Versagtes Vertrauen: Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit [1 ed.] 9783666317248, 9783525317242


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German Pages [1180] Year 2020

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Versagtes Vertrauen: Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit [1 ed.]
 9783666317248, 9783525317242

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Reinhard Buthmann

Versagtes Vertrauen Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit

Reinhard Buthmann

Versagtes Vertrauen Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit

Mit 44 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats­sicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Jahrestagung der Physikalischen Gesellschaft, 1958. Prof. Dr. Heinz Barwich (links) im Gespräch mit Prof. Dr. Robert Havemann. BArch, Bild 183-54865-0005 Korrektorat: Andreas Eschen, Berlin Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-31724-8

Inhalt 1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1 Konturierung der Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1.1 Problematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1.2 Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.2 Forschungsstand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2.1 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2.2 Forschungsresultate und -perspektiven . . . . . . . . . . . . 23 2.3 Methode und Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3.1 Methode und Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.3.2 Darstellung und Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.4 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.4.1 Quellenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.4.2 Quellenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3 Wissenschaft von der Tradition zur Moderne . . . . . . . . . . . . . . 41 3.1 Der bürgerliche Wissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Bürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Physik und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 53 60 75 79

3.2 Der »Neue Mensch« im Kommunismus . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.1 Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.2.2 Ideologie und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.3 Wissenschaft in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Wissenschaftsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Wissenschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Wissenschaftsplanung und -organisation . . . . . . . . . . .

146 150 169 233

3.4 Inkompatibilitäten der Zentralverwaltungswirtschaft . . . . . . . . 256 3.4.1 Investition und Invention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3.4.2 Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

6

Inhalt

3.5 Beengte Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 3.5.1 Wissenschaft und Fortschritt unter Ulbricht . . . . . . . . . 291 3.5.2 Wissenschaft und Fortschritt unter Honecker . . . . . . . . 321 3.6 Vertrauen und Misstrauen, Parteifeinde und feindliche Plattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 4 Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie . . 353 4.1 Der Visionär oder die Entwicklung der Mikroelektronik . . . . . . 4.1.1 Fachgeschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Diachroner Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353 361 374 607

4.2 Der Prophet oder die Zerstörung der Raumforschung . . . . . . . 4.2.1 Fachgeschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Diachroner Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

613 618 638 912

4.3 Kerntechnik und Flugzeugbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Kerntechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Flugzeugbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

915 916 1005 1021

5 Spezifische Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025 5.1 MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten . . . . . . . . . 1029 5.2 MfS-Spezial II: Mitarbeiter des MfS . . . . . . . . . . . . . . . . 1072 6 Geschichte und Aktualität: ein Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . 1127 7 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1135 7.1 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1135 7.2 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147 7.3 Decknamenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160 7.4 Rechtenachweis zu den Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1162 7.5 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1164 Angaben zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1179

1 Vorbemerkung »Erinnerung vergoldet. Das muss nicht rundweg kritisiert werden. Es ist ein Gebot der Lebensklugheit, sich der angenehmen Stunden seines Lebens intensiver zu erinnern als der unangenehmen und schmerzlichen.

Und natürlich gab es auch in der DDR ›richtiges Leben‹, Liebe und Trauer, Sorgen und Freuden, Freundschaft und Feindschaft, Erfolge und Nieder­ lagen. Wer diese Elemente des richtigen Lebens unter verkehrten politischen Verhältnissen nicht anerkennen will, der hat entweder nicht in der DDR gelebt, oder er ist ein Fanatiker.«1

In diesem Buch, das im Text Untersuchung heißt, wurde nichts vergoldet. Denn der Untersuchung Ausgangspunkt war nicht die persönliche Erinnerung, die sogenannte Erinnerungsarbeit oder gar Aufarbeitung, sondern die harte, quellenkritische Arbeit. Und dennoch, oder gerade deshalb, kam Goldglanz ans Licht in einer Fülle, die überraschen dürfte. Frank Pfetsch nahm Anfang der 1970er-Jahre eine gestiegene Aufmerksamkeit zu Fragen der Entwicklung der Wissenschaftspolitik wahr, die sich aus dem »Ende der Restaurationsphase nach dem Zweiten Weltkrieg«, der wachsenden Übermacht der USA auf wissenschaftlich-technologischen Gebieten und der Depressionsphase, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland der Jahre 1966/67, speiste. Diese drei Gegebenheiten hatten es für die deutsche Politik notwendig gemacht, sich verstärkt auch mit Prioritäten- und Planungsfragen zu beschäftigen. Dies wiederum habe »das überkommene Selbstverständnis der scientific community von Freiheit und Autonomie« herausgefordert.2 Ein Konflikthorizont tat sich auf, der auch in der DDR geraume Zeit schwelte und von der SED geradezu herbeigesehnt worden war. Zu jener Zeit entschied sich die DDR unter Erich Honecker, den von seinem Vorgänger Walter Ulbricht immerhin temporär und minimiert gestatteten – bürgerlich traditionellen  – Freiräumen im Wissenschaftssystem ein Ende zu setzen. Dies wurde expressis verbis natürlich so nicht propagiert, sondern semantisch in griffige rhetorische Figuren der angeblich sieghaften und führenden Wissenschaften der sozialistischen Länder verpackt. Die Mittel und vor allem die hausgemachten Umstände zum Wandel aber waren in der diktatorisch geformten Politik anders als 1  Schröder, Richard: Nachdenken über die DDR, in: Allgemeine Frankfurter Zeitung (FAZ) vom 31.8.2004, S. 6. 2  Pfetsch, Frank R.: Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland  1750–1914. Berlin 1974, S. 5.

8

Vorbemerkung

in der freien Welt. In der DDR fielen vor allem fähige »Köpfe« und nicht die Umstände. Und so kam es, wie es kommen musste: Der Niedergang fiel im östlichen Teil des ehemaligen Wissenschafts-Weltzentrums »Deutschland« bedeutend rascher, manifester und nachhaltiger aus als im westlichen Teil, wo marktwirtschaftliche Konkurrenz und machtpolitische Rivalitäten immerhin zu partiellen Stabilitäten und Kehren sowie immer noch zu beachtlichen Innovationsleistungen führten, wenngleich sie die Vorherrschaft der USA und später anderer Industrienationen auch nicht mehr rückgängig machen konnten. Freilich wurden diese Phänomene überformt von den Ost wie West gleichermaßen betroffenen Strukturschwächen der Volkswirtschaften, die »in allen Industrieländern die gleichen Mechanismen beschleunigter Wissenschafts- und Technologieverwertung in Gang« setzten.3 Doch diese Invarianz endete an einem wesentlichen Punkt, nämlich dem der beginnenden Dominanz von Wissen und Technologie gegenüber Kapital und Arbeit. Hierin erfolgte eine nahezu radikale Abkopplung der DDR vom modernen Strom der Zeit. Selbst in scheinbar unpolitischen Fragen war die SED ideologiegefesselt. Sie begriff zu jener Zeit weder die allgemeine Bedeutung der Technologie als etwas grundverschieden Anderes als die klassische Technik, noch die der komplexen Mikroelektronik samt ihren volkswirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen. Als sie dies 1977 endlich einsah, war es bereits zu spät für die Schließung der »technologischen Lücke«.4 Walter Süß hat mit Verweis auf Talcott Parsons im Rahmen der klassischen Modernisierungstheorie an die Durchschlagskraft der »Evolutionären Universalien« erinnert, die, verweigern sich ihr Staaten, sie »zwangsläufig ins Hintertreffen geraten« lassen.5 Exakt dies traf allein mit dem Blick auf die Mikroelektronik-Technologie in der DDR zu. Von diesen wissenschaftspolitischen und -immanenten Fragen mit hoher volkswirtschaftlicher Bedeutung handelt diese Untersuchung. Der Weg zur empirischen Verifikation und Falsifikation des von uns längst als verstanden Geglaubten wird primär über das tradierte Wissen und vor allem Handeln des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Raum der Wissenschaften der DDR geführt. Die Untersuchung knüpft hierbei genau an jener feinen, aber gravierenden sprachlichen Fassung an, die Hermann Peiter bei Hubert Laitko fand, der sich seit mehreren Jahrzehnten tonangebend mit der Wissenschaftspolitik der DDR befasst. Denn nach Laitko »suchte die SED ›auf den Wissenschaftsbetrieb Einfluss zu nehmen, wie es andere politische Parteien in ihren Zugriffsbereichen ebenfalls‹«6 taten und tun. Doch, so Peiter, allein 3  Kreibich, Rolf: Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-Tech-Revolution. Frankfurt / M. 1986, S.  15. 4  Barkleit, Gerhard: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme. Dresden 2000, S. 7 f. 5  Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S. 32. 6  Laitko, Hubert: Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsverständnis in der DDR – Facetten der fünfziger Jahre, in: Burrichter, Clemens / Diesener, Gerald (Hrsg.): Auf dem Weg zur »Produktivkraft Wissenschaft«. Leipzig 2002, S. 107–139, hier 110.

Vorbemerkung

9

»im Blick auf die Rolle, die das MfS in der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) gespielt« habe, »hätte Laitko vermutlich nicht ›wie‹ geschrieben, sondern: ›anders als.‹«7 Laitko vertat sich keineswegs. Gerade er wusste genau, was er schrieb, zu sehr war er Teil der DDR-Wissenschaftsgeschichte, Insider des Regimes und mit einem Blick über den östlichen Tellerrand hinweg ausgestattet – sowie noch einiges mehr, wie wir unten sehen werden. Mag sein, dass das Wirken des Staatssicherheitsdienstes in den Sitzungszimmern und auf den Gängen des Zentralkomitees (ZK) der SED kein Thema gewesen war und laut Kurt Hager lediglich »nach Schluss der Sitzungen unter vier Augen« zwischen Honecker und dem Minister des MfS, Erich Mielke, besprochen worden ist.8 Die Normativität des Faktischen geschah ohnehin auf allen Ebenen darunter, und auch hier fanden keine Rechenschaftslegungen im Sinne einer Kontrolle oder Selbstkontrolle statt, wie es Peiter mit Blick auf das ZK der SED und den Ministerrat richtig feststellt.9 Seit 1991 wissen wir es genau, kennen wir aus den tradierten Dokumenten des MfS und anderen Quellen das ungeheure Ausmaß, das von der engen, gesetzlich und normativ festgelegten Liaison von SED und MfS – auch im Bereich der Wissenschaften – zeugt. Die Untersuchung ist umfangreich ausgefallen, ursprünglich hatte sie gut den doppelten Umfang. Was nach Kürzungen übrig blieb, ist gerade noch hinreichend. Der Grund für die Ausgiebigkeit ist meinem Eindruck geschuldet, wonach viele Studien einen erheblichen Mangel an Erfahrungswissen aufweisen und sich somit Standardbehauptungen, gleich ob berechtigt oder nicht, verfestigt haben. Vor einer ähnlichen Herausforderung sah sich einst Wilhelm Böhm gestellt, der sich nach einem Hype um Friedrich Hölderlin genötigt sah, ein wissenschaftlich begründetes Haltesignal zu setzen: »Den Umfang dieser Arbeit rechtfertige ich damit, dass die Literatur der letzten Jahre über Hölderlin es wichtiger erscheinen lässt, sein Werk Schritt für Schritt zu interpretieren, ja überhaupt erst den Inhalt festzustellen, als durch höhere Formgebung und durch Zusammenschau Legendenbildung zu fördern.«10 Diesem Zwecke folgte ich. Danksagung: Allen, die bei der Herausgabe des Bandes geholfen haben, sei herzlich Dank gesagt! Unabdingbar für sein Erscheinen waren jene, die dem Autor durch die verschiedenen Phasen seiner beruflichen Tätigkeit hindurch einen Freiraum für die Forschung ins 7  Peiter, Hermann: Wissenschaft im Würgegriff von SED und DDR-Zensur. Ein nicht nur persönlicher Rückblick eines theologischen Schleiermacher-Forschers auf die Zeit des Prager Frühlings, in: Bendel, Rainer / B endel-Maidl, Lydia / K öhler, Joachim (Hrsg.): Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 10. Berlin 2006, S. 177 f. 8  Hager, Kurt: Erinnerungen. Leipzig 1996, S. 262. 9  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff, S. 188. 10 Böhm, Wilhelm: Hölderlin, Bd. 1. Halle  1928, S. I. Hervorhebung durch den Verfasser (Verf.).

10

Vorbemerkung

Offene verteidigten oder – anders gesagt – Vertrauen schenkten: Bernd Eisenfeld (†), Dr. Ehrhart Neubert und Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk. Indes, es gilt zu danken: für den häuslichen Freiraum und als Ratgeberin in sprachlichen Dingen Anke Buthmann; für den geistigen Rückraum im Westen Prof. Dr. Manfred Heinemann; für die über zwei Jahrzehnte, teils bis heute währenden Gespräche und Korrespondenzen mit Betroffenen wie Dr. Heinz Steudel und vor allem und allen Reneé Gertrud Hartmann, die des Wartens auf die wissenschaftliche Rehabilitation ihres Mannes längst müde geworden ist, sowie mit gefühlt zahllosen Zeitzeugen und Wissenschaftlern der DDR wie Christian Brand, Dr. Johannes Gatzke, Dr. Dieter Garte und Dr.  Gerhard Barkleit oder ganz zuletzt noch Prof.  Ernst Schmutzer, Dr. Dr. Georg P. Dautcourt und Prof. Günther Rüdiger, Gespräche, die sich oft genug als Sternstunden des Gemüts gegen das harte editorische Geschäft erwiesen; für die Lektorierung des Textes Gerda Heinemann und Andreas Eschen; für Verteidigung und Kritik Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk; für das »letzte Geleit« hin zur Produktion des Bandes Dr. Helge Heidemeyer und – ganz besonders herzlich für die engagierte und professionelle Arbeit – Dr. Ralf Trinks sowie in Sonderheit dem BStU, vor allem seinen Archivaren in Berlin und Erfurt.

2 Einleitung »Sie leben vom Vorgriff auf Unvollkommenheit, denn die Geschichten gehen weiter und überholen jeden historischen Text. Er bleibt nicht nur, wie seine poetischen Nachbarn, auf Interpretation und Umdeutung angewiesen, sondern verlangt Korrektur, Verbesserung oder Widerlegung.«1

2.1  Konturierung der Thematik Das Hauptmotiv dieser Untersuchung liegt in der Frage nach der verdeckten Arbeit des MfS in Wissenschaft, Technik und Forschung, speziell in drei recht komplexen Fachdisziplinen der Physik mit hoher technischer und technologischer Ausprägung, und zwar der Mikroelektronik, der Raumforschung und der Kerntechnik. Ausführungen zur Abbruchgeschichte der Flugzeugindustrie ergänzen diese Untersuchungen. Es wird gezeigt, in welchen historischen Phasen und zu welchen markanten gesellschaftspolitischen Zeitpunkten das MfS in der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin warum und wie eingriff, also nicht nur beobachtete, kommentierte und referierte, und zu welchen feststellbaren Folgen diese Eingriffe führten. Die leitende Forschungsfrage gilt dabei den kommunikativen Prozessen zur immer zu treffenden Entscheidungsfindung in der Umsetzung vorgegebener Wissenschaftspolitik durch die SED unter dem Aspekt des allfälligen Handelns des MfS. Die Beantwortung dieser Frage weitet den Blick auf eine ganze Reihe von für die Wissenschaft und Forschung damals essenziell wichtigen Bedingungen. An vorderster Stelle steht dabei die Frage nach der Akzeptanz wissenschaftlicher, technisch-technologischer und ökonomischer Fakten durch die SED, ferner der Akzeptanz der bürgerlichen Wissenschaftler an sich, dem Vorhandensein von Vertrauen, der Bedeutung der Hoffnung, der Problematik von Ideologie und marxistisch-leninistischer Philosophie und nicht zuletzt die Frage nach einem hinreichenden Verständnis für die hohe Bedeutung der Grundlagenforschung, die wiederum für die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft entscheidend ist. In der Untersuchung geht es nicht primär um die Geschichte der Entwicklung der jeweiligen Disziplinen, sondern um die politische Geschichte der Konflikte im Zuge des Ringens um die richtigen einzuschlagenden Wege. Dass Wissenschaft intelligenzintensiv ist, ist auch heute noch unbestritten. Während des Quellenstudiums zeigte sich, dass dies dem 1  Reinhart Koselleck zu den Texten der Historiker: Koselleck, Reinhart: Vorgriff auf Unvollkommenheit, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1999. Darmstadt 2000, S. 146–149, hier 149.

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Einleitung

MfS kein bedeutendes Kriterium war, obgleich es tagtäglich den hohen Stellenwert der kommunikativen Prozesse an der Basis erfuhr. Ein Stellenwert, der angesichts der diktatorisch verfassten Gesellschaftsform einigermaßen überraschend ist und in die These mündet, wonach die SED-Wissenschaftspolitik in ausgewiesenen Phasen ihrer Konstitution und Manifestation ein hohes Maß an Widerspruch, Streit und Diskussionsbereitschaft, aber auch an Mut zuließ, wenn nicht gar generierte. Festgestellt wurde, dass in den mannigfaltigen kommunikativen Prozessen der intellektuelle Term außerordentlich hoch war. Oftmals nahm er ein geradezu luxuriöses Ausmaß an, das dazu beigetragen haben mag, dass es zu erheblichen Kommunikationsstörungen (in der Informationswissenschaft Überbestimmtheit genannt) kam. Dieser intellektuelle Input stand jedoch deutlich im Widerspruch zur Ertragsseite der wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung. Durch den handlungsrelevanten »Eintrag« des Staatssicherheitsdienstes in den immer konkreten Wissenschaftsbetrieb ist diese Kluft noch verbreitert worden. Die politische Geschichte der Natur- und Technikwissenschaften in der DDR ist nach wie vor wenig erforscht. Sie ist zudem in nicht unerheblichen Teilen verzeichnet. Sie bedarf – unabhängig von der Tatsache unablässigen Weiterschreibens in der Historiografie – vor allem der Berichtigung über die Zur-Kenntnisnahme der vom MfS hinterlassenen Aktenlandschaft. Das Wort »Berichtigung« halte ich für den angemessensten Begriff.2 Denn die Tatsache, dass die Festung »Wissenschaft« von der SED erfolgreich gestürmt worden war, ist in der neueren Historiografie – methodisch verursacht – zu einer blassen Tönung verkommen.3 Manuel Schramms Feststellung von 2008, dass eine umfassende Studie zur Wissenschaftspolitik für 1945 bis 1989 immer noch fehlt,4 ist nicht veraltet. Auf einen besonderen, selbst in der neueren politischen Wissenschaftshistoriografie kaum beachteten Umstand ist bezüglich der hier untersuchten Disziplinen hinzuweisen, wonach es für die DDR eine unangefochtene Selbstverständlichkeit war, das wirtschaftliche Wachstum und den wissenschaftlich-technischen Fortschritt nahezu unhinterfragt zu propagieren. Das galt übrigens für alle Industrienationen. Diese »alten Basisselbstverständlichkeiten des ›wirtschaftlichen Wachstums‹ und ›technischen Fortschritts‹« sind, laut Ulrich Beck, »nicht nur gebrochen, sondern begründungspflichtig geworden«.5 Man mag beim Lesen dieser Untersuchung 2  Zum Beispiel Köhler, Roland: Berichtigung einer Universitätsgeschichte, in: hochschule ost 9(2000)1–2, S. 103–120. 3  Anspielung auf Stalins Forderung an die Jugend: »Vor uns steht eine Festung. Der Name dieser Festung ist die Wissenschaft mit ihren unzähligen Wissenszweigen. Diese Festung müssen wir um jeden Preis nehmen. Diese Festung muss die Jugend nehmen, wenn sie den Wunsch hat, der Erbauer des neuen Lebens zu sein, wenn sie den Wunsch hat, in der Tat die Ablösung der alten Garde zu sein.« Zit. nach: Müller, Egon Erwin / Müller, Marianne: »… stürmt die Festung Wissenschaft!« Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945. Berlin 1953, S. 3. 4  Vgl. Schramm, Manuel: Wirtschaft und Wissenschaft in der DDR und BRD. Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 31. 5  Beck, Ulrich / Giddens, Anthony / L ash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt / M. 1996, S.  7.

Konturierung der Thematik

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bedenken, dass die heutige Wissenschaftsrezeption zumindest teilweise anders argumentiert, und dass die damaligen Konflikte durchaus als eine embryonale Vorwegnahme des Verlustes an bürgerlicher Haltung im Wissenschaftsbetrieb gelesen werden können. Es sind mithin nicht nur die veralteten Semantiken aus ökologischer und wirtschaftlicher Perspektive zu beachten, sondern gerade auch jene liberalen und konservativen, die in der DDR der Auf‌lösung unterworfen und in den Jahren nach 1990 eine oft nicht akkurate Wertschätzung erfuhren. Dieser Umstand ist nicht nur von begriff‌lich-formaler (der »bürgerliche Wissenschaftler«), sondern auch von sozial-psychologischer (Art, Habitus, Präsenz), vor allem aber von substanzieller Bedeutung (Handlungsmaximen). Nahezu alle alten Semantiken besitzen für den heutigen Leser eine Bedeutung, den sie für die damalige Zeit so nicht hatten und nicht haben konnten, zumal die Betroffenen von weltweiten Austauschprozessen geradezu abgeschnitten waren. 2.1.1 Problematisierung »Die Innenausstattung der SED-Macht«, schrieb 1991 Carl-Heinz Janson, langjähriger Mitarbeiter Günter Mittags, in seiner schonungslosen Analyse der Machtstrukturen im Bereich der DDR-Volkswirtschaft, vor allem aber »die Wirkungsmechanismen ihrer Herrschaft sind aus ihrer äußeren Erscheinung und aus ihrer Theorie allein nur schwer zu erklären. Das äußere Bild eines Apparats entspricht nicht den Machtverhältnissen, die in ihm herrschen. Der innere Mechanismus funktioniert anders, als die Richtlinien es beschreiben.«6 Hiervon handelt die Untersuchung. Es geht vor allem um die Ergründung von Mechanismen der Herrschaft im Raum der Mikropolitik. Mit der Untersuchung wird deutlich, dass es primär die empirischen Zusammenhänge sind, die zum Wesen des Begreifens der Natur der Verfasstheit der DDR-Wissenschaftspolitik führen. Zusammenhänge, die aus den Verknüpfungen struktureller, naturaler und personeller Bedingtheiten und Gepflogenheiten folgen. Es ist nicht primär der Aufweis von Strukturen oder des Strukturwandels, der dies zu liefern in der Lage wäre; auch nicht einzelne biografische Werdegänge. Es wird gezeigt, dass sich nicht nur die zentral veranlassten Methoden der – und des Eingriffs in die – Wissenschaftspolitik flächendeckend über das Land, längs des Zeitverlaufs und quer der einzelnen Fachdisziplinen »kopiert« haben, sondern dass die Akteure hierfür oft dieselben waren und es geblieben sind. Freilich verwundert das nicht mit Blick auf das Politbüro, auf jene Männer (Frauen gab es in den relevanten Bereichen der Untersuchung nicht) wie Kurt Hager, Johannes Hörnig oder Herbert Weiz, wohl aber mit Blick auf den Mittel- und Unterbau der SED-Führungsschichten. Zu untersuchen galt, inwiefern dem MfS nicht nur eine normative und strukturelle Bedeutung innerhalb des Wissenschaftsbetriebs etwa in der von Gerhard 6  Janson, Carl-Heinz: Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte. Düsseldorf, Wien, New York 1991, S. 13 f.

14

Einleitung

Barkleit beschriebenen Trias aus Staatsapparat, Staatspartei und Staatssicherheit der DDR zukam,7 sondern inwiefern das MfS als ein nicht vernachlässigbares, partiell eigenständiges und auch unberechenbares »personales Moment« zumindest in den bedeutungsschweren als Krisen bezeichneten Auf- und Abbrüchen in der Wissenschaftslandschaft zu betrachten ist. Die Trias-Theorie suggeriert trotz aller Gegenläufigkeiten ein kollektives, abgestimmtes Handeln der drei interagierenden Machtfaktoren. Ein Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass diese idealtypische Form der Machtausübung zu schemenhaft ist, um die kausalen Verantwortlichkeitszuweisungen in den betrachteten zeit- und raumbegrenzten Fällen zu erfassen. Auch zeitlich ist die Trias-Theorie inkonsistent. Nach Ulbricht entstand eine deutlich andere Landschaft in Wissenschaft, Forschung und Technik, eine Bruchlandschaft, die nur übertüncht war von den hohen, oft übermenschlichen Leistungen weniger bürgerlicher – wenngleich auch jüngerer – Wissenschaftler und Techniker.8 Insgesamt verfolgt die Untersuchung einen – auf den Quellenfundus des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) zentrierten – empirischen Ansatz mit dem Hauptaugenmerk auf die sach- und personalpolitische Steuerungsfunktion der SED im Rahmen ihrer Wissenschaftspolitik. Gab es, wie oft behauptet, in den 1950er-Jahren Forschungsfreiheit und wissenschaftliche Meinungsvielfalt? Ist Forschungsfreiheit eine Teilmenge der Wissenschaftsfreiheit? Welche Handlungsspielräume existierten wo, wann und inwiefern? War es den bürgerlichen resp. parteilosen Wissenschaftlern möglich, im Windschatten ideologischer Einflussnahme und der Parteibürokratie effektiv zu arbeiten? Wie kam es zu dem Auf und Ab zwischen weicher und harter Gangart in der Wissenschaftspolitik? Wie stand es um die Eigenverantwortung der Akteure gegenüber den betreffenden Ministerien und den SED-Funktionären aller Ebenen? Gab es strukturelle, jedenfalls außerpersonale Erklärungsmuster dafür, dass sich die einen in vorauseilendem Gehorsam übten, andere hingegen sich widersetzten, indem sie eigenständig und risikovoll handelten? Wurde in einem signifikanten Maße wissenschaftliche Kritik geübt, geduldet oder gar gefördert, oder starb diese mit der Zunahme der Gesinnungskontrolle? Wie setzte sich die Herrschaft der SED an der Wissenschaftsbasis prozessual durch? Wie war das Verhältnis von Herrschaft und Unterwerfung? Existierten Strategien und Regelungsmechanismen der Konfliktlösung? Wie wurden die Konflikte inoffiziell, intern und öffentlich kommuniziert, und wie wurden die nicht gelösten Konflikte »entschärft«? Wie verändert(e)  der spezifische Blick auf die Stasiakten den Blick auf die Hintergrundgeschehnisse, oder anders gesagt: auf die Demaskierung der offiziellen und halboffiziellen Dokumentenlandschaften? Die Forschungsarbeit geht überdies dem Geistproblem (hier als Ausdruck der Personalität, der Freiheit) nach, das grundlegende Bedeutung in der Entschei7  Vgl. Barkleit: Mikroelektronik in der DDR, S. 11–20. 8  Die eigenartige Pointe der Geschichte ist, dass jene, die damals oft genug nur gelitten waren, letztlich aber bekämpft wurden, heute – insbesondere bei Laitko – mehr denn je als Zeugnis für die Leistungskraft der DDR in Wissenschaft und Technik dienen.

Konturierung der Thematik

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dung über Wohl und Wehe von Forschungsarbeiten und Karrieren besaß. Es wird nachgewiesen, dass die »Unversöhnlichkeit« zwischen Freiheit und Ismus nicht nur – wie wir es allgemein erwarten und im Falle der DDR zu wissen meinen – im geisteswissenschaftlichen Bereich anzutreffen war, sondern uneingeschränkt auch im naturwissenschaftlich-technischen Raum galt. Fremdbestimmung, Zensur und politische Reglementierungen waren Konkretisierungen, die die Arbeit und das Leben im Bereich der Physik erheblich und nachhaltig beeinflussten. Die Frage, die die Bedingtheit der Freiheit für und in der Forschung stellt, ist keine, die auf den westlichen Kulturkreis beschränkt war und ist. Michael Polanyi stellte bereits 1951 fest, »dass Freiheit in der Wissenschaft eine leistungsfähige Form« sei. Der Wissenschaftlergemeinschaft würde es jedenfalls nutzen, wenn »dem reifen Wissenschaftler Möglichkeit gegeben« würde, »seine Probleme selbst zu wählen und zu bearbeiten«.9 Da die großen Fragen der Wissenschaft aber gemeinsamen Zielen gehorchen und die Wissenschaftler »sich von selbst über das ganze Feld der möglichen Entdeckungen« verteilen würden (zur Erprobung der Lösungspfade), folgt daraus notwendig die Kooperation: »Die Selbst-Koordination ist nur in der Sphäre der Öffentlichkeit möglich. Würden eines Tages sämtliche Verbindungen zwischen den Wissenschaftlern zerschnitten, dann hätte die Wissenschaft am gleichen Tag ihren Todesstoß erhalten.« Diese Auf‌fassung weist auf ein zentrales Problem der DDR hin, nämlich ihrer Trennung von der Westwissenschaft bei gleichzeitiger Zerstörung der Binnenkommunikation. Polanyi ging es unmittelbar nach Gründung beider deutschen Staaten um strukturelle und technische Fragen des Freiheitsbegriffs, nicht um ethische und rechtliche: »Die Art von Freiheit, die hier definiert wird, ist eine Technik für die wirkungsvolle, gemeinschaftliche Bewältigung einer bestimmten Art von Aufgaben.«10 Es wird an der gewählten physikalischen Kohorte dieser Arbeit gezeigt, dass es den bürgerlichen Wissenschaftlern in der DDR genau um diese Frage ging. Eine nicht minder bedeutende Frage war jene, die Antwort darauf suchte, inwieweit die jeweilige Stimme oder der jeweilige Einsatz des Wissenschaftlers Geltung bekam oder nicht, und wie dessen Ansinnen zustande kam. Offenkundig ist, dass hierfür eine fachliche und zumindest halböffentliche Meinungsbildung unabdingbar war. Eine partei- oder staatspolitische »Ernennung« des Wissenschaftlers zum »Star« des Sagens jedoch (wie mit Robert Rompe praktiziert), konnte der Wissenschaft nicht wirklich helfen oder mit Polanyi gesagt: »Keine Gesellschaft, keine öffentliche Meinung oder Behörde, die sich nicht dieser natürlichen Selbst-Regulierung der Wissenschaft beugt, kann hoffen, dass die Wissenschaft in ihrem Bereich gedeiht.«11 Spätestens unter Honecker erfüllte sich auch diese Prophezeiung Polanyis für die 9  Polanyi, Michael: Die Freiheit der Wissenschaft, in: Physikalische Blätter 7(1951)2, S. 49–55, hier 49. 10  Ebenda (Ebd.), S. 52 f. 11 Polanyi, Michael: Autorität und Freiheit in der Wissenschaft, in: Physikalische Blätter 7(1951)3, S. 97–102, hier 99.

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DDR haargenau: »Die Rolle einer Gesellschaft, die aus irgendwelchen Gründen die Wissenschaft pflegen will, kann es nur sein, Gelegenheit zu wissenschaftlicher Arbeit zu bieten. Sie muss für jeden guten Wissenschaftler die Mittel bereitstellen, seinen eigenen Interessen in der Wissenschaft zu folgen, wobei die Gesellschaft sich auf die wissenschaftliche Meinung verlassen muss, wer als guter Wissenschaftler anerkannt werden kann.«12 Freilich pflegen verwaltungstechnische und ideologisch-politische Instanzen genau an der Stelle der einschränkenden Attribute wie »gute« den Hebel der nicht zuletzt personal- und wissenschaftspolitischen Einflussnahmen und Steuerungsinstrumente bis hin zu Restriktionen anzusetzen. Und das MfS, das wird gezeigt, stand hierin an vorderster Front mit mannigfaltigen Mitteln. Wie sehr bereits früh ein moderner Zeitgeist (von dem die DDR nicht verschont war) wirkte, zeigt eine Rede des Physiknobelpreisträgers Percy W. Bridgman, gehalten 1949: »Es wäre einfältig anzunehmen, dass Bemühungen unsererseits diese Tendenz zu immer umfassenderer Regierungskontrolle einigermaßen wirksam bremsen könnten. Wenn wir uns jedoch sehr bemühen, könnten wir vielleicht einiges tun, um ihre unheilvollste Folgeerscheinung, das Untersinken des Überdurchschnittlichen im Meer der Mittelmäßigkeit, das im Laufe der Zeit für den Hochbegabten wie für den Mäßigbegabten gleich verhängnisvoll sein würde, möglichst zu verhindern.«13 Folgende, gleichsam im Hintergrund laufende Aspekte zu den grundsätz­ lichen Wissenschaftsbedingungen zählten im Forschungsprozess unablässig zum Standardrepertoire: 1. Die zunehmende Hermetisierung der DDR. Es ist dies nicht nur der Rückzug der DDR aus internationalen Gremien, Kooperationen und (auch persönlichen) Wissenschaftsbeziehungen, sondern auch die weitgehende Inakzeptanz der SED gegenüber westlichen Erfahrungen und gar Begriffen wie »Innovation« oder »Technologie«. Als ein Mitarbeiter eines Akademieinstituts 1974 eine Dissertation über das Thema: »Wissenschaftspolitik im Kapitalismus« einreichte, bedeutete ihm der Inoffizielle Mitarbeiter in Führungsposition des Hauses, dass seinem Vorschlag »nicht zugestimmt« werden könne. Man wies ihn darauf hin, »dass unsere Orientierung auf der Vertiefung der Integration mit den sozialistischen Staaten« liege, und zwar »auch auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik«.14 Das Argument des Antragstellers, wonach seine »Vorstellungen genau in die bisher an den Tag gelegten Bestrebungen auf ›Weltoffenheit‹« seines Hauses passen würden, half nicht. 2. Unterwerfung, Gleichschaltung, Zeitgeist (Mainstream) und Nachahmung (Mimetik15). Es ist auf‌fällig, dass immer wieder Entwicklungen eintraten, die nachweislich nicht von den zuständigen staatlichen Stellen ausgingen, aber auch 12 Ebd. 13  Bridgman, Percy W.: Gefühlsselige Demokratie und der vergessene Physiker, in: Physika­ lische Blätter 7(1951)12, S. 529–533, hier 533. Physiknobelpreis 1946. 14 BV Leipzig vom 6.3.1974: Bericht von »Müller« am 5.3.1974; BStU, MfS, BV  Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 101–108, hier 108. 15  Grundlegend: Girard, René: Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken. Berlin 2014.

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nicht von der jeweiligen Fach-Vernunft bestimmt waren. Aber sie passen in jenes Erklärungsmuster zur Wissenschaftspolitik der DDR, das in einem kurzen Satz skizziert werden kann: Es fehlte nach Ulbricht zunehmend an Offenheit in den Aushandlungsprozessen und Gestaltungswegen, weil SED-Funktionäre den Weg verstellten. Wege, die erst beim Gehen entstehen (so der Rockpoet Heinz Rudolf Kunze) und sich als gangbar hätten erweisen können, sind in der DDR zunehmend suspekt gewesen. Es fehlte an einer grundsätzlichen Offenheit, die selbst Kritiker und ausgewiesene Kenner der DDR wie Peiter nicht immer sprachlich genau genug konstatieren. Etwa wenn es bei ihm heißt, dass die Zensur es vorzog, »sich auf Kurt Hagers und nicht auf die Seite seiner Kritiker zu schlagen«.16 Nein, die Zensur, bei Peiter ein Subjekt, besaß nie eine echte Wahl. Wer Hager oder der SED nicht folgte, tat es nicht ein zweites Mal. Und wer es tat, übte Widerstand – und wurde entfernt oder versetzt. 3. Geheimpolizeiliche Durchdringung. Es war stets eindeutig zu klären, ob die Aktivitäten des Geheimdienstes grundsätzlicher Art waren, ob ihnen Zufall und Willkür anhafteten oder nicht. 4. Es fiel im Vollzug der Beschäftigung mit den zu untersuchenden Fach­ disziplinen auf, dass es, gleich ob in Dresden, Leipzig oder Berlin, gleich ob in der Geophysik oder Mikroelektronik-Technologie, ähnliche, wenn nicht gar identische Argumentationsmuster vor allem auf der Seite der SED und des Staatssicherheitsdienstes gab, und dass auch die Reaktionen darauf ähnlich identischen Mustern gehorchten. Es war also nach dem jeweiligen (ideologischen) Boden beider Seiten zu fragen. Die bürgerlichen Wissenschaftler handelten meist »automatisch«; heißt, sie folgten den Gesetzen ihres Faches und ihrer (auch sozial) erworbenen Logik der Forschung. Insofern war die Frage zu klären, ob sie gewissermaßen in die eigenen »Fallen« fielen. 5. Die Einführung des Begriffs des Akteurs in der Forschung hat sich allgemein bewährt: politische Akteure, gesellschaftliche Akteure, Akteure aus den Feldern der Wissenschaft sowie des Hoch- und Fachschulwesens, Akteure aus Organisation und Verwaltung, Akteure aus den Herrschaftsfeldern der Fachministerien und der SED etc. Verdient auch der Geheimdienstmitarbeiter im eigentlichen Wortsinne Akteur genannt zu werden? Es wird gezeigt, dass dies mit Nachdruck bejaht werden muss. Wenn wir in demokratisch verfassten Kulturen davon sprechen, dass »das Wissenschaftssystem heute auch mit der Erwartung konfrontiert« wird, »insbesondere politische Akteure mit wissenschaftlich fundiertem Wissen für Entscheidungs­prozesse zu versorgen«,17 so galt dies nicht zuletzt auch für die DDR.

16  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff, S. 53. 17  Zukunftsthemen der Hochschulforschung, in: https://www.gfhf.net/wp-contet/uploads/​20​ 14/09/9JT-Zukunftspanel; von dort Zugriff auf www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/3821-14. pdf, S. 9; letzter Zugriff: 10.1.2020.

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2.1.2 Abgrenzungen Die Fokussierung der Untersuchung auf die kommunikativen Prozesse zur Umsetzung von wissenschaftspolitischen Vorhaben, Programmen und Zielen setzt eine deutliche Begrenzung des Stoffes hinsichtlich des Zeitrahmens und des jeweiligen konkreten Gegenstandsbereiches voraus. Der grobe Zeitrahmen der Untersuchung setzt im unteren Zeitkorridor mit dem Beginn der Ernennung Walter Ulbrichts zum Sekretär des ZK der SED am 27. Juli 1953, dem Ende der Phase der Sowjetisierung18 und der Bolschewisierung sowie der Rückkehr der sogenannten SU-Spezialisten19 um 1955 ein. Die remigrierten Wissenschaftler hatten ebenso wie die zurückgekehrten zwangsverpflichteten Wissenschaftler aus der Sowjetunion ihre (teilweise alten) Plätze wieder eingenommen. Der obere Zeitkorridor am Ende des Zeitrahmens ist mit der Machtergreifung Honeckers 1972 und dem faktischen Ende der Akademiereform um 1974 bis zum Beginn der Konferenz für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975 gefasst. Die Bruchlinie in der Arbeits- und Lebenssituation der bürgerlichen Wissenschaftler liegt inmitten der Akademiereform und des Machtwechsels von Ulbricht zu Honecker im Zeitraum von 1968 bis 1972. Neben der zeitlichen Eingrenzung erfolgte eine disziplinäre, stoffliche. Es sind jene physikalischen und physikalisch-technischen Disziplinen ausgewählt worden, die in diesem Zeitraum von gut 20 Jahren im Mittelpunkt, auch in weltweiter Hinsicht, der wissenschaftlich-technischen Revolution standen. Das Fach Physik besaß im 20. Jahrhundert mit seiner atemberaubenden Expansion und seinen grundlegenden Basis-Innovationen für die Schlüsselindustrien sowie seiner enormen militärischen Bedeutung absoluten Vorrang in den vor allem technischen Wissenschaften. Zudem ist die Physik im Vergleich zu anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen wegen ihrer Nähe zur Philosophie in der Historiografie beliebt und war als solche der SED verdächtig. Für die Untersuchung wurden die anfangs bedeutendste Disziplin, die Kerntechnik, die darauf folgende und auch heute noch dominante Mikroelektronik sowie die propaganda- und prestigeträchtige Raumforschung ausgewählt. Was die Raumforschung anlangt, wird sie in dieser Untersuchung ihrer populären Engführung auf Raumfahrt befreit. Sie versammelt, angefangen von der Geodäsie und Geophysik über Meteorologie bis hin zur eigentlichen Raumfahrt, ein breites Spektrum von Disziplinen. Örtlich gesehen stellen Dresden, Potsdam, Berlin, Leipzig und Kühlungsborn Hauptplätze der Untersuchung dar. In volkswirtschaftlicher Hinsicht stammen die Hauptdisziplinen aus der Wissenschaft (Grundlagenforschung, angewandte Forschung) und aus der Industrie (Technologie, Produktion). 18  Ein umstrittener Begriff, der in dieser Arbeit nur dann Verwendung findet, wenn das so bezeichnete Phänomen eine sowjetische Einsteuerung in Prozesse der DDR beschreibt, die tatsächlich oder vermeintlich auf Widerstand stieß. Zum Begriff der Sowjetisierung siehe: Lemke, Michael (Hrsg.): Sowjetisierung und Eigenständigkeit in der SBZ / DDR (1945–1953). Köln 1999. 19 Von 1945 bis 1947 gingen ca. 3 000 Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure in die Sowjetunion. Vgl. Mick, Christoph: Forschen für Stalin. Deutsche Fachleute in der sowjetischen Rüstungsindustrie 1945–1958. München 2000, S. 93–110.

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Die Wahl der Fachdisziplinen zielte auf die Absicht, Forschungsvorhaben und Wissenschaftsziele strategischen Zuschnitts untersuchen zu können, die den Weltfortschritt verkörperten, in der DDR jedoch an deutliche naturale Ressourcen­ grenzen stießen, demzufolge umstritten waren und zu nachhaltigen Konflikten zwischen Wissenschaftlern, der SED und staatlichen Organen führten. Immanente und dauerhafte Ressourcenengpässe gründeten im steten Verlust an physischem Kapital (Demontage, Produktionen für die Sowjetunion) und »Humankapital« (»Deportation«, Abwanderung, Flucht). Diese weiland modernsten Ausprägungen physikalischer Wissenschaften mit weitestgehendem Pioniercharakter, die ein bis dahin weltweit noch nicht erlebtes hohes Maß an kluger Wissenschaftspolitik und hohem Finanzbedarf erforderten, stießen in der DDR auf fünf harte, systemimmanente Hindernisse: (1) Mangelwirtschaft und einen weitgehend fehlenden Dienstleistungssektor; (2) Parteidiktatur; (3) Abschottung vom Weltmarkt und von der Weltwissenschaft; (4) unelastische Volkswirtschaft, weil Zentralverwaltungswirtschaft. Dass die kleine DDR sich dennoch an Herkulesaufgaben herantraute, war  – abgesehen von der Allmacht evolutionärer Universalien aus Wissenschaft und Technik  – ihrer Ideologie geschuldet, wonach der apostrophierte sieghafte Charakter des Weltsozialismus sich allererst auf den Gebieten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts manifestieren würde. Und dass sie dies überhaupt in Angriff nehmen konnte, lag in erster Linie am Vermögen der ihr verbliebenen bürgerlichen Wissenschaftler. Die der DDR-Ideologie widersprechende Existenz bürgerlicher Sozialisation bildete jedoch von Anfang an einen Widerspruch aus, der Irritationen, Restriktionen, Übergriffe, Brutalitäten sowie Brüche zeitigte und ein weiteres systemtypisches Hindernis auf den Plan rief: (5) den Staatssicherheitsdienst.

2.2  Forschungsstand und Perspektiven Die heutige Deutungsmacht ehemaliger Akteure aus der Wissenschaftslandschaft der DDR ist bezogen auf die untersuchten Wissenschaftsdisziplinen und darüber hinaus, was Fragen der Wissenschaftspolitik anlangt, verblüffend hoch. Nehmen wir aus der Fülle des »Angebots« etwa Heinz Kautzleben, der in einem Beitrag im Rahmen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaft zu Berlin am 15. November 2013 zu Ehren des österreichischen Geodäten Helmut Moritz präambelgleich von »unserem Wissenschaftsverständnis« spricht und ausführt: »Wissenschaftler sind Personen, die Wissenschaft als Beruf betreiben. Große Wissenschaftler betreiben Wissenschaft aus Berufung.«20 Aber gerade jene in der DDR, die dies taten, und 20  Kautzleben, Heinz: Helmut Moritz. Wissenschaftler und Humanist. Vom Zentrum Preußens aus gesehen. Beitrag zum Wissenschaftlichen Kolloquium der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin am 15.11.2013, in: https://leibnizsozietaet.de/wp-content/uploads/2014/05/06_ kautzleben.pdf.; letzter Zugriff: 10.1.2020. Abgedruckt auch in den Sitzungsberichten der Sozietät 119(2014), S. 25–42.

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das weiß exklusiv auch Kautzleben, wie wir unten sehen werden, hätten, wie dessen einstiger Kollege und Chef Ernst August Lauter, eine solche Würdigung beizeiten in der Leibniz-Sozietät verdient. 2.2.1 Forschungsstand Monografien und Studien, die ohne den Zugriff auf Unterlagen der ostdeutschen Geheimpolizei entstanden sind, geben gewöhnlich ein Administrationsschema der Umsetzung der SED-Wissenschaftspolitik wieder, das die weiland nicht öffentlich gemachten und offiziell verschrifteten Aspekte der kommunikativen Prozesse unbeachtet lässt. Solche Arbeiten behandeln in der Regel logistische und institutionelle Grundstrukturen, die von den maßgebenden Institutionen der DDR, dem Politbüro der SED,21 dem Ministerrat, dem Ministerium für Wissenschaft und Technik (MWT)22 sowie den betroffenen Akademie- und sonstigen Forschungsinstitutionen aufgespannt wurden. Grob betrachtet existieren sechs einigermaßen voneinander unterscheidbare Ausprägungen der historischen Befassung mit Fragen der Existenzweise von Wissenschaftsdisziplinen und -institutionen in der DDR. Erstens die sich betont als Aufarbeitung verstehende Literatur, die primär das Leben in und für die Wissenschaften in der DDR zum Gegenstand hat. Sie ist am engsten mit den Begriffen Lebenswirklichkeit oder Lebenswelt verknüpft und wird meist von Kennern der jeweiligen Materie geleistet; hier zwei Beispiele: Die Freiheit hat noch nicht begonnen von Hildegard Emmel23 und Wissenschaft im Würgegriff von SED und DDR-Zensur von Hermann Peiter24. Zweitens die betont akademisch orientierte Literatur zur Darstellung der Institutionenentwicklung. Sie wird meist von jüngeren Wissenschaftlern geleistet; hier zwei Beispiele: Das Institut für Kosmosforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR von Katharina Hein-Weingarten25 und Die Genese des Instituts für Hochenergiephysik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin von Thomas Stange26. 21  Vgl. Amos, Heike: Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949–1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat. Münster 2003. 22  Die Bekanntmachung über die Bildung des MWT mit Wirkung zum 13.7.1967 erfolgte am 11.8.1967 vom Büro des Ministerrates (MR) der DDR. Es diente der »einheitlichen Leitung und Koordinierung der naturwissenschaftlich-technischen und ökonomischen Forschung und zur schnellen Einführung ihrer Ergebnisse in die Praxis der sozialistischen Wirtschaft«, in: Gesetzblatt der DDR, Teil II, 1967, Nr. 81, S. 571. 23  Emmel, Hildegard: Die Freiheit hat noch nicht begonnen. Zeitgeschichtliche Erfahrungen seit 1933. Rostock 1991. 24  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff. 25  Hein-Weingarten, Katharina: Das Institut für Kosmosforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung der Wissenschaftspolitik der DDR am Beispiel der Weltraumforschung von 1957 bis 1991. Berlin 2000. 26  Stange, Thomas: Die Genese des Instituts für Hochenergiephysik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1940–1970). Dissertation. Hamburg 1998.

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Drittens die eher überblicksartig orientierte Literatur, die sich primär mit Einordnungs- und Wertfragen beschäftigt und versucht, alles denkbar Positive für die DDR zusammenzutragen. Sie wird zum größten Teil von älteren DDR-Historikern geleistet, die sich bereits in der DDR einen Namen gemacht hatten; hier zwei Beispiele: Gedanken zum Gegenstand und den Zielen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung von Martin Guntau27 und Die DDR als Wissenschaftsstandort von Hubert Laitko28. Zuletzt gewannen kategorial angelegte Studien an Bedeutung wie Manuel Schramms Arbeit über Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen.29 Aber insbesondere diese besitzen wie die beiden zuvor genannten Weisen der Beschäftigung mit der DDR in der Regel nur einen sehr eingeschränkten Term der Stasiproblematik, oft sogar, wie bei Hein-Weingarten, überhaupt keinen. Fünftens sind eine Reihe beachtenswerter Studien zur Geschichte der Wissenschaftspolitik erschienen, deren Aufbau jedoch oft grobmaschig und / oder dokumentenlastig erfolgte; hier je ein Beispiel: dem von Wolfgang Girnus, dem Sohn von Wilhelm Girnus und einstigen Mitarbeiter am Institut für Wissenschaftstheorie und -organisation, zusammen mit Klaus Meier herausgegebenen Sammelband Forschungsakademien30 sowie Geplante Wissenschaft. Eine Quellenedition zur DDR-Wissenschaftsgeschichte von 1945 bis 1961 von Andreas Malycha.31 Ilko-Sascha Kowalczuk hat zutreffend zu Malychas Geplante Wissenschaft bemerkt, dass letztlich die Quellenbasis hinsichtlich der getroffenen Aussagen nicht zu überzeugen vermag. Dies trifft insbesondere auf eine Feststellung Malychas zu, wonach sich bis zum Mauerbau im Jahre 1961 »ein stark verändertes Selbst- und Rollenverständnis« in der DDR herausgebildet haben soll, das sich gar »deutlich vom traditionellen bürgerlichen Wissenschaftsverständnis« unterschieden habe.32 Die vorgelegte Untersuchung zeigt, dass sich dieser Zustand erst gut zehn Jahre später manifestierte. Der proklamierte (und protokollierte) Sollzustand differiert also erheblich vom Istzustand. Schließlich existieren sechstens zahlreiche Editionen, die Spezialthemen aufgreifen, die auf eigentümliche Weise das

27  Guntau, Martin: Gedanken zum Gegenstand und den Zielen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichtsschreibung in der DDR. Rostocker Wissenschaftshistorische Manuskripte (1991)16, S. 16–26. 28  Laitko, Hubert: Die DDR als Wissenschaftsstandort: Gegenstand historischer Analyse und komparativer Bewertung, in: Guntau, Martin / Herms, Michael / Pade, Werner (Hrsg.): Zur Geschichte wissenschaftlicher Arbeit im Norden der DDR 1945 bis 1990. Tagungsband anlässlich der 100. Veranstaltung der Rostocker Wissenschaftshistorischen Kolloquien vom 23. und 24.2.2007. Rostock 2007, S. 10–37. 29  Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen. 30  Girnus, Wolfgang / Meier, Klaus (Hrsg.): Forschungsakademien in der DDR – Modelle und Wirklichkeit. Leipzig 2014. 31  Malycha, Andreas (Hrsg.): Geplante Wissenschaft. Eine Quellenedition zur DDR-Wissenschaftsgeschichte von 1945 bis 1961. Leipzig 2003. 32 Ebd., S. 85; vgl. auch Kowalczuk, Ilko-Sascha: Rezension, in: https://www.hsozkult.de/ publicationreview/id/reb-5050?title=a-malycha-hg-geplante-wissenschaft&recno=38&q=Kowalcz uk&fq=&sort=newestPublished&page=2&total=50; letzter Zugriff: 10.1.2020.

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Eigentliche der DDR vermissen lassen; hier zwei Beispiele: Thomas Linden­bergers Volkspolizei33 und Reiner Pommerins Geschichte der TU Dresden.34 Bei vielen Gesprächspartnern des Verfassers, die aus den Bereichen der untersuchten Gebiete stammen, ist eine deutliche Unzufriedenheit mit insbesondere jenen historischen Darstellungen feststellbar, deren hauptsächlicher, kategorial gelenkter Forschungsterm konstruktivistischer Art35 ist. Verbreitet ist die Ansicht, dass die SED »Auftraggeber und Kontrolleur« des MfS gewesen sei. Dieser Ansicht scheint auch der Physiker Gerhard Weigt zu sein, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit der DDR-Diktatur befasst. Er sagt es (2015) gar noch absoluter, wenn er betont, dass die »scheinbare Machtfülle« des MfS »nicht darüber hinwegtäuschen« dürfe, »dass sein Auftraggeber und Kontrolleur immer die SED gewesen ist«.36 Diese Aussage trifft jedoch nur in der allerhöchsten Abstraktionsstufe zu. Den Gegenpol zu ihm vertritt etwa Christiane Lahusen, die sich hierin auf eine thesenhafte Arbeit Klaus-Dietmar Henkes von 1996 beruft, wenn sie schreibt, dass das MfS »praktisch ohne jegliche gesetzliche Grundlage« arbeitete und demzufolge »alle staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche für jegliche geheimdienstliche, polizeiliche und juristische Aktivitäten« offenstanden.37 Wir werden sehen, dass beide Positionen nicht zutreffend sind. Innerhalb jener Literatur, die einen deutlich restaurativen Term besitzt, ist an vorderste Stelle Laitko (siehe Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 11) zu nennen, dessen Anschauungen für die Untersuchung von Bedeutung sind. Diese Tendenz verbreitert sich noch mit Blick auf Arbeiten zur Personengeschichte. Als Beispiel mag hier Gerhard Barkleits Studie über Manfred von Ardenne gelten, der dem »Roten Baron« und von der vor allem bürgerlichen Wissenschaftlergemeinschaft nie anerkannten Mann ein Denkmal setzte.38 Lahusen schreibt zutreffend, dass Autoren wie Werner Mittenzwei, Fritz Klein, und Kurt Pätzold, und in diesem Sinne zählt auch Laitko dazu, zumal er Erzähler ist, zwar »zu einer geschichtspolitischen Debatte« beitragen, dabei aber »gleichzeitig um die Anerkennung der eigenen Lebensentscheidungen und der persönlichen Rolle im System« kämpfen. »Dies lässt sich in besonderem

33  Lindenberger, Thomas: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SEDStaat. Köln 2003. Siehe Kritik zu dem Buch von Lindenberger hinsichtlich der deutlichen Vernachlässigung von biografischen Aspekten zugunsten der gesetzlichen Grundlagen der Arbeit der Volkspolizei bei Staadt, Jochen: Dritte Geige. Polizeiarbeit in der frühen DDR, in: FAZ vom 4.3.2004, S. 7. 34  Pommerin, Reiner: Geschichte der TU Dresden. Köln 2003. 35  Boghossian, Paul: Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Berlin 2013. 36  Weigt, Gerhard: Demokratie Jetzt. Der schwierige Weg zur deutschen Einheit. Leipzig 2015, S. 64. 37  Lahusen, Christiane: Zukunft am Ende. Autobiographische Sinnstiftungen von DDR-Geisteswissenschaftlern nach 1989. Bielefeld 2014, S. 157. 38  Barkleit, Gerhard: Manfred von Ardenne. Selbstverwirklichung im Jahrhundert der Dikta­ turen. Berlin 2006.

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Maße an den Erzählungen von der Wissenschaft in der DDR und den Karrieren, die die Autoren in diesem Bereich machten, erkennen.«39 Bei diesen Erzählern aber besteht ein auffälliger Mangel an anthropologisch orientierten Fragestellungen, die über sie selbst hinausweisen. Natürlich wissen wir, mit Hans Blumenberg gesagt, dass uns der Zweifel auf Schritt und Tritt begegnen muss, »ob das, was uns den Zugang zum Hintergrund geistiger Antriebe zu eröffnen scheint, nicht vielmehr dem Bedürfnis der Rechtfertigung des schon Realität Gewordenen seinen Ursprung verdankt. Statt der Bezeugung der Ursprünge erhielten wir dann Stücke einer technischen Ideologie.«40 Wir werden sehen, dass im Rahmen der Untersuchung kaum jemals die Narrative »Nische«, »geschützte Zone« oder »unabhängige Wissenschaft«, die beispielsweise Lahusen für Geisteswissenschaftler wie Mittenzwei reklamiert,41 desto mehr aber die Narrative »Ethos«, »Vertrauen«, »Hoffnung« und »Haltung« verwandt werden. Dies ist gerade jenen als apolitisch apostrophierten Natur- und Technikwissenschaftlern geschuldet, die in ihren Bereichen weit weg von den – so Lahusen – »Erzäh­ lungen von der frei schwebenden Wissenschaft« lebten und arbeiteten. 2.2.2  Forschungsresultate und -perspektiven Wenn der gegenwärtige Forschungsstand einigermaßen befriedigen könnte, wäre die vorliegende Untersuchung nicht notwendig geworden. Was fehlte, war insbesondere die Rekonstruktion des Gewesen-Seins, des So-Seins von Entwicklungen und Projekten in den Bereichen von Wissenschaft, Technik und Technologie. Erstmals wird mit dieser Untersuchung eine gesättigte empirische Darstellung von wissenschaftshistorisch relevanten Gründungs- und Krisenphasen und eine empirische Darlegung der hohen Identität des handelnden Personals auf der Seite der Entscheider (SED, Staatsorgane und MfS) sowie auf der Seite jener »ersten« Ausführer gegeben, die selbst in Machtpositionen des Wissenschaftsapparates standen. Hierzu wurden in erster Linie nicht offizielle Daten der Ministerien und des Politbüros ausgewertet, sondern vielmehr eine Synthese von Nachlass- und Stasidokumenten unternommen, wobei beide Quellenlagen erhebliche Mengen an zielgerichtet gesammelten Daten oben genannter Art einschließen. Die Untersuchung liefert einen Beitrag zum Nachweis der Art und Weise des Einflusses des MfS auf Entscheidungsprozesse im Wissenschaftsbetrieb. Sie stellt und beantwortet Fragen zu den innovativen Potenzialen der DDR, zur Reformbereitschaft und -fähigkeit der DDR, zum Verlust von Hoffnung, Utopie und Vertrauen, zur Akzeptanz neuer Techniken, zur bis Mitte der 1970er-Jahre andauernden

39  Lahusen: Zukunft am Ende, S. 178 f. 40  Blumenberg, Hans: Geistesgeschichte der Technik. Frankfurt / M. 2009, S. 14. 41  Lahusen: Zukunft am Ende, S. 191 f.

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Technologiefeindlichkeit sowie zu Kommunikationsnetzen inner- und unterhalb der offiziellen Machtstrukturen. Für die ausgewählten Fachgebiete fällt auf, dass an jenen Schnittstellen, wo es zu Reformen, Brüchen und Konflikten gekommen war, die oft gestellte Frage, ob dem MfS eine aktive Rolle zukam oder nicht, häufig positiv beantwortet werden muss. Die Untersuchung belegt ferner eine ganze Reihe von klar konturierten Konfliktfällen zwischen einzelnen Institutionen wie dem MWT, Instituten und Betrieben sowie dem MfS. Die These, wonach das MfS einen signifikanten Beitrag im Sinne der Transformation von SED-Wissenschaftspolitik geliefert hat, ist für zwei der drei ausgewählten Hauptdisziplinen bewiesen. Ferner liefert sie einen empirischen Beitrag zum Unterschied zwischen aktiven (eingreifenden) und passiven (beobachtenden) Tätigkeiten des MfS. Es fällt auf, dass es oftmals zur – auch kriminellen – Eigendynamik des MfS kam, aber auch diverse Partikularinteressen anderer Herkunft (also außerhalb der klassischen Trias von SED, Staatsapparat und MfS) eine Rolle spielten. Ein weiteres Resultat der Untersuchung ist die Beantwortung der Frage nach den Konsequenzen des Einsatzes des MfS, sowohl was mögliche effektivitätssteigernde als auch destruktive Potenziale anlangt, und zwar volkswirtschaftlich und gesellschaftlich, betriebswirtschaftlich, wissenschaftlich und personell. Neben wissenschaftspolitischen werden auch makroökonomische Aspekte reflektiert, wie die nach der Möglichkeit eines DDR-eigenen Weges sowie nach der Leistungsfähigkeit der DDR-Wissenschaft und nach der Weltmarktfähigkeit ihrer Produkte. Schließlich beantwortet die Untersuchung die Frage, ob, was den Stellenwert von Wissenschaft, Forschung und Technologie anlangt, West und Ost nur in der Frage der Effizienz unterscheidbar sind. Hinsichtlich der Fachhistoriografie zur Mikroelektronik, Raumforschung und Kerntechnik werden neue Erkenntnisse gegeben. Zur Frühgeschichte der Mikroelektronik sind es Erkenntnisse, die es geraten erscheinen lassen, die Geschichte der DDR-Mikroelektronik neu zu schreiben. Zur Geschichte der Raumforschung hingegen sind Erkenntnisse gewonnen worden, die ermuntern sollten, diese Geschichte künftig in Angriff zu nehmen. Dagegen hält sich der Erkenntnisgewinn zur Kerntechnik, was strukturelle und gesetzgeberische Daten anlangt, in bescheidenem Rahmen. Jedoch überraschen die gewonnenen anthropologischen Daten, die zweierlei belegen: erstens, dass die Funktionärsobrigkeit das wissenschaftlich-technische Supremat substanziell aushebelte, und zweitens, den unritterlichen Konkurrenzkampf jeder gegen jeden. Den bisherigen Erklärungen über die Abbrüche von Großprojekten müssen diese beiden Elemente hinzugefügt werden. Der vergleichsweise ausgezeichnete Forschungsstand in der Historiografie der Kerntechnik ist insbesondere Mike Reichert zu verdanken. Es zeigt sich eine recht hohe Konsistenz zwischen der Interpretation seiner Quellen und den gewonnenen Erkenntnissen mit denen dieser Untersuchung, die vor allem darauf beruhen mag, dass in dieser frühen Zeit der DDR sowohl die Codierung der tradierten Texte als auch der Durchgriff des MfS noch nicht voll entwickelt waren. Dieses Phänomen zeigt sich auch in Teilbereichen von Agnes Tandlers Geplante Zukunft, und zwar für die DAW bis zur Akademiereform und der Gründung des Forschungs-

Methode und Darstellung

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rates.42 Doch jenseits dieser beiden Beispiele überwiegen eher die Defizite. Mag es also gelingen, den ins Schlingern geratenen Tanker auf Kurs zu halten.43

2.3  Methode und Darstellung Methodische Bedeutung für die Untersuchung besaß – gleichsam im instrumentellen Verfahren der Forschung – die Arbeits- und Organisationspsychologie, da es um Erleben und Verhalten von Menschen in den Kontexten Arbeit und »Gehorchen« in Organisationen ging. Mehr oder weniger fand deren gesamtes methodisches Arsenal bei der analytischen Auswahl und Aufbereitung des Stoffes Berücksichtigung. Gerade Industriewissenschaftler wie Werner Hartmann und Heinz Barwich verstanden Organisation als Interaktion, oder mit Karl Weick gesagt: »fortlaufende Handlungen zu vernünftigen Folgen zusammenzufügen, sodass vernünftige Ergebnisse erzielt werden« können.44 Und genau dies ist immer wieder vor allem von außen unmöglich gemacht worden. In diesem fortlaufenden Handeln nach Vernunftsgründen gegen Unzulänglichkeiten und administratives Unvermögen entstanden jene intellektuellen Prozesse, die in keiner anderen Quellenart als der des BStU so exakt tradiert sind. Thematisch hierin einbegriffen ist auch die sogenannte Selbstorganisation, ohne die die Protagonisten kaum mehr als ein oder zwei Jahre hätten überleben können. Allein sie sah die Zentralverwaltungswirtschaft nicht vor. Selbst die gestatteten Inseln von Selbstorganisation (etwa im Prinzip der Einzelleitung) waren überformt von Kontroll- und Lenkungsoptionen der SED und des Staates. Und gleichsam von unten, also aus ihren eigenen Mitten heraus, unterlagen sie der »Kanalisation« hinein in Staatsobhuten resp. Zersetzungsstrategien des MfS. Der Begriff »Selbstorganisation« war ein von SED und MfS begriffener »Feindbegriff«, auch dann, wenn er in wissenschaftlichen Zusammenhängen auftauchte. Oppositionelle griffen ihrerseits den Begriff auf, um Freiheitsansprüche einzufordern. Der für betriebswirtschaftliche Systeme notwendige komplementäre Zusammenhang von instrumenteller Organisation (Außenkomponenten) und Selbstorganisation durch Interaktionsprozesse fehlte in der DDR weitestgehend. Sich in fest vorgegebenen Rahmen »selbst zu organisieren«, war zwar erlaubt und gefordert, doch rieb sich dieses Bemühen regelmäßig an der Unelastizität des Wirtschaftsgefüges auf. Diese Sisyphusarbeit überhaupt aushalten zu können, bedurfte der Hoffnung. Hoffnung, die man dringend brauchte, um gegen die Realitäten der Bevormundung und des Mangels bestehen zu können. Josef Pieper nennt Ernst Blochs Feststellung, dass in der bisherigen Philosophie das Thema Hoffnung praktisch nicht vorkom-

42  Tandler, Agnes Charlotte: Geplante Zukunft. Wissenschaftler und Wissenschaftspolitik in der DDR 1955–1971. Freiberg 2000, passim. 43  Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Der Tanker schlingert, in: TAZ vom 20.4.2016, S. 15. 44  Weick, Karl E.: Der Prozess des Organisierens. Frankfurt / M. 1985, S. 11.

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Einleitung

me,45 eine aggressive These.46 Tatsächlich verstanden die SED-Funktionäre sofort, dass eine Hoffnungsphilosophie dem Kanon des marxistischen Denkens widersprach. Manfred Buhr nannte es postwendend Anachronismus, ein Denken, »über das die Geschichte hinweggeschritten« sei.47 Pieper fand in diesem und in einem früheren Aufsatz von Buhr jene Gleichsetzung, mit der die Kommunisten sich praktisch aller bisherigen Philosophie und Wirklichkeit entledigten:48 »Die Hoffnungsphilosophie ist Religion«49, und im Marxismus gebe es keinen »Platz für irgendwelche religiösen Probleme«50. Es war im Rahmen der Untersuchung zu fragen, inwiefern die Kategorie »Hoffnung« ein Erklärungsphänomen für das Verhalten bürgerlicher Wissenschaftler in ihrer Niedergangsphase darstellte. Der Untersuchungsgegenstand in den drei Hauptkapiteln ist geradezu durchtränkt vom Inbegriff der Hoffnung. Oft auch expressis verbis; Hartmann im Herbst 1972: »Für uns bleiben das westliche Ausland und Westberlin, ob mit Berlin-Abkommen oder ohne, ob mit einem kommenden Generalvertrag ebenso wie ohne einen solchen, verschlossen. Ich hoffe nur, dass ich noch einmal vor dem Lebensende als Rentnergreis durch die Straßen der Kindheit und großen Hoffnungen in Steglitz und Zehlendorf gehen darf.«51 Sofern Organisationstypologien thematisch relevant sind, ist es vor allem jene, die Amitai Etzioni unter dem Begriff »Zwang« entwickelt hat. Hier sticht insbesondere das Element der Koersion hervor, das der Duden nicht kennt und dessen lateinische Bedeutungen charakteristisch sind für das Leben in der DDR. Unter der Knute der ständigen Kontrolle, der Züchtigung und Belehrung strebte der Bürger der DDR dennoch nach Selbstbehauptung, und das war dann der Alltag jener, die sich dem System nicht völlig verschrieben hatten und teilweise gegangen wären, wenn sie es denn gekonnt hätten. Deren Bleiben freilich war schwer, kraftaufreibend, auch zuweilen (höchst) tragisch; jedoch ethisch und historisch wertvoll. Nach Gerd Wiendiecks Interpretation Etzionis geurteilt, hatte die DDR, was den Kontrolltypus anlangte, als Machtgrundlage den Zwang über die »organisatorische Koordination« Koersion (Unterwerfung) gewählt. Die anderen beiden Machtaus45  »Die Hoffnung […] kommt derart in der Geschichte der Wissenschaften nicht vor, weder als psychisches noch als kosmisches Wesen und am wenigsten als Funktionär des nie Gewesenen, des möglich Neuen.«, in: Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Kapitel 1–37. Frankfurt / M. 1959, S. 4 f. 46 Vgl. Pieper, Josef: Hoffnung und Geschichte. Der Mensch und seine Zukunft. München 2013, S. 14. 47  Buhr, Manfred: Kritische Bemerkungen zu Ernst Blochs Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (DZfPh) 8(1960)4, S. 365–379, hier 365. 48  Pieper: Hoffnung und Geschichte, S. 14. 49  Buhr, Manfred: Kritische Bemerkungen zu Ernst Blochs Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung«, in: DZfPh 8(1960)4, S. 365–379, hier 366. 50  Buhr, Manfred: Der religiöse Ursprung und Charakter der Hoffnungsphilosophie Ernst Blochs, in: DZfPh 6(1958)4, S. 576–598, hier 590. 51  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 4.3.1974: Analyse zum OV »Molekül«: chronologischer Faktenbericht; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier  170. Die Blattangaben zu dieser Signatur folgen der ersten BStU-Paginierung (Stempel ohne Umrandung) von vor dem 11.12.2001.

