstaaten101 betrachtet. Vor diesem Hintergrund stellt die Erwartung, dass die schwerwiegenden systemischen Rechtsstaatsdefizite durch die betreffenden Mitgliedstaaten freiwillig behoben werden, eine Illusion dar, insbesondere wenn diese Defizite von den mitgliedstaatlichen Regierungen vorsätzlich herbeigeführt worden sind. Die gesetzgeberischen Instrumente zur Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit, allen voran die Rechtsstaatsverordnung, versprechen diesbezüglich eine deutlich höhere Wirksamkeit im Kampf gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise.

B. Gesetzgebungsinitiativen Ein neues Instrument zur Sicherung der unionalen Rechtsstaatlichkeit stellt die Rechtsstaatsverordnung von 2020102 dar. Ihr liegt die Prämisse zugrunde, dass der Unionshaushalt auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten in die verantwortungsvolle Verwendung der in diesen Haushalt eingeflossenen gemeinsamen Mittel basiert, das wiederum auf der Achtung der Unionswerte beruht.103

100

Dazu gleich unter 8. Kap., B. I., S. 289 ff. Dazu ferner L. Pech/K. L. Scheppele, CYELS 2017, 3 (8 ff.); C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 318 ff., Rn. 502 ff., die von einem „constitutionnalisme abusif“ in diesen Mitgliedstaaten spricht. 102 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, ABl. EU 2020 Nr. L 433I vom 22.12.2020, S. 1 (Rechtsstaatsverordnung). 103 EuGH, Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 129 – Ungarn/Parlament und Rat; Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98, Rn. 147 – Polen/Parlament und Rat; K(2022) 1382 endg., S. 1, Rn. 2. 101

B. Gesetzgebungsinitiativen

289

Dieses Vertrauen ist allerdings aufgrund der Rechtsstaatlichkeitskrise in bestimmten Mitgliedstaaten erschüttert worden, was durch die neue Rechtsstaatsverordnung adressiert werden soll. Obwohl deren Schutzpotenzial in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit nur vermutet werden kann,104 wird ihre durch die Kommission angekündigte Einleitung gegen Ungarn105 viele offene Fragen klären. Aufgrund der prominenten Rolle der Rechtsstaatsverordnung beim Kampf gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise in bestimmten Mitgliedstaaten wird im Folgenden näher auf deren Entstehungshintergrund und wesentliche Merkmale eingegangen.

I. Konditionalitätsmechanismus Angesichts des Scheiterns der politischen Rechtsinstrumente zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit106 und der Zuspitzung der systemischen Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in bestimmten Mitgliedstaaten hat die Kommission in ihrer Mitteilung für den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027107 im Jahre 2018 das EU-Haushaltsrecht bzw. die Vergabe von EU-Mitteln an den Wert der Rechtsstaatlichkeit geknüpft:108 Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit sei nämlich unverzichtbare Voraussetzung für die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung und eine wirksame EU-Finanzierung. Rechtsstaatlichkeitsdefizite im Sinne einer Verletzung von maßgeblichen EU-Vorschriften bzw. der Gefährdung der Unabhängigkeit der Gerichte könnten den Schutz der finanziellen Interessen der EU gefährden und müssten daher mit Konsequenzen bei der EU-Mittelvergabe verbunden werden.109 Diesem Gedanken folgend hat die Kommission kurz darauf die Einführung eines neuen Kontrollmechanismus für die Verletzung der finanziellen Interessen der EU durch Rechtsstaatlichkeitsdefizite in den Mitgliedstaaten im Wege einer Verordnung vorgeschlagen.110 104

Dazu M. Blauberger/V. van Hüllen, JEurIntegr. 43 (2020), 1 (7 ff.). FAZ von 05.04.2022, „EU-Kommission geht wegen Rechtsstaatsverstößen gegen Ungarn vor“, abrufbar unter www.faz.net/aktuell/politik/ausland/eu-kommission-geht-gegen-u ngarn-vor-wegen-rechtsstaatsverstoessen-17936898.html; vgl. auch B. Baade, NVwZ 2023, 132 (136 f.); K. L. Scheppele/D. Kelemen/J. Morijn, Studie vom 07. Juli 2021, die aufgezeigt haben, dass die intransparente Verwaltung von EU-Mitteln sowie das Fehlen einer wirksamen nationalen Strafverfolgung und einer unabhängigen nationalen Gerichtsbarkeit in Ungarn die wirtschaftliche Haushaltsführung der EU zu beeinträchtigen drohen. 106 So auch G. Halmai, HJRL 11 (2019), 171 (172); M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 89. 107 KOM(2018) 321 endg. 108 KOM(2018) 321 endg., S. 5. Viele Abgeordnete im Europäischen Parlament sowie andere Politiker hatten bereits für die Suspendierung von EU-Mitteln an Ungarn und Polen plädiert, so G. Halmai, HJRL 11 (2019), 171 (180 f.). 109 KOM(2018) 321 endg., S. 5. 110 KOM(2018) 324 endg. Befürwortend G. Halmai, HJRL 11 (2019), 171 (187); A. Hatje/ J. Schwarze, EuR 2019, 153 (182); sehr skeptisch hingegen J. Brauneck, EuR 2019, 37 (44 ff.). Zur Einführung eines Sanktionsmechanismus aus politikwissenschaftlicher Sicht bereits J. Sˇelih/I. Bond/C. Dolan, Centre for European Reform 2017, 1 (10 ff.). 105

290

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

1. Vorschlag der Kommission In der ursprünglichen Fassung des Vorschlags der Kommission werden zwei materielle Voraussetzungen für die Eröffnung der Verordnung festgelegt: Erstens soll ein „genereller Mangel in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip“ in einem Mitgliedstaat vorliegen. Als solchen definiert die Kommission „eine weit verbreitete oder wiederholt auftretende Praxis, Unterlassung oder Maßnahme des Staats, die das Rechtsstaatsprinzip beeinträchtigt“.111 Das Rechtsstaatsprinzip ist hierbei in einem weiten Sinne zu verstehen und beinhaltet die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, der Rechtssicherheit, des Verbots der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, des wirksamen Rechtsschutzes einschließlich des Schutzes der Grundrechte durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit, der Gewaltenteilung und der Gleichheit vor dem Gesetz. Zweitens sollen derartige festgestellte Rechtsstaatsdefizite die Grundvoraussetzungen für eine wirtschaftliche Haushaltsführung112 oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union113 beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen.114 Dabei werden weder die Situationen, die als Beeinträchtigung des Grundsatzes der wirtschaftlichen Haushaltsführung bzw. der finanziellen Interessen der Union115 eingestuft werden, noch die Fälle, die den generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip zugeordnet werden könnten,116 erschöpfend festgelegt. Diese nicht abschließende Aufzählung von Regelbeispielen erweist sich allerdings als problematisch, denn die offene Formulierung und der unklare Anwendungsbereich der Verordnung, die einen erheblichen Ermessensspielraum für die Kommission bedeuten, genügen nicht den Anforderungen des auch für die EU-Organe verbindlichen Rechtsstaatsprinzips, insbesondere hinsichtlich der Wahrung der Rechtssicherheit und der Rechtmäßigkeit von Sanktionen.117 Ähn-

111

KOM(2018) 324 endg., S. 9, Art. 2 lit. b) des Kommissionsvorschlags. Vgl. Art. 317 AEUV, Art. 2 Nr. 59, 6 und 33 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/ 2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/ 2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012, ABl. EU 2018 Nr. L 193, S. 1 (EU-Haushaltsverordnung). 113 Art. 325 AEUV, Art. 2 lit. a) Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug, ABl. EU 2017 Nr. L 198, S. 29. 114 KOM(2018) 324 endg., S. 9, Art. 3 Abs. 1 des Kommissionsvorschlags. 115 KOM(2018) 324 endg., S. 10, Art. 3 Abs. 1 des Kommissionsvorschlags. 116 KOM(2018) 324 endg., S. 10, Art. 3 Abs. 2 des Kommissionsvorschlags. 117 A. von Bogdandy/J. Łacny, EPA 7 (2020), 1 (8); C. F. Germelmann, DÖV 2021, 193 (199); J. Łacny, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 269 (279 f.); ähnlich M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 163. 112

B. Gesetzgebungsinitiativen

291

liches gilt für den Inhalt der zu verhängenden Sanktionsmaßnahmen, die ebenso generell formuliert sind.118 Schließlich würde die Kommission auf Grundlage einer umfassenden Prüfung, ob ein genereller Mangel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat vorliegt,119 einen Durchführungsbeschluss120 über die Sanktionen fassen.121 Der Rat soll dann den Beschluss der Kommission annehmen, sofern nicht innerhalb von einem Monat mit qualifizierter Mehrheit den Beschluss ablehnt.122 Das Verfahren der umgekehrten qualifizierten Mehrheit wurde dabei zum Zwecke der beschleunigten Durchführung des Sanktionsverfahrens eingeführt, ist aber aufgrund der Umgehung des primärrechtlich vorgesehenen Gesetzgebungsverfahrens zu Recht auf heftige Kritik gestoßen.123 2. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 Der Vorschlag der Kommission hat sich in dieser Fassung nicht durchgesetzt. Das Parlament hat im Januar 2019 eine Entschließung beschlossen, die die Regelungen des Vorschlags an vielen Stellen ändert bzw. konkretisiert.124 Der Rat hat im September 2020 seinen eigenen Vorschlag vorgelegt.125 Der Vorschlag des Rates entspricht zum größten Teil den Schlussfolgerungen des Europäischen Ra118

KOM(2018) 324 endg., S. 10 f., Art. 4 des Kommissionsvorschlags. KOM(2018) 324 endg., S. 12, Art. 5 Abs. 6 des Kommissionsvorschlags. 120 Vgl. Art. 291 Abs. 2 AEUV. 121 Die Durchführungsbefugnisse der Kommission können auch Einzelfallentscheidungen umfassen, vgl. M. Nettesheim, in: E. Grabitz/M. Hilf/ders. (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 291 AEUV, Rn. 28; F. Schmidt, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 291 AEUV, Rn. 14. 122 KOM(2018) 324 endg., S. 12, Art. 5 Abs. 7 des Kommissionsvorschlags. 123 J. Łacny, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 269 (286 f.); M. J. Rangel de Mesquita, ERA Forum 19 (2018), 287 (292); M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 216; vgl. auch M. Fisicaro, EP 4 (2019), 695 (709 f.), der die praktische Wirksamkeit einer solchen Regelung ungeachtet von verfassungsrechtlichen Erwägungen bezweifelt. 124 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. April 2019 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten (COM[2018]0324 – C8-0178/2018 – 2018/0136[COD]), P8 TA-PROV(2019)0349. Einen Vergleich zwischen beiden Vorschlägen zieht J. Łacny, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 269 (278 ff.). 125 Multiannual Financial Framework (MFF) 2021–2027 and Recovery Package – Regulation of the European Parliament and of the Council on a general regime of conditionality for the protection of the Union budget, ST 11322 2020 INIT. Vgl. dazu auch das (nicht veröffentlichte) Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates, Council of the European Union, Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on the protection of the Union’s budget in case of generalised deficiencies as regards the rule of law in the Member States – Compatibility with the EU Treaties, ST 13593/18 INIT; vgl. in dieser Hinsicht EuG, T-252/19, ECLI:EU:T:2021:203 – Pech/Rat: die Entscheidung des Rates, Prof. Pech den vollständigen Zugang zum Rechtsgutachten seines Juristischen Dienstes zu ver119

292

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

tes vom 17.–21. Juli 2020,126 in denen die Regierungschefs von Ungarn und Polen die Einführung einer Konditionalitätsregelung und damit die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Verordnung unterminierten.127 Zugleich haben beide Länder die Abkopplung der Rechtsstaatsmängel von den Haushaltsentscheidungen verlangt und zu diesem Zweck ein Veto gegen die Verabschiedung des Mehrjahresfinanzrahmens für die Jahre 2021–2027128 und des damit verbundenen Eigenmittelbeschlusses129 eingelegt.130 Zwar hätte die Rechtsstaatsverordnung trotz des Vetos durch eine qualifizierte Mehrheit131 angenommen werden können, es hätte aber die erforderliche Einstimmigkeit für den Mehrjahresfinanzrahmen132 und den Eigenmittelbeschluss133 gefehlt. Dies hätte zu erheblichen Nachteilen für alle Mitgliedstaaten in der Ausführung des Haushalts geführt. Zur Aufhebung des Vetos von Polen und Ungarn und damit der Gewährleistung der erforderlichen Einstimmigkeit im Rat für die Haushaltsinstrumente sah sich der Europäische Rat gezwungen, eine Erklärung abzugeben, die den Anwendungsbereich der Rechtsstaatsverordnung beschränken sollte. Den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020134 sind folgende Thesen hinsichtlich der Anwendung bzw. Auslegung der Rechtsstaatsverordnung zu entnehmen: Zunächst wird die Kommission aufgefordert, Leitlinien zu der Art und Weise, wie sie die Verordnung anwenden wird, einschließlich einer Methode für die Durchführung ihrer Bewertung, in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten zu entwickeln und anzunehmen. Im Falle der Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen die Verordnung135 werden die Leitlinien nach dem Erlass weigern, wurde für nichtig erklärt. Ferner O. Mader, EuZW 2021, 133 (136); K. L. Scheppele/L. Pech/D. Kelemen, Never Missing an Opportunity to Miss an Opportunity: The Council Legal Service Opinion on the Commission’s EU budget-related rule of law mechanism, VerfBlog vom 12. November 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/never-missing-anopportunity-to-miss-an-opportunity-the-council-legal-service-opinion-on-thecommissions-eu-budget-related-rule-of-law-mechanism/. 126 Schlussfolgerungen der außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates vom 17.–21. Juli 2020 (EUCO 10/20). 127 Dazu Editorial Comments, CMLRev. 58 (2021), 267 (268). 128 Verordnung (EU, Euratom) 2020/2093 des Rates vom 17. Dezember 2020 zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2021 bis 2027, ABl. EU 2020 Nr. L 433I, S. 11. 129 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053 des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom, ABl. EU 2020 Nr. L 424, S. 1. 130 Joint Declaration of the Prime Minister of Poland and the Prime Minister of Hungary vom 26.11.2020, abrufbar unter www.gov.pl/web/eu/joint-declaration-of-the-prime-ministerof-poland-and-the-prime-minister-of-hungary. 131 Art. 322 Abs. 1 lit. a) AEUV. 132 Art. 312 Abs. 2 AEUV. 133 Art. 311 Abs. 3 AEUV. 134 Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 (EUCO 22/20). 135 Erwartungsgemäß haben Polen und Ungarn tatsächlich eine Nichtigkeitsklage gegen

B. Gesetzgebungsinitiativen

293

des EuGH-Urteils veröffentlicht.136 Die Kommission soll in keinem Falle Maßnahmen nach Maßgabe der Verordnung vorschlagen, solange die Leitlinien nicht fertiggestellt sind.137 Daneben hat die Anwendung des Mechanismus laut den Schlussfolgerungen einen subsidiären Charakter, soweit andere Verfahren nach dem Unionsrecht, wie etwa die Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen,138 die Haushaltsordnung139 oder das Vertragsverletzungsverfahren, einen wirksameren Schutz des Haushalts der Union ermöglichen.140 Dabei reiche die bloße Feststellung einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit nicht aus, um den Mechanismus auszulösen.141 Vielmehr müsse darüber hinaus der ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung und den negativen Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Union hinreichend direkt und ordnungsgemäß festgestellt worden sein.142 Schließlich sei die Verordnung nur für den neuen Haushaltszyklus, d.h. ab 2021, anwendbar, was impliziert, dass laufende Verpflichtungen aus früheren Haushalten nicht erfasst werden sollten, auch wenn Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip zu einem früheren Zeitpunkt Auswirkungen auf Haushalte hatten.143

die Rechtsstaatsverordnung erhoben, EuGH, Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 – Ungarn/ Parlament und Rat; Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 – Polen/Parlament und Rat; dazu näher V. Borger, CMLRev. 59 (2022), 1771 (1781 ff.). 136 Die Kommission hat diese Leitlinien im März 2022 erlassen, K(2022) 1382 endg. 137 Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 (EUCO 22/20), Rn. 2 lit. c). 138 Verordnung (EU) 2021/1060 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Juni 2021 mit gemeinsamen Bestimmungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds, den Fonds für einen gerechten Übergang und den Europäischen Meeres-, Fischerei- und Aquakulturfonds sowie mit Haushaltsvorschriften für diese Fonds und für den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für finanzielle Hilfe im Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik, ABl. EU 2021 Nr. L 231, S. 159. 139 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012, ABl. EU 2018 Nr. L 193, S. 30. 140 Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 (EUCO 22/20), Rn. 2 lit. d). 141 Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 (EUCO 22/20), Rn. 2 lit. f). 142 Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 (EUCO 22/20), Rn. 2 lit. e). 143 Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 (EUCO 22/20), Rn. 2 lit. k).

294

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Nicht zuletzt wird die Kommission aufgefordert, eine Erklärung abzugeben, in der sie sich verpflichtet, sich an die sie betreffenden Bestimmungen zu halten.144 3. Rechtsstaatsverordnung 2021 Die Rechtsstaatsverordnung ist am 11.01.2021 auf Grundlage von Art. 322 Abs. 1 lit. a) AEUV145 in Kraft getreten,146 findet jedoch bereits ab dem 01.01.2021 Anwendung.147 Die Endfassung des Textes hat aufgrund der intensiven Verhandlungen an mehreren Stellen erhebliche Änderungen erfahren. Sie beinhaltet zehn Artikel, in denen Ziele, Begriffsbestimmungen, Verfahren und Maßnahmen festgelegt werden. Bevor eine Gesamtwürdigung des Konditionalitätsmechanismus vorgenommen wird, bedarf es an dieser Stelle der Darstellung der zentralen Bestimmungen der Rechtsstaatsverordnung. Zunächst fällt auf, dass sowohl aus dem Titel als auch den anderen Formulierungen im Text der Zusatz „im Falle allgemeiner Mängel im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit“ gestrichen und durch die Formulierung „Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“ ersetzt worden ist. Als Hinweis auf solche Verstöße gelten gemäß Art. 3 Rechtsstaatsverordnung „die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz, die Einschränkung der Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Rechtsbehelfen sowie das Versäumnis, willkürliche oder rechtswidrige Entscheidungen von Behörden, einschließlich Strafverfolgungsbehörden zu verhüten, zu korrigieren oder zu ahnden“.148

Diese Formulierung impliziert, dass auch ein einziger, aber schwerwiegender Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit grundsätzlich den Anwendungsbereich der Verordnung eröffnen kann,149 sodass der Akzent auf die qualitativen Merkmale des Verstoßes, insbesondere im Hinblick auf seine Auswirkungen auf die Ausführung des EU-Haushalts, gelegt wird.150 Durch diese Änderung wird einerseits 144 Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 (EUCO 22/20), Rn. 3. 145 Die Rechtmäßigkeit der Rechtsgrundlage war in der Literatur umstritten; befürwortend M. Fisicaro, EP 4 (2019), 695 (713); M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 117, 133; ablehnend J. Brauneck, EuR 2019, 37 (43 f., 53); J. Łacny, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 269 (274 Fn. 23), laut welchen Art. 325 Abs. 4 AEUV geeignete Rechtsgrundlage gewesen wäre. Dies ist allerdings von geringer Bedeutung, denn in beiden Fällen ist das ordentliche Gesetzgebungsverfahren anwendbar, sodass die etwaige fehlerhafte Anwendung des Art. 322 Abs. 1 lit. a AEUV als Rechtsgrundlage nicht zur Nichtigkeit des Rechtsaktes führen würde. Der EuGH hat der Wahl der Rechtsgrundlage zugestimmt, vgl. EuGH, Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98, Rn. 120 ff. – Polen/Parlament und Rat; Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 97 ff. – Ungarn/Parlament und Rat. 146 Polen und Ungarn haben gegen die Verabschiedung der Verordnung abgestimmt. 147 Art. 10 S. 2 Rechtsstaatsverordnung. 148 K(2022) 1382 endg., S. 4, Rn. 14 – die dortige Auflistung der Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit ist nicht erschöpfend. 149 Vgl. Erwägungsgr. 15 Rechtsstaatsverordnung. 150 T. Tridimas, CYELP 16 (2020), VII (XIV).

B. Gesetzgebungsinitiativen

295

der Anwendungsbereich der Verordnung verengt – denn das Vorliegen systemischer Mängel stellt einen weiteren Begriff als der Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit dar.151 Andererseits kommt dadurch die Verordnung den Anforderungen der Rechtssicherheit nach.152 Der Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit bildet allerdings nur die erste materielle Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Konditionalitätsmechanismus. Die Einleitung von Maßnahmen ist vielmehr erst dann zulässig, wenn dieser Verstoß die wirtschaftliche Haushaltsführung der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigt oder ernsthaft zu beeinträchtigen droht.153 Auch wenn der kausale Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und der Gefährdung des EU-Haushalts den materiellen Anwendungsbereich der Verordnung beschränkt, bildet er eine unerlässliche Voraussetzung für die Konformität der Verordnung mit dem Primärrecht (Art. 322 Abs. 1 lit. a AEUV) und ist daher zu begrüßen.154 Dabei bleibt offen, wie die „hinreichende Unmittelbarkeit“ der Beeinträchtigung festgestellt bzw. nachgewiesen wird,155 es reicht allerdings aus, dass sich diese potenziell – und nicht unbedingt tatsächlich – auf die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder auf die finanziellen Interessen der Union auswirkt.156 Zudem ist die zweite materielle Voraussetzung auch dann erfüllt, wenn eine konkrete Gefährdung der finanziellen Interessen der Union vorliegt, d.h., wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besteht.157 Dabei gilt: Je schwerwiegender der Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip, desto einfacher die Herstellung des kausalen Zusammenhangs zur Gefährdung des EU-Haushalts.158 Die Kommission berücksichtigt in ihrer Würdigung sachdienliche Informationen aus verfügbaren Quellen, einschließlich Beschlüssen, Schlussfolgerungen und Empfehlungen von Organen der Union sowie von anderen einschlägigen internationalen Organisationen und anderen anerkannten Einrichtungen.159 151 Wie hier N. Kirst, EP 2021, 101 (105); T. Tridimas, CYELP 16 (2020), VII (XIII); a.A. J. Łacny, HJRL 13 (2021), 79 (89, 102), die die Entwicklung positiv bewertet, dass ein einziger Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip statt des Vorliegens allgemeiner Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit für die Anwendung der Verordnung ausreicht. 152 Ähnlich A. Baraggia/M. Bonelli, GLJ 23 (2022), 131 (146). 153 Art. 4 Rechtsstaatsverordnung; K(2022) 1382 endg., S. 2, Rn. 8 sowie S. 7, Rn. 26 ff. 154 In diesem Sinne M. Fisicaro, EuConst 18 (2022), 334 (354); I. Goldner Lang, CYELP 15 (2019), 1 (16 f.); M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 163 ff. 155 M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 172, der vorschlägt, dass bei ernsten Anhaltspunkten für eine Gefährdung des EU-Haushalts es den Mitgliedstaaten obläge, nachzuweisen, dass ihre Regelungen den unionalen Anforderungen zum Schutz des EU-Haushalts genügen. 156 Vgl. Art. 5 Abs. 3 Rechtsstaatsverordnung. 157 Vgl. M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 174. 158 Ähnlich K(2022) 1382 endg., S. 8, Rn. 30. 159 Art. 6 Abs. 3 Rechtsstaatsverordnung.

296

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Das Verfahren zur Einleitung der Maßnahme ist dreistufig: Zunächst wird ein Vorverfahren durch die Kommission eingeleitet, in dem sie dem Mitgliedstaat eine schriftliche Mitteilung übermittelt.160 Der betroffene Mitgliedstaat legt dann sämtliche erforderlichen Informationen vor und kann zugleich Stellung nehmen, wobei er auch Abhilfemaßnahmen vorschlagen kann.161 Trägt der Dialog mit dem Mitgliedstaat nicht zur Behebung des Problems bei, legt die Kommission dem Rat einen Entwurf für einen Durchführungsbeschluss mit geeigneten Maßnahmen vor,162 den der Rat mit qualifizierter Mehrheit annehmen bzw. ändern kann.163 Den Abschluss des Verfahrens bildet die Verhängung von finanziellen Sanktionen, die nach Art der Mittelverwaltung variieren164 und gegebenenfalls sogar die Aussetzung von Zahlungen beinhalten können.165 Nach der Vornahme geeigneter Maßnahmen ist die Kommission mit der regelmäßigen Überwachung der Umsetzung dieser in dem Mitgliedstaat betraut. Bei Ergreifen von Abhilfemaßnahmen durch den Mitgliedstaat bzw. spätestens ein Jahr nach Vornahme der Maßnahmen nimmt sie eine Neubewertung der Rechtslage in dem Mitgliedstaat vor und legt dem Rat einen entsprechenden Vorschlag zur Änderung bzw. Aufhebung der Maßnahmen vor.166 4. Stellungnahme Die Einführung einer Konditionalitätsregelung in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit ist grundsätzlich zu begrüßen.167 Obwohl Konditionalitäten als Schutzmechanismus für finanzielle Interessen der EU bzw. als Steuerungsinstrument im Unionsrecht nicht fremd sind,168 stellt die Einführung eines negativen, d.h. auf 160

Art. 6 Abs. 1 Rechtsstaatsverordnung; K(2022) 1382 endg., S. 21, Rn. 76 ff. Art. 6 Abs. 5 Rechtsstaatsverordnung. 162 Zu diesem Zeitpunkt ist dem Mitgliedstaat erneut die Möglichkeit gegeben, diesmal zu den Feststellungen und insbesondere zur Verhältnismäßigkeit der in Aussicht gestellten Maßnahmen Stellung zu nehmen, so Art. 6 Abs. 7 Rechtsstaatsverordnung. 163 Art. 6 Abs. 9 bis 11 Rechtsstaatsverordnung. 164 Die Ausführung des EU-Haushalts erfolgt entweder durch die Kommission in direkter oder indirekter Mittelverwaltung (Art. 62 lit. a und c Verordnung [EU, Euratom] Nr. 2018/1046) oder durch die Kommission und die Mitgliedstaaten in geteilter Mittelverwaltung (Art. 62 lit. b i.V.m. Art. 63 und 126 bis 129 Verordnung [EU, Euratom] Nr. 2018/ 1046). 165 Art. 5 Rechtsstaatsverordnung; K(2022) 1382 endg., S. 13, Rn. 44 ff. 166 Erwägungsgr. 24 f. Rechtsstaatsverordnung; K(2022) 1382 endg., S. 22, Rn. 80. 167 Skeptisch aber F. Weber, ELRev. 47 (2022), 514 (530 ff.), der einen erheblichen Machtzuwachs für den EuGH und zulasten des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds darin erblickt, dass er sich die Kompetenz vorbehält, allein über den Inhalt und die Reichweite der Werte bzw. der Rechtsstaatlichkeit zu entscheiden. Vgl. ferner A. Baraggia/M. Bonelli, GLJ 23 (2022), 131 (152 f.), die eine mögliche Beeinträchtigung des Gleichheitsgrundsatzes zwischen den Mitgliedstaaten dahingehend erkennen, dass die ärmeren Mitgliedstaaten als Hauptempfänger von EU-Mitteln von der Rechtsstaatsverordnung de facto stärker betroffen sind; ähnlich L. Pech/K. L. Scheppele, CYELS 2017, 3 (45). 168 Diese existieren in Form von ex-ante und/oder ex-post Konditionalitätsregeln: Bei 161

B. Gesetzgebungsinitiativen

297

Sanktionsmaßnahmen bezogenen, ex-post-Konditionalitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten gleichwohl ein Novum dar.169 Selbst wenn diese Konditionalitäten sich auf den Schutz des EU-Haushalts beschränken, sind sie Beleg dafür, dass die EU die Untergrabung ihrer Grundwerte nicht toleriert. Insoweit ist der Konditionalitätsmechanismus den bereits bestehenden Durchsetzungsmechanismen des Unionsrechts zuzuordnen.170 Der Konditionalitätsmechanismus ist darüber hinaus nicht nur als Steuerungsinstrument der EU,171 sondern zugleich als Ausdruck einer grundlegenden Änderung in den Beziehungen zwischen EU und Mitgliedstaaten sowie den Mitgliedstaaten untereinander zu erachten. Denn Konditionalitätsregelungen politischer Natur bringen einen Paradigmenwechsel zum Ausdruck, der auf einen Vertrauensverlust – vor allem in vertikaler Hinsicht – bezüglich der Wertesicherung in den Mitgliedstaaten hindeutet. Im Gegensatz zu der langjährigen Praxis der EU, wonach Konditionalitäten grundsätzlich auf Drittländer, Nachbarschaftspartner, Beitrittskandidaten und nur in Extremfällen EU-Mitgliedstaaten gerichtet waren, sind nunmehr Letztere dazu aufgefordert, ihr unionsrechtskonformes Verhalten in Einklang mit den Verträgen nachzuweisen.172 Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Konditionalitätsmechanismus dem Vertrauensgrundsatz entgegensteht. Vielmehr bringt die Rechtsstaatsverordnung die dem Vertrauensbegriff immanente Widerlegungsmöglichkeit zum Ausdruck, indem sie dem Vertrauen der EU in die Unionsrechtstreue der Mitgliedstaaten Grenzen zieht und seine Widerlegung an Sanktionsmaßnahmen knüpft.173 ex-ante Konditionalitäten müssen die Mitgliedstaaten bestimmte Bedingungen erst erfüllen, bevor sie von einer Finanzleistung profitieren dürfen; ex-post Konditionalitäten beziehen sich hingegen auf die Bedingungen, die für den Genuss einer Finanzleistung erforderlich sind. Dazu M. Fisicaro, EP 4 (2019), 695 (703 ff.); A. Gilles, Die Konditionalität der Finanzhilfen für Eurostaaten, 2019, S. 43 ff.; M. Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 61 (64 ff.); J. Łacny, HJRL 13 (2021), 79 (83); A. Poulou, Soziale Unionsgrundrechte und europäische Finanzhilfe, 2017, S. 67 ff.; J. Sˇelih/I. Bond/C. Dolan, Centre for European Reform 2017, 1 (7); V. VitÀ a˘, CYELS 19 (2017), 116 (124 ff.). Vgl. auch die Konstitutionalisierung der Konditionalitäten für die Gewährung von Finanzhilfe in Art. 136 Abs. 3 AEUV. 169 Bisher verfolgte die EU ex-ante politische Konditionalitäten für Beitrittskandidaten in ihrer Erweiterungsstrategie. Dazu S. Giesendorf, Politische Konditionalität der EU, 2009, S. 177 ff.; C. Hillion, in: ders. (Hrsg.), EU Enlargement, 2004, S. 1 (3 ff.); D. Kochenov, EU Enlargement and the Failure of Conditionality, 2008, S. 65 ff.; K. E. Smith, in: M. Cremona (Hrsg.), The enlargement of the European Union, 2003, S. 105 ff. 170 Dabei wird unterschieden zwischen Konditionalitäten, die auf die Einführung von Regelungen auf nationaler Ebene („regulatory conditionalities“) und Konditionalitäten, die auf die Durchsetzung des Unionsrechts („enforcement conditionalities“) abzielen, vgl. M. Fisicaro, EuConst 18 (2022), 334 (340). 171 Konditionalitäten stellen eine Alternative zu den traditionellen Durchsetzungsmechanismen dar, vgl. A. Baraggia/M. Bonelli, GLJ 23 (2022), 131 (141 ff.). 172 In diesem Sinne bezüglich der finanziellen Konditionalitäten und der Solidarität unter den Mitgliedstaaten auch M. Fisicaro, EP 4 (2019), 695 (718 f.); V. VitÀ a˘, CYELS 19 (2017), 116 (136). 173 Vgl. Art. 5 Rechtsstaatsverordnung.

298

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Die praktische Wirksamkeit der Rechtsstaatsverordnung hängt dabei neben dem politischen Willen der Unionsorgane, diese auch durchzusetzen,174 von deren freiwilligen Bindung an die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10.–11. Dezember 2020 ab. Letztere dürfen allerdings aufgrund ihres Verstoßes gegen das Primärrecht sowie ihrer fehlenden Rechtsbindungswirkung bei der Auslegung bzw. Anwendung der Rechtsstaatsverordnung nicht berücksichtigt werden.175 Denn erstens verstoßen die Formulierungen der Schlussfolgerungen gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts nach Art. 13 Abs. 2 EUV und konkret gegen Art. 15 Abs. 1 S. 2 EUV, wonach der Europäische Rat nicht gesetzgeberisch tätig werden darf. Eine nachträgliche Einmischung in das Gesetzgebungsverfahren durch den Erlass von Leitlinien zur Auslegung bzw. partiellen Abänderung des Rechtsakts ist daher verboten. Zweitens stellen die Anweisungen an die Kommission, Leitlinien für die Durchführung der Rechtsstaatsverordnung zu erlassen einen gravierenden Eingriff in das Ermessen der Kommission,176 ihre nach Art. 17 Abs. 3 UAbs. 3 EUV gewährleistete Unabhängigkeit und insgesamt ihre Aufgabe als Hüterin der Verträge dar. Der Europäische Rat darf nicht die Handlungen der Kommission steuern bzw. begrenzen. Schließlich verstößt die Anforderung, dass die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen die Rechtsstaatsverordnung die Erstellung der Durchführungsleitlinien bzw. die Anwendung der Verordnung aufschiebt, gegen Art. 278 AEUV, wonach die Klagen vor dem EuGH grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben, es sei denn, der EuGH entscheidet selbst, die Durchführung einer angefochtenen Handlung auszusetzen.177 Insoweit stellt diese Anforderung zugleich eine Verletzung des Prinzips des institutionellen Gleichgewichts dar.178 Der Europäische Rat hat somit das Rechtsstaatsprinzip im Sinne des Art. 2 EUV verletzt.179 Selbst wenn von der Primärrechtskonformität der Schlussfolgerungen auszugehen wäre, bliebe die Frage nach deren rechtlicher Bindungswirkung. Die

174

Kritisch gegenüber der bisherigen Untätigkeit bzw. nur verzögerten Reaktion der Unionsorgane beim Kampf zur Verteidigung der Unionswerte, P. Ba´rd/D. Kochenov, ELJ 27 (2021), 39 (43 ff.). 175 Dazu auch A. Alemmano/M. Chamon, To Save the Rule of Law you Must Apparently Break It, VerfBlog vom 11. Dezember 2020, abrufbar unter verfassungsblog.de/to-save-therule-of-law-you-must-apparently-break-it/: der Europäische Rat habe ultra vires gehandelt; O. Mader, EuZW 2021, 133 (139 f.); U. Stäsche, ZEuS 2021, 561 (611 f.). 176 Vgl. Art. 6 Abs. 1 Rechtsstaatsverordnung. 177 Gemäß Art. 160 EuGHVfO. 178 F. Marques, ELJ 27 (2021), 228 (237 f.). 179 Vgl. auch die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2020 zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027, der interinstitutionellen Vereinbarung, dem EU-Aufbauinstrument und der Verordnung über die Rechtsstaatlichkeit (2020/2923[RSP]), Nr. 4 ff.; anders aber Rat der Europäischen Union, Gutachten des Juristischen Dienstes, Teil I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10. und 11. Dezember 2020 – Übereinstimmung mit den Verträgen und mit der Verordnung über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, 13961/20.