Methode und Darstellung

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übungsmöglichkeiten »Belohnung« und »Norm« mit deren organisatorischen Koordinatoren »Kontrakt« (Verhandlung) und »Konsens« (Werte-Gemeinschaft) waren in der DDR nur rudimentär konstitutiv. Im Denkschema Etzionis korrespondiert Zwang und Koersion weithin mit dem Kriterium des individuellen Engagements »Entfremdung« sowie dem Reaktionstypus »Resignation« (Reaktanz). Etzioni nennt als Beispiel für diese Machtlinie das Gefängnis. Die vollständige Kette lautet demnach in Kurzfassung: Zwang – Koersion – Entfremdung – Resignation / Reaktanz – Gefängnis.52 Diesbezüglich gibt es ähnliche Erkenntnislinien bei Michel Foucault in seinem Werk Überwachen und Strafen.53 Der Begriff der Koersion erfasst m. E. die DDR äußerst genau. Der Begriff stammt ab von coercitio: Einschränkung, Beschränkung und Bändigung; weitere Bedeutungsstränge lauten in Richtung der Inzuchthaltung, Zwangsmittel, Züchtigung, Bestrafung, alles Elemente, die auch auf die Ulbricht-Ära der DDR zutreffen. Allerdings mit einem starken Element der Belohnung für jene, die im Gefängnis als Gefängniswärter dienten. Reaktanz und Resignation: Widerstand und Sich-Fügen in die Situation. Unter Honecker begann dagegen die Agonie, der Verfall. Zuletzt selbst der der Koersion. Die Erforschung der DDR-Wirklichkeit unter dem Aspekt der Koersion erleichtert die Verfassung etwa einer Innovationsgeschichte, da die oben genannten Bestimmungselemente des Begriffs immer auch außerhalb der Selbstwahrnehmung und tradierten Sichtbegrenzung aufgesucht und gefunden werden müssen. Nicht die selbst erlebte oder nachempfundene Beschränkung stand im Mittelpunkt, sondern die der anderen. Dolores Augustine erwähnt zum Beispiel, dass Forscherpersönlichkeiten unter Stasidruck (power) gerieten, obgleich sie Bedeutendes leisteten.54 Das aber war weder Zufall noch ein Widerspruch, sondern das direkte Resultat der Koersion, die gerade auch vor Berühmtheiten keinen Halt machte. Technikgeschichte der DDR muss demnach immer auch die Verknüpfung technologischer, sozialer und kultureller Entwicklungsfaktoren implizieren. Die Koersion schuf – gewollt – jene loyalen Eliten, die gemeinhin für das Funktionieren des SED-Staates sorgten. Nach der »bürgerlichen Sub-Ära« in der Ulbricht-Periode kam eine Phase, in der die technische Intelligenz in einem breiteren Maße (scheinbar und tatsächlich) loyaler wurde. Hier liegt das Phänomen des Triumphes und der Niederlage des sozialistischen Ingenieurs gleichermaßen begründet. Es ist das Thema des Versagens auch. Solange es die bürgerlichen Wissenschaftler in hinreichender Anzahl und in Machtpositionen gab, existierten lokale Anomalien in der allgemeinen Koersion. Sie stellten gewissermaßen eine Gegen-Elite dar, die den ständigen Eingriffen der SED und jenen des MfS mit ihrem natürlichen Wesen widerstanden und die Koersion 52  Das Schema geht nach Wiendieck, Gerd: Einführung in die Arbeits- und Organisations­ psychologie. Hagen 1993, S. 63; vgl. auch Etzioni, Amitai: Soziologie der Organisationen. München 1973. 53  Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt / M. 1994. 54  Vgl. Augustine, Dolores L.: Red Prometheus – Engineering and Dictatorship in East Germany, 1945–1990. Cambridge 2007, S. 349.

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temporär und / oder lokal auszuhöhlen in der Lage waren. Sie lebten in (bedrohten) Freiheitsräumen. »Die zentrale Kommandowirtschaft war ein System«, so Carl-Heinz Janson, »in dem einer oder wenige entschieden, was Millionen zu tun und zu lassen hatten.«55 Das trifft sicherlich abstrakt und auch auf einigen Gebieten wie der Gesetzgebung konkret zu. Die Verantwortlichen aber waren dabei immer die »von ganz oben«. Dieses Bild wird für den Untersuchungsgegenstand, wenn nicht korrigiert, so doch zumindest ergänzt. Um verborgene Machtmechanismen und dafür Verantwortlichkeiten auffinden zu können, eignen sich kaum homogene Perioden, Planungsdokumente oder Feiertagsreden. Als geeignet erwiesen sich vielmehr Brüche, politische Macht- und Verunsicherungsfunktionen, Rationalisierungs- und Intensivierungsschübe und nicht zuletzt die konkreten, produkt- und entwicklungsbezogenen Folgen der rasanten technischen Entwicklung im Westen hinsichtlich der Wirkung auf Institute und Betriebe der DDR, woraus für sie erhebliche Stressfaktoren erwuchsen. Bis etwa 1968 bildeten sowohl der (meist bürgerliche) Wissenschaftler in herausgehobener Position als auch die Wissenschaftlergemeinschaft einen nicht zu vernachlässigenden Machtfaktor aus. Anschließend erodierte er zunehmend. Für den gewählten Untersuchungszeitraum wird gezeigt, dass es keinesfalls einen monolithischen Herrschaftsblock mit mehr oder weniger stringenten, kausalen oder deterministischen Machtvektoren gegeben hatte. Auch der totalitäre Herrschaftsansatz ist wenig zweckdienlich, da es keine verbindliche Definition totalitärer Herrschaft gibt, die das empirische Material analytisch und synthetisch hätte formieren und operationalisieren können. Zudem ist der Blick des Alltagshistorikers, der mit dem Phänomen »Totalitarismus« notwendig operieren muss, ungeeignet.56 Der empirische Nachweis für diese These gelingt besser auf der Mikroebene. Genauer gesagt, ging es um die feststellbare Mikropolitik, einer »Forschungsrichtung in der Soziologie, die innerhalb von Organisationen autonom und politisch handelnde Individuen sieht, die in Aushandlungsprozessen laufend versuchen, den eigenen Einflussbereich zu sichern oder auszudehnen.«57 Da das MfS in den Prozessen der strukturellen Herausbildung der institutionellen Forschungslandschaft – teils federführend – involviert war, und dies hin und wieder auch gegen die Interessen des MWT und anderer staatlicher Organe, wird einsichtig, wie folgenschwer die 55  Janson: Totengräber der DDR, S. 14. 56 Vgl. Baberowski, Jörg / Patel, Kiran Klaus: Jenseits der Totalitarismustheorie? Nationalsozialismus und Stalinismus im Vergleich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57(2009)12, S. 965–972, hier 966. 57  Wiendieck: Einführung in die Arbeits- und Organisationspsychologie, S. 328–330, Definition im Glossar, S. 9. Vgl. auch: Bosetzky, Horst: Mikropolitik, Machiavellismus und Machtkumulation, in: Küpper, Willi / Ortmann, Günther (Hrsg.): Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. Opladen 1988, S. 27–37 sowie Jürgens, Ulrich: Die Entwicklung von Macht, Herrschaft und Kontrolle im Betrieb als politischer Prozess – eine Problemskizze zur Arbeitspolitik, in: Jürgens, Ulrich / Naschold, Frieder (Hrsg.): Arbeitspolitik. Materialien zum Zusammenhang von politischer Macht, Kontrolle und betrieblicher Organisation der Arbeit. Leviathan, Sonderheft 5/1983. Opladen 1984, S. 58–91.

Methode und Darstellung

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Nichtbeachtung der MfS-Unterlagen für die Historiografie sein kann. Während der Periode des Transformationsprozesses der traditionellen Raumforschung hin zum Interkosmos-Programm der sozialistischen Staaten hatte es zahlreiche Einschnitte gegeben, die nicht nur Konsequenzen für einzelne Spezialdisziplinen und die internationale Zusammenarbeit etwa in der Meteorologie und der Atmosphärenphysik zeitigten, sondern auch zu empfindlichen biografischen Brüchen führender Wissenschaftler führten. 2.3.1  Methode und Forschungsdesign Robert Spaemann spricht aus, was als Warnschild unter jeder Kapitelüberschrift zu stehen hat: »Methode ist keine Wahrheitsgarantie.«58 Aber was dann? Sicher eine Art der Glättung und Homogenisierung, der Polarisation und Selektion des Materials. Aber dies wiederum kann ein Problem werden, wenn die methodisch erzeugte Homogenisierung Wahrheiten verschweigt; Jean Améry: »Es ist nicht wahr, dass die Geschichte im Dreivierteltakt der Dialektik tanzt.«59 Dies meint, dass es keine linearen, kausalen, determinierten historiografischen Aussagen in Bezug auf »Dasmusste-ja-so-Kommen« geben kann. Geschichte ist irreversibel. Vielmehr ist die Frage von Bedeutung, was wir sinnvoll tun können, damit das theoretische Konzept nicht nur nicht die zu beachtende (Gesamt-)Faktenlage unverformt lässt, sondern in geeigneter Weise zu Wesenseinschätzungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten führt. Im vorliegenden Fall hieße die Forderung dann, die Historiografie als ehemaliges Geschehen auch verstehbar, gleichsam nacherlebbar zu halten. Das qualitative Design enthält neben der permanenten Quellenanalyse vor allem Handlungsforschung, die empirisch mit Einzelfallanalysen verifiziert wird. Zum Forschungsdesign zählt auch jene Methode, die als Oral History recht beliebt ist. Der Verfasser hatte sich bereits vor der Revolution 1989 mit nicht wenigen Angehörigen der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz oftmals über wissenschaftspolitische Fragen unterhalten und in der Neuzeit systematisch vertieft. Dieser Prozess der Diskussion hält bis heute an. Wert ist auf Begriffsfindung und -schärfung gelegt worden. Begriffe dienen als Werkzeuge der Erkenntnis. Paul Boghossian hat gezeigt, wie vielfältig das Problem der Erkenntnisgewinnung gerade heute in den Geisteswissenschaften ist.60 Diese Untersuchung stellt sich mithin das Ziel, (alte) Begriffe (neu) zu schärfen. Hieraus folgt u. a., den scheinbar veralteten und teilweise missbrauchten Begriff des bürgerlichen Wissenschaftlers betont zu verwenden, und zwar so, dass er nicht in An- und 58  Spaemann, Robert: Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen. Stuttgart 2012, S. 95. 59  Améry, Jean: Unmeisterliche Wanderjahre, in: Scheit, Gerhard (Hrsg.): Améry, Jean. Werke. Bd. 2. Jenseits von Schuld und Sühne. Stuttgart 2002, S. 246. 60  Vgl. Boghossian: Angst vor der Wahrheit, passim.

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Abführung gefasst werden muss. Doch nicht nur hinsichtlich von Begriffen ist zu fragen: Warum fehlt der Mut in ehrerbietenden historiografischen Schriften, den jeweiligen »Helden« oder die jeweilige bemerkenswerte Leistung eines Instituts mit Schattenseiten zu konfrontieren? Was ist alle Aufarbeitung wert, wenn etwa die im Kapitel 4.1 im Mittelpunkt stehende Arbeitsstelle nicht in Verbindung mit dem illegalen Technologietransfer gebracht wird?61 Die Erkenntnis Blumenbergs, wonach es der Technik-Historiker leichter als der politische Historiker habe, da »in der Technikgeschichte die Lösung eines bestimmten konstruktiven Problems zugleich die Mängel erkennbar« mache, »die noch zu bewältigen sind«,62 mag den Topos der Historiografie, wonach die Geschichte die Wissenschaft von der Kunst der Datierbarkeit von Daten ist, relativieren. In dieser Untersuchung wird, eingebettet in die generelle Methodik der Untersuchung, vor allem anhand dreier komplizierter, ja auch elitärer Fachdisziplinen der Natur- und Technikwissenschaften, der Mikroelektronik, der Raumforschung und der Kerntechnik aufgezeigt, dass beide Sätze, also die Kunst der Datierbarkeit von Daten und die angebliche Leichtigkeit in der wissenschaftlich-technischen Historiografie produktiv zueinander komplementär sind. Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass Blumenbergs Satz in erheblichem Widerspruch zum eingangs festgestellten Publikationsdefizit steht. Denn was leicht erscheint, erweist sich – ohne hinreichende fachwissenschaftliche Kompetenz – als zutiefst schwer. Dies wird in Sonderheit in den beiden ersten Hauptkapiteln augenfällig werden. Interessant ist der Verweis auf den Prozesscharakter technischer Lösungen und deren immanente Vorläufigkeit, den Blumenberg nutzt, um einen Vorteil gegenüber den politischen Historikern zu konstatieren. Tatsächlich geschieht um das Ereignis der Lösung eines technischen Problems herum immer etwas, was in den Gang der Geschichte, in der Sukzession der Zeit, Kerben schlägt, mindestens aber Markierungen, »Marken« setzt. Oft sind diese für die zumal wissenschaftspolitische oder wissenschaftswissenschaftliche Historiografie bedeutsamer als die Erfindung oder die Lösung des technischen Problems selbst. Die Spurensuche muss also tiefer und breiter angelegt sein, sie geht unter die Oberfläche, in den Wurzelbereich des Wissenschaftsbetriebs und nicht in den Himmel glanzvoller Leistungen. So war immer wieder zu fragen, inwieweit wissenschaftsimmanente Traditionen und Trends mit den staatlichen und gesellschaftspolitischen Vorgaben konfligierten oder eben nicht. Wie verhielt sich der Akteur »Wissenschaftler« in diesen Spannungsfeldern während des Forschungs- und Entwicklungsprozesses, insbesondere, wenn dieser eine Entscheidungs- und / oder Führungsposition innehatte? 61  Als Insider ist es deutlich zu wenig, nur zu schreiben: »Neben der Eigenentwicklung fehlender Ausrüstungen gab es sogar [sic!] auch einzelne reguläre West-Importe«, in: Becker, Hans W.: 100. Geburtstag von Werner Hartmann (1912–1988), Begründer der Mikroelektronik im Osten Deutschlands, in: 120 Jahre VDE-Bezirksverein Dresden. Entwicklung der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik. Ausgewählte Jubiläen und Innovationen zur sächsischen Technikgeschichte. Dresden 2012, S. 188–210, hier 201. 62  Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik, S. 12.

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Solche Fragen bildeten die methodische Arbeit an den Quellen überhaupt. Eine sonderbare Spezies von Personen hatte in der DDR die Aufgabe, in eben diesen Wurzelbereich vorzudringen, um Mängel – durch Sabotage, Spionage, Diversion und Nachlässigkeiten aller Art  – im Wissenschafts-Fortschritt zu erkennen und möglichst umgehend auszuschalten, nämlich die Offiziere der Staatssicherheit und ihre inoffiziellen Helfer. Das, was sie uns an Ergebnissen ihrer Beobachtungen und ihrer Einflussnahme quellenmäßig hinterlassen haben, leistet ex post der Historiografie bedeutende Dienste. »Die Vergangenheit der Geschichte ist offen und veränderbar«,63 aber in der Veränderung des Blickwinkels, der Sehschärfe und Erhöhung der Auflösung erfährt sie eine gesteigerte Bestimmtheit: sie tritt uns plastisch(er) vor Augen. Apropos Beobachtung: Wie in der Quantenmechanik dürfte sich das durch das MfS beobachtete Objekt anders verhalten haben, als wenn es nicht beobachtet worden wäre. Der Historiker muss also bedenken, dass die Möglichkeit für den betreffenden Akteur bestand, dass er seine Handlungen dem Beobachtetwerden angepasst haben könnte. Es war ferner zu beachten, dass, folgt man dem Gegensatzpaar »Herrschaft und Knechtschaft«, die bürgerlichen Wissenschaftler in der personalen Mitte der jeweiligen Entwicklungen und Geschehnisse lagen, also eine Art Achse darstellten. Sie übten Herrschaft aus und wurden zugleich (zunehmend) wie Knechte behandelt. Diese Bipolarität schärfte nicht nur deren Sinne, sondern weist sie für die Historiografie als wertvolle Kronzeugen aus. Überhaupt ist der ideengeschichtliche Ansatz zwingend. Nach Franz Josef Wetz sah Blumenberg die Idee des Fortschritts »als Säkularisat einer providentiell [prÿvidÿo: in der Ferne der Zeit sehen, vorhersehen; Vorherwissen] gelenkten Heilsgeschichte«.64 Aber eine solche Heilsgeschichte lag für die DDR quasi doppelt vor, nämlich die der Hartmanns, Lauters und Barwichs als gelebten wissenschaftlich-technischen Fortschritt in eigener Logik, sowie jene der Religion »Kommunismus«. Methodisch gesehen interessiert nicht vordergründig die Frage nach der »Richtigkeit oder Falschheit« von »politischen Entscheidungen und Zielvorstellungen« der SED, »sondern die Art und Weise«, wie sie durchgesetzt worden sind gegen welche Widerstände – ein Ansatz, den etwa Wilfried Nippel in seinem Buch zu Johann Gustav Droysen befolgte.65 Wenn auch die Herausarbeitung der Situation der Natur- und Technikwissenschaften in der DDR bis zur Etablierungsphase Honeckers nicht das eigentliche Ziel dieser Untersuchung war, so erfolgte sie doch praktisch als Nebenergebnis. Olaf Breidbach und Frank Ziche sind in ihrer Arbeit zur Situation der Natur- und Technikwissenschaften für das beginnende 18. Jahrhundert umgekehrt vorgegangen. Sie haben im Zuge der wissenschaftsgeschichtlichen Re63  Kowalczuk, Ilko-Sascha: Qualmende Vergangenheit. Zur Debatte um die SED-Diktatur, in: vorgänge 45(2006)4, S. 108–125, hier 109. 64  Wetz, Franz Josef: Hans Blumenberg zur Einführung. Hamburg 2004, S. 43. 65 Vgl. Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen: Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. Pfungstadt, Ulm 2008, S. 10.

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konstruktion nicht nur die Genese »von Aussagenkomplexen der Wissenschaften, sondern zugleich auch die Genese der Ordnung dieser Wissenschaften selbst in ihrer Abgrenzung zueinander und in ihrer Abgrenzung im Kulturkontext der Zeit« betrachtet.66 Streng genommen verbot sich das für die DDR, denn in ihr war zu Beginn nahezu alles zerschlagen: personale und materielle Restbestände, wohin man auch sah. Dazu kamen die restriktiven Bestimmungen der Besatzungsmacht, deren Interessen und die früh einsetzende kommunistische Ideologie. Damit hätte, wie Breidbach und Ziche es für ihren Forschungsgegenstand feststellten, Wissenschaftskultur im Hinblick auf die DDR »nur als ein operational definierter Begriff verstanden werden« können.67 Ein attraktiver Weg, aber für die frühen DDR-Verhältnisse wenig erfolgsversprechend. Dennoch ist festzustellen, dass die Erforschung der Wissenschaftspolitik und des Forschungsgeschehens nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Territorium der SBZ / DDR trotz aller Defizite epistemologisch nicht unnütz ist.68 Bleibt zu hoffen, dass mit dieser Untersuchung einige Argumente gefunden werden konnten, die einer festeren zukünftigen Architektur des Wissens zu dieser Periode dienlich sein können. Während die autobiografische Methode die Motivik der handelnden Person in den Mittelpunkt stellt, legt die vorliegende Untersuchung das Moment des frei gewählten Wirkens in die Realisationsumgebung der »freundlich-feindlichen« Umwelt. Es ist insofern eine ökologische Perspektive, die die Frage »was geschah wie?« beim Zusammenfall des persönlichen Antriebes mit dem – an vielen Stellen feindlichen – Umfeld stellte. Zwar hoffte die bürgerliche Wissenschaftlerklientel auf die Möglichkeit eigener Gestaltung, doch allermeist trogen die Versprechungen. Erst im Zuge des Realisationsversuches trat Ernüchterung ein. Es herrschte zudem ein völlig anderes Selbstverständnis als in der heutigen, postmodernen Wissenschaftswelt. Heute »kauft« oder »leiht« sie sich ihre Funktions- und Leistungsträger, sodass sie von vornherein passen: deren Eigengestaltungsraum ist einer funktionalen Engführung unterworfen. Dass die Forschungsfreiheit in der Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten bedroht war, ist bereits oben erwähnt worden. Der durchgeführte Methodenwechsel erwies sich im Fortgang der Forschung als zielführend. Dies erlaubte auch, Kategorien wie Vertrauen und Hoffnung zu nutzen, ohne dass deren Eigengewicht die mikrohistorischen Aussageebenen zu verformen drohte. Die Kategorie »Vertrauen« durchzieht den Stoff der Untersuchung wie ein roter Faden, allerdings ist sie nicht zur Operationalisierung benutzt worden. Freilich böte es sich an, für das Säkularisat »Fortschritt« die Kategorie »Vertrauen« zu operationalisieren, denn ohne Vertrauen gibt es keinen Fortschritt. »Vertrauen« spielte eine doppelzüngige Rolle in der DDR. Ganz krass und banal in Sonderheit 66  Breidbach, Olaf / Ziche, Frank: Einführung, in: dies. (Hrsg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S. 7–13, hier 8. 67 Ebd. 68  Wertvoll aber empirisch begrenzt: Wissenschaftshistorische Adlershofer Splitter, Nr. 1–4. Berlin 1997 f.

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beim MfS, das sehr genau wusste, dass man ihm Misstrauen entgegenbrachte, aber auf Vertrauen seiner inoffiziellen Mitarbeiter dringend angewiesen war. Es selbst misstraute jedem und versuchte im gleichen Atemzuge Vertrauen zu »kaufen«. Ein Beispiel: Werner Hartmann hatte monatelang vergeblich versucht, über den Stellvertreter des Ministers für Finanzen und Verwaltung, Generalmajor Richard Wenzel, Fachbücher und eine umfangreiche Briefmarkensammlung von Westberlin, dem Wohnort seines Vaters, nach Dresden zu bekommen. Dies teilte am 18. Dezember 1955 Leutnant Günther Jahn seinem Referatsleiter der Abteilung VI/269, Heinz Kairies, mit. Der und sein Leiter, Eduard Switala, stimmten der Bitte Hartmanns zu. In dem »Rückführungsvorschlag« ist zu lesen: »Durch das Agenturverhältnis zu Dr. Hartmann tauchte diese Frage erneut auf und es zeigte sich, dass dieser geringes Vertrauen in uns setzt.« »Im Interesse einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit Dr. Hartmann wird die sofortige Rückführung dieser Materialien vorgeschlagen.«70 Spezifische Hinweise 1. Kontraste: Sie eignen sich zur Analyse von Prozessen und Geschehnissen besser als Homogenitäten. Kontraste, und diesbezüglich nicht nur personale, bot der Quellenfundus des BStU im besonderen Maße, war das MfS doch auf Gegner und Konflikte geradezu aus. Seine inoffiziellen Mitarbeiter wiederum wurden, wenn sie es nicht schon waren, in aller Regel zu Gegnern der Gegner des MfS (gemacht). Hiermit besitzen wir gleichsam per naturam zwei Kreise, die uns Konfliktpotenziale tra­dierten. Typischerweise in Form der sogenannten Opfer- und Täterakten. Und was den Wahrheitsgehalt dieser beiden Quellenprovenienzen anlangt, ist zu bemerken, dass gerade das »Aufeinanderlegen« dieser beiden Kreise Wahrheitsprüfung zulässt. Falsifikation und Verifikation werden möglich, indem bezüglich einer x-beliebigen Sache n-Kreise beider Arten, also Opfer- und Täterakten, übereinandergelegt werden. An den Endpunkten der Recherche und der Analytik ist das im öffentlichen Diskurs oft vorhandene Vorurteil, in den Akten stehe Gedöns, absurd und wissenschaftlich gesehen ein Nullum. Über die Suche nach Differenzen in einem bezeichneten Raum, der zuvor nicht über Sympathie oder Affirmation homogenisiert wird, gelingt der Einstieg in die Lösung offener Fragen. 2. Rekonstruktion: Die Untersuchung gibt nicht vordergründig Biografien und Strukturen wieder, auch nicht die Chronologie der DDR-Wissenschaftspolitik schlechthin, sondern Konfliktgeschehen, in Sonderheit zwei: Mikroelektronik-Technologie vs. klassische Elektronik sowie Interkosmos vs. klassische Raumforschung. 69  Die 1955 gegründete Abt.  VI spielt in der Untersuchung eine bedeutende Rolle. Mit ihr begann die systematische Bearbeitung von Sicherheitsbereichen wie Kernphysik, Kerntechnik und Flugzeugindustrie. Geleitet wurde sie von Eduard Switala. 70  Abt. VI/2 vom 18.12.1955: Rückführung des persönlichen Besitzes; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 43, Bl. 5.

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Beide Konfliktgeschichten sind detailliert diachron dargestellt. Das Konkrete ist an jenen Stellen, die einen systemischen Charakter für die DDR-Wissenschaftspolitik besaßen, mit analogen Geschehen, Situationen und Merkmalen in den vor- und nachgestellten Kapiteln verknüpft. Was wesensgleich am Heinrich-Hertz-Institut (HHI) im Bereich der Raumforschung passierte, passierte auch in industriellen oder Hochschuleinrichtungen in Dresden oder Leipzig im Bereich der Biologie, Philosophie oder Chemie. Analoge Fälle aus diversen anderen Disziplinen werden prägnant dargetan. 2.3.2  Darstellung und Gestaltung Im Zentrum der Untersuchung stehen die drei oben genannten und zuzüglich der Flugzeugindustrie vier Gebiete, historisch gesehen jeweils in ihrer Anfangs- oder Früh-, und in zwei Fällen auch bis zur Endphase. Diese vier Untersuchungsfelder werden in drei Hauptkapiteln primär aus der fachlichen und MfS-Perspektive dargestellt, sie sind eingebettet in Vor- und Nachbetrachtungen. Die Vorbetrachtungen erläutern zum Verständnis der handelnden Personen deren Herkommen und Selbstverständnis (Bürgertum, Tradition, Ethos, Physik und Philosophie), zum Verständnis ihrer Situation Aspekte der kommunistischen Doktrin (Utopie, Ideologie), zum Verständnis der Lage der Forschung und Entwicklung in der DDR elementare Wissenschaftsfragen (Wissenschaftsverständnis, Wissenschaftspolitik, Wissenschaftsplanung und -organisation), zum Verständnis der volkswirtschaftlichen Lage ökonomische Voraussetzungen (Investition und Invention, Innovation) sowie zum Verständnis der politischen Grundlagen die beiden Herrschaftsphasen unter Ulbricht und Honecker. Die Vorbetrachtungen legen das notwendige Grundwissen zum besseren Verstehen der nachfolgenden drei Hauptkapitel aus. In ihnen wird fall- und bedarfsweise darauf zurückgegriffen. Der MfS-Term ist in den Vorbetrachtungen eher marginal. Anders in den Nachbetrachtungen, die der Verifikation und Verallgemeinerung wesentlicher MfS-Aspekte aus den drei Hauptkapiteln dienen. Allein der strukturelle Aufbau des MfS ist nur gering dargestellt, anderenfalls hätte dies die eigentliche Thematik gesprengt. Alle relevanten strukturgeschichtlichen Daten und personellen Angaben zu Offizieren des MfS sind jedoch entweder im Text oder im Fußnotenapparat aufgeführt. Zum MfS-Term: Es sind dies MfS-Spezial I (Spionage, Sabotage, Gutachten) und MfS-Spezial II (Mitarbeiter des MfS). Diese, wie auch die anderen 14 Abhandlungen unter Kapitel 3, sind mit einem inhaltlichen Bezug zu den drei Hauptkapiteln 4.1 bis 4.3 geschrieben. Dies betraf sowohl Personen und Institutionen als auch systemische, historische und geisteswissenschaftliche Aspekte. In einigen Fällen wird auch auf Personen Bezug genommen, die zeitgeschichtlich zu bestimmten Erscheinungen in den drei Hauptkapiteln gehören (zum Beispiel Robert Havemann, Kurt Mothes, Hans Stubbe, Jürgen Kuczynski und Hildegard Emmel). Hierdurch wird erreicht, dass DDR-Geschichte insgesamt präsent, also plausibel wird, dass das Konkrete zum Allgemeinen und umgekehrt

Methode und Darstellung

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weist. Die gezogenen Grenzen der drei Hauptkapitel werden somit universell erweitert und erscheinen wie aus dem Kontinuitätsstrom der DDR-Geschichte gespeist. Zusätzlich in den Fluss des Textes gesetzte Exkurse entsprechen diesem Prinzip, sie betonen den ganzheitlichen Charakter der Untersuchung. Für die Untersuchung war es notwendig, einige zentrale Aspekte wie Industrieanbindung, Grundlagenforschung sowie Tradition und Ethos des bürgerlichen Wissenschaftlers genauer zu bestimmen. In offenen Gesellschaften wird – auch oder gerade unter dem Gesichtspunkt diverser Konflikte und Schwierigkeiten vielfältiger Art – »einfach« etwas gemacht oder es setzt sich »einfach« auf dem Markt durch. Das geschah vollkommen anders als in nicht-offenen Gesellschaften wie der DDR, wo prinzipiell die Zentralverwaltungswirtschaft existierte, die stets auf politische und ideologische Prämissen sowie oft genug auch nur einfach auf Tagesziele hin orientiert war und insofern auch wieder umorientiert werden konnte. So wurden die knappen Güter, die naturalen Ressourcen aller Art, zusätzlich beschnitten, umgelenkt, abgeschnitten, verschwendet, aber auch zum Missfallen stets anderer Sparten und Zweige erweitert. Die Dinge erhielten damit einen (völlig) anderen Lauf, als es ihrer Natur in offenen (Wettbewerbs-)Räumen entsprochen hätte. Der Weg zur Produktionsreife erwies sich als steinig und schwer, über die Hürden ins Ziel gelang nur Weniges. Abweichend von sämtlichen anderen Kapiteln ist in den drei Hauptkapiteln die Komplexität nicht aufgelöst, sondern entfaltet worden. Konkret heißt dies, dass die Komplexität nicht zugunsten eines sofortigen Verständnisses und zulasten eines Wirklichkeitsverlustes reduziert, sondern auf diachrone Weise – scheinbar in teilweisen Wiederholungen – dargestellt wird. Der Wirklichkeit ist dies adäquat: Aufbau- und Arbeitsprozesse, jahrelange Reformen, der ewig nie enden scheinende Streit, aber auch der lange Prozess der Forschung und Entwicklung selbst. Auf diese Weise wird die einstige Realität der Geschehnisse nicht nur rekonstruiert, sondern der Term des permanenten Eingriffs des MfS in ureigene Belange der Wissenschaft überhaupt erst voll entdeckt, umrissen und somit plausibel und damit nachvollziehbar gemacht. In der Darstellung findet der Begriff der Landschaft71 Verwendung, etwa in Verbindung mit Wissen, Forschung und Kultur. Landschaften (Institutionalisierung mit sozialer Topografie) sind insgesamt farbiger und weiter als dies Standorte (Insti­tutionalisierung ohne soziale Topografie) sein können. Der Begriff der sozialen Topografie hängt eng mit dem Lewin’schen Begriff des Lebensraumes zusammen, den ich im Rahmen einer Untersuchung fruchtbar gemacht habe.72 Er trägt dazu bei, Handlungen nicht nur unter dem Aspekt der historischen Zeit zu verstehen, 71  Vgl. zum Begriff der Landschaft Meusburger, Peter: Siedlungsgeographie. Wissen und Ausbildung in der räumlichen Dimension. Heidelberg 1998, passim. 72  Buthmann, Reinhard: Widerständiges Verhalten und Feldtheorie, in: Neubert, Ehrhart / ​ Eisenfeld, Bernd (Hrsg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR. Bremen 2001, S. 89–120.

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sondern insbesondere auch von sozialen Räumen her wie Heimat, Aufenthalte, Arbeitsorte etc. Hier eingewoben finden sich insbesondere auch symbolische Handlungen, Verhaltensmerkmale, Stigmata73 und Rituale, denen allgemein wenig Gewicht beigemessen wird. Technische Vereinbarungen Die vier Hauptprotagonisten werden zu Anfang der Hauptkapitel vorgestellt, die bedeutenden anderen Protagonisten an dafür geeigneten Stellen im Text. Zu wiederum anderen, immer aber noch bedeutenden Personen, werden in den Fußnoten ausgewählte, zweckentsprechende Hinweise gegeben. Zu Personen der vierten Schicht ist es nicht notwendig, Angaben zu geben. Nichtveröffentlichungsfähige Personen sind pseudonymisiert und mit Sternchen* versehen. Völlig uninteressante Personen im Kontext der Darstellungen sind anonymisiert. Dienstgrade werden nur dann angeführt, wenn es der Einordnung dienlich ist. Allgemein wird der Begriff »Offizier« verwandt, um die MfS-Mitarbeiter optisch zu kennzeichnen. Akademische Titel sind im Text gestrichen. Solche Angaben erfolgen, wenn geboten, lediglich in den Fußnotentexten. Bei einer anderen Darstellung wäre es zu einem bunten Wirrwarr von dynamisch sich verändernden Titeln und Graden gekommen. Ein Prinzip dieser Arbeit ist es, bedeutende Namen im Kontext der Untersuchung bereits an den frühestmöglichen Stellen zu erwähnen, auch wenn sie an diesen Stellen scheinbar völlig unbedeutend sind. Etwa wie oben bereits geschehen mit Jahn, der dort nur als unterer operativer Mitarbeiter in Erscheinung tritt, einer, der eine Information weiterleitete. Er wird jedoch in allen drei Hauptkapiteln eine Rolle spielen, die, würde man sie vernachlässigen, kein geschlossenes Bild von der Natur der Wissenschaftspolitik der DDR zeichnen ließe. Die von Hartmann dienstlich erstellten Aufzeichnungen firmierten bei ihm unter »Notiz« mit fortlaufender Nummer, in der Untersuchung werden sie als solche bezeichnet. Die von ihm erstellte Chronologie zu seiner Geschichte, die in Form einer nummerierten Loseblattsammlung erfolgte, nannte er »Museum«. In der Untersuchung wird dieser Begriff übernommen. Er schrieb diese Reflexionen in einer für ihn »wankenden« Zeit, als ihm nach Jahren (unrealistischen) Hoffens auf eine erfüllende Berufsaufgabe auch jenseits der Berentung klar wurde, dass das Vergangene der Vergangenheit entgegengeht. Wer wollte damals wissen, wer er war, was geschah? Eigentlich kaum jemand. Von »wankender« Zeit spricht Lahusen in Anlehnung an Jan Romein, der feststellte, dass zum Mittel der Biografie gegriffen wird, wenn »alte Werte wanken, neue aber erst noch gebildet werden müssen«. Ja, es galt, eine Katastrophe, eine Zäsur, die zerstörte Selbstsicherheit »narrativ zu be73  Goffmann, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt / M. 1998, passim.

Quellen

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wältigen«.74 Hartmann hinterließ keine Autobiografie, es sind Aufzeichnungen ex post zur Selbstvergewisserung. Doch er wankte erheblich, die Aufzeichnungen gaben ihm etwas Halt. Eine Zukunft für sich sah er nicht. Der Begriff »inoffizielle(r) Mitarbeiter« wird großgeschrieben, wenn er oder sie kategorial der Familie der IM (siehe Abkürzungsverzeichnis) angehörten. Das trifft auch auf die Vorläufer der IM bis 1968, den Geheimen Informatoren (GI) und den Geheimen Mitarbeitern (GM) zu. Hingegen wird der Begriff kleingeschrieben, wenn damit alle, eine bestimmte Anzahl mit teils unbekannter Art sowie Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) gemeint sind. Auf die Differenzierung der IM-Kategorie wird im Text weitestgehend verzichtet, da der oftmalige Wechsel der Einstufung nur verwirrt. Erläuterungen zu den Diensteinheiten erfolgen in begründeten Fällen im Fußnotenapparat. Auslassungen und Einfügungen in den Texten der Quellen sind in runde, solche des Verfassers in eckige Klammern gesetzt. Zur Verbesserung der Lesbarkeit des Textes sind Wortabkürzungen in Zitaten stillschweigend getilgt, statt »wiss. Zeitschrift« also »wissenschaftliche Zeitschrift« gesetzt worden.

2.4 Quellen »Akten beginnen erst beredt zu werden«, so Hermann Peiter, »wenn sie Erlebtes widerspiegeln oder die Erinnerung an Erlebtes korrigieren.«75 Wie oben bereits dargelegt, sind Studien über die DDR, die ohne den Zugriff auf Unterlagen der Geheimpolizei, Nachlässe und Privatarchive entstanden, epistemologisch beschränkt. Vor der Öffnung der Archive des Staatssicherheitsdienstes wurden bestimmte Quellen der Historiografie nicht generell verdammt. Deren Wahrheitsgehalt unterlag kaum je moralischen Wertmaßstäben, die ohnehin wissenschaftlich allgemeingültigen Kriterien zu folgen hatten. Selbst offene Geister mit Hang zum Historisieren neigen hin und wieder zur Verdammung dieser Quellenart. Dabei sind es nicht immer nur ehemalige inoffizielle Mitarbeiter des MfS, die »gute« Gründe für eine rigorose Ablehnung vorzubringen wissen, wie etwa Josef Morgenthal, in den 1980er-Jahren Stellvertreter des Ministers des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik (MEE). Ein Mann mit erstaunlicher Karriere danach, dem durchaus eine Weite des Blickes zugebilligt werden kann, nicht aber in der Frage der Stasiakten. Morgenthal lehnt »es prinzipiell ab, mehrere tausend Leute [die Mitarbeiter des BStU – d. Verf.], mit deren Gehaltskosten man vielen kleinen Betrieben in ganz Deutschland helfen könnte, damit zu beschäftigen, in diesen widerlichen Schnüffeleien heute noch immer herumzukramen«.76 Folgte man ihm, würde es notwendig heißen müssen, das Geschäft des Historikers in Sachen DDR zu beenden. Es geht 74  Lahusen: Zukunft am Ende, S. 13 f. 75  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff, S. 272. 76  Morgenthal, Josef: Staat und Revolution. Libri Books on Demand (ohne Jahresangabe), S. 54.

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weit mehr als nur um ein Tradieren von Schnüffeleien, es geht um den Aufweis einer systematischen, ja systemischen Interaktion des MfS mit der SED resp. staatlichen Stellen. Es geht um ein Verstehen jener Dinge, die faktisch geschahen. Als Morgenthal am 26. Mai 1983 mit mehreren höherrangigen Offizieren des MfS, übrigens auch des Operativ-Technischen Sektors (OTS), zu Problemen bei der Entwicklung des 16-bit-Mikroprozessorsystems in der DDR sprach, ging es schlicht darum, wie man das System auf »Basis Intel 8086« termingerecht meistern könne. Bei dem Gespräch wurde offenkundig, dass das MEE nicht hinreichend über die Beschaffungsmaterie informiert war.77 Dass Morgenthal nicht hinreichend informiert war, was die Offiziere feststellten, lag am extrem konspirierten System der Beschaffung selbst. Natürlich wusste man im MEE, dass im großen Stil fleißig beschafft wurde. Die milliardenschweren Dinge kamen ja in den Betrieben und Instituten an, und man saß sogar mit dem Herzstück der Beschaffung, dem Handelsbereich 4 des Bereiches Kommerzielle Koordinierung, sowie einer der größten Dienstabteilungen des MfS, der Abteilung 8 der HA XVIII,78 gar in einem Hause am Alexanderplatz in Berlin79 zusammen, doch die Strukturen hierfür waren, und das war gewollt, völlig intransparent. Konkretes wusste man in der Regel nicht.80 Die Akten des BStU aber tragen dies gleichsam nach, sie informieren, können rehabilitieren und rekonstruieren, aber auch entdecken. Erst diese Quellenart gestattet es zum Beispiel, Ernst August Lauter als einen Pionier in der anthropologischen Meteorologie zu entdecken, eine Tatsache, die andere Institutionen, zu denken ist da an die oben erwähnte Leibniz-Sozietät, bislang nicht leisteten. Etwa 60 Prozent aller verwandten Quellen der Untersuchung stammen aus den Beständen des BStU. Auf etwa 15 Prozent kommen diverse Archive, hier insbesondere im Fundus der Nachlässe. Weitere 15 Prozent stammen aus der Sekun­ därliteratur, hier insbesondere solche, die einen hohen quellengesättigten Term staatlicher Archive aufweisen. Mit etwa 10 Prozent ist der Fundus aus Befragungen und Eigenerfahrung anzusetzen. Nicht eingerechnet in diese Aufteilung sind der 77  Vgl. HA XVIII/8/5 vom 27.5.1983: Aktenvermerk über ein Gespräch mit Morgenthal; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 10097, Bl. 1 f. 78  Zuletzt bestand die Abt. 8 aus 8 Referaten und 2 Arbeitsgebieten: Sie war die größte Abt. der HA XVIII. Die bedeutendsten Sicherungsobjekte waren das von Felix Meier geleitete MEE, die Kombinate VEB Carl Zeiss Jena, Robotron Dresden und Mikroelektronik Erfurt sowie der Handelsbereich 4 (Bereich Kommerzielle Koordinierung). 79  Vgl. Buthmann, Reinhard: Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des MfS in Wissenschaft und Forschung der DDR. Berlin 2000, S. 284–287. 80  Siehe insbesondere zur Frage der Beschaffung von Elektronik-Technologie das rekonstruierte Organigramm »Organisationsstruktur der Beschaffung«, in: Buthmann, Reinhard: Die Organisationsstruktur zur Beschaffung westlicher Technologien im Bereich der Mikroelektronik, in: Herbstritt, Georg / Müller-Enbergs, Helmut: Das Gesicht dem Westen zu. DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 279–314, hier 300. Bereits die Kollegiumssitzung des MfS am 27.7.1959 befasste sich mit der Beschaffung wissenschaftlich-technischer Unterlagen und fasste den Beschluss 7/59, der zum Inhalt hatte, »besonders solche Unterlagen« zu »beschaffen, die die Rekonstruktion beschleunigen, – Halbleiter – Elektrotechnik«. BStU, MfS, SdM, Nr. 1903, Bl. 116–121, hier 117.

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Erfahrungsschatz und Wissenserwerb aus theoretischen Werken aller Art. Die Quellengesättigtheit der Untersuchung ist methodisches Prinzip zu dem Zweck, eine empirische Beweisführung zu erarbeiten, die dem heute anzutreffenden Trend des »Sich-nicht-genau-Festlegen-Wollens« entgegenwirkt. Es galt, solange zu forschen, bis die Vokabeln »vermutlich« und »wahrscheinlich« nahezu getilgt waren. 2.4.1 Quellenarten Für die vorliegende Untersuchung waren neben der umfangreichen wissenschaftlichen Primär- und Sekundärliteratur vor allem drei archivarische Quellen wichtig: das Archiv des BStU, das Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ArchBBAW) und das Archiv der Technischen Sammlungen Dresden (TSD). Von Bedeutung waren auch Arbeiten und Dokumente aus Institutionen und Ministerien der DDR, die entweder im Original in den Beständen des SAPMO und den betreffenden Archiven der ehemaligen Ministerien (MWT, MEE) eingesehen wurden oder in Sekundärliteratur enthalten resp. kommentiert sind. Anders als für die Institutionen- und Fachhistoriografie, die auf maximale Vollständigkeit der Daten orientiert, besitzt die Sekundärliteratur für die vorliegende Untersuchung einen geringeren Stellenwert. Sie besitzt in der Untersuchung mehr Gerüst-, Beleg- und Prüfcharakter, als dass sie zum konstitutiven Bestandteil geworden ist. Für den Verstehensprozess der damaligen Geschehnisse inner- und außerhalb der Fachdisziplinen zeigte sich dagegen der Rückgriff auf Fachperiodika, Lehrbücher, Aufsätze und Zeitungsartikel als unerlässlich. Diese Quellenart ist im erheblichen Umfang studiert worden. Eine weitere unverzichtbare Quelle bildeten die Editionen der Abteilung Bildung und Forschung des BStU.81 2.4.2 Quellenforschung Es war vorab naheliegend, dass die Primärquellen für die Fragenprofile der Untersuchung in den Nachlässen der betreffenden Wissenschaftler sowie in den Quellen des BStU zu finden sein würden. Diese Annahme hat sich bestätigt. Die aus welchen Gründen auch immer reduzierten und mehrstufig redigierten offiziellen Dokumente des Staatsapparates gaben in der Regel keine zufriedenstellenden Auskünfte auf Fragen des Warum und des Wie. Gleichwohl boten sie als Referenzquellen Rahmendaten und Hinweise auf Strukturen, Programme und Personen. Das von Thomas Stange erwähnte interpretatorische Restrisiko infolge der »zunehmend formalisierten und oftmals verklausulierten Sprache« des tradierten Herrschaftswissens, das

81  Siehe das Internetportal des BStU (Bildung und Forschung).

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»die zweifellos vorhandenen Konflikte konsequent ausblendete«,82 hebt diese Untersuchung mit diesen beiden spezifischen Quellen, wie gezeigt wird, jedenfalls für die in den drei Hauptkapiteln dargestellten Wissenschaftsdisziplinen mehr als nur auf. Dem Faktum der BStU-Quellen liegt ein spezifischer Erkenntnisgewinn inne. Wie sind sie zu lesen, wenn sie (angeblich) so anders sind? Wie andere auch? Natürlich. Wie werden sie von außen, von Betroffenen zumal, gelesen? Die Rezeption dieser Quellenart ist mannigfaltig. Oft war und ist zu beobachten, dass ein entdeckter Fehler, der erinnerungspsychologisch übrigens keiner sein muss, zum Anlass genommen wurde, eine Generalabrechnung mit dieser Quellenart zu starten. Oder es gibt hybride Auffassungen. Beispielsweise betrachtet Alfred Schellenberger die Informationsflut des Staatssicherheitsdienstes als reinste, unbeherrschte Sammelwut. Seltsam nur, dass Brauchbares gern als Beleg hingenommen wird; ein Beispiel: Die Abteilung XX/3 der BV Halle notierte am 2. Juli 1969, dass Schellenberger fachlich gut sei, jedoch in politisch-ideologischer Hinsicht »in zahlreichen Diskussionen und seinem Freundes- und Umgangskreis« die Politik des Staates und der SED kritisiere. Auch dass Schellenberger den Aufbau eines Fern-Abendstudiums an der Universität Halle initiierte, was selbst der Staatssicherheitsdienst lobenswert fand, wird dann als »wahr« und gern zitiert: »So kann ich mit berechtigtem Stolz darauf verweisen, dass selbst in meiner Stasi-Akte ›die Begründung und Leitung des sogenannten Fern-Abendstudiums als persönliche Leistung‹ ausdrücklich gewürdigt wird.«83 Eine solch episodische, biografische Auswahlzitation ist zwar verständlich, doch genügt sie nicht der Historiografie. Insbesondere die Recherche im Fundus des BStU erwies sich als iterativ, eine Weise des Vorwärtskommens, die Dokumentenpfade legte, die es gestatteten, Zusammenhänge plastisch werden zu lassen. Ein Weg auch der Verästelungen. Viele Wege waren Sackgassen, andere besaßen labyrinthischen Charakter. Ohne Quellenkritik ging nichts: Wer hatte was wann berichtet, in welchem Kontext, in welcher Gesamtsituation (MfS-bezogen, gegenstandsbezogen, fachlich-sachlich sowie personell).

82  Stange: Die Genese des Instituts für Hochenergiephysik, S. xvi. 83  Schellenberger, Alfred: Forschung unter Verdacht. Erfahrungen aus dem Wissenschaftsalltag der DDR. Halle 2008, S. 21–23.

3  Wissenschaft von der Tradition zur Moderne »Es wird nur in solche Forschungen und Entwicklungen (materielles und geistiges) Kapital investiert, die sich nach bester Voraussicht realisieren lassen und von denen man einen Profit im allgemeinsten Sinne erhofft und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Entwicklungen zum Nutzen oder zum Schaden der Menschen sind.«1

Die Eingangssequenz stammt von dem westdeutschen Physiker Edgar Lüscher aus dem Jahr 1970 und ist 50 Jahre später zum wirkungslosen Bonmot verkommen. ­Lüscher sah seine These bereits damals sowohl für universell als auch generell bewiesen an. Aber gerade die DDR war es, die ihre Wissenschaftspolitik anders propagierte: Alles Tun diene dem Wohle des Volkes und dem Frieden. Wir wissen, dass daran wenig wahr war. Kaum bekannt ist, dass es einige Wissenschaftsfunktionäre gab, die den theoretischen Anspruch der SED auch konsequent lebten. An vorderster Stelle Max Steenbeck.2 In dieser Untersuchung besitzt Lüschers Aussage insofern eine herausgehobene Bedeutung, als dass die Protagonisten durchaus gegen den von ihm festgestellten Strom schwammen. Die Problematik aber geht ins Allgemeine: Investierte die DDR nach gründlicher Abwägung oder eher nicht, hielt sie den Atem bis zum Finale der Produktherstellung durch, waren die Investitionen konsequent zielführend und die zeitlichen Prognosen wenigstens annähernd realistisch? Korrigierte sie Ziele und wenn ja, wie? War sie – ideologisch gesehen – antiquiert, also den Doktrinen des Marxismus-Leninismus ausgeliefert? War sie nur eine Art von Science als Sachwalter von »Fortschritt und Wahrheit«, also nicht eine Techno-Science, der es primär um das Machen, um das Ausschöpfen von Denkbarkeiten, um Möglichkeiten und Machbarkeiten schlechthin ging? Waren die bürgerlich sozialisierten Wissenschaftler – wie ihre westlichen Kollegen auch – notwendig Techno-Scientisten, und die Wissenschaftsfunktionäre der DDR notwendig Scientisten? »Was war die DDR«, fragen Hans-Jürgen Wagener und Helga Schultz und referieren die nach der ostdeutschen Revolution mannigfaltig und oft kontrovers 1  Lüscher, Edgar: Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Freiheit, Teil  I, in: Physikalische Blätter 26(1970)10, S. 452–456, hier 455. 2  (1904–1981). Studium der Chemie und Physik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel von 1922–1927, Promotion 1929. Angestellt 1927–1945 bei den Siemens-Schuckert-Werken in Berlin. 1945–1956 in der Sowjetunion, Suchumi, Moskau, Leningrad und Kiew. Direktor des Instituts für Magnetische Werkstoffe von 1956–1959 sowie des Instituts für Magnetohydrodynamik von 1959–1969 in Jena. Vorsitzender des Forschungsrates ab 1965. Steenbeck wurde laufend operativ beobachtet. Obgleich er am 15.12.1981 verstarb, ist das Material zu ihm erst am 26.2.1987 »zur Ablage gebracht« worden. HA XVIII/5 vom 26.2.1987: Abschlussbericht; BStU, MfS, AP 2866/87, Bl. 187.

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diskutierten theoretischen Konzepte, angefangen vom Postulat einer totalitären Gesellschaft über das einer Organisationsgesellschaft bis hin zu dem des Kommunismus.3 Das grundsätzliche Problem all dieser Ansätze ist, dass theoretische Prämissen wie die Relativierung des Rechts oder die Einbeziehung der Privatsphäre in das Politische aporetischer Natur sind. Sie sind dies, weil sie vor allem statistischen Gesetzen gehorchen. Als solche, allgemein und im Vergleich mit freiheitlichen Ordnungen, sind sie zwar wahr, aber individuell, in Einzelfällen, können sie auch falsch sein. Und diese Einzelfälle sind nicht vernachlässigbar. Mit anderen Worten: Für jede (konkrete)  empirische Verifikation (Manipulation) findet sich auch ein Gegenbeispiel, eine (konkrete) Falsifikation. Dies ist nicht so sehr eine Frage der ideologisch geprägten Wahrnehmungen »im Regime« oder in situ als vielmehr eine Frage ex ante, nämlich der konkreten sozialen Lage, vor allem der Partizipation der Akteure an der Machtausübung. Das zu untersuchende Konkrete bedarf der Nutzung und Findung von Begrifflichkeiten, die Unschärfen möglichst minimieren und Erkenntnisse schärfen. Dieser induktive Weg vermeidet, was im Vollzug von Theoriekonzepten oft unvermeidlich ist: Zirkelschlüsse. Die Begriffsprämisse »Relativierung des Rechts« etwa, korrespondiert eben in anderer Weise mit empirischen Befunden als die Begriffsprämisse »Unrechtsstaat«. Eingetragen in das jeweilige Theoriekonzept, wird aus dem Prüfstein eine Bestätigung seiner selbst. So ist es empirisch eben nicht haltbar, die DDR als eine Nischengesellschaft oder gar als eine solche der »kleinen Leute« zu bezeichnen, wie es Günter Gaus mit Blick auf die Grenzen der Herrschaft getan hat. Diese Grenzen, die zweifellos vorhanden waren, sind keine Metagrenzen, keine unüberbrückbaren, gleichsam in Stein gehauene. Diese Machtgrenzen des Regimes waren oft nur zufällig, meist auch nur zeitweilig, sie konnten jederzeit aufgehoben werden. Und als solche waren sie immer da, existierten, drohend und unberechenbar, zu jeder Aktualauslegung geeignet. Und das MfS4 als Schild und Schwert der Partei war in dieser Hinsicht schlechthin das grenzenaufhebende, grenzenmissachtende, ja das grenzenlose Mittel zum jederzeit bereiten Einbruch ins Private, zum jederzeit bereiten Bruch des »veröffentlichten«, propagierten Rechts (siehe allein das Beispiel der systematischen, massiven Verletzung des Postgeheimnisses). Von der einstigen – von Walter Ulbricht erzwungenen – »Milde« Erich Mielkes in der Vollstreckung der Ächtung der bürgerlichen Wissenschaftskultur war bald nicht einmal mehr ein Hauch übrig geblieben. Auf einer Dienstbesprechung am 24. Januar 1957 führte Mielke aus: »Mit den bürgerlichen Wissenschaftlern muss man etwas anders um3  Wagener, Hans-Jürgen / Schultz, Helga: Ansichten und Einsichten. Einleitung, in: Schultz, Helga / Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 9–25, hier 12. 4  Die Bildung des MfS ist am 8.12.1950 von der Provisorischen Volkskammer der DDR auf ihrer 10. Sitzung beschlossen worden, nachdem das Politbüro der SED sie am 24.1.1950 vorgegeben hatte. Das Gesetz über die Bildung des MfS, verkündet und in Kraft getreten am 18.2.1950, bekannt gegeben im Gesetzblatt der DDR Nr. 15 vom 21.2.1950, enthält keine Angaben über Aufbau, Funktion und Aufgaben des Ministeriums.

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gehen. Da sie von sich aus bestrebt sind, in ihrem Bereich Ruhe zu haben, muss man einen guten Kontakt aufrechterhalten. Werbungen sind nicht erforderlich, aber man muss sie benutzen, damit wir wissen, was in ihrem Bereich los ist.«5 Und weiter: »Ohne Zweifel werden akademisch gebildete Personen benötigt. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, nur weil sie akademisch gebildet sind, dass sie tun und lassen können, was sie wollen.«6 »Der Rückzug ins Private und als ›Eigensinn‹ bezeichneter passiver Widerstand«, schreiben Wagener und Schultz, sind »typische Reaktionsformen auf Totalitarismus, sie belegen nicht seine Nicht-Existenz.«7 Genauer gesagt: Weder der Rückzug ins Private noch der Eigensinn sind notwendige Determinanten oder Kriterien für die Prüfung auf eine totalitäre Staatsverfassung. Es gab und gibt zu allen Zeiten allgemeine und spezifische Formen des Rückzugs ins Private. Beides sind anthropologische Konstanten und taugen nur bedingt zur kausalen Verkettung mit der jeweiligen Staatsform. Welche Optionen gab es in der DDR, gegen den verordneten Gehorsam konkret zu widerstehen? Drei: gehen, das Land verlassen (relinquere); reden, die Stimme öffentlich erheben (pronuntiare) sowie in seinem Beruf handeln, Fakten schaffen (creare). In der Untersuchung wird vor allem der dritte Modus vorherrschen, denn die bürgerlichen Wissenschaftler waren von ihrem Ethos her vor allem Schaffende. Nur in der Ausweglosigkeit, im Finale ihrer schaffenden Existenz, besser: in der Folge des vergeblichen Versuches fachadäquat zu handeln, kam es zu Fällen der »inneren Abwanderung«, der Scheinloyalität oder der missmutigen Loyalität – und damit, so irgendwie noch möglich, zu den anderen beiden Modi. Noch einmal gefragt: Was war die DDR? Martin Sabrow gibt scheinbar allen Denkintentionen Raum: politisches Gefängnis, Staatsinsassen (Joachim Gauck), mitreißendes Experiment, schützender Wohlfahrtsstaat, »eine deutsche Möglichkeit« etc. Dies mag den einschlägigen Diskursen zwar entsprechen und guttun – denn wer wollte nur eine Perspektive als die alleinige und für jedermann zutreffende ernsthaft erklären? –, doch kann eine solche relativistische Generaldraufsicht wissenschaftlich nicht genügen. Die philosophische Begriffsarbeit geht anders. Wir werden unten an den Geschehnissen und Episoden erkennen können, dass der folgende Satz Sabrows auf alles zu passen scheint und dass er keinen Erkenntnisfortschritt befördern kann: »Die Ausübung staatlicher und parteilicher Macht war im SEDStaat nicht gesetzlich beschränkt, aber sie war ebensowenig unbeschränkt. Stets blieb sie an regelhafte Entscheidungsprozeduren geknüpft und ungeschriebenen, aber selbstverständlichen Normen der Parteidisziplin unterworfen.«8 Allein der Fall 5  Dienstbesprechung mit den Abt. V/1 und V/6 am 24.1.1957; BStU, MfS, SdM, Nr. 1920, Bl. 88. 6  Ebd., Bl. 95. 7  Wagener und Schultz: Ansichten und Einsichten, S. 15. 8  Sabrow, Martin: Macht und Herrschaft, in: Schultz, Helga / Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 28–48, hier 33.

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Werner Hartmann im Kap. 4.1 zeigt, dass die Macht der SED unbeschränkt war, unbeschränkt dadurch, dass sie mit ihrem »Schild-und-Schwert-Instrument«, dem MfS, ein mit Sonderregeln und -normen ausgestattetes Instrument der Herrschaft und damit schlechthin ein Herrschaftsmittel in Händen hielt. Ein Mittel der letzten Instanz. Und dieser Fall war bei Weitem kein Einzelfall, sondern eher ein Regelfall, nämlich immer dann, wenn Partei- und / oder Sicherheitsinteressen verletzt waren oder auch nur schienen. Es ist vielmehr zu fragen, welcher Systematik diese »Rechtsverletzungen« gehorchten, wie sie sich im Gesamtsystem des DDR-Rechts einordnen lassen. Wenn die zeithistorische Forschung sich – nach Sabrow – von analytischen Modellen zugunsten eines Verständnisses von politischer Herrschaft gelöst hat, dem gerne gefolgt werden kann, soll dennoch die Forderung nach analytischen Instrumenten zum Erkennen von Herrschaftsausübung gestellt bleiben. Denn das für die Sabrow’sche These benötigte »soziale Beziehungsgeflecht«9 ist in der vorliegenden Untersuchung kein Kaleidoskop, sondern ein immer konkretes, weil nach bestimmten Prinzipien reduziertes »Sozialgeflecht«. Diese »Sozialgeflechte« werden in der Untersuchung grundsätzlich da aufgesucht, wo systemische und / oder systematische Konfliktlinien auftraten, nämlich in Instituten und Betrieben. Nach Sabrow würden sich Faktoren »der zeitgenössischen Wahrnehmung und damit Kontrolle durch die Herrschenden wie die Beherrschten« entziehen. Dies sind: »tradierte Gewohnheiten, erlernte Praktiken, geltende Werte und Sprachkonventionen«.10 Mit Blick allein auf die Nachlässe von Wissenschaftlern und Unterlagen des ehemaligen MfS lässt sich diese Befürchtung nicht bestätigen, denn alle relevanten Faktoren lassen sich im Falle der drei hochkomplexen zu untersuchenden Gegenstandsbereiche auffinden. Insofern sind den Sabrow’schen Faktoren unbedingt hinzuzufügen die Verhaltens-, Haltungs- und Handlungskonventionen. In der Untersuchung werden Wissenschaftler vorgestellt, die alle diese Faktoren in hinreichender Weise verkörperten. Sie waren sich dessen in der überwiegenden Anzahl der Fälle durchaus bewusst wie auch die Vertreter der Gegenseite kaum minder. Ein antagonistisches Wechselverhältnis, das an den zahllosen Konfliktpunkten meist hell aufleuchtete und so in die Notizen und Erinnerungen der Akteure sowie in die Aufzeichnungen des MfS gelangte. Die unvereinbaren Momente zwischen den beiden Seiten zeitigten Brüche und Streit, Siege und Niederlagen. Wenn die Kulturgeschichte des Politischen also die »Facetten der Herrschaftsinszenierung untersucht«, so Sabrow mit Achim Landwehr,11 dann hilft uns die Beachtung der genannten Faktoren beim Verstehen der Handlungen, ihrer Ergebnisse und der Finals der Einzelgeschichten. Hier interessiert weniger, »auf welche Weise die Gehorsamsbereitschaft der Bürger einer Gesellschaft gegenüber ihrer Regierung erzeugt«

9  Ebd., S. 34. 10  Ebd., S. 38. 11  Ebd., S. 39, vgl. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Tübingen 2001.

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wurde (Sabrow mit Hinweis auf Michel Foucault in Erweiterung von Max Webers soziologischen Arbeiten),12 sondern vielmehr, warum in Diktaturen wie der DDR die Einübung konformer Verhaltensweisen für bestimmte Kohorten (bürgerliche Wissenschaftler, selbstständige Handwerker, Zahnärzte und Bauern mit eigenem Hof) so außergewöhnlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen war, für andere aber überhaupt keiner Einübung bedurfte (Staatsbedienstete, Parteifunktionäre, zunehmend Studenten), also offenbar auf Mimetik beruhte. Ist es der Lohnarbeiter, der anonyme einfache Bürger, der Proletarier, der Verwaltungsangestellte, der Beamte, der die Geschichtsschreibung »lenkt«? Diese im Zuge der historischen Analyse ins Feld zu schicken, erzeugt eben andere Antworten, als wenn bürgerliche Professoren als Indikatoren dienen. Freilich muss für sie dasselbe gelten, oder mit Sabrow gesagt: Sie »markierten das Handlungsfeld, auf dem die Bürger den Umgang mit der Macht einübten«.13 Und genau dies ist die Frage, der nachzugehen war. Das Wissenschaftssystem der DDR wurde zunehmend zentralistischer. Grundsätzlich entsprach dies den Ideen des Kommunismus und dem Staatsaufbau, der von Anbeginn keine föderalen Strukturen kannte. Die Frage nach regionaler, örtlicher oder personaler Eigenständigkeit konkret zu stellen, bleibt jedoch davon unberührt. Dies beherzigt auch Hubert Laitkos Mahnung, wonach es der historischen Wirklichkeit nicht entspreche, »wenn man den Wissenschaftsbetrieb der DDR mit rigorosen, ideologisch zugespitzten Denkmodellen zu fassen sucht«.14 Allerdings hat er bei dieser Formulierung auch noch anderes im Sinn. Ihm geht es vor allem darum, die Totalitarismus-Zuordnung für seine DDR unmöglich zu machen. Laitko: »Die Wissenschaftssysteme der DDR und der Bundesrepublik waren bei allen unleugbaren Unterschieden nicht so exorbitant voneinander unterschieden, wie das heute allgemein gebräuchliche Totalitarismus-Konzept  – die Modellierung der DDRGesellschaft als eine ›totalitäre Diktatur‹ – nahelegt.«15 Selbst wenn dies stimmte, und in dieser Untersuchung gibt es einige markante Beispiele dafür, bliebe die Frage des Historikers Fritz Stern unangefochten: »Was heißt Leben in Diktaturen? Wessen Leben?«, die er präzisierte: »Nicht das Leben der Parteibonzen oder der Nomenklatura, sondern der gewöhnlichen Menschen.«16 Laitko argumentiert nicht konsequent wissenschaftlich, wenn er suggeriert, dass die Unterschiede nicht »exorbitant« und die beiden »Ströme, die aus einer gemeinsamen Quelle« kamen, sich »nicht beliebig weit voneinander entfernen« konnten. Dies kann schließlich kein Historiker begründet feststellen, abgesehen davon, dass die entscheidenden Vokabeln Laitkos unbestimmter Natur sind.17 »Beliebig weit«, dem folgt die Realität ohnehin nicht. Wir können uns schlechterdings in der Zunft 12  Ebd., S. 38 f. 13  Ebd., S. 38. 14  Laitko: DDR als Wissenschaftsstandort, S. 11. 15 Ebd. 16  Stern, Fritz: Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Berlin 1988, S. 289. 17  Laitko: DDR als Wissenschaftsstandort, S. 11.

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der historischen Wissenschaft, exakte Begriffe zu finden und sie empirisch zu verifizieren, nicht aus der Verantwortung nehmen. Laitko vermischt zum Zwecke einer relativen Ehrenrettung der DDR die Strukturen und Bedingungen des DDR-Wissenschaftssystems mit den individuellen Fähigkeiten namhafter Wissenschaftler, die meist ihre Prägung und Grundsozialisierung in den 1920er- und 1930er-Jahren des 20. Jahrhunderts erhielten, und deren Mentalitäten erstaunlich fest blieben. Es wird zu untersuchen sein, welche Verhältnisse aufgespannt waren zwischen den Wissenschaften (Forschungs- und Entwicklungsaufgaben, Disziplinenentwicklungen, Technikentscheidungen), den jeweiligen Bedingungsumfeldern und den konkreten Maximen der Funktionäre. Am Ende der Honeckerphase mögen sich die beiden deutschen Wissenschaftsausübungsweisen, einst fast ununterscheidbar bis in die 1950er-Jahre hinein, denkbar weit auseinanderentwickelt haben, sodass wenig nur an das Einst vor 1945 erinnerte. Denn die Restriktionen und Zumutungen der moderneren DDR-Wissenschaftspolitik waren in die alten bürgerlichen Mentalitäten eingebrochen, griffen sie an, erschütterten sie, trieben sie in die Isolation, zerstörten sie aber nicht vollends.

3.1  Der bürgerliche Wissenschaftler »Die Wenigen, entschuldigen Sie, sind eben die, die aus irgendeinem Vorstand ausgetreten sind, die Wenigen sind eben die, die gesehen haben, die Vorteile, die ich hatte, auch der Profit, ich gebe sie preis, weil ich eingesehen habe, es ist ein falscher Weg gewesen. Das sind die Wenigen. Die Vielen würden sagen: Okay, ich mache mit, ich muss ja, es geht nicht anders. Es kommt eben immer nur auf die Wenigen an.«18

Der bürgerliche Wissenschaftler zählte etwa ab 1960 zunehmend zu den Wenigen. Anfangs waren sie gewissermaßen noch unter sich. Auf sie kam es, und insofern trifft der Satz Hans Sahls zu, in besonderer Weise an. In Forschung, Entwicklung und Lehre. Ohne sie ging nichts. Was aber auf den ersten Blick weniger oder gar nicht zuzutreffen scheint, sind die beiden Vorsätze Sahls. Denn sie machten in der Regel beim sogenannten Aufbau des Sozialismus mit. Manch einer gar auch noch nach seinem »Abschuss« oder seiner »Stilllegung«. Seine Existenz jedoch war oft gefährdet, selten war er wirklich akzeptiert. Er war Geduldeter auf Zeit. »In der DDR wurden die Pflöcke so eingeschlagen«, schreibt Hans-Jürgen Wagener, »dass trotz der Versicherung, das bürgerliche System bleibe mit den Blockparteien und der Privatwirtschaft grundsätzlich erhalten, nur in einer Richtung marschiert werden konnte.

18  Hans Sahl in einem Interview mit Fritz J. Raddatz 1991 »Man lebt immer ›als ob‹«. Gespräch mit Hans Sahl, in: Raddatz, Fritz J.: ZEIT-Dialoge. Hamburg 1996, S. 87.

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Alternative, liberale Entwicklungskonzepte waren ausgeschlossen.«19 Viele flüchteten, trotz guten Einkommens in der DDR. Viele machten »ihr Ding«, so als gäbe es die SED nicht. Andere versuchten es mit hehren Idealen – und scheiterten meist. Ein permanenter Vorbehalt blieb bei allem Gebrauchtsein stets virulent, wenn ihnen unterstellt wurde, nicht zielstrebig im Sinne der Vorgaben zu arbeiten, das Eigeninteresse gegenüber den gesellschaftlichen Erfordernissen zu betonen. Und speziell die Emporkömmlinge, nicht selten »akademisch« vorgebildet in den Arbeiter-​ und-Bauern-Fakultäten (ABF), wussten, wie man Karriere gegen die Alten macht. Der junge Wissenschaftler Hans-Joachim Fischer alias GI »Elektronicus« alias IM »Bernhard«,20 zu seinem Führungsoffizier im Herbst 1958: »Seitens der Physiker kann ein Thema durch Wahl umständlicher oder schwieriger Lösungswege verzögert werden.«21 Exakt in diesem Sinne warnte ein Jahr später Generalleutnant Otto Walter22 auf die Bitte des Leiters der Abteilung VI, Oberstleutnant Eduard Switala23, gegen Werner Hartmann ermitteln zu dürfen, vorsichtig zu sein, da »es sehr schwer ist, Wissenschaftlern Sabotage oder Diversion nachzuweisen« (siehe S. 400). Unter den bürgerlichen Wissenschaftlern, zumal prominenten, gab es nicht wenige SED-Mitglieder. Keinesfalls waren sie mehrheitlich vom blinden Gehorsam geschlagen. Ein oft anzutreffender Stereotyp in der MfS-Aktenlandschaft bildete die Position der SED, wonach es Genossen gebe, die dazu neigten, »den unwissenschaftlichen und politisch falschen Standpunkt des Naturwissenschaftlers« einzunehmen, sich nur mit reiner Theorie zu beschäftigen sowie »keine oder ungenügende Verbindung mit dem politischen Leben« zu haben, sinnbildlich unter deren Motto: »Meine Parteiarbeit ist eine gute Vorlesung.«24 Dies galt natürlich insbesondere für die parteilosen Wissenschaftler. Sie lebten ein Selbstverständnis, das sich definitiv 19 Wagener, Hans-Jürgen: Anschluss verpasst?, in: Schultz, Helga / Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 114–134, hier 119. 20  (1930–1991). Studium der Physik an der MLU Halle-Wittenberg, Promotion 1971 mit einer Arbeit über Satelliten-Instrumentierung. Tätig an mehreren Institutionen der AdW und der Industrie. Oftmals mit Aufgaben betraut, die einen militärischen Hintergrund besaßen. 1973–1981 Direktor des IE der AdW. Spitzname: »westöstlicher Iwan«. 1957–1989 IM des MfS. 21  Abt. VI/3 vom 25.9.1958: Bericht zum Treffen mit dem GI »Elektronicus« zum Thema: Möglichkeiten der Schädlingstätigkeit in der Abt. Optik; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 1, Bl. 102 f., hier 102. 22  (1902–1983). Stellv. Minister des MfS bis 1964. 23  (1919–2004). 1935–1946 Emigration in die Sowjetunion. Bis 1937 Schlosser in Leningrad, dann Woroschilowgrad, anschließend bis 1941 Dreher in Moskau, dann bis 1946 Soldat (Arbeitsarmee der Sowjetunion). 1946 Instrukteur, SED-KL Schwerin. Ab April 1947 VP Schwerin, ab 1.10.1949 operativer Mitarbeiter im MfS (Schwerin). Kurze Zeit in den Verw. Rostock (1952), Halle (1952), Leiter der KD Dessau (1953). Ab November 1953 Abt. III resp. HA III. 1955–1962 Leiter der Abt. VI Berlin, 1962–1968 Leiter der HA Passkontrolle und Fahndung. Vgl. HA KuSch vom 15.3.1971: Vorlage zur Verabschiedung von Oberst Switala; BStU, MfS, KS  22167/90, Beiakte, Bl. 116. Switala wurde 1952 durch Befehl Wilhelm Zaissers wegen »Übergriffen« bei Häftlings­ verhören seines Postens als Leiter der Bezirksverwaltung Rostock enthoben. 24  Zur Einführung des neuen Studienjahres vom 19.10.1957; BStU, MfS, AOPK 691/58, Bd. 1, Bl. 123–205, hier 131.

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als »unpolitisch« begriff sowie konsequent Wissenschaft und Politik voneinander trennte. Diese Haltung entsprach ihrem tradierten Wissenschaftsethos und diente zugleich als Selbstschutz und Chancenwahrung. Dies hatte sich bereits unter der nationalsozialistischen Herrschaft entwickelt und bewährt.25 Der Begriff der Loya­ lität entsprach dieser Haltung. Was stellte der bürgerliche Wissenschaftler in der DDR dar, der heute gern in An- und Abführung Gesetzte, lässt er sich phänomenologisch, phänotypisch oder gar definitorisch erklären, zumal heute, in einer Zeit, die diesen Typus kaum mehr kennt? Phänotypisch ist es leicht. Man lese nur einen der zahlreich tradierten Aufsätze von Physikern aus der Zeit von 1920 bis 1960, zum Beispiel jenen des in der DDR berühmten Jenenser theoretischen Physikers Eberhard Buchwald anlässlich des 60.  Geburtstages des in die Bundesrepublik geflüchteten Physikers Martin Kersten,26 der diesen Artikel 1966 verfasste. Buchwald schrieb wie er es in Jena gewohnt war zu sprechen, so, als hätte es die Allmacht der ideologischen Doktrin des SED-Staates überhaupt nicht gegeben. Der Aufsatz zeigt Bildung, Sprachmacht, Ethos. Eine holistische Welt, eine Insel im reißenden Strom omnipotenter Ideologiegewalt.27 Die Mehrheit der bürgerlichen Wissenschaftler, im MfS-Jargon stets abfällig als »Nur-Wissenschaftler« apostrophiert, versuchte in der DDR zu leben, als gäbe es die SED nicht; sie mied deren Veranstaltungen, Aufzüge und Redefloskeln, wo es nur ging. Das wiederum machte sie automatisch suspekt und oft genug geradezu verhasst. Buchwald beendete seine Vorlesungen in Jena regelmäßig mit einem Goethe-Zitat und ganz ähnlich verhielt sich der bekannte Verhaltensbiologe Günter Tembrock28 in Berlin, der seine öffentlichen Vorlesungen ebenfalls stets mit einem Goethe-Zitat beendete. Das verstanden die Hörer sehr wohl. Sie hatten ohnehin ein genaues Gesamtbild von diesen Professoren. Auch in deren Schriften sucht man oft vergebens nach SED-Artigkeiten, wie auch meist in jenen, die die Protagonisten der Hauptkapitel der Untersuchung schrieben. In einem Artikel im SED-Zentralorgan Neues Deutschland mit dem Titel »Kernphysikalische Messgeräte 25  Vgl. Lux, Anna: Eine Frage der Haltung? Die bruchlose Karriere des Germanisten Theodor Frings im spannungsreichen 20. Jahrhundert, in: Schleiermacher, Sabine / Schagen, Udo (Hrsg.): Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945. Stuttgart 2009, S. 79–99, hier 87. 26  (1906–1999). Promotion 1942 an der TH Stuttgart, 1930–1946 bei Siemens in Berlin, seit 1946 an der TH Dresden. 1949 wurde Kersten in Jena Leiter des früheren Kulenkampff’schen Physikalischen Instituts, las u. a. Experimentalphysik. 1951 Flucht in die Bundesrepublik. 1961 Berufung zum Präsidenten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. 27  Vgl. Buchwald, Eberhard: Haus mit Fernblick. Martin Kersten zum 60.  Geburtstag am 28. April 1966, in: Physikalische Blätter 22(1966)4, S. 145–153. 28  (1918–2011). Vom 1.4.1941 an der HU Berlin, dort Professor ab 1961. Gehörte niemals einer Partei an. Aus einem Bericht: »Die Lebensführung von Professor Dr. Tembrock ist durch außerordentliche Selbstdisziplin und Regelmäßigkeit charakterisiert. Die wissenschaftliche Arbeit und die Freizeitbeschäftigung mit dem klassischen kulturellen Erbe füllen sein Leben aus.« Einschätzung der Sektion Biologie der HU Berlin vom 20.3.1978; BStU, MfS, AP 2408/86, Filmkopie (FiKo), Bl. 3 f., hier 4.

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und ihre Anwendung« präsentierte sich Werner Hartmann in diesem Geiste und eben ganz anders als die Rompes, Treders und auch Steenbecks. Hartmann schloss den fachwissenschaftlich verständlich und in klarer Logik geschriebenen Artikel mit einem Vermächtnis eines von der SED Verfemten: »Der von Werner von Siemens stammende Ausspruch, ›Physik treiben heißt messen‹, hat immer wieder seine Wahrheit erwiesen.«29 Marx, Engels und Lenin kamen bei ihnen nicht vor, geschweige denn die üblichen lokalen oder Berliner SED-Machthaber. Das entsprach ihrer Form des Widerstehens. Daran konnten sich die Studenten aufrichten und festhalten. Allerdings hielten die besagten Hauptakteure in den drei Hauptkapiteln dieses Prinzip nicht völlig durch. So flocht Hartmann auf Betriebsversammlungen auch sozialistisches Bonmot ein. Aber manch ein Zuhörer glaubte Ironie herauszuhören. Etwas, was die tradierte Schriftform nicht mitteilt. Die Begrenztheit des Tradierten bildet (Vor-)Urteile. Diese personalen Residuen der Bürgerlichkeit wurden im Verlauf der DDR-Geschichte immer kleiner, viele verschwanden in den 1970er-Jahren. Die bürgerlichen Traditionslinien und Organisationsstrukturen verloren sich. Die Normativität ihrer Werte konfligierte mit denen der betrieblichen oder institutionellen Umfelder zunehmend. Die Ideologieresistenz schwand. Neue Lebenswelten taten sich auf. Eine gewisse (neue) Symmetrie von Ost und West wurde erkennbar. Autoren wie Pierre Bourdieu und Ulrich Beck beschäftigten sich mit diesen neuaufkommenden Problemen. Michel Foucault zog es zur Figur des unternehmerischen Selbst. Auch in der DDR wurde die wissenschaftliche Arbeit mehr und mehr zum Wettbewerb entwickelt, als friedliches agonales Prinzip, als eine anthropologische Konstante, die schon als überwunden geglaubt galt. Eine künftige akademische Arbeit: Das MfS als der große Spielverderber des agonalen Prinzips. Die gelebte Bürgerlichkeit dagegen, so sie echt war, war Opposition. Das ist lange Zeit auch so verstanden worden. Die Milieus der bürgerlichen Wissenschaftler befanden sich in aller Regel im Hintergrund, an den Rändern der neu-proletarischen Städte. Im ideologischen Vordergrund der SED aber blieb deren angebliche oder tatsächliche Welt, auch bei Fritz Behrens: bürgerliche Ökonomie, bürgerliche Produktionsweise, bürgerlicher Klassenstandpunkt, bürgerliche Produktionsverhältnisse, bürgerliche Gesellschaft, bürgerliche Klassik, bürgerliches Produktionssystem, bürgerliches System, bürgerlicher Demokrat etc.30 Carola Groppe hat das Heraufkommen des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums aus der Sattelzeit prägnant formuliert: »Durch den beruflichen Erfolg und das Erleben des eigenen sozialen Aufstiegs entstand ein eigenes bürgerliches Lebensmuster, das auf Bildung, Leistung, stetiger Berufsarbeit, Individualität und Selbst-

29  Beilage des Neuen Deutschlands, S. 2. Aufgefunden in: ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 1408. 30  Vgl. Behrens, Fritz: Grundriss der Geschichte der Politischen Ökonomie, Bd. I: Die Politische Ökonomie bis zur bürgerlichen Klassik. Berlin 1981.

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regulierung (statt äußerer Disziplinierung) beruhte.«31 Treffender dürfte das schwer fassbare Phänomen der Beharrlichkeit oder auch des Beharrungsvermögens vieler bürgerlicher Wissenschaftler gerade in Zeiten der materiell-politischen und ideologischen Versuchung sowie insbesondere unter diktatorischen Verhältnissen kaum zu formulieren sein. Die von ihnen zunächst gewählte oder übertragen bekommene und anschließend gelebte Selbstberufung erscheint somit als Vehikel sozialer, weltanschaulicher und geistiger Unabhängigkeit geeignet. Groppe nennt Elemente, die auch das individuelle Verhalten bürgerlicher Wissenschaftler begrifflich bestimmen: Selbstständigkeit und Selbstverantwortung, Selbst- und Weltverständnis der Leistung, Mündigkeit und Selbstständigkeit, Selbst- statt Fremdbestimmung, gehobene Bedeutung der Erziehung und Aufklärung,32 die Zugangsermöglichung zu höheren Berufspositionen durch Spitzenleistungen, Individualisierung und individueller Lebensentwurf sowie nicht zuletzt die Einheit von »Arbeit und Erholung, Familie und Beruf, Rationalität und Emotionalität, Glaube und Wissen«, mittlerer Weg und Maßhalten, Stetigkeit in der Arbeit.33 Gustav Seibt reklamierte für den Historiker Joachim Fest, einen der markantesten bürgerlichen Figuren der Bundesrepublik, gleich alle vier Kulturverpflichtungen als gegeben: das Republikanische, das Bildungsbürgerliche, das Preußische und das Katholische.34 Es ist bemerkenswert, dass nahezu alle Hauptakteure der Untersuchung sich der Kultur des Bildungsbürgers verpflichtet sahen. Groppes Aufzählung ist komplett signifikant für die Verhaltenserklärung eines Großteils der bürgerlichen Wissenschaftler in der DDR; wer je einen von ihnen erlebte, konnte dies bis in die zeremonielle Symbolik hinein beobachten. Man kann sie begrifflich mit dem bürgerlichen Humanitätsideal identifizieren, einer Haltungsidealität, die das MfS stets negativ konnotierte. Des Landwirtschaftswissenschaftlers Walter Neyes »Leitfaden«, heißt es in einem Abschlussbericht des MfS vom 9. Januar 1959, sei das »bürgerliche Humanitätsideal«.35 Allein die außerordentliche Bedeutung von Pädagogik und Didaktik sowie das kulturgeprägte Schüler-Lehrer-Wechselverhältnis müssen zu Groppes Auflistung noch hinzugefügt werden. Gewiss konstituieren diese Elemente die Gesamtpersönlichkeit und erklären die »innen- statt außengeleitete Handlungsregulierung«.36 Die unersetzbare Basis hierfür aber war und wäre die liberale Gesellschaft, also eine Gesellschaft mit betonten Freiheitsgraden, die dem Einzelnen einen ausdrücklichen Eigenwert zuschreibt, 31  Groppe, Carola: Lebenslauf im Zeichen der Bürgerlichkeit? Erziehung, Bildung und Sozialisation in Friedrich Hölderlins Leben, in: Hölderlin-Jahrbuch 2008–2009, Band 36. Tübingen 2009, S. 9–29, hier 13. 32  Vgl. ebd., S. 14 f. 33  Ebd., S. 20. 34 Vgl. Seibt, Gustav: Deutsche Erinnerungen. Das Klassische und das Kranke. Hannover 2008, S. 129 f. Hier Quellenhinweis auf: Fest, Joachim: Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. Reinbek 2007. 35  Abt. III/3 vom 9.1.1959: Abschlussbericht; BStU, MfS, BV Rostock, AOP 92/56, Bl. 113 f., hier 114. 36  Groppe: Lebenslauf im Zeichen der Bürgerlichkeit?, S. 20 f.

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nicht aber dem Staat. »Der Staat besitzt keinen Eigenwert, sondern ist Anwalt des Allgemeinen, das im diskursiven Prozess von den Bürgern ermittelt wird.« Individualisierung war angesagt.37 Nicht Masse.38 Und so muss auch der Kernphysiker Heinz Barwich verstanden werden, wenn er sich in der Sowjetunion auf der Suche nach dem Anarchisten Pjotr A.  Kropotkin machte (siehe S. 986). In der DDR aber war das polare Verhältnis von Innen- zur Außenwelt geradezu umgekehrt, woraus zwangsläufig ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen inakzeptablen, unliebsamen Anpassungsleistungen und dem Anspruch auf Selbstbestimmung erwuchs. »Warum«, fragt Groppe, »sollten Anpassungsleistungen erbracht werden, wenn doch der Anspruch des Individuums auf Selbstbestimmung im Mittelpunkt stand?« in jener Zeit.39 Es ist bemerkenswert, dass Groppes Explikation der Arbeits- und Lebensweise des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums als eine prägnante Summe so in der einschlägigen Literatur weitestgehend fehlt.40 Groppes Explikation war mithin geeignet, in der vorliegenden Untersuchung als Kriterienprüfkatalog für Verhaltenssequenzen bürgerlicher Wissenschaftler verwendet zu werden. In methodischer Hinsicht war jedoch darauf zu achten, dass immer auch nach den jeweils konkreten Bedingungen zu fragen war, die aus dem Innen- und Außenbereich der handelnden Personen stammten. Die operationale Basis dieser Rekonstruktionsleistung folgt aus dem Methodenarsenal der Lebensraumbestimmung im Rahmen der Feldtheorie Kurt Lewins.41 Als Beispiel sei hier die Privatinitiative des Forschers (als Lokomotion) genannt, die nahezu blind dem Sachinteresse folgt. Dieser Typ Wissenschaftler war schwer bis gar nicht von außen steuerbar. Treffend hat dies Ralf Bönt im Falle Michael Faradays beschrieben, dem bereits die bloßen Wörter Optik, Geologie, Mechanik, Chemie, Astronomie und Meteorologie zu elektrisieren vermochten; Bönt schreibt: »Diese Wörter arbeiteten in ihm, wenn er sie nicht sah, während der Arbeit, beim Nachhausegehen, auch beim Einschlafen. Verheißungen waren es, Versprechungen, Möglichkeiten des Übertritts.«42 Die Geschichte der vormodernen und modernen Wissenschaften zeigt, dass dieses Phänomen nahezu epidemiehafte Züge annahm und zu Clustern höchster Produktivität in Invention und Innovation führte. Als sich diese »selbstversunkenen« Forscher begannen zusammenzuschließen, um unabhängige wissenschaftliche Gesellschaften zu gründen, so Frank Pfetsch, war der »Wissenschaftstyp des bürgerlichen Zeitalters« geboren.43 37  Ebd., S. 22 f. 38  Vgl. zur Diagnose der heraufziehenden Moderne: Jaspers, Karl: Zur geistigen Situation der Zeit. Berlin, Leipzig 1931; Canetti, Elias: Masse und Macht. München 1994. 39  Groppe: Lebenslauf im Zeichen der Bürgerlichkeit?, S. 25. 40  Auf andere Weise jedoch und vor allem in Bezug auf das Widerstehen in Diktaturen: Fest: Ich nicht; Großbölting, Thomas: SED-Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle. Halle 2001. 41  Vgl. Buthmann: Widerständiges Verhalten und Feldtheorie, passim. 42  Bönt, Ralf: Die Entdeckung des Lichts. Köln 2009, S. 48. 43  Zit. nach: Weingart, Peter: Wissensproduktion und soziale Struktur. Frankfurt / M. 1976, S. 143.

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Die Unterlagen des BStU stellen ein unerschöpfliches Füllhorn von Belegen zum Phänomen der bürgerlichen Wissenschaftler, der Lage der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in der DDR, ihrer Umwerbung und ihrer Bekämpfung dar. Die Komplexität dieses Phänomens zeigt ein Beispiel aus der Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin (HU Berlin). Im Anschluss an die 150-Jahr-Feier der Universität im Oktober 1960 hatte die Universitätsparteileitung über »Fragen diskutiert, die das Verhältnis der Partei und Parteimitglieder zur bürgerlichen Intelligenz« betrafen. Vom ZK der SED nahm Johannes Hörnig, Leiter der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED, teil. Wie üblich wurde auch diese Feier in höchsten Tönen positiv abgerechnet, doch wer dabei war, wusste, dass es »viele Gelegenheiten« gab »zu sehr kritischen Feststellungen«. Sehr wahrscheinlich von Robert Havemann44 stammt die Kritik, wonach »eine ganze Reihe von Genossen« versuchte, bürgerliche Professoren und ausländische Gäste zu beeinflussen, damit sie ihre Vortragsmanuskripte vorher redigierten »oder einer Zensur zu unterwerfen« sich bereit erklärten »oder auf die vortragenden bürgerlichen Professoren einzuwirken, dass sie bestimmte Dinge sagen sollten, die sie vielleicht gar nicht sagen wollten.« So hätte die Parteileitung beabsichtigt, den Vortrag von Willi Felix auf der Konferenz »Medizin und Philosophie« zu verhindern: »Sie hatten furchtbare Angst, dass Felix etwas vorbringen könnte, das die Genossen in Verlegenheit bringen könnte oder die zu unübersehbaren komplizierten Diskussionen führen könnten.« Ähnlich sei es mit dem in Oxford lehrenden Physiker Kurt Mendelsohn gewesen, zu dem der Verfasser des Berichtes den Auftrag hatte »herauszukriegen, ob er nicht irgendwelche schrecklichen westlichen Sachen vorbringen könnte«. Er sollte dies herausfinden, ihn beeinflussen und ggf. Passagen »herausstreichen«. Alle SED-Genossen seien sich aber einig gewesen, »dass in diesem Verhalten ein grundsätzlicher Fehler, vor allem gegenüber der bürgerlichen, parteilosen Intelligenz zum Ausdruck kommt«. Das Vertrauensverhältnis sei ungenügend. Man solle sie nicht hindern, Äußerungen zu tätigen, die vom Marxismus abwichen. Dass sie zur Feier vorgetragen hätten, sei schon »allein ein Faktotum von großer positiver Bedeutung für uns«. So habe sich schließlich auch der Vortrag von Felix »als ein sehr wertvoller und politisch in jeder Hinsicht positiv zu wertender Beitrag« erwiesen. Der Berichterstatter er44  (1910–1982). Vorschule in Quakenbrück, Realgymnasium bis Untersekunda in Hannover, Oberrealschule in Bielefeld, Abitur 1929. 1929/30 Studium der Chemie an der Universität München u. 1930/31 an der Universität Berlin. 1932/33 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem tätig. 1934–1937 Stipendiat der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft. 1937 Hilfsassistent im Pharmakologischen Institut der Universität Berlin. 1937–1939 Assistent, 1942/43 wissenschaftl. Assistent, Habilitation. 1943–1945 Hauptangeklagter im Hochverratsprozess (Gruppe Europäische Union), verurteilt zum Tode. Die Hauptverhandlung fand am 15. u. 16.12.1943 statt, Vorsitzender des Richtergremiums war der Präsident des Volksgerichtshofs Freisler: Alle Angeklagten seien »dekadente Intellektualisten, die sich nicht scheuten, feindhörig Auslandssender abzuhören, lebten sich in feigen Defaitismus hinein, Deutschland verliere den Krieg«. BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 195 f., hier 195. Interniert im Zuchthaus Brandenburg, Befreiung am 27.4.1945. 1945 vorläufiger Leiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

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wähnte, dass er auf der Beratung klar gesagt habe, »dass die eigentliche Ursache darin« liege, »dass viele Genossen und auch Mitglieder unserer Parteileitung noch nicht genügend Vertrauen haben, dass wir mit unserer Argumentation, wenn wir sie vernünftig und ruhig vorbringen doch überzeugend wirken können. Sie haben ein ungenügendes Vertrauen zur Überzeugungskraft unserer Ideen, unserer Lehre und unserer Meinung.« Und weiter: »Aus diesem mangelnden Vertrauen an der eigenen Sache, kann man sagen, resultiert dann auch das Misstrauen gegenüber all denen, die sich uns nähern wollen und die mit uns zusammenarbeiten, die parteilose Intelligenz insbesondere. Der wird ständig zugemutet, dass sie in feindlicher Absicht, mit feindlichen Aufträgen, mit versteckten Hintergedanken usw. auftritt.« Man solle gegenüber jenen so auftreten, als ob sie immer den besten Willen uns gegenüber hätten. »Wenn wir ihnen dagegen mit Misstrauen begegnen und sie irgendwie ständig unter Kontrolle halten, dann wird dieser gute Wille mit der Zeit tatsächlich sehr geschädigt.«45 3.1.1 Bürgertum Die Inseln der Alt-Intelligenzler bezeichnet Alfred Schellenberger als »Oasen der Wissenschaft«, die »Anziehungspunkt« für junge Wissenschaftler wurden, die dem Politischen distanziert gegenüberstanden. Die Konsequenz daraus war, dass der Staat dem »Innenleben solcher Einrichtungen«, also solchen Inseln, zunehmend mit »Misstrauen« begegnete. Schellenberger zeigt sich überzeugt, dass die »gezielte Infiltration« solcher Kreise durch »konspirativ beauftragte Wissenschaftler« die geeignetste Methode des Staates gewesen sei.46 Der Theologe und Philosoph Robert Spaemann urteilte über die Zeit vor 1968: »Wir betrachteten die Universität nicht unter dem Gesichtspunkt der Revolutionierung und Instrumentalisierung für den Sozialismus. Wir lernten von unseren Professoren, was von ihnen zu lernen war, nämlich die ›bürgerliche Wissenschaft‹ – in dem klaren Bewusstsein, dass es eine andere gar nicht gibt.«47 Die gesamtdeutsche Parallelität im Kampf gegen die bürgerlichen Professoren, deren Idealität und Seinsweise, ist ein erstaunliches Phänomen und ist längst auch in das Blickfeld der Historiker gelangt. Es wird in der Untersuchung darauf zurückzukommen sein. Im Zuge der Moderne aber spielten in beiden deutschen Staaten handfeste Gründe die entscheidende Rolle; Spaemann: »Die alte, als ›Professorenuniversität‹ geschmähte Hochschule hatte ein hohes Maß an Autonomie, das den Ministerien längst ein Dorn im Auge war. Sie sehen deshalb nicht ungern, wie ihr diese Autonomie zerschlagt. Nutznießer davon wird die Ministerialbürokratie sein.«48 Die DDR aber 45  Bericht ohne Kopfangaben; ebd., Bd. 2, Bl. 261–267, hier 261–263. 46  Schellenberger: Forschung unter Verdacht, S. 38 f. 47  Spaemann: Über Gott und die Welt, S. 186 f. 48  Ebd., S. 193 f.

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hatte diesen »Umsturz« gleichsam vorgelebt, mit anderen Mitteln zwar, aber durchaus mit ähnlichen. Spaemann gibt uns noch einen anderen, thematisch bedeutenden Hinweis zu denken auf, die Frage nämlich, inwiefern das verantwortbare Handeln der bürgerlichen Wissenschaftler notwendig das Vertrauen auf ihre Handlungen und nicht noch auf etwas anderes, Übergeordnetes etwa, gerichtet sein müsse. Er erwähnt den Chirurgen als Beispiel, der selbst den Tyrannen erfolgreich operiert: »Seine Verantwortung besteht allein darin, durch eine Operation den Patienten zu retten, und der Patient muss das Vertrauen haben können, dass der Chirurg ihn retten will. Das funktioniert aber nur, wenn der Chirurg entlastet ist und ihm keine Universalverantwortung aufgebürdet wird.«49 Genau das war in der DDR nicht gewährleistet. Hier war das Übergeordnete die SED, die den Akteuren der Wissenschaft eine untragbare Universalverantwortung aufbürdete. Bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde mit dem Begriff Citoyen / Bourgeois der Bürger einer Stadt bezeichnet. »Mit dem Verlust der politischen Standschaft des Bürgerstands« aber verlagerte sich jedoch »die Bedeutung von ›Bourgeois‹ auf die wirtschaftliche Stellung des Stadtbewohners.«50 Wir finden diese letztgenannte Bedeutungsebene in den Biografien der Hauptakteure der Untersuchung außerordentlich oft: von Handwerksmeistern (der Vater Werner Hartmanns), über Studienräte und Oberlehrer (der Vater Siegfried Hildebrands) bis hin zu Fabrikanten und Betriebsdirektoren (der Vater Erich Thilos). Diese Stände waren in der Regel an Besitz geknüpft. Ein Merkmal, das übrigens Immanuel Kant in die Definitorik einbrachte. An dieses knüpften die SED und in Sonderheit das MfS an und nutzten es zur permanenten, effektiven Diskriminierung. Philosophiegeschichtlich ist zu bemerken, dass bis zu Georg Wilhelm Hegel grundsätzlich einer sachlichen Orientierung bei der Definition des Bürgers gefolgt worden ist. Erst mit ihm kam ein Moment ins Spiel, dass die gesellschaftlich-geschichtliche Bewegung bei der Definition des Bürgers implizierte. Einen weiteren Schritt in der ethischen Ausmessung des Begriffs unternahm Karl Marx, der den Träger der Emanzipation, die über die bloße staatsbürgerliche Emanzipation hinausgeht, im Proletariat verkörpert sah.51 Dieses Moment spielte für die Praxis der SED und des MfS eine besondere Rolle. Mit der theoretischen Vorrangstellung des Proletariers konnte der bürgerliche Wissenschaftler nicht »nur« diskriminiert und stigmatisiert werden, sondern auch liquidiert. Die propagandistische Darbietung entsprach letztlich der harten Didaktik Ludwig Feuerbachs. Dieser Vulgärmarxismus benutzte den Begriff des Bürgerlichen als Totschlagsformel: spießerhaft, konservativ, reaktionär, individualistisch, egoistisch, unmoralisch. Die Lage der bürgerlichen Wissenschaftler in der DDR war über die gesamte infrage kommende Zeit ein Problem. Öffentliche Anfeindungen, Neidkampagnen, 49  Ebd., S. 260. 50 Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (A–C). Basel, Stuttgart 1971, Sp. 964. 51  Vgl. ebd., Sp. 965 f.

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Ausgrenzungen und Einkapselungen waren an der Tagesordnung, auch in der Zeit ihres Gebrauchtwerdens unter Ulbricht. Es ist nicht unerheblich, daran zu erinnern, dass die SED in dieser Hinsicht von der Sowjetunion »lernte«. Der Kampf gegen das Bürgertum war ein Wesenselement im Bolschewismus. Er war noch radikaler als das, was die SED später umsetzte. Dies zeigt beispielhaft das Leben Pawel Floren­skis. Der begnadete Physiker, Mathematiker, Priester und Mythe wurde trotz Leistungen im Rahmen der Elektrifizierung der Sowjetunion ermordet. Fritz und Sieglinde Mierau über Florenski: »Er blieb innerlich frei vom Staat, von dem er weder vor noch nach der Revolution etwas erwartete; jede Unterwürfigkeit war ihm fremd, ob es sich dabei um die Obrigkeit von oben oder von unten handelte.« Er »durchschritt unsere katastrophische Epoche gewissermaßen ohne sie geistig wahrzunehmen«. Und pointiert: »Überhaupt passt auf ihn die deutsche Wendung: Nur für Schwindelfreie möglich; er ist auch in seinem Priestertum schwindelfrei geblieben.«52 Da die theologischen Akademien in Sowjetrussland geschlossen wurden, diskutierte Florenski mit Sergei N. Bulgakow Pläne einer religiös-philosophischen Akademie, sie »suchten nach Mitteln und Wegen zu seiner Verwirklichung«. Doch dies führte letztlich in den Kerker und Märtyrertod Florenskis und in die lebenslange Verbannung Bulgakows.53 Beim MfS war es Standard, in den Biografien bürgerlicher Wissenschaftler nach NS-Beziehungen jeglicher Art zu suchen. Irgendwie fand sich immer eine NSDAP-Mitgliedschaft oder wenigstens eine Firmenanstellung mit Beziehung zur Kriegsproduktion. Die Konstruktionen besaßen oft folgendes Muster: Da hatte Bernhard Kockel,54 der bei dem bürgerlichen Physiker Friedrich Hund studierte und vor 1945 dem AEG-Konzern verbunden war und dort mit dem (verhassten) Herausgeber der Physikalischen Blätter Ernst Brüche zusammenkam, »1961 die DDR illegal« verlassen. Kein Zufall also, dass ein Verwandter Kockels verdächtigt wurde, Spion zu sein und schließlich – völlig zu Unrecht – zu 15 Jahren Haft verurteilt worden ist. Das wiederum brachte der MfS-Gutachter Hans Joachim Hanisch alias IM »Rüdiger« (Kap. 4.1, 5.1 u. 5.2) in einen Zusammenhang: Der Verwandte 52  Mierau, Fritz / M ierau, Sieglinde (Hrsg.): Pawel Florenski. Leben und Denken. Bd. I. Ostfildern 1995, S. 26 f. 53  Ebd., S. 28. (1882–1937). Florenski wurde nahe Jewlach, Gouvernement Jelisawetpol, gebo­ ren. Er besuchte bis 1900 das Klassische Gymnasium in Tiflis. Seine Ausbildung erhielt er an der Physikalisch-Mathematischen Fakultät der Moskauer Universität in der mathematischen Klasse, Spezialgebiet: Reine Mathematik. 1904 erhielt er das Angebot, am Lehrstuhl zu bleiben. Er studierte ferner Philosophie, Philologie, Archäologie und Religionsgeschichte. 1908 wurde er Professor für Philosophie. 1911 erhielt er die Priesterweihe. Zur Zeit der Oktoberrevolution hielt er Vorlesungen über Mathematik und Physik. 54  (1909–1987). Studium der Physik, Mathematik und Geografie. Zu seinen Lehrern zählten Heisenberg, der ihn protegierte, und Hund. 1937 Dissertation, tätig im AEG-Forschungsinstitut Berlin (Elektronenröhren), Mitarbeiter u. a. Brüche u. Recknagel. 1939 Militärdienst, 1940 Arbeitsurlaub für AEG, dienstverpflichtet zu EMG Lübeck. 1945 Lehrer in Westberlin. 1947 Universität Leipzig, Assistent am Theoretisch-Physikalischen Institut. 1949 Habilitation, 1952 Übernahme des Hund-Lehrstuhls für Theoretische Physik.

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arbeite bei Hartmann, der wiederum sei mit Brüche gut bekannt, und der seinerseits schätze Kockel sehr. Kockel wiederum sei von Robert Rompe55 »aufgebaut« worden. Der wiederum sei vom »Schutzring Ardenne-Thiessen-Hertz« gefördert worden. Mit Kockel brachte Hanisch auf diese Weise 50 Personen in Zusammenhang, von denen die meisten alte Bindungen zu AEG und Siemens hatten.56 Das war nicht verwunderlich, schließlich gehörten sie nicht der Hochseefischerei oder der Landwirtschaft an, sondern der Physik. Doch diese »Verschworenen« verblieben nicht unter sich, sondern breiteten sich aus; der Gutachter: »Besonders kritisch zu bewerten ist die Tatsache, dass diese Personen – etwa Universitätsprofessoren – sich Assistenten gleicher Gesinnung auswählen und dann in Schlüsselpositionen an Universitäten und der Industrie lancieren und damit die Potenzen der alten, noch direkt konzernverbundenen Kräfte vervielfachen und konservieren.«57 Auch bei mit der SED verbundenen Wissenschaftlern war eine ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft ein Thema, wie der Fall Heinz Stiller alias IM »Martin«58 (Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 9) belegt: Das MfS hatte am 27. Dezember 1977 durch Kaderleiter Max Becker erfahren, dass kurz zuvor Stiller in einem Gespräch

55  (1905–1993). Apostrophiert der Physikpapst der DDR. Geboren in St. Petersburg. Besuchte von 1915–1923 das Mommsen-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg, von 1923–1927 Studium der Fernmeldetechnik an der Technischen Hochschule Berlin und von 1927–1930 Physik an der Universität Berlin. 1930 wurde er von Pringsheim promoviert. Von 1930–1945 wissenschaftl. Mitarbeiter der Studiengesellschaft für elektrische Beleuchtung der OSRAM KG unter Pirani. Bedeutende Entwicklungen und Publikationen (die wesentlichsten immer in Zusammenarbeit mit mindestens ebenbürtigen, jedoch theoriestärkeren Physikern wie Weizel, Steenbeck, Möglich, Jordan und Timofejew-Ressowski). 1941 wurde er von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn aufgrund seiner Veröffentlichungen habilitiert. 1942 Ruf an die Universität Greifswald, Lehrstuhl für Theoretische Physik. Den Ruf als Leiter eines dort zu gründenden Instituts lehnte er wegen des damit verbundenen Zwanges, in die NSDAP einzutreten, ab. 1945 nahm er eine Tätigkeit in der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung als Abteilungsleiter für Hochschule und Wissenschaft an, wo er 1948 wieder ausschied. 1946 ordentlicher Professor an der HU Berlin, II. Physikalisches Institut. 1949–1958 Direktor des Instituts für Strahlenquellen der DAW, 1958–1970 Direktor des Physikalisch-Technischen Instituts (ab 1969 Zentralinstitut für Elektronenphysik). 1953 ordentliches Mitglied der DAW. 1963–1968 stellv. und amtierender Generalsekretär der DAW. Rompe trat 1932 der KPD, Ortsgruppe Berlin-Charlottenburg bei, 1946 SED. 1946–1950 Mitglied des Parteivorstandes der SED, 1958–1989 Mitglied des ZK der SED. 56  Vgl. Ausarbeitung von Hanisch vom 16.11.1977: Untersuchungsergebnisse zum Strafverfahren gegen [X] von Hanisch; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 9, Bl. 144–147. 57  Ebd., S. 147. 58  (1932–2012). Studium an der HU Berlin von 1951 bis 1956 (Diplom-Physiker), Aspirant bis 1959, anschließend Promotion. 1959–1965 wissenschaftl. Arbeitsleiter am Geomagnetischen Institut Potsdam (GIP). 1964 Habilitation. 1965–1966 Abteilungsleiter und stellv. Direktor des GIP. 1966–1969 Direktor des Instituts für Geodynamik Jena. 1968 Professor, 1969–1973 Direktor des Zentralinstituts Physik der Erde (ZIPE). 1969–1971 stellv. Generalsekretär der DAW. Leiter des Beirats Interkosmos ab 1972. Von 1973 bis (mindestens 1977) Leiter des Forschungsbereichs (FoB) Geo- und Kosmoswissenschaften. 1954/55 SED-Parteileitungsmitglied, 1970/71 Mitglied der SED-Kreisleitung der AdW; seit 1977 Mitglied der Zentralen Parteileitung.

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mit Horst Klemm, 1. Sekretär der SED-Kreisleitung der Akademie der Wissenschaften (AdW), erfahren habe, dass von der Abteilung Sicherheit des ZK der Vorwurf gekommen sei, dass Stiller beim Ausfüllen der Personalbögen »unterlassen« habe, die »NSDAP- und SS-Zugehörigkeit des Vaters anzugeben«. Die Abteilung Sicherheit des ZK forderte eine Stellungnahme von Stiller ab. Der entschuldigte dies zunächst mit seiner Zusammenarbeit mit der HV A, das sei damals so zwischen ihm und seinem Führungsoffizier abgesprochen worden. Er bat daraufhin Günter Pätzold alias IM »Kosmos« (Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 3), dieses Günther Jahn von der HA AK so mitzuteilen.59 Der informierte Jahn am 20. Dezember 1977.60 Pätzold sprach daraufhin mit Stiller. Der fühlte sich denunziert, gab aber zu, den Fragebogen unterschätzt zu haben, es sei dies auch einer »mangelnden Abstimmung« der Berliner Genossen geschuldet. Pätzold will gegenüber Stiller gesagt haben, dass er das »Ganze« doch »als einen Härtetest der psychischen Belastbarkeit« auf‌fassen möge.61 Untersuchungen hatten zwischenzeitlich ergeben, dass sein Vater im Wachdienst im KZ Dachau eingesetzt war und dass er »sich gegenüber den Häftlingen ordentlich verhalten« habe.62 Offizier Brederlow von der Abteilung XVIII / Inst. der BV Potsdam fertigte am 4. Januar 1978 eine Aktennotiz, in der die wichtigsten Fakten zum Fall notiert wurden.63 Offenbar waren die Physiker, dieser Eindruck hat sich im Zuge der Forschungen gezeigt, ideologisch ungleich schwerer kontaminierbar, als es ihre Kollegen gleicher Herkunft aus den geisteswissenschaftlichen Disziplinen waren.64 Freilich gab es auf beiden Seiten auch extreme Ausreißer. Doch wie bereits zur Zeit des Nationalsozialismus, der eigentlich nur zwei stramme Nazi-Physiker kannte,65 sucht man in der DDR fast vergeblich stramme SED-Physiker. Rompe kann nicht ohne Abstriche genannt werden, Steenbeck schon gar nicht, nicht einmal Martin Strauss, der dieser Spezies ähnelt (Kap. 3.1.4). Anders in den Geisteswissenschaften, wo bürgerliche Wissenschaftler eher zu den Positionen der SED neigten, etwa der namhafte 59  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 4.1.1978: Vorfall Stiller; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 3, Bl. 295. 60  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 4.1.1978: Information über das Problem Fragebogen; ebd., Bl. 296–298, hier 296; vgl. auch BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 113–115, hier 113. 61  Ebd., Bl. 297, resp. Bl. 114. 62  Ebd., Bl. 298, resp. Bl. 115. 63  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 4.1.1978: Aktennotiz; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 112. 64  Ähnlich sieht es Sachse, Christian: Die politische Sprengkraft der Physik. Robert Havemann zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Sozialismus 1956–1962. Berlin 2006, passim. 65  Vgl. Simonsohn, Gerhard: Physiker in Deutschland 1933–1945. Einige Fakten und Gedanken zur kritischen Auseinandersetzung, in: Physikalische Blätter 28(1992)1, S. 23–28, folg. Zitat auf S. 23: »Man wird in der Zeitschrift für Physik und in den Annalen der Physik vergeblich nach Spuren der Deutschen Physik suchen. Nur zwei namhafte Physiker waren mit der Deutschen Physik verbunden: die Nobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark.« Vgl. auch: Dorner, Otto / Hamacher, Johannes: Vom deutschen Anteil an der physikalischen Forschung. Leipzig, Berlin 1930, S. III.

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Alt-Testamentler Walter Grundmann,66 der 1937 Professor an der Theologischen Fakultät Jena geworden war und sich zu DDR-Zeiten recht gewissenlos auch dem MfS andiente. Nach allem, was wir wissen, war er ein begnadeter Theologe, Rhetor, beherrschte perfekt Latein, Hebräisch, Englisch und Französisch. Politisch jedoch war er wendiger als eine Fahne im Wind. Zu Zeiten des Hitler-Regimes soll er ein überzeugtes und aktives Mitglied der NSDAP, wohl auch Mitarbeiter des Geheimdienstes gewesen sein.67 Das MfS warb ihn am 3. Dezember 1956 an.68 Zur Zeit des Nationalsozialismus stieß er zur faschistischen Strömung der Christen, den »Deutschen Christen«, und wurde laut MfS ihr »prominentester Vertreter« und Leiter des Instituts »Zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf die Kirche« in Jena. Das reiche publizistische Wirken in dieser Zeit bildete für das MfS »gutes kompromittierendes Material«.69 Allein 1941 hielt er in 50 Städten Vorträge, etwa in Sachsen Kursabende mit dem Thema: »Das Reich der Deutschen und das Gottesreich«. Grundmann war aktiver Teilnehmer an der Reichstagung der Deutschen Christen im Sportpalast Berlin im September 1939. Überliefert sind Treueadressen an das Hitlerregime, auch warb er eindringlich um Eingliederung aller evangelisch-protes­ tantischen Kirchen in den Bund Deutsches Christentum.70 Zur Gründung des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf die Evangelische Kirche am 6. Mai 1939 sprach er von der »Freimachung von allem jüdischen Einfluss«.71 Das MfS zeigte sich überzeugt, dass Grundmann nicht nur Handlanger der Nazis gewesen war, sondern »stets einer ihrer Hauptorganisatoren«.72 Nach dem Krieg war er aus allen leitenden kirchlichen Positionen entfernt und 1950 von Bischof Moritz Mitzenheim als Pfarrer in Waltershausen (Thüringen) eingesetzt worden.73 Bald aber hatte er sich wieder »emporgearbeitet«, wurde Leiter und Rektor des Katecheten-­ Seminars in Eisenach. Das MfS schätzte ein, dass bei ihm »ein starker Hass gegen die jetzige Kirchenleitung und die führenden Personen der ›Bekennenden Kirche‹ vorhanden« sei.74 Charakterlich sei er ein typischer Wissenschaftler.75

66  Vgl. Deines, Roland / L eppin, Volker / Niebuhr, Karl Wilhelm (Hrsg.): Ein Neutestamentler im Dritten Reich. Leipzig 2007; Bormann, Lukas: Walter Grundmann und das Ministerium für Staatssicherheit – Chronik einer Zusammenarbeit aus Überzeugung (1956–1969), in: Kirchliche Zeitgeschichte, 22(2009)2, S. 596–632. 67 Vgl. HA  V/4 vom 23.10.1961: Auskunftsbericht; BStU, MfS, HA  XX, Nr. 22388/92, Bl. 21–51, hier 39 f. 68  Vgl. HA V/4 vom 3.12.1956: Bericht über Anwerbung; BStU, MfS, AIM 2455/69, Bl. 25 f. 69  HA V/4 vom 3.11.1961: Auskunftsbericht; BStU, MfS, HA XX, Nr. 22388/92, Bl. 2–4. 70  Vgl. HA V/4 vom 23.10.1961: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 21–51, hier 24. 71  Ebd., Bl. 27 f. 72  Ebd., Bl 35. 73  Vgl. ebd., Bl. 32. 74  HA V/4 vom 3.12.1956: Bericht über Anwerbung; BStU, MfS, AIM 2455/69, Bl. 25 f. 75  Vgl. HA V/4 vom 3.11.1961: Auskunftsbericht; BStU, MfS, HA XX, Nr. 22388/92, Bl. 2–4, hier 4.

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Das Etikett »bürgerlicher Wissenschaftler« Es reichte oft nur eine geringe Abweichung von den Normen des Marxismus-Leni­ nismus aus, um – nachhaltig – abgestempelt zu werden. Als Heinz-Dieter Haustein76 1970 einen Vortrag über heuristische Probleme der Wissenschaftsprognose vor der Hautevolee der Prorektoren der Universitäten und Hochschulen der DDR hielt, zeihte man ihn wegen des Rückgriffs auf Wilhelm Ostwald und Ernst Mach »bürgerlicher Auffassungen«.77 Das Verfahren hatte Tradition in der DDR. Im Bereich der Physik widerfuhr dies insbesondere dem Wissenschaftshistoriker Friedrich Herneck. Noch im Ruhestand war Herneck ein vielbeschäftigter Forscher, hielt Vorträge, schrieb Bücher. Er zählte gleichsam zum Inventar der Geheimtipps in der DDR, ging es um lesbare Literatur, Gediegenheit, Redlichkeit und leise Töne (Kap. 3.1.4 u. 3.2.2, Abschnitt: Der Fall Herneck).78 Dieser Umgang der SED mit Wissenschaftlern machte vor keiner Disziplin halt, mochten die bürgerlichen Positionen auch noch so unbedeutend erscheinen. Dies zeigt anschaulich Hildegard Emmels Schicksal (Kap. 3.2.2, Abschnitt: Der Fall Hildegard Emmel). Selbst bürgerliche Wissenschaftler, die sich parteipolitisch konform zeigten, gerieten unter Verdikt, etwa Günter Heidorn, Rektor der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock (WPU) von 1965 bis 1976, Multifunktionär, nach 1976 stellvertretender Minister für Hoch- und Fachschulwesen (MHF). Da er 1949 Teilnehmer der katholischen Studentengemeinschaft war, attestierte ihm das MfS als Prorektor der WPU einen »außerordentlich negativen Einfluss«. 1956 bis 1958 sei es bei ihm gar zu einem »Einbruch der bürgerlichen Ideologie« gekommen, er habe revisionistische Auffassungen verbreitet.79 Schlussendlich schaffte es das MfS, ihn zu entfernen: »Durch eine zielgerichtete Bearbeitung« des Heidorn sei »es gelungen, dass er von sich aus den Wunsch äußerte, von seiner Funktion als Stellvertreter des Ministers entbunden zu werden. Diesem Wunsch wird im Laufe des Jahres 1988 entsprochen.«80

76 Haustein sah das DDR-Leben ohne Illusionen. Sein Promovend Mathias Weber durfte 1980 nach einem Sommer-Studienkurs nicht mehr an seinen Lehrstuhl an der Hochschule für Ökonomie (HfÖ), das »Rote Kloster«, zurück. Ihn stellte Harry Maier (Kap. 3.4.2) ein, der zu dieser Zeit stellv. Direktor des AdW-Instituts für Wissenschaftsorganisation war. »Die Sicherheitsschnüffler mischten sich also ein, so als ob ich mit Mathias zusammen eine Art westlich-orientierte IIASA-Fraktion [IIASA: International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg, Österreich] bilden« wollte. Haustein, Heinz-Dieter: Erlebnis Wissenschaft. Wirtschaftswissenschaft in Ost und West aus der Erfahrung eines Ökonomen, Bernau 2011, S. 1–38, hier 13; in: peter fleissner.org / Transform / HausteinErlebnisWissen_3.pdf.; letzter Zugriff: 10.1.2020. 77  Ebd., S. 23. 78  Vgl. Zeitungsinterview anlässlich des 100. Geburtstages Einsteins, in: Der Morgen vom 10./11.3.1979, S. 7. 79  Abschlussbericht vom 15.6.1988: OPK »Kontakt«; BStU, MfS, AOPK 7271/88, S. 93–101, hier 79 f. 80  Ebd., S. 101.

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3.1.2 Tradition Fachlich bewiesene bürgerliche Wissenschaftler, die sich bewusst für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) resp. DDR entschieden hatten, versuchten sofort, ihre alte Art einer vor allem intensiven kommunikativen und sozial vernetzten Lebensweise zu reaktivieren. Allerdings zeitigte genau dieser Umstand in großer Zahl persönliche und / oder berufliche Restriktionen bis hin zu schicksalshaften Schlägen, die sich durch die Teilnahme oder Mitgliedschaft in Gesprächskreisen wie etwa dem des Dresdener Siebener- oder des Hallenser Spiritus-Kreises manifestierten. Absolute Begeisterung für das Fach, Tagungsteilnahmen und Gespräche, aber auch zwischenfamiliäre Beziehungen sowie eine enge Zusammenarbeit mit besonders befähigten Studenten und jüngeren Wissenschaftlern waren Standard. In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der ihnen die Spezies der Parteigenossen beschert hatte, war ihr Bewusstsein dafür, dass Forschung unbedingt frei sein müsse von fachfremder Hineinrede, gewachsen. Und da sie wussten, dass sie notwendig als Forscher und Hochschullehrer gebraucht würden, »erlaubten« sie sich kraft ihrer Machtposition auch dieses Bekenntnis zur Freiheit. Alfred Schellenberger berichtet aus eigenem Erleben, dass die wenigen um die Jahrhundertwende geborenen Wissenschaftler, die im Osten geblieben waren, durchaus Macht besaßen: »Ihr Wort wurde gehört, auch wenn es nicht den Vorstellungen der Oberen entsprach, und sie konnten sich manche Kritik erlauben«. Und: »Manches Hochschul- und Akademieinstitut verdankte dieser Haltung seine Entstehung, manche Tradition – aus internationaler Erfahrung geboren – wurde aufrechterhalten, selbst wenn sie nicht der Linie der Partei oder anderer Leitungsgremien entsprach.«81 Die Tatsache, dass die ostdeutsche Wissenschaftslandschaft ruiniert war und in einen Umbruch geriet, beirrte viele nicht. An Modernisierung war in den ersten Jahren ohnehin nicht zu denken, Aufräumarbeiten, Restaurierungen, Beschaffungen und Improvisationskunst standen auf der Tagesordnung. Ihre natürliche Autorität war in Jahrzehnten gewachsen und lediglich für zwölf Jahre gehemmt oder ausgesetzt gewesen. Ihre – gleichsam institutionell – tradierte Hermetik war durch dieses unliebsame Intermezzo eher noch gewachsen; Anthony Giddens: »Die Wissenschaft konnte die ihr einst zuerkannte besondere Autorität, durch die sie selbst zu einer Art Tradition wurde, nur mittels einer strikten Grenzziehung bewahren, die die wissenschaftliche Expertise von den unterschiedlichen Wissensformen der Laien« schied.82 Eine Anomalie hierzu bildete der prononcierte Parteigenosse, gleichgültig, ob er der NSDAP und / oder der SED angehörte. Diese zeigten eine oft überraschend geringe Bildung bezüglich jener fachlichen Angelegenheiten, über die sie zu entscheiden hatten. Hierin stach das MfS als Machtinstitution besonderer Laien noch heraus, eine fachliche Professionalisierung setzte erst viel später ein. 81  Schellenberger: Forschung unter Verdacht, S. 38. 82  Giddens, Anthony: Risiko, Vertrauen, Reflexivität, in: Beck, Ulrich / Giddens, Anthony / L ash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt / M. 1996, S. 316–337, hier 318.

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Abb. 1: Kommunikation in Tradition – der Dresdener Siebenerkreis mit Siegfried Hilde­ brand (im dunklen Anzug) und Kollegen vom Institut für elektrischen und mechanischen Feingerätebau der TU Dresden83 83  Siehe dazu auch Kap. 4.1.2. und 5.1.

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In den 1950er-Jahren waren Gespräche zwischen Offizieren des Staatssicherheitsdienstes und führenden Wissenschaftlern an der Tagungsordnung. Sie wurden in jenen Jahren eher halboffiziell denn inoffiziell geführt. Immer wieder stand für sie das drängende Problem im Raum, wie man den (MfS-)Laien, die scheinbar oder tatsächlich ein Mitspracherecht hatten, wissenschaftliche oder technische Zusammenhänge erklären könne. Es entstand somit frühzeitig ein Problem, das im Westen erst später und in anderer Form virulent wurde. »Der technische Experte«, so Giddens, »genießt wegen seiner Verfügung über ein Spezialwissen zwar gewiss noch einen gewissen ›Schutz‹ gegenüber den drängenden Fragen von Laien. Doch diese Grenzziehung ist nicht mehr generell gültig, trennt nicht länger die Wissenschaft als ganze vom ›lokalen Wissen‹ der Laien.« Diese Grenzauflockerung erlebten die bürgerlichen Wissenschaftler in der DDR bereits unter Ulbricht, heftiger dann unter Honecker. Die Grenzziehung wurde undurchlässiger, die Entscheidungshoheiten verschwammen, Zielstrebigkeit und Effizienz sanken. Giddens lehnt den Begriff der reflexiven Modernisierung eher ab und plädiert für den Begriff der institutionalisierten Reflexivität,84 der für das Problem der Tradition in der DDR passend scheint. Es ist durchaus erstaunlich, dass in der Sowjetischen Besatzungszone Wissenschaftler blieben, zurückkamen oder erst zuzogen, die eine hohe Individualität verkörperten. Viele von ihnen, auch wenn sie kommunistisch orientiert waren, leugneten ihren bürgerlichen Habitus nicht. Stellvertretend für sie sei an Fritz Lange, geboren 1899, erinnert. 1917 absolvierte er das Realgymnasium und studierte anschließend an den Universitäten Berlin, Freiburg und Kiel Physik, Mathematik und Chemie. Lange wurde vom Physikochemiker und Nobelpreisträger Walther Nernst mit einer Arbeit über das Wärmetheorem von Nernst promoviert. 1935 ging er in die Sowjetunion, da er wegen seiner Unterstützung der KPD befürchtete, verhaftet zu werden. Dort nahm er die sowjetische Staatsbürgerschaft an. 1940 wurde er an der Charkower Universität promoviert, später arbeitete er am Kernenergieprogramm mit. 1952 erhielt er den Lehrstuhl für Physik am Chemisch-technologischen Institut Dnjepropetrowsk, ab 1953 war er Professor am Elektrotechnischen Unionsinstitut Moskau. 1936 heiratete er eine Sowjetbürgerin. Erst mit 60 Jahren siedelte er in die DDR über und wechselte nochmals die Staatsbürgerschaft. Seine unbestrittenen wissenschaftlichen Leistungen (Hauptwerk das sogenannte Lange’sche Trennverfahren) gerieten in diesem 6. Lebensjahrzehnt in Vergessenheit. Dass er noch Direktor des Instituts für Biophysik wurde, war wohl nur eine Huldigung. 1964 wurde er emeritiert.85 Ein insgesamt rätselhaftes Leben, das ein wenig auch an das seines Doktorvaters erinnert. Die Wissenschaft war sein Leben. Lange war ein Wahrheitssucher. Aber warum kehrte er nach Deutschland, genauer: in die DDR

84  Ebd., S. 317. 85  Vgl. Lohs, Karlheinz: Festschrift, Herbst 1974: »Der Flug dieses Lebens. Biographische Notizen über Prof. Dr. Dr. Fritz Lange«; ArchBBAW, Nachlass Lange, Nr. 16, S. 11–15.

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Abb. 2: Robert Havemann als Vorsitzender auf dem 1. Dahlemer wissenschaftlichen Kolloquium (sitzend rechts außen), Oktober 194686

zurück? Wir wissen nur eins, »bei jeder einzelnen Rückkehrentscheidung« spielen »unterschiedliche  Motive eine Rolle«.87 So verschieden, so widersprüchlich, so belächelt, so verdammt oder gelobt, mit oder ohne Parteiabzeichen, sie alle lebten ihre Tradition, sie waren Arbeiter der Forschung und beharrten auf Forschungsfreiheit. Lange aber kam an, er fand seine Heimat. Die meisten aber kamen nicht wirklich an. Einige auch verkauften ihre Seele an die SED. Einer, der nie ankam, überall verjagt wurde, war Robert Havemann. Der Westberliner Stadtrat Walter May hatte Havemann 1950 vorgeworfen, das Neue Deutschland »zu« seinem »Publikationsorgan gewählt« zu haben. Das sei ein Affront, »mit dem Sie das Vertrauen zerstören, das ich als Voraussetzung für Ihre Tätigkeit an einem Dahlemer Institut für unerlässlich halte. Ich suspendiere Sie daher mit sofortiger Wirkung von Ihrer Tätigkeit und Ihren sämtlichen Funktionen innerhalb der Forschungsgruppe Dahlem. Ihre Suspendierung schließt das Verbot des Betretens der Institutsräume ein.« May 86

86  Stehend John Taylor, Director of Educational and Religious Affairs der amerikanischen Militärverwaltung OMGUS und HICOG, sitzend neben Havemann Otto Warburg. 87  Neubauer, Hans-Joachim: Exil und Wissenstransfer. Remigranten an deutschen Universitäten, in: FAZ vom 1.3.2000, S. N 5; vgl. auch Krauss, Marita: Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945. München 2001.

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sprach die Suspendierung am 27. Februar 1950 aus. Havemann erhielt nach diesen Aufzeichnungen den Brief erst am 16. März. Havemann bemerkte hierzu, dass er sich bereits 1933 in der gleichen Situation befunden habe, und zwar in demselben Kaiser-Wilhelm-Institut. (Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Nachfolger der KWG wurde die Max-Planck-Gesellschaft, MPG) Auch damals habe den Herren seine politische Gesinnung nicht gepasst. Das gleiche Schicksal sei Fritz Haber, Michael Polanyi, Herbert Freundlich, Hartmut Kallmann und Georg Groscurth passiert. 1945 war Havemann an das Institut zurückgekommen, praktisch direkt aus dem Zuchthaus. Dort wurde er Leiter der Verwaltung der Dahlemer Institute, war also maßgeblich für den Wiederaufbau zuständig. Aufgrund eines einstimmig gefassten Beschlusses der Abteilungsleiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts hatte sich der Direktor des Institutes, Karl-Friedrich Bonhoeffer, an die Abteilung für Volksbildung des Westberliner Magistrates gewandt und die Aufhebung der Suspendierung gefordert. Doch das Magistrats-Presseamt hatte mit folgenden Argumenten zurückgeschlagen: Havemann habe (erstens) einen Artikel über die russische Atombombenentwicklung veröffentlicht. Am 28. März soll er (zweitens) eine Hetzrede gegen den Berliner Magistrat gehalten haben. Er werde überdies (drittens) von der kommunistischen Presse gefeiert. Havemann sei (viertens) Mitglied der KPD.88 Bedacht, welch unrühmliche Rolle die MPG in der Frage der Aufarbeitung ihrer Geschichte unter dem Nationalsozialismus allein auf dem Gebiet der Genetik eingenommen hatte, nämlich mit allen Mitteln zu verhindern und gar Historikern zu drohen, kann dieses Verhalten nur dreist genannt werden.89 Heute befinden wir uns in einer völlig anderen Phase der Wissenschaftsausübung. Das ist zu beachten bei dem Versuch, die Zeit bis etwa 1970 zu verstehen. Walter Rosenthal ist der Frage nachgegangen, inwiefern in der Spätmoderne überhaupt noch von Forschungsfreiheit im alten Sinne gesprochen werden könne, zumindest in den Natur- und Lebenswissenschaften. Er schrieb 2003 unter dem Aspekt, dass sich der Forscherdrang schwer steuern lasse: »Allerdings hat sich das Selbstverständnis der Wissenschaft in den vergangenen einhundert Jahren massiv gewandelt. Das zeichnete sich schon zu Harnacks90 und Max Webers Zeiten ab. Und doch hatte man damals als Urbild des Forschers einen ganz bestimmten Typ vor Augen: den aristokratischen Mann, der selbstlos forscht, der frei ist von Einflüssen, weil er nicht auf das Geld angewiesen ist, das er zur Forschung benötigt oder das ihm die Beschäftigung mit der Wissenschaft bringen könnte – der Gentlemen-Forscher, spleening

88  Vgl. ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 236, S. 4–7. 89  Vgl. Ebbinghaus, Frank: Der Preis der Forschungsfreiheit, die sie meinten. Taten deutscher Wissenschaftler innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft während des Dritten Reiches und danach: Ein Forschungsbericht, in: FAZ vom 29.1.2002, S. 49. Kempermann, Gerd: Freiheit, die wir meinen. Naturwissenschaftler wollen und müssen unabhängig sein – man lässt sie nur meist nicht, in: FAZ vom 10.1.2003, S. 39. 90  Karl Gustav Adolf von Harnack (1851–1930). Theologe, Kirchenhistoriker und Wissenschaftsorganisator.

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vielleicht, aber unbeirrbar. So Max Weber: ›Wissenschaftliche Schulung aber, wie wir sie nach der Tradition der deutschen Universitäten an diesen betreiben sollen, ist eine geistesaristokratische Angelegenheit; das sollten wir uns nicht verhehlen.‹« Rosenthal ist der Auf‌fassung, dass dieses Ideal heute zwar von den Geistes- und Sozialwissenschaften gepriesen werde, nicht aber in solchen Fächern wie der Biologie und Physik. Hier könnten die Momente der notwendigen Teamarbeit und der teuren Großforschungsanlagen ausschlaggebend sein, denen »eine geistesaristokratische Haltung vielleicht fremd« sei.91 Trotz Duldung und Gebrauchtwerden war der Widerstand gegen das Bürgerliche in allen seinen Formen, zu der insbesondere die Gesprächskultur unter den bürgerlichen Wissenschaftlern zählte, präsent.92 Oberst Bruno Beater von der Abteilung V des MfS in Berlin erhielt zum 17. April 1953 die Information, dass sechs Hallenser Professoren »regelmäßig einmal im Monat« zusammenkämen. Die Abteilung fragte auf Linie bei der Abteilung V der BV Halle nach, wer von den genannten sechs Personen »vertraulich« Auskunft über den Spiritus-Kreis geben könne.93 Es wurden umfangreiche Ermittlungen eingeleitet, die in der Endkonsequenz tiefe Einschnitte in das Leben der Betreffenden zeitigten. Dem Prorektor der Universität Halle kam der Begriff »Spiritus-Kreis« zufällig zu Ohren, als einer seiner Gesprächspartner zur Thematik der Berufungsfragen plötzlich sinngemäß sagte, nun, die würden ohnehin im Spiritus-Kreis behandelt werden. Dem, der den Namen fallen ließ, sei die Situation »peinlich« gewesen, er mag geahnt haben, was nun folgen würde. Zunächst aber sollte er sagen, was er hierüber wisse. Er habe geantwortet, dass es sich dabei um regelmäßig stattfindende Zusammenkünfte von Professoren der Universität Halle gehandelt habe, »bei denen allgemein philosophische Fragen und Fragen der Universitätspolitik besprochen« worden seien. Der Prorektor informierte anschließend den Rektor der Universität Halle Leo Stern und nahm sich jenen Professor vor, dem der Begriff Spiritus-Kreis entwischt war. Als ihm gewahr wurde, dass seine unüberlegte Äußerung für die Teilnehmer des Kreises negative Folgen haben könnte, meinte er, dass seine Information schon alt sei. Stern forschte jedoch sofort nach, erhielt auch bald eine vage Bestätigung über die Existenz des Kreises und provozierte einen der Professoren mit der Fangfrage, »wie es denn komme, dass keine Marxisten in den Spiritus-Kreis aufgenommen« würden, worauf der reingelegte Professor dann antwortete: »Ja, wir sind schon dazu übergegangen, einige Naturwissenschaftler aufzunehmen.«94 Im November 1953 war sich der Staatssicherheitsdienst noch nicht ganz sicher, wer zum Spiritus-Kreis zählte. Aus der Mathematisch-Naturwissen-

91 Rosenthal, Walter: Die Helmholtzifizierung der deutschen Wissenschaft, in: FAZ vom 3.4.2013, S. N 5. 92  Zur folgenden Passage siehe Großbölting: SED-Diktatur und Gesellschaft, S. 220–249. 93  Abt. V vom 17.4.1953: Anfrage; BStU, MfS, BV Halle, AOP 46/59, Bd. 1a, Bl. 10. 94  BV Halle vom 28.1.1958: Abschrift der Originalquelle (ohne Datum [o. D.]); ebd., Bl. 14–17, hier 14 f.

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schaftlichen Fakultät wurden acht Personen, darunter Kurt Mothes95 und Wilhelm Messerschmidt96 vermutet.97 Es bestand sogleich die Vermutung, dass der Spiritus-Kreis »engste Beziehungen zu dem ehemaligen Kollegium der Professoren der Wittenberger Stiftung hat, die sich auf die Aufrechterhaltung der Tradition der ›Wittenberger Sechs‹ vom Jahre 1818 stützen«.98 Der Kreis wurde am 20. März 1958 eingeengt auf neun Personen einer »feindlich-klerikalen Gruppe an der Universität Halle«, darunter offenbar nur ein Naturwissenschaftler, nämlich Hans Gallwitz. Das MfS schnitt die vielen oft stundenlangen Gespräche des Kreises auf Tonband über die sogenannte Maßnahme »B« (Abhören mit Mikrofon) mit.99 Zu Hans Gallwitz, der in der Untersuchung nicht vorkommt, wohl aber sein Fach: Gallwitz war Direktor des Geologischen Institutes an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Halle. Er studierte an den Universitäten Tübingen und Göttingen, 1926 wurde er promoviert. Er soll sich als Pazifist gesehen und immer gesagt haben, »dass er der ›reinen Wissenschaft‹ diene und sich nicht von Weltanschauungen und politischen Zeitströmungen beeinflussen lasse«. Der Kirche nahestehend unterstützte er die Studentengemeinde. Seit Jahren würde er, so der Staatssicherheitsdienst, »Zersetzungstätigkeit« an der Universität ausführen.100 Gallwitz war von 1926 bis 1940 als Assistent und dann Dozent an der TH Dresden, Mineral-geologisches Institut, tätig, von 1941 bis zum Ende des Krieges an der Technischen Hochschule Wien, 1945 dann für ein Jahr bis Ende 1946 als Lehrer an der Klosterschule Roßleben. Ab dem 1. Februar 1946 wurde er Professor und Institutsdirektor an der Universität Halle.101 Der Staatssicherheitsdienst behauptete am 13. September 1951, dass er »alle Maßnahmen des Rektors und des 95  (1900–1983). 1918 Kriegsabitur. Studium 1921–1925 der Pharmazie, Chemie, Physiologie und Pharmakologie an der KMU Leipzig, 1925 Promotion, 1928 Habilitation. 1925–1934 Assistent am Botanischen Institut der MLU Halle. 1933 Berufung nach Ankara und Bern, 1934 Auftrag zur Organisation der deutschen Hindukusch-Expedition. 1935–1945 Professor an der Universität Königsberg, zeitgleich Direktor des dortigen Botanischen Gartens. 1949–1957 Abteilungsleiter am Institut für Kulturpflanzenforschung in Gatersleben der DAW. 1951–1963 Professor an der MLU Halle. Anschließend Lehrstuhl für Biochemie der Pflanzen bis 1966. Lehnte 1961 das ihm angetragene Rektorat der Universität Halle ab. 1954–1974 Präsident der deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Vom MfS operativ bearbeitet: BStU, MfS, BV Halle, AOP 3557/69. 96  (1906–1975). Humanistische Gymnasien in Halle und Sangerhausen, Studium in Wien, München und Halle. 1933 Promotion über Radioaktivität in der Atmosphäre, Habilitation 1936. 1939 Referent im Reichsluftfahrtministerium (Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt Berlin). Dozent in Halle, ab 1947 Professor. 1952 Lehrstuhl für Experimentelle Physik, Direktor des Instituts für Experimentelle Physik, 1958 Mitglied der Leopoldina, Arbeiten zur Kosmischen Strahlung ab 1952, ab 1956 Dauerregistrierungen, erzwungener Abbruch derselben 1975. 1960 Leitung der Arbeitsstelle für kosmische Strahlung der DAW. 1968 emeritiert. 97 BV Halle vom 28.1.1958: Abschrift der Originalquelle (o. D.); BStU, MfS, BV  Halle, AOP 46/59, Bd. 1a, Bl. 14–17, hier 16. 98  Ebd., Bl. 17. 99  BV Halle, Ref. O, vom 20.3.1958: Aufgabe »B« vom 15.3.1958; ebd., Bl. 32–138. 100  BV Halle, Ref. V/6, vom 28.3.1958: Sachstandsbericht; ebd., Bl. 167–191, hier 186 f. 101  Vgl. Fragebogen vom 29.11.1954; ebd., Bd. 1b, Bl. 107–110.

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Abb. 3: Kurt Mothes: XXII. Präsident der Leopoldina

Staatssekretariats für Hochschulwesen« sabotiere. Er sei »gut befreundet mit Professor Messerschmidt«.102 Auf einem Akademischen Kolloquium am 15. Februar 1950 äußerte Gallwitz, dass »ein Leben ohne Religion« für »ihn nicht denkbar« sei. »Zum Leben gehört die Religion, die nicht mit Naturwissenschaften zu klären ist. Der Weg über die Naturwissenschaften kann nicht zur Wahrheit führen. Wahrheit kann nur vom Ganzen her erfasst werden. Die Naturwissenschaft führt nur zu Richtigkeiten, diese sind in der Wahrheit eingeschlossen. Die endgültige Wahrheit wird nie erkannt werden. Die Grenze der Methode der Naturwissenschaften ist gegeben durch die Beeinflussung der Vorgänge durch den Beobachter. Die Entwicklung ist nicht zu beweisen auf paläontologischer Basis; sie ist nur eine fruchtbare Arbeitshypothese. Es kann auch anders gedeutet werden. Die Grenze der Wissenschaft ist gegeben 102  BV Halle vom 13.9.1951: Gallwitz; ebd., Bl. 129 f., hier 129.