B. Gesetzgebungsinitiativen

299

Beschlüsse des Europäischen Rates wirken vorwiegend politisch und erfüllen eine Impuls- und Leitlinienfunktion.180 Sie sollen zwar durch rechtliche Maßnahmen umgesetzt werden, ihre politische Wirkung kann jedoch nicht zur Nichtigerklärung der Maßnahmen der Kommission führen.181 Dabei berührt die Intention des Organs, seiner Entscheidung eine bindende Außenwirkung beizumessen, nicht den institutionellen Zusammenhang und die den Organen vertraglich übertragenen Zuständigkeiten. Vielmehr bestimmen allein die Verträge die Fälle, in denen der Europäische Rat in einem Verfahren mit einbezogen wird bzw. bindende Entscheidungen treffen kann.182 Daher haben die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates keine rechtsverbindliche Wirkung und sind für die Auslegung der Rechtsstaatsverordnung nicht im Rechtssinne relevant.183 Schließlich muss geklärt werden, ob die Rechtsstaatsverordnung neben anderen Mechanismen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit angewendet werden kann oder ob sie insoweit nur einen subsidiären Charakter hat. Für diese Frage ist maßgeblich, inwieweit sich die Mechanismen in ihren Zielen, Funktionen und Verfahrensbestimmungen unterscheiden. Diese Kriterien hat auch der EuGH im Rahmen von Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV angewandt: Zwangsgelder und Pauschalbeträge aufgrund der Missachtung von im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens ergangenen EuGH-Urteilen sind parallel möglich,184 weil sie unterschiedliche Funktionen erfüllen.185 Ähnlich ist die parallele Anwendung von Art. 7 EUV und Art. 258 AEUV möglich, denn das Art. 7 EUV-Verfahren stellt ein politisches Instrument zur Reaktion auf Verstöße gegen Art. 2 EUV dar, während Art. 258 AEUV den rechtlichen Weg zur Feststellung und Sanktionie-

180 C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 15 EUV, Rn. 7; A. J. Kumin, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 15 EUV, Rn. 71. 181 EuGH, verb. Rs. C-643/15 und C-647/15, ECLI:EU:C:2017:631, Rn. 145 – Slowakei/ Rat. 182 Vgl. Art. 7 Abs. 2, 31 Abs. 1 bis 3, 48 Abs. 6 und 7, 49 Abs. 1, 50 Abs. 3 EUV; Art. 48 Abs. 2, 82 Abs. 3, 86 Abs. 1, 87 Abs. 3 und 236 AEUV. 183 Wie hier Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2020 zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027, der interinstitutionellen Vereinbarung, dem EUAufbauinstrument und der Verordnung über die Rechtsstaatlichkeit (2020/2923[RSP]), Nr. 5; O. Mader, EuZW 2021, 133 (141); M. Pechstein, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 15 EUV, Rn. 2 f.; U. Stäsche, ZEuS 2021, 561 (602 ff.); a.A. A. Alemmano/M. Chamon, To Save the Rule of Law you Must Apparently Break It, VerfBlog vom 11. Dezember 2020, abrufbar unter verfassungsblog.de/to-save-the-rule-of-law-you-must-apparentlybreak-it/, die den Schlussfolgerungen maßgebliche rechtliche Konsequenzen beimessen; vgl. auch die Aussagen der Premierminister von Polen und Ungarn, die Schlussfolgerungen seien selbst der Verordnung vorrangig, abrufbar unter https://www.politico.eu/article/live-blog-euleaders-talk-coronavirus-climate-and-budget/; unschlüssig N. Kirst, EP 2021, 101 (108, 110). 184 Trotz des Wortlauts „Pauschalbetrag oder Zwangsgeld“. 185 EuGH, Rs. C-304/02, Slg. 2005, I-6263, Rn. 81 ff. – Kommission/Frankreich; vgl. auch M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 219 f.

300

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

rung von Unionsrechtsverstößen bildet.186 Die Rechtsstaatsverordnung dient der Wahrung der finanziellen Interessen der EU bzw. des EU-Haushalts, indem die rechtswidrige Freigabe von EU-Mitteln verhindert wird. Der Konditionalitätsmechanismus unterscheidet sich insoweit von beiden Mechanismen dadurch, dass er sich konkret gegen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit richtet, die die finanziellen Interessen potenziell oder tatsächlich beeinträchtigen.187 Auch der Wortlaut des Rechtstexts spricht nicht gegen eine gleichzeitige Anwendung anderer (Sanktions-)Mechanismen.188

II. ESIF-Dachverordnungen 2013 und 2021 Über den konkret auf die Rechtsstaatlichkeit bezogenen Konditionalitätsmechanismus hinaus wird die Möglichkeit diskutiert, Zahlungen auch im Rahmen der ESIF-Dachverordnung 2013189 bzw. 2021190 auszusetzen.191 Dabei handelt es 186

Anders J. Łacny, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 269 (298): der Konditionalitätsmechanismus sei lex specialis zum Vertragsverletzungsverfahren. 187 Bestätigt in EuGH, Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 156 ff. – Ungarn/Parlament und Rat; Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98, Rn. 192 ff. – Polen/Parlament und Rat; zum gleichen Ergebnis kommen auch I. Goldner Lang, CYELP 15 (2019), 1 (19 ff.); M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 235; T. Tridimas, CYELP 16 (2020), VII (XIX); a.A. M. J. Rangel de Mesquita, ERA Forum 19 (2018), 287 (291 f.), der den Konditionalitätsmechanismus als eine Umgehung der Verfahrensvorschriften des Art. 7 EUV-Sanktionsmechanismus und daher als mit dem Primärrecht unvereinbar betrachtet. 188 Der Erwägungsgr. 17 legt lediglich fest, dass Maßnahmen im Rahmen dieser Verordnung insbesondere dann erforderlich seien, wenn andere in der Unionsgesetzgebung festgelegte Verfahren keinen wirksameren Schutz des Haushalts der Union ermöglichen würden (Hervorhebung durch Verfasserin). 189 Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates, ABl. EU 2013 Nr. L 347, S. 320. 190 Verordnung (EU) Nr. 2021/1060 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Juni 2021 mit gemeinsamen Bestimmungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds, den Fonds für einen gerechten Übergang und den Europäischen Meeres-, Fischerei- und Aquakulturfonds sowie mit Haushaltsvorschriften für diese Fonds und für den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für finanzielle Hilfe im Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik, ABl. EU 2021 Nr. L 231, S. 159. Die ESIF-Dachverordnung 2021 ersetzt nicht die bestehende ESIF-Dachverordnung 2013, welche weiterhin für die Programme gelten wird, die im Zeitraum 2014 bis 2020 verabschiedet wurden. 191 D. Kelemen/K. L. Scheppele, How to Stop Funding Autocracy in the EU, VerfBlog vom

B. Gesetzgebungsinitiativen

301

sich um Bestimmungen über die Inanspruchnahme, Verwaltung und Kontrolle der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF).192 Obwohl die ESIFDachverordnungen keine konkrete Vorschrift für die Aussetzung von Zahlungen im Falle von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit vorsehen, ist die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit im Sinne eines effektiven Verwaltungs- und Kontrollsystems und eines effektiven Gerichtssystems als eine Konditionalität anzusehen, deren Enttäuschung zur Aussetzung von EU-Mitteln führen kann.193 Ansatzpunkt dafür bilden Art. 142 lit. a) ESIF-Dachverordnung 2013 und Art. 97 Abs. 1 lit. b) ESIF-Dachverordnung 2021, wonach die Kommission Zahlungen ganz oder zum Teil aussetzen kann, wenn ein gravierender Mangel in der effektiven Funktionsweise des Verwaltungs- und Kontrollsystems für das operationelle Programm vorliegt.194 Davon umfasst sind alle für die Umsetzung der finanziellen Maßnahmen, Verwaltung und Kontrolle von Mitteln der Union zuständigen nationalen Einrichtungen.195 Hierbei sind nicht nur die Verwaltungsbehörden, sondern auch die nationalen Gerichte für die rechtmäßige Ausführung von EU-Mitteln von großer Bedeutung.196 Denn die Gewährleistung einer effektiven gerichtlichen Kontrolle ist mit der Beachtung der Rechtsstaatlichkeit unauflöslich verknüpft. Der Zusammenbruch eines rechtsstaatlichen Kontrollsystems kann daher die korrekte Umsetzung der ESIF in Frage stellen. Bei schwerwiegenden Rechtsstaatsverstößen bzw. einer Verletzung der Unionswerte wird die geforderte effiziente Nutzung und Kontrolle des Programms gefährdet.197 10. September 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/how-to-stop-funding-autocracy-inthe-eu/; L. Pech/D. Kochenov, Reconnect 2019, 1 (2) und K. L. Scheppele, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 105 (130 f.) haben auf diese Möglichkeit schon hingedeutet. 192 Die ESIF dienen der Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in der EU (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV) und bestehen aus fünf Fonds, die für die Mitgliedstaaten eine sehr große wirtschaftliche Bedeutung haben. Näher M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 61 ff. 193 Anders G. Halmai, HJRL 11 (2019), 171 (185), laut welchem die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit an sich eine unabdingbare Voraussetzung für die Einnahme von EU-Mitteln im Sinne des Art. 6 ESIF-Dachverordnung 2013 bildet, sodass die Anwendung der Verordnung in einem Mitgliedstaat ausgeschlossen sei, wenn dieser den Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit nicht genügt. 194 Eine ähnliche Regelung ist in Art. 41 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates, ABl. EU 2013 Nr. L 347, S. 549, vorgesehen. 195 Art. 63 Abs. 2 UAbs. 1 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 2018/1046. 196 Dazu I. Goldner Lang, CYELP 15 (2019), 1 (10); M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 70, 112 ff. 197 D. Kelemen/K. L. Scheppele, How to Stop Funding Autocracy in the EU, VerfBlog vom 10. September 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/how-to-stop-funding-autocracy-inthe-eu/; ähnlich in Bezug auf finanzielle Berichtigungen C. Möllers/L. Schneider, Demokratiesicherung in der EU, 2018, S. 116.

302

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Dabei soll allerdings – ähnlich wie beim Konditionalitätsmechanismus – ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Rechtsstaatsdefizit bzw. Rechtsstaatsverstoß und der ineffizienten Verwaltung bzw. Kontrolle des Programms nachgewiesen werden.198 Allgemeine Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit können dementsprechend die Aussetzung der Zahlungen für sich genommen nicht begründen,199 deuten allerdings auf eine Gefahr für die effektive Funktionsweise des Verwaltungs- und Kontrollsystems hin. Die ESIF-Dachverordnung 2021 sieht schließlich eine neue Möglichkeit für die vollständige bzw. teilweise Aussetzung der Zahlungen vor, nämlich wenn eine mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission zu einem Verfahren über eine Vertragsverletzung nach Art. 258 AEUV bezüglich eines Sachverhalts vorliegt, der ein Risiko für die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Auszahlungen begründet. Dies hat zur Folge, dass die Einleitung des Art. 258 AEUV im Falle der Gefährdung der rechtmäßigen Ausführung von EU-Mitteln unabhängig von der Verhängung anderer Sanktionsmaßnahmen möglich ist, und spricht somit für die parallele Anwendung des Vertragsverletzungsverfahrens mit anderen, sekundärrechtlich vorgesehenen Maßnahmen. Außerdem impliziert dies, dass Art. 258 AEUV auch bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit zur Anwendung kommt, soweit ein kausaler Zusammenhang zum Schutz der finanziellen Interessen der EU hergestellt werden kann.200

III. Fazit Das gegenseitige Vertrauen in die verantwortungsvolle Verwendung der EUMittel durch die Mitgliedstaaten ist aufgrund der anstehenden Rechtsstaatlichkeitskrise erschüttert. In Reaktion darauf und angesichts der begrenzten Wirkung der politischen Rechtsinstrumente hat der Unionsgesetzgeber eine Konditionalitätsregelung für die Auszahlung von EU-Mitteln eingeführt. Der neue, negative Konditionalitätsmechanismus stellt einen Zusammenhang zwischen der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 2 EUV einerseits und dem Schutz der finanziellen Interessen der EU andererseits her, indem fortan die Ahndung von schwerwiegenden und anhaltenden Rechtsstaatsverstößen in den Mitgliedstaaten in Form von finanziellen Sanktionen möglich ist. Daneben kann von den bereits bestehenden Abwehrmöglichkeiten gemäß der ESIF-Dachverordnungen, die eine Aussetzung von Zahlungen zulassen, Gebrauch gemacht werden. Die Entscheidung darüber, welcher Mechanismus bzw. welche Kombination von Mechanismen einen wirksamen Schutz der Unionsinteressen gewähr-

198

So auch M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 65. 199 Wie hier J. Łacny, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 269 (273). 200 In diesem Sinne auch J. Łacny, HJRL 13 (2021), 79 (102).

C. Gerichtliche Initiativen

303

leistet, obliegt zuvörderst der Kommission als Hüterin der Verträge und für den EU-Haushalts zuständiges Verwaltungsorgan.201 Die Herstellung einer Konditionalität zwischen EU-Mittelauszahlungen und der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit stellt eine begrüßenswerte Entwicklung dar, die den notwendigen Handlungsdruck auf den betreffenden Mitgliedstaat zu erzeugen vermag. Gleichzeitig fungiert sie als Zeichen einer fundamentalen Erschütterung des Vertrauensgrundsatzes in seiner vertikalen Ausprägung, indem die Unionsorgane die Vermutung der Unionsrechtstreue der Mitgliedstaaten in Frage stellen. Die Rechtsstaatsverordnung belegt in dieser Hinsicht, dass die EU die Unionswerte und insbesondere den Wert der Rechtsstaatlichkeit als Eckpfeiler der europäischen Integration versteht und bei deren Verteidigung keine Kompromisse eingeht.202 Dabei ermöglicht die im weiteren Sinne begriffene Rechtsstaatlichkeit zugleich den indirekten Schutz der anderen Unionswerte im Sinne von Art. 2 EUV, wie etwa der Demokratie und der Grundrechte.203

C. Gerichtliche Initiativen Der Schutz der europäischen Rechtsstaatlichkeit wäre unvollständig, wenn der Rechtsweg für die Durchsetzung der Unionswerte nicht eröffnet wäre. Nationale und unionale Gerichtsbarkeit bemühen sich, der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit im Wege der Rechtsfortbildung entgegenzuwirken,204 indem sie neue Prüfungsmaßstäbe für die Unionsrechtskonformität nationaler Maßnahmen bzw. Praxen ausarbeiten. Kernverfahren, die einerseits der einheitlichen Anwendung bzw. Durchsetzung des Unionsrechts in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnun201 Vgl. die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juli 2021 zu der Festlegung von Leitlinien für die Anwendung der allgemeinen Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (2021/2071[INI]), Nr. 4, wonach die Untätigkeit der Kommission zur Erhebung einer Untätigkeitsklage seitens des Europäischen Parlaments führen kann. Die Erfolgsaussichten einer solchen Klage sind allerdings angesichts des weiten Ermessens der Kommission hinsichtlich der Einleitung des Konditionalitätsmechanismus sehr gering, so auch M. Chamon, A Hollow Threat, VerfBlog vom 16. Juni 2021, abrufbar unter verfassungsblog.de/a-hollow-threat/; S. Platon, Bringing a Knife to a Gunfight, VerfBlog vom 11. Juni 2021, abrufbar unter verfassungsblog.de/bringing-a-knife-to-a-gunfight/. Am 29. Oktober 2021 hat das Europäische Parlament eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission wegen Untätigkeit und Nichtanwendung der Verordnung erhoben, vgl. die Erklärung des Präsidenten des Europäischen Parlaments abrufbar unter www.europarl.europa.eu/for mer ep presidents/president-sassoli/en/newsroom/parliament-files-lawsuit-against-commi ssion-over-rule-of-law-mechanism.html, diese aber letztendlich zurückgezogen, vgl. Rs. C-657/21, Beschluss des Präsidenten des EuGH vom 8. Juni 2022 – Parlament/Kommission. 202 Vgl. U. von der Leyen, Rede vom 16. Juli 2019 zur Eröffnung der Plenartagung des Europäischen Parlaments, SPEECH/19/4230. 203 Ähnlich U. Stäsche, ZEuS 2021, 561 (600). 204 Die Dogmatik zieht allerdings der richterlichen Rechtsfortbildung Grenzen, vgl. P. Kirchhof, NJW 2022, 1049 (1053).

304

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

gen dienen und andererseits den innerunionalen gerichtlichen Dialog bzw. die gerichtliche Zusammenarbeit ermöglichen, sind das Vertragsverletzungsverfahren und das Vorabentscheidungsverfahren. Diese gelangen insbesondere zum Einsatz, wenn die politische Vereinnahmung der nationalen Gerichte durch gezielte Änderungen des Gerichtssystems vorangetrieben wird.

I. Vertragsverletzungsverfahren Das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV ff.) hat sich bisher als das effektivste Rechtsinstrument für den Schutz der Rechtsstaatlichkeit erwiesen,205 selbst wenn sich die Kommission dabei nicht direkt auf die Grundlage des Art. 2 EUV stützt.206 Bei einer genaueren Betrachtung der ratio von Art. 258 AEUV sowie von Art. 2 EUV ergibt sich allerdings, dass ein Vertragsverletzungsverfahren allein auf Art. 2 EUV gestützt werden kann. Daneben bieten Art. 260 AEUV i.V.m. den Vorschriften über die Verrechnung von Forderungen eine weitere Möglichkeit, Druck auf den gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßenden Mitgliedstaat auszuüben und ihn dazu aufzufordern, die unionsrechtswidrigen Maßnahmen außer Kraft zu setzen. 1. Justiziabilität der Rechtsstaatlichkeit Voraussetzung für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ist nach Art. 258 Abs. 1 bzw. Art. 259 Abs. 1 AEUV207 der Verstoß gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen. Damit unmittelbar verknüpft ist die Frage, ob die in Art. 2 S. 1 EUV festgeschriebenen Werte und insbesondere das Gebot der Rechtsstaatlichkeit eine solche Verpflichtung begründen. Zunächst spricht der Wortlaut dafür: Die EU gründet sich auf die gemeinsamen Werte der Mitgliedstaaten, die zugleich das Fundament des Vertrauensgrundsatzes bilden. Die Auferlegung einer solchen Vermutungswirkung rechtfertigt sich nur, wenn die Achtung der Werte des Art. 2 EUV verpflichtend für die Mitgliedstaaten ist. Außerdem folgt aus Art. 49 EUV und den dort aufgelisteten Aufnahmekriterien für neue Mitgliedstaaten, dass die Beachtung rechtsstaatlicher Anforderungen eine dauernde Verpflichtung für alle Mitgliedstaaten darstellt.208 Auf den ersten Blick besteht 205 So auch A. Voßkuhle, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HVwR, Bd. III, 2022, § 59, Rn. 49. 206 Vgl. aber die am 19. Dezember 2022 eingereichte Klage gegen Ungarn (Rs. C-769/22): „indem Ungarn die unter (1) genannten Vorschriften erlassen hat, hat Ungarn gegen Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union verstoßen“. 207 D. Kochenov, HJRL 7 (2015), 153 (157 ff.), der für eine aktivere Rolle der Mitgliedstaaten im Kampf gegen die Rechtsstaatlichkeitskrise auf der Grundlage von Art. 259 Abs. 1 AEUV plädiert; ähnlich ähnlich G. I´n˜iguez, GLJ 23 (2022), 1104 (1111 ff.). 208 EuGH, Rs. C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 129, 234 – Ungarn/Parlament und Rat; Rs. C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98, Rn. 143, 266 – Polen/Parlament und Rat; so auch C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 10; D. Kochenov, in: A. Jakab/ders. (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 9 (10 ff.).

C. Gerichtliche Initiativen

305

daher kein Grund, die Anwendung von Art. 2 EUV im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens auszuschließen.209 Der EuGH hat in diesem Zusammenhang regelmäßig betont, dass die Mitgliedstaaten über Art. 49 EUV die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen (müssen).210 Das Gegenstück davon stellt Art. 50 EUV dar, wonach die Mitgliedstaaten aus der EU austreten und sich dadurch von der Verpflichtung, die Werte des Art. 2 EUV zu achten, befreien können.211 Dabei schreibt Art. 2 EUV den Mitgliedstaaten kein konkretes Verfassungsmodell vor, sondern legt ein Mindestschutzniveau fest, das die Mitgliedstaaten nicht unterschreiten dürfen. Daraus folgt eine Unterlassungspflicht der Mitgliedstaaten, nämlich jeden nach Maßgabe der Unionswerte eintretenden Rückschritt in ihrer Rechtsordnung zu vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die den entsprechenden Wert untergraben würden.212 Die Einführung eines Rückschrittsverbots213 in Bezug auf die Werte des Art. 2 EUV setzt somit dem Diskurs über die Rechtswirkung von Art. 2 EUV ein Ende. Der Verstoß gegen die europäische Rechtsstaatlichkeit im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens kann darüber hinaus über Art. 2 EUV i.V.m. der Verletzung des Loyalitätsgrundsatzes aus Art. 4 Abs. 3 EUV begründet werden.214 Die Kommission kann als Hüterin der Verträge geltend machen, dass die Miss209 So auch A. Baraggia, ELRev. 47 (2022), 687 (694); J. Brauneck, NVwZ 2018, 1423 (1426); M. Hilf/F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 46 ff.; C. Hillion, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 59 (66); E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 194; O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (137); D. Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); V. Skouris, Demokratie und Rechtsstaat, 2018, S. 50 f.; M. Potacs, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159 (160 f.); M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 51; A. Weber, DÖV 2017, 741 (748); skeptisch aber J.-W. Müller, ELJ 21 (2015), 141 (146); die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens aufgrund einer Verletzung von Art. 2 EUV ablehnend M. Bonelli, EuConst 18 (2022), 30 (44 ff.); D. Kochenov/L. Pech, EuConst 11 (2015), 512 (520); E. Levits, in: T. Jaeger (Hrsg.), Europa 4.0?, 2018, S. 239 (262); N. Wunderlich, EuR 2019, 557 (575); unschlüssig C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 348, Rn. 564. 210 EuGH, Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531, Rn. 42 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); Rs. C-621/18, ECLI:EU:C:2018:999, Rn. 63 – Wightman u.a.; verb. Rs. C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19, ECLI:EU:C: 2021:393, Rn. 160 – Asociat¸ia „Forumul Judeca˘torilor din Romaˆnia“; Rs. C-896/19, ECLI: EU:C:2021:311, Rn. 61 – Repubblika. 211 In diesem Sinne EuGH, Rs. C-621/18, ECLI:EU:C:2018:999, Rn. 63 – Wightman u.a. 212 Mit Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 64 – Repubblika. 213 S. oben unter 6. Kap., C., S. 236 f. 214 C. Closa, in: ders./D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 15 (17); D. Kochenov, HJRL 7 (2015), 153 (168); P. Pohjankoski, CMLRev. 58 (2021), 1341 (1348); K. L. Scheppele, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 105 (118 f.).

306

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

achtung der Rechtsstaatlichkeit die Anwendung und Wahrung des Unionsrechts in dem betreffenden Mitgliedstaat gefährdet und daher gegen Art. 4 Abs. 3 EUV verstößt.215 Unabhängig davon, ob sich das Vertragsverletzungsverfahren nur auf Art. 2 S. 1 EUV oder zusätzlich auf Art. 4 Abs. 3 EUV stützt, muss die Konkretisierung der Rechtsstaatlichkeit anhand von genauen Maßstäben erfolgen,216 sodass die Legitimation des EuGH, sich mit der Auslegung von offenen Begriffen auseinanderzusetzen, nicht gesenkt wird.217 2. Vereinbarkeit mit Art. 7 EUV Die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens zur Durchsetzung der Unionswerte wird jedoch im Schrifttum mit dem Argument abgelehnt, der Sanktionsmechanismus gemäß Art. 7 EUV stelle als lex specialis zu Art. 258 AEUV das einzige geeignete Verfahren zum Schutz der Unionswerte dar.218 Die Verträge sehen allerdings keine spezielle Vorschrift vor, die das Verhältnis zwischen den beiden Verfahren regelt, sodass die Anwendung von Art. 258 AEUV in Fällen von Verletzungen der Unionswerte nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden kann. Vielmehr spricht gerade für seine Anwendung, dass die Kommission als Hüterin der Verträge im Einklang mit dem institutionellen Gleichgewicht ihre Überwachungsrolle stets mit weitem Ermessen219 und unabhängig von den hohen Anwendungsvoraussetzungen des Art. 7 EUV-Verfahrens wahrnehmen kann.220 Daneben unterscheiden sich die beiden Vorschriften wesentlich in Zweck und Folgen:221 Art. 7 EUV stellt ein politisches Verfahren für die Sanktionierung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung des Art. 2 EUV mit grundsätzlich abschreckender Wirkung dar und kann in der Verhängung von Sanktionen in Bezug auf die sich aus der EU-Mitgliedschaft ergebenden Rechte resultieren.

215

Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet, in ihrem Hoheitsgebiet für die Anwendung und Wahrung des Unionsrechts zu sorgen, s. EuGH, Gutachten 1/09, Slg. 2011, I-1137, Rn. 68 – Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems; Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 34 – ASJP. 216 Dazu gleich unter 8. Kap., C. I. 3. b), S. 309 ff. 217 C. Möllers/L. Schneider, Demokratiesicherung in der EU, 2018, S. 147; die Legitimation des EuGH hinterfragend E. Levits, in: T. Jaeger (Hrsg.), Europa 4.0?, 2018, S. 239 (262). 218 M. Bonelli, EuConst 18 (2022), 30 (47 f.); B. Martenczuk, in: S. Kadelbach (Hrsg.), Verfassungskrisen in der EU, 2018, S. 41 (46 f.); M. Pechstein, in: ders./C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 258 AEUV, Rn. 33; L. Prete, Infringement Proceedings in EU law, 2017, S. 225. 219 In diesem Sinne F. Hoffmeister, in: A. von Bogdandy/P. Sonnevend (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, 2015, S. 195 (205). 220 Wie hier C. Hillion, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 59 (66). 221 Schlussanträge GA E. Tanchev, Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325, Rn. 50 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); vgl. auch C. Hillion, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 59 (72 ff.); M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1071 ff.).

C. Gerichtliche Initiativen

307

Demgegenüber bildet Art. 258 AEUV das rechtliche Verfahren für alle Verletzungen des Unionsrechts und läuft auf den Erlass eines gerichtlichen Feststellungsurteils hinaus. Schließlich umfasst die Zuständigkeit des EuGH im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens auch die Verstöße gegen Art. 2 EUV.222 Denn Art. 269 AEUV, der die gerichtliche Kontrolle hinsichtlich des Art. 7 EUVVerfahrens nur auf die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen beschränkt, ist als Ausnahme zur allgemeinen Zuständigkeit des EuGH nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV eng auszulegen mit der Konsequenz, dass die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Art. 2 EUV jederzeit und unabhängig von der Einleitung des Art. 7 EUV-Verfahrens erfolgen kann.223 Eine Beschneidung der Zuständigkeit des EuGH in Bezug auf die Verstöße gegen Unionswerte würde einer Verletzung des institutionellen Gleichgewichts gleichkommen. Aus diesen Erwägungen folgt, dass sich Art. 7 EUV und Art. 258 AEUV gegenseitig nicht ausschließen, sondern vielmehr ergänzen und nebeneinander anwendbar sind. Das Art. 7 EUV-Verfahren stellt die politische Reaktion auf die Untergrabung der Unionswerte insbesondere der Rechtsstaatlichkeit dar, während Art. 258 AEUV den Rechtsweg für die Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten betrifft. 3. Erfolgsaussichten a) Zulässigkeit Nach der Formulierung des Art. 258 AEUV setzt die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens einen Verstoß gegen „eine Verpflichtung aus den Verträgen“ durch einen Mitgliedstaat voraus, was den Eindruck erweckt, dass eher Einzelverstöße darunter zu fassen sind.224 Der EuGH hat jedoch bereits in einigen 222

Vgl. Schlussanträge GA E. Tanchev, Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:2019:529, Rn. 72 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); GA E. Tanchev, Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325, Rn. 50 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); C. Hillion, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 59 (66); a.A. O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (159), laut welchem die gerichtliche Kontrolle nationaler Maßnahmen durch den EuGH allein am Maßstab von Art. 2 EUV eine Verletzung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung der EU darstellt. 223 Schlussanträge GA E. Tanchev, Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325, Rn. 50 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); so auch M. Hilf/F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 2 EUV, Rn. 46; K. L. Scheppele, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 105 (114); M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1071); ähnlich T. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (80). 224 Die „Verpflichtung aus den Verträgen“ ist weit auszulegen und umfasst nicht nur die Unionsverträge (EUV und AEUV), sondern das gesamte Primär- und Sekundärrecht, geschriebenes und ungeschriebenes Recht einschließlich der vom EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze, s. W. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 258 AEUV, Rn. 34; U. Karpenstein, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim

308

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Fällen mehrere Unionsrechtsverstöße gemeinsam betrachtet, in denen es sich um vergleichbare Verstöße gegen jeweils die gleiche bzw. ähnliche Vorschriften handelte,225 und dabei aufgrund der Vielzahl der Einzelverstöße eine allgemeine und dauerhafte unionsrechtswidrige Praxis der nationalen Behörden festgestellt. Dadurch hat sich eine Rechtsprechung herausgebildet, wonach Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage auch eine Verwaltungspraxis sein kann, sofern diese hinreichend verfestigt und allgemein ist.226 Diese Rechtsprechung liegt der Entwicklung des Konzepts eines „systemischen Vertragsverletzungsverfahrens“ zugrunde, das die gerichtliche Bewertung von mehreren Mängeln in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit im Rahmen eines einzigen Vertragsverletzungsverfahrens ermöglicht.227 Ziel der Kommission ist hierbei, alle gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßenden nationalen Maßnahmen als Ganzes in einer Klage zusammenzuführen, sodass das tatsächliche Ausmaß der Unionsrechtswidrigkeit ersichtlich wird.228 Eine Bündelung von unterschiedlichen beanstandeten Maßnahmen ist allerdings nur dann möglich, wenn ein sachlicher Zusammenhang zwischen den unionsrechtswidrigen Maßnahmen einerseits und den verletzten Unionsvorschriften andererseits besteht.229 Ein solches Vorgehen kann es in einem nächsten Schritt ermöglichen, den betreffenden Mitgliedstaat im Falle einer Nichtbeachtung des ergangenen Urteils zu höheren Zwangsgeldern und Pauschalbeträgen zu verurteilen.230 (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 258 AEUV, Rn. 29; N. Wunderlich, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 258 AEUV, Rn. 5. 225 EuGH, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331 – Kommission/Irland; Rs. C-135/05, Slg. 2007, I-3475 – Kommission/Italien. Beide Fälle betrafen die nicht ordnungsgemäße Umsetzung von Richtlinien. Dazu P. Wennera˚s, CMLRev. 43 (2006), 31 (36 ff.). 226 EuGH, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 133 – Kommission/Irland; Rs. C-495/03, ECLI:EU:C:2005:552, Rn. 44 – Intermodal Transports; Rs. C-135/05, Slg. 2007, I-3475, Rn. 21 – Kommission/Italien; Rs. C-88/07, ECLI:EU:C:2009:123, Rn. 54 – Kommission/Spanien; in neuerer Zeit spricht der EuGH von einem „gewissen Grad an Konstanz und Allgemeinheit“, Rs. C-443/18, ECLI:EU:C:2019:676, Rn. 71 – Kommission/Italien (Bakterium Xylella fastidiosa); Rs. C-808/18, ECLI:EU:C:2020:1029, Rn. 111 – Kommission/Ungarn (Accueil des demandeurs de protection internationale). 227 Erstmals K. L. Scheppele, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 105 (105 ff.). Befürwortend D. Kochenov, in: A. Jakab/ders. (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 9 (18 ff.); I. Pernice, in: J. Krüper/M. Payandeh/H. Sauer (Hrsg.), Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung, 2019, S. 165 (218 ff.); W. Sadurski, Poland’s Constitutional Breakdown, 2019, S. 229; skeptisch hingegen O. Mader, HJRL 11 (2019), 133 (159); K. Tuori, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 225 (235). 228 K. L. Scheppele, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 105 (112). 229 K. L. Scheppele, in: C. Closa/D. Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the EU, 2016, S. 105 (112); M. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, 2021, S. 56. 230 L. Pech/D. Kochenov, Reconnect 2019, 1 (5 f.); K. L. Scheppele/L. Pech, Is There a

C. Gerichtliche Initiativen

309

In diesem Zusammenhang ist nach ständiger Rechtsprechung erforderlich, dass das von der Kommission an den Mitgliedstaat gerichtete Mahnschreiben sowie ihre mit Gründen versehene Stellungnahme den Streitgegenstand eingrenzen, sodass eine nachträgliche Erweiterung des Klagegegenstands unmöglich ist.231 Die größte Herausforderung bei der Ausführung eines systemischen Vertragsverletzungsverfahrens aufgrund einer systemischen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten stellt daher die Sammlung konkreter Nachweise durch die Kommission dar, die eine verfestigte und allgemeine Praxis in Zusammenhang mit den im Mahnschreiben bzw. in der Stellungnahme erwähnten Tatsachen aufzeigen. Der EuGH hat allerdings der Kommission die Befugnis zuerkannt, im Rahmen der Begründung ihrer Klageschrift zur Veranschaulichung der von ihr gerügten „generellen Verstöße“ weitere Tatsachen anzuführen, von denen sie erst nach Abgabe ihrer Stellungnahme Kenntnis erlangt hat, auch wenn diese Tatsachen nicht im Vorverfahren zur Sprache gekommen sind.232 Gelingt es ihr dabei, genügend Anhaltspunkte dafür beizubringen, dass sich bei den Behörden eines Mitgliedstaats eine wiederholt angewandte, fortbestehende Praxis herausgebildet hat, die gegen das Unionsrecht verstößt,233 obliegt es nunmehr diesem Mitgliedstaat, diese Angaben und deren Folgen substantiiert zu bestreiten.234 b) Begründetheit Die Möglichkeit der Bündelung mehrerer rechtsstaatsbezogener Defizite in einem Mitgliedstaat in einem systemischen Vertragsverletzungsverfahren geht mit der Frage einher, wann gegen „eine Verpflichtung aus den Verträgen“ im Sinne des Art. 258 AEUV verstoßen wird. Konkret muss untersucht werden, welche Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit im Vertragsverletzungsverfahren rügefähig sind. Hierbei rücken die materiellen Voraussetzungen für die Feststellung eines Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit auf der Grundlage der primärrechtlichen Bestimmungen, namentlich Art. 2 S. 1 EUV, Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bzw. Art. 47 i.V.m. Art. 51 Abs. 1 GRCh sowie deren Verhältnis zueinander, in den Blick.

Better Way Forward?, VerfBlog vom 10. März 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/isthere-a-better-way-forward/. 231 EuGH, Rs. C-88/07, ECLI:EU:C:2009:123, Rn. 15 – Kommission/Spanien, und die dort aufgeführte Rechtsprechung. 232 EuGH, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 39 – Kommission/Irland; P. Wennera˚s, CMLRev. 43 (2006), 31 (40); ihm zustimmend M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1077). 233 EuGH, Rs. C-387/99, Slg. 2004, I-3751, Rn. 42 – Kommission/Deutschland; Rs. C-287/03, Slg. 2005, I-3761, Rn. 28 f. – Kommission/Belgien; Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 28 – Kommission/Irland; Rs. C-88/07, Slg. 2009, I-1353, Rn. 54 – Kommission/ Spanien. 234 EuGH, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 47 – Kommission/Irland.

310

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

aa) Art. 2 S. 1 EUV Die Besonderheit von Art. 2 EUV liegt neben der vagen Formulierung der enthaltenen Unionswerte in seinem weitreichenden Anwendungsbereich, der über den Geltungsbereich des Unionsrechts hinausreicht und im Wesentlichen sämtliche Bereiche der nationalen Rechtsordnungen unabhängig von einer Verknüpfung zum Unionsrecht umfasst.235 Wäre es unionsrechtlich zulässig, alle Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 2 S. 1 EUV im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens zu adressieren, würde dies zu einer erheblichen Erweiterung des Geltungsbereichs des Unionsrechts und der damit verbundenen Zuständigkeit des EuGH führen.236 Eine derartige Ausdehnung der Reichweite der sich aus Art. 2 S. 1 EUV ergebenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Unionswerte zu achten, würde einen Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der EU nach Art. 5 Abs. 2 EUV sowie die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten darstellen.237 Aus diesem Grund sind die Unionswerte und konkret die Rechtsstaatlichkeit dogmatisch als „rote Linien“238 zu verstehen, die der EU und den Mitgliedstaaten ein Mindestschutzniveau auferlegen.239 Die durch den EuGH ausgeübte Kontrolldichte soll daher entsprechend gering sein und sich, insbesondere mangels einer umfassenden Definition der Unionswerte in den Verträgen, auf Extremfälle beschränken.240 Diese Erwägungen spiegeln sich im richterrechtlich entwickelten Rückschrittsverbot in Bezug auf die Unionswerte wider, welches der EuGH aus einer Gesamtschau von Art. 49 EUV und Art. 2 S. 1 EUV abgeleitet hat.241 235

S. oben unter 6. Kap., A., S. 225 ff. So auch C. Hillgruber, JZ 77 (2022), 584 (590 f.); L. D. Spieker, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 237 (253). 237 Vgl. T. Konstadinides, The rule of law in the EU, 2017, S. 156; J. Scholtes, EuConst 19 (2023), 59 (81 ff.). 238 A. von Bogdandy, CMLRev. 57 (2020), 705 (732 ff.); A. von Bogdandy/L. D. Spieker, EuR 2020, 301 (328); zu den Werten als Auslegungskriterien M. Potacs, EuR 2016, 164 (166 ff.). 239 A. von Bogdandy, ZaöRV 79 (2019), 503 (508): „verfassungsrechtlicher Kernbestand“; C. Calliess, JZ 59 (2004), 1033 (1036): „Verfassungskern“ der Europäischen Union“; T. Giegerich, in: C. Calliess (Hrsg.), Liber Amicorum Stein, 2015, S. 499 (512): „Mindeststandards“; T. Rensmann, in: D. Blumenwitz/G. H. Gornig/D. Murswiek (Hrsg.), Die EU als Wertegemeinschaft, 2005, S. 49 (57): „harten Kern“; W. Schroeder, in: ders. (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, 2016, S. 3 (11): „European minimum standard“; G. Toggenburg/J. Grimheden, in: W. Schroeder (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, 2016, S. 221 (221): „minimum constitutional cohesion“; A. Voßkuhle, Die Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, 2018, S. 38: „wesentliche Kerngehhalte“; ders., ZaöRV 79 (2019), 481 (496): „Grundkanon an übereinstimmenden Werten“. 240 Wie hier P. Pohjankoski, CMLRev. 58 (2021), 1341 (1345); C. Rizcallah, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne, 2020, S. 355, Rn. 580; L. D. Spieker, in: A. von Bogdandy u.a. (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States, 2021, S. 237 (257 f.). 241 Ausführlich unter 6. Kap., C., S. 236 f. 236

C. Gerichtliche Initiativen

311

Die Voraussetzung eines schweren Verstoßes muss ihre Grundlage ebenso in den Verträgen finden. Die einzige primärrechtliche Vorschrift, die – ähnlich wie Art. 2 EUV – einen Anwendungsbereich über den Geltungsbereich des Unionsrechts hinaus aufweist und daher sämtliche nationalen Rechtsordnungen umfasst, ist Art. 7 EUV. Konsequenterweise müssen zumindest die in diesem Artikel festgelegten materiellen Voraussetzungen, nämlich das Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Unionswerte, erfüllt sein, damit die Zuständigkeit der Kommission im Rahmen des Art. 258 AEUV bzw. des EuGH in Bezug auf Art. 2 EUV im Einklang mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der EU steht.242 Die Verklammerung der Verletzungen der Unionswerte, die im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens überprüfbar bzw. sanktionierbar sind, erfolgt durch den Begriff des systemischen Mangels.243 Dabei werden verschiedene Dimensionen berücksichtigt, wie etwa die Skalendimension, die Zeitdimension und die Schweredimension, die zusammengenommen auf den allgemeinen und systemischen Charakter eines Verstoßes deuten können.244 Die Skalendimension bezieht sich auf die Zahl der Fälle, in denen unionsrechtliche Pflichten verletzt worden sind.245 Die Zeitdimension bezieht sich darauf, dass die Zuwiderhandlung nach dem Wirksamwerden der konkreten unionsrechtlichen Pflicht über einen längeren Zeitraum angedauert hat.246 Im Falle insbesondere einer Unterlassungspflicht betrifft die Zeitdimension die Dauer der Aufrechterhaltung der unionsrechtswidrigen Situation bzw. der Untätigkeit des Mitgliedstaats.247 Schließlich bezieht sich die Schweredimension auf das Ausmaß, in dem die Wirklichkeit in dem Mitgliedstaat von dem Ergebnis abweicht, das vom Unionsrecht verlangt wird.248 Das Vorliegen systemischer Mängel muss ferner an die Rechtsstaatlichkeit bzw. einen Wert des Art. 2 S. 1 EUV geknüpft werden. Die Kommission kann sich dabei erstens auf mehrere das Rechtsstaatsprinzip konkretisierende Maßstäbe stützen, wie etwa die im EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips aufgelisteten Prinzipien und deren Verfestigung im Laufe des Bestehens der EU.249 Über diese Unterprinzipien hinaus stellt

242

Vgl. Rat der Europäischen Union, Gutachten des juristischen Dienstes, Nr. 10296/14, Rn. 17. 243 S. oben unter 7. Kap., B., S. 260 ff. 244 Schlussanträge GA L.A. Geelhoed, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 43 – Kommission/Irland. 245 Schlussanträge GA L.A. Geelhoed, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 44 – Kommission/Irland. 246 Schlussanträge GA L.A. Geelhoed, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 45 – Kommission/Irland. 247 Anders M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1085), die die Zeitdimension auf die Dauer der Handlung beziehen, auf deren Grundlage sich die unionsrechtswidrige Situation etabliert hat. 248 Schlussanträge GA L.A. Geelhoed, Rs. C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Rn. 46 – Kommission/Irland; P. Wennera˚s, CMLRev. 43 (2006), 31 (37). 249 KOM(2014) endg., S. 4; vgl. auch K. Lenaerts, EuGRZ 44 (2017), 639 (641 f.);

312

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

die Rechtsstaatlichkeit zweitens dem Gewaltenteilungsgrundsatz zufolge konkrete Anforderungen an die Organisationsstruktur der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, in denen die Judikative stets von der Exekutive und der Legislative zu trennen ist.250 Damit eng verbunden ist das rechtsstaatliche Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 GRCh, welches in der jüngsten EuGH-Rechtsprechung bezüglich der Beseitigung unionsrechtswidriger nationaler Maßnahmen eine zentrale Rolle gespielt hat.251 Wird also das Vorliegen systemischer Mängel in Bezug auf den Kern der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat und damit ein Verstoß gegen das Rückschrittsverbot festgestellt, ist die Einleitung eines (systemischen) Vertragsverletzungsverfahrens zulässig und begründet.252 bb) Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 47 GRCh Die Kommission hat ihre bisherigen Klagen nicht allein auf Art. 2 EUV, sondern hauptsächlich auf Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV gestützt,253 aus welchem die Verpflichtung der Mitgliedstaaten folgt, einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten.254 Insofern konkretisiert Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV den in Art. 2 EUV festgelegten Wert der Rechtsstaatlichkeit,255 enthält aber zugleich auch weitere Grundsätze, wie etwa den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, die auch dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip zugeordnet werden können. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV gilt seit dem grundlegenden ASJP-Urteil als eine primärrechtliche Bestimmung bezüglich der Ausgestaltung der nationalen Gerichtssysteme, an deren Maßstab die Unionsrechtskonformität der einschlägigen nationalen Maßnahmen durch den EuGH überprüfbar ist. In diesem Rahmen ist das Verhältnis von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zu Art. 47 Abs. 2 GRCh hinsichtlich ihres Inhalts und ihres Anwendungsbereichs zu klären. Art. 47 Abs. 2 GRCh bildet einerseits die Subjektivierung der objektivrechtlichen Pflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und W. Schroeder, in: ders. (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, 2016, S. 3 (19 f.). Näher s. oben unter 6. Kap., B., S. 228 ff. 250 Vgl. EuGH, Rs. C-279/09, Slg. 2010, I-13849, Rn. 58 – DEB; Rs. C-452/16 PPU, ECLI: EU:C:2016:858, Rn. 35 – Poltorak; Rs. C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:861, Rn. 36 – Kovalkovas. 251 S. oben unter 6. Kap. D., S. 202 ff. 252 Vgl. aber M. Blauberger/D. Kelemen, JEPP 24 (2017), 321 (325), laut welchen die vage Formulierung der Unionswerte die Effektivität des Vertragsverletzungsverfahrens negativ beeinflusst. 253 Ferner M. Bonelli, EuConst 18 (2022), 30 (32 ff.). 254 Der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes ist zudem ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der auf den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten beruht, st. Rspr. seit EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 f. – Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary. 255 Grundlegend EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 32 – ASJP.

C. Gerichtliche Initiativen

313

räumt jeder Person das Recht ein, bei einem unabhängigen Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.256 Insoweit ist Art. 47 Abs. 2 GRCh auch als Operationalisierung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 2 EUV zu erachten.257 Obwohl sich beide Vorschriften weitgehend in ihren materiellen Anforderungen an die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes decken,258 divergieren sie hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs: Für Art. 47 Abs. 2 GRCh gilt die Beschränkung von Art. 51 Abs. 1 GRCh, wonach seine Anwendbarkeit auf Fälle beschränkt ist, in denen die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen, d.h., soweit materielles oder formelles EU-Recht (unmittelbar oder mittelbar) anwendbar ist.259 Der Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV erstreckt sich hingegen auf „die vom Unionsrecht erfassten Bereiche, ohne dass es darauf ankomme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRCh durchführen“.260 Dabei genügt es, dass für die nationalen Gerichte ein sachlicher Anknüpfungspunkt zu den vom Unionsrecht erfassten Bereichen besteht.261 Somit sind faktisch alle nationalen Gerichte auf den 256

In diesem Sinne EuGH, Rs. C-418/11, ECLI:EU:C:2013:588, Rn. 78 – Texdata Software; Rs. C-682/15, ECLI:EU:C:2017:373, Rn. 44 – Berlioz Investment Fund; Rs. C-685/15, ECLI:EU:C:2017:452, Rn. 54 – Online Games u.a.; Rs. C-73/16, ECLI:EU:C:2017:725, Rn. 57 f. – Pusˇka´r; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 34, 37 – RS; M. Payandeh, JZ 61 (2021), 481 (482 f.); L. D. Spieker, EuZW 2022, 305 (308 f.). 257 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 48 – Minister for Justice and Equality (LM); Rs. C-619/18, ECLI:EU:C:2018:910, Rn. 21 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C: 2020:1033, Rn. 39 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); M. Payandeh, JZ 61 (2021), 481 (482 f.); M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (27 ff.). Ähnlich zur Verknüpfung von Art. 11 GRCh mit dem Wert der Demokratie im Sinne des Art. 2 EUV: EuGH, Rs. C-163/10, ECLI:EU:C:2011:543, Rn. 31 – Patriciello; verb. Rs. C-203/15 und C-698/15, ECLI:EU:C:2016:970, Rn. 93 – Tele2 Sverige; Rs. C-623/17, ECLI:EU:C:2020:790, Rn. 62 – Privacy International; Rs. C-507/18, ECLI:EU:C:2020:289, Rn. 48 – Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI; verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, ECLI:EU:C: 2020:791, Rn. 114 – La Quadrature du Net u.a.; zu den unionsrechtlichen Mindeststandards an demokratischer Partizipation s. P. Pohjankoski, CMLRev. 58 (2021), 1341 (1351 f.), m.w.N. 258 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 41 – ASJP; Rs. C-192/18, ECLI:EU:C: 2019:529, Rn. 100 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798, Rn. 107, 122 – W.Z˙.; Schlussanträge GA E. Tanchev, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI:EU:C:2019:551, Rn. 85 – A.K., der von einer „verfassungsrechtlichen Brücke“ zwischen beiden Bestimmungen spricht; vgl. auch P. Bogdanowicz/M. Taborowski, EuConst 16 (2020), 306 (318 f.); M. Bonelli/M. Claes, EuConst 14 (2018), 622 (637); H. D. Jarass, GrCh, 4. Aufl. 2021, Art. 47 GRCh, Rn. 3 f.; P. van Elsuwege/F. Gremmelprez, EuConst 16 (2020), 8 (25 ff.). 259 ˚ kerberg FransGrundlegend EuGH, Rs. C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105, Rn. 19 – A son; C. Franzius, ZaöRV 75 (2015), 383 (386 ff.); H. D. Jarass, GrCh, 4. Aufl. 2021, Art. 47 GRCh, Rn. 4 und Art. 51 GRCh, Rn. 22 ff.; ferner A. Torres Pe´rez, CYELS 22 (2020), 279 (281 ff.), die eine allmähliche Ausweitung der Anwendbarkeit der GRCh durch den EuGH feststellt. 260 Grundlegend EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 29 – ASJP. 261 EuGH, Rs. C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117, Rn. 40 – ASJP; Rs. C-192/18, ECLI:EU:C:

314

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Prüfstand gestellt,262 selbst wenn die Organisation der nationalen Judikative als solche außerhalb des Unionsrechts liegt und in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.263 Die Wahrung der Grenzen des Art. 51 Abs. 1 GRCh erfordert allerdings, dass Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV (i.V.m. Art. 2 EUV) als objektive Garantie der richterlichen Unabhängigkeit bzw. des Gewaltenteilungsprinzips264 den Wesensgehalt von Art. 47 Abs. 2 GRCh umfasst. Am Maßstab von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV sind also nur qualifizierte Rechtsverletzungen der richterlichen Unabhängigkeit prüfbar, die eine Bedrohung des Gewaltenteilungsprinzips im Sinne einer institutionellen Instabilität darstellen und das Vertrauen in die Justiz eines Mitgliedstaats in seinen Grundfesten erschüttern.265 Gerade hier liegt der Unterschied zu Art. 47 GRCh, dessen Anwendbarkeit von einem Grundrechtseingriff in einem konkreten Einzelfall abhängt,266 weshalb eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der GRCh über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ausgeschlossen ist.267 Vor diesem Hintergrund ist für die Feststellung einer Verletzung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV keine Einzelfallprüfung vonnöten, was bei einer gerügten Verletzung des Art. 47 Abs. 2 GRCh allerdings der Fall ist.268 Die eigenständige Bedeutung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV unabhängig von einer gleichzeitigen Anwendung des Art. 47 Abs. 2 GRCh und deren unterschiedliche Anwendungsbereiche wurden kürzlich im RS-Urteil mit aller Klarheit bestätigt, in dem der EuGH die Nichtanwendbarkeit der GRCh festgestellt hat, wohl aber Art. 19 2019:529, Rn. 103 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); Rs. C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153, Rn. 112 – A.B. u.a. 262 So auch A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (226). Vgl. auch T. Jaeger, EuR 2018, 611 (623): Spezialgerichtsbarkeiten, die nach ihrer Zuständigkeitsdefinition keinen Bezug zum Unionsrecht haben (können), bleiben von den unionsrechtlichen Vorgaben für die Gerichtsorganisation allerdings unberührt. 263 A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (230); zur Erweiterung der Zuständigkeit des EuGH in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik unter Heranziehung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit P. van Elsuwege/F. Gremmelprez, EuConst 16 (2020), 8 (14 ff.). 264 Ähnlich R. Bustos Gisbert, EuConst 18 (2022), 591 (606 ff.); R. O’Neill, ELJ 28 (2022), 240 (253): „objective dimension of the principle of effective judicial protection“. 265 Ähnlich O. Scarcello, CMLRev. 59 (2022), 1445 (1457, 1461 f.). 266 Vgl. EuGH, Rs. C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311, Rn. 52 – Repubblika; D. Kochenov/ J. Morijn, EPL 27 (2021), 759 (773); O. Scarcello, CMLRev. 59 (2022), 1445 (1462); L. D. Spieker, EuZW 2022, 305 (309): der EuGH lehnt insoweit eine objektive Grundrechtsdimension, zumindest in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit, ab; vgl. auch C. Wohlfahrt, Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts, 2016, S. 19 ff., nach dem die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts von der individuellen Geltendmachung zu trennen ist. Das Unionsrecht weist somit viele unterschiedliche Anwendungsbereiche auf, vgl. C. Latzel, EuZW 2015, 658 (659 ff.). 267 So aber X. Groussot/G. T. Pe´tursson, CMLRev. 59 (2022), 239 (253); V. Röben, HJRL 12 (2020), 29 (39); A. Torres Pe´rez, CYELS 22 (2020), 279 (296 ff.), die eine solche Ausweitung des Anwendungsbereichs der GRCh über Art. 19 Abs. 1 EUV wohl positiv bewertet; dies., MJ 2020, 105 (111 ff.). 268 M. Wendel, EuConst 15 (2019), 17 (31 f.).

C. Gerichtliche Initiativen

315

Abs. 1 UAbs. 2 EUV als einzigen Prüfungsmaßstab herangezogen hat.269 Demzufolge kann die Kommission ihre Klage bei problematischen Änderungen der nationalen Gerichtssysteme allein auf Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV stützen, auch wenn der Anwendungsbereich der GRCh im Ausgangsverfahren nicht eröffnet ist. c) Kreative Ermessensausübung durch die Kommission Aus den obenstehenden Ausführungen lassen sich folgende dogmatische Ansätze hinsichtlich der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission ableiten. Erstens kann die Kommission einen Verstoß gegen Art. 47 GRCh behaupten, wenn die entsprechenden nationalen Maßnahmen materielles oder formelles Unionsrecht durchführen. Sind hingegen die Anforderungen von Art. 51 Abs. 1 GRCh nicht erfüllt, kommt zweitens Art. 19 Abs. 1 EUV zum Tragen mit der Folge, dass die Ausgestaltung der Gerichtssysteme am Maßstab der unionsrechtlichen rechtsstaatlichen Grundsätze gemessen wird.270 Dabei reicht es aus, dass die nationalen Gerichte zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können und damit zum Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen werden.271 Werden aber andere Kernanforderungen des Rechtsstaatsprinzips aufgrund von systemischen Mängeln in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit, die auf nationalen Maßnahmen beruhen, gefährdet, die zwar aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, zugleich aber das in Art. 2 EUV hineingelesene Rückschrittsverbot verletzen, kann drittens die Kommission gestützt allein auf Art. 2 EUV eine Unionsrechtsverletzung geltend machen. In diesem Sinne weisen Art. 47 GRCh („Durchführung von Unionsrecht“), Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV („von Unionsrecht erfasste Bereiche“) und Art. 2 EUV („sämtliche Bereiche der nationalen Rechtsordnungen“) einen unterschiedlichen Anwendungsbereich auf, dessen Eröffnung allerdings umso strengeren Voraussetzungen unterliegt, je schwächer der Anknüpfungspunkt des Sachverhalts zum Unionsrecht ist. Schließlich ist auf das Verhältnis des Begriffs „systemisches Vertragsverletzungsverfahren“ zum Begriff „systemische Mängel“ einzugehen.272 Das systemische Vertragsverletzungsverfahren bezieht sich auf die Weiterentwicklung einer verfahrensrechtlichen Voraussetzung des Art. 258 AEUV, die eine Zusammenführung von mehreren Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in einem Ver269 EuGH, Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 36 f. – RS; dagegen aber P. Bogdanowicz/M. Taborowski, EuConst 16 (2020), 306 (319). 270 Ähnlich H. D. Jarass, GrCh, 4. Aufl. 2021, Art. 47 GRCh, Rn. 6. 271 EuGH, verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, ECLI:EU:C: 2021:1034, Rn. 220 – Euro Box Promotion u.a.; Rs. C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99, Rn. 40 – RS. 272 Vgl. aber M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1082), die beide Begriffe als sich gegenseitig ausschließend betrachten.

316

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

fahren vor dem EuGH ermöglicht. Die systemischen Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit bilden hingegen eine materielle Voraussetzung für die Begründetheit der Klage auf der Grundlage von Art. 2 S. 1 EUV, können aber gegebenenfalls Bedeutung im Vorverfahren erlangen, denn sie deuten begrifflich auf wiederholte Rechtsverletzungen hin. Die Kommission kann also im Rahmen eines systemischen Vertragsverletzungsverfahrens geltend machen, dass ein Mitgliedstaat Art. 2 EUV verletzt hat, weil wiederholte Verstöße gegen die die Rechtsstaatlichkeit konkretisierenden Maßstäbe zu bemängeln sind. Ob die Rüge auch begründet ist, wird dann davon abhängen, ob die systemischen Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit so gravierend sind, dass sie einer Verletzung des Rückschrittsverbots gleichkommen. 4. Einziehung durch Verrechnung als effektive Durchsetzungsmaßnahme Stellt der EuGH in einem im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens ergangenen Feststellungsurteil fest, dass ein Mitgliedstaat tatsächlich gegen das Unionsrecht verstoßen hat, so hat dieser Mitgliedstaat nach dem Loyalitätsgrundsatz alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um dem Durchführungsbefehl des Urteils nachzukommen.273 Setzt hingegen der betreffende Mitgliedstaat das Urteil nicht in seine Rechtsordnung um, so kann die Kommission den EuGH nach Art. 260 Abs. 2 AEUV zur Verhängung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds anrufen. Dieses Verfahren wird aufgrund seiner drastischen Konsequenzen als ein besonderes gerichtliches Verfahren zur Durchführung von Urteilen des EuGH bzw. als ein Vollstreckungsverfahren bezeichnet.274 Die Verhängung von Zwangsgeldern ist daneben auch im Rahmen der einstweiligen Anordnung nach Art. 279 AEUV möglich.275 Die Verhängung eines Zwangsgeldes insbesondere bei Verstößen gegen die europäische Rechtsstaatlichkeit soll nicht als Sanktion fungieren, sondern vielmehr die wirksame Anwendung des Unionsrechts sicherstellen, die der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 2 EUV, auf 273 W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV, Rn. 121. 274 EuGH, Rs. C-304/02, ECLI:EU:C:2005:444, Rn. 92 – Kommission/Frankreich; Rs. C-121/07, ECLI:EU:C:2008:695, Rn. 32 – Kommission/Frankreich; Rs. C-457/07, ECLI: EU:C:2009:531, Rn. 47 – Kommission/Portugal; Rs. C-292/11 P, ECLI:EU:C:2014:3, Rn. 40 – Kommission/Portugal; Rs. C-95/12, ECLI:EU:C:2013:676, Rn. 23 – Kommission/Deutschland; Rs. C-196/13, ECLI:EU:C:2014:2407, Rn. 32 – Kommission/Italien. 275 U. Ehricke, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 279 AEUV, Rn. 47; U. Karpenstein, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 260 AEUV, Rn. 78; B. W. Wegener, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 279 AEUV, Rn. 34. Dieses Verfahren wurde gegen Polen kürzlich in Anwendung gebracht, vgl. EuGH, Rs. C-441/17 R, ECLI:EU:C:2017:877 – Kommission/Polen (Wald von Białowiez˙a); Rs. C-619/18 R, ECLI:EU:C:2018:1021 – Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts); Rs. C-791/19 R, ECLI:EU:C:2020:277 – Kommission/Polen (Re´gime disciplinaire des juges); Rs. C-121/21 R, ECLI:EU:C:2021:752 – Tschechische Republik/Polen; Rs. C-204/21 R, ECLI:EU:C:2021:878 – Kommission/Polen.

C. Gerichtliche Initiativen

317

dem die Union gründet, inhärent ist.276 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass gemäß Art. 3 lit. c) Rechtsstaatsverordnung die Nichtumsetzung von Gerichtsentscheidungen – sei es der nationalen Gerichte oder des EuGH – explizit als Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit qualifiziert wird.277 Zwangsgelder und Pauschalbeträge sind auf das Konto „Eigenmittel der Europäischen Union“ zu entrichten. Da die Ausführung des Haushalts gemäß Art. 317 AEUV der Kommission obliegt, ist es ihre Sache, die Beträge, die dem Haushalt der Union bei der Durchführung des Urteils geschuldet werden, zu erheben.278 Die Einziehung von verhängten Geldbußen, Pauschalbeträgen bzw. Zwangsgeldern erfolgt nach den Bestimmungen der EU-Haushaltsverordnung279 und des Beschlusses der Kommission vom 03.08.2018 über die internen Verfahrensvorschriften für die Einziehung von aus der direkten Verwaltung entstandenen Forderungen und die Einziehung von gemäß den EU-Verträgen verhängten Geldbußen, Pauschalbeträgen und Zwangsgeldern.280 Die Durchsetzung der finanziellen Sanktionen beruht allerdings auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit und drückt mithin die Souveränität der Mitgliedstaaten gegenüber der Durchsetzung von Urteilen aus.281 Dies bedeutet, dass das Unionsrecht über keine Durchsetzungsmechanismen verfügt, wenn sich ein Mitgliedstaat weigert, die im Rahmen des Verletzungsverfahrens erlassene EuGH-Entscheidung auch nach der Folgeentscheidung des EuGH umzusetzen.282 In diesem Zusammenhang sind die Regelungen über die Einziehung durch Verrechnung gemäß Art. 102 EU-Haushaltsverordnung und Art. 31 des Beschlusses der Kommission von besonderer Relevanz:283 Die Kommission erstellt

276 EuGH, Rs. C-441/17 R, ECLI:EU:C:2017:877, Rn. 102 – Kommission/Polen (Wald von Białowiez˙a). 277 In diesem Sinne auch N. Wunderlich, EuR 2019, 557 (563). 278 St. Rspr. seit EuG, T-33/09, Slg. 2011, II-1429, Rn. 62 – Portugal/Kommission. 279 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012, ABl. EU 2018 Nr. L 193, S. 30. 280 K(2018) 5119 endg. 281 Art. 280 AEUV verweist auf Art. 299 AEUV, welcher in seinem Abs. 1 eine Vollstreckung gegenüber Staaten allerdings ausschließt; dazu EuGH, Rs. C-584/17 P, ECLI:EU:C: 2020:576, Rn. 51 – ADR Center/Kommission; Schlussanträge GA N. Jääskinen, Rs. C-292/11 P, ECLI:EU:C:2013:321, Rn. 65 – Kommission/Portugal. 282 So auch P. Pohjankoski, CMLRev. 58 (2021), 1341 (1357); M. Schmidt/P. Bogdanowicz, CMLRev. 55 (2018), 1061 (1074). 283 Zur Durchsetzung der Zwangsgelder oder Pauschalbeträge durch Verrechnung vgl. U. Karpenstein, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 75. EL Aufl. 2022, Art. 260 AEUV, Rn. 76; P. Pohjankoski, CMLRev. 58 (2021), 1341 (1358 ff.); N. Wunderlich, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht, 7. Aufl. 2015, Art. 260 AEUV, Rn. 39.

318

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

zunächst ein Mittelabrufschreiben und richtet es an den betroffenen Mitgliedstaat.284 Hat der verurteilte Mitgliedstaat zu dem im Mittelabrufschreiben angegebenen Fälligkeitsdatum die Zahlung nicht geleistet, so übermittelt ihm die Kommission umgehend ein Fristsetzungsschreiben und fordert ihn auf, den geschuldeten Betrag zuzüglich der Verzugszinsen zu begleichen.285 Weigert sich der Mitgliedstaat dennoch, die entsprechende Zahlung zu leisten, so wird der Gesamtbetrag des vom EuGH verhängten Pauschalbetrags bzw. Zwangsgelds zuzüglich der Zinsen von den an den Mitgliedstaat zu leistenden Zahlungen durch Verrechnung abgezogen.286 Die Einziehung durch Verrechnung ist auch in Art. 102 EU-Haushaltsverordnung vorgesehen, wonach die Kommission den beteiligten Mitgliedstaat mindestens zehn Tage vor der beabsichtigten Durchführung der Verrechnung unterrichten muss.287 Auch das EuG hat die Möglichkeit der Einziehung einer Forderung der Union im Wege der Verrechnung gegen die Mitgliedstaaten bejaht.288 Die Einziehung von Forderungen der EU, die durch ein die Zahlung eines Zwangsgeldes bzw. Pauschalbetrags auferlegendes Urteil oder einen Beschluss des EuGH entstanden sind, kann sich somit zu einer besonders effektiven Durchsetzungsmaßnahme zur Beseitigung der unionswidrigen Maßnahme(n) entwickeln. Dadurch wird ein deutliches Signal an die Mitgliedstaaten gesendet, dass der Grundsatz der Freiwilligkeit, auf welchem die Unionsrechtsdurchsetzung grundsätzlich beruht, sowie die Unionswerte nicht überstrapaziert werden dürfen. Die Inanspruchnahme dieser Möglichkeit durch die Kommission wird dementsprechend maßgeblich zur Effektivitätssteigerung des Vertragsverletzungsverfahrens beitragen und das Instrumentarium zur Wertesicherung in der EU um eine weitere Komponente ergänzen.

II. Vorabentscheidungsverfahren Die nationalen Gerichte nehmen in ihrer Eigenschaft als Unionsgerichte eine zentrale Funktion für die Verwirklichung des Unionsrechts und die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes des Einzelnen289 in den Mitgliedstaaten ein und tragen somit zur Wahrung bzw. Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit aktiv bei. Die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts obliegt nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV allerdings nur dem EuGH, der dann über das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV in einen gerichtlichen Dialog mit den nationalen Gerichten tritt und mit diesen zu einer direkten und engen

284

K(2018) 5119 endg., Art. 27 f. des Beschlusses. K(2018) 5119 endg., Art. 29 des Beschlusses. 286 K(2018) 5119 endg., Art. 31 des Beschlusses. 287 Art. 102 Abs. 2 Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046. 288 EuG, Rs. T-231/04, Slg. 2007, II-00063, Rn. 44 – Griechenland/Kommission; Rs. T-465/08, Slg. 2011, II-1941, Rn. 122, 143 f., 152 – Tschechische Republik/Kommission. 289 K. Lenaerts, YEL 38 (2019), 3 (4); M. Moraru, in: E. Brouwer/D. Gerard (Hrsg.), Mapping Mutual Trust, 2016, S. 37 (48). 285

C. Gerichtliche Initiativen

319

Zusammenarbeit im Sinne des Art. 4 Abs. 3 EUV aufgefordert ist.290 Dem EuGH ist dabei die Aufgabe übertragen, den nationalen Gerichten Hinweise bzw. Leitlinien zur Auslegung des Unionsrechts zu liefern, die ihnen bei der Beurteilung der Wirkungen einer nationalen Rechtsvorschrift in dem von ihnen zu entscheidenden Rechtsstreit von Nutzen sein können.291 Der gerichtliche Dialog gemäß Art. 267 AEUV hat sich insbesondere im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit im RFSR, in dem (unions)grundrechtliche Fragen und die Auswirkungen der Rechtsstaatlichkeitskrise auf den Fortbestand des Vertrauensgrundsatzes im Mittelpunkt stehen,292 zum Hauptinstrument für die Gewährleistung der einheitlichen Anwendung bzw. der Kohärenz des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten entwickelt.293 Dem EuGH wird insoweit eine gewisse Kontrollfunktion zuteil,294 die Letztentscheidung über den Ausgang des Rechtsstreits im konkreten Sachverhalt wird allerdings den nationalen Gerichten überlassen. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Anspruch an Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV deckungsgleich mit ebenjenem des Art. 267 AEUV als Voraussetzung für die Vorlageberechtigung der nationalen Gerichte ist. Eine solche starre Auslegung hätte jedoch zur Folge, dass nationale Gerichte, deren Organisationsregelungen gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV verstoßen, vom gerichtlichen Dialog automatisch ausgeschlossen würden, und ist daher abzulehnen.

290

EuGH, Gutachten 1/09, Slg. 2011, I-1137, Rn. 84 – Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems; Rs. C-135/16, ECLI:EU:C:2018:582, Rn. 21 – Georgsmarienhütte u.a.; Rs. C-561/19, ECLI:EU:C:2021:799, Rn. 29 – Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi. 291 EuGH, Rs. C-300/01, Slg. 2003, I-4899, Rn. 28 – Salzmann; Rs. C-448/01, Slg. 2003, I-14527, Rn. 77 – EVN und Wienstrom; Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10893, Rn. 19 – ETI u.a. 292 Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘lda˘raru; Rs. C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 – Dorobantu; Rs. C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 – Minister for Justice and Equality (LM); verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); dadurch können die Gerichte eines Mitgliedstaats ihre Zweifel an der Einhaltung rechtsstaatlicher Anforderungen in den anderen Mitgliedstaaten zum Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens machen und somit der Durchsetzung des unionsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips mittelbar dienen, vgl. M. Payandeh, JZ 61 (2021), 481 (488). 293 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 192 – Beitritt der Union zur EMRK. Vgl. dazu die Verurteilung der Mitgliedstaaten wegen der Verletzung der Vorlagepflicht durch ihre Gerichte im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV, EuGH, Rs. C-416/17, ECLI: EU:C:2018:811, Rn. 105 ff. – Kommission/Frankreich (Steuervorabzug für ausgeschüttete Dividenden); Rs. C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596, Rn. 222 ff. – Kommission/Polen. Für eine Vorlagepflicht aller nationalen Gerichte im Fall einer schwerwiegenden Verletzung der Unionswerte (Art. 2 EUV) verbunden mit einer strafrechtlichen Verantwortung nationaler Richter plädieren A. von Bogdandy/L. D. Spieker, EuR 2020, 301 (306 ff.), was sich allerdings de lege lata nicht begründen lässt. 294 Ähnlich W. Kahl, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), GVwR, Bd. II, 3. Aufl. 2022, § 45, Rn. 149; E. M. Kullak, Vertrauen in Europa, 2020, S. 227.

320

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

1. Die Unabhängigkeit des vorlegenden Gerichts im Lichte der frühen EuGH-Rechtsprechung Die Unabhängigkeit des vorlegenden Gerichts ist in der EuGH-Rechtsprechung von Beginn an als Zulässigkeitsvoraussetzung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV betrachtet worden: Bei der Beurteilung, ob eine Einrichtung „Gerichtscharakter“ im Sinne des Art. 267 AEUV besitzt, überprüft der EuGH das Vorliegen einer Reihe von Gesichtspunkten, wie etwa eine gesetzliche Grundlage der Einrichtung, die Ausgestaltung als ständige und obligatorische Gerichtsbarkeit, das Prinzip des streitigen Verfahrens, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit.295 Letztere war gemäß der früheren EuGH-Rechtsprechung in materieller Hinsicht dann zu bejahen, wenn der vorlegenden Einrichtung gegenüber der Einrichtung, die die Entscheidung erlassen hat (welche den Gegenstand der Klage bildet), die Eigenschaft eines Dritten zukommt296 und sie ihre Tätigkeit in eigener Verantwortung ausübt.297 Der Anwendung eines solchen „laxen“298 Kriteriums zur Bestimmung der Unabhängigkeit lag der Gedanke zugrunde, möglichst viele nationale Gerichte in den Dialog mit dem EuGH mit einzubeziehen, um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts und den Schutz der Unionsrechte in den einzelnen Mitgliedstaaten weitestmöglich zu gewährleisten.299 2. Die Weiterentwicklung des Unabhängigkeitskriteriums Mittlerweile hat der EuGH den Begriff der Unabhängigkeit namentlich im Wilson-Urteil300 weiterentwickelt und dabei zwei weitere Voraussetzungen, eine externe und eine interne, eingeführt. Als externes Merkmal ist zu fordern, dass die Einrichtung vor Interventionen oder Druck von außen, durch den die Unabhängigkeit ihrer Entscheidungsfindung gefährdet werden könnte, geschützt ist. Die interne Anforderung steht dagegen mit dem Begriff der Unparteilichkeit in

295 Die Voraussetzung der Unabhängigkeit wurde erstmals eingeführt in EuGH, Rs. C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Rn. 23 – Dorsch Consult Ingenieursgesellschaft/Bundesbaugesellschaft Berlin. 296 EuGH, Rs. C-24/92, Slg. 1993, I-1277, Rn. 15 – Corbiau/Administration des contributions. 297 EuGH, Rs. C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Rn. 35 – Dorsch Consult Ingenieursgesellschaft/ Bundesbaugesellschaft Berlin; bestätigt durch EuGH, Rs. C-103/97, Slg. 1999, I-551, Rn. 19 ff. – Köllensperger und Atzwanger; Rs. C-110/98, Slg. 2000, I-1577, Rn. 40 – Gabalfrisa u.a. 298 T. Tridimas, CMLRev. 40 (2003), 9 (30); kritisch gegenüber dieser „übermäßig flexiblen und der notwendigen Kohärenz entbehrenden Rechtsprechung“ Schlussanträge GA D. RuizJarabo Colomer, Slg. 2001, I-9445, Rn. 14, 23 ff. – De Coster. 299 Schlussanträge GA D. Ruiz-Jarabo Colomer, Slg. 2001, I-9445, Rn. 63 – De Coster; M. Bonelli/M. Claes, EuConst 14 (2018), 622 (638); C. Reyns, EuConst 17 (2021), 26 (30); T. Tridimas, CMLRev. 40 (2003), 9 (30). 300 EuGH, Rs. C-506/04, Slg. 2006, I-8613 – Wilson.