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durch die Definition. Um weiterzukommen, müssen die alten Definitionen gesprengt werden. In dieser kritischen Lage ist jede Wissenschaft, auch die Theologie. Die Grenzpunkte der Naturwissenschaft und Theologie liegen auf anderer Ebene und zwar im Leben selbst. Auch der Materialismus muss sich im Leben beweisen. Es liegt am Tun des Einzelnen, ob der Materialismus das Leben meistern wird. Die Auseinandersetzung geht im Leben und nicht in Diskussionen vor sich.«103 Gesprächskreise unter bürgerlichen Wissenschaftlern konnten sehr klein sein, bestehend aus drei, vier Personen, meist unterhalb eines Dutzends, jedoch auch als größere »Gesprächsräume« in Erscheinung treten. Als ein solcher kann selbst die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina104 angesehen werden. Sie und viele ihrer Mitglieder standen unter dem automatischen Verdacht des MfS, reaktionär zu sein.105 Von der Frühphase der DDR bis zuletzt finden sich hier die operativen Bearbeitungsstandards des MfS; ein Beispiel: Für die vom 9. bis 12. April 1980 stattgefundene Jahresversammlung der Leopoldina zum Thema »Raum und Zeit« wurde »zur Durchsetzung wirkungsvoller politisch-operativer Aufgaben und Maßnahmenkomplexe, die eine rechtzeitige Aufklärung, Aufdeckung und vorbeugende Verhinderung gegnerischer Aktivitäten im Rahmen dieser Jahrestagung garantieren, […] eine zeitweilige operative Einsatzgruppe in der Stärke von 1:5 gebildet.« Das waren sechs Offiziere des MfS, die in der BV Halle, Zimmer 416, ihren Sitz nahmen. Zu den fünf im Mittelpunkt gestandenen Maßnahmenkomplexen zählten die »vorbeugende Verhinderung von Demonstrativ- und Provokativhandlungen« und Kontrollmaßnahmen zu Carl Friedrich von Weizsäcker, von dem man wisse, dass er Treffen mit der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) und der Katholischen Studentengemeinde (KSG) geplant habe. Zur Realisierung der Aufgaben dienten neun inoffizielle Mitarbeiter. Von den Diensteinheiten des MfS waren die Hauptabteilung XX/3, die Abteilungen VI, XV und XVIII, die Abteilung 26 sowie die Kreisdienststellen (KD) Halle, Naumburg und Quedlinburg beteiligt.106 In einem der Ergebnisprotokolle des MfS heißt es, dass die Leopoldina auch in diesem Jahr ihrer traditionellen Linie treu geblieben sei und mit »Raum und Zeit« ein Thema gewählt habe, das für alle Disziplinen interessant und verbindend sei. Es hätten an der Veranstaltung circa 500 Wissenschaftler aus 21 Staaten teilgenommen, davon circa 300 aus zwölf »imperialistischen Ländern«. Es sei zu keinen 103  BV Halle vom 12.3.1951: An die Kontrollkommission des ZK der SED: Zustände am Geologischen Institut der MLU Halle / Saale; ebd., Bd. 1b, Bl. 118–122, hier 121. 104  Hoffnung, dass das Wertvolle hinübergerettet werde könne, »die großen demokratischen und nationalen Traditionen der Geschichte der ›Leopoldina‹ lebendig zu erhalten«, hatte Stern, Leo: Zur Geschichte der wissenschaftlichen Leistung der Deutschen Akademie der Naturforscher »Leopoldina«. Berlin 1952, S. 98 f. 105  Ein politisches Verständnis zur Leopoldina versucht Macrakis, Kristie: Einheit der Wissenschaft versus deutsche Teilung: Die Leopoldina und das Machtdreieck in Ostdeutschland, in: Hoffmann, Dieter / Macrakis, Kristie (Hrsg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 147–169. 106  BV Halle, Abt. XX/3, vom 20.3.1980: Maßnahmeplan; BStU, MfS, HA XX, Nr. 13839, Bl. 11–14.

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Abb. 4: Steter Einsatz für den Frieden – Carl Friedrich von Weizsäcker in der DDR, 1986107

politisch-operativen  Vorkommnissen gekommen. Provokationen habe es nicht gegeben. Günter Heidorn habe die Grußadresse des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen verlesen, sie soll Anklang gefunden haben. Der Präsident der Leopoldina, Heinz Bethge, habe »keine Angriffe auf hochschulpolitische Aufgabenstellungen der DDR« verübt. Seine Darlegungen zu Fragen der Wissenschaft und zum Wissenschaftsbetrieb seien »systemimmanent angelegt« gewesen und hätten somit keinen ausdrücklichen Bezug zur DDR erkennen lassen. Dem Bericht des Leiters der Abteilung XX ist anzumerken, dass Negatives präsentiert werden sollte, jedoch keine Fakten beigebracht werden konnten. Er fühle einen Zwiespalt hinsichtlich des Vortrages von Bethge, ob der nicht doch etwas subkutan kritisiert haben könnte, etwa bei den Themen »Stellung des Wissenschaftlers im Wissenschaftsbetrieb«, »Begeisterung für Wissenschaft«, »persönliche Qualitäten des Wissenschaftlers und seine Verantwortung« etc. Und obgleich er keinen Fakt parat hatte, formulierte er aus seinem Eindruck heraus die Behauptung, dass die »Ursachen für die zum Teil zwiespältigen Aussagen von Professor Bethge« offenbar »in taktischen Gesichtspunkten in seinem Verhalten zum reaktionären Personenkreis um den Altpräsidenten Mothes begründet« seien.108 Der Bericht erschöpft sich in unbedeutenden Erkenntnissen zu 107

107  Die Friedenswerkstätten der DDR-Friedensbewegung der 1980er-Jahre fanden regelmäßig unter dem Dach der Kirche statt. 108  BV Halle, Abt. XX, vom 14.4.1980: Abschlussbericht; ebd., Bl. 18–21, hier 18 f.

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Gesprächen zwischen Ost- und Westdeutschland – bis auf eine Ausnahme: die Auftritte Carl Friedrich von Weizsäckers parallel zur Leopoldina-Veranstaltung, etwa zu dessen Vortrag im Naumburger Dom zum Thema »Die Grenzen der Naturwissenschaften«. Der MfS-Offizier wertete Weizsäckers Aussagen als »rein idealistisch«. Er habe den Marxismus-Leninismus »als überholt« abgewertet und die Vollgültigkeit der Kant’schen Philosophie hervorgehoben. Insgesamt habe Weizsäcker vier Veranstaltungen besucht, neben Naumburg auch noch in der Laurentiuskirche Halle sowie im Weißenfelser Kirchenobjekt »Zum Schützen«. Sein Auftreten sei von »großer Resonanz« gewesen.109 Heinz Bethge110 war als IM »Burg« registriert. Die unsaubere Registrierung (es fehlt selbst der Eintrag des Werbungsdatums im Auskunftsbericht) und das Fehlen entsprechender formaler Belege wie Verpflichtungserklärung oder Verpflichtungsbericht scheinen darauf hinzudeuten, dass er nicht wissentlich IM war.111 Offenbar wurden die unhintergehbaren offiziellen Gespräche mit ihm in die Formalstruktur der Berichterstattung gepresst. Jedenfalls entsprachen diese Berichte, die die HA XVIII/5112 zu Papier brachte und nicht Bethge, solchen Gesprächen. Als Präsident der Leopoldina hatte er naturgemäß eine hohe Bedeutung für den Staats­ sicherheitsdienst, besaß er doch »zahlreiche operativ nutzbare Verbindungen zu deren Mitgliedern«.113 Zu ihm ist bis Ende 1967 ein operativer Vorlauf angelegt worden, 109  Ebd., Bl. 20 f. 110  (1919–2001). Diplom-Physiker 1949, 1954 Promotion, 1959 Habilitation, 1961 Professor. Ab 1947 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Experimentelle Physik in Halle, später Oberassistent bis 1960, anschließend Institutsleiter an der Arbeitsstelle für Elektronenmikroskopie (Halle) der DAW. 111 Der Verf. behauptet, dass Bethge faktisch nicht inoffizieller Mitarbeiter des MfS war. Die Notate scheinen den offiziellen Gesprächen zu entstammen. In der Abschlusseinschätzung zu »Burg« vom 15. Februar 1982, heißt es, dass er 1975 »zur Zusammenarbeit übernommen« worden sei und mit ihm habe es dann »in unregelmäßigen großen Zeitabständen« Treffs gegeben. Er soll »sporadisch« über NSW[Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet]-Reisen, sein Institut, die AdW und die Leopoldina berichtet haben. Bethge sei nicht überprüft worden, auch wurde er als unzuverlässig eingeschätzt. Schriftliche Berichte oder Tonbandmitschnitte habe er konsequent abgelehnt. Die Abt. XVIII der BV Halle halte zu ihm offiziellen Kontakt. HA XVIII/5 vom 15.2.1982: Abschlusseinschätzung; BStU, MfS, AIM 5691/82, Teil I, 1 Bd., Bl. 411 f.; Beschluss über die Archivierung; ebd., Bl. 413. 112  Mit dem Befehl 36/55 vom 10.2.1955 wurde im SfS, das vom 23.7.1953 bis zum 23.11.1955 existierte, die selbstständige Abt. VI gegründet. Es war der Beginn der systematischen Bearbeitung aller Bereiche von »Wissenschaft und Technik«. Leiter wurde Eduard Switala. Mit dem Befehl 191/55 Ernst Wollwebers vom 29.7.1955 wurden der Diensteinheit die zu sichernden Gebiete zugewiesen. Hierzu zählte die Vorgängereinrichtung des MWT, das unter Leitung Werner Langes gestandene Zentralamt für Forschung und Technik (ZFT). Das MWT wurde am 13.7.1967 gegründet. Strukturell wurden Abt. VI in der Verwaltung Groß-Berlin und in den neun Bezirksverwaltungen (BV) des MfS installiert. Am 19.2.1962 ist die Abt. VI als Abt. 6 in die HA III integriert worden. Mit der Umbenennung der HA III in HA XVIII zum 9.3.1964 erhielt sie die Bezeichnung Abt. 5 (der HA XVIII). 113  HA XVIII/5 vom 31.5.1974: Auskunftsbericht; BStU, MfS, AIM 5691/82, Teil I, 1 Bd., Bl. 354–362, hier 360.

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der dann aber wegen zu geringer Belastbarkeit hinsichtlich der gesammelten feindlichen Positionen nicht in einen Operativen Vorgang (OV) umregistriert wurde.114 Das MfS schätzte zu ihm am 18. September 1981 ein, dass er »häufig Vorbehalte gegen die Politik der SED« habe. Er sei ein »Wissenschaftler der alten Schule«, würde »sein Akademie-Institut auf orthodoxe Weise« führen, aber hierin »ein seriöser Direktor, der hohe Anforderungen an seine Mitarbeiter und sich selbst« stelle, sein. In Fragen der Wissenschaftsorganisation sei er ein streitbarer Geist. In politischen Gesprächen werde »er von vielen Wissenschaftlern, die gesellschaftlich aktiv tätig sind, nicht ernst genommen«.115 Fazit des MfS: »wegen seiner unklaren politischen Einstellung, seiner weltoffenen Haltung und seiner zahlreichen Kontakte« sei er »nicht geeignet, Funktionen mit hoher politischer Bedeutung wahrzunehmen«.116 Sprechen wir über Tradition, dann ist zu beachten, dass es sich immer um ein primär kulturelles, also sozial breites Phänomen handelt. Im thematischen Zusammenhang geht es gerade um die Haltung der Akteure, sichtbar werdend auch an Ritualen und Symbolen. Diese Dinge waren täglich als ein »Anderssein« erlebbar, waren den SED-Funktionären ein Dorn im Auge. Dass die bürgerliche Bildung gegenüber der sozialistischen um Größenordnungen breiter und tiefer war, mag nicht so »anstößig« gewirkt haben wie eben diese Haltung, die eine Unterwürfigkeit nicht kannte. Mit an vorderster Stelle neben der Gesprächskultur wurden oft kulturelle Interessen gepflegt wie Geschichte, Literatur und Musik. Schellenberger berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass er und seinesgleichen regelmäßig miteinander musizierten, so gründeten sie das Akademische Streichquartett an der Universität Halle.117 Auch das gemeinsame Wandern zählte zu dieser Kultur. Gleichsam paradigmatische Berühmtheit erlangten die ausgiebigen Gesprächswanderungen von Werner Heisenberg und Niels Bohr. In der DDR lebten diese Traditionen zunächst ungebrochen weiter. Doch man sah sich zunehmend beengt und bald der Reisefreiheit beraubt. Werner Hartmann konnte nur noch von den einstigen Wanderungen mit seinem Lehrer Wilhelm Westphal träumen, und sein Dresdener Kollege Siegfried Hildebrand118 (MfS-Spezial I) schrieb am 23. April 1954 an den in München ansässigen Deutschen Alpenverein: »Durch die unglückselige Teilung

114  Vgl. HA II/2 vom 28.11.1967: Zusammenfassung des Archivmaterials; ebd., Bl. 65. 115  HA XVIII/5 vom 18.9.1981: Einschätzung zum Kaderauftrag Nr. 902; ebd., Bl. 408–410, hier 408. 116  Ebd., Bl. 410. 117  Vgl. Schellenberger: Forschung unter Verdacht, S. 18 f. 118  (1904–1991). 1925–1931 Studium an der Technischen Universität (TU) Dresden, Fakultät M (Feinmechanische Konstruktion). Chefkonstrukteur bei Erika-Büromaschinen Dresden. Promotion 1949 an der TU Berlin-Charlottenburg. 1934–1936 Siemens & Halske A. G. in Berlin; 1936–1946 Fa. Seidel & Naumann A. G. in Dresden; 1940–1943 Dozent an der Ingenieur- und Technikerschule Dresden; 1947–1952 Ingenieurschule Dresden (Dozent); 1952 Berufung an die TH Dresden, Institut für elektrischen und mechanischen Feingerätebau; 1954 Professor an der TH Dresden; Leiter des ZAK Büromaschinen beim Forschungsrat der DDR. 1968 Direktor der Sektion Elektroniktechnologie und Feingerätetechnik der TU Dresden. 1969 Emeritierung.

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Deutschlands in zwei Hälften ist es uns Ostdeutschen bekanntlich nicht möglich, Mitglied des Alpenvereins zu sein, obwohl ich bis 1945 ein sehr aktives und Vorstandsmitglied der Akademischen Sektion Dresden war und für meine Frau und mich bis zum 31. März 1945 die gültigen Wertmarken geklebt habe.«119 Die Abwanderung der Wissenschaftler und Techniker zerstörte ab Mitte der 1950er-Jahre zunehmend die natürlichen Verbindungen und unterminierte diese Tradition der gelebten Gemeinsamkeit. Die Zurückgebliebenen gerieten mehr und mehr in eine Isolation.120 Das noch individualistische Zeitalter in der Wissenschaft unter Ulbricht besaß einen bedeutend höheren kollektiven Term als das nichtindividualistische unter Honecker. Der Kollektivismus aus der Sichtweise der SED beargwöhnte diese Art der bürgerlichen Gesprächs- und Traditionskultur. Die großen Forschungshallen, Forschungszentren und Forschungstürme, die die DDR konzipierte und fertigstellte, waren aus sozialer und wissenschaftlicher Sicht hochgradig ineffizient. In der DDR entstand eine Kultur des Mit-und-Zuhören-Müssens, man hatte sich zu versammeln um stundenlange Reden anzuhören, man saß in Zirkeln (etwa der sozialistischen Schule) zusammen und wurde geschult. Hier entstanden kaum je Ideen, es herrschte Müdigkeit vor. Nur wenige Wissenschaftler besaßen den Willen und vor allem die Kunst, in solchen Reden auch noch etwas sagen zu können. Zu ihnen zählte Max Steenbeck. Seine Kunst der Kritik zwischen den Zeilen, hinter geschlossenen Türen mit den Mächtigen und seine Veranlagung zum Offenen bildeten einen sozialen Raum, der anderen Mut machte. Möglich, dass sich dieser »hintere« Kommunikationsraum, historiografisch gesehen, schwer erschließt. »In Bezug auf die politische Haltung Max Steenbecks und seine Haltung zu sozialen Fragen«, schreibt Bernd Helmbold in seiner bemerkenswerten Studie über ihn, »ist außer einigen Selbstzeugnissen wenig überliefert«. Er räumt aber ein, dass dies Wenige beachtlich ist.121 Er, der Leistungsstarke, wollte beiden Seiten helfen, den Funktionären und den in die Kritik geratenen Wissenschaftlern, wollte Frieden, wollte Leistungen ermöglichen. Schließlich wollte er bewährte Traditionen hinüberretten in den Sozialismus, auf eine ähnliche Weise wie es Stephan Hermlin in der Literatur versuchte. Beide wurden von den meisten Zeitgenossen missverstanden. In einem seiner zahlreichen Vorträge nahm er sich eines Problems an, das zu den drängendsten überhaupt zählte: Warum gebe es überhaupt das Misstrauen der SED gegenüber den bürgerlichen

119 Schreiben an den Deutschen Alpenverein vom 23.4.1954; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 4959/81, Bd. 14, Bl. 174. 120  Zur Phänomenologie und Begrifflichkeit: Buthmann, Reinhard: Abwanderung und Flucht von Eliten aus der SBZ / DDR am Beispiel der wissenschaftlichen Intelligenz, in: Schulz, Günther (Hrsg.): Vertriebene Eliten. Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert. München 2001, S. 229–265. 121  Helmbold, Bernd: Wissenschaft und Politik im Leben von Max Steenbeck (1904–1981). Wiesbaden 2017, S. 142. Leider überschnitten sich Herausgabe seines Werkes und Fertigstellung dieser Untersuchung, sodass es zu einer fruchtbaren Einarbeitung nicht mehr kommen konnte.

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Wissenschaftlern? Worin bestünden die Folgen, und müsse es unter den Bedingungen des Sozialismus notwendigerweise so bleiben? In der bisherigen Geschichte, also vor dem Beginn des Sozialismus, habe es, so Steenbeck, den Konflikt zwischen Intelligenz und Macht über alle Zeiten hinweg gegeben: »Aber das Zweckbündnis zwischen Macht und Intelligenz funktionierte trotz immanenten wechselseitigen Misstrauens, ja oft auch wechselseitiger Verachtung, durchweg ausgezeichnet, eben weil es für beide Seiten Vorteile gab.« Gelte dieses alte Bündnis auch unter den Bedingungen des Sozialismus, zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz, fragte Steenbeck, oder sei »hier etwas Neues geworden oder im Werden« begriffen. Steenbeck zeigt sich in diesem Beitrag als eindeutiger Verfechter des neuen Ideals, des sozialistischen Weges. Und so geht er auch an die Beantwortung seiner Frage heran. Da sieht er zunächst jene große Gruppe von Naturwissenschaftlern, die sich vor 1945 unpolitisch gezeigt habe. »Sie glaubte, ihre Arbeit habe neutralen Charakter und einen absoluten Wert, unabhängig von deren gesellschaftlicher Nutzung.« Diese Gruppe habe sich unter dem Naziregime wenig mit den Nazis identifiziert, ebenso wenig auch Widerstand geleistet. Steenbeck gibt sich überzeugt, »dass ein großer Teil dieser Schicht [mit neutraler politischer Einstellung – d. Verf.] zunächst stärker zu der westlichen Entwicklung hin tendierte«. Er sah Gründe hierfür: Im Westen sei sofort der massive Aufbau der Wissenschaften dank der amerikanischen Hilfe »schneller und – wenigstens technologisch gesehen – auch moderner vor sich« gegangen, »als es bei uns möglich war«. Auch sei für sie von Vorteil gewesen, dass sie nicht politisch hätten umlernen müssen. »›Lasst mich doch meine Arbeit tun, aber verschont mich mit Politik‹, war in vielen Varianten zu hören. Mir sagte ein jüngerer Mitarbeiter beim Ausfüllen eines Fragebogens: ›Am liebsten würde ich als Nationalität Physiker‹ hinschreiben.« Viele waren einfach »Gegner jedes politischen Engagements«. Überzeugte Sozialisten habe es in den Reihen der bürgerlichen Wissenschaftler nur wenige gegeben, sie fanden sich »durchweg an die zweite Stelle gesetzt«. Und: »Dadurch wiederum wurde das verborgene oder auch offene Misstrauen vieler Werktätiger gegen die ganze Intelligenzschicht nur noch verstärkt, unvermeidlich oft auch in solchen Einzelfällen, wo dieses Misstrauen gar nicht berechtigt war.«122 Steenbeck weiter: »Diese Entmachtung der alten Intelligenzschicht bei gleichzeitiger materieller Bevorzugung verstärkte auf beiden Seiten die Vorbehalte.« Ein Hemmnis zum Abbau dieser sah er in der alten Sozialisierung der Intelligenz, insbesondere in deren »gepflegtem Individualismus mit den Forderungen unserer Ordnung«. Auch versuchten die Wissenschaftler »gern, einer echten Planung auszuweichen«. Die Erfolgreichsten der Älteren hatten ihre Resultate noch ohne Staatsplan, in freier oder doch frei geglaubter Forschung gewonnen, und ihre Schüler nahmen

122 Steenbeck, Max: Wissenschaft und Produktion in ihrer sachlichen und menschlichen Verflechtung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 16(1967)3, S. 631–637, hier 631 f.

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diese Neigung zum Individualismus gerne auch für sich in Anspruch. Jede Planung erschien demgegenüber als ein hemmendes Korsett. So sei vieles zerfasert und habe »zur Planung auch der wissenschaftlichen Arbeit« gezwungen. Eine positive Wende habe der VI. Parteitag vom 15. bis 21. Januar 1963 gebracht, der die Forderung nach langfristiger Planung, frei von Bürokratie und prognostisch orientiert, aufgestellt habe. Die Konzentration auf wichtige Gebiete sei zwar schmerzhaft für jene, die keine oder nur geringere Mittel bekommen hätten. Doch »im Großen gesehen« sei »ein Fortschritt aus Einsicht unverkennbar«.123 Es war jene Periode, in der Ulbricht die Produktion auf Gebiete »hochveredelter, arbeitsintensiver, qualitativ hochwertiger Erzeugnisse mit niedrigen Selbstkosten«124 ausrichtete. Steenbeck war ungebrochen voll des Lobes für die Prognose: So seien »zurzeit nur an den Prognosen, die der Forschungsrat durchführt, insgesamt fast 1 500 Experten in gründlicher und mühsamer Arbeit mit größter Sorgfalt und Hingabe in durchweg echter Einsicht in die Nützlichkeit, ja in die Notwendigkeit solcher Arbeit beteiligt«. Doch er fragte auch, was das alles außer Abzug von Arbeitskräften gebracht habe. Weil sich jedoch der technische Fortschritt in der DDR niemals auf Kosten der Werktätigen auswirke, meinte er, entfalle das »Misstrauen der Werk­tätigen gegenüber der wissenschaftlich-technischen Intelligenz«. Die Grenzkonturen zwischen beiden seien nicht mehr so scharf wie in der Klassengesellschaft, zeigte er sich überzeugt und schloss mit Stoph: »›Für einen bewussten Menschen kann es kein größeres Glück geben, als Schöpfer und Mitgestalter der modernen sozialistischen Gesellschaft zu sein.‹«125 Zehn Jahre später gab es nicht einmal mehr solche Reden, vor allem nicht mehr diese Haltung und den Habitus. Alles, was nun geredet wurde, glich mehr oder we­niger den Reden der Honeckers. »In unserer Schule«, so die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, in ihrem Referat zur Eröffnung des VIII. Pädagogischen Kongresses im Palast der Republik in Berlin am 18. Oktober 1978, »ist alles Reaktionäre ausgemerzt«, das Bürgerliche alter Prägung und Eigenarten endgültig abgeschafft. Ob in der Raumforschung oder Mathematik, der Wahn, die bürgerlichen Traditionen hinter sich gelassen zu haben, fand keine Grenzen; noch einmal Margot Honecker auf dem Kongress: »Mit den jetzt geltenden Lehrplänen für Mathematik haben wir endgültig mit dem bürgerlichen Rechen- und Raumlehreunterricht gebrochen.«126 Das international ausgerichtete Netz der bürgerlichen Wissenschaftler in der DDR hielt in den 1950er-Jahren den SED-Restriktionen noch einigermaßen stand, Erosionen aber griffen mehr und mehr die Substanz an. Bald bestand kein Sinn mehr darin, auf gegenseitige Besuche zu hoffen oder auch nur die Korrespondenz zu er123  Ebd., S. 633–635. 124  Janson: Totengräber der DDR, S. 31. 125  Steenbeck: Wissenschaft und Produktion, S. 636. 126  Honecker, Margot: Der gesellschaftliche Auftrag unserer Schule, in: Berliner Zeitung vom 19.10.1978, S. 3 u. 6.

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halten. Zu Gustav Hertz’127 70. Geburtstag im Jahre 1957 waren über die Hälfte der Eingeladenen nicht mehr angereist. Das war neu. Hertz soll sich geärgert haben. So kamen der Kernphysiker Walther Gerlach aus München, aber auch Steenbeck nicht. Gekommen waren u. a. der Experimentalphysiker Hans Kopfermann aus Heidelberg und aus der DDR Rompe, Barwich und Justus Mühlenpfordt. Das MfS bemerkte zur Einladungspolitik von Hertz, »dass er«, was die Assistenten am Institut betreffe, »die Genossen und fortschrittlichen Personen gestrichen und nicht eingeladen« habe. Unter den gestrichenen war auch Hans Lippmann,128 der, und das mag Hertz nicht gesehen haben, kein SED-Mann im eigentlichen Sinne war. Offizielle Zusammenkünfte aller Art gerieten mehr und mehr unter die Fuchtel politischer Gesichtspunkte. Einer Bitte des Parteisekretärs an Hertz, anlässlich eines Fest-Colloquiums eine Rede auf die großartige Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu halten, kam er nicht nach. Er wolle nicht lügen und setzte hinzu, dass es in den ersten Jahren der DDR überhaupt keinen Kontakt gegeben habe und dass man von Freiheit diesbezüglich nicht reden könne. Der Berichterstattende, ein Assistent von Hertz, will just erfahren haben, dass der oben erwähnte Kockel sich mit dem Gedanken trage, »aus Leipzig wegzugehen«. Er schätzte ein, dass Hertz wegen der Überfrachtung des Wissenschaftsbetriebs mit »bürokratischen Maßnahmen« resigniert.129 3.1.3 Ethos Bei Medizinern wird das Argument der Ethik bei besonderer Veranlassung gewöhnlich mitgedacht. So wurde in Bezug auf die Motive der Flucht des Rektors der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität Joseph Hämel in die Bundesrepublik Deutschland die Vermutung laut, dass er lange mit der Entscheidung gerungen haben mag, da auf dem Gebiet der Medizin die »Polarität zwischen der ethischen Verpflichtung zum Ausharren und dem Drang, vor unzumutbaren Verfälschungen des Berufsethos fliehen zu müssen, so stark« wie in keinem anderen Bereich der Wissenschaft gewesen sein muss.130 Gewiss, die Mediziner waren stärker als die Natur- und 127  (1887–1975). 1906–1907 Studium in Göttingen und München (u. a. bei Sommerfeld), 1908–1911 Fortführung des Studiums an der Berliner Universität, Promotion zum Dr. phil. bei Rubens und Assistent am Physikalischen Institut der Berliner Universität. 1917 Habilitation, 1926/27 Professor und Direktor des Physikalischen Instituts der Universität Halle. 1927 Ruf an die TH Berlin-Charlottenburg. Ab 1945 für neun Jahre in der Sowjetunion, beteiligt am Atomprojekt. 1954 KMU Leipzig. Der Franck-Hertz-Versuch zählt zu den berühmtesten Experimenten der Physik des 20. Jahrhunderts, wofür er 1926 den Physik-Nobelpreis erhielt. 1950 Stalinpreis. Mitglied der DAW, der Akademie Göttingen und der Leopoldina. 128  BV Leipzig, Abt.  VI, vom 5.11.1957: Aussprache; BStU, MfS, AP  3192/63, Bl. 99–102, hier 99. 129  Ebd., Bl. 101. 130  Winzer, Karl (Hrsg.): Das Schicksal Professor Hämels  – ein Beispiel für viele. Geistige Probleme der Gegenwart. München (o. D.); aufgefunden in: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 89/60, Bl. 109 f.

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Technikwissenschaftler in einer solchen Polarität gefangen. Bei diesen aber besaß das Ethos eine andere Funktion. Es war auf den Schutz der Sache, auf die Berufshaltung ausgerichtet.131 Für die Forschung muss(te) man geboren sein. Das Nachdenken über die Probleme in der oft selbstgewählten, eigenen Fachdisziplin kannte keine Schranken. Der bürgerliche Wissenschaftler in der Tradition von 1850 bis 1933 und vielleicht noch stärker von 1945 bis 1965 lebte Wissenschaft, ihm war das Abenteuer der immer einzigartigen »Erkenntnis« oder »Entdeckung« wichtiger als Sicherheit und Eingebundensein in Staatszwecke. Programmgesteuerte Forschung kannte er kaum. Er selbst war Programm. Es ist, ins Heute übersetzt, durchaus ähnlich, wie es der – wissenschaftlich denkende – Abenteurer der Weiten und Höhen Reinhold Messner sieht, wenn er die Grönland-Längstdiagonale-Überquerung von 1993 reflektiert: »Was jetzt zählte, war der Alltag jenseits von Sinn und Zweck, waren die morgendliche Lebensfreude nach einem Traum von der ›Eroberung des Nutzlosen‹ und diese grenzenlose Solidarität beim täglichen Aufbruch: ›Auf nach Thule.‹«132 Und wem das Zwangskorsett der ideologisch imprägnierten Wissenschaftsausübung die Luft zum Atmen nahm, der schuf sich in Gedanken Fluchtwege, manchmal nicht nur in seiner Fachdisziplin, sondern ganz und gar geografisch. Und wenn er hierfür wie Werner Hartmann den rechten Zeitpunkt verpasste, dann begriff er vollends »das furchtbare Schicksal eines DDR-Wissenschaftlers«133. Wer blieb, dem konnte die Vernichtung eines Unpolitischen blühen.134 Ein »Thule« war für sie inexistent. Aus der Tradition der Gespräche auf Wanderungen oder in Privaträumen, meist entstanden während der Universitätszeit und aus einer gemeinsamen Haltung von Lehrern und Studenten, entwickelten sich nicht selten Schulen. Man war stolz, Schüler eines berühmten Lehrers zu sein. Die berühmteste Schule bei den Physikern, gleichsam Ausgangspunkt des Ethos der Physiker, ist gewiss die Sommerfeldschule.135 Eberhard Buchwald schrieb 1948 über Arnold Sommerfeld derart plastisch, dass man sich ihn leibhaft vorstellen konnte: »in den weiten bergumstellten Horizonten, in den geselligen Räumen, die er mit seinem Wesen so stark erfüllte, dass sich 131  Hier wird der Begriff ganz im Sinne der Definition Reiners verstanden, wonach Ethos »die besondere Art und Haltung eines Menschen« bezeichnet, »seine Überzeugungen, Gepflogenheiten und Verhaltensweisen, die in angeborener Naturanlage (auch der Naturanlage der Vernunft) begründet sind, aber zudem durch Gewohnheit, Übung, Anpassung gemäß dem Herkommen ausgebildet und befestigt werden können. In solch doppelter Herkunft wurzelt der ›ethische Charakter‹.«, in: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (D–F). Basel, Stuttgart 1972, Sp. 812–815, hier 812. 132  Messner, Reinhold: 13 Spiegel meiner Seele. München 2012, S. 267. 133  Auswertung von Archivunterlagen durch Hanisch am 9.7.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 18, Bl. 196 f., hier 196. 134  Titel eines Aufsatzes von Dieckmann, Christoph: Vernichtung eines Unpolitischen. Werner Hartmanns Leben im Schatten der Geschichte, in: ders.: Rückwärts immer. Deutsches Erinnern. Berlin 2005, S. 161–174. Erstveröffentlicht in: Die Zeit vom 31.1.2002. 135  Vgl. Eckert, Michael: Die Atomphysiker. Eine Geschichte der theoretischen Physik am Beispiel der Sommerfeldschule. Braunschweig, Wiesbaden 1993, passim.

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bei seinem Eintritt ein spürbares Fluidum auszubreiten schien, auf dem Katheder, wenn er vor dem größeren Kreise die Umrisse der Theorie mehr al fresco malte, oder wenn er vor dem kleineren in jenen unvergesslichen Stunden aus der eigenen Werkstatt sprach, ganz persönlich, auch einmal abirrend, die ungeläuterten Goldadern im Gesteine vorweisend, seine Goldadern in seinem Gestein? Der Geist ist quantenhaft verteilt.«136 Und: »Alles was Sommerfeld geschrieben hat, von diesen Vorlesungen für den größeren Kreis an bis zu den hochtheoretischen Sonderarbeiten, zeugt von größtem didaktischem Geschick. So kann es nicht wundernehmen, dass seine Schülerschaft zahlreich ist wie der Sand am Meer.«137 In der Tat, vor allem die ersten Studenten in der DDR profitierten noch von dieser fachlichen und menschlichen Souveränität solcher Lehrer; Schellenberger: »Im Schatten dieser ›Alt-Intelligenzler‹ konnte sich daher manches Talent entwickeln, konnte erfolgreicher geforscht werden, und auch das Arbeitsklima in solchen Bereichen […] unterschied sich meist beträchtlich von den allgemeinen, selbst den von Genossen geführten Institutionen.«138 Massiv bedroht war der Geist der Sommerfeldschule zur Zeit des NS-Regimes. Der Vorsitzende der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), Carl ­R amsauer,139 hatte in einer Eingabe an Kultusminister Bernhard Rust vom 20. Januar 1940 seine und seiner Kollegen Besorgnisse über den Niedergang der Physik Ausdruck gegeben. Im Mittelpunkt des Naziwillens stand der Angriff gegen die (jüdische) theoretische Physik. In diesem Zusammenhang war der Sommerfeld’sche Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität München an einen Nazigetreuen »übertragen« worden, »was die Vernichtung der auch im Ausland hoch angesehenen Münchener theoretisch-physikalischen Tradition« bedeutete. Zu jener Zeit tobte ein Kampf zwischen »Angreifern« (Reichsleitung des NS-Dozentenbundes) und der deutschen Physikerschaft. Bei einem Münchener Einigungs- und Befriedungsversuch am 15. November 1940 im Ärztehaus zu München nahmen 14 »Vertreter der Angreifer« teil. Sie mussten sämtliche Vorwürfe, die namentlich die Verurteilung der Relativitätstheorie betrafen, zurückziehen. »Damit«, so Ramsauer, »schien eine wesentliche Klärung erreicht.«140 Viele bürgerliche Wissenschaftler lebten und verteidigten ihre tradierte Methode des Forschens, brachten sie bewusst gegen die Scheinwissenschaftlichkeit der so136  Buchwald, Eberhard: Arnold Sommerfeld zum 80. Geburtstag, in: Physikalische Blätter 4(1948)11/12, S. 457–459, hier 457. 137  Ebd., S. 459; vgl. auch Nachruf: Arnold Sommerfeld, in: Physikalische Blätter 7(1951)5, S. 222–224. 138  Schellenberger: Forschung unter Verdacht, S. 38. 139  (1879–1955). Vgl. Brüche, Ernst: Carl Ramsauer zum 70. Geburtstag, in: Physikalische Blätter 5(1949)2, S. 51–53. Grundlegende Literatur: Eckert, Michael: Die Deutsche Physikalische Gesellschaft und die »Deutsche Physik«, in: Hoffmann, Dieter / Walker, Mark (Hrsg.): Physiker zwischen Autonomie und Anpassung. Weinheim 2007, S. 139–172; Hoffmann, Dieter: Die Ramsauer-Ära und die Selbstmobilisierung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, ebd., S. 173–216. 140  Ramsauer, Carl: Eingabe an Rust samt Anlagen, in: Physikalische Blätter 3(1947)1, S. 43– 46, hier 46.

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zialistischen Ideologie in Stellung. Was für sie das Beobachten, Protokollieren, Experimentieren, die Verifikation und Kontrolle des Gemessenen bedeutete, also Handeln war, war ja das Geschäft ihrer politischen Vorgesetzten gerade eben nicht. Diese Denkschule konnten auch jene wie Steenbeck nicht einfach wie einen Anzug abstreifen, sie saß fest. Steenbeck, der sich bewusst dem Aufbau des Sozialismus verschrieben hatte, versuchte den Spieß umzudrehen. Er propagierte die Naturwissenschaften auch als Denkschule für Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Die Naturwissenschaften stellten für ihn das »Gebiet geistigen Lebens« dar, in dem die Versachlichung am weitesten entwickelt, das Wunschdenken grundsätzlich völlig eliminiert und der anthropozentrische Standpunkt, der uns Menschen als Zentrum und eigentlichen Sinn des Kosmos sieht, am gründlichsten überwunden« seien. Hier herrschten anerkannte Gesetzmäßigkeiten, »die unabhängig davon sind, ob ihre Aussagen uns passen oder nicht und auch unabhängig davon, wer diese Gesetzmäßigkeiten entdeckte, von Gesetzmäßigkeiten, denen keinerlei Rhetorik und keinerlei Auslegungskünste und keine menschliche Autorität etwas nach egoistischen oder anthropozentrischen Wünschen abhandeln kann«.141 Die Haltung, das Ethos, zeitigte auch Steenbecks ganz persönliches Problem, seine Zerrissenheit. Wie eine Lähmung muss er zunehmend sein Ideal »Sozialismus« empfunden haben. Denn was da heraufzog, beunruhigte ihn: Eine andere Haltung gewann bei den Jüngeren an Zuspruch. Das sahen einige. Der Mathematiker Friedrich A. H. Grell hatte 1957 in der Studentenzeitung Forum mitgeteilt, »dass ›einem erschreckend großen Teil der jungen Studenten die Fähigkeit zu sauberem, logischem Schließen und zu disziplinierter geistiger Arbeit‹« abgehe. Es fehle oft die Leidenschaft, aber auch das echte Interesse für das jeweilige Fach.142 Dem Ideal der messenden und beobachtbaren Wissenschaften lebten aber auch Geisteswissenschaftler, hier insbesondere jene aus volkswirtschaftlichen Fächern. Einer der prominentesten bürgerlichen Wissenschaftler mit einem erkennbaren bürgerlichen Ethos war der »linientreue Dissident« Jürgen Kuczynski. Er lebte seine bürgerliche Herkunft selbstbewusst und auf völlig andere Weise als etwa der Nichtakademiker und Erfinder Manfred von Ardenne. Jener lebte sie geistig, dieser materiell. Der eine war Genosse, der andere nicht. Der eine eckte an, der andere nicht. Kuczynski war auf unorthodoxe Weise orthodoxer Marxist. Einer, den die Partei lieber nie in ihren Reihen gehabt hätte.143 Einer, der die Verve besaß, selbstständig die Lehren von Marx und Lenin weiterzudenken. Sein Selbstbewusstsein schöpfte 141  Steenbeck, Max: Über Aufgaben der Naturwissenschaftler in der zukünftigen Gesellschaft. Vortrag am 23.4.1965 vor dem Pädagogischen Institut Erfurt; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 134, S. 1–12, hier 3 f. 142  Ohne Interesse am Studium, wiedergegeben in: Die Welt vom 1.5.1957, aufgefunden in: BStU, MfS, AP 16310/62, Teil I, 1 Bd., Bl. 54. 143 »Hager und die Abteilung Wissenschaften verlangten damals [1958], dass ich aus der Partei nicht ›ausgeschlossen‹, sondern ›gestrichen‹ werde, das heißt, nie in die Partei hätte aufgenommen werden sollen.«, in: Kuczynski, Jürgen: Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater. Berlin 1996, S. 13.

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er aus seiner frühen Sozialisierung und vor allem aus der Tatsache fortgesetzten, unermüdlichen lebendigen Disputes mit zahlreichen intellektuellen Marxisten bürgerlicher Prägung wie Hans-Jürgen Treder, Fritz Behrens und Werner Mittenzwei. Immer wieder drehten sich deren Diskussionen um die Frage nach den rechten Wegen in Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftspolitik. Kuczynski tat nicht wenig – ähnlich wie der Literat Stephan Hermlin –, um das klassische Erbe wachzuhalten. Mit Treder diskutierte Kuczynski einmal die Notwendigkeit der Beschäftigung mit den Originalschriften großer Denker in den jeweiligen Disziplinen. Während Treder dies nur für die Gebiete der Grundlagenforschung als zwingend ansah, nicht aber für die so von ihm genannte »brauchbare« Physik,144 betonte Kuczynski, dass dies auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften eben völlig anders sei. Für die »brauchbare« also angewandte Gesellschaftswissenschaft habe zu gelten, sich mit den Großen der Zunft zu beschäftigen. Er erwähnte den großen »Lehrer-Propagandisten« Hermann Duncker, der zwar keine originellen Beiträge für die Grundlagen des Marxismus-Leninismus geschrieben habe, aber ein großer Propagandist gewesen sei, weil er profunde Kenntnisse der Großen besessen habe.145 Treder aber hatte Unrecht, für einen Physiker von Rang ein erstaunlicher Fehlgriff. 3.1.4  Physik und Philosophie Auch feierliche Aufsätze und Reden von Wissenschaftsfunktionären in der DDR können fachhistorisch bedeutsam sein, wenn sie von Leuten wie Robert Rompe und Max Steenbeck stammen. Beide schrieben in der Festschrift zum 80. Geburtstag von Gustav Hertz im Jahr 1967: »Die moderne Physik, eine der stolzesten und kühnsten Schöpfungen menschlichen Geistes, ist das Werk eines großen Kollektivs von hervorragenden Forschern, die in einer beispiellos kurzen Zeit schier unlösbar erscheinende Rätsel, die die Natur den Menschen aufgab, erkannt und gelöst haben. Mit den Ergebnissen, deren manchmal paradoxer Charakter Staunen hervorrief, drang menschliche Erkenntnis in völliges Neuland vor. Mit der Erarbeitung der Ergebnisse bildete sich eine Arbeitsweise heraus der subtilen Vorbereitung der Experimente und kritischen Diskussionen der Ergebnisse, die seither aus der Physik nicht fortzudenken ist.«146 Wollten beide dies auch als subkutane Kritik an den realen Zuständen in der DDR verstanden wissen? Denn gerade in der DDR widerfuhr der modernen Physik Unverständnis und Gegnerschaft. Gefahren, die feinverästelt 144  Schreiben von Treder an Kuczynski vom 23.3.1973; ArchBBAW, Nachlass Kuczynski, Nr. 43, 1 S. 145  Schreiben von Kuczynski an Treder vom 9.4.1973; ebd., 1 S. 146  Rompe, Robert / Steenbeck, Max: Gustav Hertz in der Entwicklung der modernen Physik, in: Hartmann, Werner et al.: Gustav Hertz in der Entwicklung der modernen Physik. Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Mathematik, Physik und Technik. Jahrgang 1967, Nr. 1. Berlin 1967, S. 9–13, hier 13.

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selbst entlegenste Gebiete der Physik erreichten, in ideologische Auseinandersetzungen mündeten und partiell heftige Eruptionswellen auslösten. Der Physik wohnt die Immanenz des Philosophischen inne, jene will die Rätsel des materiellen Seins ergründen, diese kann nicht aufhören, diesbezügliche Fragen immer weiter zu stellen. Beide zusammen sind – so ineinandergeworfen und aufeinander angewiesen – Wahrheitssuchende. Das macht sie aus Sicht jeder Ideologie suspekt. Ein Ideologe kann einen Physiker nicht ertragen – und umgekehrt. Der Aufweis einer Wissenschaft, schrieb bereits 1948 Ulrich Dehlinger auf Kant berufend, »die ein immer wachsendes Stück der Wirklichkeit durch eindeutige und praktikable Aussagen erfasst hat, die ein sinnvolles und vorausschauendes Handeln möglich machen«, ist »die exakte Naturwissenschaft«. Und er fuhr fort: »So selbstverständlich dies uns Physikern erscheint, so entschieden wird ein solcher Anspruch von den meisten Zeitgenossen abgelehnt.« Zwar ziehe das errichtete Gebäude der Physik »immer stärker die fähigsten Köpfe der Jugend« an, würde »aber gerade von denen missachtet, die berufsmäßig die Normen für das Leben des Geistes aufstellen und hüten wollen«.147 Aus dem so Gesagten erklären sich nicht nur – hier stellvertretend genannt – die politischen und ethischen Ansätze Werner Heisenbergs148 und Carl Friedrich von Weizsäckers149, quasi als mahnende Worte und Korrektivvorschläge an den damaligen neuen Zeitgeist der westlichen Moderne, sondern auch das gelebte Widerstehen bürgerlicher Wissenschaftler in der östlichen Form der Moderne in der DDR von Emmel über Havemann bis hin zu Hartmann. Die marxistische Philosophie sollte laut Herbert Hörz u. a. »als Methodologie und Erkenntnistheorie das sich herausbildende und sich entwickelnde System der Wissenschaften untersuchen und die Beziehungen zwischen den einzelnen Wissenschaften« betrachten. Beide Aufgaben würden eng miteinander zusammenhängen, »die Lösung der einen« bringe »notwendig auch Beiträge zur Lösung der anderen mit sich«.150 Hörz stellte die Frage nach »den allgemeinen philosophischen Aussagen und den einzelwissenschaftlichen Theorien«;151 interessant ist allein, dass er Havemann deutlich widersprach, der keinen Nutzen der marxistischen Philosophie für die Naturwissenschaften sehen wollte. Die Gegenbeispiele, die Hörz angab, zeigen jedoch, dass sie luxuriösen Charakter besaßen, denn das Notwendige leistet die Physik ohnehin selbst. Sein Verweis, dass das »Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit« – siehe hierzu das Streitgespräch zwischen Havemann und 147  Ulrich Dehlinger (1901–1983). Ders.: Praktische Vernunft in der Physik, in: Physikalische Blätter 4(1948)1, S. 1–4, hier 1 f. 148  U. a. eine ganze Reihe von Aussagen zu dieser Thematik in Heisenberg, Werner: Gesammelte Werke, Abt. C: Allgemeinverständliche Schriften. Bd. V. München 1986 sowie einige Aufsätze unter »Physik und Erkenntnis« 1976–1976, in: ebd., Bd. III. München 1986. 149  Weizsäcker, Carl Friedrich von: Zum Weltbild der Physik. Stuttgart 1990; ders.: Der Garten des Menschlichen. München, Wien 1977; ders.: Bewusstseinswandel. München, Wien 1988. 150  Hörz, Herbert: Zu den Beziehungen zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, in: Blick ins nächste Jahrzehnt. Leipzig, Jena, Berlin 1968, S. 235–251, hier 235. 151  Ebd., S. 241.

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­Heisenberg152 – »in der weltanschaulichen Auseinandersetzung mit dem Neothomismus Bedeutung« besitze,153 ist für die Physik völlig irrelevant. Es ist dies genau jene Art und Weise der DDR-Philosophie, von der man immer schon überzeugt war, dass sie außer der Selbstreferenz keinen Nutzen aufweise. »Für die Physik beginnt das 20. Jahrhundert wahrhaft mit dem Jahre 1900«, hatte 1970 der Physiker Victor F. Weisskopf geschrieben. Es war jenes Jahr, »in dem Max Planck seine berühmte Arbeit über das Wirkungsquantum veröffentlichte, das Geburtsjahr der Quantentheorie. Es ist eindrucksvoll, das Ausmaß des Fortschritts in der Physik im ersten Viertel unseres Jahrhunderts zu betrachten.« In der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins sah Weisskopf eher eine »Zusammenschau der Physik des 19. Jahrhunderts als ein Bruch mit der klassischen Tradition«. »Die Quantentheorie dagegen war ein solcher Bruch« mit der klassischen Tradition, »sie war ein Schritt ins Unbekannte, in eine Welt von Erscheinungen, die nicht in das Gedankengewebe des 19. Jahrhunderts passten.«154 Das ist bemerkenswert, tatsächlich wuchsen im gleichen Maße die Parawissenschaften heran, kam Edgar Cayce zur Bedeutung, wurde das Lebewesen »Pflanze« entdeckt155, prallten aufs Neue Materialismus und Idealismus aufeinander. Hier fand sich dann auch jener Macht-Nährstoff, den die SED und in Sonderheit das MfS gegen die bürgerlichen Wissenschaftler benötigte, um sie stigmatisieren zu können. »Diese neuen Bahnen des Denkens«, so Weisskopf, »wurden in der Mitte des dritten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts geformt und in ein System gebracht.«156 Es müsste allerdings heißen bis zur Mitte des dritten Jahrzehnts. Diese drei langen Jahrzehnte bildeten übrigens auch die Zeit des Aufbaus einer breiten Bewegung zur Bildung der Bevölkerung.157 Die moderne Physik verlor in dieser Periode das einstige geschlossene Weltbild; Carl Friedrich von Weizsäcker: »Heute besteht dieses Weltbild nicht mehr. Es wurde gleichzeitig von innen und von außen zerstört.«158 Dieser »Verlust« sprengte nicht nur das naturwissenschaftliche Einheitsbild des Marxismus-Leninismus (Stichwort: Friedrich Engels »Von der Dialektik der Natur«), sondern überhaupt das gesamte, 152  Buthmann, Reinhard: »Aber Sie haben ja noch nicht einmal die Zustimmung Ihrer Philosophen«, in: Florath, Bernd (Hrsg.): Annäherungen an Robert Havemann. Biographische Studien und Dokumente. Göttingen 2016, S. 238–253. 153  Hörz: Zu den Beziehungen zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, S. 246. Der Neothomismus in der marxistisch-leninistischen Philosophie ist eher ein leeres ideologisches Kampfwort. Thomas von Aquin begründete objektiv-idealistische, theologisch-philosophische Lehren, die Ende des 19. Jahrhunderts von der katholischen Kirche neu beseelt worden sind. 154  Weisskopf, Victor F.: Physik im 20. Jahrhundert, Teil I, in: Physikalische Blätter 26(1970)2, S. 64–72, hier 65 f. 155  Etwa Cleve Backsters Pflanzenexperimente zur primären Form der Kommunikation, in: Tompkins, Peter / Bird, Christopher: Das geheime Leben der Pflanzen. Pflanzen als Lebewesen mit Charakter und Seele und ihre Reaktionen in den physischen und emotionalen Beziehungen zum Menschen. Frankfurt / M. 2012. 156  Weisskopf: Physik im 20. Jahrhundert, S. 66. 157  Vgl. Geißler, Gert: Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Frankfurt / M. 2011. Zur strukturellen Öffnung von Bildungswegen siehe Kap. 5.8, S. 460–480. 158  Weizsäcker: Zum Weltbild der Physik, S. 11–13, hier 11.

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also auch gesellschaftspolitische Einheitsweltbild des Marxismus-Leninismus. Der Beginn der modernen Physik erfolgte gewissermaßen als selbstinszenierte Revolution. Oder »auch«, wie Rompe 1966 schrieb, »in dem Sinne, dass es möglich« wurde, »wesentliche Parameter der Atome, Moleküle und der festen Körper numerisch auszurechnen, ausgehend von einigen wenigen Elementarkonstanten: der elektrischen Elementarladung, des Planck’schen Wirkungsquantums, der Masse des Elektrons und der Lichtgeschwindigkeit«.159 Plötzlich war es mit den absoluten und handgreiflichen Gewissheiten vorbei: Die Welt schien statistischen Gesetzen, Wahrscheinlichkeiten und Relativitäten zu gehorchen. Worte wie »Unbestimmtheitsrelation« erreichten Deutungshoheit. Die triviale Welt der materialistischen Monokausalität war vorbei. Hinzu kam, dass die moderne Physik wieder näher zur Gottesfrage rückte, denn die alten Rätsel erwachten zu neuem Leben, denken wir etwa an die platonische Philosophie der Zahlen als Urbausteine des Kosmos. Gott war für die Physiker wieder denkbar. Und genau hier setzte die Ideologie des Marxismus-­ Leninismus an, sie lehnte jede Gotteserklärung rigoros ab und bekämpfte jene, die es ihr nicht gleichtaten. Ein neues Totschlags-, besser: Personalselektionsinstrument war gefunden. Friedrich Herneck160 hatte sich als einer der wenigen Hochschullehrer überhaupt bemüht, den harschen Umgang der SED mit den bürgerlichen Wissenschaftlern zu mildern. Ohne einen Spagat ging dies natürlich nicht. In einem Vortrag am 21. September 1962 in Leipzig charakterisierte er die geistige Situation der bürgerlichen Wissenschaftler wie folgt: »Die meisten von ihnen sind in religiösen Fragen unentschieden und stehen einem radikalen Atheismus skeptisch gegenüber. Einige wenige sind offene Atheisten und machen aus ihrer Ablehnung des Gottesglaubens keinen Hehl. Dass andere, darunter auch Heisenberg selbst, bestimmten Religionsbekenntnissen zuneigen, ist ebenso wohlbekannt.« Herneck hatte zuvor aus einem Brief Heisenbergs an ihn zitiert, worin der eine Begebenheit aus dem Jahre 1927 zum Solvay-Kongress in Brüssel erinnerte. Die jüngeren Physiker sprachen eines 159  Rompe, Robert: Die Rolle der Erkundungsforschung für die Entwicklung der Technik, in: Bergakademie 18(1966)3, S. 129–135, hier 131. Das Manuskript ging am 18.12.1965 der Redaktion zu; vgl. ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 282. 160 (1909–1993). Wissenschaftshistoriker. 1928 Abitur, anschließend Studium der Naturwissenschaften und Philosophie an der Deutschen Universität Prag (1928–1934), insbesondere bei Rudolf Carnap. 1934–1938 freiberufliche Theatertätigkeit. 1941 Promotion an der Universität Erlangen. 1940–1945 Wehrmacht. Desertation. 1945/46 politischer Agitator des Nationalkomitees »Freies Deutschland« (NKFD). 1945/46 KPD, Vorsitzender der Ortsgruppe IV, Frankfurt / O. Mitbegründer der SED Frankfurt / O. Bis 1952 politischer Lehrer an der Landesparteischule (LPS) »Ernst Thälmann« Schmerwitz. Bis 1954 Dozent für das Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium im Fach »Dialektischer und historischer Materialismus« an der Pädagogischen Hochschule (PH) Potsdam und daselbst kommissarischer Direktor des Instituts für Gesellschaftswissenschaften. Ab 1954 Dozent für dialektischen und historischen Materialismus an der HU Berlin. 15.4.1958 Entlassung. Revisionismus-Vorwurf wegen Arbeiten über Ernst Mach und der Unterstützung von Positionen Havemanns. 1961 Habilitation über Wilhelm Ostwald. 1964 Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit als Dozent, 1967 Professor. 1974 emeritiert.

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Abends in der Hotelhalle über Gott, wobei Paul Dirac vom »Atheismus Oswald’scher Prägung« angetan zu sein schien. Wie Lenin sprach er davon, dass Religion Opium für das Volk sei. Wolfgang Pauli soll still dagesessen haben, was irritierte. Ihn gefragt, habe er schließlich geantwortet: »›Ja, ja, der Herr Dirac hat eine Religion. Diese Religion lautet: Es gibt keinen Gott, und Dirac ist sein Prophet.‹«161 Tatsächlich bezeichnet diese Antwort auch eine wesentliche Seite der problematischen Existenz bürgerlicher Wissenschaftler in der DDR: nämlich konfrontiert worden zu sein mit einer virulenten wie auch ideologiegespeisten »Pflicht«, sich irgendwie zur Gottesfrage doch immer auch bekennen zu müssen. Und die Ironie in der Ansicht Diracs lag darin, dass die Leugner selbst religiös argumentierten. Sie konnten den Gegenbeweis nicht liefern. Was Herneck primär sagen wollte war, dass man »nur bedingt und mit erheblichen Einschränkungen von einer naturwissenschaftlich-atheistischen Tradition in Deutschland sprechen« könne. Er schrieb den Marxisten hiermit ins Stammbuch, dass der Beruf des Naturwissenschaftlers per se nicht vor Religion schütze. Dies gelte in besonderer Weise für die Zunft der Physiker. Herneck sah als Grund hierfür, dass die Philosophie, und in besonderer Weise Immanuel Kant, »keine atheistischen Impulse auf die Naturforschung« aussende. Dies sehe man insbesondere an Kants Einfluss (»Gedankenbewegung«) in der Entwicklungslinie von Hermann von Helmholtz über Planck bis hin zu Max von Laue. »Die kantische Tradition des Kritizismus« habe sich mithin »als ein wesentliches Hindernis für die Herausbildung einer atheistischen Denkweise unter den deutschen Naturforschern erwiesen«.162 Herneck suchte eine atheistische Tradition unter Naturforschern, die in bewusster Opposition zur kantischen Philosophie stand, beispielhaft Emil du Bois-Reymond, Ernst Haeckel, Wilhelm Ostwald.163 Es ist bemerkenswert, dass die SED nicht einmal dies akzeptierte: die Brücken, die er für sie baute, betrat sie nicht. Herneck gab nicht auf, kritisierte und lobte, teilte in Klassen ein und wurde in seinen Urteilen Teil des Dilemmas. So denke Max Born »über den dialektischen Materialismus auch heute noch nicht viel besser als Einstein vor zehn Jahren«. Born hatte sich in einem Brief an Herneck über Rugard O. Gropp (siehe dessen Publikation: Der dialektische Materialismus – d. Verf.) dahingehend geäußert, dass es sich hierbei um eine »›recht primitive Lehre‹« handele, »die sich um das gewaltige Gedankengut der Menschheit wenig kümmere«. Herneck antwortete ihm, dass man doch dies nicht an einer einzelnen Broschüre festmachen könne, vielmehr müsse man »nach den Werken seiner [des dialektischen Materialismus – d. Verf.] Begründer beurteilen«. Born wollte das aber nicht gelten lassen: »Die Schrift über den dialektischen Materialismus – so erwiderte er mir – sei ihm vom Herausgeber der Zeitschrift Das Hochschulwesen zu seiner Belehrung zugeschickt worden: sie sei 161  Herneck, Friedrich: Die fortschrittlichen philosophischen Traditionen in der deutschen Naturwissenschaft des 19. u. 20. Jahrhunderts; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 146–157, hier 146. 162  Ebd., Bl. 146 f. 163  Vgl. ebd., Bl. 148 f.

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nicht irgendeine Broschüre, sondern das, was offiziell gelehrt werde; daran halte er sich.«164 Und so war es auch. Es waren die Gropps, die den philosophischen Ton in der Physiklandschaft der DDR angaben. Herneck bewegte sich zu jener Zeit noch in der Spur der SED-Hausideologie, er wollte sie nur ein wenig breiter, gangbarer gestalten. Heute, so Herneck, könne man Physikern wie Einstein und Born nicht mehr Unwissenheit in der Frage des dialektischen Materialismus zugutehalten, sie wüssten im Gegenteil sehr gut Bescheid über ihn. Einstein habe »als erster Physiker der Welt überhaupt die ›Dialektik der Natur‹ von Engels zu Gesicht« bekommen »und sie kritisch – als Gutachter! – gelesen«. Born kenne gar erstrangige sowjetische Schriften. Herneck polemisierte ausführlich gegen jene Position Einsteins, die dessen Polemik gegen »das Unfehlbarkeitsdogma des dialektischen Materialismus« aufs Korn genommen hatte. Und ebenso im Anschluss daran Borns »Polemiken« gegen die Autoritätsgläubigkeit der Marxisten.165 Er argumentierte mit einer Zielrichtung, die ihm selbst zum Verhängnis werden sollte: »Befreit den dialektischen Materialismus von den Mängeln, die ihm aus der Zeit des Stalin’schen Dogmatismus noch anhaften, löst ihn von aller ›scholastisch‹ anmutenden Schriftgelehrsamkeit und formt ihn in gründlicher philosophischer Forschungsarbeit so, dass er wirklich – und nicht nur der Phrase nach  – dem gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaft entspricht!« Die SED konnte dies nicht anerkennen. Etwa wenn Herneck aus der Deklaration der Dritten Pugwash-Konferenz 1958 in Kitzbühel zitierte, wonach »die Wissenschaft […] der Menschheit am besten« diene, »›wenn sie sich von aller Beeinflussung durch irgendwelche Dogmen freihält und sich das Recht vorbehält, alle Thesen einschließlich ihrer eigenen anzuzweifeln‹«.166 Neben Herneck ist an zwei weitere Wissenschaftler zu erinnern, die mit dem Thema der Philosophie, genauer mit dem Problem des Marxismus-Leninismus, in die Konfrontation gingen: an den Sonderling in der DDR-Physik schlechthin, Martin Strauss,167 der eine Zeit lang eine unrühmliche Rolle in der marxistischen Agitation in öffentlichkeitswirksamen Blättern wie dem Sonntag spielte, und den späteren DDR-Oppositionellen Robert Havemann. Auf beide soll, weil thematisch geboten, näher eingegangen werden. Beide starteten unmittelbar nach Josef W. Stalins Tod am 5. März 1953 eine aggressive Kampagne für den dialektischen Materialismus in der modernen Physik. Sie zeigten hiermit aber auch, dass sie sich definitiv zu den philosophierenden Physikern zählten. Ihre Wortmeldungen im Heft 2 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (DZfPh) müssen der Redaktion bereits vor Stalins Tod vorgelegen haben, da am 15. März Redaktionsschluss war. Beider Wortmeldungen 164  Ebd., Bl. 154. 165  Ebd., Bl. 154–156. 166  Ebd., Bl. 157. 167  Vgl. Hoffmann, Dieter: Die Remigration von (Natur-)Wissenschaftlern in die DDR: das Beispiel der Physiker Martin Strauss, Fritz Lange und Klaus Fuchs, in: Schleiermacher, Sabine / Pohl, Norman (Hrsg.): Medizin, Wissenschaft und Technik in der SBZ und DDR. Husum 2009, S. 41–78, hier 47–57.

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entstanden in der Auseinandersetzung mit Victor Sterns Buch Erkenntnistheoretische Probleme der modernen Physik. Havemann etwa meinte: »Reaktionäre Ideologien und die reaktionäre Philosophie des Physikalischen Idealismus sind in dem noch kapitalistischen Teil der Welt zu immer schwereren Hemmnissen der Entwicklung der Naturwissenschaften geworden, an deren Überwindung alle ehrlichen Wissenschaftler aufs Höchste interessiert sind.«168 Und Strauss: »›Die moderne Physik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialektischen Materialismus zu gebären.‹ Diese prophetischen Worte schrieb Lenin vor nunmehr 45 Jahren.«169 Martin Strauss: Enfant terrible der theoretischen Physik Martin Strauss war Anfang der 1950er-Jahre ein Begriff, sein Name tauchte überall auf, wo Streit war. Bald geriet er in Vergessenheit, bis ihn, soweit zu sehen ist, Christian Sachse 2006 ausgrub und in entscheidender Hinsicht verkannte:170 Er kämpfte nicht gegen die SED, sondern für sich – und stets im Namen Lenins. Entfernt erinnert er an den Astrophysiker Hans-Jürgen Treder. Dennoch, Strauss lag in einigen Fragen auch richtig, etwa in der Frage der vernachlässigten theoretischen Physik. Der einst führende Platz Deutschlands hierin, so Strauss, sei verlorengegangen. Ein Grund dafür, zeigte er sich überzeugt, liege an den Nachwirkungen der »›geistigen‹ Hinterlassenschaft des Hitler-Regimes«, nämlich in der »theoriefeindlichen Haltung einiger Kollegen Experimentalphysiker«. Die Entwicklung der theoretischen Physik in der DDR sei auch »durch mangelnde Initiative der verantwortlichen Organe und gelegentliche Fehlentscheidungen verzögert worden«. Man liege nun sogar hinter Polen, ja selbst hinter Ungarn zurück.171 Hierzu verfasste er ein von ihm als »Vertraulich« eingestuftes Arbeitspapier mit Vorschlägen zur Förderung der Theoretischen Physik an Universitäten und Hochschulen der DDR. Aber wie stets verflocht er diese allgemeine Klage mit einem drängenden persönlichen Anliegen. Also denunzierte er die angeblich theoriefeindliche Haltung Walter Schallreuters, der in Greifswald lehrte, aber auch Rompe, der Diplomarbeiten mit theoretischem Charakter nicht zugelassen haben soll.172 Strauss begriff rasch, worauf es in der DDR ankam, nämlich auf Propaganda und öffentlichkeitswirksame Vernichtung Andersdenkender. Tribunalähnliche Ereignisse und Denunziationen durchzogen das Land weithin. Er hatte am 21. Dezember 1956 an das Neue Deutschland zum Leitartikel der Zeitung einen Tag zuvor unter dem Titel: »Studentenschaft und Sozialismus« einen Protestbrief geschrieben. Vordergründig ging es ihm darum, bürgerliche Professoren, die keine SED-Positionen 168  Havemann, Robert: Zur Kritik an Stern, in: DZfPh 1(1953)2, S. 378–381. 169  Strauss, Martin: Zur Kritik an Stern, in: ebd., S. 386–405. 170  Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik, passim. 171  Strauss, Martin: Vorschläge zur Förderung der Theoretischen Physik an Universitäten und Hochschulen der DDR, Januar 1959; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 144, 1 S. 172  Strauss, Martin: Arbeitspapier; ebd., S. 1–3, hier 1.

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vertraten, rigoros abzulösen. Das Blatt widersprach.173 Der öffentlich ausgetragene Kampf war nichts anderes als ein Privatkrieg im Schutze des herrschenden Zeitgeistes. Die Person, die es auszuschalten galt, war Friedrich Möglich. Max von Laue schrieb am 9. März 1946 an Robert Rompe, dass Möglich »ein Physiker von vortrefflicher Ausbildung in allen Zweigen der modernen theoretischen Physik« sei. Insbesondere beherrsche »er die für diese Wissenschaften erforderlichen mathematischen Methoden«. Walter Weizel betonte in einem Gutachten die Behinderung Möglichs im NS-Regime und hielt ihn für den »bedeutendsten unter den deutschen theoretischen Physikern, die in der Zeit des NS keinen Lehrstuhl bekommen konnten«.174 Zu Möglich liegt eine neuere Studie zu seiner angeblich nazistischen Vergangenheit175 und von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der SBZ ein »Persilschein« vom 16. November 1946 vor. Danach wurde ihm »bescheinigt, dass er im Einvernehmen mit der Obersten Sowjetischen Militäradministration in Karlshorst als politisch unbelastet zu beurteilen sei. Seine ständige antifaschistische Tätigkeit während des Nazi-Regimes« sei »behördenbekannt«.176 Strauss sah das komplett anders. Strauss griff seinen Intimfeind direkt an: »›Es ist ein Skandal, was die Schulen mit unseren (!) Kindern machen‹ (Herr Professor Möglich in einer Fachrichtungsbesprechung).« Und Strauss weiter: »Das Wenigste, was man tun muss, ist dies, dass man bei der Offensive gegen feindliche ideologische Einflüsse nicht bei denen Halt macht, die – oft unverdienter Weise – einen Lehrstuhl innehaben.« Strauss jedoch genügten seine Äußerungen nicht, fanatisch getrieben wurde er konkret: »Es gibt den Fall Möglich, der nicht nur faul ist, sondern zum Himmel stinkt. Es gibt also Fälle, denen mit ideologischer Offensive allein nicht beizukommen ist und die andererseits auch nicht – noch nicht – reif für den Staatsanwalt bzw. die Organe der Staatssicherheit sind, wie der Fall Harich es schließlich wurde. Ich habe bereits im Jahre 1953 vor Harich177 gewarnt, wie ich auch bereits damals das Staatssekretariat und die Parteileitung der Uni vor Möglich gewarnt habe!«178 Kurze Zeit später, am 29. Januar 1957, richtete Strauss an das Neue Deutschland ein Schreiben, in dem er heftige Kritik an einen Artikel von Alfred Kosing richtete. Strauss sprach darin eingangs von zwei Vergehen, die sich dieser habe zuschulden 173  Explizit in: Buthmann, Reinhard: Die politische Geschichte der TH Ilmenau (Arbeitstitel), Kap. 3, erscheint voraussichtlich 2021. 174 Schreiben von Laue an Rompe vom 9.3.1946 und Gutachten von Walter Weizel vom 12.3.1946; ArchBBAW, Nachlass Möglich, Nr. 13. 175  Vgl. Hoffmann, Dieter / Walker, Mark: Der Physiker Friedrich Möglich (1902–1957) – ein Antifaschist?, in: Hoffmann, Dieter / Macrakis, Kristie (Hrsg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 361–382. 176 Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung vom 16.11.1946; ArchBBAW, Nachlass Möglich, Nr. 12, 1 S. 177  Zu Harich grundsätzlich: Amberger, Alexander: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR. Paderborn 2014, S. 61–130. 178  Strauss, Martin: Schreiben an das Neue Deutschland vom 21.12.1956 zum Leitartikel »Studentenschaft und Sozialismus« am 20.12.1956; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 150, S. 1–3, hier 2.