C. Gerichtliche Initiativen

321

Zusammenhang und verlangt, dass ein gleicher Abstand zu den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen gewahrt wird.301 Die Kriterien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen weiter voraus, dass es Regeln für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für eine Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der genannten Stelle für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die betroffenen Interessen auszuräumen.302 Diese Erläuterungen im Wilson-Urteil zum Unabhängigkeitserfordernis betrafen allerdings nicht die Vorlageberechtigung im Sinne von Art. 267 AEUV, sondern die Auslegung einer Richtlinienbestimmung über das Vorhandensein eines gerichtlichen Rechtsmittels vor einem innerstaatlichen Gericht.303 Aus diesem Grund ist Wilson als das erste Urteil anzusehen, das die richterliche Unabhängigkeit als unabdingbare Voraussetzung für die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes formuliert, indem es auf die für Art. 267 AEUV entwickelten Grundsätze zurückgreift.304 Diese Lesart hat sich trotzdem bei der Auslegung von Art. 267 AEUV durchgesetzt305 und wurde sogar als Ansatzpunkt für die Entwicklung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV herangezogen.306 3. Das Banco de Santander-Urteil: Entkontextualisierung des Begriffs der Unabhängigkeit? Wie schon an anderer Stelle ausführlich dargelegt,307 hat sich der EuGH für die Ausarbeitung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV weitgehend auf die im Rahmen des Art. 267 AEUV entwickelten Grundsätze gestützt. Offengeblieben ist zunächst jedoch die Frage, ob umgekehrt fortan die Zulässigkeitsvoraussetzung der Unabhängigkeit des vorlegenden Gerichts im Lichte des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV auszulegen ist.308 Das Banco de Santander-Urteil309 stellt insoweit einen Wendepunkt in der bisherigen EuGH-Rechtsprechung zur Auslegung des Unabhängigkeitskriteriums im Rahmen von Art. 267 AEUV dar, als der EuGH das Bedürfnis nach „einer Überprüfung vor allem im Hinblick auf [seine] jüngere Rechtsprechung zum Grund-

301

EuGH, Rs. C-506/04, Slg. 2006, I-8613, Rn. 50 ff. – Wilson. EuGH, Rs. C-506/04, Slg. 2006, I-8613, Rn. 53 – Wilson. 303 EuGH, Rs. C-506/04, Slg. 2006, I-8613, Rn. 44 f. – Wilson. 304 So Schlussanträge GA N. Wahl, Rs. C-58/13, ECLI:EU:C:2014:265, Rn. 32 – Torresi. 305 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-517/09, Slg. 2010, I-14093, Rn. 37 ff. – RTL Belgium; Rs. C-503/15, ECLI:EU:C:2017:126, Rn. 37 ff. – Margarit Panicello. 306 Dazu näher 6. Kap., D. II., S. 240 ff. 307 Ausführlich 6. Kap., D., S. 238 ff. 308 Auf diese Problematik hindeutend M. Bonelli/M. Claes, EuConst 14 (2018), 622 (637); N. Wahl/L. Prete, CMLRev. 55 (2018), 511 (527). 309 EuGH, Rs. C-274/14, ECLI:EU:C:2020:17 – Banco de Santander. 302

322

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

satz der Unabhängigkeit“ konstatiert hat.310 So ist der EuGH nach einer gründlichen Prüfung der externen und internen Voraussetzungen der Unabhängigkeit zum Ergebnis gelangt, dass das von der betreffenden Einrichtung eingereichte Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, da diese nicht als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV einzustufen sei.311 Dieses Urteil impliziert eine Übernahme der Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV in Art. 267 AEUV und führt somit zur Entkontextualisierung des Begriffs der Unabhängigkeit.312 Eine solche horizontale Auslegung würde nämlich bedeuten, dass alle nationalen Gerichte eines Mitgliedstaats, der im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV verurteilt worden ist,313 vom gerichtlichen Dialog im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens ausgeschlossen sind.314 4. Das Kriterium der Unabhängigkeit im Rahmen von Art. 267 AEUV einerseits und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV andererseits Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das Banco de Santander-Urteil eine Änderung der bisherigen EuGH-Rechtsprechung hinsichtlich der Voraussetzungen der Unabhängigkeit für die Bejahung der Vorlageberechtigung nationaler Einrichtungen markiert oder ob eine Differenzierung zwischen den Anforderungen von Art. 267 AEUV und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV weiterhin möglich ist. a) Das Torresi-Urteil als Ausgangspunkt Eine ähnliche Konstellation lag dem Torresi-Urteil zugrunde. Bereits vor dem Erlass des Wilson-Urteils, in welchem der interne und der externe Aspekt der Unabhängigkeit erstmalig eingeführt wurden, hatte der EuGH in seinem Gebhard-Urteil den italienischen Nationalen Rat der Rechtsanwaltskammern als Gericht im Sinne des Art. 267 AEUV eingestuft.315 Im Torresi-Urteil316 musste der EuGH die Frage klären, ob die Weiterentwicklung des Unabhängigkeitserfordernisses im Wilson-Urteil eine Abkehr von seiner Beurteilung im älteren Geb310

EuGH, Rs. C-274/14, ECLI:EU:C:2020:17, Rn. 55 – Banco de Santander. EuGH, Rs. C-274/14, ECLI:EU:C:2020:17, Rn. 64 ff., 80 – Banco de Santander; der EuGH hat in seiner früheren Rechtsprechung die gleiche Einrichtung als vorlageberechtigt angesehen, Rs. C-110/98, Slg. 2000, I-1577, Rn. 39 f. – Gabalfrisa u.a. 312 In diese Richtung EuGH, verb. Rs. C-558/18 und C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234, Rn. 59 – Miasto Łowicz; verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 44 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission); K. Lenaerts, YEL 38 (2019), 3 (6). 313 Das betrifft hauptsächlich die polnischen Gerichte. 314 Wie hier C. Reyns, EuConst 17 (2021), 26 (39 f.). 315 EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard/Consiglio dell’Ordine degli Avvocati e Procuratori di Milano. 316 EuGH, verb. Rs. C-58/13 und C-59/13, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 15 ff. – Torresi. 311

C. Gerichtliche Initiativen

323

hard-Urteil bedeutet, sodass der italienischen Einrichtung die Eigenschaft als „Gericht“ abgesprochen werden müsste. Zunächst ist auf die Unterschiede zwischen beiden Fällen hinzuweisen317 sowie die Tatsache, dass ein Gerichtsurteil immer kontextabhängig ist und für den bestimmten Sachverhalt gilt.318 Wie eingangs erwähnt, betraf das Unabhängigkeitserfordernis im Wilson-Urteil die Auslegung einer Richtlinienbestimmung über das Vorhandensein eines gerichtlichen Rechtsmittels vor einem innerstaatlichen Gericht. In diesem spezifischen Zusammenhang griff der EuGH zur Auslegung dieser Bestimmung lediglich auf die für Art. 267 AEUV entwickelten Grundsätze zurück. Darüber hinaus soll beim Vorabentscheidungsverfahren eine derart hohe Schwelle für die Vorlageberechtigung der nationalen Gerichte aus dem Grund abgelehnt werden, dass eine zu strikte Anwendung der Zulässigkeitsvoraussetzungen das Risiko birgt, dass Einzelnen der Zugang zu einem „gesetzlichen Richter“, nämlich dem EuGH, hinsichtlich ihrer aus dem Unionsrecht erwachsenden Ansprüche entzogen wird.319 Vielmehr soll das Kriterium der Unabhängigkeit als Zulässigkeitsvoraussetzung für das Vorabentscheidungsverfahren bereits bejaht werden, wenn einer nationalen Einrichtung formell der Status eines Rechtsprechungsorgans zuerkannt ist und entsprechende Regelungen im nationalen Recht vorgesehen sind, die die Unabhängigkeit im engeren Sinne bzw. die Unparteilichkeit dieser Einrichtung und ihrer Mitglieder gewährleisten.320 Der EuGH hat im Torresi-Urteil von einer vertieften Prüfung des Unabhängigkeitserfordernisses tatsächlich Abstand genommen.321 Das Wilson-Urteil hat also insoweit die ihm vorausgegangene EuGH-Rechtsprechung nicht aufgehoben. b) Kontextualisierung Das Torresi-Urteil bietet den Ausgangspunkt zur Beantwortung der Frage, ob die Unabhängigkeitsanforderung mit dem Banco de Santander-Urteil fortan einen einheitlichen Maßstab in Art. 267 AEUV und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV erhält. Die Kontrollintensität hinsichtlich des Kriteriums der Unabhängigkeit muss allerdings entsprechend kontextualisiert werden:322 Denn die Beurteilung, ob eine Einrichtung vorlageberechtigt ist, stellt ein qualitatives aliud zur Beurteilung der Frage dar, ob ein nationales Gerichtssystem die Anforderungen an die

317 Zur entscheidenden Bedeutung des unterschiedlichen Kontextes für die entsprechende Auslegung der Zulässigkeitskriterien von Art. 267 AEUV vgl. auch Schlussanträge GA M. Bobek, Rs. C-551/15, ECLI:EU:C:2016:825, Rn. 104 – Pula Parking. 318 O. Lepsius, JZ 74 (2019), 793 (794, 796). 319 Ähnlich A. Torres Pe´rez, MJ 27 (2020), 105 (109); Schlussanträge GA N. Wahl, verb. Rs. C-58/13 und C-59/13, ECLI:EU:C:2014:265, Rn. 49 – Torresi. 320 Vgl. Schlussanträge GA N. Wahl, verb. Rs. C-58/13 und C-59/13, ECLI:EU:C:2014: 265, Rn. 53 – Torresi. 321 EuGH, verb. Rs. C-58/13 und C-59/13, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 20 ff. – Torresi. 322 Allgemein dazu O. Lepsius, JZ 74 (2019), 793 (796 ff.).

324

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Unabhängigkeit nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV erfüllt.323 Einerseits konkretisiert Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV den Wert der Rechtsstaatlichkeit und zielt darauf ab, den Rechtsschutz von Einzelpersonen zu stärken und ein hohes Niveau an Grundrechtsschutz zu gewährleisten, wobei der EuGH die Unionsrechtskonformität der nationalen Regelungen über die Gerichtsorganisation überprüfen kann.324 Auf der anderen Seite ermöglicht das Vorabentscheidungsverfahren den Dialog zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten und dient somit der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten.325 Da beide Vorschriften einen unterschiedlichen Sinn und Zweck haben, ist eine entsprechend modifizierte Handhabung des Unabhängigkeitserfordernisses angezeigt. Der Anspruch an Unabhängigkeit übernimmt somit drei unterschiedliche Funktionen im Unionsrecht: Erstens fällt die Unabhängigkeit unter den Wert der Rechtsstaatlichkeit, auf dem die Union gemäß Art. 2 EUV beruht, und somit unter Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, der den Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert. Zweitens stellt sie eine notwendige Voraussetzung dar, um den Rechtsunterworfenen im Geltungsbereich des Unionsrechts das in Art. 47 GRCh normierte Grundrecht auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter zu gewährleisten. Drittens ist sie für das reibungslose Funktionieren des Systems der gerichtlichen Zusammenarbeit maßgeblich, dem der Mechanismus des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV dient.326 Darüber hinaus sprechen dogmatische bzw. normative Gründe gegen eine enge Auslegung der Zulassungskriterien von Art. 267 AEUV.327 Der Ausschluss sämtlicher nationaler Gerichte eines Mitgliedstaats, die den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV nicht genügen, birgt das Risiko, dass die einheitliche Anwendung und die Wirksamkeit des Unionsrechts sowie der effektive Grundrechtsschutz in diesem Mitgliedstaat gefährdet werden. Denn dieser Mitgliedstaat ist zwar weiterhin an das Unionsrecht gebunden, seinen Gerichten wird jedoch das Recht abgesprochen, in einen gerichtlichen Dialog mit dem EuGH einzutreten.328 Dies hätte zur Folge, dass den nationalen Richtern eines Mitgliedstaats mit erheblichen Rechtsstaatsdefiziten nicht nur ihre eigene Unabhängigkeit, sondern zusätzlich ihre Zusammenarbeit mit der EU insgesamt genommen zu werden droht. Schließlich würde eine vertiefte Prüfung der Unabhängigkeit des vorlegenden Gerichts im Rahmen des Art. 267 AEUV die Kohärenz der

323

Schlussanträge GA E. Tanchev, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI: EU:C:2019:551, Rn. 111 – A.K.: „qualitativ anderer Vorgang“. 324 Schlussanträge GA E. Tanchev, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI: EU:C:2019:551, Rn. 113 – A.K. 325 Schlussanträge GA E. Tanchev, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18, ECLI: EU:C:2019:551, Rn. 112 – A.K. 326 EuGH, Rs. C-272/19, ECLI:EU:C:2020:535, Rn. 45 – Land Hessen. 327 Vgl. zur Entkontextualisierung durch Dogmatik O. Lepsius, JZ 74 (2019), 793 (794 ff.). 328 Ebenso C. Reyns, EuConst 17 (2021), 26 (49 f.).

C. Gerichtliche Initiativen

325

EuGH-Rechtsprechung untergraben. Der EuGH hat nämlich im Rahmen des RbEuHb erläutert, dass das Vorliegen systemischer Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit die Einstufung nationaler Einrichtungen als „Justizbehörden“ grundsätzlich nicht beeinträchtigt.329 Ferner wurde den ausstellenden Justizbehörden – die nicht nur Gerichte, sondern auch Staatsanwaltschaften sein können330 – die Befugnis zuerkannt, dem EuGH Fragen hinsichtlich der Funktionsweise des Europäischen Haftbefehls zur Vorabentscheidung vorzulegen.331 Bislang bemüht sich also der EuGH, die Beteiligung der nationalen Gerichte sowohl in der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im RFSR als auch in der gerichtlichen Zusammenarbeit im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens möglichst weitgehend zu gewährleisten. Das Erfordernis einer vertieften Prüfung der Unabhängigkeit im Rahmen des Art. 267 AEUV, die der Prüfung im Rahmen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV entspräche, lässt sich aus der bisherigen EuGHRechtsprechung mithin nicht begründen,332 sondern stellt vielmehr einen Verstoß gegen den Loyalitätsgrundsatz nach Art. 4 Abs. 3 EUV dar und ist daher abzulehnen. Der EuGH hat kürzlich diese Lesart im Getin Noble Bank-Urteil gleichfalls vertreten und dabei statuiert, dass, sofern ein Vorabentscheidungsersuchen von einem nationalen Gericht stammt, davon auszugehen ist, dass dieses die Anforderungen für die Vorlageberechtigung im Rahmen des Art. 267 AEUV unabhängig von seiner konkreten Zusammensetzung erfüllt.333 Es gilt somit eine Vermutung der Erfüllung der Zulässigkeitskriterien des Art. 267 AEUV durch die nationalen Gerichte, was eine weitere Dimension der vertikalen Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes zwischen der EU und den Mitgliedstaaten zutage bringt. Diese Vermutung „kann jedoch widerlegt werden, wenn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eines nationalen oder internationalen Gerichts zu der Annahme führen würde, dass der Richter, aus dem das vorlegende Gericht besteht, nicht die Eigenschaft eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 GRCh hat.“334

Darüber hinaus deutet der EuGH in diesem Urteil implizit auf die unterschiedliche Handhabung der Anforderungen an die Unabhängigkeit im Rahmen der Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und 267 AEUV hin, wenn er ausführt, dass die Vermutung der Erfüllung der Zulässigkeitskriterien des Art. 267 AEUV von der 329

EuGH, verb. Rs. C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033, Rn. 42 – Openbaar Ministerie (Inde´pendance de l’autorite´ judiciaire d’e´mission). 330 Vgl. 2. Kap., D. V. 2., S. 58 ff. 331 EuGH, Rs. C-268/17, ECLI:EU:C:2018:602, Rn. 29 – AY. 332 Ähnlich N. Wahl/L. Prete, CMLRev. 55 (2018), 511 (527), die feststellen, ein Ausschluss sämtlicher nationalen Gerichte lasse sich angesichts der bisherigen EuGH-Rechtsprechung kaum begründen. 333 Grundlegend EuGH, Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 69 – Getin Noble Bank. 334 EuGH, Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 72 – Getin Noble Bank.

326

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

Feststellung des Vorliegens eines unabhängigen Gerichts im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zu unterscheiden ist.335 Daraus ist abzuleiten, dass ein nationales Gericht nur dann nicht vorlageberechtigt ist, wenn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eines nationalen oder internationalen Gerichts geurteilt hat, dass seine konkrete Zusammensetzung den Anforderungen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bzw. Art. 47 Abs. 2 GRCh nicht genügt.

III. Fazit Das Vertragsverletzungsverfahren hat sich als das effektivste Instrument für die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 2 EUV erwiesen. Auch wenn Art. 258 EUV bislang grundsätzlich auf Einzelverstöße durch die Mitgliedstaaten gerichtet war, spricht nichts gegen die Bündelung von nationalen Maßnahmen bzw. Praxen, die kumulativ zu einer Verletzung des Unionsrechts führen. Dies scheint die Kommission in den jüngsten Fällen zu praktizieren, wenn sie unterschiedliche nationale Gesetze und Justizreformen in den Blick nimmt, um einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV durch einen Mitgliedstaat nachzuweisen.336 Daneben ist über den Schutz der Rechtsstaatlichkeit hinaus denkbar, eine Vertragsverletzungsklage zur Wahrung der übrigen Unionswerte – wenn keine die einzelnen Unionswerte konkretisierenden Vorschriften vorhanden sind – allein auf Art. 2 EUV zu stützen. Eine solche Rüge bedarf allerdings eines qualifizierten Maßes vor allem an Schwere und Dauer des unionsrechtswidrigen Handelns, um dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bzw. der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie angesichts des weitreichenden Anwendungsbereichs von Art. 2 EUV gerecht zu werden. In dieser Hinsicht ist der Begriff des systemischen Mangels von großem Nutzen. Nicht zuletzt können die Verhängung von Zwangsgeldern bzw. Pauschalbeiträgen bei der Nichtumsetzung des ergangenen EuGH-Urteils sowie sogar deren Einziehung durch Verrechnung den betroffenen Mitgliedstaat unter hohen Handlungsdruck bringen und somit zur effektiven Durchsetzung der Unionswerte beitragen. Darüber hinaus kommt dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV eine erhebliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung und die Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten zu. Seine Zulässigkeitsvoraussetzungen, zu welchen auch das Unabhängigkeitserfordernis zählt, standen seit Längerem im Mittelpunkt der EuGH-Rechtsprechung und sind angesichts der Rechtsstaatlichkeitskrise erneut in den Vordergrund gerückt. Insbesondere im Lichte der jüngsten EuGH-Rechtsprechung zur richterlichen Unabhängigkeit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV stellt sich aktuell die Frage, ob eine Debatte über die Auslegung des Unabhängigkeitskriteriums im Rahmen des Art. 267 AEUV fortan geboten ist. Eine restriktive Auslegung der Zulassungs-

335 336

EuGH, Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 74 – Getin Noble Bank. Ähnlich P. Bogdanowicz/M. Taborowski, EuConst 16 (2020), 306 (326).

D. Zwischenergebnis

327

kriterien ist allerdings aus dogmatischen wie aus normativen Gründen abzulehnen. Auch wenn sich der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit zu einer primärrechtlichen Voraussetzung für die nationale Gerichtsbarkeit entwickelt hat, ist bezüglich der durch den EuGH ausgeübten Kontrolldichte eine kontextualisierte Bewertung je nach Rechtsrahmen geboten.337 Diese Lesart hat der EuGH kürzlich bestätigt und die Vermutung der Erfüllung der Zulässigkeitskriterien des Art. 267 AEUV durch das vorlegende Gericht aufgestellt.338

D. Zwischenergebnis Aus den obigen Ausführungen zu den unterschiedlichen Maßnahmen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und zur Verfestigung des Vertrauensfundaments lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Erstens scheiden Rechtsinstrumente politischer Natur für die Durchsetzung der Unionswerte aus. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie keinen Beitrag zur Wertesicherung leisten können. Vielmehr stellen die informellen Foren den institutionellen Rahmen für den Dialog und die Einigung über die konkreten Gehalte der Unionswerte dar. Nur wenn die Grundwerte der Union im Wege eines bottom-up-Ansatzes formuliert werden, kann der Vertrauensgrundsatz auf einem soliden Fundament stehen, das aus einem Konsens der Mitgliedstaaten besteht und deshalb Legitimation genießt. In dieser Hinsicht bilden alle politischen Initiativen der EU die Grundlage für die Vertrauensgenerierung und sind daher als Instrumente zur Vorbeugung gegen eine (weitere) Untergrabung der Unionswerte in den Mitgliedstaaten zu begrüßen.339 Zweitens ist ein neuer Konditionalitätsmechanismus geschaffen worden, der auf die Sanktionierung von rechtsstaatswidrigem Verhalten der Mitgliedstaaten abzielt. Auch dies vermag den Vertrauensgrundsatz zu untermauern, indem die Vertrauenssicherung durch Kontrolle um eine weitere Komponente verstärkt wird. Drittens demonstriert die Unionsgerichtsbarkeit Entschlossenheit, die aktuellen Konflikte zu entpolitisieren und autoritären Tendenzen unter Heranziehung von Rechtsmaßstäben einen Riegel vorzuschieben. Auch wenn die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten durch eine demokratisch legitimierte Regierung geschieht, müssen die entsprechenden nationalen Maßnahmen den unionsrechtlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen.340 Aus diesem Grund darf weder die Legitimität noch die Kompetenz der EU, ihre Unionswerte zu verteidigen, in Frage gestellt werden. Insgesamt markieren die dargestellten Entwicklungen aus institutioneller Perspektive einen Machtzuwachs für die Kommission und den EuGH.341 Erstere ist 337

In diesem Sinne EuGH, Rs. C-272/19, ECLI:EU:C:2020:535, Rn. 46 – Land Hessen. EuGH, Rs. C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235, Rn. 69 ff. – Getin Noble Bank. 339 Ähnlich C. F. Germelmann, DÖV 2021, 193 (201). 340 M. Payandeh, JZ 61 (2021), 481 (489). 341 So auch L. Hering, DÖV 2020, 293 (297); A. Kulick, JZ 75 (2020), 223 (229 ff.). 338

328

8. Kapitel: Vertrauensförderung und Vertrauenssicherung

mit (fast) allen Aufgaben der Rechtsstaatsaufsicht betraut. Sie tritt im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus in einen Dialog mit dem betreffenden Mitgliedstaat ein und kann gegebenenfalls als Initiativberechtigte das Art. 7 EUV-Verfahren einleiten; sie bewertet die Effizienz der Justizsysteme auf Grundlage des EU-Justizbarometers; seit 2020 veröffentlicht sie den Jahresbericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten und ist daneben zuständig für die Anwendung der neuen Rechtsstaatsverordnung. Der EuGH unterstützt die Kommission dabei und entwickelt die rechtsstaatlichen Standards im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens in Anlehnung an die Vorgehensweise der Kommission weiter. Die EU erweist sich somit als eine Rechtsaufsichtsunion. Beide Unionsorgane müssen allerdings stets ihre kompetenziellen Grenzen beachten. Eine europäische Rechtsstaatlichkeitsaufsicht darf nur innerhalb der den Unionsorganen übertragenen Kompetenzen wahrgenommen werden; ungerechtfertigte Eingriffe in den Souveränitätsbereich der Mitgliedstaaten sind auch unter dem Aspekt des Verfassungspluralismus zu vermeiden.342 Wenn die EU bzw. die Unionsorgane die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten verlangen, müssen sie den Anforderungen des Art. 2 EUV gerecht werden.

342 Vgl. T. von Danwitz, in: W. Schroeder (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, 2016, S. 155 (165).

Resümee Die Arbeit analysiert anhand von unterschiedlichen Referenzgebieten, namentlich Binnenmarkt, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) und Finanzaufsicht das gegenseitige Vertrauen als Rechtsgrundsatz des Unionsrechts. Untersucht wurde die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes in der EuGH-Rechtsprechung zu den Kooperationsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und die Auswirkungen der Rechtsstaatlichkeitskrise auf seine Funktionsweise. Es wurde gezeigt, dass – obwohl dem EuGH eine führende Rolle bei der (Fort-)Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes zukommt – die EuGHRechtsprechung gewisse Defizite aufweist. Diese betreffen vor allem die Handhabung von Art. 2 EUV bzw. die nur begrenzte Anerkennung von nicht absolut gewährleisteten Unionsgrundrechten (bisher nur Art. 47 Abs. 2 GRCh) als Grenze des Vertrauens sowie den Begriff der systemischen Mängel. Zur Behebung dieser Defizite unterbreitet die vorliegende Studie diverse Reformvorschläge. Der Vertrauensbegriff findet seinen Ursprung im Binnenmarkt, in dem Vertrauen bereits seit den 1970er Jahren als Grundlage für die einzelnen Pflichten zur gegenseitigen Anerkennung und Kooperation zwischen den nationalen Behörden herangezogen wird. Demzufolge obliegt die Durchführung von Prüfungen bzw. Kontrollen dem Herkunftsmitgliedstaat, weshalb weitere Kontrollen durch den Bestimmungsstaat grundsätzlich ausgeschlossen sind (sog. Cassis-de-DijonDoktrin). Als Grenzen der Anerkennungspflicht gelten allerdings Art. 36 AEUV, zwingende Erfordernisse sowie nachgewiesene Rechtsverletzungen in konkreten Einzelfällen. Dabei sind etwaige Ordnungswidrigkeiten seitens des Herkunftsmitgliedstaats vorrangig im Wege der Kooperation zu beseitigen. Der Vertrauensgrundsatz fußt allgemein auf der Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und konkret der jeweiligen nationalen Qualitätsstandards. Gegenseitiges Vertrauen hat in den letzten Jahren auch im Bereich der Sozialsicherheit als Rechtsgrundsatz im Binnenmarkt an Gewicht gewonnen, indem der EuGH die widerlegbare Vermutung der Ordnungsmäßigkeit der Entsendebescheinigungen explizit auf den Vertrauensgrundsatz zurückgeführt hat. Seine stärkste Ausprägung erfährt der Vertrauensgrundsatz allerdings in der justiziellen Zusammenarbeit im Rahmen des RSFR. Hier beruhen die Sekundärrechtsakte auf dem Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Abschließende Klarheit über die Reichweite des Vertrauensgrundsatzes bzw. seiner Grenzen besteht indes bislang nicht. Die Konturen des Vertrauensgrundsatzes im Kontext

330

Resümee

des RFSR wurden in den letzten Jahren durch den EuGH erheblich ausgeformt, der sich in unterschiedlichen Konstellationen zu dessen Verhältnis zum unionsrechtlichen Grundrechtsschutz äußern musste. Insofern wird – insbesondere nach dem EMRK-Beitrittsgutachten des EuGH – von der Gleichwertigkeit der nationalen Rechtssysteme bzw. der Rechtspflegeorgane ausgegangen, die gleichermaßen in der Lage sind, das Unionsrecht unter Beachtung der Unionsgrundrechte umzusetzen bzw. durchzuführen. Eben dieser Gedanke begründet den normativen Gehalt des Vertrauensgrundsatzes, nämlich die Vermutung der Unionsrechtstreue seitens der Mitgliedstaaten. Seine stärkste Ausprägung findet der Vertrauensgrundsatz im Bereich der zivilrechtlichen Zusammenarbeit, in dem der EuGH aus dem Vertrauensgrundsatz Kontrollverzichte für das ersuchte Gericht ableitet, dabei aber bislang keine grundrechtlichen Grenzen anerkennt. Ganz anders hat sich indes die EuGH-Rechtsprechung – vornehmlich hinsichtlich der Unionsgrundrechtstreue – in den grundrechtssensiblen Bereichen des Strafrechts und des Asylrechts entwickelt. Der EuGH hat den Unionsgrundrechtsschutz in seiner jüngsten Rechtsprechung als Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz anerkannt und hierfür einen zweistufigen Test entwickelt, der durch die nationalen Gerichte durchgeführt werden muss. Dabei kann eine Grundrechtsprüfung sowohl retrospektiv, d.h. in Bezug auf in der Vergangenheit liegende Umstände, als auch prospektiv, d.h. in Bezug auf in der unmittelbaren Zukunft liegende Umstände, stattfinden. Der Eintritt einer unionsgrundrechtlichen Grenze bewirkt eine Verlagerung des Grundrechtsschutzes auf den ersuchten Mitgliedstaat im Sinne eines horizontalen Solange-Vorbehalts und mündet gegebenenfalls in den Aufschub bzw. die Verweigerung des Kooperationsersuchens. Einem Regime blinden Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im RFSR wird somit eine Absage erteilt und vielmehr dem effektiven Grundrechtsschutz im Unionsrecht mittels einer horizontal ausgeübten Kontrolle der Vorzug gegeben. Noch kaum erforscht waren bislang vor allem die Bedeutung und Reichweite des Vertrauensgrundsatzes im Bereich der Finanz- bzw. Bankenaufsicht. Letztere hat im europäischen Rechtsraum nach dem Ausbruch der Finanzkrise erhebliche Änderungen erfahren und findet heute im Wege verdichteter Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden statt. Das Vertrauen wird sowohl im Europäischen System der Finanzaufsicht als auch im Einheitlichen Aufsichtsmechanismus durch eine Reihe von Kooperationsverhältnissen gefördert und durch auf unterschiedlichen Ebenen eingeführte Kontrollstufen hinsichtlich der Wahrung des Unionsrechts abgesichert. Der Vertrauensgrundsatz umfasst dabei die Vermutung der Unionsrechtstreue und insbesondere die Vermutung der Zuverlässigkeit der übermittelten Informationen durch die zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden. Einen Ausdruck des Vertrauensgrundsatzes stellt der Europäische Pass dar, der die Umsetzung des Anerkennungsprinzips auf Grundlage des Sekundärrechts ermöglicht. Dabei müssen sich die Finanz- bzw. Kreditinstitute für die quasi-automatische Anerkennung des Europäischen Passes an ein zwingendes Anzeigeverfahren halten, bei dem die Aufsichtsbehörde des Herkunfts-

Resümee

331

mitgliedstaats die erforderlichen Informationen hinsichtlich der Wahrnehmung der Tätigkeiten im Aufnahmemitgliedstaat an die Aufsichtsbehörde des Letzteren übermittelt. Dem Aufnahmemitgliedstaat steht allerdings nicht das Recht zu, sich der Ansiedlung eines Finanz- bzw. Kreditinstituts in seinem Hoheitsgebiet aus dem Grund zu widersetzen, dass die Aufsichtswahrnehmung durch die nationale Aufsichtsbehörde des Herkunftsmitgliedstaats, der auch die laufende Aufsicht über das Unternehmen obliegt, systemische Mängel aufweist bzw. durch eine nicht unabhängige nationale Aufsichtsbehörde stattfindet. Der Europäische Pass fordert somit ein „blindes“ Vertrauen, was mit dem unionsverfassungsrechtlichen Vertrauensgrundsatz unvereinbar ist. Insofern ist ein unionsgesetzgeberisches Handeln angezeigt. Ausnahmen zur quasi-automatischen Anerkennung des Europäischen Passes müssen sekundärrechtlich eingeführt werden. Vertrauen stellt einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts mit eigenständigem, normativem Gehalt und verbindlicher Rechtswirkung dar, der eine widerlegbare, Kontrollverzichte anordnende Vermutungsregel beinhaltet. Demnach sind die Mitgliedstaaten bzw. die Unionsorgane verpflichtet, gegenseitig von einer widerlegbaren doppelten Vermutung auszugehen: Zum einen soll die Rechtstreue in Bezug auf das anzuwendende Unionsrecht bzw. nationale Recht (konkretes Vertrauen), zum anderen die Fähigkeit aller nationalen Rechtsordnungen, gegebenenfalls auch der europäischen Rechtsordnung, das Unionsrecht rechtmäßig anzuwenden und durchzusetzen (abstraktes Systemvertrauen), angenommen werden. Der primärrechtliche Rang des Vertrauensgrundsatzes ist seiner Herleitung aus Art. 4 Abs. 3 EUV (Loyalitätsgrundsatz) geschuldet. In horizontaler Hinsicht dient Vertrauen der praktischen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Kooperationspflichten zwischen den Mitgliedstaaten und regelt dabei die Verantwortungsverteilung unter den Mitgliedstaaten für die Wertesicherung in einer Vielfalt und Einheit gewährleistenden Weise. In vertikaler Hinsicht sichert der Vertrauensgrundsatz die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten und deren Zuständigkeit für die Wertesicherung innerhalb der föderal geprägten Unionsrechtsordnung. Dadurch leistet Vertrauen einen eigenen Beitrag zum Konstitutionalisierungsprozess im Unionsrecht. Allerdings gilt Vertrauen nicht ausnahmslos, sondern soll unter bestimmten Voraussetzungen widerlegt werden können. Als äußerste Grenze des Vertrauens fungiert zunächst der Feststellungsbeschluss des Rates nach dem Art. 7 Abs. 2 EUV-Verfahren, wobei der an Art. 2 EUV gekoppelte unionsrechtliche Ordrepublic-Vorbehalt einen einheitlichen Maßstab bietet, anhand dessen die Anerkennung bzw. Vollstreckung eines Hoheitsakts im Einzelfall versagt werden kann. Weitere Ausnahmen von dem Vertrauensgrundsatz können sekundärrechtlich geregelt werden, indem konkrete Ablehnungsgründe für die Anerkennung bzw. Vollstreckung eines Hoheitsakts vorgesehen werden. Schließlich sind für die effektive Funktionsweise des Vertrauensgrundsatzes flankierende Maßnahmen zur Generierung, Stabilisierung sowie Sicherung von Vertrauen maßgeblich. Zu den vertrauensgenerierenden Maßnahmen zählt vor allem die Har-

332

Resümee

monisierung auf unionaler Ebene und die Festlegung von gemeinsamen Mindeststandards, wobei Informationsaustauschmechanismen sowie Dialogstrukturen zwischen den mitgliedstaatlichen bzw. unionalen Behörden vertrauensstabilisierend wirken. Nicht zuletzt ist die Vertrauenssicherung auf eine Reihe von Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionsmechanismen angewiesen, mittels derer Vorkehrungen gegen eventuelle Werteverletzungen getroffen sowie Sanktionsmaßnahmen rechtzeitig ergriffen werden können. Die Unionswerte gemäß Art. 2 EUV bilden das Fundament des Vertrauensgrundsatzes und haben sich in den letzten Jahren in der unionalen Rechtsdogmatik zum Kernbegriff der Unionsrechtsordnung entwickelt. Eine gravierende Abweichung von der Werteklausel des Art. 2 EUV ist angesichts des richterrechtlich entwickelten Rückschrittsverbots unionsrechtlich unzulässig. Vielmehr ist die Durchsetzung der Unionswerte, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV möglich, wobei die unionsrechtliche Forderung nach richterlicher Unabhängigkeit als eigenständiger Prüfungsmaßstab bei der Prüfung der Unionsrechtskonformität nationaler Bestimmungen herangezogen wird. Die Auslegung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV muss dabei unter Wahrung des europäischen Wertepluralismus erfolgen und darf nicht darauf hinauslaufen, dass den Mitgliedstaaten konkrete Vorgaben hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Gerichtssysteme vorgeschrieben werden. Jedenfalls bildet die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit eine Funktionsbedingung für den Vertrauensgrundsatz, sodass die durch die nationalen Gerichte erlassenen Entscheidungen innerhalb eines einheitlichen Rechtsraums ohne Grenzen anerkannt werden müssen. Somit findet eine Prozeduralisierung des Vertrauensgrundsatzes statt, indem dieser die Vermutung der Wahrung der Unabhängigkeitsgarantie in den nationalen Gerichtssystemen umfasst. In diesem Zusammenhang deutet die Erosion des Vertrauensfundaments, das in der Achtung eben der Unionswerte liegt, zugleich auf eine Vertrauenskrise und die Gefährdung der innerunionalen Zusammenarbeit hin. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeitskrise steht nicht zuletzt für die Absicht eines Mitgliedstaats, seine eigene Wertvorstellung durchzusetzen, die dem Inhalt der europäischen Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 2 EUV widerspricht. Davon umfasst sind unter Heranziehung der Systemische-Mängel-Doktrin Extremsituationen im Sinne besonders qualifizierter Rechtsuntreue im Hinblick auf das Unionsrecht, die aufgrund ihrer Schwere negative Auswirkungen auch auf die anderen Mitgliedstaaten entfalten. Die rechtliche Relevanz von systemischen Mängeln zeigt sich daneben vor allem in Fällen, in denen die zwischenstaatliche Kooperation in Frage gestellt wird. Insbesondere im Asyl- und Haftbefehlsrecht betrachtet der EuGH systemische Mängel im Rahmen des zweistufigen Aranyosi-Tests zur Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes als berechtigten Anlass zu einer daran anschließenden Einzelfallprüfung. Die EuGH-Rechtsprechung ist allerdings hinsichtlich zweier Punkte zu bemängeln und in Zukunft dementsprechend weiterzuentwickeln: Erstens sollten nationale Gerichte, die den Unabhängigkeitsanforderungen des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV nicht genügen, nicht als „Justizbehörden“ im Sinne von Art. 6 RbEuHb eingestuft und die von

Resümee

333

ihnen erlassenen Europäischen Haftbefehle ohne Hinzuziehung des AranyosiTests für ungültig erklärt werden. Zweitens sollte das Vorliegen systemischer Mängel zu einer Beweislastumkehr zugunsten der betroffenen Person führen, sodass es der ausstellenden Behörde obliegt, die ernsthafte Gefahr einer Verletzung der Grundrechte im konkreten Fall auszuschließen. In Reaktion auf die rechtsstaatlich bedenklichen Entwicklungen in bestimmten Mitgliedstaaten hat die EU ihr Instrumentarium zur Rechtsstaatlichkeitsaufsicht eingesetzt und zugleich maßgeblich weiterentwickelt und dadurch die vertrauenssichernden Mechanismen verstärkt. Erstens ermöglichen die Rechtsinstrumente den Dialog und die Einigung über die konkreten Gehalte der Unionswerte im Wege eines bottom-up-Ansatzes. In dieser Hinsicht bilden sämtliche politischen Initiativen der EU die Grundlage für die Vertrauensgenerierung und sind daher als Instrumente zur Prävention und Vorbeugung gegen eine (weitere) Untergrabung der Unionswerte in den Mitgliedstaaten zu begrüßen. Zweitens wurde ein neuer Konditionalitätsmechanismus geschaffen, der auf die Sanktionierung rechtsstaatswidrigen Verhaltens der Mitgliedstaaten abzielt. Auch dies vermag den Vertrauensgrundsatz zu untermauern, indem die Vertrauenssicherung durch Kontrolle um eine weitere Komponente verstärkt wird. Drittens demonstriert die unionsrechtliche Gerichtsbarkeit Entschlossenheit, die aktuellen Konflikte zu entpolitisieren und autoritären Tendenzen unter Heranziehung von Rechtsmaßstäben einen Riegel vorzuschieben. Die Einleitung eines allein auf Art. 2 EUV gestützten Vertragsverletzungsverfahrens wäre dabei von grundlegender Bedeutung. Auch wenn die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten von demokratisch legitimierten Regierungen vorgenommen wird, müssen die entsprechenden nationalen Maßnahmen den unionsrechtlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen stets entsprechen. Die EU erweist sich somit auch als eine Rechtsaufsichtsunion, muss dabei aber innerhalb ihrer kompetenziellen Grenzen handeln. Hinzu kommt: Wenn die EU die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten verlangt, muss erst Recht sie selbst den Anforderungen des Art. 2 EUV gerecht werden (Kohärenzprinzip).