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Abb. 5: Friedrich Möglich in seinem Forschungslabor in Berlin-​ Buch, Oktober 1948

kommen lassen: erstens die Berufung auf unhaltbare Thesen und zweitens »dem vermeintlich Irrenden eine Auffassung« unterzuschieben, »die das genaue Gegenteil von dem ist, was der Betreffende gesagt« habe. Für Strauss war klar, dass sich Kosing beider Vergehen schuldig gemacht habe, und zwar an ihm selbst. Strauss hatte im Neuen Deutschland einen Artikel unter der Überschrift »Philosophie und Physik« veröffentlicht. Es ging um die »Frage, ob wir im Lichte der heutigen Erkenntnisse Lenins Stellungnahme zu den Empiriokritizisten nicht revidieren müssten«. Diese Frage aber sei von Friedrich Herneck gestellt worden und er, Strauss, habe sich dieser Frage schließlich gestellt, »da« er, so Strauss in gewohnt selbstherrlicher Manier, »mit Recht« angenommen habe, »dass bei uns niemand anderer kompetent und willens sei, auf diese Frage mit faktischen Argumenten zu antworten«. Er »entschloss« sich also, »es selber zu tun«. Kosing, so argumentiert Strauss, sei »es völlig entgangen«,

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dass er pionierhaft »mit konkreten Argumenten aus der Geschichte der Physik die Legende von der nützlichen Rolle des Positivismus in der modernen Physik widerlegt« habe. Damit meinte er die Legende um Lenins Schrift Materialismus und Empiriokritizismus. Die Legende besagte nach Ansicht von Strauss, dass Lenin mit ihr »eine schöpferische Verarbeitung von Ergebnissen der Naturwissenschaft« geleistet habe. Dem aber sei keineswegs so. Nach Strauss hatte Lenin überhaupt nicht die Zeit, »sich mit den naturwissenschaftlichen Problemen seiner Zeit so eingehend zu beschäftigen, wie dies für einen solchen Zweck nötig gewesen wäre«. Fünf Jahre Physikstudium benötige man, um überhaupt die wichtigsten Phänomene zu beherrschen. Friedrich Engels habe sich sieben Jahre mit Vorstudien beschäftigt. Strauss: »Die Legende ist aber nicht nur unhaltbar und unsagbar dumm, sie ist vor allem eine unerhörte Beleidigung Lenins«, und dies aus zwei Gründen. Erstens wegen der Unterstellung, Lenin habe sich die Ergebnisse quasi aus dem Ärmel geschüttelt. Zweitens liege die Genialität Lenins gerade darin, dass er die »richtige Einschätzung der damaligen ›Krise‹ […] ohne direktes Studium der Physik«, jedoch aber »durch das Studium der philosophischen Diskussion der damaligen Physik« gegeben habe.179 Trotz aller Datierungsunschärfen – allein aufgrund von diversen Gegenläufigkeiten – kann für die Phase von Stalins Tod bis etwa 1958 von einer gewissen Tauwetterperiode gesprochen werden, einer Phase, in der intellektuelle Scharmützel um die richtige Interpretation des Marxismus ein Makrobild zeichneten, das Offenheit suggerierte, jedoch wenig mit der lebensnahen Binnenansicht gemein hatte. Unabweisbar dürfte sein, dass die kurze Tauwetterperiode als Stellungskrieg benutzt worden war, in dem die SED unter allen Umständen versuchte, ihre Machtposition auszubauen. Die öffentlich ausgetragenen Streitereien waren oft Luxus, reines Blendwerk. Die Tauwetterperiode führte nicht zur substanziellen Lockerung der orthodoxen Lehrmeinungen der Apologeten des Marxismus-Leninismus, gesteuert vom ZK. Vielmehr beschleunigte sie den Kampf gegen den Revisionismus. Alles, was nicht auf der SED-Linie lag, war Revisionismus. Personen, die glaubten, in einer offeneren Weise Kritik üben zu können, liefen nicht selten in eine Falle hinein. Sie demaskierten sich zur Freude von SED und Staatssicherheitsdienst, die nun leichter die »Revisionisten« erkennen konnten. War das gar bezweckt? Strauss vertrat im Rahmen einer Diskussion zwischen Physikern und Philosophen über die moderne Physik die Auffassung, »dass jeder wesentliche Fortschritt in den Naturwissenschaften auch eine Bereicherung des dialektischen Materialismus« sei. Jedoch müsse man darauf achten, die physikalischen Theorien nicht so zu behandeln, »als ob sie selbst zum ideologischen Überbau gehörten«.180 Ihm kam es nicht 179  Strauss, Martin: Schreiben an die Redaktion Kultur des Neuen Deutschland vom 29.1.1957; ebd., S. 1 f. 180  Diskussion zwischen Physiker und Philosophen über die moderne Physik (o. D.); A ­ rchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 94, S. 1–7, hier 1 f. Handschriftlich in die Schreibmaschinenfassung hineingeschrieben. Siehe auch Strauss, Martin: Diskussionsbeitrag, in: DZfPh 1(1953)2, S. 386–405.

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so sehr »darauf an, den idealistischen Charakter gewisser Anschauungen und Lehren aufzudecken, sondern deren Unverträglichkeit mit der physikalischen Theorie und Praxis im Einzelnen nachzuweisen« – und zwar so »nachzuweisen, dass es den Physiker überzeugt«.181 Heute muten diese intellektuell geführten Diskurse aufgesetzt an, gleichwohl ist ein Verständnis jener Zeit ohne deren Kenntnisnahme nur schwer möglich. Fachliche Differenzen wurden parteipolitisch derart aufgeladen, dass sie den Diskurs mit Zensur bedrohten und in Teilen zerstörten. Lagerbildung und politische Zweckbestimmung beherrschten die Fachkonferenzen und Tagungsbände. Alles war Politik: Strauss lobte die sowjetische Selbstkritik: »die sowjetische Diskussion ist ausgerichtet auf die kritische Aneignung der mit der Quantentheorie verknüpften Bereicherung des dialektischen Materialismus sowie auf die Beseitigung der Hemmungen, welche jede Dogmatisierung der Forschung auferlegt.«182 In der DDR war die Ablehnung der modernen Physik phasenverschoben, schwankend und gegenüber dem sowjetischen Gipfelpunkt nie so stark verlaufen. Vor allem waren es die philosophischen Interpretationen, die den marxistischen Hardlinern zuwider waren, weniger die physikalischen Gesetze, von denen sie keine Ahnung hatten. Der Gipfelpunkt der Bekämpfung der tieferen Bedeutung der modernen Physik lag in den Jahren von 1949 bis mindestens 1956.183 Strauss erlebte hier als Nutznießer seine Hochzeit in dem Versuch, die Reinheit der leninistischen Lehre mit der der Physik zu vereinen. Dabei konnte er am sowjetischen Weg partizipieren, da die gröbsten Unsinnigkeiten dort längst abgeschüttelt worden waren. Er sah sich stets als Oberlehrer und verteilte Zensuren. Richtige Stellungnahmen zu den Grundfragen der Quantenmechanik sah Strauss bei Wladimir A.  Fock und Alexander D. Alexandrow – denn sie bekannten sich zum Leninismus.184 Wenn nicht, dann wurde er polemisch und entsprach in der Diktion den ideologischen Hardlinern der SED. So in seiner Einschätzung zu Béla Fogarasis »Kritik des physikalischen Idealismus«, erschienen 1953; Zitat: »Auch was« Fogarasi »über die Quantenmechanik sagt, ist in höchstem Grade unklar, widerspruchsvoll, fehlerhaft. In Kap. II.8 – dem einzigen, das sich direkt mit der physikalischen Theorie beschäftigt –, […] wird klar, dass« Fogarasi »die Quantenmechanik entweder nicht kennt oder total missverstanden hat«.185 Strauss besaß in seiner Diktion eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Lenins, die er gern auch auswies, etwa im Falle Fogarasis, der vom quasi erzwungenen Vertrauen in Heisenbergs Erkenntnistheorie gesprochen hatte: »Misstrauen

181  Ebd., S. 5. 182  Ebd., S. 6. 183  Vgl. Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik. Hier insbesondere Kap. 6: Moderne Physik in der SBZ / DDR (1946–1960), S. 31–48. 184  Diskussion zwischen Physiker und Philosophen; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 94, S. 1–7, hier 7. W. A. Fock in Philosophische Fragen (Heft 4, 1952) und A. D. Alexandrow in Sowjetwissen (Naturwissenschaftliche Abt., Heft 2, 1953 u. Heft 1, 1952). 185  Strauss: Eine Rezension zu Fogarasi: »Kritik des physikalischen Idealismus«; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 159, S. 1–14, hier 2.

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in die Physik, aber Vertrauen in die philosophierenden bürgerlichen Physiker – das genaue Gegenteil zur Haltung Lenins«.186 Nicht zuletzt zeigt das Beispiel Strauss, dass zwischen 1951 und 1953 in beiden Teilen Deutschlands vieldiskutierte Arbeiten erschienen sind, »die – bei aller Unterschiedlichkeit und sogar Gegensätzlichkeit in fachlicher Hinsicht  – darin übereinstimmen, dass sie die Quantenmechanik im Sinne eines klassischen Modells umzudeuten oder umzubauen« suchten, »wobei die einen Autoren zur klassischen Korpuskularmechanik, die anderen zur klassischen Wellentheorie zurückstrebten«. Sie seien »in ähnlicher Weise philosophisch motiviert« gewesen und hätten »ein Unbehagen an der modernen Physik« ausgedrückt, »das damals« weite »Kreise von Physikern erfasste und auch vor den Toren der DDR keinesfalls haltmachte«. Strauss ging zwar dagegen an, verfolgte aber dabei (noch) andere Ziele. Das kam deutlich bereits auf der ersten Tagung der Physikalischen Gesellschaft 1953 zum Ausdruck, wo er gegen die Zurücknahme der modernen Physik argumentierte. Diese Tendenz der Zurücknahme und das Unbehagen an der modernen Physik sah er auf zwei Gründe bezogen. Erstens wegen der »noch längst nicht gelösten Aufgabe, von der gegenwärtigen Quantentheorie zu einer ›Theorie der Elementarteilchen‹ zu gelangen« und zweitens wegen des »der bürgerlichen Ideologie inhärenten Unvermögens, den idealistischen Dunstschleier, der sich um die Quantentheorie gelegt hat, zu durchschauen und die bereits erzielten sehr wesentlichen und tiefgehenden Resultate mangels Kenntnis der Dialektik materialistisch zu begreifen«.187 Er mutmaßte, dass im Falle der »Quantentheorie noch andere Umstände eine Rolle« spielten, »die weniger mit ihrer philosophischen als vielmehr mit ihrer praktisch-politischen, oder vermeintlich-politischen, Bedeutung zusammenhängen«.188 Interessant war zu jener Zeit Strauss’ Denkansatz allemal, wenn er von einer »ideologischen Revolte gegen die moderne Physik« sprach, wenngleich die, wie er sagte, »kleinbürgerliche Reaktion gegen den unwiderruf‌lichen Beginn des ›Atomzeitalters‹ eine Art geschichtliche Parallele zur Maschinenstürmerei« darstelle. Strauss sah den Willen zur klassischen Physik, »in den beseligenden Schoß einer mechanistischen Physik« zurückgehen zu wollen, nicht als Freud’sche Fehlleistung oder Vergessen-Wollen des modernen Ansatzes, sondern als »eine ideologiebedingte Fehlleistung, ein Symptom der ideologischen Erkrankung«.189 Strauss nahm am Internationalen Symposium Philosophie und Naturwissenschaften an der Karl-Marx-Universität Leipzig vom 8. bis 11. Oktober 1959 teil, zu dem circa 200 Naturwissenschaftler und Philosophen kamen. Die Eröffnung fand im Sitzungssaal des Neuen Rathauses Leipzig statt. Die Begrüßungsrede hielt der 186  Strauss: Physik und Philosophie. Zu Fogarasis »Kritik des physikalischen Idealismus« (I); ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 94, S. 1–7, hier 5 f. 187  Ebd., S. 1 f. 188  Strauss: Physik und Philosophie. Zu Fogarasis »Kritik des physikalischen Idealismus« (II); ebd., S. 1–28, hier 3. 189  Ebd., S. 4 f.

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marxistische Philosoph Josef Schleifstein, Prorektor der Universität und Initiator des Symposiums. Zum Begreifen des »Gipfeltreffens« in seiner Bedeutung, so Strauss, gehöre es sich, der engen »Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaft zur Zeit der bürgerlichen Aufklärung, exemplarisch verwirklicht von den französischen Enzyklopädisten«, zu erinnern. Er nannte es »das klassische Beispiel dafür, dass sich die Philosophie einer aufstrebenden Klasse mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus« verband, »um den gemeinsamen Feind – den Idealismus und Agnos­ tizismus – zu schlagen«. Eine zweite Bedeutung liege darin, dass das Zurückbleiben der »meisten« »offiziellen Vertreter« der marxistischen Philosophie einen Endpunkt erreicht habe, auch wenn Strauss dies so nicht sagte, vermittelt doch sein Text diesen Eindruck.190 Er brachte in seiner bekannten Manier alle handgreiflichen Argumente wie Sektierertum, Ignoranz, Überheblichkeit, idealistische Hülle, Generalangriff, Orthodoxie, richtige physikalische Lehre, kurz: er brannte ein Feuerwerk ab. Es sei »vor allem dem Wirken des sowjetischen Physikers Wladimir A. Fock und seines Mitstreiters, des Mathematikers Alexandrow, zu verdanken, dass diese unrühmliche Periode ein schnelles Ende« gefunden habe. »Fast alle Philosophen«, die sich sachbezogen auf die Physik orientiert hätten, hätten sich auf Fock berufen, »während die Opponenten der ›Orthodoxie‹ – Einstein, Schrödinger, De Broglie, Bohm, Jánossy u. a. –, die noch vor wenigen Jahren als Kronzeugen zitiert wurden, in der Versenkung verschwanden«.191 Friedrich Herneck soll laut Strauss in seinem Vortrag Einstein als Parteigänger Machs »einer schonungslosen Kritik seiner philosophischen Ansichten unterzogen« haben. Er lobte ausdrücklich diesen Beitrag, der mit den Versuchen einiger, Einstein ein materialistisches Mäntelchen umzuhängen, ins Gericht ging.192 Zu Havemanns Vortrag bemerkte Strauss, dass es zweifelhaft sei, den Zugang zur Quantenphysik durch Hegels Dialektik von Zufall und Notwendigkeit gewinnen zu können. »Ob die Hegelsche Dialektik eine Antizipation der quantenmechanischen Prohabilistik enthält, erscheint zumindest den Quantenphysikern als äußerst zweifelhaft«; Strauss: »Sehr viel verwunderlicher war jedoch Havemanns These von dem anthropomorphen Charakter des Kausalprinzips, über die es noch manche Diskussion geben wird.« Abschließend bemerkte er – angeblich mit Bedauern  –, dass »die meisten älteren Physiker der DDR« der Tagung fern­geblieben seien.193 Doch die hatten gute Gründe dafür, sie benötigten diese Debatten nicht. Ein anderer aber kam: Havemann.

190  Strauss, Martin: Ein guter Anfang. Zum internationalen Symposium Philosophie und Naturwissenschaften an der KMU Leipzig vom 8.–1.10.1959; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 152, S. 1–6, hier 1. 191  Ebd., S. 2 f. 192  Ebd., S. 4. 193  Ebd., S. 6.

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Robert Havemann: Freigeist sondergleichen Die SED besaß ein gebrochenes Verhältnis zur Philosophie. Einerseits war sie ihr in Form des Marxismus-Leninismus die Königsdisziplin, andererseits fürchtete sie sie, sobald sie sich Selbstbestimmtheit gestattete, wie der Teufel das Weihwasser. Das kommt in einem Bericht von Rompe, der keine philosophische Ader besaß, über Steenbeck treffend zum Ausdruck. Der befasse sich »zurzeit mit philosophischen Ergüssen«, und es stehe »die Frage, ob uns gegenwärtig eine philosophische Diskussion nützt«. Rompe glaubte, »dass eine Reihe führender Wissenschaftler infolge der Stabilisierung unserer ökonomischen Verhältnisse auf das Gebiet der Philosophie übergehen und in dieser Hinsicht fast westdeutsche Hinweise befolgen«.194 Rompe hatte vor allem Zweifel an Havemann; es gibt kaum Belege dafür, dass er ihn als Physiker akzeptierte. Zu Havemann ließ Rompe wissen, dass der vom sowjetischen Nobelpreisträger Lew D.  Landau gedeckt werde: »Landau ist groß und Havemann ist sein Prophet.«195 Während Strauss die Physik mit der reinen marxistisch-leninistischen Philosophie progressiv und elitär zu verbinden trachtete, bestritt Havemann energisch, dass Philosophie überhaupt nötig sei. Der Astrophysiker Steven Weinberg hat, so Sibylle Anderl, festgestellt, »dass seit dem Zweiten Weltkrieg Fortschritt innerhalb der Physik durch philosophische Ideen nie befeuert und meist gebremst worden ist«. Das traf allererst auf die DDR zu, da hier die Philosophie Ideologie war und selbst naturwissenschaftliche Fachdisziplinen zu über- und verformen drohte. Natürlich war und ist Philosophie ein probates Mittel, Probleme und Begriffe zu schärfen und Gedankenkraft zu entfalten, Neugierde und Fragen zu generieren; auch – wie auf der Hannoverischen Tagung von Wissenschaftsphilosophen zutreffend konstatiert worden war – »als Brutkasten für spekulative, allgemeine Ideen«.196 Kommt sie aber wie in der DDR als ideologische Anmaßung daher, dann ist sie unannehmbar. Wenn aber der Naturwissenschaftler das Eigentliche der Philosophie zu nutzen versteht, nämlich das platonische Fragen als unendlichen Dialog, das Sich-Wundern, das Verliebtsein in den Gegenstand seiner Arbeit, oder auch nur Paul Feyerabends »anything goes« übt, dann ist ihm die Philosophie das liebste und unentbehrlichste Werkzeug. Sie lässt sich nicht aufzwingen, sie kommt von allein. Ein besonderer Umstand besteht darin, dass nicht nur Kommunisten mit proletarischer Herkunft, Halbwissende, junge noch nicht erfahrene Wissenschaftler oder bloße Funktionäre überzeugt waren, dass der dialektische Materialismus es gestattet, »den Entwicklungsgang unseres Wissens vorauszusehen und richtig zu lenken«. Auch kluge und erfahrene Wissenschaftler glaubten dies, wie der weltbekannte 194  HA III/6/T vom 31.10.1963: Gespräch von Jahn und Ribbecke mit Rompe am 29.10.1963; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 368 f. 195  HA III/6/S vom 11.11.1963: Bericht zu Havemann; ebd., Bl. 381–388, hier 381 f. 196  Anderl, Sibylle: Forschung über Wahrheiten, in: FAZ vom 20.4.2013, S. N 5. Physiknobel­ preisträger von 1979. Weinberg, Stephen: »Against Philosophy« (from »Dreams of a Final Theory«), in: emilkirkegaard.dk/…/uploads/Steven-Weinberg-"Against-Philosophy".pdf; letzter Zugriff: 10.1.2020.

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sowjetische Physiker Abram F. Joffe dies 1949 in einem Aufsatz in der Halbmonatsschrift Neue Welt kundtat und ausführte, dass »die bourgeoisen Philosophen« es trotzdem versuchen, »ihre idealistischen Erfindungen auf den Schlussfolgerungen der modernen Physik aufzubauen«. Joffe: »Das Weltall kennt weder Grenzen im Raum noch Anfang und Ende in der Zeit. Das sagt der Marxismus, und das bestätigt die Wissenschaft mit allen ihren Erkenntnissen.«197 Mit solchen Auffassungen konnte Havemann wenig anfangen. Und man kann ihn nur dann richtig verstehen, wenn man weiß, dass die marxistisch-leninistische Philosophie ein Streckbett der Naturwissenschaften, speziell der Physik und Biologie war. Noch einmal Joffe: »Dadurch, dass die sowjetische Wissenschaft ihre Arbeit auf der Grundlage der marxistischen Philosophie aufbaut, macht sie sich frei von allem Nebel und Unrat der Religion und des Idealismus, die die Entwicklung in den bourgeoisen Ländern hemmen.«198 Joffe, mit dem Rompe sympathisierte, pflichtete Havemann ausdrücklich nicht bei. Zu einer Greifswalder Tagung am 27. und 28. September 1963 soll Havemann uneingeladen erschienen sein. Mit dieser Tagung begann, das wurde später offenkundig, sein Schisma. Er hatte im Vorfeld erfahren, dass der spätere Wissenschaftshistoriker Heinrich Parthey von der Universität Rostock gegen Havemanns »falsche Auffassungen« reden wollte.199 Der Greifswalder Mathematiker Günter Asser sekundierte und fragte Parthey200, welche Vorwürfe er gegen Havemann zu machen habe. Und der äußerte, dass er »die pauschale Kritik Havemanns an der Nützlichkeit der Philosophie für die Entwicklung der Naturwissenschaften für völlig unfruchtbar« halte, wonach sie nicht weiterbringe, sondern ein Hemmnis in der Wissenschaftsentwicklung darstelle.201 Havemann soll sich auf der Veranstaltung, die einem Tribunal glich, von der Stärke der Kritik beeindruckt gezeigt haben. »Er leugne gar nicht die Bedeutung der Philosophie für die Wissenschaften.« Aber er erinnerte: »Haben aber Philosophen an dem Prozess, wertvolle Hinweise zur Lösung wissenschaftlicher Probleme zu geben, teilgenommen? Auch diese Frage habe er nicht generell verneint. Vor allem erkenne er die Bedeutung der Überwindung des mechanischen Denkens mithilfe der Philosophie. Wer habe aber dabei geholfen? Kein einziger Vertreter des dialektischen Materialismus. Vielmehr hätten die von der Partei bestellten Philosophen viele Forscher aus ihrer schöpferischen Arbeit herausgerissen, wie es z. B. in Fragen der Genetik der Fall gewesen sei. Die Einmischung der dialektischen Materialisten und der Partei in die Lösungswege einzelner wissenschaftlicher Probleme habe die Forschung nicht nur nicht gefördert, sondern sogar 197  Joffe, Abram F.: Die marxistische Philosophie in der modernen Physik. Abdruck eines in der »Neuen Welt« erschienenen Aufsatzes von Joffe, in: Physikalische Blätter 5(1949)7, S. 302–307, hier 303. 198  Ebd., S. 307. 199  HA III/6/S vom 11.11.1963; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 381 f. 200  (1936). Dazumal Dozent an der Universität Rostock, Institut für Marxismus-Leninismus. 201 Diskussionsbeiträge der Sektion Mathematik / Physik am 27.9.1963; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 322–333, hier 327.

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gehemmt. Wie konnte es zu diesem Hemmnis durch die materialistischen Philosophen kommen?«202 Havemann vermutete, dass die Ursache hierfür im Stalin­kult liege. Jedenfalls las der Marxist Heinrich Vogel203 Havemann die Leviten: »Wir Philosophen haben das zurückgedrängt, was in der Vergangenheit unter dem Einfluss des Stalinkults falsch war.«204 Havemann stellte die Frage, wie die Philosophie den Einzelwissenschaftlern denn überhaupt helfen könne, und antwortete selbst: »Nicht in dem Sinne, was man im Allgemeinen unter dem Begriff der ›Zusammenarbeit‹ verstehe, indem der eine etwa das Besondere, der andere das Allgemeine hinreicht.« Havemann beherrschte die Diskussion, er argumentierte sicher und schlagfertig. Er stehe »auf dem Standpunkt, dass nur ein ganz versierter Einzelwissenschaftler in der Lage sein könne, die Einzelwissenschaft auch mit der Philosophie zu verknüpfen. Dazu sei aber der Philosoph im Allgemeinen nicht in der Lage, auch wenn er Diplomkenntnisse in diesem oder jenem Fach erworben habe.« Und weiter: »Was Marx und Engels zur Philosophie hinzugefügt haben, sei recht wenig.« Er empfehle »den Philosophen, insbesondere die Geschichte der Philosophie zu studieren«. Allein dieses Argument muss »gesessen« haben, wusste er doch, dass jene Philosophen, die er kritisierte, eigentlich keine waren. Und weiter Havemann: »Keine Anwendung der Philosophie auf die Naturwissenschaften, sondern Anwendung der Philosophie in den Naturwissenschaften.«205 Stalin erwähnte er erst gar nicht. Die SED hatte Josef Stalin nie ganz fallenlassen. Noch anlässlich seines 100. Geburtstages schrieb Gertraud Teschner: »Bei der Einschätzung der negativen Züge im Erscheinungsbild Stalins, die man keinesfalls außer Acht lassen darf, müssen auch die konkret-historischen Bedingungen und die außerordentliche Kompliziertheit des sozialistischen Aufbaus berücksichtigt werden, der in einem durch imperialistischen Krieg und Bürgerkrieg zerrütteten Land vollzogen werden musste, das ringsum von feindlichen kapitalistischen Staaten umgeben war und dem die ständige Gefahr eines Überfalls von außen drohte.«206 Das war 1979! Dass die DDR nichts von einer substanziellen Stalin-Aufarbeitung hielt, ist bekannt. In einem von einem inoffiziellen Mitarbeiter berichteten Gespräch zwischen dem Parteivorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) sowie DDR-Außenminister Lothar Bolz und dem Leiter des Aufbau-Verlages Klaus Gysi, soll Gysi zum Ausdruck gebracht haben, dass er sich »schämen müsse, nach Moskau zu fahren und mit sowjetischen Schriftstellern sprechen zu müssen«. Namhafte sowjetische Schriftsteller hätten ihn wiederholt mit der Frage konfrontiert, »warum die DDR in ihrer Buchproduktion nicht die aktuellen sowjetischen Bücher verlege«. Laut 202  Ebd., Bl. 327 f. Diese Protokolle sind nicht wortwörtlich verfasst. 203  (1932–1977). Zu ihm und eine Begegnung mit Lauter siehe S. 616. 204 Diskussionsbeiträge der Sektion Mathematik / Physik am 27.9.1963; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 322–333, hier 329. 205  Ebd., Bl. 328. 206  Teschner, Gertraud: Zum 100. Geburtstag Stalins, in: Berliner Zeitung vom 22./23.12.1979, S. 10. Der Artikel erschien tags zuvor im Neuen Deutschland.

Der bürgerliche Wissenschaftler

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Konstantin A. Fedin müsse bald von einem Skandal gesprochen werden, so wie die DDR sich von der literarischen Aufarbeitung des Personenkultes um Stalin drücke. Das betreffe neben der Literatur auch Theater und Kino.207 Der Greifswalder Philosoph Erhard Albrecht, von 1953 bis 1955 Prorektor für den GeWi-Unterricht, wies auf die Bedeutung des dialektischen Materialismus hin, der der bürgerlichen Philosophie »jederzeit« überlegen sei.208 Einige Momente in der Diskussion glichen einer Inquisition. Ein Physiker bat »Havemann um Stellungnahme, ob er sich mit der Einschätzung durch Professor Albrecht, dass er ein typischer Vertreter des Positivismus sei, einverstanden erklären könne«. Havemann versuchte »zu beweisen, dass er kein Positivist« sei, und zitierte aus an ihn gerichteten Briefen von Max Born. Auch verwies er auf Engels Anti-Dühring, in dem der die Bedeutung der Philosophie für die Naturwissenschaften »negativ beurteilt« habe und »daraus die Folgerung« gezogen habe, »dass also auch Engels Positivist gewesen« sein müsse. Das korrespondierende Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und Direktor des Instituts für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik an der Akademie Bonifati Kedrow entgegnete, Engels habe nur »die alte Philosophie« gemeint.209 Kedrow stellte auf der Konferenz unmissverständlich klar, dass es mit der bürgerlichen, insbesondere neukantianischen Philosophie kein Einvernehmen geben könne. Danach habe sie durch die Trennung von Gesellschafts- und Naturwissenschaften die erstere »im strengen Sinne des Wortes aus der Wissenschaft ausgeschlossen. Die reaktionäre soziale Funktion dieser Manipulation habe darin bestanden und bestehe bis in die unmittelbare Gegenwart darin, den Weg der Erkenntnis von der Erscheinung zum Wesen (Gesetz) und von diesem zur revolutionären Praxis gerade für den sozialen Bereich zu verdunkeln und zu versperren, um mit ideologischen Mitteln dem gesetzmäßigen Fortschritt vom Kapitalismus zum Sozialismus den Weg zu verstellen. Freilich findet sich im Waffenlager der imperialistischen ideologischen Diversion nicht nur eine derartige Aufbauschung der Spezifik der Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften bis zu ihrer absoluten Entgegensetzung, sondern ist auch die dem Sozialdarwinismus eigene Gleichsetzung von Natur und Gesellschaft verbreitet, die zur Leugnung des subjektiven Faktors in der Geschichte und damit zu einer fatalistischen Grundhaltung führt.«210 Kedrows Einsatz gegen Havemann soll laut MfS die Beifallswaage zuungunsten Havemanns geneigt haben.211 Es gehört zum Gesamtbild Havemanns, dass er sich geraume Zeit in einer Findungsphase befand  – und sich möglicherweise über die Tragweite einer zu weit 207  HA V/3 vom 13.3.1962; BStU, MfS, AP 6732/89, Sonderablage Leiter, Bl. 120. 208 Diskussionsbeiträge der Sektion Mathematik / Physik am 27.9.1963; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 322–333, hier 329. 209  Ebd., Bl. 331 f. 210  Die Stellung der Naturwissenschaften in der sozialistischen Gesellschaft, Tagungsbericht von Erhard Albrecht; ebd., Bl. 334–356, hier 336 f. 211  Vgl. HA III/6/S vom 11.11.1963; ebd., Bl. 383.

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gehenden Gesprächspolitik mit der Staatssicherheit nicht im Klaren war; ein Beispiel: Am 23. Mai 1958 berichtete er als GI »Leitz« von einer Tagungsreise in die Bundesrepublik, auf der es zu einem Gespräch mit Heisenberg kam. Thema war vor allem Havemanns Vortrag in Leipzig (siehe S. 116). Angeblich, so Havemann, habe sich Heisenberg »inhaltlich mit« seiner »materialistischen Interpretation der Quantenphysik« einverstanden erklärt. »Es war jedoch zu erkennen«, so Havemann, »dass ihm nichts daran« gelegen habe, »diese Tatsache direkt zu bestätigen.« Eine Randmitteilung aber besaß Zündkraft: »Während des Gesprächs wurde der Leipziger Wissenschaftler Straube durch Professor Hund (früher Jena) Heisenberg vorgestellt. Auf die Frage nach seiner Heimatstadt antwortete Professor Straube: ›Noch Leipzig‹.« Havemann soll hier vermutet haben, dass Straube mithilfe Hunds die DDR verlassen wolle: »Hund verleumdet die DDR bei jeder Gelegenheit, und Straube wurde kürzlich aus der Partei ausgeschlossen.«212 Havemann muss zu dieser Zeit noch einigermaßen fest im Sattel der SED gesessen haben oder – in der Sprache des MfS – ins Blickfeld des »Gegners« geschoben worden sein. Am 18. und 19. Oktober 1958 war er Teilnehmer einer Tagung des westdeutschen Friedensrates in Dortmund. Das MfS evaluierte Havemanns persönliche Verbindungen u. a. zu Steenbeck, Barwich, Hertz, Ardenne, Rambusch, Warburg, von Laue und Max Born. Der lieferte einige Einschätzungen, etwa zu Hertz: An den komme man nicht recht heran, der stelle »eine ›höhere Kategorie‹ dar«.213 Kurz zuvor, am 8. Oktober 1958, nahm Havemann an der Feier zu Ehren Otto Warburgs in Westberlin teil. Der soll ihn beiseitegenommen und frei heraus gesagt haben, dass man ihn, also Havemann, als Nachfolger Otto Hahns für den Präsidentenposten der Max-Planck-Gesellschaft wünsche. Warburg erhielt auf dieser Feier das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland sowie die Ernst-Reuter-Medaille der Stadt Berlin.214 Noch 1977 schrieb Kedrow, ganz und gar Leninist geblieben: »Es kommt darauf an, ihnen [den Leugnern der Bedeutung der marxistisch-leninistischen Philosophie – d. Verf.] geduldig und vor allem kameradschaftlich das Wesen der Dinge zu erläutern. Handelt es sich doch um ein Bündnis und nicht um eine dienstliche Unterstellung der Naturforscher unter die Philosophen.«215

3.2  Der »Neue Mensch« im Kommunismus In der Zeitgeschichtsschreibung der 1950er-Jahre überwiegen die Bilder des widerständigen jungen Mannes, der Fluchten, Verfolgungen, Maßregelungen und Exmatrikulationen aus politischen Gründen sowie der willkürlichen Verhaftungen im 212  Abt. VI/2 vom 29.5.1958: Bericht von »Leitz«; ebd., Bd. 2, Bl. 94 f. 213  Abt. VI/2 vom 20.11.1958: Bericht von »Leitz« am 18.11.1958; ebd., Bl. 125–130, hier 126 f. 214  Vgl. Bericht von Havemann vom 9.10.1958; ebd., Bl. 119–123, hier 119 f. 215 Kedrow, Bonifati: Philosophie und Naturwissenschaft, in: Gesellschaftswissenschaften 8(1977)3, S. 73–85, hier 84.

Der »Neue Mensch« im Kommunismus

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Morgengrauen. Ein graues Bild, das zweifellos den Tatsachen entspricht. Parallel dazu existierte aber auch die Bilderflut des jugendlichen Aufbruchs, der FDJ-Fahnen und fröhlichen Demonstrationen – und von der Idealität kommunistischen Denkens, wie wir es im vorigen Kapitel bei Strauss feststellten. Welcher junge Mensch dieser zweiten DDR-Seite war etwa nicht stolz, als Aktivist ausgezeichnet worden zu sein? Im Zweifel wurde die ideologische Überfrachtung kleingeredet. Der Stolz auf die fachliche Leistung überwog. Orden und Ordensbüchlein, Abzeichen und Urkunden verfehlten ihre Wirkung nicht. Manche zeigten sie auch gern unaufgefordert, trugen sie öffentlich. Familienalben legen davon beredt Zeugnis ab. Den Aktivisten wurde zur Auszeichnung in jenen Jahren das Wort des damals höchsten Herrschers in der kommunistischen Welt, Stalin, in Gedichtform mitgegeben: »Wir selbst müssen zu Spezialisten,   zu Meistern unserer Sache werden. Wir müssen uns dem technischen Wissen zuwenden,   diesen Weg wies uns das praktische Leben. Es ist Zeit, es ist längst Zeit,   dass wir uns der Technik zuwenden. Es ist Zeit, dass wir die alte Losung,   die überholte Losung von der Nichteinmischung   in die Technik über Bord werfen Und dass wir selbst Spezialisten, Sachkundige,   selbst vollauf Meister unserer Sache werden.«216

Die Indoktrinations(ein)übungen waren weit gefächert: Auszeichnungsrituale, Demonstrationen, Meetings, Versammlungen, Schulungen aller Art. Selbst die Direktoren wurden wie Kinder marxistisch »geschult«, die Genossen im Rahmen der Parteiveranstaltungen und jene, die der Partei nicht angehörten, zusammen mit jenen in speziellen Schulungsveranstaltungen. Die eigentliche Hauptüberschrift der Unterrichtung hieß stets »Aufbau und Sieg des Sozialismus«. Manch einer, siehe die folgende Abbildung, schien so gar nicht in das Bild dieser Veranstaltungen in Zimmern mit Leninbild zu passen. Über die Idee des Sozialismus / Kommunismus, über seine Verwirklichungen, Geschichte(n) und Niederlagen, Restaurationen und Alternativen sind unzählige Bücher verfasst worden. Verklärungen, analytische Monografien, Biografien und Schwarzbücher, eine Gesamtgeschichte, die weder beendet noch nur auf den sogenannten Osten beschränkt war und ist. Immer aber auch hatte dieser Sozialismus seine Legitimationen, Tabus und Mythen. Eines dieser Mythen bildete die Idee vom »Neuen Menschen«. Der »Neue Mensch«, ein Projekt aus reiner sozialistischer und atheistischer Kultur und Ideologie. Der »Neue Mensch« war ohne Geschichte konzipiert, entpolitisiert zu einem weißen Papier gemacht, das es neu zu beschreiben 216  Aktivistenausweis 1950; Slg. des Verf. Der Text ist entnommen der Rede Stalins auf der ersten Unionskonferenz der Funktionäre der sozialistischen Industrie am 4.2.1931; Stalin, Josef W.: Werke. Hamburg 1971, Bd. 13, S. 29.

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Abb. 6: Werner Hartmann (mit hellem Anzug in der 2. Sitzreihe) bei einem jener Lehrgänge, die er selbst als »Runderneuerung« bezeichnete, 1972

galt. Man begriff den »Neuen Menschen« als Fortschritt schlechthin. Tradition im Realen (zum Beispiel Bildung und Philosophie) war verpönt, Tradition im Irrealen (zum Beispiel die Geschichte der Arbeiterklasse) heroisiert. Hans Blumenberg hat die Idee des Fortschritts, wie oben gesagt, »als Säkularisat einer providentiell gelenkten Heilsgeschichte« gesehen.217 Tatsächlich wurde in den vielfältigen und zahllosen Lehrveranstaltungen der SED gerade das Bild von der goldenen Zukunft beschworen, für die die mannigfaltigen Entbehrungen, Lasten und Einbußen zu ertragen waren. Die Gegenwart verkam geradezu zu einer Aporie. Man befand sich im Übergang. Der bürgerliche Wissenschaftler hingegen war Abbild des Gestern, lebte in einer Tradition, der man notgedrungen noch nicht entsagen konnte. Hierin existiert eine religiöse Analogie zu Paulus. In der Erlösung zu stehen, bedeutet nach Romano Guardini, »dass im ›alten‹ Menschen der Anfang eines ›neuen‹ aufgegangen ist. Der alte ist aber noch da mit all seinen Antrieben und Neigungen, guten wie schlimmen. Zwei Mittelpunkte wirken nun; zwei Menschen kämpfen miteinander; oft wird der neue vom alten besiegt oder doch verdeckt und Lügen gestraft, sodass man gar nicht merkt, dass er überhaupt da ist. Langsam nur dringt das Neue vor, wird stärker, und, durch alles Versagen hindurch, wird der Neue Mensch.«218 So ähnlich mögen die geistigen Väter des Sozialismus / Kommunismus in der Ideologie 217  Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung, S. 43. 218  Guardini, Romano: Pauluskalender. Freiburg 2012, Kalenderblatt vom 16.1.2013.

Der »Neue Mensch« im Kommunismus

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der Heilsgeschichte namens »Marxismus« gedacht haben. Wenn man Blumenbergs folgende Überlegung auf die Programmatik der SED hin prüft, »ob das, was uns den Zugang zum Hintergrund geistiger Antriebe zu eröffnen scheint, nicht vielmehr dem Bedürfnis der Rechtfertigung des schon Realität Gewordenen seinen Ursprung verdankt«,219 kann man für die DDR feststellen, dass das Realität Gewordene ganz und gar konkret abgreifbar war, schaut man sich die Existenzlage der Funktionäre gemessen an deren Bildungswegen und Intelligenzgraden sowie deren Verhältnis zur eigenen Handarbeit an. Zur anthropologischen Seite der neuen Seinsgeschichte gehörte die Konzeption des »Neuen Menschen« genauso wie der Hinweis auf den Heilsgaranten, die »ruhmreiche Sowjetunion«. Erhard Albrecht: »Die Sowjetunion hat in der Entwicklung der Weltzivilisation eine ganze Epoche eröffnet. Sie hat mit der Erschließung des Kosmos begonnen und manifestiert dadurch prägnant die wirtschaftliche und technische Macht des sozialistischen Lagers. Die Sowjetunion bahnt der ganzen Menschheit als erstes Land in der Geschichte den Weg zum Kommunismus.«220 Der so in Bildung begriffene »Neue Mensch« als verheißungsvolle ideologische Proklamation an die Zukunft war für seine oft bürgerlichen Vorgesetzten regelmäßig eine unerträgliche Zumutung. Sie, die Zumutung, umgriff ihn vielarmig und totalitär. In den 1950er-Jahren tobten Denunziationen und Tribunale, insbesondere auch in der sogenannten Tauwetterperiode. Besonders betroffen von dieser Indoktrination war des bürgerlichen Wissenschaftlers Tätigkeitsfeld in Forschung, Technik, Technologie und Wissenschaft, das jeweils wie kein anderes auf Offenheit zu setzen angewiesen ist. Eine eigenartige Paradoxie breitete sich aus: Jene, die in das Offene, also für die Zukunft arbeiteten, wurden eingeengt, behindert oder auch »liquidiert« von jenen, die den »Neuen Menschen« konzipierten und proklamierten oder sich als solche dünkten. Die Bedingungen und Erfordernisse der Naturwissenschaften zu leugnen oder zu beugen, erwies sich jedoch als schwierig. Gelang dies, waren die Folgen für das jeweilige Fach oft verheerend. Ob jedoch die naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen einschließlich der mathematischen tatsächlich einer geringeren Einflussnahme als die der Geisteswissenschaften unterlagen, wie gemeinhin behauptet wird,221 ist empirisch längst nicht erwiesen. Neben der geistigen Projektion des »Neuen Menschen« an sich, der Proklamation seines Heilsgaranten (Sowjetunion), existierte ein drittes Moment, das 1965 Jürgen Schmollack folgendermaßen in der damaligen typischen Diktion formulierte: »Es ist eine der großen Errungenschaften des Sozialismus, das Bild des ›Neuen Menschen‹ nicht nur als Bildungs- und Erziehungsziel konzipiert, sondern auch die gesellschaft-

219  Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik, S. 14. 220  Tagungsbericht von Albrecht; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 343. 221  Zu technisch-naturwissenschaftlichen Gutachten des MfS vgl. Cromme, Ludwig: Ideologiefreie Wissenschaft? Technisch-naturwissenschaftliche Gutachten im Rahmen von Untersuchungsvorgängen des MfS der DDR, in: Deutschland Archiv 38(2005)6, S. 1056–1061.

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lichen Voraussetzungen für seine Verwirklichung geschaffen zu haben.«222 Dieser »Neue Mensch« als der »moderne Mensch«, der »moderne Produzent« im Sozialismus, sollte eben auch andere Bedingungen vorfinden: Freiheit vor Ausbeutung, Mitbestimmung, er sollte mitplanen und mitregieren können.223 Zahllose Menschen haben sich von dieser »dreifaltigen« Ideenwelt einfangen lassen, bis heute. Viele aber gerieten dank einer guten Bildung oder wachen Instinkten erst gar nicht in die Versuchung, sie verließen das Land, wählten den Widerstand oder verweigerten sich ihr. Manch einem genügte nur ein glücklicher Umstand, um sich rechtzeitig aus der Verführbarkeit entziehen zu können. Das frühe Beispiel Robert Spaemann: Er nahm als einer von 800 Delegierten am Volkskongress im Dezember 1947 (von der Sowjetunion initiiert zur Unterstützung des sowjetischen Standpunktes auf der Londoner Außenministerkonferenz) teil. Er hatte der Zeitschrift Ende und Anfang u. a. einen Artikel mit dem Thema »Vertrauen – ein Wagnis« zugeschickt, der das Thema Vertrauen in einen Menschen behandelte. Dieser Artikel und ein weiterer wurden gedruckt und so kam es, dass sich Spaemann plötzlich als Delegierter in Ostberlin wiederfand. Er war der einzige aller Delegierten, der der Schlussresolution seine Zustimmung verwehrte. Das brachte ihm »einen Anraunzer von Pieck« ein. Spaemann erinnert sich an die Worte Wilhelm Piecks: »›Der Genosse soll doch seinen Namen nennen, wenn er dagegen stimmt‹«. In der Zeitung stand dann geschrieben, so Spaemann, dass die Resolution einstimmig angenommen worden sei. Da sei er »aufgewacht«. Das Parteiabzeichen, das auch die Nichtgenossen als Geschenk bekommen hatten, steckte er versuchshalber ans Revers, er wollte wissen, welche Wirkung es im Zugabteil so tat. Er betrat es, und es »breitete sich eisiges Schweigen aus«; etwas später, er hatte das Abteil verlassen und das Abzeichen ins Klo geworfen, bemerkte er im Vorbeigehen am Abteil von vorhin, dass dort nun lebhaft geredet und gelacht wurde. Spaemanns Experiment war beendet.224 In den beiden folgenden Kapiteln – Utopie und Ideologie – wird vor allem auf Aspekte aufmerksam gemacht, die thematisch ausgerichtet, das sogenannte »Neue« in den Bereichen von Wissenschaft und Forschung mit der Fiktion des »Neuen Menschen« verknüpften. 3.2.1 Utopie Die Utopie der »frühsozialistischen« DDR war ganzheitlich und fußte auf der tiefen Überzeugung, dass Wissenschaft und Technik den Schlüssel für Wohlstand und Überlegenheit zu liefern in der Lage seien. Bereits zu Anfang der 1960er-Jahre 222  Schmollack, Jürgen: Der Mensch und die technische Revolution, in: URANIA 28(1965)1, S. 38–45, hier 39 f. 223  Programm der SED. Berlin 1963; vgl. auch Sozialismus, Wissenschaft, Produktivkraft. Berlin 1963; Eichhorn, Wolfgang: Von der Entwicklung des sozialistischen Menschen. Berlin 1964. 224  Spaemann: Über Gott und die Welt, S. 75–77.

Der »Neue Mensch« im Kommunismus

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griffen die Begriffe »Utopie« und »Wissenschaftspolitik« wie Zahnräder ineinander. Die Semantik war – global gesehen – so falsch nicht, wonach der Mensch »in eine neue Etappe des ›Stoffwechsels mit der Natur‹ eingetreten« sei, »die letzten Endes dadurch gekennzeichnet ist, dass er immer stärker aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und mit wissenschaftlich erarbeiteten Methoden erfolgt«. Doch gerade für den Sozialismus erwies sich dieser Weg als dornig, die Methoden meist als falsch, und dass ein freier Markt fehlte wie auch ein marktwirtschaftlich orientierter Außenhandel, konterkarierte die richtige allgemeine Trendeinschätzung. Obwohl die Tatsachen immer mehr den Worten und Begriffen widersprachen, blieb man dem eingeschlagenen Weg treu und sah bereits eine Zeit kommen, die paradoxerweise gerade eben nicht durch den Sozialismus realisiert wurde: »Wir sind dabei, das Leben aller Mystifikationen zu entkleiden und seine Prozesse nachzubilden und, das ist die logische Konsequenz, sie in der Perspektive auch anders und nach unserem Willen verlaufen zu lassen.«225 Mit dem ersten Flug eines Menschen in den Weltraum 1961 hatte der Utopiekult im Sozialismus seinen Höhepunkt erreicht. »Die Bestimmung, den ersten Menschen in den Weltraum zu entsenden, lag im natürlichen Aufgabenkreis des Kommunismus.« Diesen erzkommunistischen Satz überbot Hugo Huppert226 im Artikel »Der schwerelose Mensch« in der Wochenzeitschrift Die Weltbühne gleich mehrfach. Hier einige Kostproben: »Der erste Kosmonaut konnte nur ein Sowjetmensch, ein Bürger des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates sein. […] Der erste Mensch, der die Phantastik der Raumschifffahrt mit der Realistik praktischer Meisterung vermählte, musste Kommunist sein. Der erste Mensch, der am eigenen Leib die triumphale Überwindung der Schwerkraft erlebte, musste Kommunist sein. Das will heute klar ausgesprochen werden.« Und: »Juri Gagarin gehört nach Abkunft, Wesensart und Bildungsgrad zu jener jungen Sowjetintelligenz, die nicht für eine Unterwerfung von Menschen und Völkern, sondern für eine maximale Beherrschung der Naturkräfte geschult und, wenn man so will, trainiert wird; denn dieses Training gehört zum Vokabular des Gegners.« Und weiter: »Juri Gagarins Vorstoß in das immer noch reichlich geheimnisvolle Kraftfeld jenseits der Erdgravitation war kein Selbstzweck. Er diente keinem bloß sportlichen Ehrgeiz. Er verfolgte kein militärisches Ziel. Er war ein Schritt im Dienste der Forschung. Er gehörte dem sowjetischen Heimatland. Und dadurch allen Völkern des Erdkreises. Nur so und nicht anders versteht ein Juri Gagarin seine eigene Heldentat. Sie gehört nicht ihm allein. Sie gehört allen.« Ferner: »Alles ist anders geworden seit letztem Mittwoch. Es gilt, die wahre Tagseite und die wahre Nachtseite des Erdballs zu erkennen.«227 Doch nur etwa fünf Jahre später war der Systemwettbewerb gegen den Sozialismus entschieden. 225  Absolventen für das Jahr 2000, in: URANIA 30(1967)3, S. 8–15, hier 10 f. 226  (1902–1982). Österreichischer Kommunist, politischer Essayist, Lyriker, Übersetzer. Reiche, überaus bewegte kommunistische Biografie mit zahlreichen Begegnungen und Begebenheiten, Höhen und Tiefen, insbesondere in der Sowjetunion zwischen 1928 und 1945. 227  Huppert, Hugo: Der schwerelose Mensch, in: Die Weltbühne 16(1961)16, S. 481–483.

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Christian Sachse spricht von einem neuen Epochenbewusstsein, doch nur ein Charakteristikum von sechs genannten scheint von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein; Sachse: »Im Zentrum der teils euphorischen Zukunftshoffnungen standen die wissenschaftliche Forschung und Ingenieurskunst, denen die Fähigkeit zugesprochen wurde, sowohl im Bereich der Produktion materieller Güter als auch der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur die aktuellen Probleme zu lösen, sondern in neue, bisher ungeahnte Bereiche vorzustoßen.« Ferner erlangten die »Physik der Elementarteilchen, die spezielle Relativitätstheorie und die Kosmologie« eine hohe »Popularität. Ihre Ergebnisse gerieten zum Charakteristikum einer ganzen neuen Epoche menschlicher Entwicklung: das Atomzeitalter, das Zeitalter der Raumfahrt. Damit übernahmen die Wissenschaften eine Rolle, die weit über die Generierung von Wissen und ingenieurtechnischen Fähigkeiten hinausging. Insbesondere die Naturwissenschaften galten als die wichtigsten Motoren zivilisatorischen Fortschritts.«228 Zwei von ihm nicht genannte Charakteristika sind unbedingt hinzuzufügen: Machbarkeit und Technologie. Gerade diese beiden Momente machte sich der bürgerliche Wissenschaftler zu eigen und stieß damit auf harte DDR-interne Grenzen. Der Staatssozialismus war auf große Schlagworte wie Kernkraft und Raumfahrt aus, nicht aber so sehr auf Machbarkeit und Technologie. Das globale Epochenbewusstsein spaltete sich mehr und mehr auf und trennte zunehmend Ost und West. Jahr

praxisnahe Utopien

bereits in Verwirklichung

Gesamtzahl

1965

9

12

21

1966

4

7

11

1967

4

5

9

1968

2

3

5

1969

1

2

3

1970

3

0

3

1971

0

1

1

Tabelle 1: Verlust der Utopie229

Die Erosion der Utopie in der DDR begann Ende der 1960er-Jahre an der Basis. Die Menschen vermochten es immer weniger, den Verheißungen zu trauen. In wirtschaftlicher Hinsicht waren die Atomkraft als Signum der reinen und uner­ 228  Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik, S. 19 f. 229  Analyse der Hefte der Zeitschrift URANIA. Es wurden Themen wie z. B. Städtebau, Ernährung, Energieversorgung und Raumfahrt bewertet.

Der »Neue Mensch« im Kommunismus

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schöpflichen Energie, das grenzenlose Wachstum sowie die (nicht nur) technische Fortschrittsgewissheit unhinterfragbare »Tatsachen«, sie waren praktisch tabu. Und im fortgeschrittenen Westen existierte jenes »Unbehagen der westlichen Kultur an den Konsequenzen ihrer eigenen Dynamik« noch nicht wirklich. Aber es war bereits im Werden begriffen und gewann »spätestens in den 1970er-Jahren mit dem öffentlichen Bewusstsein von der Globalität der Herausforderungen eine neue Dramatik, vielleicht sogar Dominanz«.230 Allein Steenbeck ließ von den Namhafteren in der DDR einen gewissen Pessimismus immer wieder erkennen. Es scheint, dass die DDR erst circa zehn Jahre später, also phasenverschoben, ähnliche innere Konflikte durchzumachen begann, symbolisch und »laut« kundgetan von der Rockgruppe Karat mit ihrem Titel »Der blaue Planet«: »tanzt unsere Welt mit sich selbst schon im Fieber? Liegt unser Glück nur im Spiel der Neutronen?« Martin Sabrows Befund trifft zu, wenn er schreibt, dass die »durch einen signifikanten Utopieverlust gekennzeichnete Honecker-Ära« nun »endgültig an die Stelle der Zukunftsorientierung ein auf die Gegenwart zielendes Leitbild staatlicher Fürsorge« setzte,231 das sogar mit der Betonung von Vergangenheit (positives Erbe) kokettierte. Der Utopismus als eine tragende Propagandamaximierung zur Stabilisierung der SED-Herrschaft wich zunehmend unter Honecker. Fürsorge und das Wachstum waren die neuen großen Worte. Wer sich den Geist der Utopie in der DDR vergegenwärtigen möchte, der sollte nicht so sehr auf ihre materiellen und sozialen Werke schauen, sondern auf die Welt der Losungen, Plakate, Bilder und Worte. Hans-Jürgen Wagener und Helga Schultz begreifen den »Sozialismus als eine Frucht von Aufklärung und Französischer Revolution«, der »die Jenseitserwartung einer erlösten Welt in den diesseitigen politischen Horizont der proletarischen Emanzipation« zu holen sich zeigte: »Solche säkularisierten religiösen Motive fand Heinz D. Kittsteiner deshalb nicht zufällig in der Kunst der DDR. Um hier auf Erden schon das Himmelreich einer gerechten und harmonischen Welt zu errichten, mussten die egoistischen Triebe des Menschen gezähmt und die gesellschaftlichen Regelkreise ebenso wie die Regelkreise mit der Natur vollkommen geplant und beherrscht werden. Der Sozialismus erschien dementsprechend als Herrschaft von Vernunft und Tugend. Da weder der ›Neue Mensch‹ noch die totale Beherrschung der komplexen Wirkungszusammenhänge von Gesellschaft, Wirtschaft und Natur machbar sind, steuert die Herrschaft von Vernunft und Tugend regelmäßig in Despotie und Chaos.«232 Doch die bildende Kunst war so einfältig, so homogen nicht. Die thematisch relevanten Werke versinnbildlichen zwar die sozialistische Utopie, bilden jedoch abzüglich ihres dekorativen Charakters eine Ironie auf die tristen Realitäten. Es existieren zahlreiche Wandbilder, Plakate und Designs, die das Verhältnis von Kunst und Wissenschaften zum Gegenstand haben. Bei der Durchsicht einschlägiger 230  Beck / Giddens / L ash: Reflexive Modernisierung, S.  26. 231  Sabrow: Macht und Herrschaft, S. 41. 232  Wagener und Schultz: Ansichten und Einsichten, S. 17 f.

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Kunstzeitschriften fällt jedoch auf, dass von den bekannteren Grafikern und Malern der DDR hierzu eher wenig gearbeitet wurde, abgesehen von futuristischer Kunst, die im Ostblock durchaus beliebt war, jedoch unter Honecker wiederum seltener als im übrigen Ostblock anzutreffen war. Ein typisches Werk dieser Art stellen die Farblithografien »Dimension I und II« des Bulgaren Lubomir Jordanow dar. Ihm ging es darum, mit Mitteln der Kunst das Zusammenspiel von Mensch, Technik, Wissenschaft und Industrie zu zeigen. Seine Grafik ist durchaus beeindruckend: der moderne Mensch, ein Zwitterwesen aus Arbeiter und Wissenschaftler sowie aus Kosmonaut und Roboter.233 Eine Utopie, die heute keine mehr ist. Man muss intensiv suchen, um in der Flut des Arbeitersujets auch das der Forschung und Wissenschaft zu finden. Allenfalls geht Wissenschaft und Technik in strahlenden Industrielandschaften wie in Rudolf Köhlers »Schwedt, VEB Petrolchemisches Kombinat« von 1980 auf – oder besser: unter. Die Umwelt- und Technik-Tristesse ausblendend, malte er das Kombinat bei Nacht: strahlend beleuchtet und im Vorfeld nackte Menschen badend in einem künstlich angelegten See.234 Umso geringer das futuristische Moment in der Kunst, desto düsterer der Ausdruck, wie etwa in Volker Stelzmanns dreiteiligem Bild mit dem Titel »Forschung« von 1976. Es zeigt den toten, sezierten und nackten Menschen in der medizinischen Forschung.235 Im Mittelpunkt der DDR-Kunst stand der Arbeiter, nicht der Forscher oder Wissenschaftler. Dennoch gibt es vereinzelte Bilder der Heroisierung von Wissenschaftlern. Ein Grenzfall von Heroisierung und subkutaner Kritik mag das von der Dresdnerin Gerda Lepke gemalte Bildnis Manfred von Ardennes in Öl auf Leinwand (Gemäldegalerie Neue Meister in Dresden) sein. Es zeigt ihn zerrissen, ohne Ausdruck. Um das zu realisieren, malte die Künstlerin in pointilistischer Technik und spritzte darüber offenbar noch Farbe. Wagener und Schultz wiesen mit Recht darauf hin, dass Bilder – wie »›Die Ausgezeichnete‹ – ›eine Mater Dolorosa des Sozialismus‹ von Wolfgang Mattheuer –, Grafiken, Skulpturen« wie Texte gelesen und interpretiert werden konnten.236 DDR-Bürger lasen geradezu kreativ Kritikmöglichkeiten aus den Werken der Kunst heraus. Ein eher zeitloses, weil ästhetisches Werk stellt der Chemnitzer Bildbogen »Jugend im Sozialismus« von Ronald Paris dar. 1968 in Auftrag gegeben, wurde die doppelseitige Emailewand 1973 zwar fertig, jedoch zunächst nicht aufgestellt, da das dazugehörige Wasserbecken, in dem die Wand zu stehen hatte, aus finanziellen Gründen nicht errichtet werden konnte. Die Aufstellung im Zentrum von Chemnitz (weiland Karl-Marx-Stadt) erfolgte erst zum 1. Mai 1980. (Das Abmaß des aus 233  Vgl. Hübscher, Anneliese: Gemeinsames und Besonderes. Grafik sozialistischer Länder auf der INTERGRAFIK 76, in: Bildende Kunst 25(1977)1, S. 23–26, hier Farbtafel zwischen S. 24 und 25 sowie S. 25. 234  Vgl. Burckhardt, Johannes: Ausstellung bildnerischen Volksschaffens der DDR. Anmerkungen zu einer Entwicklungssituation, in: Bildende Kunst 30(1982)9, S. 453–455, hier 454. 235  Vgl. Kober, Karl Max: »Fruchtbarer Augenblick« oder Ausweichen ins Deskriptive? Probleme des mehrteiligen Bildes, in: Bildende Kunst 25(1977)9, S. 423–427, hier 426 f. 236  Wagener und Schultz: Ansichten und Einsichten, S. 21.

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136 Emaileplatten bestehenden doppelseitigen Bildbogens betrug 16 mal 4 Meter.) Der Bildbogen läuft in den Themen Internationalistische Solidarität, Spielerische Entspannung, Sportliche Entspannung, Studium des Humanismus, Arbeit in der Gemeinschaft sowie Forschung und Wissenschaft.237 Doch das war bereits in einer Zeit, der jede Hoffnung auf Utopie abhandengekommen war – und folglich so auch nicht mehr gelesen werden konnte. Flacher noch als dieses in der Aussage ist Walter Tomicas Werk am Haus des Lehrers, Berlin Alexanderplatz: ein Mosaik, das zeigt: Atommodell, Mann und Frau, Himmelsschalen238 – ein Bild, aus dem überhaupt keine Kritik an den wahren Zuständen herauszulesen ist. Der Utopie von der Liebesheirat zwischen Sozialismus und Wissenschaft wurden in der schöngeistigen Literatur kaum je kritische Töne beigegeben. Weniger als ein laues Lüftchen wagten es einige Schriftsteller in einer späten Anthologie.239 Einer der dies in der schöngeistigen Literatur – und man muss es im Hinblick auf die DDR-Zensur schon so sagen – wagte, war sicherlich Günter de Bruyn mit Märkische Forschungen (1978). Einer, der das wollte, das Thema jedoch markant verfehlte, war Dieter Noll mit Kippenberger (1979). Noll, Hartliner-Literat der SED und unrühmlich aufgefallen in der Debatte um die Aussiedelung Wolf Biermanns,240 wollte einen Wissenschaftler darstellen, der urplötzlich dem Gewissen und nicht mehr dem fachlichen Ruhm folgte. Ihrem Gewissen waren zwar nicht wenige Wissenschaftler gefolgt, keiner aber so wie von Noll dargestellt. Nolls Auffassung war weltfremd, so weltfremd, dass kein Geringerer als der Präsident der Akademie der Wissenschaften, Hermann Klare,241 sich genötigt sah, sich mit dem Buch auseinanderzusetzen. Es besitzt für die Untersuchung mehrere Bedeutungslinien, etwa die des aufkommenden Wissenschaftspessimismus und das damit verbundene negative Image der Wissenschaften und der Wissenschaftler sowie das in die Wissenschaft infiltrierte Denken eines SED-Funktionärs. Klare übte unverhohlen Kritik an dem Buch mit Schreiben vom 14. November 1979. Er ist ungewohnt hart und versichert sich demzufolge der Kritikfähigkeit Nolls am Ende seines zehnseitigen Schreibens mit einem: »Lieber Herr Noll, Sie haben mir gesagt, Sie vertrügen Kritik.« Im Kern ging es Klare um die misslungene Konstruktion des Romans, »das ganze Gefüge, das Zusammenspiel, die Atmosphäre, die Konsequenzen«, alles scheine ihm »nicht passfähig, nicht 237  Vgl. Dietel, Clauss: Einen Bogen spannen. Anmerkungen zum Bildbogen von Ronald Paris in Karl-Marx-Stadt, in: Bildende Kunst 29(1981)3, S. 134–138, hier 137. 238  Abgebildet in: URANIA 28(1965)2, S. 123. 239  Anthologie: Windvogelviereck. Schriftsteller über Wissenschaften und Wissenschaftler. Berlin 1987. 240  Die mediale polemische Auseinandersetzung der SED mit Biermann, entfacht aufgrund des Offenen Briefes von zwölf Berliner Künstlern am 17.11.1976 hielt noch 1979 an. Nolls Position veröffentlichte das Neue Deutschland in seiner Ausgabe vom 22.5.1979, S. 4. 241  (1909–2003). Chemiestudium in Heidelberg und Kiel. 1931 Promotion. 1945–1947 in der Sowjetunion. Leitungsfunktionen in der Chemie, u. a. Direktor des Kunstfaserwerks »Wilhelm Pieck« in Schwarza; 1953–1969 Mitarbeiter und Direktor des Instituts für Faserstoff-Forschung der AdW. 1961 Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft, 1963 Vizepräsident, 1968–1979 Präsident der AdW.

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lebendig, sondern rein zufällig« zu sein. So jedenfalls ticke der Wissenschaftsbetrieb in der DDR nicht. Wichtiger aber waren ihm Hinweise zu zwei völlig aus dem Ruder gekommenen Linien im Buch: einmal die absonderliche Handlungsweise des Haupthelden Kippenberger und zum anderen die unechten Charakterdarstellungen der Naturwissenschaftler selbst. Es sei hier vorweggenommen, dass Klares Argumente gegen Noll sehr stark auf dessen Argumentationsfiguren weisen, die wie vom Staatssicherheitsdienst souffliert erscheinen. Zu einigen Hauptkritikpunkten Klares: Ein Wissenschaftler wie Lankwitz, der zwölf Jahre Industrieerfahrung gesammelt habe und auch anerkannt sei, habe plötzlich seine sensationelle jüngste Forschungsleistung versteckt. Das sei, so Klare, eine unlogische Handlung. Er halte das für nahezu völlig ausgeschlossen, abgesehen davon, dass Forschungsthemen in der Praxis per Beschlüsse und Kontrolle in der DDR »verfolgt« würden. In der Tat gab Noll ja vor, einen realistischen Roman geschrieben zu haben, selbst der Ort der Handlung war nicht fiktiv (Berlin-Buch). Klare: »Ich halte es für ganz unwahrscheinlich, dass ein Wissenschaftler mit diesen Erfahrungen und dieses Grades plötzlich eine tiefe Abneigung gegenüber den praktischen Möglichkeiten seiner Forschungsergebnisse entwickelt.« Er könne sich zwar vorstellen, dass er seine Ergebnisse der Industrie anzubieten nicht drängt, »aber ich bezweifele einfach, dass ein so charakterisierter Mann mit zwölf Jahren Industrieerfahrung so konsequent das Haus der Wissenschaft ›Vom Ungeist der Technik freihält‹.« Mit zwölf Jahren Industrieerfahrung würde er das nicht mehr schaffen. Er würde »Wege finden, seine Ergebnisse ›an den Mann zu bringen‹ und sein Institut trotzdem aus der praxisnahen Forschung herauszuhalten«. […] »Lankwitz ist m. E. eine ›Konstruktion‹, ein ›Sonderfall‹.« […] »Oder Sie wollten einen Sklerotien darstellen, der schon arg vertrottelt ist. Das aber ist er doch nicht, denn er ist ein Mann, der bedeutsame Erfolge hochspezialisiertem Fachwissen und erstaunlichem experimentellem Geschick verdankte.« Ferner: »Ein Wissenschaftler hohen Grades also, wissenschaftlich noch auf der Höhe, wenn auch etwas kauzig, er wird daher nicht am ›Widerspruch zwischen dem romantischen Ideal zweckfreier Forschung und den Forderungen an die Produktivkraft Wissenschaft zerbrechen, denn er ist in zwölf Jahren erfolgreicher Industrieforschung viel zu ›hart trainiert‹ worden, als dass er seinen ›Idealen‹ […] nicht wehren könnte, ohne sich auf eine Art ›Unterschlagung‹ einzulassen.« Klare: »Ich behaupte und ich weiß es: Wissenschaftler von diesen Graden würden sich kaum bereitfinden, einen solchen ›Knüller‹ wie den ›neuen Syntheseweg‹ lautlos in den Panzerschrank zu schließen.« Das alles mündet in den Satz Klares: »Das glaube ich Ihnen einfach nicht!«242 Sich des »›Wissenschaftlerjargons‹ zu befleißigen«, habe Noll, so Klare, sich »manche Mühe bereitet«; aber für mich, so Klare, ist es »allenfalls ergötzlich, vielfach aber auch leicht peinlich […], so etwas lesen zu müssen«. Es seien Disputationen aus Anfängervorlesungen. »Als Sie das so konzipierten, waren Sie m. E. schlecht beraten; denn so reden Wissenschaftler meist gar nicht«. Klare: »Was versprechen Sie sich 242  Schreiben von Klare an Noll vom 14.11.1979; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 103, S. 1–10, hier 4–6.

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davon?« Warum sind »Ihre Wissenschaftler so kauzig und schrullig«. Und weiter: »Glauben Sie wirklich, dass Naturwissenschaftler in der Regel derartig ›sinnierte‹ Typen sind? […] Skurrile Menschen (oder anders gesagt) ›Originale‹ sind leider relativ selten, im Allgemeinen reden wir leidenschaftslos, wenig enthusiasmiert.« Und weiter: »Explosionen« seien in der Ausnahme. »Ich amüsiere mich aber stets darüber, wie sich offenbar auch gescheite Nichtnaturwissenschaftler diese ›Kategorie Forscher‹ vorstellen«.243 Das Eigenartige aber ist, dass nach Öffnung der Stasiakten uns an vielen Stellen ein Bild des Wissenschaftlers, gezeichnet von Hauptamtlichen des MfS, entgegentritt, das erheblich an Nolls »Darstellungskunst« erinnert. Und tatsächlich, Noll hatte nicht nur eine Akte resp. einen Tarnnamen beim MfS, sondern gleich deren vier: »Schreiber«, »Romanze«, »Georg« und »Klaus-Dieter«.244 Klare traf mit seinem Hinweis auf Nolls Berater voll ins Schwarze. Sabrow sieht in der »Frühphase der DDR« ein »neben dem utopischen Fortschrittskult« eintretendes »spezifisches Mobilisierungspathos«, die beide das politische Leben beherrschten, »aber in den 1960er-Jahren allmählich zugunsten einer stärkeren technokratischen Wissenschafts- und Planungsgläubigkeit einbüßten«.245 Die verkündete Wirtschaftspolitik der DDR war gewiss eine Utopie, das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie von vielen Funktionären ernsthaft gelebt wurde, eine Politik, die als Planwirtschaft sowjetischen Typs durchaus auch eine Anziehungskraft auf einige Wissenschaftler ausübte. André Steiner weist darauf hin, dass die stalinistische Industrialisierungspolitik »beeindruckende Wachstumsraten« erzielte und auch noch den modernen Industriestaat Deutschland im Krieg besiegt hatte. Diese Faszination verdrängte jedoch den Mitteleinsatz, die »Unkenntnis oder Verdrängung der hohen Kosten«.246 Den Kern der sozialistischen Utopie machten die Vollbeschäftigung, die Preisstabilität, sprich Krisenfreiheit, und die Bedürfnisbefriedigung aus. Steiner verwies auf Lenin, der den Wirtschaftsorganismus als eine große Maschine ansah, wo »›sich Hunderte Menschen nach einem einzigen Plan‹247« richteten. Das »konstruktivistische« Element, so Steiner, eine wissende und gesamtplanerische Instanz zu sein, stellte die SED dar. Damit hing die »wirtschaftliche Rationalität« nunmehr nur noch »von politischen Erwägungen ab«.248 Diese Wirtschaftsordnung bestand aus zwei Säulen, die auf vielfältige Weise kooperierten und zugleich konfligierten: die staatliche Wirtschaftsbürokratie und der SED-Apparat. Steiner: »Entscheidend für das Verhältnis zwischen Wirtschaftsbürokratie und 243  Ebd., S. 8 f. 244  Vgl. Walther, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996, S. 282. 245  Sabrow: Macht und Herrschaft, S. 41. 246  Steiner, André: Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, in: Schultz, Helga / Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 135–154, hier 136. 247  Lenin, Wladimir I.: Werke, Bd. 27. Berlin 1974, S. 76 f. 248  Steiner: Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, S. 136 f.

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Parteiapparat war, dass Beschlüsse der Parteispitze von den staatlichen Instanzen zu übernehmen waren. Wirtschaftliche Rationalität war so auch institutionell den politischen Vorgaben und deren Räson untergeordnet. Darüber hinaus hatte die Partei über das Nomenklatur-Prinzip bei der Besetzung der maßgeblichen Leitungspositionen nicht nur im eigenen, sondern auch im staatlichen Apparat das letzte Wort.«249 In den dargestellten Fällen und Sachverhalten der Untersuchung waren es auf der einen Seite die Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB), Ministerien, die Staatliche Plankommission (SPK) und die DAW resp. AdW sowie auf der anderen Seite das Politbüro der SED und die entsprechenden Institutionen und Gliederungen des Parteiapparates, wozu auch der Staatssicherheitsdienst zu rechnen ist, da dieser in der Regel die Ansprüche der SED kontrollierte und transformieren half. Somit entstand aus dem ohnehin problematischen dualen Charakter der ökonomischen Entscheidungsprozesse in der DDR durch den Einsatz der Staatssicherheit explizit ein trialer Charakter. »Die Pläne«, so Steiner, »entstanden in einem hochzentralisierten, bürokratischen Prozess, in den die nachgeordneten Hierarchieebenen einbezogen wurden.«250 Nach ihm wies das planwirtschaftliche System »von Anfang an zwei grundlegende Probleme auf: das Informations- und das Anreizproblem«.251 Steiner weiter: »Das anfänglich bemühte Idealbild vom ›Neuen Menschen‹ erwies sich schnell als Fiktion, denn der fiktive Besitz von Maschinen und Fabriken war kein Garant für eine höhere Arbeitsmotivation.«252 Werner Hartmann, der »seine« Betriebe Vakutronik und AMD so verinnerlichte, fühlte und wie eigene leitete, musste, gerade weil er sie nicht als Fiktion begriff, fundamental scheitern. So konnte die idealistische, eigentlich utopische »neue Wirtschaftsordnung« nicht halten, was sie versprach, sie scheiterte mit harten Folgen für die Bevölkerung. Ein früher Ausdruck dessen bildeten der 17. Juni 1953 und die anhaltende Abwanderungs- und Fluchtbewegung.253 Dies zwang die DDR unausweichlich zu Reformen. Ulbricht und der Technokrat Erich Apel schufen das Neue Ökonomische Prinzip der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖS). Weitere Väter des NÖS waren Günter Mittag und Wolfgang Berger, der ökonomische Berater Ulbrichts. Es war der Versuch, die Zentralverwaltungswirtschaft mit Elementen der Marktwirtschaft zu verbinden. Die betrieblichen Leistungen sollten »nicht mehr anhand der Kennziffer Bruttoproduktion« bewertet werden, sondern ausdrücklich nach dem Gewinn. Dazu aber war eine »unverzerrte Kostenrechnung« notwendig. Gleichzeitig sollte die Planung dezentralisiert werden.254 Ein System »ökonomischer Hebel« flankierte dieses Re249  Ebd., S. 138. 250 Ebd. 251  Ebd., S. 140. 252  Ebd., S. 142. 253  Von 1958 bis 1962 flüchteten 1 676 Wissenschaftler, eine »in der Geschichte der Wissenschaften einzigartige« Fluchtbewegung. Vgl. Buthmann: Abwanderung und Flucht von Eliten aus der SBZ / DDR, S. 229–265; Geißler: Schulgeschichte in Deutschland, S. 801. 254  Steiner: Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, S. 144 f.

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formpaket. Praktisch wurde diese Reform seit 1964 umgesetzt. Hartmann beschritt bereits 1957 – in Verbindung mit Apel – mit seinem WIB einen anderen Weg (siehe S. 284).255 Doch selbst da, wo Gewinn erwirtschaftet wurde, blieb er letztlich »eine zu erwirtschaftende Plangröße. Die dafür erbrachte Produktion war nicht unbedingt bedarfsgerecht, selbst wenn sie verkauft werden konnte.«256 Kernpunkte der Wirtschaftsphilosophie Apels waren: die Produktion dezentralisieren, die Kennziffern und Positionen des Plans reduzieren und vereinfachen, vor allem »den VVB und Betrieben bei der Ausarbeitung des Planes Raum zum Denken« geben.257 Diese »Dekonzentration der Verfügungsrechte schuf ungewohnte Unsicherheiten«258 – und Freiheiten, die die SED fürchtete. Worum es in den Debatten eigentlich immer ging, entsprang dem Spannungsfeld zwischen Anspruch und Realität. Jürgen Kuczynski korrespondierte mit seinem, wie er ihn nannte, »lieben Freund« Max Steenbeck am 29. Mai 1978 über »Gesellschaft und Individuum im Sozialismus (I)« und warb eindringlich dafür, dass man sich ausführlich und intensiv, daher auch schriftlich, über das Thema unterhalten solle, da es »wichtig für die Erklärung so mancher Erscheinungen des Ärgers und der Unzufriedenheit bei uns« sei. Bei uns Gesellschaftswissenschaftlern, so Kuczynski ironisch, sei ja alles so einfach zu erklären, mit der ach »so wunderbar einfachen Theorie, der marxistischen«. Theoretisch sei das richtig: »Jedoch leben die Menschen nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Und da sieht gar manches recht anders als in der Theorie aus.« Gesellschaftswissenschaftler geraten da leicht zu Apologeten. »Darum sprechen wir ja auch vom realen Sozialismus im Unterschied vom idealen (theoretischen). Der reale Sozialismus ist so, wie er ist und nicht so, wie er in der Theorie sein sollte.«259 Gewiss war die Formel vom »real existierenden Sozialismus« eine diplomatische Form der Ernüchterung von den Träumen. Kuczynski erwähnte »die größte wirtschaftspolitische Leistung« der 30 Jahre DDR, die Stabilität der Preise bei Grundnahrungsmitteln, Wohnung und Verkehr, also Grundkosten der Lebenshaltung. Jedoch habe es unsere Regierung »leider, wie gar nicht so selten, versäumt«, das »Volk ins Vertrauen zu ziehen und etwa zu erklären: ›Die Intershops sind eine Einrichtung, die wahrlich nichts mit Sozialismus zu tun hat, ja, die geradezu allen Prinzipien des Sozialismus widerspricht; sie ist aber notwendig, um die unendlich viel bedeutsamere zutiefst sozialistische Stabilität der Preise der Grundlebenshaltung zu sichern‹«. Einen weiteren Widerspruch sah Kuczynski in der »außerordentlich starken Zentralisierung unseres gesellschaftlichen Lebens, insbesondere auch der Wirtschaft, die notwendigerweise zu wahrlich überaus häufigen

255  TSD; Nachlass Hartmann, G 57. 256  Steiner: Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, S. 146. 257 Steiner zitiert aus seinem Buch Steiner, André: Die DDR-Wirtschaftsreform der 1960er Jahre. Konflikt zwischen Effizienz und Machtkalkül«. Berlin 1999, S. 81. 258  Steiner: Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, S. 147. 259  Schreiben von Kuczynski an Steenbeck vom 29.5.1978: Gesellschaft und Individuum im Sozialismus (I); ArchBBAW, Nachlass Kuczynski, Nr. 169, S. 1–6, hier 1 f.

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bürokratischen Erscheinungen führen« müsse, die »den Interessen jedes einzelnen Individuums, der auf sie trifft«, widerspreche.260 Steenbeck antwortete ihm in einem Gespräch am 28. September 1978: Als Naturwissenschaftler sollten wir »jetzt zur Besprechung wirklich sehr konkreter Fälle übergehen, die ja eigentlich das sind, was den Menschen tatsächlich am meisten ärgert, wenn es im Konkreten nicht funktioniert«. Obgleich seine Antwort (die von ihm so verstandene Einladung zum Gespräch, zur Diskussion) erst der Anfang war oder sein sollte, brachte es Steenbeck doch klar auf den Punkt: »Wir wollen viele Missstände bei uns, gleichgültig, woher sie bedingt sind, offen aussprechen. Es ist viel wichtiger, so etwas offen zu sagen, als unter der Hand darüber zu tuscheln, was viel schädlicher ist.«261 Die Brüchigkeit der Utopie spiegelte sich auch in der Art und Weise der SED-­ Reformpolitik wider, wenn sie »Altes« reanimierte; noch einmal Steiner: »Die Wirtschaftseinheiten erhielten tatsächlich in den ersten beiden Reformjahren deutlich mehr Spielräume außerhalb der zentralen Planung. Aber die damit verbundenen Anreize und Vorgaben waren in sich nicht konsistent, und die Wirtschaftseinheiten verfügten deshalb nicht über klare Signale, an denen sie ihre Entscheidungen und ihr Verhalten ausrichten konnten. So zeigten sich gerade 1965 neue Schwierigkeiten, den wirtschaftlichen Prozess sowohl zu lenken als auch effizienter zu gestalten.« Hinzu kamen schlechtere außenwirtschaftliche Bedingungen. Zudem nahm sich Erich Apel das Leben.262 Jedwede Utopie schien schlagartig tot. Carl-Heinz Janson beschreibt die Umstände, die Sprachregelungen, Tabus und Verfahrensweisen nach dem Tod Apels in seiner Arbeitsumgebung. »Warum hatte Erich Apel sich erschossen?«, fragt Janson, weiß aber nichts Konkretes. Er sei ehrgeizig gewesen, habe Niederlagen persönlicher Art nicht ertragen können. Reichten aber Differenzen und Kontroversen bezüglich der gegenseitigen Warenlieferungen DDR – Sowjetunion als alleiniges oder entscheidendes Motiv zur Erklärung? Ein Streit zwischen Apel und Mittag, wurde gemunkelt, doch der dürfte wegen der Natur Mittags ohnehin an der Tagesordnung gewesen sein. Janson zeigt sich überzeugt, dass Apel sich »in einer Konfliktsituation« befunden habe »wie nie zuvor«. Am »Dienstag, dem 1. Dezember 1965, kam er im Politbüro mit dem Planvorschlag nicht durch, und am Donnerstag erschoss er sich in seinem Arbeitszimmer.«263 Näheres im Kap. 4.1.2, Exkurs 8. 1967/68 folgten Änderungen am Reformkonzept: »Die Überlegungen zielten auf eine eng begrenzte zentrale Lenkung von grundlegenden Innovationen und Strukturveränderungen und eine eigenständige Wirtschaftstätigkeit der Betriebe in der Breite. Den Reformern ging es dabei um das Ausbalancieren von zentraler und nachgeordneter Kompetenz.« Durch das ÖSS (Ökonomische System des Sozialismus) sollten »wesentliche Innovationen vorangetrieben« werden. Der zentrale 260  Ebd., S. 4 f. 261  Offenbar eine Gesprächsniederschrift vom 28.9.1978; ebd., 1 S. 262  Steiner: Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, S. 148. 263  Janson: Totengräber der DDR, S. 52 f.

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Zugriff sollte auf die Wirtschaftseinheiten verstärkt, unten, auf betrieblicher Ebene, sollten Dispositionsspielräume erweitert werden. Hier wurzelte jene berühmt gewordene Ulbricht-Formel vom »Überholen ohne einzuholen« als eine Reanimation des Utopiekults: »Auf den entscheidenden Gebieten der wissenschaftlich-technischen Entwicklung« sollte »das jeweils in der Welt führende Land schnell überholt und damit die Produktivität sprunghaft gesteigert werden«. Die DDR schickte sich an, »Großvorhaben im technologischen Bereich« zu realisieren. Letztlich führte dies in die erste große Schuldenkrise der DDR. Nach dem Sturz Ulbrichts »rückte die Warenproduktion wieder in den Vordergrund« und wurde »Leistungsindikator«; Steiner: »Damit galt erneut das alte Bruttoprinzip: Je aufwendiger produziert wurde, umso mehr konnte abgerechnet werden.«264 3.2.2  Ideologie und Erziehung Der Begriff »idéologues« charakterisierte im 18. Jahrhundert noch eine philoso­ phische Schule, doch mit dem Aufkommen von Diktaturen in Russland, Deutschland und später im gesamten Ostblock ist er pejorativ verkommen. Gleichwohl ist er unverzichtbar, gilt er doch als Summe eines Tuns, dem jedweder Primat sachlicher Art fremd ist. Für die vorliegende Untersuchung ist primär das Verhältnis von Wissenschaft und Ideologie von Interesse, weniger jenes von Bildung, Volkswirtschaft oder Gesellschaft und Ideologie. Mit diesem Wechsel einher ging der anzunehmende Bruch zwischen Science (Zeitalter der Moderne: Fortschritt, Wahrheit, Wissen) und Techno-Science (Zeitalter der Postmoderne: Möglichkeiten, Machbarkeiten, Verfügbarkeiten).265 Der Beginn der zunehmenden Ideologisierung und Politisierung in den Technikund Naturwissenschaften kann bis auf das Jahr 1946 zurückverfolgt werden; Stalin: »Die Forderung der bürgerlich-demokratischen Republik war unter den Bedingungen der Existenz des Zarismus und der bürgerlichen Gesellschaft in Russland, sagen wir im Jahre 1905, eine völlig begreifliche, richtige und revolutionäre Forderung, denn die bürgerliche Republik bedeutete damals einen Schritt vorwärts. Die Forderung der bürgerlich-demokratischen Republik ist für unsere gegenwärtigen Bedingungen in der Sowjetunion eine unsinnige und konterrevolutionäre Forderung, denn im Vergleich mit der Sowjetrepublik wäre die bürgerliche Republik ein Schritt zurück. Alles hängt ab von den Bedingungen, von Raum und Zeit.«266 Womit der 264  Steiner: Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, S. 149–151. 265  Zur Sache: Forman, Paul: The Primary of Science in Modernity, of Technology in Postmodernity, and of Ideology in the History of Technology, in: History and Technology 23(2007)1/2, S. 1–152. 266  Stalin, Josef: Über den dialektischen und historischen Materialismus. Berlin 1946, S. 8. Diese Arbeit galt als »von einem unübertrefflichen Meister der marxistisch-dialektischen Methode« geschriebene, zit. nach: Alexandrow et al.: Josef Wissarionowitsch Stalin. Kurze Lebensbeschreibung. Moskau 1947, S. 174.

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Anschluss an das naturwissenschaftliche Weltbild des dialektischen Materialismus hergestellt war, mit dem Stalin seine gesellschaftspolitischen Erörterungen in dieser Schrift eingeleitet hatte. Zu mehr »Philosophie« reichte es bei ihm nicht. Bereits vor der DDR-Gründung war in der Sowjetischen Besatzungszone der Weltanschauungskampf um den Geist voll entbrannt.267 Wer abwich, drohte im Aus zu landen. Ein besonderes »Geschwisterpaar« begann einen Kampf gegen das Bürgertum, der nie mehr abebben sollte, sieht man einmal von temporären Verschnaufpausen ab. Diese beiden waren die ideologische Edukation und die politische Verfolgung mit der 1947 neu entstandenen K 5 als politischer Polizei in der SBZ. In den Mittelpunkt ihrer Arbeit rückte der Befehl der Sowjetischen MilitärAdministration in Deutschland (SMAD) Nr. 201/47.268 Manfred Gröschel fragte 1967 im Sinne der SED, worin »zu jener Zeit die helfende Tätigkeit der SMAD auf ideologisch-weltanschaulichem Gebiet« bestand.269 Er sah drei Gebiete. Erstens auf dem Gebiet des Buchmarktes durch die Verbreitung fortschrittlicher, humanistischer Literatur durch die Verlage »Verlag für Fremdsprachige Literatur in Moskau«, SAW-Verlag und Verlag der Täglichen Rundschau, zweitens auf dem Gebiet der publizistischen Tätigkeit sowjetischer Autoren. Hauptmedien waren hier die erwähnte Tägliche Rundschau und die Halbmonatszeitschrift Neue Welt. Beide sind von der SMAD herausgegeben worden. Sie erschienen bis 1954/55. Drittens auf dem Gebiet der propagandistischen Tätigkeit der sowjetischen Kulturoffiziere einschließlich Gastlektoren (u. a. Generalmajor Tju’panov270, Oberstleutnant Dymschitz, Major Patent und Professor Krushkow). Lektorengruppen hatten »in mehr als 20 Themen über das politische, ökonomische und geistige Leben in der Sowjetunion« referiert. »In sechs Monaten des Jahres 1949 hielten sie beispielsweise in Thüringen 230 Vorträge vor 75 000 Teilnehmern, in Mecklenburg 1947/48 453 Vorträge vor 247 000 Teilnehmern, in Brandenburg 1946/48 1 076 Vorträge vor 308 000 Teilnehmern und in Berlin von 1947 bis 1948 über 4 000 Vorträge vor mehr als zwei Millionen Teilnehmern.« Gröschel feierte insbesondere Major Patent, der offenbar ein eifriger, häufig auftretender und talentierter Redner war. Hierzu Victor Klemperer: »In Greifswald war eine philosophische Studienreihe von 267  Vgl. insbesondere auch unter dem Aspekt der SMAD Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. München 2013. 268  Zur K 5 siehe: Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2012, S. 187–189. Vgl. Befehl Nr. 201 des obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung und Ausführungsbestimmungen 1–3. Direktiven 24 und 38 des Kontrollrats und die zugehörigen Runderlasse der Landesregierung Brandenburg; BStU, MfS, HA IX, Nr. 21238, Bl. 1–34; Bericht über die vom Referat K 5 der DVdI am 7. u. 8.10.1947 abgehaltene Arbeitstagung mit den Dezernats- und Kommissariatsleitern K 5 der sowjetischen Besatzungszone im Hause der DVdI, Berlin; ebd., Bl. 181–235. Unter den Teilnehmer befand sich Erich Mielke. 269  Gröschel, Manfred: Report: Über eine gewonnene Schlacht. Zur Hilfe sowjetischer Freunde bei der geistigen Wiedergeburt unseres Volkes, in: URANIA 30(1967)6, S. 44–51, hier 47. 270  Tjuľpanov, Sergej (1901–1984). Leitete von 1945 bis 1949 die Propaganda- und Informationsabteilung der SMAD. Literatur: Wettig, Gerhard (Hrsg.): Der Tjuľpanov-Bericht: Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2012.

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Major Patent angekündigt. Die Einstellung der Studierenden zu diesen Vorträgen war mehr als skeptisch. Es war nun erstaunlich, wie sich diese Stimmung […] von Vortrag zu Vortrag änderte. […] Es wurde ihm mit äußerster Aufmerksamkeit gefolgt, und er hat sicher eine ganze Menge dieser skeptischen Studenten und auch Professoren für sich gewonnen […] Er wurde in Greifswald von einem alten Kathederinhaber schwer und hartnäckig angegriffen. In der Diskussion widerlegte er jedoch mit großer Ruhe und Leichtigkeit jeden Angriff.«271 Die ersten großen Auseinandersetzungen, Tribunale und Verwerfungen durchlebten die Bio- und Landwirtschaftswissenschaften. 1948 entflammte der Kampf in der Abstammungslehre innerhalb der Sowjetunion, der nicht nur im Ostblock grassierte, sondern auch in Westeuropa Spuren hinterließ (Lyssenko-Problematik). In der SED-Zeitschrift Einheit nahm insbesondere der später in der DDR über Fachkreise hinaus bekannte Astrophysiker Hans-Jürgen Treder zu Fragen von Wissenschaft und Marxismus-Leninismus Stellung, etwa im Heft 5 von 1948 zur Thematik von Dialektik und Kausalität und im Heft 6 zur Frage der Marxistischen Erkenntnistheorie.272 Allein 1948 verfasste Treder sieben Beiträge für die Zeitschrift der SED. Diese »Theoretische Zeitschrift des wissenschaftlichen Sozialismus« nahm sich der Thematik von Wissenschaft und Marxismus-Leninismus dezidiert und regelmäßig an. Die Erziehung zugunsten der Indoktrination geschah typischerweise mit einfältigen Formeln, etwa wie bei Anna Seghers’ Überzeugungsversuch (siehe S. 331) und Jean Villains »Märchen« aus dem VEB »Carl von Ossietzky« in Teltow (siehe S. 256 f.). Ein Erziehungsprogramm, das sich insbesondere im Hochschulwesen sprichwörtlich austobte. Eine Welt, in der es stets nur um die Einhaltung der rechten Ideologie ging; Abweichungen wurden verfolgt: Am 6. November 1957 sprach das MfS mit der Sekretärin von Gustav Hertz. Sie berichtete, dass eine politische Erziehung der Studenten durch die Professoren nicht stattfinde, insbesondere auch nicht durch den Nobelpreisträger. Die unpolitische Haltung dieser Professoren übertrage sich auf die Assistenten.273 Zahlreich waren jedoch jene Fälle, wo das Ideologieprogramm das genaue Gegenteil bewirkte und selbst SED-nahe Wissenschaftler zum Umdenken brachte. So leitete das MfS am 1. September 1958 gegen den Chemnitzer Historiker und SED-Mitglied, vordem SPD, Heinz Herz, einen Überprüfungsvorgang (ÜV) wegen Hetze ein. Er soll gegen die Maßnahmen der DDR-Regierung hinsichtlich der sozialistischen »Umgestaltung der Universitäten« polemisiert haben.274 Herz studierte von 1926 bis 1931 in München. Zeitweilig hatte er eine Professur für

271  Gröschel: Über eine gewonnene Schlacht, S. 47. 272  Vgl. Treder, Hans-Jürgen: Dialektik und Kausalität, in: Einheit 3(1948)5, S. 452–456 sowie ders.: Marxistische Erkenntnistheorie, in: Einheit 3(1948)6, S. 570 f. 273 BV Leipzig, Abt.  VI, vom 8.11.1957: Aussprachebericht; BStU, MfS, AP  3192/63, Bl. ­103–106, hier 103. 274  BV Rostock, Abt. V/6, vom 1.9.1958: Beschluss für das Anlegen eines Überprüfungsvorgangs (ÜV); BStU, MfS, BV Rostock, AOP 89/60, 1 Bd., Bl. 5.

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Allgemeine Geschichte am Historischen Institut der Universität Rostock inne.275 Das MfS stellte fest, dass er u. a. Stalin kritisiert habe.276 Ein Beitrag zur Rolle der Intelligenz im Sozialismus in der Ostsee-Zeitung vom 24. Januar 1957 zeigt ihn uns ultrarot. Zu dieser Zeit war er Direktor der Universitätsbibliothek Rostock. Nichts in dem Beitrag verrät von einer insgeheimen Abweichung von der SED-Linie. Zitat in Bezug auf die – aus seiner Sicht leider – notwendigen Ost-West-Kontakte in der Wissenschaft: »Auch der Klassenfeind, der jede weiche Stelle in der sozialistischen Gesellschaft erspäht, um sich gegen den ihm drohenden Untergang zur Wehr zu setzen, lässt nichts unversucht, hier einzuhaken, um den Aufbau des Sozialismus zu hemmen.«277 Nur ein halbes Jahr später und in der Folge eines offenbar politisch motivierten Suizides eines Kollegen von ihm, Johannes Nichtweiss, dem Leiter des Historischen Instituts, soll er voller Zorn über die Verhältnisse an der Universität von einem »antireligiösen Terror in Rostock« gesprochen haben. Tatsächlich hatten sich die Hinweise in dieser Richtung verdichtet.278 Für Herz war der spektakuläre Suizid von Nichtweiss am 14. Juni 1958, er hatte sich vom Dach des Universitätsgebäudes in den Tod gestürzt, ein Wendeereignis.279 Das schrieb er auch dem MfS am 24. Juli. Das MfS aber drehte, und hierin war es geübt, alles um: Demnach hätte Herz durch die Ereignisse um Nichtweiss seine Hüllen fallen lassen, seine »wahre Einstellung zur DDR und zur Partei« sei nun zutage getreten. Tatsächlich hatte Herz in einem Brief – noch vor dem Suizid von Nichtweiss! – zur »Bilanz der welt­anschaulichen ideologischen Überprüfung der Fakultät« aufgelistet: »Ein Dozent tot, ein Dozent nach missglücktem Selbstmord an sich nach dem Westen, ein Professor ebenfalls nach dem Westen, ein Professor herzkrank im Sanatorium, eine Dozentin nervenkrank in psychiatrischer Klinik. Soll ich noch warten, bis auch ich so weit bin?«280 Er hatte zuvor, am 23. Mai geschrieben, dass eine gewisse Hildegard »auf sofortigem Aufbruch« dränge.281 Das war Hildegard Emmel (Kap. 3.2.2, Abschnitt: Der Fall Hildegard Emmel). Noch im selben Jahr hagelte es Parteistrafen an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock.282 Der Überprüfungsvorgang wurde am 20. April 1960 archiviert. Der Verdacht auf »Nachrichtenverbindung« zu einem Propst »und auf Verbindung« zu einer »revisionistischen Gruppe am Historischen Institut« hatte »sich nicht bestätigt«.283 275  (1907–1983); vgl. Lebenslauf; ebd., Bl. 9–12, hier 9. 276  Vgl. GI-Bericht vom 14.11.1956; ebd., Bl. 19 f. 277  Herz, Heinz: Die Rolle der Intelligenz im Sozialismus, in: Ostsee-Zeitung vom 24.1.1957, S. 2. 278  Bericht vom 18.6.1958; BStU, MfS, BV Rostock, AOP 89/60, 1 Bd., Bl. 24 f. 279  Vgl. BV Rostock, Abt.  V/6, vom 24.7.1958: Sachstandsbericht; ebd., Bl. 73 f.; Schreiben an den Vater vom 16.9.1958; ebd., Bl. 87 f.; BV Rostock, Abt. V/6, vom 24.6.1958: Treff bericht; ebd., Bl. 132–135. 280  Sachstandsbericht vom 24.7.1958; ebd., Bl. 73. 281  Schreiben an den Vater vom 23.5.1958; ebd., Bl. 90 f., hier 90. 282  Vgl. BV Rostock, Abt. V/6, vom 4.12.1958: Bericht zum Treffen mit »Buch« am 4.12.1958; ebd., Bl. 111–113, hier 111. 283  BV Rostock, Abt. V/6, vom 20.4.1960: Beschluss für das Ablegen des ÜV; ebd., Bl. 147 f.

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Die ideologischen Kämpfe sahen an der Seite der Studenten oftmals bürgerliche Hochschullehrer und Wissenschaftler stehen. In den 1960er-Jahren wird es vor allem Robert Havemann sein, der Anwalt und Sprecher der kritischen, aufbegehrenden Jugend werden wird. Havemann 1963: Endlich möge man, so zitierte Offizier Lucas den GHI »Günter Martin«, die »schädlichen Einflüsse, die von H. ausgehen, ein für alle Mal« beseitigen. Den 1. Sekretär der Universitätsparteileitung (UPL) Werner Tzschoppe müsse man »scharf verurteilen«, da er der Meinung sei, es gebe an der Uni wichtigere Probleme als sich mit Havemann auseinanderzusetzen. Zum gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium berichtete »Günter Martin«, dass sich diesbezüglich »die Auffassung Havemanns weit verbreitet« habe. An den Naturwissenschaftlichen Fakultäten werde »das Grundstudium fast völlig vernachlässigt«. Ferner: »Die Klassiker« würden »in letzter Zeit immer mehr aus dem Grundstudium ausgeklammert«. »Es passiert allzu oft, dass die Dozenten in den Seminaren nicht Herr der Lage sind. Die Studenten diskutieren willkürlich.« Und weiter: »Da vor allem die Physiker Havemann als den großen Gelehrten ansehen«, stünden »vor allem dort einige Auseinandersetzungen bevor.« Man schiebe die Verantwortung und die Lehre nun ab, es finde sich quasi keiner, der die Physiker auf Kurs zu bringen in der Lage sei. Ein Problem sei stets gegenwärtig: Spreche man mit den Dozenten, heiße es, dass man »sich beengt« fühle. Psychologen, Musikerzieher und Methodiker sprächen »seit Jahr und Tag vom Problem der Enge«. Sie würden sich immer häufiger »in die sogenannte innere Emigration zurückziehen, indem sie nicht mehr offen diskutieren, sondern nur noch im engen Kreis bestimmte Probleme besprechen«.284 Für die höheren Semester der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät führte Havemann 14-täglich Vorlesungen über »Naturwissenschaften und Philosophie« durch. Er erntete fulminanten Zuspruch. Die UPL führte mit der Parteileitung der Grundorganisation der Fakultät eine Aussprache durch, wobei sich herausstellte, dass die Genossen auf Havemanns Seite waren. Er soll erklärt haben, »dass er prinzipiell mit der Kultur- und Intelligenzpolitik unserer Partei nicht einverstanden« sei und die »Überwindung des Dogmatismus« für notwendig erachte.285 Zeitweilig schien es, als kippte der reziproke Kampf beider Lager zugunsten eher bürgerlicher Wertvorstellungen in der Lehre. Einen Zusammenschnitt negativer Momente zu Havemann findet sich in einem Dokument des MfS vom 11. November 1963, erstellt von Major Dr. Rudolf Hofmann.286 Havemann war zu dieser Zeit u. a. Prodekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät und Direktor des Physikalisch-chemischen Instituts der HU Berlin sowie Hofmann Stellvertreter des Leiters des Instituts Marxismus-­ Leninismus an der Hochschule des MfS (später dessen Leiter resp. Prorektor), an der er just im Mai mit der Arbeit »Die Dialektik von Zwang und Überzeugung in 284  Abt. V/6 vom 1.11.1963: Aktivtagung in der HU am 24. u. 25.10.1963; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 372–375. 285  HA III/6 vom 6.11.1963: Bericht zu Havemann; ebd., Bl. 379 f., hier 379. 286  Vgl. HA III/6/S vom 11.11.1963: Bericht zu Havemann; ebd., Bl. 381–388.

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der sozialistischen Revolution« promoviert worden war.287 Eine weitere Zusammenstellung Hofmanns datiert vom 29. November 1963. Demnach soll Havemann seit 1956 »mit revisionistischen und anderen opportunistischen Auf‌fassungen an die Öffentlichkeit« getreten sein. Bereits 1956 sei er für die Liquidierung der marxistischen Philosophie eingetreten.288 Er habe »enge persönliche Beziehungen zu Personen, die in Opposition zur Parteiführung« stünden, wie etwa Stefan Heym, Wolf Biermann und Herbert Sandberg. Guten Kontakt habe er zum Dozenten Friedrich Herneck und auch zu Martin Strauss.289 Havemann urteilte am 13. Dezember 1955 über Strauss in der Wiedergabe von Offizier Richter: Strauss sei »äußerst unsympathisch«, »der sich an der Universität immer unbeliebter macht. In seiner überheblichen Art ignoriert er alles und behauptet, dass selbst Einstein, Planck usw. große Fehler gemacht haben. Seine eingereichte Habilitationsarbeit ist bis jetzt von allen Seiten als sehr schlecht beurteilt worden. Von ihm veröffentlichte Arbeiten wurden selbst von sowjetischen Gastprofessoren als mathematischer Blödsinn bezeichnet. Obwohl er selbst nicht Genosse ist und sich am politischen Leben nicht beteiligt, verkehrt er mit den Genossen per ›Du‹ und will auch als solcher behandelt werden.«290 An anderer Stelle heißt es, dass Havemann den theoretischen Physiker der Spitzelarbeit für die Gestapo beschuldigte. Er soll sich dabei u. a. auf Friedrich Möglich berufen haben. Strauss führe unter der Schirmherrschaft von Robert Rompe ein Parasitenleben, denn er beziehe Gehälter ohne feste Anstellung. Er spekuliere überdies auf den Lehrstuhl für Theoretische Physik. Er habe bereits vor Jahren auf Antrag von Rompe berufen werden sollen, aber seine Habilitation sei, obwohl von den Physikern Achille Papapetrou und Léon Rosenfeld empfohlen, wegen der Ablehnung seitens Friedrich Hund und Möglich nicht erfolgt. Strauss soll früher im Sozialistischen Studentenbund organisiert gewesen sein, später emigrierte er nach England, von wo er 1950 zurückkehrte. Staatssekretär Wilhelm Girnus (vom SHF) kannte Strauss aus der Zeit im Studentenbund.291 Das MfS hatte mit Havemanns »Angriffen« gegen den Marxismus-Leninismus Anfang der 1960er-Jahre gehörig zu tun. In Bezug auf dessen Vortrag in Leipzig im September 1962 anlässlich einer Tagung zu den fortschrittlichen Traditionen in der Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts mit dem Titel: »Hat die Philosophie den modernen Naturwissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme geholfen?« explodierte förmlich die Auseinandersetzung mit ihm. »Wichtig« sei, so das MfS, »dass vor allem uns ablehnend gegenüberstehende Studenten« die Vorlesungen Havemanns »mit Begeisterung besuchen«. Havemann weckte nicht ein Bedürfnis, sondern 287  Vgl. Kaderakte Hofmann; BStU, MfS, KuSch, Nr. II 661/84. 288  HA III/6/S vom 29.11.1963: Maßnahmeplan zu Havemann; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 397–403, hier 397. 289  Ebd., Bl. 398. Vgl. Bericht zu Havemann vom 11.11.1963; ebd.; Bl. 381–388, hier 384. 290  Abt. VI/2 vom 14.12.1955: Bericht der KP Havemann am 13.12.1955; ebd., Bd. 2, Bl. 7–10, hier 9 f. 291  Vgl. Abt. VI/2 vom 24.2.1959: Bericht von »Leitz« über Kontaktaufnahmen während seines Aufenthaltes in England vom 8.–20.2.1959; ebd., Bl. 149–153, hier 152 f.

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er bediente es. Es sei rasch bekannt geworden, so das MfS, dass sich sogenannte negativ eingestellte Studenten der Fachrichtung Chemie und der Medizinischen Fakultät der HU Berlin »zu offenen Fürsprechern des Havemann’schen Freiheitsbegriffs« machten. Sie fänden sich als Anhänger der »Kulturdiskussion« etwa in den Lyriker-Abenden zusammen. Auch Wolf Biermann zähle zu ihnen, »mit dem sich die Partei bereits im vergangenen Jahr auseinandergesetzt« habe »und der aus den Reihen der Partei gestrichen« worden sei. »Im Mittelpunkt dieser Diskussionen« stehe »die Ablehnung unserer Kulturpolitik und des sogenannten Dogmatismus in unserer Ideologie«.292 Der Machtanspruch der SED war grundsätzlich ideologisch formiert und fand auf allen Ebenen und Gebieten seinen Ausdruck; Carl-Heinz Janson: »Die Kommandowirtschaft ging aus vom Glauben der Führung an die Allmacht und unbedingte Richtigkeit der zentralen Beschlüsse. Alles und jeder in der Wirtschaft unterlag der Reglementierung.«293 Zu Beratungen in staatlichen und Institutsgremien im Fakultätsrat und anderswo würden im Vorfeld »Vorbesprechungen« der Parteigruppen erfolgen, die die zu erwartenden Beschlüsse dann gleichermaßen vorwegbestimmten. Das aber dürfe, so Havemann 1961, nicht sein: »Die Aufgabe der Parteigruppe besteht nicht darin, gewissermaßen die eigentliche Arbeit dieser Gremien selbst durchzuführen und diese Gremien sind dann hinterher nur noch ja-sagende beschlussfassende und zustimmende Organe, wo sich die parteilosen Wissenschaftler vorkommen wie eine Art von Statisten, die im Grunde genommen über schon abgeschlossene Sachen nur etwas anzuhören haben und wohl oder übel ihre Zustimmung geben müssen.«294 Und weiter: »Unsere parteilose Intelligenz beklagt sich einfach darüber, dass ihr vonseiten der Partei und der Parteimitglieder, der Parteiorganisation und der Parteileitung nicht in ausreichendem Maße Vertrauen entgegengebracht wird, sondern mit einem gewissen Misstrauen begegnet wird.« Die parteilosen Wissenschaftler verträten wegen des Misstrauens ihre Überzeugungen nicht offen, da sie fürchteten, »geschulmeistert« zu werden. Havemann teilte sodann seine Einschätzung mit, die in die Erkenntnis mündete, dass an dem von Republikflüchtigen immer wieder genannten Grund, der Erringung der Freiheit, etwas dran sei. Ein Gespräch mit dem sowjetischen Chemiker und Philosophen Ketrow und dem sowjeterfahrenen Ernst Kolman, Direktor des Philosophischen Institutes der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, lieferte ihm deren Erlebnisse auf einer Philosophiekonferenz in Paris: »Sie sagten, das wichtigste Argument, mit dem gegenwärtig gegenüber der bürgerlichen Intelligenz des Westens gegen uns argumentiert wird, das gegen den Kommunismus, gegen die sozialistischen Staaten, gegen das Leben in den sozialistischen Ländern angeführt und womit der meiste 292  Abt. V/6: Bericht zu Havemann vom 28.12.1963; ebd., Bl. 446 f. 293  Janson: Totengräber der DDR, S. 138. 294  Beratung mit Hochschullehrern und Mitgliedern der Parteileitung der HU Berlin »über das Verhältnis der Partei und Parteimitglieder zur bürgerlichen Intelligenz« (ohne Kopfangaben, vermutlich erste Jahreshälfte 1961); BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 2, Bl. 261–267, hier 263. An der Beratung nahm das ZK-Mitglied Hörnig teil.

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Eindruck hervorgerufen wird, das sei das Argument, dass im Sozialismus die persönliche Freiheit, oder vorsichtiger, der Mensch wird zu einer Art Nummer gemacht, zu einem Gegenstand, aber seine Persönlichkeit wird nicht anerkannt, das Individuelle, Persönliche wird gewissermaßen zerstört. Der Mensch verliert an Bewegungsfreiheit. Ich sagte, dass es auch immer für uns sehr überraschend ist, wenn irgendwelche Leute, Wissenschaftler die DDR verlassen und im Westen auftauchen, dass sie dort immer ankommen mit der Erklärung, sie hätten es nicht mehr ausgehalten, weil in der DDR keine Freiheit herrsche. Sie wollten in die Freiheit.«295 So reglementiert, zögen sie sich zurück und widersetzten sich den Diskussionen mit uns. »Meine Meinung ist, dass das ein ganz wichtiger Punkt unserer Intelligenzpolitik ist. Wir müssen alles tun, um zu erreichen, dass die parteilosen Wissenschaftler das Gefühl und die Sicherheit erhalten, dass wir ihnen großes Vertrauen entgegenbringen, dass wir uns interessieren für ihre Ansichten, auch für solche, die nicht mit den unseren übereinstimmen, dass wir bereit sind, alle Probleme frei und offen mit ihnen zu besprechen, dass wir nicht in den Diskussionen auftreten als diejenigen, die es von vornherein besser wissen, die alles schon für sich entschieden haben.«296 Mit der Grenzschließung erledigten sich solche Diskussionen erst einmal von selbst. Anderes stand im Mittelpunkt. Anfang September 1961 nahm das MfS einen Bericht Havemanns alias GI »Leitz« über die Frage der an der HU Berlin tätigen »Westprofessoren« entgegen, die man nun erst recht nicht mehr gern sah. Die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät arbeitete gerade an einer Aufstellung der aus Westberlin stammenden Professoren und Dozenten. Allein die Hälfte (15) stammte aus der Fachrichtung Physik. Die andere Hälfte verteilte sich auf acht weitere Fachrichtungen. Havemann machte für die Berufungspolitik Rompe verantwortlich.297 Der gesellschaftspolitischen, ideologischen Schulungen konnten sich die parteilosen Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure nur schwer, und wenn doch, in der Regel nur um den Preis von Nachteilen erwehren. In den völlig a-politischen und a-ideologischen Disziplinen wie der Astro- und Geophysik bildeten diese Veranstaltungen einen eigentümlichen Anachronismus. So gab es für die Mitarbeiter des Zentralinstituts Physik der Erde (ZIPE), des Zentralinstituts für Astrophysik (ZIAP) und des Einsteinturmes am 12. April 1971 im Hörsaal des Refraktor­ gebäudes im Rahmen des »Zirkels für Wissenschaftler und Ingenieure« zum »3. Themenkomplex – die historische Bedeutung der Gründung der SED, die wachsende Führungsrolle der marxistisch-leninistischen Partei bei der Gestaltung des ent­ wickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR« – das Thema: »Die historische Bedeutung der Gründung der SED. Die Entwicklung der SED zu einer Partei neuen Typus und ihre historischen Leistungen.« Die marxistisch-­

295  Ebd., Bl. 264 f. 296  Ebd., Bl. 266 f. 297  Vgl. Abt. VI/2 vom 6.9.1961: Bericht von »Leitz« am 5.9.1961; ebd., Bl. 270 f.

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leninistische Weiterbildung war obligatorisch.298 Wer nicht kam, wurde aufgesucht, und wer nicht aufgefunden wurde, notiert. Und wer mangels geeigneter Lehrkräfte aushalf, kontrolliert: Im Rahmen des Zirkels hatte man für eine Veranstaltung am 7. Juni 1971 einen eigenen Wissenschaftler, Rudolf Tschäpe (1943–2002), gewonnen. Wer aber von diesen »Unberufenen« seinem Geist freien Lauf ließ oder auch nur die falschen Autoren zitierte, geriet rasch in den Verdacht revisionistischen Gedankenguts. Tschäpe hatte ein Buch von Alfred Kosing über Ernst Fischer299 mitgebracht, das sich »mit revisionistischen Problemen« Fischers »beschäftigte«. Er soll so zitiert haben, dass lediglich »revisionistische Auffassungen« Fischers wiedergegeben worden seien. Folglich entstand der Eindruck, dass nur »die Intellektuellen in jeder Gesellschaftsordnung« zur Macht befähigt schienen, was einer Leugnung der führenden Rolle der Arbeiterklasse gleichgekommen sei. In der Diskussion sei dieses Argument unschlagbar gewesen, da die Klassiker Lenin, Engels und Marx selbst »keine Arbeiter, sondern Intellektuelle« waren. Der dies berichtete war der Kaderleiter Max Becker alias GMS Becker (Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 4). Der Vorgesetzte des Führungsoffiziers von Becker notierte an den Rand: »Woher stammt das Buch?«, und bezüglich der 24 Genossen, die in der Diskussion versagt hätten, Tschäpe zu parieren: »Wer sind die Genossen?«300 Becker war nicht der einzige Spitzel unter den zu Schulenden. Auch der Sicherheitsbeauftragte Günter Pätzold alias IME »Kosmos« war anwesend, notierte fleißig mit und vermerkte, dass trotz des Auftretens von Genossen gegen diese Auffassung »das Problem nicht im Sinne der Zielsetzung der Partei geklärt« worden sei. Er berichtete umgehend der Parteileitung. Es wurde festgelegt, dass Gerhard Ruben alias IM »Astronom« (Kap. 4.2.2 u. 5.2) mit Tschäpe einmal sprechen möge.301 In der MfS-internen Besprechung wurde zudem die Quellenfrage erörtert, da Fakten gefragt waren: wer hatte was worauf wie gesagt. Es stellte sich heraus, dass keine Aufzeichnungen über die Auseinandersetzungen in der Parteigruppe Astro aufzutreiben waren, Protokolle wurden gesucht, konnten aber nicht gefunden werden. Ein Genosse erhielt die Aufgabe, eine »analytische Einschätzung« des Zirkels zu geben. Sein Versuch, die Aufzeichnungen von einer Mitarbeiterin der Kaderleitung zu bekommen, schlug fehl: Sie »konnte oder wollte ihn jedoch nicht unterstützen«.

298  ZIPE u. ZIAP vom 29.3.1971: Einladung zur marxistisch-leninistischen Weiterbildung am 12.4.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 557/76, alte BStU-Pag., Bd. 1, Bl. 166. 299  Vgl. Kosing, Alfred: Ernst Fischer [alias Peter Wieden, Pierre Vidal, 1899–1972], ein moderner Marxist? Berlin 1970. 300  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 24.6.1971: Einschätzung über die Durchführung der Weiterbildung am 7.6.1970; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 557/76, alte BStU-Pag, Bd. 3, Bl. 43 f. sowie BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 24.6.1971: Bericht des GMS Becker (kein Deckname!) am 23.6.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AGMS 2106/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 103 f. 301  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 29.6.1971: Bericht von »Kosmos«; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 13 f.

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Abb. 7: ML-Zirkel und Demonstrationen: Pflicht für alle302

Sie habe keine Aufzeichnungen und könne »nichts Konkretes mehr« erinnern.303 In diesem Zusammenhang fiel dem MfS später auf, dass ein inoffizieller Mitarbeiter offenbar »revisionistisches Gedankengut« teile. Also wurde sein Arbeitszimmer, wie das von drei weiteren Kollegen auch, nach revisionistischen Schriften sowie 302

302  Oben v. l. n. r. an dritter und vierter Position Günther Wachtmeister* alias »Bernd« und Claus Grote alias GMS »Wismut«, Generalsekretär der AdW. Der linke Fahnenträger ist Lothar Schauer. Weil er »sich ja sonst nicht beteiligt«, so Schauer am 31.7.2014 an den Verf., musste er »zur Strafe die Fahne tragen«. 303  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 25.6.1971: Bericht zum Treffen mit »Kosmos«; ebd., Bl. 18 f., hier 18.

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»Materialien, die Rückschlüsse auf Verbindungen« ins westliche Ausland lieferten, durchsucht.304 Kein Mitarbeiter der wissenschaftlichen, technischen und verwaltungstechnischen Bereiche wurde bei den »Einladungen« zu den Kursen vergessen, obgleich permanent eingeschätzt werden musste, dass die bisherige Art des Studiums »ungünstig« sei. Für das technische Personal wurden »regelrechte Schulungen« durchgeführt, die mit einer Prüfung abschlossen. Die freiwillige Übernahme von Vortragsthemen durch insbesondere junge Wissenschaftler hielt Becker für bedenklich, da sie den Anforderungen oft nicht genügten. Sie würden ihre subjektive Haltung mit einbauen, obwohl ihnen Thema und Material vorgegeben werde. Das Niveau müsse schon aufgrund der Tatsache, dass die Referenten Naturwissenschaftler seien, niedrig sein, da sie »keine so tiefgründige Ausbildung auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften« besäßen. Er nannte dem MfS jene Fragen, die weder die Zirkelleiter noch die Referenten beantworten konnten, nämlich: Die »führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei. Fragen der Prognose, der Planung der wissenschaftlichen Arbeit und Fragen der Wissenschaftsorganisation«. Auch Fragen, die sich um das »Verhältnis Wissenschaft und wissenschaftlich-technische Revolution« drehten.305 Laut Becker hätten zwei Wissenschaftler gar »oppositionelle Bemerkungen hinsichtlich ihrer politischen Weiterbildung« geäußert.306 Der bagatellhaft anmutende Vorgang schlug noch nach Monaten Wellen. So berichtete Becker hierüber Anfang 1972 über Viktor Kroitzsch alias IM »Geos«307 (Kap.  5.2, MfS-Spezial  II, FG  8), Leiter des wissenschaftlichen Sekretariats des Forschungsbereiches, dass der anlässlich einer parteiinternen Beratung zum Thema III über die führende Rolle der Arbeiterklasse geäußert habe, dass es immer noch Klärungsbedarf gebe, die Frage müsse endlich von den Gesellschaftswissenschaften beantwortet werden, Kurt Hager habe auf der ZK-Tagung diesbezüglich »nur noch mehr Unklarheiten geschaffen«.308 Qualifizierte Ideologen waren rar. Am 23. September 1974 stellte Wolfgang Mundt (siehe unten) fest, dass die »Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern und Gesellschaftswissenschaftlern zu Fragen der Planung im Wissenschaftsbereich des [Forschungsbereiches] noch nicht zum Laufen 304  BV Potsdam, Abt.  XVIII, vom 17.3.1972: Konspirative Zimmerkontrollen; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 557/76, alte BStU-Pag., Bd. 1, Bl. 185–186, hier 186. 305  BV Potsdam: Bericht des GMS Becker am 6.7.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AGMS 2106/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 115 f., hier 115. 306  BV Potsdam, Abt.  XVIII/2, vom 21.10.1971: Bericht von Becker am 15.10.1971; ebd., Bl. 153 f., hier 153. 307  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AIM  973/85, Teil  I (1  Bd.), Teil  II (3  Bde.). Geb. 1926 in Jelgara / L ettland (UdSSR). 1947 von der BRD in die DDR übergesiedelt. Promotion 1969 auf dem Gebiet der Festkörperphysik. 1969–1973 Leiter des Wissenschaftlichen Sekretariats im FoB Kosmische Physik resp. Geo- und Kosmoswissenschaften. Vorschlag zur Werbung am 27.3.1968, er berichtete registraturtechnisch als IM »Geos« bereits vorher; BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 27.3.1968; ebd., Teil I, Bd. 1, Bl. 88–100, hier 99. 308  BV Potsdam: Bericht von Becker am 20.1.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, AGMS 2106/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 161.

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gekommen« sei. Geplant war die Etablierung einer gemeinsamen Expertengruppe, doch scheiterte dies am Desinteresse der Institutsdirektoren. »Die Direktoren erkennen die Notwendigkeit einer derartigen Zusammenarbeit nicht an« und würden die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaften unterschätzen. Man werde, sagten sie, an den Forschungsergebnissen gemessen und nicht an anderen Dingen.309 Christian Sachse geht auf diese wechselseitig »Nicht-Achtung« ein, indem er an Klaus Zweiling erinnert, der 1950 die Arroganz der Physiker wie folgt konterte: »Da aber die Physiker die Beschränktheit ihrer Begriffe nicht durchschaut hätten, seien sie ›an jenem Punkt angelangt, an dem sie die Ergebnisse ihrer eigenen Forschung nicht mehr‹« verstünden, »›weil der Übergang zum dialektischen Materialismus‹«, der letztlich »›den Übergang auf die Klassenposition des Proletariats in den gesellschaftlichen Kämpfen unserer Zeit bedeutet‹«, eben »nicht zu vollziehen vermochten«.310 In genau diese Kerbe hatte dann, wie wir oben sahen, Strauss geschlagen. Auf dem IV. Parteitag der SED äußerte sich höchstpersönlich Ulbricht zu dieser Frage: »Die ideologische Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Physik ist ungenügend. Die idealistischen Anschauungen von Heisenberg, Jordan, Behr [Bohr – d. Verf.] üben in der Deutschen Demokratischen Republik noch Einfluss aus. Dies stellt ein Hemmnis für den experimentellen und theoretischen Fortschritt in der Physik dar. Am Kampfe gegen den physikalischen Idealismus müssen sich Physiker und materialistische Philosophen gemeinsam beteiligen.«311 Sachse hat eine Verlagerung der ideologischen Debatte (Welle-Teilchen-Dualismus) weg von der Einheit hin zur Deutschen Zeitschrift für Philosophie ab 1953 festgestellt. Diese wurde von Victor Stern312 dominiert,313 der wiederum von Strauss heftig attackiert worden war. Sachse sieht diesen »Dialog«, den ich als reziproken Kampf bezeichne, zwischen Marxismus-Leninismus und Naturwissenschaften 1955 auf dem Nullpunkt, in jenem Jahr, wie Sachse feststellt, da die Kerntechnikforschung freigegeben wurde,314 aber auch jene Wissenschaftler in großer Zahl heimkehrten, die in die Sowjetunion gegangen waren. Es begann in der DDR etwas Neues. Nur Personen wie Strauss machten weiter, ihnen lag der Nullpunkt noch nicht tief genug.315 Strauss zeigte sich einmal mehr als Frontkämpfer in Karl-Eduard-Schnitzler-­ Manier in einem Schreiben an den Bundessekretär der Bundesleitung des Kulturbundes vom 22. Februar 1956. Er schrieb, dass »der Kampf gegen alle fortschrittlichen Ideen und den Marxismus im Besonderen eine immer stärkere Rolle bei der 309  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 23.9.1974: Bericht von »Gotha« am 23.9.1974; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 45 f., hier 45. 310  Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik, S. 35. 311  Zit. nach: Sachse; ebd., S. 37. Ulbricht, Walter: Die gegenwärtige Lage und der Kampf um das neue Deutschland, Bericht des Zentralkomitees am 30.3.1954, in: Protokoll des IV. Parteitages der SED. Berlin 1954, S. 151. 312  (1885–1958). Kommunistischer Philosoph. 313  Vgl. Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik, S. 35. 314  Ebd., S. 38. 315  Vgl. ebd., S. 39–44.

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ideologischen Kriegsvorbereitung« spiele. »Ein Teil dieser Offensive« sei die »Ausnutzung der modernen Physik für eine obskurantische Philosophie, durch die einerseits die Intellektuellen ideologisch entwaffnet und andererseits die fortschrittlichen Kreise misstrauisch gegen die Wissenschaft gemacht werden sollen«. Dagegen sei vonseiten der DDR kaum etwas unternommen worden. Einige Versuche hätten »sogar wegen ihrer mangelnden wissenschaftlichen Fundierung die gegnerische Position gestärkt und Verwirrung in die eigenen Reihen getragen«. Würden wir, die SED, hier richtig vorgehen und vorhandene Kräfte besser nutzen, »müsste es m. E. im Laufe von etwa zwei Jahren möglich sein, auf diesem nicht unwichtigen Abschnitt des ideologischen Kampfes einen entscheidenden Sieg über den Gegner zu erzielen«. Strauss schlug eine »etwa zweitägige Konferenz mit beschränkter Teilnehmerschaft« vor. Dem Initiativ-Komitee sollten angehören: Georg Klaus, Zweiling, Havemann, der 1. Sekretär der Universitätsparteileitung Hans Singer und er selbst natürlich.316 Klaus begrüßte in seiner Antwort an den Kulturbund vom 5. Juni den Vorstoß von Strauss. Auch die Abteilung Wissenschaft und Hochschulen beim ZK der SED stand dem Vorschlag »sehr positiv gegenüber«. Klaus schlug außer sich und den Bittsteller Strauss noch Hermann Ley (TH Dresden) und Stern (Parteihochschule der SED) vor. Vorher aber wolle man sich in einer Art Vorkonferenz treffen und versuchen, eine gewisse Einigkeit zu erzielen, denn, so Klaus, »es wird ihnen auch nicht unbekannt sein, dass die Herren Havemann, Strauss und auch ich in schärfstem Gegensatz zu Herrn Stern« stehen. »Eine gewisse Annäherung dieser Standpunkte müsste vorher gesichert sein, wenn wir uns mit den philosophischen Ansichten bürgerlicher Physiker alten Stils auseinandersetzen wollen.«317 Strauss dehnte seinen Kampf auch auf die Bundesrepublik aus. Bei Max Born318 beklagte er sich mit Schreiben vom 27. November 1961 über die Physikalischen Blätter und sprach von einer dort abgedruckten absurden Behauptung.319 Strauss hatte zuvor an den Herausgeber des Blattes, Ernst Brüche, geschrieben. Die von ihm beklagte Desinformation seitens der Physikalischen Blätter verglich er mit der NS-Politik, die in den »Selbstmord eines ›Führers‹« endete. Als Vergleich lenkte er Born auf einen Artikel von Ardenne in den Kölner Blättern für Deutsche und Internationale Politik.320 Born antwortete am 8. Dezember ungehalten: »Dass Sie mich in Ihren Konflikt mit Brüche hineinziehen, ist mir sehr unangenehm. Ich bin ja einer der offiziellen ›Berater‹ der Physikalischen Blätter. Aber ich habe Brüche gebeten, mir 316  Schreiben von Strauss an Bergmann vom 22.2.1956; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 150, 1 S. 317  Schreiben von Klaus an Schulmeister vom 5.6.1956; ebd., 1 S. 318  (1882–1970). Physiker, Nobelpreisträger von 1954. 319  Vgl. Klaus an Schulmeister vom 5.6.1956; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 150, 1 S. 320  Es handelte sich um einen Beitrag über die Hohen Schulen der Bundesrepublik, worin behauptet wurde, dass es aufgrund des Informationsmangels aus der DDR nach der »kommunistischen Hochschulreform« keinen Sinn mehr mache, adäquate Informationen zu versuchen. Bericht der Redaktion: Die Hohen Schulen der Bundesrepublik, in: Physikalische Blätter 17(1961)10, S. 477–482, hier 477.

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nur die wichtigsten Dinge vorzulegen, da meine Kräfte gering sind. Er hat sich daran gehalten. Nun haben Sie mir Ihre Angelegenheit vorgelegt, so musste ich ihm schreiben. Ich habe ihm geraten, er solle Ihnen gar nicht antworten.« Dies machte Born gleich selbst, und zwar auf deutliche Art: »Ich kann wohl verstehen, dass Sie als alter Kommunist sich über das letzte Heft der Physikalischen Blätter entrüsten. Aber das Sprichwort sagt: ›Wer im Glashause sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.‹ Ich versuche, mich von den deutschen Streitereien fernzuhalten, da ich britischer Staatsbürger bin. Auch trete ich, wie Sie wissen, im Bunde mit Bertrand Russel, Linus Pauling u. a. immer für Frieden und Versöhnung ein und scheue mich nicht, die Hetzer und Militaristen zu bekämpfen, ob sie in Bonn sitzen oder anderswo. Aber die letzten Taten der östlichen Machthaber sind doch auch uns (den oben Genannten) zu stark: Die ›Mauer‹, die russischen Tests mit Superbomben, die sogenannte Entstalinisierung, die sich in der Hauptsache auf Denkmäler, Stadt- und Straßennamen beschränkt, aber Leute von Stalins Gnaden am Ruder lässt, das Verhalten der Sowjet-Delegation bei den Genfer Verhandlungen über die Einstellung von Atomtests u. a. Ich bin darüber nicht nur durch die Zeitungen der B. R. D. unterrichtet, sondern ich lese auch den sehr objektiven ›Statesman‹ und oft Zeitungen aus der ›Zone‹, die mir zugeschickt werden. Sie sehen, dass auch mir die Bezeichnung D. D. R. nicht aus der Feder fließt. Ich habe das zweite D nie verstanden. Wenn die der Regierung genehme Partei immer so um 95 Prozent der Stimmen bei den Wahlen kriegt, ist doch von Demokratie und Freiheit keine Rede. Wenn Sie damit zufrieden sind, ist das Ihre Sache. Nur erwarten Sie nicht, dass andere es mitmachen. Was die Bezeichnung ›Mitteldeutschland‹ betrifft, so vermeide ich sie, kann aber begreifen, dass andere die verlorenen Gebiete immer noch als ›Ostdeutschland‹ bezeichnen, obwohl jetzt Polen dort wohnen. […] Wäre ich gefragt worden, hätte ich vielleicht abgeraten, Dinge der Tagespolitik in den Physikalischen Blättern zu veröffentlichen. Aber ein Protest wie der Ihre scheint mir nicht gerechtfertigt. Es kommt darauf an, Hetzer, Militaristen, Bomben- und Raketenfabrikanten der eigenen Seite zu bekämpfen, wie ich es versuche. Wenn Sie das tun, werde ich gern weiter mit Ihnen diskutieren. Jetzt ist es aber wohl besser abzubrechen.«321 Ideologie ist ohne eine gewisse Unbedarftheit schwer denkbar, und es gehört zur Wissenschaftlichkeit, Dinge beim Namen zu nennen, die eine solche Dimension besitzen; etwa am Beispiel des Generalsekretärs der AdW in der Nachfolge Lauters, Claus Grote. Es liegt diesbezüglich ein bemerkenswerter Briefwechsel von Jürgen Kuczynski mit Grote vor. Darin bedankte sich Kuczynski mit Schreiben vom 29. August 1975 bei ihm für die Studie »Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsorganisation in den USA«. Er hatte nachgefragt, ob bei einem solchen Papier das NfD [Nur für den Dienstgebrauch] gestempelt worden sei, man »nicht die Schul­ jungenideologie fortlassen« könne, und zitierte als Beispiel aus Grotes Studie: »Etwa das Profitmotiv als Begründung für die Vernachlässigung der Grundlagenforschung in dem Lande, das mit der SU zusammen die Weltspitze in der Grundlagenfor321  Schreiben von Born an Strauss vom 8.12.1961; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 174, S. 1 f.

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schung« halte »und in dem die Industrie genau so viel Grundlagenforschung betreibt wie die staatlichen Institutionen«. Kuczynski: »Ich bin nur froh, dass keine Vergleiche zwischen USA und DDR angestellt werden, was natürlich jeder Wissenschaftler, dem Du das zuschickst, tut, und der sich durch die Erklärungen der Studie verhohnepiepelt« fühlen würde. Die Bloßstellung geht in diesem Stil weiter, was äußerst selten war für den stets charmant auftretenden Kuczynski: »Statt Wert darauf zu legen, dass wir aus solchen Studien etwas für uns lernen, sollen uns hier offenbar primitive Anweisungen zur Verachtung des Feindes im ›Dienstgebrauch‹ gegeben werden.« Und weiter: »Wenn Du mir teilweise zustimmst, wirst Du sicher eine klügere Form finden, das, was ich meine, Deinen Mitarbeitern mitzuteilen.« Er schloss mit der Grußformel: »Tausend gute Wünsche!«322 Die Antwort Grotes erfolgte sage und schreibe drei Jahre später. Anlässlich seiner bevorstehenden USA-Reise und der Renovierung seines Dienstzimmers, wobei angeblich der unbeantwortete Brief zum Vorschein gekommen sei, entschloss sich Grote unter Beilegung des alten Kuczynski-Briefes (»weil Du ihn vielleicht vergessen hast«) zu antworten. Erstens wundere er sich, dass Kuczynski für den Beleg der »Schuljungenideologie« Belege zitiere, die nicht zu den stärksten Belegen gehörten, da es auch Seiten gebe, »die wesentlich stärker das zum Ausdruck« brächten.323 Es gab also noch dümmere? Ferner schrieb Grote: »Du findest die Passagen über die Ausbeutung von Wissenschaftspotenzialen anderer Länder durch die USA, indem diese Forschungen dort finanzieren, komisch. Ich nicht.« Und: »Die meisten Empfänger des Materials haben uns übrigens im Gegensatz zu Dir gesagt, dass es sie nicht zur Verachtung des Feindes angeregt hat, sondern ihnen seine Stärke und Gefährlichkeit bewusster gemacht hat.« Grote schloss mit: »Tausend und noch einem guten Wunsch«.324 Nichts änderte sich im Laufe der DDR-Zeit an der ideologischen Bevormundung, noch Jahre nach dem Ende des in der Untersuchung abgesteckten Zeitrahmens beschwerte sich Kroitzsch am 26. Januar 1983: »Wir betreiben bereits in der Schule den Marxismus-Leninismus wie ein Glaubensbekenntnis, nicht wie eine Wissenschaft. Wir kauen den Leuten Phrasen und Lösungen vor und die wiederholen sie.« Die Äußerung bezog sich auf das Parteilehrjahr, auf dem gewöhnlich phrasenhaft, ohne innere Überzeugungen diskutiert wurde. Ferner: »Wir tun so, als ob uns das Glaubensbekenntnis zum Sozialismus ausreicht, das ist aber nicht der Fall. Mit dem bloßen Bekenntnis sind wir nicht in der Lage, die Gesellschaft zu entwickeln, dazu brauchen wir die Wissenschaft.«325

322 Schreiben von Kuczynski an Grote vom 29.8.1975; ArchBBAW, Nachlass Kuczynski, Nr. 88, 1 S. 323  Schreiben von Grote an Kuczynski vom 19.10.1978; ebd., S. 1–3, hier 1. 324  Ebd., S. 2 f. 325 BV Potsdam vom 27.1.1983: Berichterstattung von »Geos« am 26.1.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 4, Bl. 95.

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Der Fall Herneck Gegen seine Kündigung zum 15. April 1958, die am 14. März geschrieben und einen Tag später um 9.45 Uhr zur Poststelle gebracht worden war326 und ihn am 17. März im Krankenhaus erreicht hatte, protestierte Friedrich Herneck am 28. März aus der Charité heraus. Er schrieb, dass ihm keine Fakten mitgeteilt worden seien, die begründeten, dass er den politischen Anforderungen als Erzieher nicht nachgekommen sei.327 Doch der Brief und andere Interventionen änderten zunächst nichts am Gang der Dinge. Am 8. August bat der Prorektor der HU Berlin, Robert Naumann,328 den Staatssekretär des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschul­wesen, Wilhelm Girnus, Herneck »als Dozenten für das gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium – Abteilung Philosophie – abzuberufen«. Er begründete dies mit der III. Hochschulkonferenz der SED vom 28. Februar, die eine verbesserte marxistisch-leninistische Schulung verlangte. Herneck entspreche diesen Anforderungen nicht. Naumann zitierte aus dem Beschluss der Universitätsparteileitung, der am 24. März veröffentlicht worden war. Demnach habe Herneck u. a. den Aufbau des Sozialismus als eine Epoche des Personenkults bezeichnet, »feindliche Literatur« verbreitet, übergeordnete Parteileitungen und das Neue Deutschland verleumdet. Für Herneck sei das 20. Jahrhundert nicht das Zeitalter des Sieges des Sozialismus, sondern das der Physik. Nach ihm bedürfe die marxistisch-leninistische Philosophie der Revision, da sie dogmatisch erstarrt sei. Herneck könne nicht argumentieren, er sei schlicht unfähig, einen sachlichen wissenschaftlichen Meinungsstreit zu führen. Seine Artikel über Wilhelm Ostwald329, Hermann Ludwig von Helmholtz330, Ernst Mach331 und Auguste Comte332 seien Verherrlichungen dieser Denker.333 Herneck soll »bei den bürgerlichen Lehrkräften der Universität am angesehensten von allen Mitarbeitern des Instituts für Gesellschaftswissenschaft« gewesen sein. In den institutsinternen Auseinandersetzungen Ende 1957 war er der einzige, der seine Ansichten nicht zurückgenommen hatte. Er habe im Rahmen eines Zeitungsartikels im Zusammenhang mit der philosophischen Bewertung Machs eine parteifeindliche Plattform entwickelt sowie Hetzmaterialien an den zwischenzeitlich verhafteten Karl Mai gesandt. Herneck stand »im Verdacht«, sich an der »Herausgabe der illegalen 326  Vgl. Kündigungsschreiben an Herneck vom 14.3.1958; BStU, MfS, AOPK 340/74, Bl. 11. 327  Vgl. Herneck an die Kaderabt. der HU Berlin vom 28.3.1958; ebd., Bl. 12. 328  Zu Naumanns politischem Kampf gegen die Revisionisten siehe Fußnote 35 in: Warnke, Camilla: Abschied von den Illusionen. Wolfgang Heise in den 60er Jahren, in: Rauh, Hans-Christoph / Ruben, Peter (Hrsg.): Denkversuche. DDR-Philosophie in den 60er Jahren. Berlin  2005, S. 307–335, hier 319. 329  (1853–1932). Chemiker und Philosoph, Nobelpreisträger 1890. 330  (1821–1894). Physiologe und Physiker. Universalgelehrter. 331  (1838–1916). Physiker und Philosoph. 332  (1798–1857). Mathematiker und Philosoph. 333 Vgl. Schreiben von Naumann an Girnus vom 8.8.1958; BStU, MfS, AOPK  340/74, Bl. 13–15.

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Zeitschrift Tatsachen und Meinungen beteiligt« zu haben.334 Im Herzstück des Marxismus-Leninismus, dem dialektischen Materialismus, sehe Herneck allenfalls ein methodisches Forschungsinstrument, den weltanschaulichen Charakter habe er völlig verkannt; er habe »niemals verstanden und folglich auch niemals lehren können, dass die Beschlüsse des Zentralkomitees unserer Partei die wissenschaftliche Verallgemeinerung des Kampfes und die Darlegung der weiteren Ziele der deutschen Arbeiterklasse darstellen«. Aus all diesen Gründen habe, so Naumann, die Universitätsparteileitung dem Prorektor vorgeschlagen, Herneck von seiner Funktion als Dozent abzuberufen. Er habe ihm bereits am 14. März 1958 gekündigt. Die Kündigung habe wegen Hernecks Einspruch aus arbeitsrechtlichen Gründen zunächst zurückgezogen werden müssen. Da Herneck von einem Erholungsurlaub zurückkomme und seine Tätigkeit wieder aufnehmen wolle, hatte er gebeten, »die Abberufung schnellstens vorzunehmen«.335 Girnus wandte sich am 9. September an den Rektor der HU Berlin, Werner ­Hartke,336 mit der Bitte, Herneck »mit sofortiger Wirkung von seinen Lehrverpflich­ tungen zu beurlauben«. Er teilte ihm mit, dass sich die Beurlaubung »bis zur endgültigen Klärung des weiteren Einsatzes« erstreckt, »wobei unsererseits daran gedacht ist«, so Girnus, Herneck »auf einem anderen Arbeitsgebiet zu beschäftigen«.337 Erhard Forgbert338 teilte Girnus am 4. Dezember mit, dass die Universitätsparteileitung am 2. Dezember das Parteiverfahren gegen Herneck durchgeführt und ihm eine Rüge ausgesprochen habe.339 Der Direktor des Instituts Marxismus-Leninismus, Kurt Heuer, beurteilte am 4. April 1962 Herneck wie folgt: Er sei seit Beginn seiner Tätigkeit bestrebt gewesen, 334  Bericht zu Herneck vom 15.11.1962; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 144 f. 335  Naumann an Girnus vom 8.8.1958; BStU, MfS, AOPK 340/74, Bl. 15. 336  (1907–1993). Altphilologe. Gymnasium 1913–1925 in Bonn, Hagen, Potsdam. Studium an der Berliner Universität, Promotion 1932. 1931–1935 Lektor an der Universität Königsberg, 1945–1948 Assistent an der Universität Göttingen, 1948 WPU Rostock. Die Habilitation erfolgte in der Königsberger Zeit. Ab 1955 an der Philosophischen Fakultät der HU Berlin, Lehrstuhlinhaber für Lateinische Sprache und Literatur, ab Dezember 1955 Dekan der Philosophischen Fakultät, ab November 1956 Rektor der HU Berlin. 1958–1968 Präsident der DAW. Hartke war GMS. Der Abschlussvermerk der HA XVIII/5 vom 5.9.1984 zeugt von einer guten Zusammenarbeit seit 1962, er habe »wertvolle Hinweise« zum Sicherungsbereich der Akademie geliefert. Seit 1982 bestand nur noch loser offizieller Kontakt, in: HA XVIII/5 vom 5.9.1984: Beschluss über die Archivierung der GMS-Akte; BStU, MfS, AGMS 10736/85, 1 Bd., Bl. 82. Am 4.12.1980 kam es zu einer Nachregistrierung auf den Decknamen »Heide«; ebd., Bl. 83. Hartke war auszeichnungsüberhäuft, eine Liste von 1961 weist 9, zum Teil hohe Auszeichnungen aus wie der 1959 verliehene Vaterländische Verdienstorden in Gold; BStU, MfS, AGMS 11620/69, 1 Bd., Bl. 5 f., hier 6. Kollegen wiesen mehrfach daraufhin, dass er mit seinen kommunistischen Reden aufpassen möge, einer soll gesagt haben: »Wenn Hartke wieder solches Zeug bringt, werde ich ihm sagen, dass er, als wir beide noch aktive Nazi waren, auch schon solche Sachen gemacht habe.«, in: HA V/6/II, Dezember 1959: Bericht eines GI; ebd., Bl. 14. Zu seiner NS-Vergangenheit gab es eine öffentliche Debatte, an der »Die Zeit« und auch Fritz J. Raddatz beteiligt waren. 337  Schreiben von Girnus an Hartke vom 9.9.1958; BStU, MfS, AOPK 340/74, Bl. 20. 338  (1898–1965). Kommunist. 339  Vgl. Schreiben von Forgbert an Girnus vom 4.12.1958; BStU, MfS, AOPK 340/74, Bl. 21.