Literaturverzeichnis Alle zitierten Internetlinks wurden zuletzt am 31.05.2023 abgerufen. Alegre, Susie, Mutual trust – Lifting the mask, in: de Kerchove, Gilles/Weyembergh, Anne (Hrsg.), La confiance mutuelle dans l’espace pe´nal europe´en, Bruxelles 2005, S. 41–45. Alemmano, Alberto/Chamon, Merijn, To Save the Rule of Law you Must Apparently Break It, Verfassungsblog vom 11. Dezember 2020, abrufbar unter verfassungsblog.de/tosave-the-rule-of-law-you-must-apparently-break-it/. Alexander, Kern, European Banking Union: a legal and institutional analysis of the Single Supervisory Mechanism and the Single Resolution Mechanism, European Law Review 40 (2015), 154–187. Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2020. Almhofer, Martina, Die Haftung der Europäischen Zentralbank für rechtswidrige Bankenaufsicht, Tübingen 2018. Ambos, Kai, The German Public Prosecutor as (no) judicial authority within the meaning of the European Arrest Warrant: A case note on the CJEU’s judgment in OG (C-508/18) and PI (C-82/19 PPU), New Journal of European Criminal Law 10 (2019), 399–407. Ambos, Kai/Rackow, Peter, Grundsatz gegenseitiger Anerkennung und Europäische Ermittlungsanordnung, JuristenZeitung 76 (2021), 329–337. Anagnostaras, Georgios, Mutual confidence is not blind trust! Fundamental rights protection and the execution of the European arrest warrant: Aranyosi and Caldararu, Common Market Law Review 53 (2016), 1675–1704. –, Solange III? Fundamental rights protection under the national identity review, European Law Review 42 (2017), 234–253. –, The Common European Asylum System: Balancing Mutual Trust Against Fundamental Rights Protection, German Law Journal 21 (2020), 1180–1197. Andersson, Torbjörn, Harmonization and Mutual Recognition How to Handle Mutual Distrust?, European Business Law Review 17 (2006), 747–752. Andreou, Pelopidas, Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen in der Europäischen Union, Baden-Baden 2009. Arroyo Jime´nez, Luis, Effective Judicial Protection and Mutual Recognition in the European Administrative Space, German Law Journal 22 (2021), 344–370. Assmann, Heinz-Dieter/Buck-Heeb, Petra, § 1 Kapitalanlagerecht im Regelungsgefüge des Kapitalmarkt- und Finanzmarktrechts, in: Assmann, Heinz-Dieter/Schütze, Rolf A./Buck-Heeb, Petra (Hrsg.), Handbuch des Kapitalanlagerechts, 5. Aufl., München 2020. Augsberg, Steffen, § 6 Europäisches Verwaltimgsorganisationsrecht und Vollzugsformen, in: Terhechte, Jörg Philipp (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden 2022. Aust, Helmut Philipp, Eine völkerrechtsfreundliche Union? Grund und Grenze der Öffnung des Europarechts zum Völkerrecht, Europarecht 2017, 106–120.

336

Literaturverzeichnis

Baade, Björnstjern, Die Konditionalitätsverordnung: Erwartungen und Realität anlässlich ihrer ersten Anwendung auf Ungarn, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2023, 132–137. Bach, Ivo, Grenzüberschreitende Vollstreckung in Europa, Tübingen 2008. Bader, Peter, Inhalt und Bedeutung der zweiten Bankrechtskoordinierungsrichtlinie – ein EG-Grundgesetz für die Banken?, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1990, 117–122. Baier, Annette, Trust and Antitrust, Ethics 96 (1986), 231–260. Bainczyk, Magdalena, Kein letztes Wort – weder des polnischen Verfassungsgerichtshofes noch des EuGH in der Sache der europäischen Integration – Anmerkung zum Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7.10.2022, Az. K 3/21, Europarecht 2022, 647–666. Baraggia, Antonia, The „conditionality“ Regulation under the ECJ’s scrutiny: a constitutional analysis, European Law Review 47 (2022), 687–698. Baraggia, Antonia/Bonelli, Matteo, Linking Money to Values: The New Rule of Law Conditionality Regulation and Its Constitutional Challenges, German Law Journal 23 (2022), 131–156. Baratta, Roberto, Rule of Law ,Dialogues‘ Within the EU: A Legal Assessment, Hague Journal on the Rule of Law 8 (2016), 357–372. Ba´rd, Petra, In courts we trust, or should we? Judicial independence as the precondition for the effectiveness of EU law, European Law Journal 28 (2022), 185–210. Ba´rd, Petra/Kochenov, Dimitry, War as a pretext to wave the rule of law goodbye? The case for an EU constitutional awakening, European Law Journal 27 (2021), 39–49. Barnard, Catherine, Unravelling the Services Directive, Common Market Law Review 45 (2008), 323–394. –, The Substantive Law of the EU: The Four Freedoms, 6. Aufl., Oxford 2019. Barrett, Gavin, Reflections on What the Rule of Law Means and its Significance at EU Level, Europarecht 2018, Beiheft 1, 23–38. Bartolini, Silvia, In the Name of the Best Interests of the Child: The Principle of Mutual Trust in Child Abduction Cases, Common Market Law Review 56 (2019), 91–119. Bast, Jürgen, Solidarität im europäischen Einwanderungs- und Asylrecht, in: Knodt, Miche`le/Tews, Anne (Hrsg.), Solidarität in der EU, Baden-Baden 2014, S. 143–162. Battjes, Hemme/Brouwer, Evelien, The Dublin Regulation and Mutual Trust: Judicial Coherence in EU Asylum Law? Implementation of Case-Law of the CJEU and the ECtHR by National Courts, Review of European Administrative Law 8 (2015), 183–214. Beaumont, Paul/Walker, Lara/Holliday, Jayne, Conflicts of EU courts on child abduction: the reality of Article 11(6)–(8) Brussels IIa proceedings across the EU, Journal of Private International Law 12 (2016), 211–260. Becker, Joachim, Der transnationale Verwaltungsakt: übergreifendes europäisches Rechtsinstitut oder Anstoß zur Entwicklung mitgliedstaatlicher Verwaltungskooperationsgesetze?, Deutsches Verwaltungsblatt 2001, 855–866. Berger, Henning, Der einheitliche Aufsichtsmechanismus (SSM) – Bankenaufsicht im europäischen Verbund, Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht 2015, 501–505. –, Rechtsanwendung durch die EZB im Single Supervisory Mechanism (SSM) – Teil II, Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht 2015, 2361–2369. Bergmann, Jan, Das Dublin-Asylsystem, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2015, 81–90. Bergmann, Tina, Effet utile, in: Bergmann, Jan (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 6. Aufl., Baden-Baden 2021.

Literaturverzeichnis

337

Bernard, Nick, Multilevel governance in the European Union, The Hague 2002. Bernatt, Maciej, Economic frontiers of the rule of law: Sped-Pro v. Commission, Common Market Law Review 60 (2023), 199–216. Bernhard, Peter, Cassis de Dijon und Kollisionsrecht – am Beispiel des unlauteren Wettbewerbs, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1992, 437–443. Besselink, Leonard, The Bite, the Bark and the Howl: Article 7 TEU and the Rule of Law Initiatives, in: Jakab, Andra´s/Kochenov, Dimitry (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, Oxford 2017, S. 128–144. Betlem, Gerrit, Cross-border Private Enforcement of Community Law, in: Vervaele, John A. E. (Hrsg.), Compliance and Enforcement of European Community law, The Hague 1999, S. 391–418. Bieber, Roland, „Full Faith and Credit“ als Verfassungsregel im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten?, in: Lorenzmeier, Stefan/Folz, Hans-Peter (Hrsg.), Recht und Realität: Festschrift für Christoph Vedder, Baden-Baden 2017, S. 27–56. Billing, Fenella, The Parallel Between Non-removal of Asylum Seekers and Non-execution of a European Arrest Warrant on Human Rights Grounds: The CJEU Case of N.S. v. Secretary of Statefor the Home Department, European Criminal Law Review 2 (2012), 77–91. Binder, Jens-Hinrich, The European Banking Union – Rationale and Key Policy Issues, in: ders./Gortsos, Christos V. (Hrsg.), The European Banking Union: a compendium, Baden-Baden 2016, S. 1–16. Blauberger, Michael/Kelemen, Daniel, Can courts rescue national democracy? Judicial safeguards against democratic backsliding in the EU, Journal of European Public Policy 24 (2017), 321–336. Blauberger, Michael/van Hüllen, Vera, Conditionality of EU funds: an instrument to enforce EU fundamental values?, Journal of European Integration 43 (2020), 1–16. Blobel, Felix/Spath, Patrick, The tale of multilateral trust and the European law of civil procedure, European Law Review 30 (2005), 528–547. Bloks, Suzanne Andrea/van den Brink, Tobias, The Impact on National Sovereignty of Mutual Recognition in the AFSJ. Case-Study of the European Arrest Warrant, German Law Journal 22 (2021), 45–64. Bobek, Michal, Epilogue: Of Judges and Trust, in: Sa´nchez, Sara Iglesias/Pascual, Maribel Gonza´lez (Hrsg.), Fundamental Rights in the EU Area of Freedom, Security and Justice, Cambridge 2021, S. 433–445. Bobic´, Ana, Constructive Versus Destructive Conflict: Taking Stock of the Recent Constitutional Jurisprudence in the EU, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 22 (2020), 60–84. Boekestein, Tom L., Making Do With What We Have: On the Interpretation and Enforcement of the EU’s Founding Values, German Law Journal 23 (2022), 431–451. von Bogdandy, Armin, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, Baden-Baden 1999. –, Grundprinzipien, in: ders./Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Berlin 2009. –, European Law Beyond Ever Closer Union Repositioning the Concept, its Thrust and the ECJ’s Comparative Methodology, European Law Journal 22 (2016), 519–538. –, Jenseits der Rechtsgemeinschaft – Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise, Europarecht 2017, 487–511. –, Vertrauen im europäischen Rechtsraum – Eine Bestandsaufnahme im Lichte der Verfassungskrisen, in: Kadelbach, Stefan (Hrsg.), Verfassungskrisen in der Europäischen Union, Baden-Baden 2018, S. 23–40.

338

Literaturverzeichnis

–, Ways to Frame the European Rule of Law: Rechtsgemeinschaft, Trust, Revolution, and Kantian Peace, European Constitutional Law Review 14 (2018), 675–699. –, Tyrannei der Werte? Herausforderungen und Grundlagen einer europäischen Dogmatik systemischer Defizite, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 79 (2019), 503–551. –, Principles of a systemic deficiencies doctrine: How to protect checks and balances in the Member States, Common Market Law Review 57 (2020), 705–740. von Bogdandy, Armin/Antpöhler, Carlino/Ioannidis, Michael, Protecting EU Values: Reverse Solange and the Rule of Law Framework, in: Jakab, Andra´s/Kochenov, Dimitry (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, Oxford 2017, S. 218–233. von Bogdandy, Armin/Bogdanowicz, Piotr/Canor, Iris u.a., A potential constitutional moment for the European rule of law – The importance of red lines, Common Market Law Review 55 (2018), 983–996. von Bogdandy, Armin/Hering, Laura, § 25 Die Informationsbeziehungen im europäischen Verwaltungsverbund, in: Voßkuhle, Andreas/Eifert, Martin/Möllers, Christoph (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl., München 2022. von Bogdandy, Armin/Ioannidis, Michael, Das systemische Defizit – Merkmale, Instrumente und Probleme am Beispiel der Rechtsstaatlichkeit und des neuen Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahrens, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 74 (2014), 283–328. von Bogdandy, Armin/Kottmann, Matthias/Antpöhler, Carlino u.a., Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte – Grundlagen einer unionsrechtlichen Solange-Doktrin gegenüber Mitgliedstaaten, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 72 (2012), 45–78. von Bogdandy, Armin/Łacny, Justyna, Suspension of EU funds for breaching the rule of law – a dose of tough love needed?, European Policy Analysis 7 (2020), 1–15. von Bogdandy, Armin/Schill, Stefan, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag – Zur unionsrechtlichen Rolle nationalen Verfassungsrechts und zur Überwindung des absoluten Vorrangs, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 70 (2010), 701–734. von Bogdandy, Armin/Spieker, Luke D., Reverse Solange 2.0: Die Durchsetzung europäischer Werte und die unions-und strafrechtliche Verantwortung nationaler Richter, Europarecht 2020, 301–332. Bogdanowicz, Piotr/Taborowski, Maciej, How to Save a Supreme Court in a Rule of Law Crisis: the Polish Experience: ECJ (Grand Chamber) 24 June 2019, Case C-619/18, European Commission v Republic of Poland, European Constitutional Law Review 16 (2020), 306–327. Böhm, Michael, Aktuelle Entwicklungen im Auslieferungsrecht, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2017, 77–84. Bonelli, Matteo, Infringement Actions 2.0: How to Protect EU Values before the Court of Justice, European Constitutional Law Review 18 (2022), 30–58. Bonelli, Matteo/Claes, Monica, Judicial serendipity: how Portuguese judges came to the rescue of the Polish judiciary, European Constitutional Law Review 14 (2018), 622–643. Borger, Vestert, Constitutional identity, the rule of law, and the power of the purse: The ECJ approves the conditionality mechanism to protect the Union budget: Hungary and Poland v. Parliament and Council, Common Market Law Review 59 (2022), 1771–1802. Böse, Martin, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege der EU – Die „Verkehrsfähigkeit« strafgerichtlicher Entscheidungen, in: Momsen, Carsten/Bloy, Rene´ Herbert/Rackow, Peter (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, Frankfurt am Main 2003, S. 233–250.

Literaturverzeichnis

339

Brand, Christian, Strafbarkeitsrisiken des Arbeitgebers durch den Einsatz von Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland, Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht 2020, 440–463. Brauneck, Jens, Rettet die EU den Rechtsstaat in Polen?, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2018, 1423–1429. –, Gefährdung des EU-Haushalts durch rechtsstaatliche Mängel in den Mitgliedstaaten?, Europarecht 2019, 37–61. Brenner, Michael, Führerscheintourismus in Europa: Noch kein Ende in Sicht – Anmerkung zu den Urteilen des EuGH vom 26.6.2008, verb. Rs. C-334/06 bis C-336/06 und verb. Rs. C-329/06 und C-343/06, Europarecht 2010, 292–298. Brigola, Alexander, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gefüge der EU-Grundfreiheiten – Steuerungsinstrument oder Risikofaktor? Eine Analyse am Beispiel des freien Warenverkehrs, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2017, 406–412. Brinkmann, Gisbert, The Immigration and Asylum Agenda, European Law Journal 10 (2004), 182–199. Brito Bastos, Filipe, Derivative Illegality in European Composite Administrative Procedures, Common Market Law Review 55 (2018), 101–134. –, Judicial review of composite administrative procedures in the Single Supervisory Mechanism: Berlusconi, Common Market Law Review 56 (2019), 1355–1378. Britz, Gabriele, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund? Europäische Verwaltungsentwicklung am Beispiel der Netzzugangsregulierung bei Telekommunikation, Energie und Bahn, Europarecht 2006, 46–77. –, Grundrechtsschutz in der justiziellen Zusammenarbeit – zur Titelfreizügigkeit in Familiensachen, JuristenZeitung 68 (2013), 105–111. Brixner, Joachim/Schaber, Mathias, Bankenaufsicht – Institutionen, Regelungsbereiche und Prüfung, Stuttgart 2016. Brkan, Maja, The Concept of Essence of Fundamental Rights in the EU Legal Order: Peeling the Onion to its Core, European Constitutional Law Review 14 (2018), 332–368. Brouwer, Evelien, Mutual Trust and the Dublin Regulation: Protection of Fundamental Rights in the EU and the Burden of Proof, Utrecht Law Review 9 (2013), 135–147. –, Mutual Trust and Human Rights in the AFSJ: In Search of Guidelines for National Courts, European Papers 1 (2016), 893–920. –, Mutual Trust and Judicial Control in the Area of Freedom, Security, and Justice: an Anatomy of Trust, in: ders./Gerard, Damien (Hrsg.), Mapping Mutual Trust: Understanding and Framing the Role of Mutual Trust in EU Law, Florenz 2016, S. 59–68. Bruha, Thomas, Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – Deregulierung durch Neue Strategie?, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 46 (1986), 1–33. Buchholtz, Gabriele, Entterritorialisierung des Öffentlichen Rechts, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2016, 1353–1358. Bülck, Hartwig Föderalismus als internationales Ordnungsprinzip, in: Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, Berlin 1964, S. 1–65. Burchard, Christoph, Die Konstitutionalisierung der gegenseitigen Anerkennung: Die strafjustizielle Zusammenarbeit in Europa im Lichte des Unionsverfassungsrechts, Frankfurt am Main 2019. Burlyuk, Olga, Variation in EU External Policies as a Virtue: EU Rule of Law Promotion in the Neighbourhood, Journal of Common Market Studies 53 (2015), 509–523. Burrer, Steffen/Marusczyk, Dawid, Grenzüberschreitende Anerkennung und Vollstreckung polnischer Urteile nach der EuGVVO in Zeiten der polnischen Verfassungskrise, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2022, 200–207.

340

Literaturverzeichnis

Bustos Gisbert, Rafael, Judicial Independence in European Constitutional Law, European Constitutional Law Review 18 (2022), 591–620. Buttigieg, Christopher, Strengthening the governance of national financial supervision in the EU: existing weaknesses and a proposal for reform, Journal of the Academy of European Law 15 (2014), 197–227. –, Strengthening mutual trust between European financial supervisors, Journal of the Academy of European Law 18 (2017), 41–66. Cacciatore, Federica, Patterns of Networked Enforcement in the European System of Financial Supervision: What is the New Role for National Competent Authorities?, European Journal of Risk Regulation 10 (2019), 502–521. Callewaert, Johan, Grundrechtsschutz und gegenseitige Anerkennung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Zeitschrift für europarechtliche Studien 2014, 79–90. Calliess, Christian, Die Dienstleistungsrichtlinie: von der grundfreiheitlichen Deregulierung zur europäischen Re-Regulierung?, Zentrum für europäisches Wirtschaftsrecht Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität 2007. –, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JuristenZeitung 59 (2004), 1033–1045. –, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft – Überlegungen vor dem Hintergrund der Staatsschuldenkrise in der Eurozone, in: ders./Kahl, Wolfgang/Schmalenbach, Kirsten (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, Berlin 2014, S. 64–97. Calliess, Christian/Korte, Stefan, Dienstleistungsrecht in der EU, München 2011. Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl., München 2022 (zitiert als: Bearbeiter, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV). Cambien, Nathan, Mutual Recognition and Mutual Trust in the Internal Market, European Papers 2 (2017), 93–115. Canor, Iris, My brothers keeper? Horizontal solange: An ever closer distrust among the peoples of Europe, Common Market Law Review 50 (2013), 383–422. –, – Solange horizontal – Der Schutz der EU-Grundrechte zwischen Mitgliedstaaten, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 73 (2013), 249–294. Chamon, Merijn, A Hollow Threat, Verfassungsblog vom 16. Juni 2021, abrufbar unter verfassungsblog.de/a-hollow-threat/. Classen, Claus Dieter, Rechtsstaatlichkeit als Primärrechtsgebot in der Europäischen Union – Vertragsrechtliche Grundlagen und Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte, Europarecht 2008, Beiheft 3, 7–21. –, Gegenseitige Anerkennung und gegenseitiges Vertrauen im europa`ischen Rechtsraum, in: Becker, Ulrich/Hatje, Armin/Potacs, Michael/Wunderlich, Nina (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung in Europa: Festschrift für Jürgen Schwarze zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2014, S. 556–576. –, Zuviel des Guten? Unionsrechtliche Neuakzentuierungen beim Grundrechtsschutz, JuristenZeitung 74 (2019), 1057–1066. –, Die Gleichheit der Mitgliedstaaten und ihre Ausformungen im Unionsrecht, Europarecht 2020, 255–269. Closa, Carlos, Reinforcing EU Monitoring of the Rule of Law, in: ders./Kochenov, Dimitry (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union, Cambridge 2016, S. 15–35. Coli, Martina, Article 7 TEU: From a Dormant Provision to an Active Enforcement Tool?, Perspectives on Federalism 10 (2018), 272–302.

Literaturverzeichnis

341

Cornelisse, Galina/Reneman, Marcelle, Border procedures in the Commission’s New Pact on Migration and Asylum: A case of politics outplaying rationality?, European Law Journal 26 (2020), 181–198. Corte´s-Martı´n, Jose´ M., The Long Road to Strasbourg: The Apparent Controversy Surrounding the Principle of Mutual Trust, Review of European Administrative Law 11 (2018), 5–36. Craig, Paul, Formal and substantive conceptions of the rule of law: an analytical framework, Public Law 3 (1997), 467–487. –, The Legal Effect of Directives: Policy, Rules and Exceptions, European Law Review 34 (2009), 349–377. Craig, Paul/de Bu´rca, Gra´inne, EU Law: Text, Cases, and Materials, 7. Aufl., Oxford 2020. Crame´r, Per, Reflections on the Roles of Mutual Trust in EU Law, in: Dougan, Michael/ Currie, Samantha (Hrsg.), 50 Years of the European Treaties: Looking Back and Thinking Forward, Oxford 2009, S. 43–62. Crame´r, Per/Wrange, Pa˚l, The Haider Affair, Law and European Integration, Stockholm University Research Paper No. 19, 2001, 28–60. Curtin, Deirdre/Dekker, Ige, The Constitutional Structure of the European Union: Some Reflections on Vertical Unity-in-Diversity, in: Beaumont, Paul/Lyons, Carole/Walker, Neil (Hrsg.), Convergence and divergence in European Public Law, Oxford 2002, S. 59–78. Dalhuisen, Jan H., Financial Liberalisation and Re-regulation, European Business Law Review 11 (2000), 373–380. Dannecker, Gerhard, Le principe de reconnaissance mutuelle en matie`re pe´nale dans l’Union europe´enne, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 111 (2012), 64–71. von Danwitz, Luc, Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Eine wertebasierte Garantie der Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts, Europarecht 2020, 61–89. von Danwitz, Thomas, The Rule of Law in the Recent Jurisprudence of the ECJ, in: Schroeder, Werner (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, Oxford 2016, S. 155–169. –, Values and the Rule of Law: Foundations of the European Union – An Inside Perspective from the ECJ, Potchefstroom Electronic Law Journal 21 (2018), 1–17. Dashwood, Alan/Dougan, Michael B./Rodger, Barry J. u.a., Wyatt and Dashwood’s European Union law, 6. Aufl., Oxford 2011. Davies, Gareth, Trust and mutual recognition in the Services Directive, in: Lianos, Ioannis/ Odudu, Okeoghene (Hrsg.), Regulating Trade in Services in the EU and the WTO. Trust, Distrust and Economic Integration, Cambridge 2012, S. 99–120. De Hert, Paul/Korenica, Fisnik, The Doctrine of Equivalent Protection: Its Life and Legitimacy Before and After the European Union’s Accession to the European Convention on Human Rights, German Law Journal 13 (2012), 874–895. De Lucia, Luca, One and Triune – Mutual Recognition and the Circulation of Goods in the EU, Review of European Administrative Law 13 (2020), 7–35. De Schutter, Olivier, La contribution du controˆle juridictionnel a` la confiance mutuelle, in: de Kerchove, Gilles/Weyembergh, Anne (Hrsg.), La confiance mutuelle dans l’espace pe´nal europe´en, Bruxelles 2005, S. 79–121. De Witte, Bruno, Article 4(2) TEU as a Protection of the Institutional Diversity of the Member States, European Public Law 27 (2021), 559–570. den Heijer, Maarten, Remedies in the Dublin Regulation: Ghezelbash and Karim, Common Market Law Review 54 (2017), 859–871.

342

Literaturverzeichnis

Di Fabio, Udo, Produktharmonisierung durch Normung und Selbstüberwachung, Köln 1996. Dorigo, Stefano, Mutual Recognition versus Transnational Administration in Tax Law: Is Fiscal Sovereignty Still Alive?, Review of European Administrative Law 13 (2020), 109–133. Dorigo, Stefano/Eliantonio, Mariolina/Lanceiro, Rui, The Principle of Mutual Recognition in European Administrative Law: Still Alive and Kicking?, Review of European Administrative Law 13 (2020), 183–195. Dougan, Michael, Primacy and the remedy of disapplication, Common Market Law Review 56 (2019), 1459–1508. –, The primacy of Union law over incompatible national measures: Beyond disapplication and towards a remedy of nullity?, Common Market Law Review 59 (2022), 1301–1332. Douglas-Scott, Sionaidh, A tale of two courts: Luxembourg, Strasbourg and the growing European human rights acquis, Common Market Law Review 43 (2006), 629–665. Drakos, Konstantinos/Kallandranis, Christos/Karidis, Socrates, Determinants of Trust in Institutions in Times of Crisis: Survey-Based Evidence from the European Union, Journal of Common Market Studies 57 (2019), 1228–1246. Driguez, Laetitia, Posting of workers: When the ideal of cooperation between national institutions prevails over the fight against fraud: CRPNPAC and Vueling, Common Market Law Review 58 (2021), 929–950. Droste, Hubertus, Die neue EU-Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Waren, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2019, 261–264. Düsterhaus, Dominik, Judicial Coherence in the Area of Freedom, Security and Justice – Squaring Mutual Trust with Effective Judicial Protection, Review of European Administrative Law 8 (2015), 151–182. –, Konstitutionalisiert der EuGH das Internationale Privat- und Verfahrensrecht der EU?, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2018, 10–31. Eckstein, Ken, Grund und Grenzen transnationalen Schutzes vor mehrfacher Strafverfolgung in Europa, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 2012, 490–527. Editorial Comments, Compromising (on) the general conditionality mechanism and the rule of law, Common Market Law Review 58 (2021), 267–284. Efrat, Asif, Assessing Mutual Trust among EU Members: Evidence from the European Arrest Warrant, Journal of European Public Policy 26 (2019), 656–675. Eifert, Martin, Legitimationsstrukturen internationaler Verwaltung, in: Trute, Hans-Heinrich/Groß, Thomas/Röhl, Hans Christian/Möllers, Christoph (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 307–331. Ellerbrok, Torben, Das umgekehrte Vorabentscheidungsverfahren als Schlussstein im europäischen Rechtsschutzverbund, Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik 2022, 302–331. –, Der transnationale Verwaltungsakt, Juristische Arbeitsblätter 2022, 969–1056. Eßlinger, Sophie, Gegenseitiges Vertrauen, Tübingen 2018. Everling, Ulrich, Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern, in: von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 961–1008. Faraguna, Pietro/Messineo, Donato, Light and shadows in the Bundesverfassungsgericht’s decision upholding the European Banking Union, Common Market Law Review 57 (2020), 1629–1646. Ferran, Eilis/Babis, Valia, The European Single Supervisory Mechanism, University of Cambridge Paper No. 10/2013.

Literaturverzeichnis

343

Fisicaro, Marco, Rule of Law Conditionality in EU Funds: The Value of Money in the Crisis of European Values, European Papers 4 (2019), 695–722. –, Protection of the Rule of Law and ,Competence Creep‘ via the Budget: The Court of Justice on the Legality of the Conditionality Regulation. ECJ Judgments of 16 February 2022, Cases C-156/21, Hungary v Parliament and Council and C-157/21, Poland v Parliament and Council, European Constitutional Law Review 18 (2022), 334–356. Flore, Daniel, Le mandat d’arreˆt europe´en: premie`re mise en oeuvre d’un nouveau paradigme de la justice pe´nale europe´enne, Journal des tribunaux 2002, 273–281. Fra˛ckowiak-Adamska, Agnieszka, Time for a European „full faith and credit clause“, Common Market Law Review 52 (2015), 191–218. –, Trust until it is too late! Mutual recognition of judgments and limitations of judicial independence in a Member State: L and P, Common Market Law Review 59 (2022), 113–150. Franzius, Claudio, Gewährleistung im Recht, Tübingen 2009. –, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, Tübingen 2010. –, Europäisches Vertrauen? Eine Skizze, Humboldt Forum Recht 2010, 159–176. –, Grundrechtsschutz in Europa, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 75 (2015), 383–412. Fremuth, Michael Lysander, „Cassis de Dijon“: zu der Dogmatischen Einordnung zwingender Erfordernisse, Europarecht 2006, 866–878. Frevert, Ute, Vertrauen – eine historische Spurensuche, in: dies. (Hrsg.), Vertrauen: historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 7–66. Fröhlich, Daniel, Das Asylrecht im Rahmen des Unionsrechts: Entstehung eines föderalen Asylregimes in der Europäischen Union, Tübingen 2011. –, Asylrecht, Flüchtlingsrecht und internationaler Schutz – oder: Wovon wir reden, wenn wir vom Schutz geflohener Menschen sprechen, Ad Legendum 2016, 268–272. Gaeder, Karsten, Minimalistischer EU-Grundrechtsschutz bei der Kooperation im Strafverfahren, Neue Juristische Wochenschrift 2013, 1279–1282. Gallagher, Paul, Future Developments in Judicial Cooperation in Criminal Matters, Journal of the Academy of European Law 9 (2009), 495–517. Gambetta, Diego, Can We Trust Trust?, in: ders. (Hrsg.), Trust: Making and Breaking Cooperative Relations, New York 1988, S. 213–237. Gärditz, Klaus Ferdinand, Effektiver Verwaltungsrechtsschutz im Zeichen von Migration und Europäisierung, Die Verwaltung 52 (2019), 259–296. Geneuss, Julia/Werkmeister, Andreas, Faire Strafverfahren vor systemisch abhängigen Gerichten? Europäischer Haftbefehl und Recht auf ein unabhängiges Gericht: Überlegungen anhand des Celmer-Urteils des EuGH, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 2020, 102–132. Gentzsch, Markus/Brade, Alexander, Die Bankenunion vor dem Bundesverfassungsgericht. Neue Impulse für grundlegende Fragestellungen des Verfassungs- und Unionsrechts, Europarecht 2019, 602–637. Gerard, Damien, Mutual Trust as Constitutionalism?, in: Brouwer, Evelien/ders. (Hrsg.), Mapping Mutual Trust: Understanding and Framing the Role of Mutual Trust in EU Law, Florenz 2016, S. 69–79. Germelmann, Claas Friedrich, Alternativen zum Rechtsstaatsverfahren nach Art. 7 EUV?, Die öffentliche Verwaltung 2021, 193–204. Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Cambridge 1986. –, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1995.

344

Literaturverzeichnis

Giegerich, Thomas, Verfassungshomogenitat, Verfassungsautonomie und Verfassungsaufsicht in der EU: Zum neuen „Rechtsstaatsmechanismus“ der Europaischen Kommission, in: Calliess, Christian (Hrsg.), Herausforderungen an Staat und Verfassung. Völkerrecht – Europarecht – Menschenrechte; Liber Amicorum für Torsten Stein zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2015, S. 499–542. –, Die Unabhängigkeit der Gerichte als Strukturvorgabe der Unionsverfassung und ihr effektiver Schutz vor autoritären Versuchungen in den Mitgliedstaaten, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2019, 61–112. Giesendorf, Sabrina, Politische Konditionalität der EU – eine erfolgreiche Demokratieförderungsstrategie?, Baden-Baden 2009. Gilles, Andre´, Die Konditionalität der Finanzhilfen für Eurostaaten, Tübingen 2019. Glas, Lize R./Krommendijk, Jasper, From Opinion 2/13 to Avotins: Recent Developments in the Relationship between the Luxembourg and Strasbourg Courts, Human Rights Law Review 17 (2017), 567–587. Glaser, Sebastian/Hartmann, Sarah, CJEU: Germany’s Public Prosecution Authorities Cannot be Regarded as a „Judicial Authority“ with Regard to EAWs – The Truth or a Misconstrual of the Legal Reality?, German Law Journal 23 (2022), 650–660. Gleß, Sabine, Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 2004, 353–367. –, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., Basel 2015. Glos, Alexander/Benzing, Markus, § 2 Institutioneller Rahmen: SSM, EZB und nationale Aufsichtsbehörden in: Binder, Jens-Hinrich/Glos, Alexander/Riepe, Jan (Hrsg.), Handbuch Bankenaufsichtsrecht, 2. Aufl., Köln 2020. Goldner Lang, Iris, The Rule of Law, the Force of Law and the Power of Money in the EU, Croatian Yearbook of European Law and Policy 15 (2019), 1–26. Gören, Erol, Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus bei der Europäischen Zentralbank (Single Supervisory Mechanism), Baden-Baden 2019. Gormley, Laurence W., EU Law of Free Movement of Goods and Customs Union, Oxford 2009. Gortsos, Christos V., The Role of the European Banking Authority (EBA) After the Establishment of the Single Supervisory Mechanism (SSM), in: Andenas, Mads/Deipenbrock, Gudula (Hrsg.), Regulating and Supervising European Financial Markets, Berlin 2016, S. 277–297. Götz, Volkmar, Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, Baden-Baden 2004, S. 43–61. Grabenwarter, Christoph/Huber, Peter Michael/Knez, Rajko u.a., The Role of the Constitutional Courts in the European Judicial Network, European Public Law 27 (2021), 43–62. Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard/Nettesheim, Martin (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, München, 75. EL Aufl. 2022 (zitiert als: Bearbeiter, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU). Grabowska-Moroz, Barbara/Kochenov, Dimitry, EU Rule of Law: The State of Play following the Debates Surrounding the 2019 Commission’s Communication, in: Amato, Giuliano/Barbisan, Benedetta/Pinelli, Cesare (Hrsg.), Rule of Law vs Majoritarian Democracy, Oxford 2021, S. 63–80. Gragl, Paul, An Olive Branch from Strasbourg: Interpreting the European Court of Human Rights’ Resurrection of Bosphorus and Reaction to Opinion 2/13 in the Avotins Case: ECtHR 23 May 2016, Case No. 17502/07, Avotins v. Latvia, European Constitutional Law Review 13 (2017), 551–567.

Literaturverzeichnis

345

Groß, Thomas, § 15 Die Verwaltungsorganisation als Teil der Staatsorganisation, in: Voßkuhle, Andreas/Eifert, Martin/Möllers, Christoph (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl., München 2022. Groussot, Xavier/Pe´tursson, Gunnar Thor, Review essay: Je t’aime ... moi non plus: Ten years of application of the EU Charter of Fundamental Rights, Common Market Law Review 59 (2022), 239–258. Groussot, Xavier/Pe´tursson, Gunnar Thor/Wenander, Henrik, Regulatory Trust in EU Free Movement Law: Adopting the Level of Protection of the Other?, European Papers 1 (2016), 865–892. Guild, Elspeth, Seeking asylum: storm clouds between international commitments and EU legislative measures, European Law Review 29 (2004), 198–218. Gundel, Jörg, § 3 Verwaltung, in: Schulze, Reiner/Janssen, Andre´/Kadelbach, Stefan (Hrsg.), Europarecht, 4. Aufl., Baden-Baden 2020. Günther, Carsten, Gerichtliche Durchsetzung von Zuständigkeitsregelungen im DublinSystem, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2017, 7–15. Gurlit, Elke, The ECB’s relationship to the EBA, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht-Beilage 2014, 14–18. Häde, Ulrich, Jenseits der Effizienz: Wer kontrolliert die Kontrolleure? – Demokratische Verantwortlichkeit und rechtsstaatliche Kontrolle der europäischen Finanzaufsichtsbehörden –, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2011, 662–665. Hagenmeyer, Moritz/Teufer, Tobias, C. IV. Lebensmittelrecht, in: Dauses, Manfred A./Ludwigs, Markus (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 56. EL Aufl. 2022. Hailbronner, Kay/Thym, Daniel, Vertrauen im europäischen Asylsystem, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2012, 406–409. –, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JuristenZeitung 71 (2016), 753–763. Halberstam, Daniel, „It’s the Autonomy, Stupid!“ A Modest Defense of Opinion 2/13 on EU Accession to the ECHR, and the Way Forward, German Law Journal 16 (2015), 105–146. Hallstein, Walter, Der unvollendete Bundesstaat, Düsseldorf 1969. Halmai, Ga´bor, The Possibility and Desirability of Rule of Law Conditionality, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 171–188. Hamenstädt, Kathrin, Mutual (Dis-)trust in the Area of Freedom, Security and Justice?, Review of European Administrative Law 14 (2021), 5–28. Happe, Claus-Michael, Die grenzüberschreitende Wirkung von nationalen Verwaltungsakten: zugleich ein Beitrag zur Anerkennungsproblematik nach der Cassis de Dijon – Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, Frankfurt am Main 1987. Haratsch, Andreas, Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Das Kooperationsverhältnis zwischen EGMR und EuGH –, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 66 (2006), 927–947. –, Nationale Identität aus europarechtlicher Sicht, Europarecht 2016, 131–147. Hardin, Russel, Trust and Trustworthiness, New York 2002. Harkin, Tricia, The case law of the Court of Justice of the European Union on ,judicial authority‘ and issuing European arrest warrants, New Journal of European Criminal Law 12 (2021), 508–530. Hartmann, Martin, Die Praxis des Vertrauens, Frankfurt am Main 1994. Hartmann, Moritz, Europäisierung und Verbundvertrauen, Tübingen 2015. Hatje, Armin, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, Baden-Baden 2001.

346

Literaturverzeichnis

Hatje, Armin/Schwarze, Jürgen, Der Zusammenhalt der Europäischen Union, Europarecht 2019, 153–190. Hazelhorst, Monique, Mutual Trust Under Pressure: Civil Justice Cooperation in the EU and the Rule of Law, Netherlands International Law Review 65 (2018), 103–130. Heard, Catherine/Mansell, Daniel, The European Investigation Order: Changing the Face of Evidence-Gathering in EU Cross-Border Cases Analysis and Opinions, New Journal of European Criminal Law 2 (2011), 353–367. Hecker, Bernd, Europaisches Strafrecht, 5. Aufl., Berlin 2015. Heimrich, Chad, European arrest warrants and the independence of the issuing judicial authority – How much independence is required? (Case note on joined cases C-508/18 and C-82/19 PPU OG and PI), New Journal of European Criminal Law 10 (2019), 389–398. Hellwig, Martin, Yes Virginia, There is a European Banking Union! But It May Not Make Your Wishes Come True, Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods 2014, 1–29. Herdegen, Matthias, Europäische Bankenunion: Wege zu einer einheitlichen Bankenaufsicht, Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht 2012, 1889–1898. Hering, Laura, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zum Schutz der Unionswerte, Die öffentliche Verwaltung 2020, 293–302. Heringa, Aalt W., Fundamental rights, EU membership and Art. 7 TEU, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 59–72. Herlin-Karnell, Ester, From mutual trust to the full effectiveness of EU law: 10 years of the European arrest warrant, European Law Review 38 (2013), 79–91. Herna´ndez Ferna´ndez, Francisco, The Application of National Law and Composite Procedures in the Single Supervisory Mechanism. Did the Court of Justice of the EU find a New Van Gend en Loos?, Review of European Administrative Law 14 (2021), 5–27. Hess, Burkhard/Pfeiffer, Thomas, Interpretation of the public policy exception as referred to in EU instruments of private international and procedural law study, Study PE 453.189 2011. Hettinger, Christoph, § 32 Geld- und Währungsrecht, in: Schulze, Reiner/Janssen, Andre´/ Kadelbach, Stefan (Hrsg.), Europarecht, 4. Aufl., Baden-Baden 2020. ´ tat de droit, Rechtsstaat, Rule of Law, Paris 2002. Heuschling, Luc, E Hilbert, Patrick, Vertikale Aufhebungsentscheidungen. Zu einem neuen Phänomen der Verbundverwaltung im Europäischen Bankenaufsichtsrecht, Die Verwaltung 50 (2017), 189–216. –, Informationsaustausch und Wissensmanagement im Europäischen Verwaltungsverbund. Dogmatische, theoretische und praktische Perspektiven auf die Informationsbeziehungen europäischer Verwaltung, in: Münkler, Laura (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, Tübingen 2019, S. 111–138. Hillgruber, Christian, Vom souveränen Nationalstaat zur souveränen Europäischen Union? – Souveränitätsverlagerung durch supranationale Rechtsprechung, JuristenZeitung 77 (2022), 584–592. Hillion, Christophe, The Copenhagen Criteria and their Progeny, in: ders. (Hrsg.), EU Enlargement: A Legal Approach, Oxford 2004, S. 1–22. –, Leaving the European Union, the Union way: A legal analysis of Article 50 TEU, European Policy Analysis 8 (2016), 1–12. –, Overseeing the Rule of Law in the EU, in: Closa, Carlos/Kochenov, Dimitry (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union, Cambridge 2016, S. 59–81.

Literaturverzeichnis

347

Hinterberger, Kevin Fredy/Klammer, Stephan, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zu Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage. Eine Verbesserung der rechtlichen Situation schwerkranker Drittstaatsangehöriger?, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2017, 1180–1185. Hirte, Heribert/Heinrich, Tobias, § 73 Bankrechtskoordinierung und -integration, in: Derleder, Peter/Knops, Kai-Oliver/Bamberger, Heinz Georg (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, Berlin 2009. Hoffman, Aaron M. , A Conceptualization of Trust in International Relations, European Journal of International Relations 8 (2002), 375–401. Hoffmeister, Frank, Enforcing the EU Charter of Fundamental Rights in Member States: How Far are Rome, Budapest and Bucharest from Brussels?, in: von Bogdandy, Armin/ Sonnevend, Pa´l (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, München 2015, S. 195–234. Hofmann, Herwig C.H., Composite decision making procedures in EU administrative law, in: ders./Türk, Alexander (Hrsg.), Legal Challenges in EU Administrative Law: Towards an Integrated Administration, Cheltenham 2009, S. 136–167. –, Decisionmaking in EU Administrative Law – The Problem of Composite Procedures, Administrative Law Review 61 (2009), 199–222. Hofmann, Herwig C.H./Rowe, Gerard C./Türk, Alexander, Administrative law and policy of the European Union, Oxford 2011. Hofmeister, Hannes, Polen als erster Anwendungsfall des neuen „EU Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“, Deutsches Verwaltungsblatt 2016, 869–875. Hosking, Geoffrey, Trust: A History, Oxford 2014. Hruschka, Constantin, Krankheitsbedingtes Überstellungshindernis im Dublin-Verfahren, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2017, 691–696. Huber, Bertold, Umsetzung ausländer- und flüchtlingsrechtlicher Richtlinien der EU und die neue Dublin III-VO, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2014, 548–554. Huber, Peter Michael, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389–414. –, Der Rechtsstaat nach 70 Jahren Grundgesetz: Ein gefährdetes Erfolgsmodell, in: Heinig, Hans-Michael/Schorkopf, Frank (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz: In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik?, Göttingen 2019, S. 207–228. –, Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten – Identifizierung und Konkretisierung –, Europarecht 2022, 145–165. Hwang, Shu-Perng, Grundrechtsoptimierung unter dem Vorbehalt des unionsrechtlichen Vorrangs? Zur Auslegung des Art. 53 GRCh im Lichte des Vorrangs des Unionsrechts, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2016, 369–388. Iancu, Bogdan, Separation of Powers and the Rule of Law in Romania: The Crisis in Concepts and Contexts, in: von Bogdandy, Armin/Sonnevend, Pa´l (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, München 2015, S. 153–170. I´n˜iguez, Guillermo, The Enemy Within? Article 259 TFEU and the EU’s Rule of Law Crisis, German Law Journal 23 (2022), 1104–1120. Ioannidis, Michael, EU Financial Assistance Conditionality after „Two Pack“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 74 (2014), 61–104. Jaeger, Thomas, Gerichtsorganisation und EU-Recht: Eine Standortbestimmung, Europarecht 2018, 611–653. Janker, Helmut, Das vorläufige Ende des Führerscheintourismus, Deutsches Autorecht 2009, 181–185.

348

Literaturverzeichnis

Janssens, Christine, The Principle of Mutual Recognition in EU Law, Oxford 2013. Jarass, Hans D., Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl., München 2021. Jayme, Erik/Kohler, Christian, Europäisches Kollisionsrecht 2001: Anerkennungsprinzip statt IPR?, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2001, 501–514. Jörgens, Stefan, Die koordinierte Aufsicht über europaweit tätige Bankengruppen, BadenBaden 2002. Kahl, Wolfgang, Europäisches und nationales Verwaltungsorgnisationsrecht – Von der Konfrontation zur Kooperation, Die Verwaltung 29 (1996), 341–384. –, Hat die EG die Kompetenz zur Regelung des Allgemeinen Verwaltungsrechts?, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1996, 865–869. –, Der Europäische Verwaltungsverbund: Strukturen-Typen-Phänomene, Der Staat 50 (2011), 353–387. –, Europäische Behördenkooperationen – Typen und Formen von Verbundsystemen und Netzwerkstrukturen, in: Holoubek, Michael/Lang, Michael (Hrsg.), Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, Wien 2012, S. 15–46. –, § 27 Vertrauen (Kontinuität), in: Kube, Hanno/Morgenthaler, Gerd/Seiler, Christian (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. I, Heidelberg 2013, S. 297–307. –, Dogmatik im EU-Recht, Archiv des öffentlichen Rechts 144 (2019), 159–201. –, § 45 Kontrolle der Verwaltung und des Verwaltungshandelns, in: Voßkuhle, Andreas/ Eifert, Martin/Möllers, Christoph (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 3. Aufl., München 2022. –, § 66 Rechtsstaatlichkeit im europäischen Verwaltungsrecht, in: ders./Ludwigs, Markus (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. III, Heidelberg 2022. Kämmerer, Jörn Axel, Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem (ESFS) – Modell für eine europäisierte Verwaltungsarchitektur?, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2011, 1281–1287. –, Bahn frei der Bankenunion? Die neuen Aufsichtsbefugnisse der EZB im Lichte der EUKompetenzordnung, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2013, 830–836. –, Rechtsschutz in der Bankenunion (SSM, SRM), Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht 2016, 1–11. –, Tektonische Verwerfungen im Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) der Bankenunion – Kritische Betrachtungen aus Anlass der L-Bank-Entscheidung des EuG, Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft 2017, 317–368. Kanalan, Ibrahim/Wilhelm, Maria/Schwander, Timo, Die Unverzichtbarkeit der Werte? Zur Suspendierung der drei Säulen der europäischen Rechtsordnung, Der Staat 56 (2017), 193–226. Kapteyn, Paul Joan George/McDonnell, Alison/Mortelmans, K. J. M. u.a., The law of the European Union and the European Communities: with reference to changes to be made by the Lisbon Treaty, 4. Aufl., Alphen aan den Rijn 2008. Kassner, Ulrike, Die Unionsaufsicht, Frankfurt am Main 2003. Kaufhold, Ann-Katrin, Gegenseitiges Vertrauen: Wirksamkeitsbedingung und Rechtsprinzip der justiziellen Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Europarecht 2012, 408–431. –, Systemaufsicht. Der Europäische Ausschuss für Systemrisiken im Finanzsystem als Ausprägung einer neuen Aufsichtsform, Die Verwaltung 46 (2013), 21–57. –, Vertrauen als Voraussetzung, Inhalt und Gegenstand von Recht, in: Baberowski, Jörg (Hrsg.), Was ist Vertrauen?: Ein interdisziplinäres Gespräch, Frankfurt am Main 2014, S. 101–126.

Literaturverzeichnis

349

–, Instrumente und gerichtliche Kontrolle der Finanzaufsicht, Die Verwaltung 49 (2016), 339–368. –, Systemaufsicht, Tübingen 2016. –, Einheit in Vielfalt durch umgekehrten Vollzug? Zur Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts durch europäische Institutionen, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 66 (2018), 85–110. –, § 48 Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, in: Kahl, Wolfgang/Ludwigs, Markus (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. II, Heidelberg 2021. Kaufmann, Sven, Europäischer Haftbefehl und Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat. Ein Beispiel für die Konvergenz des europäischen Grundrechtsschutzes, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2021, 984–988. Kazimierski, Felix, Rechtsschutz im Rahmen der Europäischen Bankenaufsicht, Tübingen 2020. Kelemen, Daniel, Europe’s Other Democratic Deficit: National Authoritarianism in Europe’s Democratic Union, Government and Opposition 52 (2017), 211–238. Kelemen, Daniel/Scheppele, Kim Lane, How to Stop Funding Autocracy in the EU, Verfassungsblog vom 10. September 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/how-to-stopfunding-autocracy-in-the-eu/. Kellerbauer, Manuel/Klamert, Marcus/Tomkin, Jonathan (Hrsg.), The EU Treaties and the Charter of Fundamental Rights: A Commentary, Oxford 2019 (zitiert als: Bearbeiter, in: M. Kellerbauer/M. Klamert/J. Tomkin (Hrsg.), EU Treaties: A Commentary). Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Tübingen 1960. Kert, Robert, The implementation and application of mutual recognition instruments in Austria, in: Vernimmen-Van Tiggelen, Gisele/Surano, Laura/Weyembergh, Anne (Hrsg.), The future of mutual recognition in criminal matters in the European Union, Bruxelles 2009, S. 17–46. Killmann, Bernd-Roland, Arbeitsrecht: Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – Betrügerisch erlangte Bescheinigung, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2020, 716–724. Kirchhof, Paul, Der europäische Staatenverbund, in: von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 1009–1043. –, Die Rechtsarchitektur der Europäischen Union, Neue Juristische Wochenschrift 2020, 2057–2063. –, Vorrang des Rechts. Zu den Grenzen eines Anwendungsvorrangs von Europarecht, Neue Juristische Wochenschrift 2022, 1049–1054. Kirst, Niels, Rule of Law Conditionality: The Long-awaited Step Towards a Solution of the Rule of Law Crisis in the European Union?, European Papers 6 (2021), 101–110. Klamert, Marcus, The Principle of loyalty in EU law, Oxford 2014. Klimek, Libor, European Arrest Warrant, Berlin 2015. –, Mutual Recognition of Judicial Decisions in European Criminal Law, Berlin 2017. Klip, Andre`, European criminal law: an integrative approach, 4. Aufl., Cambridge 2021. Kloska, Ewa, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht, Baden-Baden 2016. Kluth, Winfried/Rieger, Frank, Die gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen und berufsrechtlichen Wirkungen von Herkunftslandprinzip und Bestimmungslandprinzip – Eine Analyse am Beispiel von Dienstleistungs- und Berufsanerkennungsrichtlinie –, Gewerbearchiv 2006, 1–8.

350

Literaturverzeichnis

Knauff, Matthias, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht – Konvergenz oder Divergenz?, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 68 (2008), 453–490. Knodt, Miche`le/Große Hüttmann, Martin/Kobusch, Alexander, Die EU in der Polykrise: Folgen für das Mehrebenen-Regieren, in: Grimmel, Andreas (Hrsg.), Die neue Europäische Union: Zwischen Integration und Desintegration, Baden-Baden 2020, S. 119–152. Kochenov, Dimitry, EU Enlargement and the Failure of Conditionality, The Hague 2008. –, On Policing Article 2 TEU Compliance – Reverse Solange and Systemic Infringements Analyzed, Polish Yearbook of International Law 33 (2013), 145–170. –, Biting Intergovernmentalism: The Case for the Reinvention of Article 259 TFEU to Make It a Viable Rule of Law Enforcement Tool, Hague Journal on the Rule of Law 7 (2015), 153–174. –, EU Law without the Rule of Law: Is the Veneration of Autonomy Worth It?, Yearbook of European Law 34 (2015), 74–96. –, The Acquis and Its Principles: The Enforcement of the ,Law‘ versus the Enforcement of ,Values‘ in the European Union, in: Jakab, Andra´s/ders. (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, Oxford 2017, S. 9–27. –, Elephants in the Room: The European Commission’s 2019 Communication on the Rule of Law, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 423–438. –, Article 7: A Commentary on a Much Talked-About ,Dead‘ Provision, in: von Bogdandy, Armin/Bogdanowicz, Piotr/Canor, Iris/Grabenwarter, Christoph/Taborowski, Maciej/Schmidt, Matthias (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States: Taking Stock of Europe’s Actions, Berlin 2021, S. 127–154. Kochenov, Dimitry/Morijn, John, Augmenting the Charter’s Role in the Fight for the Rule of Law in the European Union: The Cases of Judicial Independence and Party Financing, European Public Law 27 (2021), 759–780. Kochenov, Dimitry/Pech, Laurent, Upholding the rule of law in the EU: on the Commission’s ,pre-article 7 procedure‘ as a timid step in the right direction, EUI Working Paper RSCAS 2015/24, 1–16. –, Monitoring and Enforcement of the Rule of Law in the EU: Rhetoric and Reality, European Constitutional Law Review 11 (2015), 512–540. –, Better Late than Never: On the European Commission’s Rule of Law Framework and Its First Activation, Journal of Common Market Studies 54 (2016), 1062–1074. Kochenov, Dimitry/Pech, Laurent/Scheppele, Kim Lane, Ni panace´e, ni gadget: le „nouveau cadre de l’Union europe´enne pour renforcer l’E´tat de droit“, Revue trimestrielle de droit europe´en 2015, 689–714. Kohler, Christian, Systemwechsel im europäischen Anerkennungsrecht: Von der EuGVVO zur Abschaffung des Exequaturs, in: Baur, Jürgen F./Mansel, Heinz-Peter (Hrsg.), Systemwechsel im europäischen Kollisionsrecht, München 2002, S. 147–164. –, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in Zivilsachen im europäischen Justizraum, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 2005, 263–299. –, Vertrauen und Kontrolle im europäischen Justizraum für Zivilsachen, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2016, 135–152. –, Grenzen des gegenseitigen Vertrauens im Europäischen Justizraum: Zum Urteil des EGMR in Sachen Avotin¸sˇ v. Lettland, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrecht 2017, 333–338. Kohtamäki, Natalia, Die Reform der Bankenaufsicht in der Europäischen Union, Tübingen 2012.

Literaturverzeichnis

351

Kokott, Juliane/Dervisopoulos, Ioanna, Grundrechtsvorbehalt bei gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen – oder: wer ist zuständig für den Grundrechtsschutz?, in: Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde: 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, Tübingen 2013, S. 123–131. Kolassa, Doris, § 135 Der Ansatz der Bankrechtskoordinierung, in: Schimansky, Herbert/ Bunte, Hermann-Josef/Lwowski, Hans-Jürgen (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl., München 2017. Konstadinides, Theodore, The Europeanisation of extradition: how many light years away to mutual confidence?, in: Eckes, Christina/ders. (Hrsg.), Crime within the Area of Freedom, Security and Justice: A European Public Order, Cambridge 2011, S. 192–223. –, The rule of law in the European Union: the internal dimension, Oxford 2017. Koslowski, Tim O., Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde und ihre Befugnisse, Frankfurt am Main 2014. Kotzurek, Nathalie, Gegenseitige Anerkennung und Schutzgarantien bei der Europäischen Beweisanordnung, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2006, 123–139. Krajewski, Michal, Who is Afraid of the European Council? The Court of Justice’s Cautious Approach to the Independence of Domestic Judges, European Constitutional Law Review 14 (2018), 792–813. Kramer, Xandra E., European Procedures on Debt Collection: Nothing or Noting? Experiences and Future Prospects, in: Hess, Burkhard/Bergström, Maria/Storskrubb, Eva (Hrsg.), EU civil justice: current issues and future outlook, Oxford 2016, S. 97–122. Krimphove, Dieter, Der EuGH und die Rechtsstaatlichkeit Polens – Anmerkung zum Urteil des EuG v. 9.2.2022, Rs. T-791/19 (Sped-Pro), Europarecht 2022, 639–646. Kube, Hanno, Vertrauen im Verfassungsstaat, Archiv des öffentlichen Rechts 146 (2021), 494–519. Küc¸ük, Esin, The principle of solidarity and fairness in sharing responsibility: More than window dressing?, European Law Journal 22 (2016), 448–469. Kulick, Andreas, Rechtsstaatlichkeitskrise und gegenseitiges Vertrauen im institutionellen Gefüge der EU, JuristenZeitung 75 (2020), 223–231. Kullak, Elena Marie, Vertrauen in Europa, Tübingen 2020. Kumm, Mattias/Ferreres Comella, Victor, The Primacy Clause of the Constitutional Treaty, International Journal of Constitutional Law 3 (2005), 473–492. Lackhoff, Klaus, Which credit institutions will be supervised by the single supervisory mechanism?, Journal of International Banking Law and Regulation 28 (2013), 454–462. –, How will the Single Supervisory Mechanism (SSM) Function? A Brief Overview, Journal of International Banking Law and Regulation 29 (2014), 13–28. –, The Framework Regulation (FR) for the Single Supervisory Mechanism (SSM) – an overview, Journal of International Banking Law and Regulation 29 (2014), 498–512. –, Genutzte und ungenutzte Gestaltungsspielräume bei der Errichtung des einheitlichen Aufsichtsmechanismus (EAM), in: Posser, Herbert/Pünder, Hermann/Schröder, Ulrich Jan (Hrsg.), Rechtsgestaltung im öffentlichen Recht: liber amicorum für Dirk Ehlers zum 70. Geburtstag, München 2015, S. 177–192. –, Single supervisory mechanism: European banking supervision by the SSM, München 2017. Łacny, Justyna, Suspension of EU Funds Paid to Member States Breaching the Rule of Law: Is the Commission’s Proposal Legal?, in: von Bogdandy, Armin/Bogdanowicz, Piotr/Canor, Iris/Grabenwarter, Christoph/Taborowski, Maciej/Schmidt, Matthias (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States: Taking Stock of Europe’s Actions, Berlin 2021, S. 269–302.

352

Literaturverzeichnis

–, The Rule of Law Conditionality Under Regulation No 2092/2020 – Is it all About the Money?, Hague Journal on the Rule of Law 13 (2021), 79–105. Ladenburger, Clemens, Evolution oder Kodifikation eines allgemeinen Verwaltungsrechtsin der EU, in: Trute, Hans-Heinrich/Groß, Thomas/Röhl, Hans Christian/Möllers, Christoph (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 107–134. –, The Principle of Mutual Trust between the Member States in the Area of Freedom, Security and Justice Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2020, 373–407. Ladeur, Karl-Heinz, Die Bedeutung eines Allgemeinen Verwaltungsrechts für ein Europäisches Verwaltungsrecht, in: Trute, Hans-Heinrich/Groß, Thomas/Röhl, Hans Christian/Möllers, Christoph (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 795–820. –, Europa kann nur als Netzwerk, nicht als „Superstaat“ gedacht werden, in: Franzius, Claudio/Mayer, Franz/Jürgen, Neyer (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, Baden-Baden 2010, S. 119–134. Ladler, Mona Philomena, Möglichkeiten und Grenzen internationaler Koordinierung am Beispiel institutioneller Finanzaufsicht, in: Grimm, Judith Maria/Ladler, Mona Philomena (Hrsg.), EU-Recht im Spannungsverhältnis zu den Herausforderungen im Internationalen Wirtschaftsrecht, Stuttgart 2012, S. 11–36. –, Finanzmarkt und institutionelle Finanzaufsicht in der EU, Wien 2014. Lastra, Rosa M., International Financial and Monetary Law, 2. Aufl., Oxford 2015. Latzel, Clemens, Die Anwendungsbereiche des Unionsrechts, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2015, 658–664. Laukemann, Björn, Der ordre public im europäischen Insolvenzverfahren, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrecht 2012, 207–215. Lavenex, Sandra, Mutual recognition and the monopoly of force: limits of the single market analogy, Journal of European Public Policy 14 (2007), 762–779. Łazowski, Adam, Strengthening the rule of law and the EU pre-accession policy: Repubblika v. Il-Prim Ministru, Common Market Law Review 59 (2022), 1803–1822. Lehmann, Matthias/Manger-Nestler, Cornelia, Die Vorschläge zur neuen Architektur der europäischen Finanzaufsicht, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2010, 87–92. –, Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem, Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft 2011, 2–24. –, Einheitlicher Europäischer Aufsichtsmechanismus: Bankenaufsicht durch die EZB, Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft 2014, 2–21. Leloup, Mathieu/Kochenov, Dimitry/Aleksejs, Dimitrovs, Opening the door to solving the „Copenhagen dilemma“? All eyes on Repubblika v Il-Prim Ministru, European Law Review 46 (2021), 692–703. Lenaerts, Koen, „In the Union we trust“: Trust-enhancing principles of Community law, Common Market Law Review 41 (2004), 317–343. –, How the ECJ thinks: A study on judicial legitimacy, Fordham International Law Journal 36 (2013), 1302–1371. –, Kooperation und Spannung im Verhältnis von EuGH und nationalen Verfassungsgerichten, Europarecht 2015, 3–28. –, The principle of mutual recognition in the Area of Freedom, Security and Justice, The Fourth Annual Sir Jeremy Lever Lecture vom 30. Januar 2015. –, Die Werte der Europäischen Union in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union: eine Annäherung, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 44 (2017), 639–642.

Literaturverzeichnis

353

–, La vie apre`s l’avis: exploring the principle of mutual (yet not blind) trust, Common Market Law Review 54 (2017), 805–840. –, Limits on Limitations: The Essence of Fundamental Rights in the EU, German Law Journal 20 (2019), 779–793. –, Upholding the Rule of Law through Judicial Dialogue, Yearbook of European Law 38 (2019), 3–17. Lenaerts, Koen/Nuffel, Piet Van, European Union Law, 3. Aufl., London 2011. Lepsius, Oliver, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JuristenZeitung 74 (2019), 793–844. Lesser, Ralf/Nienhoff, Ann-Sophie, Der New Pact on Migration and Asylum, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2021, 139–145. Levits, Egils, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft: Art 2 iVm Art 7 des Vertrages über die Europäische Union als Grundlage und Begrenzung des Staatsordnungsmodells des demokratischen Verfassungsstaates der Mitgliedstaaten, in: Jaeger, Thomas (Hrsg.), Europa 4.0? Die EU im Angesicht politischer und technologischer Herausforderungen, Wien 2018, S. 239–270. Licˇkova´, Magdalena/Martı´nez, Crı´stian Oro´, Mutual Recognition in Civil and Commercial Matters: On Certified Mutual Trust, in: Sa´nchez, Sara Iglesias/Pascual, Maribel Gonza´lez (Hrsg.), Fundamental Rights in the EU Area of Freedom, Security and Justice, Cambridge 2021, S. 179–191. Lienhard, Ulrich, Der mehrstufige gemeinschaftliche Verwaltungsakt am Beispiel der Freisetzungsrichtlinie: Rechtsschutzverkürzung durch europäisches Verwaltungskooperationsrecht im Gentechnikrecht, Zeitschrift für das gesamte Recht zum Schutze der natürlichen Lebensgrundlagen und der Umwelt 2002, 13–17. Loder, Jeff, The Lisbon Strategy and the politicization of EU policy-making: the case of the Services Directive, Journal of European Public Policy 18 (2011), 566–583. Lübbe, Anna, „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2014, 105–111. –, Prinzipien der Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung und Individualrechtsschutz im Dublin-System, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2015, 125–132. –, Kein judikatives Ventil für die dysfunktionale europäische Asylallokation – Anmerkung zu den Urteilen des EuGH vom 26.7.2017, Rs. C-490/16 (A.S./Slowenien) und Rs. C-646/16 (Jafari), Europarecht 2017, 639–648. –, ,Mutual trust‘ und die Folgen des Aufenthaltsbeendigungshandelns, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2017, 674–681. –, Vertrauen oder Realitätskontakt? – Anmerkung zu den Urteilen des EuGH v. 19. März 2019, verb. Rs. C-297/17, C-318/17, C-319/17 u. C-438/17 (Ibrahim) und Rs. C-163/17 (Jawo), Europarecht 2019, 352–360. Ludwigs, Markus, E. I. Grundregeln, in: Dauses, Manfred A./ders. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 54. Aufl., München 2021. –, § 44 Verwaltung als Teil der nationalen Identität, in: Kahl, Wolfgang/ders. (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. II, Heidelberg 2021. Ludwigs, Markus/Pascher, Tobias/Sikora, Patrick, Das Bankenunion-Urteil als judikativer Kraftakt des BVerfG – Wegweisendes zu Kontrollvorbehalten und Europäischen Verwaltungsrecht (Teil I), Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2020, 1–7. –, Das Bankenunion-Urteil als judikativer Kraftakt des BVerfG – Wegweisendes zu Kontrollvorbehalten und Europäischen Verwaltungsrecht (Teil II), Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2020, 85–93.

354

Literaturverzeichnis

Ludwigs, Markus/Schmahl, Stefanie, Die EU zwischen Niedergang und Neugründung: Wege aus der Polykrise – Einführung in die Themen –, in: dies. (Hrsg.), Die EU zwischen Niedergang und Neugründung: Wege aus der Polykrise, Baden-Baden 2020, S. 9–19. Luhmann, Niklas, Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1981. –, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993. –, Vertrauen: ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 5. Aufl., Konstanz 2014. Lührs, Lisa-Marie, Der Vorschlag einer neuen EU-Asyl- und MigrationsmanagementVerordnung – Alter Wein in neuen Schläuchen, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2021, 1329–1335. –, Überstellungsschutz und gegenseitiges Vertrauen, Tübingen 2021. Lutter, Marcus/Bayer, Walter/Schmidt, Jessica, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl., Berlin 2018. Lutz, Peter, Ent-Nationalisierung aus der Perspektive der Aufsichtspraxis, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 2014, 496–507. MacCormick, Neil, Der Rechtsstaat und die rule of law, JuristenZeitung 39 (1984), 65–70. Mader, Oliver, Enforcement of EU Values as a Political Endeavour: Constitutional Pluralism and Value Homogeneity in Times of Persistent Challenges to the Rule of Law, Hague Journal on the Rule of Law 11 (2019), 133–170. –, Rechtsstaatlichkeit und Haushalt: Der Stand des Werteschutzes in der EU nach dem Streit über die Rechtsstaatsverordnung, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2021, 133–142. –, Wege aus der Rechtsstaatsmisere: der neue EU-Verfassungsgrundsatz des Rückschrittsverbots und seine Bedeutung für die Wertedurchsetzung Teil 2, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2021, 974–978. Maduro, Poiares M., So close and yet so far: the paradoxes of mutual recognition, Journal of European Public Policy 14 (2007), 814–825. Magen, Amichai, Cracks in the Foundations: Understanding the Great Rule of Law Debate in the EU, Journal of Common Market Studies 54 (2016), 1050–1061. Mager, Ute, Die europäische Verwaltung zwischen Hierarchie und Netzwerk, in: Trute, Hans-Heinrich/Groß, Thomas/Röhl, Hans Christian/Möllers, Christoph (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 369–398. Maiani, Francesco/Miglionico, Andrea, One principle to rule them all? Anatomy of mutual trust in the law of the Area of Freedom, Security and Justice, Common Market Law Review 57 (2020), 7–44. Majone, Giandomenico, Mutual Trust, Credible Commitments and the Evolution of Rules for a Single European Market, Florenz 1995. Mancano, Leandro, Judicial Harmonisation Through Autonomous Concepts of European Union Law. The Example of the European Arrest Warrant Framework Decision, European Law Review 43 (2018), 69–88. –, You’ll never work alone: A systemic assessment of the European Arrest Warrant and Judicial Independence, Common Market Law Review 58 (2021), 683–718. Mance, Jonathan, Exclusive Jurisdiction Agreements and European ideals, Law Quarterly Review 2004, 357–364. Mandry, Christof, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft in der Spannung zwischen politischer und kultureller Identität, in: Heit, Helmut (Hrsg.), Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU?, Münster 2005, S. 284–294.