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Philosophie und Naturwissenschaft zu verknüpfen. Er habe »destruktive Veranstaltungen« durchgeführt, auf denen er philosophische Probleme der Speziellen und Allgemeinen Relativitätstheorie, der Quantenmechanik und der modernen Energetik behandelt habe. Er sei der erste am Institut gewesen, dem das Verdienst zustehe, die Bedeutung der Kybernetik erkannt zu haben. Kurz, man sei mit ihm zufrieden gewesen. Erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU sei es zu »monatelangen Auseinandersetzungen« mit ihm gekommen.340 Zwei Linien, der Kampf gegen den Revisionismus und die Überwindung des Dogmatismus, seien jene Aufgaben am Institut gewesen, von denen Herneck sich lediglich der zweiten gestellt habe. Ohne mit der im Institut befindlichen revisionistischen Gruppe organisationell verbunden zu sein, habe er sie durch seine Vorträge unterstützt, insbesondere durch die Wertschätzung von Naturwissenschaftlern, die Lenin in seinem Werk »Materialismus und Empiriokritizismus« kritisiert habe. Nicht zuletzt über den Sonntag und das Neuen Deutschland habe er zum Überdenken der Einschätzungen zu Mach, Ostwald und anderen aufgerufen. Erwähnung fand auch ein Artikel Hernecks in den Physikalischen Blättern von 1959341 und die Entgegnung von Michail E. Omeljanowski in der Nr. 6 von Woprosi Filosofij von 1960. Er habe bestritten, dass die Erfolge der sowjetischen Wissenschaft auf die Anwendung des dialektischen Materialismus zurückzuführen seien. Wo dies versucht wurde, habe es zu Dogmatismus und Unwissenschaftlichkeit geführt wie im Falle der Zellentheorie Olga B. Lepeschinskajas oder der »neuen Arttheorie« Trofim D.  Lyssenkos. Dies seien nicht die einzigen Entgleisungen Hernecks, die seine Blindheit »für die damalige Situation« zum Ausdruck brachten. Letztlich würden die Studenten von ihm desorientiert, »negative Elemente« hätten sich mit »demonstrativem Beifall« hervorgetan. In der westdeutschen Presse sei er gelobt worden. Havemann, der für ihn ein Vorbild hätte sein können, sei er nicht gefolgt. Beispielsweise habe er in der Frage der Unendlichkeit der Welt »für einen Marxisten unhaltbare Auffassungen« vertreten und ständig eine »schöpferisch-kritische Weiterentwicklung der marxistischen Philosophie« gefordert, dies aber nicht selbst geleistet, da er sich den Auffassungen Machs angeschlossen und den »proletarischen Klassenkampf« aufgegeben habe.342 Herneck besaß eine eigene, frühe Liebe zu Denkern der Physik, vielleicht fand gerade dieser Impuls für die Schönheit des Denkens in Havemann fruchtbaren Boden. Er konnte auf eine umfangreiche Publikationstätigkeit von 1953 bis 1967 verweisen (exakt 100 Positionen),343 zudem hielt er zwölf Rundfunkvorträge.344 Aus einem IM-Bericht von 1972 geht hervor, dass er 1956 bei Georg Klaus am Institut für Philosophie der HU Berlin im Gefolge Havemanns an einem wissenschaftlichen Streitgespräch habe teilnehmen wollen, beide aber demonstrativ den Saal verlassen 340  Heuer, Kurt: Beurteilung Hernecks; ebd., Bl. 28–31, hier 28. 341  Vgl. Herneck, Friedrich: Zu einem Brief Albert Einsteins an Ernst Mach, in: Physikalische Blätter 15(1959)12, S. 563 f. 342  Heuer: Beurteilung Hernecks; BStU, MfS, AOPK 340/74, Bl. 29 f. 343  Veröffentlichungen von 1953 bis 1967; ebd., Bl. 39–45. 344  Wissenschaftliche Vorträge im Rundfunk von 1954 bis 1960; ebd., Bl. 46.

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hätten. Havemann hatte zuvor protestiert, weil er in der DDR nicht richtig wissenschaftlich diskutieren könne.345 Der Tagesspiegel schrieb am 19. Dezember 1957 unter der Überschrift »Der philosophische Opportunist«, dass die »Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Intelligenz der SED, die mit dem XX. Parteitag der sowjetischen Kommunisten ausbrachen«, immer noch nicht überwunden seien. Das Blatt zitierte das Neue Deutschland vom Vortag, wonach Herneck »in nächster Nähe der Ideologen der imperialistischen Bourgeoisie« stehe. Das SED-Blatt hatte behauptet, dass Herneck in seinen Vorträgen Parteifunktionäre als Buchstabengelehrte, Scholastiker und Flohknacker bezeichnet habe.346 Tatsächlich hatte es die SED für notwendig erachtet, großformatig gegen Herneck zu polemisieren. Heinrich Taut347, stellvertretender Direktor des Instituts für Gesellschaftswissenschaften, schrieb in seinem Artikel unter der Überschrift »Marxistische Philosophie ist unvereinbar mit revisionistischen Auffassungen« im Neuen Deutschland vom 18. Dezember 1957, dass Herneck an der HU Berlin seit dem XX. Parteitag der KPdSU einen erbitterten Kampf gegen den Personenkult und Dogmatismus führe, die grundsätzlich feindliche bürgerliche Ideologie des Revisionismus verkenne und unterschätze. Sein Artikel bediente sich der damals weit verbreiteten Tonart der Verunglimpfung, Unterstellung falscher Tatsachen und Beleidigung. Das Urteil jedenfalls war vernichtend: Hernecks (angebliche)  Behauptung, der dialektische Materialismus sei eine bloße Forschungsmethode, sah Taut als Reinkultur der »Methodologie einer flachen, eklektischen und positivistischen ›naturwissenschaftlichen Zubereitung‹ der marxistischen Philosophie«. Ferner trenne er die Wissenschaft von der Politik. Selbst mit dem Rundfunk der DDR ging er ins Gericht, der schließlich verantwortlich sei, dass Herneck seine revisionistischen Äußerungen lauthals verbreiten könne: »Wo ist hier die Verantwortung unserer Rundfunkorgane?« Die Palette seiner Auslassungen in Zeitschriften seien in bürgerlicher Manier geschrieben, versehen mit einem marxistischen Mäntelchen, in »flachster empiristischer Weise ›Lebensbeschreibungen‹« würden einzelne Forscher dargestellt. Wie unsachlich der Artikel war, zeigt die Titulierung des Philosophen Karl Jaspers als subjektiven Idealisten und NATO-Existenzialisten.348 Eine spätere, in diesem Zusammenhang gegen Herneck eröffnete Operative Personenkontrolle (OPK) von 1971, wurde am 22. November 1973 geschlossen. Eine feindliche Tätigkeit konnte nicht nachgewiesen werden.349 345  Vgl. HA XX/2 vom 10.3.1972: Bericht von »Günter Weiß« am 9.3.1972; ebd., Bl. 57–61, hier 57. 346  Vgl. Der philosophische Opportunist. Ost-Berliner Soziologen-Fehde, in: Der Tagesspiegel vom 19.12.1957, S. 4. 347  (1907–1995). Marxist. 348  Taut, Heinrich: Marxistische Philosophie ist unvereinbar mit revisionistischen Auffassungen. Bemerkungen zu den Ansichten des Dozenten Dr. F. Herneck, in: Neues Deutschland vom 18.12.1957, S. 4. 349  Vgl. HA XX/2 vom 22.11.1973: Abverfügung zur Archivierung; BStU, MfS, AOPK 340/74, Bl. 88.

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Die Reorganisation der SED-Parteiorganisation an der HU Berlin stand mit dem Problem »Herneck« indirekt in Zusammenhang. Die Ausführungen (vermutlich des Parteisekretärs) zum Parteijahr lesen sich wie eine einzige Philippika gegen Herneck, wenn von der »Einschleusung revisionistischer, bürgerlich-liberaler und anderer reaktionärer Anschauungen« die Rede ist. Er polemisierte gegen alles der SED querliegende, also gegen Friedrich, genannt Fritz Behrens350, Arne Benary351, Ernst Bloch352, gegen den »Aufbau-Verlag«, den Sonntag, gegen die Zeitschrift für Philosophie, den Jakobinerklub der Philosophen, gegen die Donnerstag-Zusammenkünfte im Kulturbund, gegen den Zehnerrat der Studenten etc.353 Der Redner: »Ich lebte lange in der Sowjetunion«, für ihn sei »der Gen[osse] Stalin das Vorbild, der große Erzieher«. Zwar habe er auch Mängel und Fehler gesehen, die auf Stalin zurückgingen, habe dies aber wie andere Genossen, nicht gewusst. Denn »wir alle wussten, dass die Partei an Ort und Stelle solche Fehler ausbesserte. Die Partei war stärker als der Gen[osse] Stalin.« Viele Genossen des Grundstudiums hätten »jede klare Orientierung« nach der Rede Nikita S. Chruschtschows verloren.354 Die Institutsleitung wolle sich nach den Ungarn-Ereignissen der Gefahren bewusst gewesen sein, jedenfalls mobilisierte sie 80 Genossen, die sofort bereit gewesen wären, die Waffe zu ergreifen. Namentlich genannt wurde u. a. Herneck, der sich nicht »offen, klar und allen sichtbar auf allen Versammlungen Aktivtagungen, Beratungen usw. hinter die Politik der Partei gestellt« habe.355 Im Lehrkörper finde sich keiner, der »warnend seine Stimme gegen« die »Politik der Trennung von Wissenschaft und Politik« erhoben habe.356 Herneck grenze sich »nicht genügend schroff vom Positivismus« ab. Vor allem folge er nicht der vernichtenden Kritik Wladimir I. Lenins am Positivismus: »Die Philosophie des Naturforschers Mach verhält sich zur Naturwissenschaft wie der Kuss des Christen Judas zu Christus«.357 Ein Artikel zu einer Selbstbiografie Machs für die Universitätszeitschrift soll »ähnliche Schwächen« aufgewiesen haben und sei demzufolge von Klaus »mit Recht abgelehnt« worden.358 Im Institut für Gesellschaftswissenschaften der HU Berlin kam in der Zeit vom 18. bis 23. November 1957 eine »Brigade des Staatssekretärs für Hochschulwesen« zur Kontrolle der Situation zum Einsatz. Die Kontrolle beschränkte sich dabei auf die beiden Abteilungen der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen und der Philosophischen Fakultät.359 Der Einsatz der MfS-Untersuchungsbrigade ging von 350  (1909–1980). Wirtschaftswissenschaftler. 351  (1929–1971). Wirtschaftswissenschaftler. 352  (1885–1977). Philosoph. 353  Vgl. Rede zum SED-Studienjahr 1957/58 vom 19.10.1957; BStU, MfS, AOPK  691/58, Bd. 1, Bl. 123–205, hier 142 f. 354  Ebd., Bl. 149 f. 355  Ebd., Bl. 163 f. 356  Ebd., Bl. 174 f. 357  Ebd., Bl. 193. Zitat in: Lenin, Wladimir I.: Materialismus und Empiriokritizismus. Berlin 1949, S. 353. 358  Ebd., Bl. 194. 359  Vgl. Bericht zum Brigadeeinsatz; ebd., Bl. 206–226 a, hier 206.

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Erkenntnissen aus, wonach eine oppositionelle Gruppe an der Universität existiere. In der Folge der operativen Bearbeitung und des Brigadeeinsatzes gab es eine ganze Reihe von Maßnahmen und Repressionen seitens des MfS, der SED und des Lehrkörpers. Dem Zwang zu Selbstbezichtigungen folgten jedenfalls einige Genossen nicht, unter ihnen auch Herneck, der sich in dieser Frage »besonders hartnäckig« verhalten haben soll: »Mit ihm wird es besonders schwer sein, denn er vertritt schon seit längerer Zeit revisionistische Auffassungen«. Er »entwickele« an der HU Berlin eine »parteifeindliche Plattform«. Aufgrund seiner breiten publizistischen Tätigkeit bestehe »die Gefahr, dass sich seine ›Theorien‹ nachteilig auf immer größere Kreise auswirken«.360 Zu den Selbstbezichtigungen der anderen hieß es beispielsweise über einen Kollegen, dass er vor dem Brigadeeinsatz die Cliquen-Bildung »nicht erkannt« habe, erst danach seien »ihm die Augen geöffnet worden«. Er habe »unparteimäßig gehandelt«, es sei »eine Loslösung von der Partei« gewesen.361 Und ein anderer: »Es stimmt, es war schwer, mit mir zu diskutieren.« Ich »war unfähig, mich zu fangen, innerlich stand ein Bremsklotz da, ein ›Aber‹ stand immer wieder vor mir. Es war ein cliquenmäßiges Verhalten, ein liberalistisches, es stimmt«. »Jetzt dämmerts bei mir langsam. Ich habe ungeheuer gelernt von Chruschtschow«. Und weiter: »Die Partei hat doch richtig gehandelt.« Schließlich sei es »eine großartige Sache, dass die Partei stärker ist als der Einzelne«.362 Und natürlich Recht hat, denn »Der einzelne kann vernichtet werden / Aber die Partei kann nicht vernichtet werden« dichtete einst Bertolt Brecht in seinem »Lob der Partei«: »Der einzelne hat zwei Augen Die Partei hat tausend Augen. Die Partei sieht sieben Staaten Der einzelne sieht eine Stadt. Der einzelne hat seine Stunde Aber die Partei hat viele Stunden. Der einzelne kann vernichtet werden Aber die Partei kann nicht vernichtet werden Denn sie ist der Vortrupp der Massen Und führt ihren Kampf Mit den Methoden der Klassiker, welche geschöpft sind Aus der Kenntnis der Wirklichkeit.«363

Auch Louis Fürnberg364 gab in seiner »Hymne auf die Partei« von 1950 der Partei »immer Recht«. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU wurde die ursprüngliche Verszeile in der dreifach wiederholten Refrainstrophe »So, aus Lenin’schem Geist, 360  Bericht über die politisch-ideologische Situation im Institut für Gesellschaftswissenschaften der HU Berlin vom 5.12.1957; ebd., Bl. 231–237, hier 231 f. 361  Ebd., Bl. 233 f. 362  Ebd., Bl. 236 f. 363  Brecht, Bertolt: Gedichte. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11. Berlin, Weimar 1988, S. 234. 364  (1909–1957). Kommunistischer Schriftsteller.

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wächst, von Stalin geschweißt, die Partei« 1956 von ihm in »So aus Lenin’schem Geist wächst zusammengeschweißt, die Partei« geändert. Die betreffende Strophe beginnt mit dem vielzitierten Anfangsvers »Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!«365 Dass solch eine plumpe Formulierung, die zumal nur als Diskussionsaufhänger genutzt worden war, noch 1982 an einer großen Universität der DDR zu erheblichen Konsequenzen für den Betreffenden führen konnte, spricht für eine hohe Kontinuität in der ideologisch totalitär formierten DDR-Gesellschaft. Joachim Kahl hat 2005 über diese Liedzeile eine kritische Analyse veröffentlicht.366 Die ideologische Aufsicht war allumfassend. Bei dem Aufsatz Steenbecks mit dem Titel »Menschsein in der Welt von morgen« handelt es sich um einen geplanten Beitrag für das Jahresbuch der URANIA Wissenschaft und Menschheit. Für ihn bedeutete dieser Aufsatz Ärger. Ein Rezensent von der Sektion Marxismus-Leninismus der Friedrich-Schiller-Universität Jena akzeptierte nicht, dass die Jungen heute kritischer seien als die Alten früher: »Waren nicht im Kapitalismus die jungen Kämpfer der Arbeiterbewegung auch recht kritisch (nicht kritizistisch!) und vielleicht kritischer als mancher unserer heutigen Studenten!« Und dann kam genau jener Satz der DDR-typischen, weil ideologiedurchtränkten Schulmeisterei in Anschlag: »In diesem Sinne würde ich auch nicht sagen wollen, dass der Jugend das Recht eines kritischen Verhaltens eingeräumt werden sollte.«367 Der Kritiker weiter: »Die Welt, an der wir mitgewirkt haben und mitwirken, sollte bei den Jungen auch nicht den Zug der Fragwürdigkeit annehmen. Wir überlassen ja der nächsten Generation wirklich eine ›heile‹ Welt – sofern wir unsere Welt meinen, die wir geformt und zugelassen haben.« Steenbeck hatte geschrieben, »dass es nicht einfach« für die Jugend sei, »sich in der Welt von morgen zurechtzufinden«, worauf der SED-Zensor meinte, dass »es in der Zukunft zugleich leichter sein wird als in der Vergangenheit«.368 Ihm missfiel, dass Steenbeck den Menschen abstrakt nehme, er vermisse die Benennung des Unterschieds zwischen Sozialismus und Kapitalismus: »Es kommt hinzu, dass der Leser den Begriff ›Sozialismus‹ – wenn ich mich nicht irre – erstmalig auf Seite 21 findet.«369 Ferner missfiel ihm, dass Steenbeck die Frage nach dem Sinn des Lebens stelle, dass es überhaupt diese Frage gebe. »Wir versuchen« doch, so der Jenenser, »in unseren Lehrveranstaltungen die Studenten davon zu überzeugen, dass wir eine Antwort darauf zu geben vermögen.«370 Eine zweite kritische Lesung stammte vom 23. Juni 1972, geschrieben von einem Fachmann, vermutlich Genetiker, der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften. Diese Kritik war 365  Fürnberg, Louis: Echo von Links. Kämpfende Kunst. Berlin 1959, S. 253 f. 366  Kahl, Joachim: »Die Partei, die Partei, die hat immer Recht …« Kritik der marxistisch-leninistischen Partei. Eine ideologiekritische Analyse des Louis Fürnberg’schen »Liedes von der Partei«, Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg (Hrsg.): Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Sonderheft 10/2005, S. 88–98. 367  Schreiben an Steenbeck vom 13.1.1972; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 82, S. 1–6, hier 2. 368  Ebd., S. 7. 369  Ebd., S. 4. 370  Ebd., S. 5 f.

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sachlich gehalten und enthielt keinerlei ideologische Anmerkungen.371 Ein drittes kritisches Schreiben zum Aufsatz stammte vom Cheflektor des URANIA-Verlages, Leber, vom 24. Januar 1972. Es geriet zu einem höchst unerfreulichen Erlebnis Steenbecks mit der DDR-Zensur. Die einzelnen Kritikpunkte Lebers sind überliefert. Er attestierte Steenbeck ein solch »unzweideutiges Bekenntnis zum Sozialismus«, dass man »es im Kontext der Arbeit nicht immer dort genügend« erkenne, »wo es für den Aussagewert vonnöten« sei. Ihm sei es daher wichtig zu sagen, dass Steenbeck »präzise an Beispielen« darlegen müsse, »was der Sozialismus im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft bereits heute an qualitativ Neuem in die Entwicklung des Menschen gebracht« habe. Der Ton ist eine einzige anmaßende Belehrung; Leber: »Am Beginn der Arbeit« fänden »sich Überlegungen, die beim Leser die Annahme eines Generationsproblems oder -konfliktes aufkommen lassen können. Aus den Worten ›meine Generation‹ und ›wie wir sie (die Welt) geformt oder doch zugelassen haben‹, resultiert eine unzulässige Verallgemeinerung. Damit werden Klassenpositionen, die auch innerhalb einer Generation bestehen, nicht deutlich; denn wohl nicht jeder dieser Generation hat die Welt so geformt oder so zugelassen.« Weber riet Steenbeck »Korrekturen dringend« an. »Die Formulierung«, so Weber, »›die kommende Welt wird nicht viel ruhiger sein als die, wie wir sie erlebten‹« sei schlicht »missverständlich. Auch der Sozialismus« sei »kein Spaziergang«. Und weiter Weber: »Für den Fall einer notwendigen militärischen Verteidigung des Sozialismus ist es auch nicht opportun, von einem ›universalen Selbstmord eines großen Krieges‹ zu sprechen.«372 Auch gebe Steenbeck »eine falsche Verallgemeinerung von Auffassungen junger Menschen im Kapitalismus und Sozialismus«. Es sei »vielmehr zutreffend, dass auf die Mehrheit junger Menschen bei uns solche Fragestellungen nicht zutreffen« würden. Und weiter: »Die Passage über den Sinn des Lebens […] würde gewinnen, wenn das Suchen nach Antwort einen gesellschaftlichen Bezug erhält, denn der Marxismus-Leninismus gibt eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, der sich im Sozialismus / Kommunismus im hohen Maße erfüllt.«373 Steenbeck schrieb am 21. August 1972 an Irmgard Luft, Lektorin im ­URANIA-​ Verlag. Er schickte ihr erstens das von ihr »geschriebene Exemplar« seines Aufsatzes »Menschsein in der Welt von morgen« (das ist das Exemplar II), »allerdings mit einigen nicht unwesentlichen Korrekturen«. Zweitens schickte er ihr »noch einmal das von« ihm »vorgelegte Exemplar zum Vergleich« (das ist Exemplar I) zu. Steenbeck bestand erstens auf seinen Titel und nicht auf »Menschen in der Welt von morgen«. Luft hatte ferner »zwei Sätze gestrichen und durch einen neuen Text ersetzt«. Er habe zwar nichts gegen die Streichung, wohl aber gegen die Ersatzsätze, denn die seien im »perfektioniertem Zeitungsdeutsch« geschrieben und bedeuteten für ihn 371  Vgl. Schreiben aus der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (AdL) vom 23.6.1972; ebd., S. 1–3. 372  Schreiben von Leber an Steenbeck vom 24.1.1972; ebd., S. 1–4, hier 1 f. 373  Ebd., S. 4.

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»einen glatten Stilbruch«, er habe demzufolge »diesen Teil wieder herausgestrichen«. Auch habe Luft elf Zeilen gestrichen, wodurch »der Begriff einer ›negativen Auslese‹« fortgefallen sei. Er bedauere dies, »weil wir uns unerwünschte Dinge nicht durch Ignorieren aus der Welt schaffen«.374 Ferner: »Ich bin zwar sogar froh darüber, dass der Begriff ›Selbstmord der Gesellschaft‹ in diesem Text herausfällt, denn diese absichtlich schockierende Formulierung ist der Kernpunkt meines Aufsatzes in der ›Zeitschrift für Philosophie‹. Ich bin aber keineswegs bereit, hier in der Sache einer weichen Formulierung zuzustimmen. Im Grunde genommen ist gerade das das Zentrum meines ganzen Aufsatzes.« Er hoffe, »dass die ungewöhnlich langwierige Diskussion über meinen Aufsatz nun endlich als abgeschlossen gelten« könne.375 Die Geschichte wollte kein Ende finden. Steenbeck übertrug schließlich einem Mitarbeiter, Leber Klartext zukommen zu lassen. Der schrieb am 9. Oktober 1972: »Herr Professor Steenbeck ist nicht gewillt, die nun schon über Gebühr lange Auseinandersetzung mit Ihrem Verlag fortzusetzen.« Steenbeck möchte durch weitere Auseinandersetzungen das Erscheinen des Buches nicht noch um ein weiteres Jahr verzögern. Er möge nun über Nichtdruck oder Druck entscheiden. Seine Einwände könne Steenbeck »keineswegs« akzeptieren, da im Aufsatz »eindeutig gesagt« werde, »dass moralische Werte in der Klassengesellschaft klassenbedingt« seien. »Es behauptet also niemand, alle Menschen einer ganzen Gesellschaft können in einen negativen Einfluss geraten.« Und weiter: »Professor Steenbeck hat wesentliche Teile seines Aufsatzes, darunter auch den von Ihnen monierten Sachverhalt, am vergangenen Dienstag auf einem Symposium in Kühlungsborn vor namhaften Philosophen, Gesellschaftswissenschaftlern und Molekularbiologen«, übrigens auch »in Anwesenheit von Herrn Professor Dubinin mit großem Erfolg vorgetragen«. Ein Aufsatz zu dieser Thematik sei zudem in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erschienen. Auch habe er mit namhaften Fachwissenschaftlern den Artikel kritisch durchgesprochen, »Einwände« der Art von Leber seien »bisher jedoch einmalig geblieben. Vielleicht hilft Ihnen das bei Ihrer Entscheidung«.376 Allein der Hinweis, dass der Aufsatz in der DZfPh bereits erschienen sei, stimmte nicht. Veröffentlicht wurde er erst im Juli-Heft des nachfolgenden Jahres, und zwar zusammen mit Werner Scheler, dem späteren Präsidenten der AdW, unter dem Titel: Essay über den Einfluss von genetischem und gesellschaftlichem Erbe auf das Verhältnis Mensch – Gesellschaft. Es ist ein profund gefasster Beitrag, der alle seine Intentionen, über die er mit Leber stritt, enthält. Auch die These vom Selbstmord, nach der es der Gesellschaft nicht gelingt, die genetisch veranlagte Aggression zu bändigen: »Ein antiautoritäres Erziehungsziel, das alle – also auch gesellschaftsdestruktive – Anlagen im Menschen sich ungehemmt entwickeln lassen will, bindet nicht Persönlichkeiten, sondern bereitet den Selbstmord der Gesellschaft und ihrer Kultur vor.«377 374  Schreiben von Steenbeck an Luft vom 21.8.1972; ebd., S. 1–4, hier 1 f. 375  Ebd., S. 4. 376  Schreiben von Schulz an Leber vom 9.10.1972; ebd., S. 1 f. 377  Steenbeck, Max / Scheler, Werner: Essay über den Einfluss von genetischem und gesellschaftlichem Erbe auf das Verhältnis Mensch – Gesellschaft, in: DZfPh 21(1973)7, S. 781–798, hier 797.

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Leber hatte zuvor am 28. September Steenbeck zwar mitgeteilt, dass alle seine Wünsche akzeptiert worden seien. Aber es bleibe doch noch ein Problem, das im Verlag zu »gründlichen Überlegungen« geführt habe. Es gehe eben um die Reinheit der marxistisch-leninistischen Lehre, nämlich in der Frage der positiven und negativen Anlagen im Menschen. Leider könnten die Leser im Zusammenhang mit der Zeit des Faschismus »zu der Annahme« gelangen, »dass eigentlich in jedem Menschen von Natur aus ein Stück Faschist stecke, ein Aspekt, der die klassenbewussten Kräfte der Arbeiterklasse außer Acht« lasse. »Es ist einfach nicht möglich, dass eine ganze Gesellschaft unter diesen negativen Einfluss« gerate. »In der kommunistischen Gesellschaft ist diese Frage u.  E. gegenstandslos. Teilen Sie uns bitte mit, ob Sie sich mit unseren Überlegungen einverstanden erklären können.« Daraufhin hatte Steenbeck telefonisch intervenieren lassen. Seine Geduld war am Ende. Leber ruderte zurück: Die Formulierung der Überschrift sei ein Versehen gewesen. Das Originalexemplar bekomme Steenbeck natürlich »wunschgemäß« zurück, »obwohl wir die redigierten Fassungen sonst immer bei uns aufbewahren«.378 Steenbecks Beitrag erschien 1973.379 An vielen Stellen der Untersuchung zeigt sich ein Vokabular des Staatssicherheitsdienstes, das bolschewistischen Ursprungs ist. Ein Umgangston, der nicht alleiniges Privileg von KGB und MfS war, sondern in erster Linie von den kommunistischen Parteien leninistischer Prägung herrührte. Es ist dies der Ton Lenins, der eine krankhaft anmutende Rhetorik bevorzugte, der sich in Windeseile in halbintellektuelle Kreise hineinkopierte sowie sein Unwesen bereits im Kinder- und Jugendbereich trieb. Ein Ton, den wir bei Strauss feststellten. Ein Ton, der nicht an Karl Marx, Friedrich Engels oder an den Rhetor der Arbeiterklasse, Ferdinand Lassalle, erinnert. Es war Lenins Ton. Georg von Rauch hat sehr schön herausgearbeitet, dass dies ein, wenn nicht gar der Grund dafür war, dass das einst passable Verhältnis zwischen Lenin und Maxim Gorki zerbrach. Man könne »nicht ›mit Handschuhen und manikürten Fingernägeln‹«, so Rauch Lenin zitierend, eine Revolution machen. »Die Partei sei ›kein Mädchenpensionat‹, und Parteimitglieder dürften nicht mit dem beschränkten Maßstab bürgerlicher Moral gemessen werden«.380 Wer so redete, wollte nicht mit anderen ins Gespräch kommen. Bei den Natur- und Technikwissenschaftlern fand sich im Unterschied zu ihren geisteswissenschaftlichen Kollegen oft nicht jener Anklagegrund, den die SED und das MfS für ihren ideologischen Kampf so dringend benötigten. Das folgende Beispiel aus der Germanistik soll die Systematik dieser Seite der DDR-Geschichte vervollständigen. Darüber hinaus besitzt es in einer spezifischen Weise mit dem für die SED heißen Eisen »Goethe« eine symbolische Bedeutung. An Goethe kam 378  Schreiben von Leber an Steenbeck vom 28.9.1972; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 82, S. 1 f., hier 2. 379  Vgl. Steenbeck, Max: Menschsein in der Welt von morgen, in: Wissenschaft und Menschheit, Bd. 9. Leipzig, Jena, Berlin 1973, S. 85–101. 380  Rauch, Georg von: Lenin. Grundlegung des Sowjetsystems. Göttingen, Berlin, Frankfurt / M. 1958, S.  38.

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Abb. 8: Max Steenbeck (in der Mitte) auf dem VI. Deutschen Schriftstellerkongress; zu seiner Rechten Wolfgang Heinz, zu seiner Linken Günther Drefahl, Mai 1969

niemand vorbei, die SED tat, was sie in solchen Fällen immer tat, sie vereinnahmte ihn. Deren Gegner aber bewehrten sich gern mit Goethe, was besonders nahelag, da er auch Naturwissenschaftler war. Der Fall Hildegard Emmel Die Kaderabteilung der Ernst-Moritz-Arndt Universität (EMAU) Greifswald gab am 29. Juli 1960 zu Hildegard Emmel eine kurze Einschätzung: Wohnanschrift, erlernter Beruf, Studienrätin, Dienststelle: Institut für Deutsche Philologie, Dienststellung: Professor mit Lehrauftrag; und: beurlaubt mit vollen Bezügen seit dem 1. September 1959. Der Grund der Beurlaubung waren »wissenschaftliche Aus­ einandersetzungen« gewesen. Zum Gegenstand dieser Auseinandersetzungen wurde ihre angeblich unwissenschaftliche Anschauung, niedergelegt in ihrem Buch Goethes Weltklage,381 erhoben. Sie soll nicht die »notwendige wissenschaftliche und politische Qualifikation« besessen haben, »um Deutschlehrer für die sozialistische Praxis« ausbilden zu können. Sie habe Verbindung zum Bischof von Greifswald gehabt und 381  Vgl. Emmel, Hildegard: Weltklage und Bild der Welt in der Dichtung Goethes. Weimar 1957.

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Vorträge vor der Jungen Gemeinde gehalten. Sie soll es »verstanden« haben, »ihre Studenten von den fortschrittlichen Studenten zu distanzieren«.382 Emmel studierte an den Universitäten Frankfurt / M. und Bonn Deutsch, Geschichte, evangelische Theologie, Philosophie und Volkskunde. 1935 wurde sie promoviert. 1938 bis 1946 war sie Lehrerin an Höheren Schulen, von 1946 bis 1949 dann an der Universität Hamburg wissenschaftlich tätig. 1950 erhielt sie eine Anstellung an der Akademie der Wissenschaften als Mitarbeiterin am Goethewörterbuch. 1951 habilitierte sie an der Universität Rostock über Mörikes Peregrinadichtung. Der Verfasser der Greifswalder Kadereinschätzung betonte, dass diese Arbeit zwar fachlich gut sei, auch beweise sie »großes Einfühlungsvermögen in Dichtung«, jedoch »durchschaue« sie »die Unwissenschaftlichkeit der bürgerlich-idealistischen Betrachtungsweise noch nicht genügend«. Deshalb »sollte die Berufung von Dr. ­Emmel nach Rostock von uns aus erst dann erfolgen, wenn für sie am dortigen Germanistischen Institut die Möglichkeit gegeben sei, sich durch die Diskussion mit einem marxistischen Germanisten wissenschaftlich weiterzuentwickeln. Dies sei jetzt durch die Berufung von Herrn [Walter] Epping, dem bisherigen Direktor der Arbeiter- und Bauern-Fakultät Dresden, nach Rostock der Fall.«383 Zunächst wurde eine Wahrnehmungs-Dozentur beantragt. Das Staatssekretariat für Hochschulwesen (SfH) gab der Universität Rostock mit Schreiben vom 5. November 1951 Bescheid, dass sie ab dem 1. November zunächst mit der Wahrnehmung beauftragt worden sei.384 Emmel erhielt zeitgleich eine Benachrichtigung vom Hauptabteilungsleiter und Stellvertreter des Staatsekretärs Hans Goßens zur »Wahrnehmung einer Dozentur für Deutsche Literaturgeschichte«; Zitat: »Ich knüpfe hieran die Erwartung, dass Sie Ihre Aufgaben in tiefem Verantwortungsbewusstsein gegenüber der DDR zuverlässig erfüllen und das Vertrauen rechtfertigen, welches Ihnen hierdurch bewiesen wird.«385 Der Dekan der Philosophischen Fakultät protestierte umgehend. »Diese Mitteilung« des Staatssekretariats »überrascht insofern«, schrieb er, »als nach der Habilitation« von Emmel »von der Philosophischen Fakultät am 25. Juni 1951 ein Antrag auf Übertragung einer Dozentur gestellt worden ist und auch in der vorläufigen Mitteilung vom 10. September 1951 […] ausdrücklich von einem Berufungsantrag auf eine Dozentur und der voraussichtlichen Zustimmung die Rede ist. Ich bitte, die Angelegenheit dahin klären zu wollen, dass Fräulein Dr. Emmel sofort mit der Dozentur beauftragt wird, da es sich bei ihr um eine wissenschaftlich ausgewiesene Lehrkraft handelt, die sich auch in ihrer Lehrtätigkeit gut angelassen hat.«386

382  EMAU, Kaderabt., vom 29.7.1960: Meldung; BStU, MfS, AS 1484/67, Bl. 1 f. 383  Staatssekretariat für Hochschulwesen (SfH), Abt. Gesellschafts- und Sprachwissenschaften, vom 15.9.1951: Fachliche Stellungnahme; ebd., Bl. 55 f. 384  Vgl. Wiebach an den Rektor der Universität Rostock vom 5.11.1951; ebd., Bl. 63. 385  Schreiben an Emmel vom 5.11.1951; ebd., Bl. 64. 386  Schreiben von Brunner an das SfH vom 17.11.1951; ebd., Bl. 65.

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Der Einspruch hatte zunächst keinen Erfolg.387 Erst mit Schreiben vom 30. April 1952 zeigte sich das Staatssekretariat »in Verfolgung der Arbeit von Fräulein Dr. ­Emmel nunmehr überzeugt«, dass sie »sich die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tätigkeit als Universitätsdozentin erworben« habe.388 Wieder ist es Goßens, der den Text der Ernennung lieferte: »Ich spreche diese Ernennung aus in der Erwartung, dass die Ernannte ihre Aufgaben in tiefem Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik zuverlässig erfüllt und das Vertrauen rechtfertigt, welches ihr hierdurch bewiesen wird.«389 Der Kehrtwende vorangegangen war der Entwurf eines Referenten auf Bitten Goßens (»da der Rektor für sie interveniert hat«).390 Das Ernennungsdokument des Staatssekretariats stammt vom 29. April, es ist von Emmel am 9. Mai unterschrieben worden.391 Der Kaderleiter der Universität, Krebs, teilte dem Staatssekretariat mit Schreiben vom 23. November 1954 mit, dass die Philosophische Fakultät beabsichtige, Emmel zum Professor mit vollem Lehrauftrag zu berufen. Er aber sei strikt dagegen: »Wir teilen hierdurch mit, dass wir mit der Berufung Obengenannter für Rostock nicht einverstanden sind.« Wer auch immer den handschriftlichen Vermerk auf diesen Zettel (A-5-Format) festgehalten haben mochte, es ist eine Momentaufnahme aus dem Szenario ihrer beabsichtigten Entfernung: Wenn wir auch unsere Zustimmung zur Aufnahme in den Fakultätsrat gegeben haben, so steht es dort sinngemäß, in »Zukunft muss jedoch eine Ernennung oder Berufung von Frl. Dr. Emmel verhindert werden, da sie nicht den Anforderungen, die an einen Hochschullehrer« gestellt seien, entspreche.392 Der Dekan der Philosophischen Fakultät der Rostocker Universität, Hartke, schlug am 15. November 1954 vor, »als Alternative« zu einem anderen Vorschlag, »die Berufung von Frau Dr. Hildegard Emmel zum Professor mit vollem Lehrauftrag für Deutsche Literaturgeschichte mit Wirkung vom 1. Januar 1955« vorzunehmen; Hartke: »Ihre Vorlesungen«, heißt es, »zeichnen sich durch klaren Aufbau, reichen Inhalt und fesselnden Vortrag aus. In den Übungen versteht sie es, die Aufmerksamkeit auf wesentliche Züge hinzulenken, durch geschickte Fragen die Mitarbeit anzuregen und die Freude an dem Wachsen der eigenen Fähigkeit zu wecken. Auf diesem Wege gelingt es, den Studierenden eine gründliche methodische Schulung zu geben. Unterstützt wird dieser Lernerfolg durch menschliches Verständnis für ihre Schüler.«393 Krebs denunzierte sie umgehend beim SfH. Er betonte abermals, dass sie »nicht die Voraussetzungen« habe, »um zum Professor mit vollem Lehrauftrag berufen zu werden«. Ihre Studenten würden nicht mit »den fortschrittlichen Studenten« 387  Vgl. Stellv. Abteilungsleiter an den Rektor der Universität Rostock vom 7.1.1952; ebd., Bl. 66. 388  Personalabt. an den Rektor der Universität Rostock vom 30.4.1952; ebd., Bl. 69. 389  Stellv. des Staatssekretärs an Emmel vom 29.4.1952; ebd., Bl. 70. 390  Entwurf in Sachen Emmel; ebd., Bl. 71. 391  Vgl. Ernennungsschreiben für Emmel vom 29.4.1952; ebd., Bl. 72 f. 392  Kaderabt. der Universität Rostock an die Kaderabt. des SfH vom 23.11.1954; ebd., Bl. 82. 393  Hartke an das SfH vom 15.11.1954; ebd., Bl. 85 f., hier 85.

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zusammenarbeiten. Sie stehe überdies »meistens bei irgendwelchen Problemen innerhalb der Fakultät in Opposition«. Auf einer Tagung in Marburg habe sie nicht die Interessen der DDR berücksichtigt. Alfred Kantorowicz394 von der HU Berlin könne hierzu Näheres sagen. »Ihre ganze Haltung« sei »zumindest undurchsichtig«. Sie sei »Rainer-Maria-Rilke-Anhängerin«. »Um fortschrittliche Schriftsteller zu behandeln«, habe »sie keine Zeit«.395 Der Abteilungsleiter der Philosophischen und Theologischen Fakultäten im Staatssekretariat rührte sich erst nach einem Jahr, um mitzuteilen, dass Emmel als Professor für Deutsche Literaturwissenschaften eingesetzt werden könne, obgleich sie »nicht auf dem Boden des dialektischen und historischen Materialismus« stehe. Aufgrund »ihres pädagogischen Könnens« liege »kein Grund vor, den nunmehr vor einem Jahr von der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock gestellten Berufungsantrag abzulehnen«. Doch solle sie nicht mit vollem, sondern nur mit einfachem Lehrauftrag ernannt werden.396 Wohlgemuth, Stellvertreter des Staatssekretärs, übermittelte mit Schreiben vom 4. Januar 1956 dem Rektor der Universität Rostock die Ernennungsurkunde für Emmel. Im Beischreiben heißt es, dass vorgesehen sei, sie »im kommenden Semester mit einem Lehrauftrag an einer anderen Universität einzusetzen«.397 Die Ernennungsurkunde enthält den Text: »Ich spreche diese Ernennung aus in der Erwartung, dass Frau Professor Dr. Emmel die ihr übertragenen Aufgaben in tiefem Verantwortungsbewusstsein gegenüber der DDR zuverlässig erfüllt und das Vertrauen rechtfertigt, welches ihr hierdurch bewiesen wird.«398 Wieder fühlte sich Krebs angegriffen: »Wir bitten um Auskunft, wie es zur Berufung von Frau Dr. Emmel zum Professor mit Lehrauftrag für das Fach Deutsche Literatur und Geschichte [sic!] an der Philosophischen Fakultät der Universität ­Rostock gekommen ist. Wir haben, als die Berufung zur Professur von der Universität beantragt wurde, in unserer Stellungnahme ganz deutlich erklärt, dass wir mit der Berufung für Rostock nicht einverstanden sind. Wir bitten um baldmöglichen Bescheid.«399 Auf einem Notizzettel an einen Kollegen mit Datum vom 18. Februar 1956 ist handschriftlich vermerkt, dass die »Berufung […] nicht abgelehnt werden« konnte, diese aber nicht »nach Rostock« erfolgen würde. Maschinenschriftlich ist am 24. Februar festgehalten worden, dass die Ernennung »vorher« mit dem ZK der SED, der Universitätsparteileitung Rostock sowie dem Rektor und dem Dekan der Philosophischen Fakultät »besprochen« worden sei.400

394  (1899–1979). Literaturwissenschaftler, Schriftsteller. 395  Kaderabt. der Universität Rostock an die Kaderabt. des SfH vom 6.12.1954; ebd., Bl. 87. 396  Vgl. Hausmitteilung der Abt. Philosophische und Theologische Fakultäten an Staatssekretär Harig; ebd., Bl. 89. 397  Schreiben von Wohlgemuth an den Rektor der Universität Rostock vom 4.1.1956; ebd., Bl. 90. 398  Ernennungsurkunde vom 4.1.1956; ebd., Bl. 91. 399  Kaderabt. der Universität Rostock an die Kaderabt. des SfH vom 6.2.1956; ebd., Bl. 92. 400  Notiz vom 18. u. 24.2.1956; ebd., Bl. 93.

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Die Philosophische Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität teilte der Abteilung Philosophische und Theologische Fakultäten im Staatssekretariat mit Schreiben vom 14. April 1956 mit, dass der Rat der Philosophischen Fakultät Greifswald am 4. April einstimmig beschlossen habe, Emmel als Professor mit Lehrauftrag für deutsche Philologie vorzuschlagen. Er verwies auf die positiven Gutachten der Professoren Hermann A. Teuchert401, Hans Mayer, Joachim Müller und Werner Hartke.402 Mit Wirkung vom 1. September wurde Emmel als Professor mit Lehrauftrag für Neuere deutsche Literaturgeschichte an die Philosophische Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität berufen.403 Die Wende geschah: Der Rat der Philosophischen Fakultät hatte »in seiner außerordentlichen Sitzung vom 14. Mai 1958 nach ausführlicher Debatte mit 16 Stimmen bei einer Gegenstimme (Frau Professor Emmel) beschlossen, dem Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen (SHF) zu empfehlen, sie »von der Lehrtätigkeit zu entbinden«, da sie, wie oben zitiert, »nicht über die notwendige wissenschaftliche und politische Qualifikation« verfüge.404 Der Rektor der Universität, Heinrich Borriss, übermittelte am 31. Mai 1958 dem Stellvertreter des Staatssekretariates, Karl Bönninger, das Protokoll der außerordentlichen Ratssitzung. Im Anschreiben verwies der Rektor u. a. auch auf »mehrere Veröffentlichungen, die in der Presse erschienen sind, über die Situation im Institut für Deutsche Philologie der Greifswalder Universität und insbesondere über die Lehr- und Forschungstätigkeit von Frau Professor Emmel«. Borriss bat um Hinweise für eine andere Wirkungsmöglichkeit für Emmel.405 Das Protokoll der außerordentlichen Sitzung des Rates der Philosophischen Fakultät ist tradiert:406 Zunächst erhielt der Sekretär des Deutschen Kulturbundes des Kreises Greifswald Gelegenheit, über die Stellungnahme des Forums Junger Wissenschaftler, »in der das Auftreten von Frau Professor Emmel auf der ihrem Buch Weltklage und Bild der Welt in der Dichtung Goethes gewidmeten Kulturbunddiskussion vom 9. Mai 1958 aufs Schärfste verurteilt« worden war, zu berichten. Die »Leiter des Forums Junger Wissenschaftler« seien »der Ansicht, dass sich das unkritische und hochmütige Ver-

401  (1880–1972). Studium der Klassischen Philologie und der Germanistik an den Universitäten Straßburg und Berlin. Promotion 1907. Professor an der WPU Rostock 1920–1954, zuletzt für Deutsche Sprache und Ältere deutsche Literatur sowie für Niederdeutsche Sprache und Literatur. 402  Vgl. Philosophische Fakultät der EMAU Greifswald an die Abt. Philosophische Fakultäten des SfH vom 14.4.1956; BStU, MfS, AS 1484/67, Bl. 94. 403  Vgl. Stellv. Leiter der HA Lehre und Forschung an den Rektor der WPU Rostock vom 28.8.1956; ebd., Bl. 99. Berufungsurkunde vom 28.8.1956, ausgestellt von Staatssekretär Harig; ebd., Bl. 102. 404  Philosophische Fakultät der EMAU Greifswald an den Leiter der Abt. Philosophische und Theologische Fakultäten des SHF vom 17.5.1958; ebd., Bl. 105. Das SfH wurde im Februar 1958 zum SHF erweitert. 405  Vgl. Schreiben von Borriss an Bönninger vom 31.5.1958; ebd., Bl. 107 f. 406  Vgl. Protokoll der Sitzung des Rates der Philosophischen Fakultät am 14.5.1958; ebd., Bl. 109–117.

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halten von Frau Professor Emmel mit den Pflichten eines Hochschullehrers nicht« vertrage. Hans-Jürgen Geerdts erklärte, dass man »keine deutsche Nationalliteratur lehren« könne, »ohne, wie Frau Professor Emmel dies tue, den Realismusbegriff unberücksichtigt zu lassen. Die grundsätzliche Frage für jeden Wissenschaftler sei: Kritik und Selbstkritik. In den Reihen der SED herrsche intensivste Kritik und Selbstkritik. Frau Professor Emmel irre, wenn sie glaube, dass jede an ihr geübte Kritik von persönlichen Vorurteilen geleitet werde. Auch Goethe habe sich als kollektives Wesen gefühlt.« Werner Krolikowski erklärte, »dass die Arbeiterklasse und die werktätige Bauern­ schaft der Universität den Auftrag erteilt haben, sich in eine sozialistische Bildungs­ stätte zu verwandeln. […] Die Philosophische Fakultät habe eine besondere verantwortungsvolle Funktion bei der Ausbildung von künftigen Lehrern. Dabei könne man die Ideologie der alten Zeit nicht gebrauchen. Jeder Hochschullehrer an der Philosophischen Fakultät müsse sich die Frage stellen: Was bin ich der Arbeiterklasse schuldig? Bei Frau Professor Emmel seien starke reaktionäre Tendenzen aufgetreten, die Forderungen der Grundsatzerklärung des Senats seien von ihr bisher noch nicht beachtet worden. Die Partei sei aber bereit, ihr zu helfen. Allerdings müsse man von ihrer Seite ein Bemühen spüren. Die idealistische Auf‌fassung ihres Goethebuches lasse erkennen, dass sie die Lehren des Marxismus noch nicht begriffen habe. Ein einseitiger pessimistischer Grundzug durchziehe das ganze Buch. Die Klassenverhältnisse seien völlig vernachlässigt. Das Schaffen Goethes könne aber nur als Widerspiegelung seiner Zeit begriffen werden. Objektiv sei das Goethebuch von Frau Professor Emmel eine Goethefälschung. In dem Buch ist nichts zu finden, was den Kampf um den Aufbau des Sozialismus fördern könne (so fehle z. B. eine Berücksichtigung der französischen Revolution). Frau Professor Emmel habe, anstatt auf die an ihr geübte Kritik einzugehen, ihre marxistischen Kritiker beleidigt. Damit habe sie für die Feinde des Volkes Partei ergriffen. Wer die Hilfe der Partei nicht annimmt, dem könne nicht geholfen werden. Ihre Drohung, die Republik zu verlassen, sei eine Provokation. Die SED habe Verständnis für religiöse Gefühle, die wissenschaftliche Wahrheit aber müsse gewahrt bleiben. Man habe nichts dagegen, wenn Theologieprofessoren das Forum Junger Wissenschaftler besuchen, Frau Professor Emmel aber habe diese Professoren mitgebracht.« Emmel wurde daraufhin vom Dekan aufgefordert, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Sie bedauere die Vorwürfe und könne »eine ehrenwörtliche Erklärung abgeben, dass sie in keiner Weise mit Republikflucht gedroht habe«. Sie habe in der Aussprache »eine ernste Haltung an den Tag gelegt, doch sei sie durch die Diskussion ›überrollt‹ worden«. […] »Sie erkenne an, dass sie das Buch als Irrende geschrieben habe.« Sie hatte vor diesem Satz erklärt, dass auch Wissenschaftler irren könnten, umso stärker sein Charakter, desto größer sein Irrtum. Erhard Albrecht äußerte: »Zwischen bürgerlicher und marxistischer Auf‌fassung kann es nur eine prinzipielle Auseinandersetzung geben.« […] Girnus gegenüber habe sie geäußert, dass man »sich nicht vorstellen« könne, »was in der Philosophischen Fakultät vor sich gehe. Das sei eine Provokation«. Hilfestellungen junger Marxisten

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habe sie ausgeschlagen, die der Theologieprofessoren angenommen. »Es sei kein Zufall, dass sich viele Theologiestudenten zu ihr hingezogen fühlten.« Emmel daraufhin: »Man habe sie gewarnt, an dem Forum im Kulturbund teilzunehmen, doch könne sie die Namen nicht nennen. ›Ich habe mehr als bürgerliche Eierschalen, ich habe einen bürgerlichen Dotter.‹« Albrecht meinte: »›Von mir würde man in der Theologischen Zeitschrift nichts drucken!‹« Ein anderer: Frau Professor Emmel habe auch geäußert: »›Ich gehe nicht gern zu Fakultätssitzungen, im Rat der Fakultät sind zu viel Mitglieder der SED.‹ Sie begreife offenbar nicht die Aufgaben des Rates der Fakultät.« Krolikowski: »›Wir lieben ganz Deutschland. Sie hassen Adenauer. Wir sind in dieser Hinsicht einer Meinung. Warum kämpfen sie nicht in Westdeutschland? Was haben sie hier gemacht, haben Sie Kämpfer gegen Adenauer erzogen?‹« Emmel: »›Ich bin ja noch keine Marxistin. Sie (an Professor Albrecht gerichtet) ja, deshalb sind Sie auch schneller aufgestiegen.‹« Geerdts: »Mit 1955 beginnend, hätten sich in dieser Fachrichtung starke revisionistische Tendenzen bemerkbar gemacht. Frau Professor Emmel vertrete den dritten Weg, den es nicht geben könne. Das sei eine Gefahr für die Erziehung der Studenten.« […] »Vertrete sie die Ansicht, dass die zahlreichen marxistischen Literaturwissenschaftler, die an ihr Kritik geübt haben, sich irrten?« Emmel antwortete: »›Der dritte Weg ist für mich nichts Bestimmtes.‹ Die Alternative Idealismus-Marxismus habe sie bisher nicht anerkannt. Sie habe sich immer gegen die idealistische Literaturmethode Korffs ausgesprochen. […] Ihre Methode sei eine textbezogene. Sie würde es begrüßen, wenn die Diskussion über ihr Buch in der Universitätszeitschrift weitergeführt würde. Sie wolle sich ihre Stellungnahme überlegen.« Geerdts: Frau Professor Emmel lebe nun acht Jahre in der DDR und kenne die marxistische Terminologie immer noch nicht. Emmel »fordert« darauf »Geerdts auf, den falschen Gebrauch der Termini in ihrem Buch im Rahmen eines Aufsatzes nachzuweisen«. Einer »stellt an Frau Professor Emmel die Frage, warum sie in ihrem Goethebuch keinerlei marxistische Literatur zitiert habe«. Ein anderer meint, dass sie »eine völlige Unkenntnis des Marxismus bewiesen habe. Bei ihr stehe Goethe über den Klassen. Wichtiger, als Aufsätze zu schreiben, wäre es für sie, den Marxismus-Leninismus zu studieren. Die Germanistikstudenten seien in ideologischer Beziehung die Sorgenkinder der Fakultät. Beunruhigend sei ihre enge Beziehung zur Jungen Gemeinde.« Krolikowski (hier aus einem Änderungsprotokoll): »Niemand verlange von Emmel, dass sie Marxistin werde, man setze sich mit ihrer reaktionären Haltung auseinander, die in der Öffentlichkeit provokatorisch wirke. Man müsse den Eindruck gewinnen, dass Frau Professor Emmel nicht offen die Wahrheit spreche. Zu Beginn der Diskussion schien es, dass man sie gewinnen könne. Sie könne nur glücklich werden, wenn es für sie eine Herzenssache würde, für den Sozialismus einzutreten.« Eine Insel, so Krolikowski, gebe es für sie in der DDR nicht. »Die Verhältnisse in der Fachrichtung Germanistik müssten sofort in Ordnung gebracht werden.« […] Emmel: »Ich verstehe das nicht. […] Lange Zeit war auch ihr Hörsaal still. Erst als

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die Kritik an ihrem Buch im Neuen Deutschland erschienen sei, begann man ihr durch Getrampel Sympathiekundgebungen zu bereiten.« »Krolikowski weist darauf hin, dass die gesamte Fragestellung des Goethebuches von Frau Professor Emmel falsch sei. […] Auf den Einwurf von Gen[osse] Krolikowski, dass die Auffassung der SED von den Aufgaben des Hochschulwesens bereits seit Jahren klar sei, beruft sich Frau Professor Emmel darauf, dass sie vom Staatssekretariat für die Lehrtätigkeit in Greifswald empfohlen worden sei. Emmel erklärt, dass sie sich aufrichtig um eine Klärung bemüht habe und dass sie sich selbst für fortschrittlich halte. Sie beruft sich auf Theodor Frings407, der ihr gegenüber erklärt habe, dass er ›keinen Satz anders‹ in ihrem Goethebuch sehen möchte.« Krolikowski: »Die SED fordere eine Übereinstimmung von Worten und Taten. Es gehe nicht allein um das Goethebuch von Frau Professor Emmel, auch ihre Vorlesungen seien, wie sich gezeigt habe, von genauso geringem Wert und schädlich. Frau Professor Emmel kann nicht wissenschaftlich arbeiten, weil sie nicht vom dialektischen und historischen Materialismus ausgeht.« Albrecht stellt einen Antrag und erklärt, dass dieser »im Falle seiner Annahme als Antrag des Kollektivs und nicht als sein persönlicher betrachtet werden müsse: Frau Professor Emmel verfügt nicht über die notwendige wissenschaftliche und politische Qualifikation, um Deutschlehrer für die sozialistische Praxis ausbilden zu können. Sie hat in den ständigen mit ihr geführten Diskussionen die Ratschläge und die Hilfe der Partei der Arbeiterklasse abgelehnt und sich in ihrem Auftreten an der Philosophischen Fakultät und im Kulturbund würdelos und unmoralisch verhalten.« Es folgte die oben gegebene Begründung und Abstimmung mit 16 : 1 Stimmen.408 Bei dem Tribunal wird deutlich, dass es sich um eine inszenierte Treibjagd handelte, denn Einlenkungsmanöver Emmels wurden meist, insbesondere von ­K rolikowski ignoriert. Nach drei Monaten ist Emmel mit Schreiben vom 21. August 1958 die Beurlaubung ausgesprochen worden. Immerhin fand diese Beurlaubung »weich« statt. Franz Dahlem, 1. Stellvertreter des Staatssekretärs, fand beachtliche Worte: »Ich danke Ihnen für Ihre geleistete Arbeit und werde in Anerkennung Ihrer Tätigkeit Sorge tragen, dass Sie eine Ihren wissenschaftlichen Interessen entsprechende Wirkungsmöglichkeit erhalten.« Vorher, am 4. August, fand eine Unterredung mit Vertretern des Staatssekretariats statt, in der es bereits um ihre Zukunft gegangen war.409 In der Folge gab es weitere Gespräche, Diskussionen und Petitionen über ihren künftigen Einsatz. Am 30. Juni 1960 war der Westpresse zu entnehmen, dass Emmel geflohen war. Die Kaderabteilung der EMAU teilte mit Schreiben vom 7. Juni der Kaderabteilung des SHF mit, dass sie »die DDR illegal verlassen« habe.410 »Das, was wir gerade verhindern wollten, ist eingetreten: Die An407  (1886–1968). Professor für deutsche Sprache und Literatur an der KMU Leipzig. 408  Protokoll der außerordentlichen Sitzung; BStU, MfS, AS 1484/67, Bl. 109–117 sowie Philosophische Fakultät der EMAU Greifswald an den Leiter der Abt. Philosophische und Theologische Fakultäten des Hoch- und Fachschulwesens vom 17.5.1958; ebd. Bl. 105. 409  Schreiben von Dahlem an Emmel vom 21.8.1958; ebd., Bl. 121. 410  EAMU Greifswald, Kaderabt., an das SHF vom 7.6.1960; ebd., Bl. 5.

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gelegenheit Emmel ist zu einer politischen Affäre geworden, die für uns von Schaden ist. Man kann nicht daran vorübergehen, dass die sorgfältig überlegten Warnungen des Fachsektors nicht berücksichtigt wurden und dass in dieser Angelegenheit einige führende Genossen sowohl säumig gearbeitet als auch in einer falschen Richtung angeleitet haben.«411 Viele Jahre später beschreibt Emmel diese Zeit in einer autobiografischen Schrift auf beeindruckende Weise.412 Der den Wissenschaftsbetrieb störende Allmachtanspruch der SED hielt auch im letzten Lebensjahrzehnt der DDR unvermindert an. Wegen öffentlicher Verbreitung politisch negativen Gedankengutes geriet 1982 ein profilierter Mathematiker und Hochschullehrer der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock (WPU) unter operative Bearbeitung des MfS (OPK »Axiom«). Der Hochschullehrer konnte auf eine ganze Reihe auch international beachteter Arbeiten verweisen und war aus diesem Grunde auch mit der Mitgliedschaft in der Leopoldina »geadelt« worden. Was war vorgefallen? Er nutzte die Gelegenheit eines Vortrages während der sogenannten M / L -Abendschule der WPU Rostock, eines sogenannten Wochenkurses in Marxismus-Leninismus, der vom 8. bis 12. Februar 1982 stattfand. Am 9. Februar hielt er seinen Vortrag unter dem Titel »Axiomatische Mathematik und Schlussfolgerungen für die praktische Anwendung«. Einleitend zur Diskussion nutzte er eine Liedzeile von Fürnberg: »Die Partei, die Partei, die hat immer Recht«, um zu fragen, ob es sich bei dieser Aussage tatsächlich um ein Axiom handele. Auch soll er geäußert haben, »dass eine Opposition bzw. Oppositionspartei in jeder Gesellschaftsordnung von Nutzen sei«. Angeblich soll er auch die Solidarność gelobt und sein Unverständnis dahingehend geäußert haben, dass sie »gegenwärtig in die Isolierung gedrängt würde«. Vor einigen Jahren habe er so noch nicht gesprochen. »Man möge ihm mitteilen, wenn er zu weit gegangen sei.« Wenn ja, dann sei er »nicht mehr bereit, öffentlich über politische Themen zu sprechen«. Jedenfalls gäben ihm die M / L -Seminare nichts, »man sollte statt hier zu lamentieren, Forschungsseminare durchführen«. An den folgenden Tagen soll er weiter in kleinen Kreisen provoziert haben. »Die sachlichen Argumente der Genossen akzeptierte er nicht.«413 Damit wurde der Mathematiker zu einem Fall für das MfS, das sofort Maßnahmepläne der operativen Bearbeitung aufstellte. Für die Behauptung, er sei ein typischer Einzelforscher, fand das MfS eine Aussage von ihm, wonach die marxistisch-​leninistische Abendschule »für ihn als Mathematiker völlig sinnlos« sei und »ihm nichts« gebe. Andere belastende Aspekte konnten nicht »erarbeitet« werden.414 Dass der Professor von der M / L -Schule nichts hielt, war vom MfS schon 1970 dokumentiert worden.415 411  Aktennotiz vom 3.7.1960; ebd., Bl. 148. 412  Emmel: Die Freiheit hat noch nicht begonnen. 413  BV Rostock, Abt. XX/3W, vom 26.3.1982: Eröffnungsbericht zur OPK »Axiom«; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 104/83, Bd. 1, FiKo, Nr. 11, Bl. 2–7, hier 4–6. 414  BV Rostock, Abt. XX/3W, vom 17.11.1982: Abschlussbericht; ebd., Bl. 11–14, hier 12. 415  Vgl. BV Rostock, Abt. XX/3W, vom 5.5.1970: Bericht von »Wirth« an MfS-Offizier Seher; ebd., FiKo, Nr. 2, Bl. 59 f.

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Die Meldung des Vorfalls während des M / L -Wochenkurses ging – verfasst von der Leitung der WPU Rostock – postwendend auch an die Hauptinspektion (Bereich Information) des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen. U. a. war hierin festgestellt worden, dass der Mathematiker »deutliche Zweifel an der Fähigkeit der Partei zur Ausübung ihrer führenden Rolle im Auftrag der Arbeiterklasse« und auch »offensichtlich eine ganze Reihe persönlicher Probleme in seiner bisherigen Biografie nicht verarbeitet« habe.416 Offenbar war die Universitätsparteileitung (UPL) recht milde, wollte mit ihm diskutieren, das Gemeinsame zunächst herausstreichen, darauf aufbauend sollte ihm auch Zeit gegeben werden zu überdenken.417 Doch existierte eine Lust, ihn fertigzumachen. Denn er hatte Widersacher, etwa die Hochschullehrerin Bärbel Großmund*. Sie stellte zum Geschehen fest, dass es sich »bei dem objektiven Vorgang« nun einmal »eindeutig um eine schwerwiegende politische Provokation« gehandelt habe. Die Provokation sei beabsichtigt gewesen. Alle Teilnehmer seien »betroffen-erschrocken über diesen Ausbruch« gewesen, keiner habe überhaupt »eine Sympathiereaktion gezeigt«. Der Mathematiker hingegen habe sich in einer Aussprache noch am Abend des 9. Februar verteidigt, dass er sich nur an die Abmachung gehalten habe, dass eine offene Diskussion ausdrücklich erwünscht sei. Großmund* gab zu »Protokoll«, dass er an diesem Abend »affektiv sehr erregt war, sodass er gar keinen klaren Gedankten fassen konnte und wir ihm auch keine Gelegenheit gegeben haben, einen auszusprechen. Jeder Ansatz zu einer Äußerung seinerseits provozierte einen sofortigen Gegenschlag unsererseits bis zum physischen (vegetativen) Zusammenbruch« von ihm.418 Der Mathematiker, so Großmund*, habe »kein Gefühl für zwischenmenschliche Beziehungen, keine Aufnahmefähigkeit für emotionale Regungen«. Er sei »wie alle großen Mathematiker eine autistische Persönlichkeit  – d. h. Einzelgänger, Eigenbrötler, kontaktschwach, empfindlich nur in Bezug auf die eigene Person. Daraus resultieren fast uneinfühlbare, z. T. obskure Vorstellungen im Bereich der sozial-gesellschaftlichen Sphäre, einschließlich der politischen.« Ihm, so Großmund*, sei »der Ausbruch aus seiner Isolierung gelungen, und nur das zählt für ihn«.419 Großmund* war Hochschullehrerin für Kinderneuropsychiatrie und zeigte sich auch nach dem Zusammenbruch des Professors unnachgiebig: »Ich bin heute, wie an dem Abend, der Auffassung, dass es richtig war, so massiv auf ihn einzuwirken, obwohl er auch in dieser Runde noch nicht begriffen hat, was er angerichtet hatte und auch nicht in der Lage war, unsere Argumente zu verarbeiten.«420 Was für eine Frau: »Ich (Psychiater!) betrachte die ungeheuerliche politische Provokation als Appellfunktion. – Der normale Bürger hätte in dieser Situation einen Selbstmordversuch gemacht und das Gleiche erreicht, nämlich, dass sich jemand findet, der sich um ihn kümmert, der mit ihm redet und 416  Meldung über ein Vorkommnis an das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen (MHF) vom 12.2.1982; ebd., Bl. 107–110, hier 109. 417  Vgl. Auszug aus dem Protokoll der UPL-Sitzung vom 18.2.1982; ebd., FiKo, Nr. 3, Bl. 130. 418  Einschätzung vom 22.2.1987; ebd., Bl. 138 f., hier 138a. 419  Ebd., Bl. 139a u. b. 420  Ebd., Bl. 138.

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ihm auch brutal die Meinung sagt. Das brauchte Professor X, um weiter leben zu können.«421 Ein anderer Zeuge sah das nicht so, der frei vorgetragene Vortrag des Mathematikers sei sehr durchdacht gewesen, er habe sich auch auf den Philosophen Heinrich Vogel bezogen, sein Vortrag sei »sehr positiv« gewesen. Dann aber habe er in die Diskussion eingeführt mit der Liedzeile »Die Partei, die Partei …«. Eigene Gedanken soll er an dieser Stelle gar nicht entwickelt haben, er habe thesenhafte ein Problem formuliert.422 Was waren die Konsequenzen? Der 1. Prorektor der WPU brachte sofort Vorschläge ins Gespräch: 1. Sofortige Beurlaubung, 2. Abberufung als Hochschullehrer.423 Der Parteisekretär der Sektion Mathematik bezeichnete den Professor als einen bürgerlichen Wissenschaftler, obgleich der seine gesamte wissenschaftliche Entwicklung »in unserer Republik genommen« habe. Das sei sehr bedenklich.424 Dieser Vorgang von 1982, der in seiner Art und Bedeutung nicht der letzte war, zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie sehr der DDR-Sozialismus auch noch zu dieser Zeit eine stalinistische Prägung besaß. Und er zeigt auf beschämende Weise, dass Teile des Auditoriums und später dann die Universitätsführung härter noch als das MfS mit dem Mathematiker verfahren sind, Denunziation und Vorteilsstreben Hand in Hand gingen.

3.3  Wissenschaft in der DDR »Es bedeutet für uns Ehre und Verpflichtung, dass der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Walter Ulbricht, die sich aus der sozialistischen Perspektive der Deutschen Demokratischen Republik ergebenden Aufgaben der Wissenschaft so stark hervorgehoben hat. Im Namen der Naturwissenschaftler, Mediziner, Techniker, Pädagogen und Gesellschaftswissenschaftler versichere ich an dieser Stelle: Die uns gestellten Aufgaben bejahen wir ohne Rückhalt.«425

Es existiert dieses legendäre Bild, das Max Steenbeck auf dem VII. Parteitag der SED zeigt. Jenem Parteitag von 1967, auf dem er und eine Abordnung von Wissenschaftlern Gladiatoren gleich unter tosendem Beifall Einzug hielten. Steenbeck zu den Delegierten: »Wir haben unseren festen Stand, die Basis und Sinngebung 421  Ebd., Bl. 138b. 422  BV Rostock, Abt. XX/3W: Bericht vom 12.3.1982; ebd., Bl. 139. 423  Vgl. BV Rostock, Abt. XX/3W, an die HA XX/8 vom 16.2.1982: Über provokativ-demonstratives Verhalten eines Wissenschaftlers der WPU Rostock; ebd., Bl. 146–148, hier 148. 424  Bericht; ebd., Bl. 175. 425  Steenbeck, Max: An den VII. Parteitag der SED am 20. April 1967, in: Physikalische Blätter 26(1970)10, S. 460.

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Abb. 9: Max Steenbeck auf dem VII. Parteitag der SED, April 1967

unserer Arbeit hier in der Deutschen Demokratischen Republik. Dem Wachsen und der Stärkung des sozialistischen Vaterlandes gelten alle unsere Leistungen.« Und er prügelte sich selbst und die seinen: »Die Kritik an dem vielfach noch unzureichenden Nutzeffekt unserer wissenschaftlichen Arbeit ist berechtigt.«426 Das hörte die SED-Spitze gern. Seine kleinen Wahrheiten, die er sonst immer gern zur Sprache brachte, verkümmerten völlig: »Neue Erkenntnisse in objektiver Wahrheitssuche zu finden, ist eine internationale Aufgabe für Wissenschaftler aus allen Ländern; wie diese Erkenntnisse genutzt werden, wird immer von der Gesellschaftsordnung bestimmt.« 426  Basis und Grundlage der wissenschaftlichen Arbeit. Aus der Ansprache Steenbecks auf dem VII. Parteitag der SED, in: Forschung Lehre Praxis. Organ der Gewerkschaft Wissenschaft 14(1967)5, S. 1–3, hier 2.

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Und zum Verhältnis zur westdeutschen Wissenschaft: Wir erkennen deren Leistungen voll an, »kennen dort kluge Fachkollegen, viele wohl auch Freunde«. Wir alle aber stehen im Dienst unserer beiden Staaten, es sei »bestimmt schmerzlich, wenn Bindungen sich lockern«. Schuld daran aber sei die BRD, da sie die DDR nicht anerkenne. »Wir Wissenschaftler unseres Staates haben unseren Platz gefunden und kennen den Weg in die Zukunft.«427 Ernst Brüche stellte in Betrachtung dieses Auftritts in den Physikalischen Blättern fest, dass es kaum zu verstehen sei, dass Steenbeck »nicht die Gelegenheit« benutzt habe, etwas für die Gemeinschaft der Weltwissenschaft zu sagen, sondern gar »den Riss vertiefte, den er selbst als so ›schmerzlich‹ bedauerte«.428 Die Prognostik, die Steenbeck bei diesem Auftritt feierte, hatte in jenen Jahren einen hohen Stellenwert erhalten, der Begriff erhielt für die SED einen nahezu heiligen Geschmack. Eine Geheimwaffe, die alles regelt und die Zukunft erobert, schien gefunden. Hermann Peiter schreibt, dass es »auch aus Enttäuschung über die gegenwärtigen Verhältnisse« geschehe, dass »manche DDR-Wissenschaftler sich einer Wissenschaft« anvertrauten, »die als Prognostik bezeichnet wurde«. Doch die Einschätzung, dass sich manche DDR-Wissenschaftler dieser volkswirtschaftlichen Generalausrichtung anvertrauten, ist nur in Hinsicht auf das Wörtchen »manche« korrekt, denn in erster Linie mussten sie es tun, und sie wehrten sich, solange es eben ging. Das Prognoseverständnis in den Wissenschaften war disziplinbedingt different. Peiter weiter: »Nach dem Ministerratsbeschluss vom 20. Oktober 1967 galt: ›Prognosen sind komplexe wissenschaftlich begründete Voraussagen über Inhalt, Richtung und Umfang realisierbarer Hauptrichtungen der Entwicklung in Natur, Gesellschaft und im menschlichen Denken‹ (zitiert nach Werner Scheler).«429 Da aber das Prognostik-Verständnis der DDR ein ideologisches war, ausgerichtet auf die Zentralverwaltungswirtschaft, konnte sie ihre Fähigkeiten nicht ausspielen; hierzu Peiter: »Wenn sie mit ihrer Prognostik etwas zuwege gebracht hätte, wäre die AdW der DDR nicht verspätet, sondern beizeiten zur Stelle, also geistesgegenwärtig gewesen.«430 Die beiden folgenden Aussagen über den Zustand der Akademie zeigen einleitend jene beiden Eckpole im Wissenschaftsbetrieb der DDR, die über 40 Jahre das Spannungsfeld umrissen: der anfängliche Traum und Aufbruch in eine gestaltbare Zukunft und die bald einsetzende Realität des Eingespanntseins in zunehmend tages- und militärpolitischen Erfordernissen.