Literaturverzeichnis

355

–, Europa als Wertegemeinschaft: eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union, Baden-Baden 2009. Manger-Nestler, Cornelia, Die Bankenunion. Einheitliche Mechanismen zur Bankensicherung und -abwicklung, in: Blanke, Hermann-Josef/Pilz, Stefan (Hrsg.), Die „Fiskalunion“, Tübingen 2014, S. 299–346. –, § 25 Das Recht der Europäischen Währungsunion, in: Müller-Graff, Peter-Christian (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. IV, 2. Aufl., Baden-Baden 2021. Mansel, Heinz-Peter, Anerkennung als Grundprinzip des Europäischen Rechtsraums, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 2006, 651–731. Mansell, Daniel, The European Arrest Warrant and Defence Rights, European Criminal Law Review 2012, 36–46. Marguery, Tony, Rebuttal of Mutual Trust and Mutual Recognition in Criminal Matters: Is ,Exceptional‘ Enough?, European Papers 1 (2016), 943–963. –, Je t’aime moi non plus The Avotin¸sˇ v. Latvia judgment: an answer from the ECrtHR to the CJEU, Review of European Administrative Law 10 (2017), 113–134. –, Towards the end of mutual trust? Prison conditions in the context of the European Arrest Warrant and the transfer of prisoners framework decisions, Maastricht Journal of European and Comparative Law 25 (2018), 704–717. –, Confiance Mutuelle, Reconnaissance Mutuelle et Crise de Valeurs: La Difficile E´quation entre Justice Pe´nale Europe´enne et Diversite´ Nationale, European Papers 5 (2020), 1271–1288. Marin, Luisa, The European Arrest Warrant in the Italian Republic, European Constitutional Law Review 4 (2008), 251–273. –, „Only You“: The Emergence of a Temperate Mutual Trust in the Area of Freedom, Security and Justice and Its Underpinning in the European Composite Constitutional Order, European Papers 2 (2017), 141–157. Marques, Filipe, Rule of law, national judges and the Court of Justice of the European Union: Let’s keep it juridical, European Law Journal 27 (2021), 228–239. Martenczuk, Bernd, Art. 7 EUV und der Rechtsstaatsrahmen als Instrumente der Wahrung der Grundwerte der Union, in: Kadelbach, Stefan (Hrsg.), Verfassungskrisen in der Europäischen Union, Baden-Baden 2018, S. 41–60. Martini, Mario/Weinzierl, Quirin, Nationales Verfassungsrecht als Prüfungsmaßstab des EuGH? Der Vollzug nationalen Rechts durch die EZB und seine ungelösten Folgeprobleme, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2017, 177–183. Martinico, Giuseppe, Taming National Identity: A Systematic Understanding of Article 4.2 TEU, European Public Law 27 (2021), 447–464. Martufi, Adriano, Effective judicial protection and the European arrest warrant: Navigating between procedural autonomy and mutual trust, Common Market Law Review 59 (2022), 1371–1406. Marx, Reinhard, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum Zuständigkeitskriterium illegale Einreise (Art. 10 Verordnung [EG] Nr. 343/2003), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2014, 198–201. Masing, Johannes, § 10 Der Rechtsstatus des Einzelnen im Verwaltungsrecht, in: Voßkuhle, Andreas/Eifert, Martin/Möllers, Christoph (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl., München 2022. Mathisen, Gjermund, Consistency and Coherence as Conditions for Justification of Member State Measures Restricting Free Movement, Common Market Law Review 47 (2010), 1021–1048.

356

Literaturverzeichnis

Matthies, Heinrich, Zur Anerkennung gleichwertiger Regelungen im Binnenmarkt der EG (Art. 100 b EWG-Vertrag), in: Baur, Jürgen F./Hopt, Klaus J. (Hrsg.), Festschrift für Ernst Steindorff zum 70. Geburtstag am 13. März 1990, Berlin 1990, S. 1287–1302. Mavany, Markus, Die europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, Heidelberg 2012. Mayer, Franz, Wer soll Hüter der europäischen Verfassung sein?, Archiv des öffentlichen Rechts 129 (2004), 411–435. –, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 559–607. –, Verfassung im Nationalstaat: Von der Gesamtordnung zur europäischen Teilordnung?, in: Volkmann, Uwe (Hrsg.), Verfassung als Ordnungskonzept, Berlin 2016, S. 7–63. –, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, Neue Juristische Wochenschrift 2017, 3631–3638. –, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft – einüberholtes Narrativ?, in: Franzius, Claudio/ders./Neyer, Jürgen (Hrsg.), Die Neuerfindung Europas, Baden-Baden 2019. Merlingen, Michael/Mudde, Cas/Sedelmeier, Ulrich, The Right and the Righteous? European Norms, Domestic Politics and the Sanctions Against Austria, Journal of Common Market Studies 39 (2001), 59–77. Mestmäcker, Ernst-Joachim Die EU als Rechtsgemeinschaft, in: Behrens, Peter/Kotzur, Markus/Lammers, Konrad (Hrsg.), Sechs Dekaden europaeischer Integration – eine Standortbestimmung, Baden-Baden 2015, S. 31–55. –, Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens – Konzeptualisierung und Zukunftsperspektiven eines neuen Verfassungsprinzips, Europarecht 2017, 163–185. Miasik, Dawid/Szwarc, Monika, Primacy and direct effect – still together: Poplawski II, Common Market Law Review 58 (2021), 571–590. Michaels, Sascha, Anerkennungspflichten im Wirtschaftsverwaltungsrecht der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2004. Michel, Katja, Institutionelles Gleichgewicht und EU-Agenturen: eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der European Banking Authority, Berlin 2015. Millet, Franc¸ois-Xavier, The Protection of Fundamental Rights within the AFSJ: Through or Against Mutual Trust and Mutual Recognition?, in: Sa´nchez, Sara Iglesias/Pascual, Maribel Gonza´lez (Hrsg.), Fundamental Rights in the EU Area of Freedom, Security and Justice, Cambridge 2021, S. 57–74. –, Successfully Articulating National Constitutional Identity Claims: Strait Is the Gate and Narrow Is the Way, European Public Law 27 (2021), 571–596. Misoski, Boban/Rumenov, Ilija, The Effectiveness of Mutual Trust in Civil and Criminal Law in the EU, EU and Comparative Law Issues and Challenges Series 1 (2017), 364–390. Mitsilegas, Valsamis, –, The Constitutional Implications of Mutual Recognition in Criminal Matters in the EU, Common Market Law Review 43 (2006), 1277–1311. –, EU Criminal Law, Oxford 2009. –, The Limits of Mutual Trust in Europe’s Area of Freedom, Security and Justice: From Automatic Inter-State Cooperation to the Slow Emergence of the Individual, Yearbook of European Law 31 (2012), 319–372. –, Solidarity and Trust in the Common European Asylum System, Comparative Migration Studies 2 (2014), 181–202. –, Judicial Concepts of Trust in Europe’s Multi-Level Security Governance, European criminal law and human rights 2015, 90–95.

Literaturverzeichnis

357

–, The Symbiotic Relationship between Mutual Trust and Fundamental Rights in Europe’s Area of Criminal Justice, New Journal of European Criminal Law 6 (2015), 457–480. –, Conceptualising Mutual Trust in European Criminal Law. The Evolving Relationship. Between Legal Pluralism and Rights-Based Justice in the European Union, in: Brouwer, Evelien/Gerard, Damien (Hrsg.), Mapping Mutual Trust: Understanding and Framing the Role of Mutual Trust in EU Law, Florenz 2016, S. 23–36. –, EU Criminal Law after Lisbon: Rights, Trust and the Transformation of Justice in Europe, Oxford 2016. –, Humanizing solidarity in European refugee law: The promise of mutual recognition, Maastricht Journal of European and Comparative Law 24 (2017), 721–739. –, Autonomous concepts, diversity management and mutual trust in Europe’s area of Criminal Justice, Common Market Law Review 57 (2020), 45–78. –, Judicial dialogue, legal pluralism and mutual trust in Europe’s area of criminal justice, European Law Review 46 (2021), 579–606. Mlynarski, Martin, Zur Integration staatlicher und europäischer Verfassungsidentität, Tübingen 2021. Möllering, Guido, Trust: Reason, Routine, Reflexivity, Oxford 2006. Möllers, Christoph, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 227–277. Möllers, Christoph/Schneider, Linda, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, Tübingen 2018. Moloney, Niamh, New frontiers in EC capital markets law: From market construction to market regulation, Common Market Law Review 40 (2003), 809–844. –, EU Financial Market Regulation after the Global Financial Crisis: „More Europe“ or more Risks?, Common Market Law Review 47 (2010), 1317–1383. –, European Banking Union: Assessing its Risks and Resilience, Common Market Law Review 51 (2014), 1609–1670. Monar, Jörg, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 749–797. Montaldo, Stefano, On a Collision Course! Mutual Recognition, Mutual Trust and the Protection of Fundamental Rights, European Papers 1 (2016), 965–996. Moraru, Madalina, ,Mutual Trust‘ from the Perspective of National Courts: a Test in Creative Legal Thinking, in: Brouwer, Evelien/Gerard, Damien (Hrsg.), Mapping Mutual Trust: Understanding and Framing the Role of Mutual Trust in EU Law, Florenz 2016, S. 37–58. Moreno-Lax, Violeta, Mutual (Dis-)Trust in EU Migration and Asylum Law: The Exceptionalisation of Fundamental Rights, in: Sa´nchez, Sara Iglesias/Pascual, Maribel Gonza´lez (Hrsg.), Fundamental Rights in the EU Area of Freedom, Security and Justice, Cambridge 2021, S. 77–99. Morgades-Gil, Sı´lvia, The Discretion of States in the Dublin III System for Determining Responsibility for Examining Applications for Asylum: What Remains of the Sovereignty and Humanitarian Clauses After the Interpretations of the ECtHR and the CJEU?, International Journal of Refugee Law 27 (2015), 433–456. Möstl, Markus, Preconditions and Limits of Mutual Recognition, Common Market Law Review 47 (2010), 405–436.

358

Literaturverzeichnis

Mülbert, Peter O./Sajnovits, Alexander, Vertrauen und Finanzmarktrecht, Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft 2016, 1–51. Müller, Jan-Werner, Should the EU Protect Democracy and the Rule of Law inside Member States?, European Law Journal 21 (2015), 141–160. Müller, Kristina, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Einordnung des neuen EuGHUrteils zum Europäischen Haftbefehl in das grundrechtliche Mehrebenensystem in Europa, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2016, 345–368. Müller-Graff, Peter-Christian, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Lissabonner Reform, Europarecht 2009, Beiheft 1, 105–126. –, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 2012, 72–87. Munoz, Rodolphe, The Development of the Ex-ante Control Mechanism Regarding Implementation of the Internal Market, in: Tridimas, Takis/Nebbia, Paolisa (Hrsg.), European Union Law for the Twenty-First Century: Volume 2, Oxford 2004, S. 103–120. Murphy, Cian C., The European Evidence Warrant: Mutual Recognition and Mutual (Dis)Trust?, in: Eckes, Christina/Konstadinides, Theodore (Hrsg.), Crime within the Area of Freedom, Security and Justice: A European Public Order, Cambridge 2011, S. 224–248. Murswiek, Dietrich, Die heimliche Entwicklung des Unionsvertrages zur europäischen Oberverfassung – Zu den Konsequenzen der Auflösung der Säulenstruktur der Europäischen Union und der Erstreckung der Gerichtsbarkeit des EU-Gerichtshofs auf den EU-Vertrag, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2009, 481–486. Nalewajko, Paweł, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung: Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union?, Berlin 2010. Nanopoulos, Eva, Trust Issues and the European Common Asylum System: Finding the Right Balance Cambridge Law Journal 72 (2013), 276–280. Neßler, Volker, Europäisches Richtlinienrecht wandelt deutsches Verwaltungsrecht: ein Beitrag zur Europäisierung des deutschen Rechts, Heidelberg 1994. –, Der transnationale Verwaltungsakt – Zur Dogmatik eines neuen Rechtsinstituts, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1995, 863–866. Nettesheim, Martin, Grundrechtskonzeptionen des EuGH im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Europarecht 2009, 24–43. –, Überdehnt der EuGH den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens?, Zeitschrift für Europarecht 2018, 4–21. –, Die „Werte der Union“: Legitimitätsstiftung, Einheitsbildung, Föderalisierung, Europarecht 2022, 525–545. Neumann, Kerstin, The supervisory powers of national authorities and cooperation with the ECB – a new epoch of banking supervision, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht-Beilage 2014, 9–14. Nic Shuibhne, Niamh, Primary Laws: Judging Free Movement Restrictions after Lisbon, in: Koutrakos, Panos/dies./Syrpis, Phil (Hrsg.), Exceptions from EU Free Movement Law – Derogation, Justification and Proportionality, Oxford 2016. Nickel, Dietmar, Integrationspolitische Herausforderungen an den Europäischen Rechtsstaat: „Zur Zukunft der europäischen Rechts- und Wertegemeinschaft“, Europarecht 2017, 663–680. Nicolaı¨dis, Kalypso, Trusting the Poles? Constructing Europe through mutual recognition, Journal of European Public Policy 14 (2007), 682–698. Niedernhuber, Tanja, How Much Independence is Necessary to Issue a European Arrest Warrant?, European Criminal Law Review 10 (2020), 5–26.

Literaturverzeichnis

359

Niedobitek, Matthias, Right and duty to pursue the „wrongdoer“ and a possible abuse of Art. 7 TEU, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 233–242. Nussberger, Angelika, Das Tafelsilber des Verfassungsstaats. Rechtsstaatlichkeit als europäischer Grundwert, in: Heinig, Hans-Michael/Schorkopf, Frank (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz: In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik?, Göttingen 2019, S. 191–206. O’Neill, Ruairi, Effet utile and the (re)organisation of national judiciaries: A not so unique institutional response to a uniquely important challenge?, European Law Journal 28 (2022), 240–261. Öberg, Jacob, Subsidiarity and EU Procedural Criminal Law, European Criminal Law Review 5 (2015), 19–45. –, Trust in the Law? Mutual Recognition as a Justification to Domestic Criminal Procedure, European Constitutional Law Review 16 (2020), 33–62. Oeter, Stefan, Föderalismus und Demokratie, in: von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 73–120. Ohler, Christoph, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, München 2015. –, Modelle des Verwaltungsverbunds in der Finanzmarktaufsicht, Die Verwaltung 49 (2016), 309–337. –, § 90 Europäisches Bankenaufsichtsrecht, in: Derleder, Peter/Knops, Kai-Oliver/Bamberger, Heinz Georg (Hrsg.), Deutsches und europäisches Bank- und Kapitalmarktrecht, Bd. II, 3. Aufl., Berlin 2017. –, § 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht, in: Ruffert, Matthias (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. V, 2. Aufl., Baden-Baden 2020. Oliver, Peter/Stefanelli, Justine, Strengthening the Rule of Law in the EU: The Council’s Inaction, Journal of Common Market Studies 54 (2016), 1075–1084. Oppermann, Thomas/Classen, Claus Dieter/Nettesheim, Martin, Europarecht, 9. Aufl., München 2021. Ortino, Matteo, The Role and Functioning of Mutual Recognition in the European Market of Financial Services, The International and Comparative Law Quarterly 56 (2007), 309–338. Östlund, Allison, Effective Judicial Protection – To What Effect and at Whose Service?, European Law Review 47 (2022), 175–199. Ostropolski, Tomasz, The CJEU as a Defender of Mutual Trust, New Journal of European Criminal Law 6 (2015), 166–178. Pache, Eckhard/Groß, Thomas, Zweiter Beratungsgegenstand: Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, in: Bundesstaat und Europäische Union zwischen Konflikt und Kooperation, Berlin 2007, S. 106–215. von Papp, Konstanze, A Federal Question Doctrine for EU Fundamental Rights Law: Making Sense of Articles 51 and 53 of the Charter of Fundamental Rights, European Law Review 43 (2018), 511–533. Payandeh, Mehrdad, Europäischer Haftbefehl und Grundrecht auf ein faires Verfahren – EuGH, Urteil vom 25.7.2018, Rs. C-216/18 PPU, Minister for Justice and Equality/LM, Juristische Schulung 2018, 919–921. –, Das unionsverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip, JurtistenZeitung 61 (2021), 481–489. Pech, Laurent, ,A Union Founded on the Rule of Law‘: Meaning and Reality of the Rule of Law as a Constitutional Principle of EU Law, European Constitutional Law Review 9 (2010), 359–396.

360

Literaturverzeichnis

Pech, Laurent/Ba´rd, Petra, The Commission’s Rule of Law Report and the EU Monitoring and Enforcement of Article 2 TEU Values, Studie vom Februar 2022, PE 727.551. Pech, Laurent/Kochenov, Dimitry, Strengthening the Rule of Law Within the European Union: Diagnoses, Recommendations, and What to Avoid, Reconnect – Reconciling Europe with its Citizens through Democracy and Rule of Law 2019, 1–24. Pech, Laurent/Platon, Se´bastien, Judicial independence under threat: The Court of Justice to the rescue in the ASJP case, Common Market Law Review 55 (2018), 1827–1854. Pech, Laurent/Scheppele, Kim Lane, Illiberalism Within: Rule of Law Backsliding in the EU, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 2017, 3–47. –, Is the Organisation of National Judiciaries a Purely Internal Competence?, Verfassungsblog vom 04. März 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/is-the-organisation-ofnational-judiciaries-a-purely-internal-competence/. Pech, Laurent/Wachowiec, Patryk/Mazur, Dariusz, Poland’s Rule of Law Breakdown: A Five-Year Assessment of EU’s (In)Action, Hague Journal on the Rule of Law 13 (2021), 1–43. Pechstein, Matthias/Nowak, Carsten/Häde, Ulrich (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV, Tübingen 2017 (zitiert als: Bearbeiter, in: Pechstein, Matthias/Nowak, Carsten/Häde, Ulrich (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV). Peers, Steve, Mutual recognition and criminal law in the European Union: Has the Council got it wrong?, Common Market Law Review 41 (2004), 5–36. –, Reconciling the Dublin system with European fundamental rights and the Charter, Journal of the Academy of European Law 15 (2014), 485–494. –, The EU’s Accession to the ECHR: The Dream Becomes a Nightmare, German Law Journal 16 (2015), 213–222. Pernice, Ingolf, Bestandssicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: Bieber, Roland/Widmer, Pierre (Hrsg.), L’ espace constitutionnel europe´en, Zürich 1995, S. 225–264. –, Die horizontale Dimension des Europäischen Verfassungsverbundes, in: Derra, HansJörg (Hrsg.), Freiheit, Sicherheit und Recht: Festschrift für Jürgen Meyer zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2006, S. 359–393. –, Theorie und Praxis des Europäischen Verfassungsverbundes, in: Calliess, Christian (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, Tübingen 2007, S. 61–92. –, Der Schutz nationaler Identität in der Europäischen Union, Archiv des öffentlichen Rechts 136 (2011), 185–221. –, „Die Normativität der Europäischen Verfassung“. Wunschdenken oder Wegweisung der Zukunft?, in: Krüper, Julian/Payandeh, Mehrdad/Sauer, Heiko (Hrsg.), Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung, Tübingen 2019, S. 165–224. –, Der Europäische Verfassungsverbund, Baden-Baden 2020. Peters, Kerstin, Die geplante europäische Bankenunion – eine kritische Würdigung, Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht 2014, 396–404. Petric´, Davor, Dignity, Exceptionality, Trust. EU, Me, Us, European Public Law 26 (2020), 451–476. Peuker, Enrico, Die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften durch Unionsorgane – ein Konstruktionsfehler der europäischen Bankenaufsicht, JuristenZeitung 69 (2014), 764–771. Pizzolla, Agnese, The Role of the European Central Bank in the Single Supervisory Mechanism: A New Paradigm for EU Governance, European Law Review 43 (2018), 3–23.

Literaturverzeichnis

361

Plachta, Michael, European Arrest Warrant: Revolution in Extradition?, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 11 (2003), 178–194. Platon, Se´bastien, Bringing a Knife to a Gunfight, Verfassungsblog vom 11. Juni 2021, abrufbar unter verfassungsblog.de/bringing-a-knife-to-a-gunfight/. Pohjankoski, Pekka, Rule of law with leverage: Policing structural obligations in EU law with the infringement procedure, fines, and set-off, Common Market Law Review 58 (2021), 1341–1364. Pohl, Tobias, Vorbehalt und Anerkennung: der Europäische Haftbefehl zwischen Grundgesetz und europäischem Primärrecht, Baden-Baden 2009. Polakiewicz, Jörg, Verfahrensgarantien im Strafverfahren: Fortschritte und Fehltritte in der Europäischen Rechtssetzung, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2010, 1–14. Popelier, Patricia/Gentile, Giulia/van Zimmeren, Esther, Bridging the gap between facts and norms: mutual trust, the European Arrest Warrant and the rule of law in an interdisciplinary context, European Law Journal 28 (2022), 167–184. Potacs, Michael, Effet utile als Auslegungsgrundsatz, Europarecht 2009, 465–488. –, Wertkonforme Auslegung des Unionsrechts?, Europarecht 2016, 164–175. –, Balancing Values and Interests in the Art. 7 TEU Procedure, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 159–167. Poulou, Anastasia, Soziale Unionsgrundrechte und europäische Finanzhilfe, Tübingen 2017. Pracht, Robert, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 2022. Prechal, Sacha, Mutual Trust Before the Court of Justice of the European Union, European Papers 2 (2017), 75–92. Prete, Luca, Infringement Proceedings in EU law, Alphen aan den Rijn 2017. Priebus, Sonja, The Commission’s Approach to Rule of Law Backsliding: Managing Instead of Enforcing Democratic Values?, Journal of Common Market Studies 60 (2022), 1684–1700. Raitio, Juha, Bemerkungen zur Gleichheit und nationalen Identität der Mitgliedstaaten und dem Rechtsstaatsprinzip – aus der Perspektive Finnlands, Europarecht 2020, 522–535. Rangel de Mesquita, Maria Jose´, European Union values, Rule of Law and the Multiannual Financial Framework 2021–2027, Journal of the Academy of European Law 19 (2018), 287–294. Reding, Viviane, EU-Justizbarometer sinnvoll und wirksam?, Zeitschrift für Rechtspolitik 2014, 30. Reifner, Udo, Europäische Finanzaufsicht und Verbraucherschutz – Wie kann der Schutz der Verbraucherinteressen in die BaFin integriert werden?, Verbraucher und Recht 2011, 410–416. Reimer, Franz, Verfassungsprinzipien: ein Normtyp im Grundgesetz, Berlin 2001. Reinbacher, Tobias, Strafrecht im Mehrebenensystem: Modelle der Verteilung strafrechtsbezogener Kompetenzen, Baden-Baden 2015. Reinbacher, Tobias/Wendel, Mattias, Menschenwürde und Europäischer Haftbefehl: Zum ebenenübergreifenden Schutz grundrechtlicher Elementgarantien im europäischen Auslieferungsverfahren, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 43 (2016), 333–343. Rensmann, Thilo, Grundwerte im Prozeß der europäischen Konstitutionalisierung. Anmerkungen zur Europäischen Union als Wertegemeinschaft aus juristischer Perspektive, in: Blumenwitz, Dieter/Gornig, Gilbert H./Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, Berlin 2005, S. 49–72.

362

Literaturverzeichnis

Repiquet, Mariia Domina, EU Law (MiFID II) and effective regulation: a step towards financial stability?, Maastricht Journal of European and Comparative Law 26 (2019), 833–848. Ress, Georg, Presumption of equivalent protection of EU-law. Zugleich Bespr. v. EGMR Urt. v. 25.3.2021 – 40324/16 u. 12623/17 – Bivolaru u. Moldovan/Frankreich, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2021, 711–714. Reynders, Didier, Neue Impulse für die Rechtsstaatlichkeit in der EU, Recht und Politik 57 (2021), 1–6. Reynolds, Stephanie, Explaining the constitutional drivers behind a perceived judicial preference for free movement over fundamental rights, Common Market Law Review 53 (2016), 643–677. Reyns, Charlotte, Saving Judicial Independence: A Threat to the Preliminary Ruling Mechanism?, European Constitutional Law Review 17 (2021), 26–52. Rizcallah, Cecilia, The challenges to trust-based governance in the European Union: Assessing the use of mutual trust as a driver of EU integration, European Law Journal 25 (2019), 37–56. –, Le principe de confiance mutuelle en droit de l’Union europe´enne: un principe essentiel a` l’e´preuve d’une crise des valeurs, Bruxelles 2020. Rizcallah, Cecilia/Davio, Victor, The Requirement that Tribunals be Established by Law: A Valuable Principle Safeguarding the Rule of Law and the Separation of Powers in a Context of Trust, European Constitutional Law Review 17 (2021), 581–606. Röben, Volker, Judicial Protection as a Meta-norm in the EU Judicial Architecture, Hague Journal on the Rule of Law 12 (2020), 29–62. Röhl, Hans Christian, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, Berlin 2000. –, Konformitätsbewertung im Europäischen Produktsicherheitsrecht, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard/Schöndorf-Haubold, Bettina (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund – Formen und Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit in der EU, Tübingen 2005, S. 153–180. Ronsfeld, Philipp, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen – die Europäische Ermittlungsanordnung, Berlin 2015. Roth, Tilmann, Die indirekte Bankenaufsicht durch die Europäische Zentralbank: eine Untersuchung zur ebenenübergreifenden Zusammenarbeit bei der Beaufsichtigung weniger bedeutender Kreditinstitute im SSM, Baden-Baden 2018. Röttger-Wirtz, Sabrina, Mutual Recognition and the Ever-incomplete Internal Market for Pharmaceuticals, Review of European Administrative Law 13 (2020), 61–87. Rötting, Michael/Lang, Christina, Das Lamfalussy-Verfahren im Umfeld der Neuordnung der europäischen Finanzaufsichtsstrukturen, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2012, 8–14. Royla, Pascal, Grenzüberschreitende Finanzmarktaufsicht in der EG, Berlin 2000. Ruffert, Matthias, Der transnationale Verwaltungsakt, Die Verwaltung 34 (2001), 453–485. –, Von der Europäisierung des Verwaltungsrechts zum Europäischen Verwaltungsverbund, Die öffentliche Verwaltung 2007, 761–769. –, Europarecht: Grundrechtsprüfung beim Europäischen Haftbefehl, Juristische Schulung 2016, 853–855. Ruppel, Nadine, Finanzdienstleistungsaufsicht in der Europäischen Union: institutionell auf dem richtigen Weg?, Tübingen 2015. Rüthers, Bernd/Fischer, Christian/Birk, Axel, Rechtstheorie, 10. Aufl., München 2018.

Literaturverzeichnis

363

Ruthig, Josef, Die EZB in der europäischen Bankenunion, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 178 (2014), 443–484. Sadurski, Wojciech, Adding a Bite to a Bark? A Story of Article 7, the EU Enlargement, and Jörg Haider, Columbia Journal of European Law 16 (2010), 385–426. –, Poland’s Constitutional Breakdown, Oxford 2019. Sa´enz Pe´rez, Cristina, Constitutional identity as a tool to improve defence rights in European criminal law, New Journal of European Criminal Law 9 (2018), 446–463. Safferling, Christoph, Internationales Strafrecht, Berlin 2011. Sanders, Anne/von Danwitz, Luc, Selecting Judges in Poland and Germany: Challenges to the Rule of law in Europe and Propositions for a new Approach to Judicial Legitimacy, German Law Journal 19 (2018), 769–816. Satzger, Helmut, Grund- und menschenrechtliche Grenzen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls? – „Verfassungsgerichtliche Identitätskontrolle“ durch das BVerfG vs. Vollstreckungsaufschub bei „außergewöhnlichen Umständen“ nach dem EuGH, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2016, 514–522. Scarcello, Orlando, Effective judicial protection and procedural autonomy beyond rule of law judgments: Randstad Italia, Common Market Law Review 59 (2022), 1445–1464. Schäfer, Christian, Grundlagen des Europäischen Haftbefehls, Juristische Schulung 2019, 856–858. Schammo, Pierre, § 16 Differentiated Integration and the Single Supervisory Mechanism: Which Way Forward for the European Banking Authority?, in: Birkinshaw, Patrick J./Biondi, Andrea (Hrsg.), Britain Alone! The Implications and Consequences of United Kingdom Exit from the EU, Alphen aan den Rijn 2016. Schenke, Wolf-Rüdiger, Die Bankenaufsicht als Mittel zur Bekämpfung von Finanzkrisen, in: Ziekow, Jan/Seok, Jong Hyun (Hrsg.), Systemkrisen und Systemvertrauen, Berlin 2015, S. 63–78. Scheppele, Kim Lane, Enforcing the basic principles of EU law through systemic infringement actions, in: Closa, Carlos/Kochenov, Dimitry (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union, Cambridge 2016, S. 105–132. Scheppele, Kim Lane/Kelemen, Daniel/Morijn, John, The EU Commission has to Cut Funding to Hungary: The Legal Case, Studie vom 07. Juli 2021. Scheppele, Kim Lane/Pech, Laurent, Is There a Better Way Forward?, Verfassungsblog vom 10. März 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/is-there-a-better-way-forward/. Scheppele, Kim Lane/Pech, Laurent/Kelemen, Daniel, Never Missing an Opportunity to Miss an Opportunity: The Council Legal Service Opinion on the Commission’s EU budget-related rule of law mechanism, Verfassungsblog vom 12. November 2018, abrufbar unter verfassungsblog.de/never-missing-an-opportunity-to-miss-an-opportunit y-the-council-legal-service-opinion-on-the-commissions-eu-budget-related-rule-of-lawmechanism/. Schierholt, Christian, Stellungnahme zum Grünbruch der Europäischen Kommission zur Erlangung verwertbarer Beweise in Strafverfahren aus einem anderen Mitgliedstaat, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2010, 567–568. Schilling, Theodor, Das Exequatur und die EMRK, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2011, 31–40. Schmahl, Stefanie, Filling a Legal Gap? Das neue EU-Monitoring-Verfahren bei Rechtsstaatsdefiziten, in: Calliess, Christian (Hrsg.), Herausforderungen an Staat und Verfassung. Völkerrecht – Europarecht – Menschenrechte; Liber Amicorum für Torsten Stein zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2015, S. 834–855.

364

Literaturverzeichnis

Schmidt, Matthias, Verfassungsaufsicht in der Europäischen Union, Baden-Baden 2021. Schmidt, Matthias/Bogdanowicz, Piotr, The infringement procedure in the rule of law crisis: How to make effective use of Article 258 TFEU, Common Market Law Review 55 (2018), 1061–1100. Schmidt-Aßmann, Eberhard, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht, Deutsches Verwaltungsblatt 1993, 924–936. –, Das Allgemeine Verwaltungsrecht vor den Herausforderungenneuer europäischer Verwaltungsstrukturen, in: Haller, Herbert/Kopetzki, Christian/Novak, Richard/Paulson, Stanley L./Raschauer, Bernhard/Ress, Georg/Wiederin, Ewald (Hrsg.), Staat und Recht: Festschrift für Günther Winkler, Berlin 1997, S. 995–1012. –, Europäische Verwaltung zwischen Kooperation und Hierarchie, in: Cremer, HansJoachim (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts: Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin 2002, S. 1375–1400. –, Strukturen Europäischer Verwaltung und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: Blankenagel, Alexander (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt: Liber Amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2004, S. 395–415. –, Einleitung: Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolledes Europäischen Verwaltungsrechts, in: ders./Schöndorf-Haubold, Bettina (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund – Formen und Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit in der EU, Tübingen 2005, S. 1–23. –, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin 2006. –, Perspektiven der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, 263–283. –, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, Tübingen 2013. Schmidt-Aßmann, Eberhard/Dimitropoulos, Georgios, Vertrauen in und durch Recht, in: Weingardt, Markus A. (Hrsg.), Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, Baden-Baden 2011, S. 129–149. Schmidt-Aßmann, Eberhard/Kaufhold, Ann-Katrin, § 27 Der Verfahrensgedanke im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, in: Voßkuhle, Andreas/Eifert, Martin/Möllers, Christoph (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 3. Aufl., München 2022. Schmidt-Aßmann, Eberhard/Schöndorf-Haubold, Bettina, § 5 Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Voßkuhle, Andreas/Eifert, Martin/Möllers, Christoph (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl., München 2022. Schmitz, Thomas, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte, in: Blumenwitz, Dieter/Gornig, Gilbert H./Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, Berlin 2005, S. 73–98. Schmolke, Klaus Ulrich, Die Einbeziehung des Komitologieverfahrens in den LamfalussyProzess – Zur Forderung des Europäischen Parlaments nach mehr Entscheidungsteilhabe, Europarecht 2006, 432–448. Schneider, Uwe H., Inconsistencies and unsolved Problems in the European Banking Union, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2013, 452–457. Schnyder, Anton K., Europaisches Banken- und Versicherungsrecht: Eine systematischvergleichende Darstellung, Heidelberg 2005. Schoch, Friedrich, Einleitung, in: ders./Schneider, Jens-Peter (Hrsg.), Verwaltungsrecht – Verwaltungsverfahrensgesetz, München 2021 (Stand des Gesamtwerks). Scholtes, Julian, Constitutionalising the end of history? Pitfalls of a non-regression principle for Article 2 TEU, European Constitutional Law Review 19 (2023), 59–87.

Literaturverzeichnis

365

Schönberger, Christoph, Die Europäische Union als Bund: Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, Archiv des öffentlichen Rechts 129 (2004), 81–120. Schöndorf-Haubold, Bettina, Internationale Sicherheitsverwaltung, in: Trute, Hans-Heinrich/Groß, Thomas/Röhl, Hans Christian/Möllers, Christoph (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 575–612. Schorkopf, Frank, Homogenität in der Europäischen Union – Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, Berlin 2000. –, Wertesicherung in der Europäischen Union. Prävention, Quarantäne und Aufsicht als Bausteine eines Rechts der Verfassungskrise?, Europarecht 2016, 147–163. –, Der Wertekonstitutionalismus der Europäischen Union, JuristenZeitung 75 (2020), 477–485. –, Mutual Recognition of Driving Licences in the EUV – Current State of Integration and Perspectives, Review of European Administrative Law 13 (2020), 37–60. Schroeder, Werner, The European Union and the Rule of Law – State of Affairs and Ways of Strengthening, in: ders. (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, Oxford 2016, S. 3–34. Schuster, Gunnar, The banking supervisory competences and powers of the ECB, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht-Beilage 2014, 3–9. Schuster, Ulrike, Das Kohärenzprinzip in der Europäischen Union, Baden-Baden 2017. Schwärtz, Ivo E., 30 Jahre EG-Rechtsangleichung, in: Mestmäcker, Ernst-Joachim (Hrsg.), Eine Ordnungspolitik für Europa: Festschrift für Hans von der Groeben zu seinem 80. Geburtstag, Baden-Baden 1987, S. 333–368. Schwarz, Michael, Grundlinien der Anerkennung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Tübingen 2016. –, Let’s talk about trust, baby! Theorizing trust and mutual recognition in the EU’s area of freedom, security and justice, European Law Journal 24 (2018), 124–141. Schwarze, Jürgen/Becker, Ulrich/Hatje, Armin/Schoo, Johann (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl., Baden-Baden 2019 (zitiert als: Bearbeiter, in: J. Schwarze u.a. (Hrsg.), EUKommentar). Schwetz, Florian, Grenzüberschreitende Verwaltungsakte, Tübingen 2021. Schwind, Manuel P., Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, Tübingen 2017. Seibert-Fohr, Anja, European Standards for the Rule of Law and Independent Courts, Journal für Rechtspolitik 2012, 161–169. Sˇelih, Jasna/Bond, Ian/Dolan, Carl, Can EU funds promote the rule of law in Europe?, Centre for European Reform 2017, 1–14. Senden, Linda, Soft law in European Community Law, Oxford 2004. Seyr, Sibylle, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, Berlin 2008. Sharma, Geetanjali, The Court of Justice as an Actor in the Migration Crisis, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2019, 197–218. Shirvani, Foroud, Haftungsprobleme im Europäischen Verwaltungsverbund, Europarecht 2011, 619–635. Shuibhne, Niamh Nic, Margins of Appreciation: National Values, Fundamental Rights and EC Free Movement Law, European Law Review (2009), 230–256. Shuibhne, Niamh Nic/Maci, Marsela, Proving public interest: The growing impact of evidence in free movement case law, Common Market Law Review 50 (2013), 965–1005. Sieber, Ulrich, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts: Ein neuer Ansatz zu den Zielen und Modellen des europäischen Strafrechtssystems, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 2009, 1–67.

366

Literaturverzeichnis

Siegel, Thorsten, Entscheidungsfindung im Verwaltungsverbund, Tübingen 2009. Simantiras, Nikolaos I., Netzwerke im europäischen Verwaltungsverbund, Tübingen 2016. Simmel, Georg, Soziologie, Berlin 1908. Simon, Sven, Rechtskulturelle Differenzen in Europa, Archiv des öffentlichen Rechts 143 (2018), 597–622. Skouris, Vassilios, Die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union, Europarecht 2015, Beiheft 2, 9–17. –, Demokratie und Rechtsstaat – Europäische Union in der Krise?, München 2018. Smith, Karen E., The Evolution and Application of EU Membership Conditionality, in: Cremona, Marise (Hrsg.), The enlargement of the European Union, Oxford 2003, S. 105–140. Smith, Melanie, Staring into the abyss: A crisis of the rule of law in the EU, European Law Journal 25 (2019), 561–576. Smulders, Ben, Increasing convergence between the European court of Human Rights and the Court of Justice of the European Union in their recent case law on judicial independence: The case of irregular judicial appointments, Common Market Law Review 59 (2022), 105–128. Snell, Jukka, The Single Market: does Mutual Trust Suffice?, in: Brouwer, Evelien Renate/ Gerard, Damien (Hrsg.), Mapping mutual trust understanding and framing the role of mutual trust in EU law, Florenz 2016, S. 11–14. Speer, Benedikt, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft – Wert- und rechtskonformes Verhalten als konditionierendes Element der Mitgliedschaft, Die öffentliche Verwaltung 2001, 980–987. Spieker, Luke D., Framing and managing constitutional identity conflicts: How to stabilize the modus vivendi between the Court of Justice and national constitutional courts, Common Market Law Review 57 (2020), 361–398. –, Defending Union Values in Judicial Proceedings. On How to Turn Article 2 TEU into a Judicially Applicable Provision, in: von Bogdandy, Armin/Bogdanowicz, Piotr/Canor, Iris/Grabenwarter, Christoph/Taborowski, Maciej/Schmidt, Matthias (Hrsg.), Defending Checks and Balances in EU Member States: Taking Stock of Europe’s Actions, Berlin 2021, S. 237–268. –, The conflict over the Polish disciplinary regime for judges – An acid test for judicial independence, Union values and the primacy of EU law: Commission v. Poland, Common Market Law Review 59 (2022), 777–812. –, Werte, Vorrang, Identität: Der Dreiklang europäischer Justizkonflikte vor dem EuGH, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2022, 305–313. Stäsche, Uta, Europäischer Rechtsstaat als Spielball der EU-Institutionen? Zum Umgang mit der Haushaltskonditionalität am Beispiel der Rechtsstaatlichkeitsverletzungen in Polen und Ungarn, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2021, 561–616. S¸tefan, Oana, Soft Law and the Enforcement of EU Law, in: Jakab, Andra´s/Kochenov, Dimitry (Hrsg.), The Enforcement of EU Law and Values, Oxford 2017, S. 200–217. Stelkens, Paul, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, in: ders./Bonk, Heinz J./Sachs, Michael (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl., München 2018. Storskrubb, Eva, Mutual Trust and the Limits of Abolishing Exequatur in Civil Justice, in: Brouwer, Evelien/Gerard, Damien (Hrsg.), Mapping Mutual Trust: Understanding and Framing the Role of Mutual Trust in EU Law, Florenz 2016, S. 15–22. –, Mutual Trust and the Dark Horse of Civil Justice, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 20 (2018), 179–201.

Literaturverzeichnis

367

–, Mutual Trust in Civil Justice Cooperation in the EU, in: Bakardjieva Engelbrekt, Antonia/Bremberg, Niklas/Michalski, Anna/Oxelheim, Lars (Hrsg.), Trust in the European Union in Challenging Times, Oxford 2019, S. 159–180. Stotz, Rüdiger, Aktuelle Rechtsprechung zur EU-Charta der Grundrechte, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2017, 259–281. Streinz, Rudolf, Die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten und das Recht der Europäischen Union, in: Stumpf, Cordula/Kainer, Friedemann/Baldus, Christian (Hrsg.), Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungsrecht: Privatinitiative und Gemeinwohlhorizonte in der europäischen Integration: Festschrift für Peter-Christian Müller-Graff zum 70. Geburtstag am 29. September 2015, Baden-Baden 2015, S. 1193–1206. –, (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl., München 2018 (zitiert als: Bearbeiter, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV). Sujecki, Bartosz, Die Möglichkeiten und Grenzen der Abschaffung des ordre publicVorbehalts im Europäischen Zivilprozessrecht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2008, 458–479. Suominen, Annika, Limits of mutual recognition in cooperation in criminal matters within the EU – especially in light of recent judgments of both European Courts, European Criminal Law Review 2014, 210–235. Swoboda, Sabine, Definitionsmacht und ambivalente justizielle Entscheidungen: Der Dialog der europäischen Gerichte über Grundrechtsschutzstandards und Belange der nationalen Verfassungsidentität, Zeitschrift für Internationale Strafrechtswissenschaft 2018, 276–295. Sydow, Gernot, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, Tübingen 2004. Sydow, Jörg, How Can Systems Trust Systems? A Structuration Perspective on TrustBuilding in Inter-Organizational Relations, in: Bachmann, Reinhard/Zaheer, Akbar (Hrsg.), Handbook of Trust Research, Cheltenham 2006, S. 377–392. Symann, Malte, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, Tübingen 2021. Sztompka, Piotr, Trust: A Sociological Theory, Cambridge 1999. Temple Lang, John, The principle of loyal cooperation and the role of the national judge in Community, union and EEA law, Academy of European Law Forum 7 (2006), 476–501. Terhechte, Jörg Philipp, Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Rechtsgemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag?, Europarecht 2008, 143–189. Thiele, Alexander, Finanzaufsicht, Tübingen 2014. –, Kontinuität und Wandel der Finanzaufsichts- und Finanzmarktregulierungsstrukturen, in: Manger-Nestler, Cornelia/Gramlich, Ludwig (Hrsg.), Kontinuität und Wandel bei europäisierten Aufsichts- und Regulierungsstrukturen, Baden-Baden 2016, S. 125–142. Thiele, Christian, Anderweitige Rechtshängigkeit im Europäischen Zivilprozessrecht – Rechtssicherheit vor Einzelfallgerechtigkeit, Recht der Internationalen Wirtschaft 2004, 285–288. Thunberg-Schunke, Malin, Whose responsibility? a study of transnational defence rights and mutual recognition of judicial decisions within the EU, Cambridge 2013. Thwaites, Nadine, Mutual Trust in Criminal Matters: the European Court of Justice gives a first interpretation of a provision of the Convention implementing the Schengen Agreement, German Law Journal 4 (2003), 253–262. Thym, Daniel, Menschenrechtliche Feinjustierung des Dublin-Systems zur Asylzuständigkeitsabgrenzung – Zu den Folgewirkungen des Straßburger M.S.S.-Urteils, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2011, 368–378.

368

Literaturverzeichnis

–, The „Refugee Crisis“ as a Challenge of Legal Design and Institutional Legitimacy, Common Market Law Review 53 (2016), 1545–1574. –, Die Flüchtlingskrise vor Gericht – Zum Umgang des EuGH mit der Dublin III-Verordnung, Deutsches Verwaltungsblatt 2018, 276–284. –, Rücküberstellung von anerkannten Schutzberechtigten innerhalb der EU, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2018, 609–614. Tichy´, Lubosˇ, The nature and the requirements for liability of a Member State under Article 7 TEU, Die Verwaltung 2018, Beiheft 1, 87–108. Toggenburg, Gabriel/Grimheden, Jonas, Managing the Rule of Law in a Heterogeneous Context: A Fundamental Rights Perspective on Ways Forward, in: Schroeder, Werner (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe, Oxford 2016, S. 221–240. –, The Rule of Law and the Role of Fundamental Rights: Seven Practical Pointers, in: Closa, Carlos/Kochenov, Dimitry (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union, Cambridge 2016, S. 147–171. Tönningsen, Gerrit, Grenzüberschreitende Bankenaufsicht in der Europäischen Union, Tübingen 2018. Torres Pe´rez, Aida, From Portugal to Poland: The Court of Justice of the European Union as watchdog of judicial independence, Maastricht Journal of European and Comparative Law 27 (2020), 105–119. –, Rights and Powers in the European Union: Towards a Charter that is Fully Applicable to the Member States?, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 22 (2020), 279–300. Trauner, Florian, Das neue EU-Migrations- und Asylpaket: Wird es zu mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten führen?, Integration 2021, 40–52. Tridimas, Takis, Knocking on Heaven’s Door: Fragmentation, Efficiency and Defiance in the Preliminary Reference Procedure, Common Market Law Review 40 (2003), 9–50. –, The General Principles of EU law, 2. Aufl., Oxford 2006. –, Editorial Note: Recovery Plan and Rule of Law Conditionality: A New Era Beckons?, Croatian Yearbook of European Law and Policy 16 (2020), VII-XXI. Tröger, Tobias, Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus (SSM) – Allheilmittel oder quacksalberische Bankenregulierung?, Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft 2013, 373–436. –, Organizational Choices of Banks and the Effective Supervision of Transnational Financial Institutions, Texas International Law Journal 48 (2013), 177–221. –, Anmerkung zu EuG T-122/15, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2017, 461–472. Trute, Hans Heinrich, § 9 Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Voßkuhle, Andreas/Eifert, Martin/Möllers, Christoph (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl., München 2022. Tsourdi, Evangelia, Asylum in the EU: One of the Many Faces of Rule of Law Backsliding?, European Constitutional Law Review 17 (2021), 471–497. Tuori, Kaarlo, From Copenhagen to Venice, in: Closa, Carlos/Kochenov, Dimitry (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union, Cambridge 2016, S. 225–246. Tusch, Sebastian/Herz, Benjamin, Die Entwicklung des europäischen Bankaufsichtsrechts in den Jahren 2014/2015, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2015, 814–821. Ullerich, Robert, Rechtsstaat und Rechtsgemeinschaft im Europarecht: eine dogmatische und terminologische Untersuchung der europäischen Verträge und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – zugleich eine Gegenüberstellung zum Bundesverfassungsrecht, Baden-Baden 2011.

Literaturverzeichnis

369

Vachudova, Milada Anna/Spendzharova, Aneta, The EU’s Cooperation and Verification Mechanism: Fighting Corruption in Bulgaria and Romania after EU Accession, European Policy Analysis 1 (2012), 1–20. van Ballegooij, Wouter/Ba´rd, Petra, Mutual Recognition and Individual Rights: did the Court get it right?, New Journal of European Criminal Law 7 (2016), 439–464. van den Brink, Tobias, Horizontal Federalism, Mutual Recognition and the Balance Between Harmonization, Home State Control and Host State Autonomy, European Papers 1 (2016), 921–941. van Elsuwege, Peter/Gremmelprez, Femke, Protecting the Rule of Law in the EU Legal Order: A Constitutional Role for the Court of Justice, European Constitutional Law Review 16 (2020), 8–32. Van Rompuy, Ben, Independence as a Prerequisite for Mutual Trust between EU Competition Enforcers: Case T-791/19, Sped-Pro v Commission, Journal of European Competition Law & Practice 13 (2022), 1–3. van Sliedregt, Elies, The European Arrest Warrant: Between Trust, Democracy and the Rule of Law, European Constitutional Law Review 3 (2007), 244–252. Vassileva, Radosveta, Threats to the Rule of Law; The Pitfalls of the Cooperation and Verification Mechanism, European Public Law 26 (2020), 741–768. Vavoula, Niovi, Information Sharing in the Dublin System: Remedies for Asylum Seekers In-Between Gaps in Judicial Protection and Interstate Trust, German Law Journal 22 (2021), 391–415. Vedder, Christoph/Heintschel von Heinegg, Wolff (Hrsg.), EUV, AEUV, GRCh, EAGV: Handkommentar: mit den vollständigen Texten der Protokolle und Erklärungen, 2. Aufl., Baden-Baden 2018 (zitiert als: Bearbeiter, in: C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), EUV/AEUV/GRCh/EAGV). Verdier, Pierre-Hugues, Mutual Recognition in International Finance, Harvard International Law Journal 52 (2011), 56–108. Vernimmen-Van Tiggelen, Gisele/Surano, Laura/Weyembergh, Anne (Hrsg.), The future of mutual recognition in criminal matters in the European Union, Bruxelles 2009. Verschueren, Herwig, The CJEU’s case law on the role of posting certificates: A missed opportunity to combat social dumping, Maastricht Journal of European and Comparative Law 27 (2020), 484–502. VitÀ a˘, Viorica, Revisiting the Dominant Discourse on Conditionality in the EU: The Case of EU Spending Conditionality, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 19 (2017), 116–143. von der Groeben, Hans/Schwarze, Jürgen/Hatje, Armin (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl., München 2015 (zitiert als: Bearbeiter, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), EU-Recht). Vossen, Konrad, Rechtsschutz in der europäischen Bankenaufsicht, Tübingen 2020. Voßkuhle, Andreas, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2010, 1–8. –, Die Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, Köln 2018. –, Rechtsstaat und Demokratie, Neue Juristische Wochenschrift 2018, 3154–3158. –, Rechtspluralismus als Herausforderung – Zur Bedeutung des Völkerrechts und der Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 79 (2019), 481–501. –, § 59 Europäische Rechtsgemeinschaft – Konzept und praktische Umsetzung, in: Kahl, Wolfgang/Ludwigs, Markus (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. III, Heidelberg 2022.

370

Literaturverzeichnis

Wagner, Rolf, Zwanzig Jahre justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen, Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2019, 185–200. Wahl, Nils/Prete, Luca, The Gatekeepers of Article 267 TFEU: On Jurisdiction and Admissibility of References for Preliminary Rulings, Common Market Law Review 55 (2018), 511–548. Wahl, Thomas, The perception of the principle of mutual recognition of judicial decisions in criminal matters in Germany, in: Vernimmen-Van Tiggelen, Gisele/Surano, Laura/ Weyembergh, Anne (Hrsg.), The future of mutual recognition in criminal matters in the European Union, Bruxelles 2009, S. 115–146. Walla, Fabian, § 11 Kapitalmarktaufsicht in Europa, in: Veil, Rüdiger (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, 2. Aufl., Tübingen 2014. Warin, Catherine, A Dialectic of Effective Judicial Protection and Mutual Trust in the European Administrative Space: Towards the Transnational Judicial Review of Manifest Error?, Review of European Administrative Law 13 (2020), 7–31. Weatherill, Stephen, Compulsory Notification of Draft Technical Regulations: The Contribution of Directive 83/189 to the Management of the Internal Market, Yearbook of European Law 16 (1996), 129–204. –, Promoting the Consumer Interest in an Integrated Services Market, Mitchell Working Paper Series 2007, 1–18. –, The internal market as a legal concept, Oxford 2017. –, The principle of mutual recognition: it doesn’t work because it doesn’t exist, European Law Review 43 (2018), 224–233. Weber, Albrecht, Berufsausbildung und Berufszugang für Juristen im EG-Binnenmarkt, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1990, 1–8. –, Europäisches Rechtsdenken in der Krise?, Die öffentliche Verwaltung 2017, 741–748. Weber, Ferdinand, Die Identität des Unionsrechts im Vorrang, JuristenZeitung 77 (2022), 292–301. –, The pluralism of values in an identity-framed Verbund: federal belonging in the European Unions after the rule of law conditionality judgments, European Law Review 47 (2022), 514–533. Wedel, Dirk/Holznagel, Ina, Leitlinien zur Sicherung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft. Vorschlag für eine praxisgerechte Beschränkung des externen Weisungsrechts, Zeitschrift für Rechtspolitik 2020, 143–148. Wehmhörner, Christian, Das BVerfG, der EuGH und die Europäische Bankenunion, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, 342–347. Weiler, Joseph H. H., In defence of the Status quo: Europe’s constitutional Sonderweg, in: ders./Wind, Marlene (Hrsg.), European constitutionalism beyond the state, Cambridge 2003, S. 7–26. Weilert, A. Katarina, Vertrauen ist gut. Ist Recht besser?, in: Weingardt, Markus A. (Hrsg.), Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, Baden-Baden 2011, S. 105–128. Weingardt, Markus A. (Hrsg.), Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, Baden-Baden 2011. Weiss, Alba Herna´ndez, Effective protection of rights as a precondition to mutual recognition: Some thoughts on the CJEU’s Gavanozov II decision, New Journal of European Criminal Law 13 (2022), 180–197. Weiß, Wolfgang, Der Europäische Verwaltungsverbund, Berlin 2010. –, Zur Reform des Dublin-Systems angesichts seiner Dysfunktionalität – Über Buchstabe und Geist einer Regelung –, Zeitschrift für europarechtliche Studien 2019, 113–146.

Literaturverzeichnis

371

Weller, Matthias, Mutual Trust: in search of the Future of European Union Private International Law, Journal of Private International Law 11 (2015), 64–102. Wenander, Henrik, Recognition of Foreign Administrative Decisions – Balancing International Cooperation, National Self-Determination, and Individual Rights, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 71 (2011), 755–785. –, Sincere Cooperation, Mutual Trust, and Mutual Recognition in Social Security Coordination, Review of European Administrative Law 13 (2020), 89–108. Wendel, Mattias, Menschenrechtliche Überstellungsverbote: Völkerrechtliche Grundlagen und verwaltungsrechtliche Konkretisierung, Deutsches Verwaltungsblatt 2015, 731–741. –, Asylrechtlicher Selbsteintritt und Flüchtlingskrise. Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen administrativer Entscheidungsspielräume im Mehrebenensystem, JuristenZeitung 71 (2016), 332–341. –, The Refugee Crisis and the Executive: On the Limits of Administrative Discretion in the Common European Asylum System, German Law Journal 17 (2016), 1005–1032. –, Auslieferung und Rechtsstaatlichkeitskrise, Deutsche Richterzeitung 2018, 176–179. –, Mutual Trust, Essence and Federalism – Between Consolidating and Fragmenting the Area of Freedom, Security and Justice after LM, European Constitutional Law Review 15 (2019), 17–47. –, Rechtsstaatlichkeitsaufsicht und gegenseitiges Vertrauen – Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 25.7.2018, Rs. C-216/18 PPU (Minister for Justice and Equality gegen LM), Europarecht 2019, 111–132. Wennera˚s, Pa˚l, A new dawn for Commission enforcement under Articles 226 and 228 EC: General and persistent (gap) infringements, lump sums and penalty payments, Common Market Law Review 43 (2006), 31–62. Willems, Auke, Mutual trust as a term of art in EU criminal law: revealing its hybrid character, European Journal of Legal Studies Articles 9 (2016), 211–249. –, The Court of Justice of the European Union’s Mutual Trust Journey in EU Criminal Law: From a Presumption to (Room for) Rebuttal, German Law Journal 20 (2019), 468–495. –, The Principle of Mutual Trust in EU Criminal Law, Oxford 2021. Williams, Andrew, The indifferent gesture: Article 7 TEU, the Fundamental Rights Agency, and the U.K.’s invasion of Iraq, European Law Journal 31 (2006), 3–27. Winkelmüller, Michael, Verwaltungskooperation bei der Wirtschaftsaufsicht im EG-Binnenmarkt, München 2002. Wischmeyer, Thomas, Generating Trust Through Law? Judicial Cooperation in the European Union and the „Principle of Mutual Trust“, German Law Journal 17 (2016), 339–382. Witte, Andreas, The Application of National Banking Supervision Law by the ECB: Three Parallel Modes of Executing EU Law, Maastricht Journal of European and Comparative Law 21 (2014), 89–109. –, Die Architektur des einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus und die Bedeutung administrativer Widerspruchsverfahren im europäischen Prozessrecht – Anmerkung zum Urteil des Gerichts der EU vom 16.5.2017 in der Rs. T-122/15 (L-Bank), Europarecht 2017, 648–657. –, Avoiding lacunae for judicial review in the interplay between national and Union law in the banking union – notes on the judgment of the Court of Justice in joined cases C-663/17 P, C-665/17 P and C-669/17 P Trasta Komercbanka, European Law Review 45 (2020), 569–584.

372

Literaturverzeichnis

Wohlfahrt, Christian, Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts, Berlin 2016. Wolfers, Benedikt/Voland, Thomas, Europäische Zentralbank und Bankenaufsicht – Rechtsgrundlage und demokratische Kontrolle des Single Supervisory Mechanism, Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht 2014, 177–185. Wolff, Ann-Katrin, Cooperation Mechanisms within the Administrative Framework of European Financial Supervision, Baden-Baden 2019. Wouters, Jan, Revisiting Art. 2 TEU: A True Union of Values?, European Papers 5 (2020), 255–277. –, Von der Rechtsgemeinschaft zur Verweigerungsunion?, Europarecht 2019, 557–577. Wymeersch, Eddy, The European Banking Union, a First Analysis, Financial Law Institute Working Paper Series WP 2012–07, 1–26. Xanthopoulou, Ermioni, Fundamental Rights and Mutual Trust in the Area of Freedom, Security and Justice, Oxford 2020. –, Mutual trust and rights in EU criminal and asylum law: Three phases of evolution and the uncharted territory beyond blind trust, Common Market Law Review 55 (2018), 489–509. Zeder, Fritz, Europastrafrecht im Wandel, Journal für Rechtspolitik 2009, 172–189. Zilinksy, Marek, Mutual Trust and Cross-Border Enforcement of Judgments in Civil Matters in the EU: Does the Step-by-Step Approach Work?, Netherlands International Law Review 64 (2017), 115–139. Zimmermann, Frank, Strafgewaltkonflikte in der Europäischen Union, Baden-Baden 2014. Zimmermann, Frank/Glaser, Sanja/Motz, Andreas, Mutual Recognition and its Implications for the Gathering of Evidence in Criminal proceedings: a Critical Analysis of the Initiative for a European Investigation Order, European Criminal Law Review 2011, 55–79. Zinonos, Panagiotis, Judicial Independence & National Judges in the Recent Case Law of the Court of Justice, European Public Law 25 (2019), 615–636. –, Revisiting the EU Legal System: Substantive & Procedural Loyalty for the Judicial Enforcement of the Rule of Law, European Public Law 27 (2021), 383–402. Zuleeg, Manfred, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, Europarecht 2000, 2846–2851. –, Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Union, Baden-Baden 2004.

Sachregister Akkreditierung 27 f. Anwendungsbereich – der GRCh 314 f. – des Unionsrechts 228, 274, 286, 315 – von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV 241, 313 Anzeigeverfahren 141 f., 155 f., 161, 330 Aranyosi-Test 67 ff., 110 f., 201, 266 ff., 333 Aufsichtskollegien 128, 131 ff., 143, 146, 148, 160 Aufsichtsmodell 117, 122 f., 126, 128, 133, 135, 146, 160, 179 Aussetzung von Zahlungen 296 Berücksichtigungspflicht 68 Beweislastumkehr 271f., 333 Bindungswirkung 141, 220, 298 – der Entsendebescheinigung 21, 23 ff. – verfassungsrechtlicher Entscheidungen 253 ff. Bosphorus-Vermutung 100 ff. Cassis-de-Dijon-Doktrin 11 ff., 119 dezentraler Vollzug 176, 179, 183, 239 Durchsetzung – der Rechtsstaatlichkeit 240, 254, 282, 318 – der Unionswerte 2, 256, 303, 306, 326 f., 332 – des Unionsrechts 232, 238 f., 297, 303, 307 – ~smechanismen 26, 174, 284, 288, 297, 317 effektiver Rechtsschutz 37, 43, 63 ff., 109, 111, 223, 238, 313, 318, 321

Einheit 3, 11, 65, 150 f., 172, 195, 199, 204, 206, 213, 220, 239, 252, 331 eklatante Rechtsverweigerung 107 EMRK-Beitrittsgutachten 1, 35 ff., 102, 114, 330, 393 Ermessensklausel 90, 95 ESIF-Dachverordnungen 300 ff. Europäische Ermittlungsanordnung 74 f. europäische Identität 206, 227 Europäischer Pass 118 ff., 129 ff., 141 ff., 157, 179 Europäischer Verwaltungsverbund 28, 145, 149 ff., 159, 177, 218 extraterritoriale Wirkung – von Art. 36 AEUV 20 – von Gerichtsentscheidungen 238 finanzielle Interessen der EU 192, 289, 296, 300, 302 Föderalismus 199, 202 Funktionenteilung 200 Funktionsstörungen 86, 264 Gegenseitige Anerkennung 1, 6, 9 ff., 15 ff., 36 ff., 49 ff., 73 ff., 177 f., 180 ff., 214 f. – negative ~ 84 Gerichtsorganisation 228, 324 Gleichheit der Mitgliedstaaten 187 ff., 252 Gleichwertigkeit – der mitgliedstaatlichen Regelungen 12, 177 ff. – der nationalen Aufsichtssysteme 120, 133, 146 – der nationalen Rechtsordnungen/Rechtssysteme 3, 32, 75, 114, 167 f., 179 ff., 188, 204, 216, 329 f. – Vermutung der ~ 48

374

Sachregister

– der nationalen Entscheidungen 182 Grundrechtseinhaltung 98, 112, 115, 175, 184 Grundrechtsschutz 16, 38, 53, 65, 72, 87, 102, 105, 107, 154, 203, 213, 324, 330 – nationaler ~ als Grenze des Vertrauensgrundsatzes 65 f. – offensichtlich unzureichender ~ 100, 103 – unionaler ~ als Grenze des Vertrauensgrundsatzes 3, 66 ff., 109 ff. Grundsatz der Gewaltenteilung 238, 256, 269, 312, 314 Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit 14, 15, 23 f., 68, 72 f., 7, 128, 131, 141, 146, 153, 155, 189 ff., 205, 212, 220, 239, 280, 286, 305, 316, 325, 331 Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie 64 f., 128, 135, 199 f., 220, 255 f., 262 Grundsatz der Nichtzurückweisung 83 Haftbedingungen 67 ff., 103, 105, 110, 265 Harmonisierung 11 ff., 26, 31, 50, 56, 180, 200, 216, 221 Harmonisierung 11 ff., 26, 31, 50, 56, 180, 200, 216, 221 Herkunftslandprinzip 13 Horizontaler Solange-Vorbehalt 112. ff., 330 Identitätsgarantie 205, 211, 213 Identitätswahrung der Mitgliedstaaten 209 ff. Informationsaustausch 20, 43, 83, 128, 147, 154, 160, 169, 217 ff., 332 institutionelles Gleichgewicht 298, 306 f. Internationaler Schutz 81 ff. Justiziabilität 228, 245 – der Unionswerte 228 – der Rechtsstaatlichkeit 304 ff. Kompetenzüberschreitung 77

Konditionalitätsmechanismus 4, 192, 289 ff., 327, 333 Kongruenz 78, 146, 216, 219, 225 Kontrolldichte 235, 270, 310, 327 Kontrolle 1, 21, 36, 60, 64, 70, 74, 89, 109, 128, 219 ff., 235, 301 f., 327 – gerichtliche 4, 64, 89, 152, 229, 231, 236 f., 239, 241, 245, 301, 307 – politische 157 f., 161, 248 f., 269 Kontrollmechanismen 100 f., 216, 219 f. Kontrollverzicht(e) 41 ff., 48, 56, 114, 176, 182 f., 188, 195, 197, 208, 330 f. Kooperations- und Kontrollverfahren (CVM) 234 Kopenhagen-Dilemma 236 f. Kopenhagener Kriterien 233 f., 236 f. Letztentscheidungsbefugnis 99, 212 Loyalitätsgrundsatz/Loyalitätsprinzip siehe Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Maximalübertragungsverbot 136 Mehrebenensystem 4, 112, 128, 134, 199, 202, 205 f. mehrstufiges Verfahren 140, 160 Misstrauen 17, 171 f., 219 Nachprüfungsverbot 40 f., 75, 80, 180 nationale Diversität 14 nationale Identität 16 siehe auch Verfassungsidentität Ne-bis-in-idem-Grundsatz 49, 55 Netzwerk 28, 30, 132 f, 147, 218 f., 286 Operationalisierung der europäischen Rechtsstaatlichkeit 231, 239, 313 Ordre-public-Vorbehalt 41, 44 f., 46, 52 f. – unionsrechtlicher ~ 208 ff., 270 Parteienfinanzierung 287 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 191, 200, 255, 262, 274, 281, 310 f., 326 Prozeduralisierung 238, 257, 332 Recht auf faires Verfahren 24, 44, 70, 72, 111, 231, 240, 268, 270

Sachregister Rechtsaufsicht 127, 153 f., 160 – ~sunion 328, 333 Rechtsbrüche 176, 219, 262, 267 Rechtspluralismus 50, 204 f. Rechtsstaatlichkeitsaufsicht 273, 283, 328, 333 rechtsstaatsbezogene Mangel 273, 278 Rechtsstaatsverordnung 4, 192, 288 ff., 317, 328 Rechtstreue 97, 167, 176, 183, 192, 200 f., 331 – Unions~ 1, 85, 117, 146, 154, 167 f., 172, 193, 199, 208, 214, 223, 259, 273, 280, 297, 303, 330 – Vermutung der ~ 17, 86, 99, 114, 117, 154, 180, 182, 188, 190, 203 Rechtsverstoß 19, 173, 261 f. – Grund~ 41, 54, 110 – Unions~ 300, 308 Rückschrittsverbot 114, 187, 209, 236 ff., 256, 305, 310, 312, 315 f., 332 Selbsteintrittsrecht 85, 137 f., 151 soft law 282, 285 f. Souveränitätsübertragung 36, 182 Systemische Mängel 70 ff., 86 ff., 91 ff., 104, 107, 110 f., 156 f., 161, 200 f., 278, 283, 285, 289, 295, 311 f., 315 f., 325 f. – ~-Doktrin 260 ff. Systemvertrauen 166 ff., 176, 183, 208, 259 f., 331 transnationaler Verwaltungsakt 119, 180 f., 217 umgekehrter Vollzug 149 ff. Unabhängigkeit – der nationalen Aufsichtsbehörden 157 ff. – ~skriterium 320 ff. – richterliche 4, 231, 233, 236, 238 ff., 267 ff., 321 Unionsrecht – Autonomie des ~ 35 – Vorrang des ~ 19, 65, 71, 210, 212, 251 ff.

375

– Einheit und Wirksamkeit des ~ 65, 213, 239, 252 unionsrechtliche Ewigkeitsklausel 227 unmittelbare Wirkung 15, 194 – von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV 251 ff. Verantwortungsverteilung 195, 201, 220, 331 Verbund 165 – Informations~ 218 – Verfassungs~ 163, 198 ff.,204, 210 – Verwaltungs~ 201 – Werte~ 226 Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten siehe Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie Verfassungsidentität 199, 204, 206, 209 ff., 254 Verfassungspluralismus 205 f., 209, 260, 328 Verlagerung des Grundrechtsschutzes 98, 112 f., 330 Verrechnung 316 ff. vertikale Aufhebungsentscheidungen 151 f. Vertragsakzessorietät 189, 194 ff. Vertragsverletzungsverfahren 4, 21, 82, 122, 192, 283, 288, 293, 299, 302, 304 ff. – systemisches 308 ff. Vertrauen 1 f., 10, 18, 30, 38, 43, 55, 113, 118, 121, 126, 133, 145 f., 159, 167 f., 170, 173 ff., 192, 220, 233, 286, 302, 314 – als Strukturprinzip der EU 3, 35, 163 ff., 186, 195, 220 – Aussetzung des ~s 80, 94, 207 f., 212, 215, 221 – Bezugspunkte des Vertrauens 1, 48, 166 ff., 183, 259 – blindes Vertrauen 18, 29, 55, 108, 112, 114 f., 157, 171, 180, 221, 330 f. – Funktionen des ~ 195 ff. Vertrauensbegriff 2 ff., 6, 9, 32, 41, 49, 97, 166, 203, 206, 226, 297, 329 Vertrauensbruch 171, 174, 200, 214 Vertrauensfundament 192, 207 f., 221, 240, 271, 273, 327, 332

376

Sachregister

Vertrauensstärkung 26, 76 f., 96, 126, 128, 131 ff., 145 ff., 216 f. Vertrauenswürdigkeit 1, 168 ff., 174, 217, 219, 278 Verwaltungskooperation 1, 14, 17, 19 f., 180 f. Vielfalt 3, 195, 204 f., 220, 261, 331 Vorabentscheidungsverfahren 4, 61, 100, 152, 194, 201, 212, 239, 250, 253 f., 304, 318 ff. Vorlageberechtigung 193, 319, 321 f., 325

Wertentscheidung(en) 2, 47, 179, 210, 213 Wertepluralismus 256, 332 Wertesicherung 3, 163, 195, 198 ff., 220, 287, 297, 318, 327, 331 Werteunion 225 ff. Werteverletzung(en) 208, 221, 332 Wesensgehalt der Grundrechte 70, 72, 111, 114 f., 201, 209, 212, 231, 240, 270, 314 wirksamer Rechtsbehelf 61, 89, 108, 264, 313

Wertefundament 213, 274 Wertehomogenität 204, 225, 274

Zertifizierung 27 ff.

Studien zum europäischen und deutschen Öffentlichen Recht herausgegeben von Christian Calliess und Matthias Ruffert

Die Schriftenreihe Studien zum europäischen und deutschen Öffentlichen Recht (EuDÖR) widmet sich den Verbindungen zwischen dem nationalen und dem europäischen Recht. Das Öffentliche Recht ist in Bewegung. Vor allem die europäische Integration stellt überkommene Strukturen und Denkmuster in Theorie und Dogmatik vor neue Herausforderungen. Nicht zuletzt der Vertrag von Lissabon etabliert neuartige Verbundstrukturen im Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Die Reihe EuDÖR setzt sich zum Ziel, diesen Prozess mit aktuellen Forschungsarbeiten rechtswissenschaftlich zu begleiten. ISSN: 2192-2470 Zitiervorschlag: EuDÖR Alle lieferbaren Bände finden Sie unter www.mohrsiebeck.com/eudoer

Mohr Siebeck

www.mohrsiebeck.com