427  Ansprache Steenbeck, S. 3. 428  Brüche, Ernst: SED-Parteitag und DDR-Physiker, in: Physikalische Blätter 23(1967)6, S. 274–276, hier 276. 429  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff, S. 98 f. Vgl. Scheler, Werner: Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissenschaften der DDR. Abriss der Genese und Transformation der Akademie. Berlin 2000, S. 58. 430  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff, S. 103.

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In einem Rundfunkmanuskript Friedrich Möglichs zum 250-jährigen Bestehen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW)431 im Jahre 1950 schilderte er die Historie der Akademie, ihre Entstehungsimpulse in einer moderat-kritischen Art und Weise: Mit dem Kapitalismus und der Notwendigkeit der Industrieforschung sei es zu einer Spaltung und in deren Folge zu vermindertem Geldzufluss für die naturwissenschaftlichen Forschungsinstitute gekommen. »Es wurde eine neue Organisation gegründet, die der Akademie das vorenthielt, was ihre eigentliche Aufgabe gewesen wäre, nämlich die Förderung der Wissenschaften. Unter dem Namen ›Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften‹ wurde eine neue Institution geschaffen, in der zwar häufig Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften an führender Stelle tätig waren, auf die aber die Akademie der Wissenschaften keinen nennenswerten Einfluss ausüben konnte«. Diese »Spaltung« sei »oft schmerzlich empfunden worden«, sie müsse wieder »rückgängig gemacht werden«. Die Akademie sei, so Möglich, mehr und mehr zu einer Sammlung bedeutender Namen verkommen. Erst »der Zusammenbruch« habe »einen Wandel geschaffen«.432 Dennoch mussten die alten Aufgaben der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die die Forschung gleichsam von selbst stellt, zwingend kooptiert werden. So kam es zu einem Strukturwandel erheblichen Ausmaßes. An die Stelle der beiden vormaligen Klassen, der mathematisch-naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen, wurden nun sechs neue Klassen gebildet: Mathematik und Naturwissenschaften, technische Wissenschaften, landwirtschaftliche Wissenschaften, medizinische Wissenschaften, Gesellschaftswissenschaften sowie die Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst. Möglich kommentierte: »Die vornehme Ruhe, die in dem alten Hause Unter den Linden 8 geherrscht« habe, sei, »einer emsigen Geschäftigkeit im neuen Hause Jägerstraße 22–23 gewichen.« Zur Förderung der Wissenschaft gehöre »außerordentlich viel«, so Möglich, u. a. für »das Wohl der wissenschaftlichen Mitarbeiter zu sorgen und den Institutsdirektoren die heute noch außerordentlich schwere Arbeit bei der Beschaffung von Materialien 431  Zur Geschichte der Akademie: Im Juli 1700 als Kurfürstlich-Brandenburgische Sozietät der Wissenschaften (auf Vorschlag von Gottfried Wilhelm Leibniz, durch Friedrich III.) gegründet; dann Preußische Akademie, dann DAW, dann AdW, dann Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW). Am 1. Juli 1946 wurde die DAW durch Befehl Nr. 178 der SMAD wiedereröffnet. Erster Präsident der Nachkriegsära war Johannes Stroux (1886–1954), gefolgt von Walter Friedrich (1883–1968). 1950 erfolgte der Startschuss für ein zu errichtendes Institutsensemble in Adlershof, dem Standort der ehemaligen Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL). Das Gelände der DVL wurde am 26.7.1949 übertragen und der DAW übergeben (von der Deutschen Treuhandverwaltung). Das erste Institut eröffnete im März 1950, es war das 1928 gegründete Heinrich-Hertz-Institut (HHI). 75 Mitarbeiter nahmen 1950 die Arbeit im von Georg Otterbein für ein halbes Jahr geleiteten HHI auf. Eine Art Wahrzeichen auf dem Gelände war der aus Stahlbeton errichtete zwanzig Meter hohe Trudelwindkanal, einem Ei gleichend, den die DVL von 1934 bis 1936 baute. U. a. aus: Vor 50 Jahren an der Rudower Chaussee: Start für die akademische Forschung; Adlershofer Zeitung, Nr. 77, 9/2000, S. 8. 432  Rundfunkmanuskript von Möglich zum 250-jährigen Bestehen der DAW, 1950; ­A rchBBAW, Nachlass Möglich, Nr. 53, S. 1–5, hier 2 f.

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und im Verkehr mit den Behörden abzunehmen. Die Arbeiten in dieser Hinsicht [hätten] erst angefangen.«433 Der zweite Eckpol: Der Alltag in der Forschung war von dem in westlichen Industriestaaten grundverschieden. Vor allem waren Improvisations- und handwerkliche Künste ebenso gefragt wie unendliche Geduld und Vertrauen auf die eigene Leistungsfähigkeit. Eigentlich war alles anders als in der westlichen Welt. Dieses Anderssein erinnert Lothar Schauer aus dem ehemaligen Institut für Kosmosforschung (IKF) der AdW: Es ging um einen »TU-Forschungsbericht zu Analog / ​ Digital-Wandlern, den das IKF beauftragte. Mit diesen Wandlern beschäftigte ich mich in den 1980er-Jahren sehr intensiv: Die DDR wollte ihren eigenen CD-Player entwickeln, aber der dafür notwendige 16-Bit D / A-Wandler fehlte bzw. konnte im Halbleiterwerk Frankfurt / O. (HWFO) nur bis 10 Bit Genauigkeit hergestellt werden. Es gab damals die Komplexen Überführungsleistungen (KÜL) nach der Formel: ›AdW hilft der Industrie‹. Ich war der KÜL-Entwickler des IKF, bekam extra einen Mini-Panzerschrankwürfel zur Ablage und hatte mit IHP [Institut für Halbleiterphysik], den Dresdner Werkstoff-Forschern, INT [Institut für Nachrichtentechnik] und dem HWFO zu tun: Für mich war es eine glückliche Entwicklerzeit am IKF. B. war damals HWFO-Entwicklungsleiter. An einem Sommer-Freitag 1985 oder 1986, gegen 13:30 Uhr, ich war im HWFO zur technischen Absprache, flog die Tür auf, B. kam im Kampfgruppen-Tarnanzug herein, braunes Koppel mit Doppelschließe um den Bauch, nahm den Stahlhelm ab, knallte ihn auf den Tisch, an dem der HWFO-Entwickler K. und ich saßen, und begann zu brüllen, dass er jetzt zur Wochenend-Übung ins Feld müsse. Mich beeindruckte das sehr: Entwicklungsleiter B., vergleichbar mit Karl-Heinz Schmelovsky, verlässt mittags seine Arbeit, um Krieg zu spielen.«434 Eine gleichsam winzige Momentaufnahme, doch die DDR kann nur verstanden werden, wenn dieser Zustand nicht als Singularität begriffen wird. 3.3.1 Wissenschaftsverständnis In dem 1968 erschienenen Buch namhafter Wissenschaftler der DDR Blick ins nächste Jahrzehnt, Autoren waren u. a. Peter Adolf Thiessen, Klaus Fuchs, Eberhard Leibnitz, Werner Hartmann und Rudolf Schick, wurde einmal mehr deutlich, was heute historiografisch zu den bewiesenen Tatsachen zählt: die DDR-Wissenschaftler waren damals – intellektuell – auf der Höhe des Weltstandes in ihren jeweiligen Fächern, aber die Bedingungen ihres Handelns waren es weniger denn je. Gerade vom Letzteren aber handelt das Buch nicht, das Vorträge aus den Jahren 1966 und 1967 versammelt.435 Es zeugt zudem von der tiefen Unterschiedlichkeit der hier 433  Ebd., S. 4 f. 434  Zur Veröffentlichung von Lothar Schauer an den Verf. vom 8.6.2014. 435  Oetzel, Ewald / Quaas, Manfred (Lektoren). Blick ins nächste Jahrzehnt. Leipzig, Jena, Berlin 1968.

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vertretenen Wissenschaftler und nicht zuletzt auch von der peinlichen Anbiederung Thiessens an die SED. Gemessen an den Realitäten und ex post sind seine Schlussworte im einleitenden Beitrag des Bandes reiner Zynismus; es ist zu zitieren: »Jenes Wort ›Lynkeus‹ des Türmers aus Goethes ›Faust‹: ›Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt‹ reicht als Grundlage für das Ethos des Wissenschaftlers nicht aus. Wir haben aus der Lehre von Marx und Engels gelernt, dass Erkennen nicht genügt, sondern dass es notwendig ist, einzugreifen und zu verändern. Man müsste also das Motto des Türmers von unserem Standpunkt aus erweitern: ›Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, zum Handeln aufgerufen!‹«436 Aber wie handeln, wenn die Bedingungen dafür nicht vorhanden waren, wie wir unten sehen werden. Und da davon in seinem Beitrag keine Rede sein durfte, bewegte sich Thiessen auf Nebenschauplätzen: »Es gilt«, schrieb er, »als eine der vornehmsten Aufgaben jedes Wissenschaftlers, Ergebnisse, Ziele, Richtungen, das Ethos der Wissenschaft bei wissenschaftlicher Strenge in ihrer Gesamtheit so darzustellen, dass die Zusammenhänge und die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung von allen Schichten der Bevölkerung verstanden werden.« Thiessen schrieb von der Schwierigkeit, diesem Prinzip infolge der neuen Erkenntnisse folgen zu können und erwähnte beispielhaft das Buch Die Naturgeschichte einer Kerze von Michael Faraday 437. Auch die von ihm angeschnittenen Fragen der »Verständigungen über das Wesen der Wissenschaft, ihre innere Logik, ihre humanistische Zielsetzung und auch ihre in vollstem Sinne des Wortes tödlichen Drohungen« waren sicher »unabweisbar«,438 jedoch im Sinne des Handeln-Könnens zweit- oder gar drittrangig. Unter der Teilüberschrift »Probleme der Lenkung und Planung der Wissenschaft und Technik« lautete Thiessens erster Satz: »Prinzipiell sind zuverlässige Antworten möglich. Eine ›Politik kleiner Räume‹ ist auch in der Wissenschaft sinnlos geworden.« Ein im Grunde genommen plausibler, aber im Sinne einer tieferen Bestimmung von Forschung unmöglicher Satz. Thiessen zitierte Ulbricht und meinte sagen zu müssen, dass nur die sozialistische Gesellschaftsordnung auf Dauer ein hochentwickeltes Bildungswesen hervorbringen könne, und lobte die enge Verflechtung mit der Sowjetunion.439 Er glaubte gar, dass das, was die Physik bislang an »großen Überraschungen und unerwarteten Entwicklungen« gebracht habe, keine Revolutionen gewesen seien. Er sei »der Meinung, dass man in solchen Fällen [Quantenphysik, Relativitätstheorie – d. Verf.]« nicht »von einer ›Revolution‹ sprechen sollte«. Selbst »unerwartete Sprünge in der Naturerkenntnis« würden den »normalen Gesetzen der Evolution« folgen.440 Es ist auffällig, dass Thiessen, Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP, seinen Beitrag mit Verweisen auf die Funktionärselite nur so gespickt hatte, wie es bei Weitem keiner der anderen Autoren tat. Er zitierte oder erwähnte Stoph (4×), 436 Thiessen, Peter Adolf: Tendenzen der Wissenschaftsentwicklung, in: Blick ins nächste Jahrzehnt. Leipzig, Jena, Berlin 1968, S. 13–38, S. 34. 437  Zu Faraday, dem Begeisterten, vgl. Bönt: Die Entdeckung des Lichts. 438  Thiessen: Tendenzen der Wissenschaftsentwicklung, S. 13 f. 439  Ebd., S. 19 f. 440  Ebd., S. 23.

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Ulbricht (4×), Mittag (3×), Weiz (2×), Hager (2×) und Schürer (1×), insgesamt also 16 Mal. Die Beiträge der Philosophen Ley (0×) und Hörz (0×) sowie der des Atomspions Klaus Fuchs (1×) hoben sich dagegen wohltuend ab. Es ist in die Rätsel des Anfangs getaucht, worin Thiessens Leistungen eigentlich bestanden, dass er einen solch unantastbaren Stand im Gefüge der SED-Wissenschaftspolitik einnehmen konnte. Er kam erst am 5. Dezember 1956 aus der Sowjetunion in die DDR zurück. Vielleicht wäre er noch länger geblieben, wenn ihn nicht Heinz Barwich geradezu herausgeholt hätte. 1945 war er aus der Deutschen Akademie wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP ausgeschlossen worden. ­Hubert Laitko erwähnt, dass er unter den Nazis »eine nicht unbeträchtliche Rolle« in »der nationalsozialistischen Forschungslenkung« gespielt habe.441 Das wurde nun, 1957, für nichtig erklärt. Im November wurde sein Institut für physikalische Chemie gegründet (1968 Zentralinstitut, ZIPC). Worin besteht des Rätsels Lösung? Etwa in dem Satz Laitkos: »Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der er nach seiner Rückkehr aus der UdSSR Spitzenpositionen in der Forschungspolitik der DDR erreichte, deutet darauf hin, dass er sich wahrscheinlich noch während seines Aufenthaltes in Suchumi intensiv darauf vorbereitet haben durfte, auf das Forschungsprofil eines ganzen Landes Einfluss zu nehmen.«442 Oder in jenem Brief von 1989, als Thiessen sich gegenüber Markus Wolf erkenntlich zeigte. Hierin dankte er ihm für die Übersendung des Buches Troika anlässlich seines Geburtstages. Er habe es bereits gelesen und ist des Lobes voll. Das verrät nicht nur eine Beziehung beider, sondern im letzten Satz des Dankschreibens noch mehr: »Ich bin unserer Partei und unserem Staat zutiefst verbunden und dankbar für die vorurteilsfreie und großzügige Förderung, die ich während der vergangenen Jahrzehnte erfuhr.«443 Laitko vertritt die Auffassung, dass Thiessens »Verhältnis zur Politik« wohl »offen­ bar ein pragmatisches« gewesen sei. Will man dem zustimmen, war es in ethischer Hinsicht ein bedenkliches. Doch Laitko findet kein konzises Bild: »Er mied politische Bindungen nicht und hatte auch keine Bedenken, sie karrierefördernd zu nutzen, doch er war auch bereit, sie aufzugeben oder zu suspendieren, wenn sie seine Laufbahn zu behindern drohten. Diese Wendigkeit bedeutete zugleich, dass er als NSDAP-Mitglied nicht zu den fanatischen Hardlinern zählte und seine Gesinnung nach eher zu dem Personenkreis zu rechnen ist, dem in den ›Entnazifizierungs‹-Prozeduren der Nachkriegszeit ungeachtet einer früheren Zugehörigkeit zur Nazipartei die Möglichkeit eines Neubeginns eingeräumt wurde; allerdings kann Thiessen angesichts seiner im ›Dritten Reich‹ ausgeübten Ämter auch nicht einfach in die Kategorie der ›Mitläufer‹ eingestuft werden.«444 Freilich, Thiessen war nicht aalglatt und auch kein orthodoxer Sozialismusagitator wie Rompe. Auf die Forderung, 441  Laitko, Hubert: Strategen, Organisatoren, Kritiker, Dissidenten – Verhaltensmuster prominenter Naturwissenschaftler der DDR in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. MPI für Wissenschaftsgeschichte. Berlin 2009, S. 71. 442  Ebd., S. 75. 443  Schreiben von Thiessen an Wolf vom 27.4.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 15066, Bl. 38. 444  Laitko: Strategen, Organisatoren, Kritiker, Dissidenten, S. 72 f.

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die Forschungsarbeit müsse von den Impulsen der Betriebe ausgehen (u. a. auf der Chemiekonferenz des ZK der SED) antwortete er: »Hier wird ein Totalitätsanspruch ausgesprochen, wie er schärfer nicht vertreten werden kann – außerhalb des Vatikans. Ich brauche Sie als chemisch Gebildete nicht auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die sich daraus ergeben.«445 Werner Hartmanns Beitrag in dem Band ist einer, der als einziger auch prophetische Natur besitzt, was bemerkenswert ist, da die Utopie zu jener Zeit ihres hohen Standes verlustig ging. Der Beitrag besticht durch Leichtigkeit und Verständlichkeit und erfüllt, nebenbei gesagt, die Forderung Thiessens nach Verständlichkeit der Texte. Auch begriff Hartmann völlig anders als Thiessen das Neue nicht als Fortsetzung eines Kontinuums, sondern geradezu als Explosion: die Rede ist von der »zeitgemäßen Elektronik«, wie Hartmann die integrierte Elektronik nannte. »Dieser Begriff«, so Hartmann, »ist heute noch gar nicht in vollem Umfang auszuloten, er enthält eine richtige Beschreibung unseres heutigen Wissensstandes, aber darüber hinaus erfasst er die Entwicklung der kommenden Jahrzehnte und, meiner Ansicht nach, auch den Kern einer technischen Explosion, die der gesamten Technik und damit der Zivilisation neue Maßstäbe setzen kann.«446 Hartmann sprach etwas aus, was man so klar gesagt noch lange Zeit in der DDR vermissen sollte. Erst heute wird das, was Hartmann mit »Explosion« tatsächlich meinte, mit Blick auf die Kommunikations-, Kontroll- und Automatisierungselektronik, vor allem hinsichtlich der Konsequenzen für den Menschen, deutlich. Die integrierte Mikroelektronik – als Technologie – erzwinge nach Hartmann »die engste kameradschaftliche Zusammenarbeit von Vertretern verschiedenster Fachrichtungen, vom Physiker, Chemiker, Metallogen bis zum Hochvakuumspezialisten, Technologen, Messtechniker und Gerätebauer, um nur einige zu nennen«, was in der DDR – gemessen an ihrer diesbezüglichen Ideologie – erstaunlich schwierig war. »Für diese neu entstehenden Technologien«, so Hartmann, sei »der Ausdruck ›Technische Revolution‹ meiner Ansicht nach viel zu schwach, man muss vielmehr von einer technologischen Explosion sprechen. Der Zeitzünder dieser Entwicklung tickt heute schon vernehmbar, es kommt darauf an, sich nicht überraschen zu lassen, sondern die Explosion zu steuern. Aus dieser Erkenntnis erwachsen Forderungen, die noch bei Weitem nicht Allgemeingut geworden sind und nicht immer notwendigen Entscheidungen zugrunde liegen. Umso zwingender ist es, ihnen mehr Gehör und Anerkennung zu verschaffen.«447 Allein im Nichtbefolgen dieser Handlungsanweisung liegt die Quelle des nicht nur technologisch-wissenschaftlichen Versagens der DDR. Hartmann weiter: »In diesem Zusammenhang wird es sicher unumgänglich, Bedeutung, Bewertung und Einordnung der wissenschaftlichen Entwicklungsarbeit 445  Ebd., S. 78. Zit. nach: Thiessen, Peter Adolf: Das erste deutsche Chemieprogramm, in: Mitteilungsblatt der DAW zu Berlin 5(1959)1, S. 9–14, hier S. 11. 446  Hartmann, Werner: Welche Fragen stellt die Mikroelektronik?, in: Blick ins nächste Jahrzehnt. Leipzig, Jena, Berlin 1968, S. 112–120, hier 112. 447  Ebd., S. 116.

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in der Industrie mit großem Einfühlungsvermögen grundsätzlich zu analysieren. Denn ihre schon heute sehr wichtigen Zielstellungen und deren erfolgreiche Lösung werden ohne Zweifel in Zukunft mehr denn je die Basis für den technischen Fortschritt und damit für das weitere Wachstum der Wirtschaftskraft unserer Deutschen Demokratischen Republik bilden.« Zur prophetischen Sicht Hartmanns, die sich 40 Jahre später erfüllte: »Ich fürchte auch nicht, selbst auf die Gefahr hin, für einen Phantasten gehalten zu werden, die letzte Frage zu stellen, die sich an die bisherigen Überlegungen konsequenterweise anschließt: Welche Möglichkeiten ergeben sich, wenn wir in der Lage sind, Atome eines nach dem anderen zusammenzufügen, ganz nach unserem Willen, aber natürlich unter vernünftigen Voraussetzungen, sodass stabile Arrangements entstehen?«448 Zu Hartmanns damaligem Verständnis von integrierter Mikroelektronik: »Die integrierte Mikroelektronik sagt ja auch durch die Bezeichnung ›integriert‹ aus, dass sie nach wie vor schaltungsorientiert ist. Erst der nächste Schritt führt zur funktionsorientierten Elektronik, und erst diese verdient die Bezeichnung ›Molekular­ elektronik‹, wenn man diesen unglücklichen Ausdruck überhaupt benutzen will. Er leitet sich von der Voraussage des deutschen Physikers Arthur R. von Hippel449 ab, der in den 1930er-Jahren den Begriff des ›molecular engineering‹ prägte.« Hartmann weiter: »Es ist ja bekannt, dass der Prozess der technischen Revolution weltweit ist und alle Länder unabhängig von ihrer Gesellschaftsordnung ihn meistern müssen. Dabei hilft nur ein wissenschaftliches Herangehen.«450 Den Begriff Molekularelektronik desavouierte später sein Kollege und Chefgutachter des MfS Hanisch451: »Die Formulierung ›Molekularelektronik‹ beinhaltete bereits eine extreme Breite des Themas und schaffte von vornherein eine große Unverbindlichkeit für das Arbeitsgebiet, obwohl die Erfordernisse in der Schaffung konkreter Festkörperschaltkreise für die elektronische Industrie lagen!«452 Kann man sagen, dass die physikalischen Disziplinen nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 eine Förderung erfuhren, wie es Christian Sachse mit Hinweis auf eine ZK-Ausarbeitung der ZK-Abteilung Wissenschaft vom Juni 1956 nahelegt? Rein oberflächlich betrachtet trifft dies gewiss zu: Viele aus der Sowjetunion zurückgekommenen Physiker bekamen Institute oder Arbeitsstellen. Die erwähnte ZK-Ausarbeitung enthielt beispielsweise Vorschläge zur Grundlagenforschung auf den Gebieten der Mathematik und Physik. Die DAW zu Berlin erfuhr einen relativ »rasanten Strukturwandel«.453 Wie weiter unten zu sehen sein wird, trifft dies durchaus auf der Seite der reinen Beachtung und, den Umständen Ostdeutschlands ent448  Ebd., S. 116 f. 449  (1898–2003). Deutsch-amerikanischer Physiker. 450  Hartmann: Welche Fragen stellt die Mikroelektronik?, S. 118–120. 451  Zu Hanisch weite Passagen in den Kap. 4.1 u. 5. 452 Hanisch: Aufbauphase der Mikroelektronik vom 17.4.1973; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 24, Bl. 131–133, hier 132. 453  Sachse bezieht sich hier auf ein Dokument des ZK, abgedruckt bei Malycha (Geplante Wissenschaft); BArch DY 30/IV 2/9.04/04; Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik, S. 40.

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sprechend, des materiellen Inputs, nicht jedoch auf der Seite des erhofften Outputs und schon gar nicht nach dem Kriterium der Kontinuität in den Forschungs- und Entwicklungslinien zu. Denn die Beachtung und Förderung der Physik wurde erheblich überlagert von ideologischen Überformungsprozessen, harten Auseinandersetzungen mit politischen Entscheidern und vor allem Abbrüchen, also Diskontinuitäten. Sachse argumentiert jedoch grundsätzlich, betrachtet den Stellenwert der Physik gemessen an den damaligen Diskussionen. Jedoch: »verebbten« die Diskussionen und Auseinandersetzungen nach 1959 tatsächlich, wie Sachse feststellt?454 In einem heutigen Positionspapier zu Fragen der Wissenschaftsforschung ist festgestellt, »dass sich maßgeblich seit den 1960er-Jahren ausgehend von intellektuellen Anstößen vor allem aus der Wissenschaftsphilosophie, der Wissenschaftsgeschichte und der Wissens- und Wissenschaftssoziologie« eine hohe, komplexe Interdisziplinarität entwickelt hat.455 Obwohl bei dieser Formulierung nicht die DDR Pate stand, sondern der Westen, ist festzustellen, dass dies auch voll auf die DDR zutrifft, jedoch gute fünf Jahre früher. Bereits Ende der 1950er-Jahre entfaltete die Zentralverwaltungswirtschaft exorbitante Handlungsmacht. Ab Mitte der 1970er-Jahre zeigten sich Probleme in der DDR, die um viele Jahre später (freilich auf einem anderen Niveau) auch auf die Bundesrepublik zukamen; Zitat: »So sieht sich z. B. das Wissenschaftssystem heute mit neuartigen Methoden der Rechenschaftslegung durch Berichtssysteme sowie einer externen Anreizsteuerung seiner Leistungen beispielsweise durch indikatorbasierte Systeme der Ressourcenverteilung konfrontiert. Ob durch solche Steuerungsinstrumente tatsächlich die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft erhöht wird, ob es hierbei disziplinäre Unterschiede oder nichtintendierte Effekte gibt, ist Gegenstand aktueller empirischer Wissenschaftsforschung.« Ferner: »Des Weiteren hat sich die empirische Wissenschaftsforschung zunehmend Phänomenen der ›Entgrenzung‹ wissenschaftlicher Autonomie und ihren Folgen zugewandt: In dem gleichen Maße, in dem externe Akteure versuchen, Einfluss auf Forschungsagenden im Wissenschaftssystem zu nehmen und von der Wissenschaft ›Relevanz‹ und ›Anwendungsbezug‹ einfordern, findet umgekehrt wissenschaftliche Wissensproduktion längst auch jenseits der disziplinären Grenzen wissenschaftlicher Fächer an Universitäten statt.«456 Es ist mit Blick auf Depressionsphasen eigentlich nicht erstaunlich, dass Elemente dieser Aussage – wie das Phänomen der Entgrenzung wissenschaftlicher Autonomie – in der DDR wesentlich früher zum Tragen kamen. Auch wird anhand dieser Zusammenhänge deutlich, dass Laitko als Wissenschaftswissenschaftler beide deutschen Staaten gar nicht so weit auseinanderliegend empfinden konnte. Doch Erscheinungen (das Problem von Akzidenz und Essenz) sind zu unterscheiden von den Dingen an sich. Erstens existierten erheb454  Ebd., S. 45. 455 Vgl. Zukunftsthemen der Hochschulforschung, in: https://www.gfhf.net/wp-contet/ uploads/2014/09/9JT-Zukunftspanel; von dort Zugriff auf www.wissenschaftsrat.de/download/ archiv/3821-14.pdf, S. 11 f.; letzter Zugriff: 10.1.2020. 456 Ebd.

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liche Phasenunterschiede, zweitens kannte die DDR keine echten Erholungsphasen, drittens waren die Niveauunterschiede insgesamt (Output, Marktrelevanz) extrem und, viertens, kollabierte das Wissenschaftssystem der DDR. Positive Evaluierungen von Einzel- und Kollektivleistungen widersprechen dieser Aussage nicht. Die Frage nach dem generellen Wissenschaftsverständnis eines Landes ist freilich von Definitionen abhängig, letztlich aber beantwortet es Fragen wie folgende: Was ist wann gesellschaftlich notwendig und profitabel, was mache ich wann zuerst, mit wem kooperiere ich im Ausland auf welche Weise. Immer aber waren und sind es Fragen, die auf strukturelle Adaptionen der Industrie (Investitionen, Innovationen) und vermehrt ab den 1980er-Jahren auf Einflüsse auf die Umwelt hinweisen. Hier angesiedelt sind Fragen der Prognosetätigkeit und Trendanalysen sowie nach Forschungsindikatoren. Aber auch, und das war für die DDR von elementarer Bedeutung, Fragen der nationalen Eingrenzung, der Konkurrenzsituation und des Wettbewerbs im eigenen Land. Die Frage der Selbstisolierung als »erzwungene« Gegenläufigkeit zur Anspruchsideologie dürfte dagegen weitestgehend ein Tabu gewesen sein. Aus dem Wissenschaftsverständnis folgt letztlich die Wahl der Steuerungsinstrumente: Das ist das gesamte Arsenal an in- und externen, offiziellen, offiziösen und inoffiziellen Instrumenten und Bedingungen. Der Aspekt der Wissenschaftsfreiheit für Lehre und Forschung besitzt hier zentrale Bedeutung und beantwortet die Konfliktstruktur zwischen der normativ-gesetzlichen Ebene (Funktionärswelt) und der faktischen oder Handlungsebene (Wissenschaftswelt). Dieser Punkt bildete die Achillesferse der DDR, wurde nur kleingeschrieben, und wenn, dann als Verballhornung von Friedrich Engels Einsicht in die Notwendigkeit, einem dialektischen Gesetz des Marxismus-Leninismus. Die Frage der Forschungsfreiheit mündete jedenfalls direkt in die Forschungsdateninfrastruktur für das gesamte Forschungstarget »DDR«, gab also auch Auskünfte zur Herausbildung kollektiver Identitäten und Gruppenbildungen, zu nationalen und internationalen Kooperationsbeziehungen und anderem mehr, wie wir unten sehen werden. Natürlich spielen im Wissenschaftsverständnis jene materiellen Fragen eine besondere Rolle, die zu den Bedingungen der Wissenschaftsausübung schlechthin zählen: Investmittel, Mittel für Kommunikations- und Informationszwecke sowie Lohnmittel. Da sie sich wenigstens einigermaßen mit Zahlen belegen lassen, sind sie in der Wissenschaftshistoriografie auch entsprechend beliebt. Freiheit aber ist keine Zahl. Aus dem Arsenal all dieser Fragen sollen hier jene herausgehoben werden, die für die Darstellung und das Verständnis der drei Hauptkapitel von Bedeutung sind. Der wichtigste Akteur und Interpret hierin war wohl Max Steenbeck. Wir müssen uns, so Steenbeck auf der Plenartagung des Forschungsrates der DDR am 8. September 1969, »bei der Begrenztheit unserer materiellen und personellen Kapazitäten auf eine Auswahl von Aufgaben beschränken – aber hier müssen unsere Leistungen überzeugen«. Dabei werde die DDR die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dem Westen nicht meiden, aber dies dürfe »niemals zu Bindungen führen, die uns auf irgendeinem Gebiet in Abhängigkeit bringen, oder wir werden

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Verräter an der Zukunft«.457 Fernerhin: »Der Forschungsrat ist das Beratungsorgan des Ministerrates für alle Grundsatzfragen naturwissenschaftlicher, technischer und in diesem Zusammenhang auch ökonomischer Art.« Sowie: »Zu den Hauptaufgaben des Forschungsrates gehört es, aus den von ihm erarbeiteten Prognosen Entscheidungsgrundlagen für die Regierung auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Strukturpolitik abzuleiten. Diese Tätigkeit muss sich in die Führungsfunktion des Ministerrates einordnen.« Steenbeck betonte die enge Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Wissenschaft und Technik (MWT). In dieser übe der »Forschungsrat seine beratende Tätigkeit für den Ministerrat aus«.458 Er behandelte drei für die DDR kardinale Komplexe: die Prognostik, die Organisation der Forschung und die ideologischen Fragen der Wissenschaftspolitik. Zur Prognostik, die viele Wissenschaftler vehement ablehnten, führte Steenbeck aus, dass es »ja gar nicht die eigentliche Aufgabe einer Prognose« sei, »auszusagen, was in der Zukunft sein wird, sondern was sein kann, um daraus abzuleiten, was sein soll«. Und: »Solche prognostische Arbeit« zeige »die entscheidende Bedeutung des Zeitfaktors in der Realisierung von Investitionen besonders klar und ist damit selbst ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Konzentration auf entscheidende Schwerpunkte.« Bis 1980 würden solche Zweige und Verfahren »wirksam, deren erste Ansätze heute wenigstens schon in Anfängen sichtbar« seien.459 Der Blick sei aber heute schon weiter gerichtet: »Bei diesen langfristig angelegten Prognosen müssen wir die Gefahr überwinden, im Wesentlichen nur das zu beachten, was schon jetzt und in einer übersehbaren nächsten Zukunft für uns wichtig ist. Welche Entwicklungen in späterer Zukunft für uns von besonderer Bedeutung werden können, hängt stark von der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung und den sich daraus ableitenden Bedürfnissen ab.«460 Weiter: »Die Grundsätze unserer Wissenschaftspolitik geben uns die Möglichkeit zu systemgerechten Entscheidungen.« Steenbeck gab hierzu vor, »einen harten, konstruktiven Meinungsstreit« zu wollen, führte aber an dieser Stelle nichts Genaues aus.461 In den Hauptlinien der SED-Politik wich Steenbeck keinen Deut ab, wie auch zur Frage der Kontrolle der Forschung nicht: »Der wichtigste Schritt zur Verwirklichung der Konzentration unserer wissenschaftlichen Kapazitäten auf die entscheidenden Gebiete ist die konsequente Durchführung der auftragsgebundenen Forschung. Die Forschung« werde »von der Stelle finanziert, die später den Nutzen aus der Verwertung der gewonnenen Ergebnisse« ziehe. Für Forschungsthemen, in denen

457  Steenbeck: Die Verantwortung des Forschungsrates für die effektive Nutzung der Produk­ tivkraft Wissenschaft bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus. Rede auf der Plenartagung des Forschungsrates der DDR am 8.9.1969 in Berlin; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 299, S. 1–40, hier 5 f. 458  Ebd., S. 9. 459  Ebd., S. 13 f. 460  Ebd., S. 15. 461  Ebd., S. 16 f.

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keine Klarheit herrsche, wer der spätere Nutzer der Ergebnisse sei, werde der Minister MWT der gesellschaftliche Auftraggeber sein. Die Kosten der Forschungsarbeiten sollten abrechenbar sein; er erwarte eine »echte Erfolgskontrolle«. Eingriffsmöglichkeiten müssten geschaffen werden.462 Gleichzeitig versuchte er, die Bauchschmerzen der Wissenschaftler zu mindern: »Unsere Forschungskapazitäten dürfen z. B. nicht durch kurzfristige fertigungsgebundene Themen voll ausgelastet werden, deren Bearbeitung in die Entwicklungsstellen eines Betriebes selbst gehören.«463 Zur Frage des Wissenschaftsverständnisses zählen zwei Gewährleistungen, die jeder Staat realisieren muss: der freie Literaturbezug und -tausch sowie hinreichende Kommunikationsbedingungen. Tut er es nicht, wird er unweigerlich vom weltoffenen Datenaustausch und Wettbewerb abgehängt. Zu den Engpässen infolge der Kontingentierung und der innerbetrieblichen Genehmigung gesellte sich in der DDR üblicherweise die Frage der Zuständigkeit, besser: der Zuständigkeitsüberlappungen und Partiallösungen, eigentlich ein Paradoxon für eine Zentralverwaltungswirtschaft. Der Devisenmangel herrschte grundsätzlich, wies aber in dieser Grundsätzlichkeit noch besondere Spitzen und Ungereimtheiten aller Art auf. Signifikante Beispiele: Der Prorektor für die Forschungsangelegenheiten der Universität Rostock schrieb am 21. August 1958 an Ernst August Lauter, dass ab sofort »die Aufgabe von Bestellungen auf Bücher und Zeitschriften« aus dem Westen wegen Devisenmangels »für 1958 nicht mehr möglich« sein werde. Das sei vom SHF bekanntgegeben worden. Allerdings betreffe dies nicht Bücher aus der Bundesrepublik, wenngleich auch diese unter einem zukünftig strengeren Maßstab beschieden würden. Das Kontingent für 1959 werde »voraussichtlich um 20 Prozent niedriger liegen als für 1958«.464 Zur Zeit der Wirtschaftskrise 1971 sprach Viktor Kroitzsch vom ZIPE davon, »dass wir nicht mehr in der Lage« seien, »Bücher zu beschaffen und alle benötigten Zeitschriften zu halten«. Allein der Zeitschriftenaustausch verlaufe noch zufriedenstellend. Ein Problem dabei sei, dass Sendungen nicht ankämen und man erfahren habe, dass sie vom Zoll zurückgeschickt worden seien. Es gebe auch andere Vermutungen, keiner wisse Genaues. Aus einer Konsultation zwischen Klare, Hartke und Treder ging hervor, dass sie wohl zurückgeschickt worden seien. »Angeblich« könne »der Zoll zwischen Pornografie und wissenschaftlicher Zeitschrift nicht unterscheiden«. Das sei »eine große Blamage«. Treder habe daraufhin verlangt, dass Klare sofort beim Ministerpräsidenten intervenieren solle, und zu Kroitzsch gewandt, der möge über zuverlässige Genossen das Ausmaß der Vorfälle ermitteln.465 Kroitzsch war selbst betroffen, der hatte im Falle des nicht zugestellten Hewlett Packard Journals 462  Ebd., S. 24 f. 463  Ebd., S. 27. 464  Schreiben des Prorektors der WPU Rostock an Lauter vom 21.8.1958; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 226, 1 S. 465  BV Potsdam: Treff bericht zu Aussagen von »Geos« am 23.11.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 2, MfS-pag., Bl. 79 f.

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das Einziehungsprotokoll Nr. A 129741 vom Datum des 3. November 1971 erhalten. Darauf stand eindeutig vermerkt, dass das Heft eingezogen worden sei, dazu der Stempelaufdruck: »Das / Die Presseerzeugnis / se ist / sind nicht in der Postzeitungsliste enthalten und daher gemäß Paragraf 1 der 5. DB zur Geschenkverordnung zur Einfuhr nicht zugelassen. Gemäß Paragraf 7 in Verbindung mit Paragraf 15 der Geschenkverordnung sind Sendungen, die von juristischen Personen zusammengestellt, verpackt oder abgesandt werden, im Geschenkverkehr nicht zugelassen.« Das Schreiben stammte von der Zollverwaltung der DDR, Bezirksverwaltung Potsdam, Postzollamt Potsdam. Die Sendung war in Haarlem, Holland, aufgegeben und an die Dienstadresse von Kroitzsch geschickt worden.466 Der protestierte mit Schreiben vom 17. November 1971 bei der Bezirksverwaltung Potsdam der Zollverwaltung der DDR und bat um die Zusendung der eingezogenen Zeitschrift.467 Analog war auch die Zeitschrift Computer Weekly eingezogen worden. Der »Einziehungs-Entscheid« datierte vom 30. November 1971 und ging per Post an Gerhard Ruben.468 Die folgenden Ausführungen dienen dem tieferen Verständnis der Hauptkapitel. Es ist ein Problem, das die DDR seit den 1960er-Jahren nicht löste; übrigens auch ein Verständnis-Problem, das die Wissenschaftspolitik und -organisation beschäftigte. Erkundungsforschung-Grundlagenforschung vs. Auftragsforschung-Angewandte Forschung Das Urteil Alfred Schellenbergers ist zutreffend: »Die generelle Vernachlässigung, ja Missachtung der betrieblichen Grundlagenforschung war einer der gravierendsten Fehler des DDR-Regimes.« Deren Auswirkungen waren »mit verantwortlich für den endgültigen Zusammenbruch« der Volkswirtschaft der DDR.469 Zur wissenschaftspolitischen Lage im Umfeld Havemanns ist ein interessantes Entwurfspapier zur »Entwicklung der Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Chemie in Vorbereitung der 5. Tagung des ZK der SED«, das von Havemann mitverfasst und unterzeichnet worden war, tradiert. In der Präambel wurde auf die überragenden Leistungen an den chemischen Instituten der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin vor dem Zweiten Weltkrieg verwiesen. Heute dagegen sei die Lage »äußerst besorgniserregend«. Der Zustand der Institute entspreche »in keiner Weise den dringendsten Notwendigkeiten«, die Grundlagenforschung könne nicht verstärkt werden wie dies im Hin-

466 Zollverwaltung der DDR, PZA Potsdam, vom 3.11.1971: Einziehungsprotokoll; ebd., Bl. 82. 467  Vgl. Kroitzsch an die BV Potsdam vom 17.11.1971: Einziehungsprotokoll Nr. A 129741; ebd., Bl. 81. 468 Vgl. Zollverwaltung der DDR, PZA Potsdam, vom 30.11.1971: Einziehungsprotokoll; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 192 u. 194. Nummer des Bescheides: B 156439. 469  Schellenberger: Forschung unter Verdacht, S. 53.

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blick auf die industrielle Entwicklung in den 1970er-Jahren erforderlich sei.470 Bei aller Konzentration die die SED anstrebe, dürfe die Grundlagenforschung nicht beschränkt werden. Zu Thiessens »Troika-Theorie«, Grundlagenforschung  – Erkundungsforschung  – angewandte Forschung (auch Produktionshilfe)  schrieben die Verfasser: »Wenn man eine solche Wissenschaftspolitik durchführen würde, käme das einem völligen Verzicht der DDR auf eine führende Rolle in der Chemie in den nächsten Jahren gleich.« Eine Art »Nachtrabpolitik« entstünde. So könnten nur partiell Verbesserungen an »bestehenden Verfahren« bzw. Nachentwicklungen (mit zwei bis fünf Jahren) realisiert werden. Auch den Weltmarktpreis könne man dann nicht mehr bestimmen.471 Da die Möglichkeiten der DDR beschränkt seien, müssten Schwerpunkte gebildet werden. Und was die Leitung der chemischen Betriebe anlange, sie »gehört in die Hand von Chemikern«. Die Einführung neuer Produkte in die Produktion erfolge oft nur zögernd, »um kein Risiko einzugehen«. Das liege daran, dass »die Werke oder Abteilungen nicht von Naturwissenschaftlern, sondern von Ökonomen, Juristen oder gar Meistern geleitet« würden, »die die wissenschaftlichen Grundlagen der Produktion nicht beherrschen«, – und daran, dass »keine ausreichende Industrieforschung vorhanden« sei. Die Verfasser sahen die Besetzung der Funktionen durch Angehörige der Arbeiterklasse in Verbindung mit Abwanderungen und Flucht qualifizierter Kräfte als eine Ursache der Inkompetenz, eine andere Quelle dieser sei leider die Besetzung von »untergeordneten« Stellen mit Akademikern.472 Auch die in der DDR gegenüber westlichen Konzernen investierten Forschungsmittel seien absolut zu gering, die westlichen dagegen »märchenhaft«. All dies habe die Staatliche Plankommission (SPK) erkannt. Von gegenwärtig 17 Akademikern pro 1 000 Beschäftigten in der Chemiebranche wolle man die Zahl für 1970 auf 43 bringen. Allerdings lasse sich diese richtige Zahl wegen der zurzeit herrschenden Ausbildungsmisere in der Chemieausbildung nicht realisieren.473 Die Kritik betraf auch die für die Grundlagenforschung eminent wichtige Kommunikation: »Eine Forschungsarbeit kann auf die Dauer nur erfolgreich sein, wenn der Wissenschaftler ständig im internationalen Rahmen mit anderen Wissenschaftlern Kontakt hat, Erfahrungen austauscht, Ergebnisse anderer auswertet und seine eigenen Ergebnisse den Fachleuten zur Kritik vorlegt. Die Fachliteratur muss ihm ständig zur Verfügung stehen […]. Die Möglichkeiten, an internationalen Veranstaltungen teilzunehmen oder im Ausland (auch im kapitalistischen Ausland) an geeigneten Stellen im Rahmen von längeren Studienaufenthalten Erfahrungen zu sammeln, muss viel breiter ausgebaut werden und besonders jüngeren Wissenschaftlern offenstehen.« Sowohl in der Sowjetunion als auch in anderen sozialistischen Ländern hätten es die Wissenschaftler diesbezüglich nicht so schlecht wie die 470  Havemann, Robert et al.: Gedanken zur Entwicklung der Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Chemie in Vorbereitung des V. Plenums des ZK der SED vom 14.1.1964; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 477–504, hier 478. 471  Ebd., Bl. 481. 472  Ebd., Bl. 482 f. 473  Ebd., Bl. 484.

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DDR-Wissenschaftler.474 Oft werde das Potenzial der Akademiker zweckentfremdet, weil »mit dem Selbstbau von Geräten vergeudet«. Man solle »die Forschung von solchen kostspieligen Basteleien befreien«. Das Weltniveau werde »nur durch Neuentwicklung bestimmt«.475 Robert Rompe führte 1966 zur Erkundungsforschung aus, dass sie »der ständig weit ins Unbekannte vorstoßende Teil der Wissenschaft« sei, »vor allem der naturwissenschaftlichen Hauptdisziplinen Mathematik, Physik, Chemie, Biologie«. Sie habe einen »beträchtlichen Einfluss auf die sich ständig beschleunigende Entwicklung der Technik«, und es sei schwierig, »sie in geeigneter Weise in einem Plan zu erfassen«. Aber gerade dies sei wichtig für die Prognose der Entwicklung der Technik. Es gebe »Forschungen mit unmittelbar erkennbarer Zielsetzung der Lösung technischer Aufgaben, die wesentlich umfangreicher« seien als die Erkundungsforschung. So werde beispielsweise »auf dem Gebiet der elektronischen Halbleiter-Forschung meist mit dem Ziel der Verbesserung bekannter Bauelemente für die Elektronik oder deren Produktion oder der Erarbeitung neuartiger Bauelemente betrieben.« Diese Forschung heiße »gezielte Grundlagenforschung«. Dies betraf die klassische Halbleiterphysik samt Herstellung von Bauelementen. Er schrieb ferner, dass es »Gebiete anerkannt höchster erkenntnismäßiger Aktualität« gebe, deren Ergebnisse trotz hohen Mittelbedarfs auf sich warten ließen, die kaum terminlich geplant werden könnten, zum Beispiel die Molekularbiologie.476 Rompe umriss auch Probleme zu Fragen der Organisationsformen und des Personalmanagements in der Erkundungsforschung. Beide Bereiche seien komplizierter und oft teurer als in der Grundlagenforschung, etwa hinsichtlich der Forschung am Zentralinstitut für Kernforschung (ZIK) Rossendorf, das in jener Zeit vakant war: »Man braucht aus diesen Gründen die Wissenschaftler, die an solchen Problemen gearbeitet haben und die die modernsten methodischen Kenntnisse besitzen, sowohl hinsichtlich der experimentellen und mathematisch-theoretischen Methoden als auch hinsichtlich organisatorischer und Leitungsverfahren. Eine organisierte Fluktuation der wissenschaftlichen Kräfte ist deshalb zweckmäßig, um einerseits zu verhindern, dass diese Forschungszweige esoterischen Charakter annehmen, andererseits um einer amtsmäßigen Erstarrung einzelner Zweige der Technik entgegenzuwirken.« Freilich sei dies für kleine Länder schwer, solche Aufgaben zu erfüllen, wenn notwendig, dann ginge dies nur mit ökonomischem Augenmaß. Der Anteil der Erkundungsforschung an der gezielten Grundlagenforschung und Entwicklung liege bei 10 bis 15 Prozent, wobei noch Teile der gezielten Grundlagenforschung Teile der früheren Erkundungsforschung enthielten. So würden »vor 30 Jahren Themen ähnlich denen der gezielten Grundlagenforschung der Halbleiterindustrie von heute als Erkundungsforschung betrieben« werden.477 474  Ebd., Bl. 485 f. 475  Ebd., Bl. 486. 476  Rompe: Rolle der Erkundungsforschung, S. 129 f. 477  Ebd., S. 130 f.

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Rompe beschrieb exakt das Neue in der Frage der Technologie: »Die wissenschaftliche Technologie beherrscht heute immer mehr den Produktionsablauf. Sie hat die dauernde Steigerung des ökonomischen Nutzeffektes der Produktion, die Steigerung der Qualität und der Zuverlässigkeit der Erzeugnisse auf ungeahnten Höhen zur Folge. Hierbei muss beachtet werden, dass die technologischen Wissenschaften einen durchaus eigenständigen wissenschaftlichen und methodischen Charakter haben.« Sie würden demnach »eine wohlausgewogene Komposition aus zweckmäßigsten Zusammenfassungen des Bestandes der einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Fundamentalwissenschaften mit spezifischen Elementen konstruktiv-schöpferischer und technischer Fähigkeiten« abbilden. »Sie stellen ein Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und Kunst dar, so wie man von altersher von Ingenieurkunst, von ärztlicher Kunst gesprochen hat.«478 Das wurde sechs Jahre nach dem »Lukullus-­ Gespräch« am 11. April 1960 mit Hartmann gesagt. Und weitere sieben Jahre sollten verstreichen, bis es hierzu wenigstens zu einem halb-öffentlich ausgetragenen Streit kam (Kap. 4.1.2). Rompe hatte bereits auf der 9. Tagung des ZK der SED im Juli 1960 zur Frage der Bedeutung der Technologie in der Wissenschaft eine Rede gehalten, die auf heftigen Widerspruch zweier Vertreter der Abteilung Wissenschaften im ZK der SED stieß. Hierzu erfolgte ein Gespräch zwischen dem Sekretär der Abteilung Wissenschaften im ZK Johannes Döring und dem Sektorenleiter für Naturwissenschaften und Technik dieser Abteilung Arwed Kempke in Vorbereitung auf die 14. Tagung des ZK der SED am 10. November 1961. Beide kritisierten Rompe, der auf dem Plenum Technologie mit Betriebserfahrung gleichsetzte und die Ansicht vertrat, dass »man mit technologischen Dingen, so wichtig sie auch für die Produktion sein mögen, im Allgemeinen kaum promovieren oder sich habilitieren« könne.479 Und wie auf Hartmann gemünzt oder gar von Hartmann übernommen (denn der war ja der Kathodenexperte schlechthin in der DDR!); Rompe: »Obgleich das Prinzip der Oxidkathode seit Edison und Wehnelt um 1900 bekannt ist, sind viele Einzelheiten des Emissionsprozesses der komplizierten technischen Kathoden noch nicht klar. Trotzdem vermag die technologische Wissenschaft der Produktion von Elektronenröhren eine gleichbleibende hohe Qualität dieser Erzeugnisse sicherzustellen.« Rompe schrieb ferner, dass »die technologischen Wissenschaften häufig weiter ins Neuland« führten »als die Erkundungsforschung, was aus der verschiedenen Zielstellung, der Gewinnung klarer Erkenntnisse fundamentalen Charakters einerseits, der Meisterung konkreter Probleme in der Wechselwirkung realer Gegenstände andererseits [folgt]. Sehr häufig […] macht die technologische Wissenschaft die Erkundungsforschung erst auf eine Problematik, auf das Vorliegen einer Naturgesetzlichkeit aufmerksam. So ist die schlechte Reproduzierbarkeit 478  Ebd., S. 132. 479  Zitiert aus Zachmann, Karin: Mobilisierung der Frauen. Technik, Geschlecht und Kalter Krieg in der DDR. Frankfurt / M. 2004, S. 344. Auf S. 345 steht dann aber auch ein »Ja« für Rompes Anstoß! Quellenhinweis auf: BArch DR 3/6038.

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der elektrischen Eigenschaften in Abhängigkeit vom Grad der Verunreinigung der Ausgangssubstanzen bei der Halbleiterproduktion Ende der 1920er-Jahre Ausgangspunkt für die theoretische Behandlung der Gitterdefekte geworden.« Und noch einmal ganz im Sinne Hartmanns: »Wenn man warten will, bis die Fundamentalforschung alle Probleme eines Bauelementes gelöst hat, kann man lange warten.«480 Richtig war auch, wenngleich nicht optimal, das gesetzte »Oder« in seiner Einschätzung: »Spitzenleistungen der Technik setzen ein voll entfaltetes Spektrum der Technik voraus oder ausgezeichnete internationale Kooperationsmöglichkeiten.«481 Der Begriff Erkundungsforschung war zielführend, da tatsächlich vieles im Offenen lag. Es blieb aber immer die Frage (der Planverwaltungswirtschaft): Wann darf oder soll Erkundungsforschung betrieben werden? Rompe dazu: »Durchzuführen sind Arbeiten der Erkundungsforschung, wenn aufgrund prognostischer Einschätzungen erkennbar wird, dass die Ergebnisse dieser Arbeiten für die DDR von Bedeutung sein werden und durch Konzentration der Kräfte gewährleistet ist, dass international beachtliche Ergebnisse ausreichend schnell erzielt werden können.« Zum Platz der Mikroelektronik-Technologie führte er aus: »Mein Anliegen war, durch Aufzeigen der vielfachen Wechselbeziehungen zwischen Erkundungsforschung  – gezielter Grundlagenforschung – technologischer Forschung – Produktion die Effektivität der wissenschaftlichen Arbeit zu heben.«482 Zusammengefasst: An der Spitze der Wissenschaftler-Funktionäre mit ihrem Hauptansprechpartner Walter Ulbricht und ihrem »Motor« Erich Apel hat es erkennbar wenig theoretische Defizite auf dem Weg zu moderneren Wissenschaftsentwicklungen gegeben. Anders sah es in der zweiten Reihe aus, hier vermischten sich unterschiedliche Kompetenzgrade insbesondere mit den Funktionärswelten, wobei die Forderungen Letzterer zunehmend die Oberhand behielten. Entsprechend verliefen dann auch die Diskussionen, landauf, landab. Ein Beispiel aus dem Institut für physikalische Stofftrennung Leipzig (IpS); Zitat GI »Müller«: »Ich halte es für eine sehr glückliche Entscheidung der Regierung der DDR, die Forschung dem volkswirtschaftlichen Profil anzupassen. In dieser Erkenntnis ist die DDR den meisten anderen Ländern m. E. weit voraus. Ich möchte vermeiden, dass eine so vernünftige ›Parole‹ von Intriganten dazu missbraucht wird, ihrer Karriere zu dienen. Es müssen solche Forschungsarbeiten eingestellt werden, die überflüssig oder entbehrlich sind und nicht solche, die von unbequemen, weit fähigen Wissenschaftlern geleitet werden. Es ist unvermeidlich, dass sich unsere Regierung bei diesen Entscheidungen von Wissenschaftlern beraten lässt. Sie muss nur darauf achten, ob aus dem Munde des Wissenschaftlers auch der Wissenschaftler spricht!«483 Zur Frage der Involvierung Walter Ulbrichts in Wissenschaftsfragen existieren zahlreiche Belege. Beispielsweise erinnerte Max Steenbeck 1963 an Ulbrichts Forde480  Rompe: Rolle der Erkundungsforschung, S. 132 f. 481  Ebd., S. 133. 482  Ebd., S. 134 f. 483  BV Leipzig: Bericht von »Müller« am 19.11.1962 zum Bau des IpS; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 12–14, hier 14.

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rung vom November 1962, in die Werke und Betriebe deutlich »mehr wissenschaft­ liche Kader aller Art aufzunehmen, als es bisher geschehen ist, nicht nur Technologen und Fertigungs-Ingenieure, sondern auch Physiker, Chemiker, Mathematiker, und dies nicht nur für die reine Fertigung, sondern auch für Betriebs- und Entwicklungs-Laboratorien in den Produktionsbetrieben selbst.« Steenbeck sah einen Grund hierfür in der zunehmenden Großserienproduktion (also Automation) und in wesentlich höheren Qualitätsstandards. Hierfür aber müsse das Prinzip »Messen, Messen und noch einmal Messen« vorherrschen. Das Messen aber verlange modernste wissenschaftliche Kenntnisse, etwa in der modernen Elektronik. Doch solche »wissenschaftlichen Kader« waren »in den Betrieben nicht ausreichend vorhanden«. Es wurde zu viel Geld in die Institute gesteckt und zu wenig in die Betriebe. Es wurden, so Steenbeck, »in der DDR in zum Teil sehr großzügiger und umfangreicher Weise Forschungseinrichtungen aller Art geschaffen«. Und die Betriebe gingen leer aus. Die hätten »sehr häufig kein Verständnis für die Notwendigkeit wissenschaftlicher Arbeiten, und zwar oft gerade diejenigen Werke nicht, die eine wissenschaftliche Unterstützung besonders nötig hätten«. Hier helfe nur eine gesetzliche Regelung dergestalt, dass die Institute »einen festgelegten Teil ihrer zentral gegebenen Finanzierung zweckgebunden zur Produktionsunterstützung in Betrieben verwenden müssen, und die Betriebe werden in eigenem Interesse diese Unterstützung ihrer laufenden Produktion durch wissenschaftliche Einrichtungen auch tatsächlich annehmen.«484 Wie sehr die Zentralverwaltungswirtschaft ein Ungeheuer mit schwer erkennbaren Umrissen war, davon zeugen allein drei in der einschlägigen Literatur ungenügend beachtete Phänomene: die Zersplitterung der Kräfte (trotz aller Zentralisation!), die chaotischen Wechselbeziehungen in den jeweiligen Mittelbauten der Trias und ein idealistischer Diskussions-Aktivismus. Zum letzteren: man glaubte stets durch zentral organisierte Diskussionen (Manipulationsstrategie, Kampagnen) endlich den Umschwung herbeiführen zu können. Sieht man aber auf die Mitglieder dieser Diskussionsrunden, versteht man plötzlich den ins System eingebauten Stillstand: ein Übermaß an Fachfremden und / oder eine Zusammenballung von Nebendisziplinen waren die Regel. Ein besonders krasses Beispiel: Der Atomphysiker Klaus Fuchs lud am 2. Februar 1977 in seiner Eigenschaft als Leiter des Forschungsbereiches (FoB) Physik, Kern- und Werkstoffwissenschaften Kalweit (Vizepräsident der AdW), Peschel (Leiter des FoB Mathematik und Kybernetik), Bobeth (Leiter des FoB Chemie) und Joachim (vom Institut für Kosmosforschung und in Vertretung Stillers) zu einer Diskussion ein. Gegenstand der Beratung war eine Konzeption des ZK der SED zur Ankurbelung der Elektronik. Fuchs zum Inhalt der Konzeption: »Diese kann in meinem Büro in Berlin oder in Dresden eingesehen werden.« Einige expertiseähnliche Bearbeitungen aus Akademieinstitu­ ten und eine Expertise Stillers waren bereits vorhanden. Zusätzlich wollte man 484  Steenbeck, Max: Mehr wissenschaftliche Kader in unsere Produktionsbetriebe, in: Die Technik 18(1963)4, S. 261 f.

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über ökonomische Fragen, die gesellschaftliche Bedeutung der Mikroelektronik sowie über Prognose und Weltstandsanalyse diskutieren (beraten).485 Keiner der Anwesenden aber war Mikroelektroniker! Das alles wäre noch akzeptabel gewesen, wäre die Mikroelektronik-Technologie beherrscht worden, oder hätte es Bezugsmöglichkeiten für entsprechende Technologien gegeben. Doch dies war nicht der Fall. Entsprechend fiel auch die Antwort Joachims aus, der in seinem Papier zum Komplex »Halbleitergrundmaterial« (Reinstsilizium) davon sprach, dass man doch im Kosmos entsprechende Materialexperimente vornehmen könnte. Ein bis zwei Mitarbeiter seines Hauses seien jedenfalls befähigt, mit Freiberg (da saß H ­ artmann quasi verbannt, Kap. 4.1.2) zu kooperieren. Joachim gab für diese Idee neun fachwissenschaftliche Belege an. Allesamt waren englischsprachig, also westliche Literaturen!486 Es war jenes Jahr, in dem das Politbüro nach zehn Jahren Zeitverzug endlich den Stellenwert der Technologie der Mikroelektronik begriff. Es ist erstaunlich, dass erfolgreiche und erfahrene Wissenschaftler in einigen prominenten Fällen anfällig waren gegenüber ideologisch verfasster Utopie. Der freilich geniale Steenbeck zählte zu diesen. Er war auch bei Studenten, zumindest in Jena, als recht weltfremd und unpraktisch »bekannt«. Man erzählte sich manche Story, aber nie boshaft: der typische Physiker eben, wo es ohne Katastrophen nicht ausging. Seine »Weltfremdheit« konnte sich auch folgendermaßen äußern: »Vielleicht kommt der Westen eines Tages auf die Idee, so wie er die Forschungsplanung der sozialistischen Welt nachzumachen beginnt, auch so etwas wie unseren Forschungsrat nachmachen zu wollen. Aber das passt nicht in seine Art Demokratie; in der kapitalistischen Welt würde daraus eine Interessenten- oder eine Standesvertretung.« Aber: »Der Forschungsrat erfordert ein klares, sozialistisches Staatsbewusstsein, das immer und nur das Gesamtinteresse sieht.«487 Es ist eine nicht weiter zu erörternde Frage, inwieweit Steenbeck nicht doch prophetisch Recht behalten sollte. Es gibt zahlreiche Elemente im Wissenschaftsgefüge der Bundesrepublik, die nachdenklich stimmen müssen.488 Steenbeck: »Eine Reihe von Forschungsrats­ 485  Einladungsschreiben von Fuchs vom 2.2.1977: Zur Koordinierung von Aktivitäten auf dem Gebiet der Mikroelektronik; Slg. des Verf., 1 S. 486  Vgl. IE vom 14.2.1977: Ergänzungsvorschlag zum Arbeitsmaterial »Mikroelektronik«; Slg. des Verf., S. 1 f. 487  Steenbeck: Die Verantwortung des Forschungsrates für die effektive Nutzung der Produktivkraft Wissenschaft bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus. Rede auf der Plenartagung des Forschungsrates der DDR am 8.9.1969 in Berlin; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 299, S. 1–40, hier 37. 488 Dieser Thematik widmete sich verstärkt ab 2000 die FAZ mit zahlreichen profunden Aufsätzen, vgl. paradigmatisch: Demougin, Dominique: Planwirtschaft an den Universitäten. Der deutsche Rückstand gegenüber Amerika hat weniger mit unzureichenden Leistungsanreizen für Professoren als mit mangelnder Autonomie zu tun, in FAZ vom 15.7.2000, S. 15, Bovenschulte, Marc / G aus, Olaf: Die Kapitalisierung des Wissens. Erkenntnisgewinn unter Begründungsdruck: Wem nützt, wer versteht die Forschung?, in: FAZ vom 13.9.2000, S. 56 sowie Flöhl, Rainer: Weniger Forschungsbürokratie? Programmbudgets für die Leibniz-Gemeinschaft / Größere Flexibilität angestrebt, in: FAZ vom 2.10.2002, S. N1 f.

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mitgliedern unterschätzte die Bedeutung ihrer Tätigkeit im Forschungsrat und stellte sie hinter andere dienstliche oder gesellschaftliche Aufgaben zurück.«489 Einer, der die Bedeutung des Forschungsrates nicht erkennen konnte, war Hartmann, den Steenbeck hier auch stellvertretend gemeint haben muss, weil dieser den Sitzungen regelmäßig fernblieb mit dem Hinweis, dass ihn diese Sitzungen nur von der Arbeit abhalten würden. Die in der SED-Wissenschaftspolitik implantierten Glaubenssätze des dialek­ tischen (und auch des historischen) Materialismus brachten es mit sich, dass nicht nur auf der abstrakten Wissenschaftsebene (Entwicklungsgesetze, Planung, Metho­ dologie), sondern auch bis in die Obliegenheiten der einzelnen Fachdisziplinen hinein (Raumforschung, Quantenmechanik, Kernphysik, Technologie) politisch-ideologisch von der SED eingegriffen wurde. Mithin würde es einer Wirkungsanalyse der DDR-Wissenschaftspolitik nicht gerecht werden, wenn das ideologische und propagandistische Tun keine Berücksichtigung fände. Es raubte nicht nur Zeit. Es verbot und kanalisierte, es steuerte. Außerdem existierten zumindest in den 1950er- und 1960er-Jahren verschiedene ideologische Unterströmungen, die sich insgesamt zu einem großen Strom formierten, der die eigentliche Forschungsarbeit durchaus behinderte. Diese Strömungen waren wirkungsmächtiger als die platte SED-Propaganda. Insbesondere vermochten es karrierebesessene Hardliner, die falschen, destruktiven Wege neu zu befeuern. Vor ihnen hatte man Angst, also blieb man still. Sie dürften jedoch den Crash des Systems eher beschleunigt, denn verzögert haben. Kritische Stimmen, die den Sozialismus verbessern wollten, haben ihn dagegen möglicherweise länger am Leben erhalten. Moderne westliche Erkenntnisse zu Wissenschaftsentwicklungen wurden ohnehin regelmäßig abgewiesen: Strauss kanzelte auf ultraorthodoxe Manier Thomas Kuhns Theorie des Paradigmenwechsels in den Wissenschaften490 in seiner Arbeit »Kontinuität und Diskontinuität beim ›Paradigmenwechsel‹« ab: Im Rahmen einer sich breit aufgefächerten Wissenschaftsphilosophie habe sich »als besonders erfolgreich« eine Richtung entwickelt, »die in den USA selbst als ›anarchistisch‹ bezeichnet wird und als deren Hauptvertreter […] Thomas S. Kuhn sowie sein Freund und Mitstreiter Paul Feyerabend gelten können. Diese Richtung leugnet nicht nur – wie alle nichtmarxistischen Wissenschaftsphilosophien – die Existenz äußerer und innerer Entwicklungsgesetze für die Wissenschaft, sie leugnet auch jegliche Kontinuität beim Übergang von einer Theorie zu der nachfolgenden. Die extremen Vertreter dieser Richtung wie Kuhn und Feyerabend leugnen sogar, dass sich die Begriffe der Nachfolgetheorie auf den gleichen Objektbereich beziehen oder auch nur beziehen können wie die Begriffe der vorhergehenden Theorie. Auf diese Weise entsteht nicht nur ein subjektiv-idealistisches Zerrbild der Wissenschaftsgeschichte, sondern

489  Steenbeck: Verantwortung des Forschungsrates; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 299, S. 1–40, hier 40. 490  Vgl. Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt / M. 1991.

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die wissenschaftlichen Theorien selbst werden ihrer objektiven Widerspiegelungsfunktion beraubt.«491 Das muss nicht unbedingt jeder verstanden haben, aber es wirkte. Es berauschte Ideologen, und manch junger Student wähnte sich auf der richtigen Seite zu stehen, machte sie glauben, dass der Marxismus der Gipfelpunkt auch der wissenschaftlichen Erkenntnisse sei. Ernst genommen, irrte Strauss, denn selbst das Phänomen »seiner« Quantenphysik zeigt, wie sehr Kuhn recht hatte. Und Kuhn bekam auch recht in seiner Prognose der Wissenschaftsentwicklung. Vor allem die Technologie der Mikroelektronik »folgte« Strauss’ Ansicht nicht. Oder philosophisch formuliert: Hartmann musste in der DDR scheitern, weil deren Wissenschaftsverständnis die Frage der Diskontinuität nicht begriff. Strauss forderte, sich mit Kuhn auseinanderzusetzen: »Es wäre weder zu früh noch zu spät, wenn sich die Schriftenreihe ›Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie‹ dieses Machwerks annehmen würde.« Und: »Alle bisherigen Revolutionen in der Physik« hätten sich als »dialektische Negationen« erwiesen oder eben als »Aufhebungen früherer Theorien durch die nachfolgenden«. Die Spezielle Relativitätstheorie und Quantenmechanik seien »sogar die konservativsten Aufhebungen der klassischen Mechanik«.492 Warum das so ist, erläuterte Strauss nicht. Und was dieses Gesetz positiv bewirken könnte, erst recht nicht. Strauss entzückte die Hardliner, er war geradezu frech. Etwa in einem Brief an den berühmten Rudolf Carnap vom 31. Januar 1939; Zitat Strauss: »Das Hauptproblem für mich ist, wie weit die Syntax einer vorgelegten realwissenschaftlichen Sprache willkürlich (konventionell) und wie weit sie objektbestimmt (d. h. bestimmt durch die Forderung, dass sich in ihr bestimmte Realgesetze formulieren lassen) ist. Zu diesem Problem haben Sie m.  W. bisher nie ausführlich Stellung genommen.«493 An Streit fehlte es in der DDR nicht. Das Physikalisch-Technische Institut (PTI) hatte sich im Rahmen der Akademiereform bereiterklärt, Gedanken »zum Entwurf ›Aufgabenstellung, Struktur und Arbeitsweise des Bereiches des Vizepräsidenten für Planung und Ökonomie‹« vom 16. Dezember 1968 zu äußern. Die Antwort erfolgte bereits am 10. Januar 1969. Die Verfasser formulierten u. a. drei Hauptaufgaben: »Eine progressive, aktive wissenschaftsökonomische Steuerung der DAW nach außen und innen«; 2. die »Organisation der wissenschaftsökonomischen Verpflichtungen der DAW« sowie 3. »Wahrnehmung der Aufsichtspflicht (oberste) über die ökonomischen und planerischen Aktivitäten aller DAW-Institutionen«. Der Aufbau sollte dem demokratischen Zentralismus entsprechen, was bedeute, »dass a)  bei strikter Entscheidung von Grundfragen im Zentrum alle Teilfragen und Details 491  Strauss: Kontinuität und Diskontinuität beim »Paradigmenwechsel«; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 74, S. 1–4, hier 1. Paul Feyerabend (1924–1994), Werke u. a.: Wider den Methodenzwang. Frankfurt / M. 1976. 492  Strauss: Kontinuität und Diskontinuität beim »Paradigmenwechsel«; ebd., S. 2 f. 493  Schreiben von Strauss an Carnap vom 31.1.1939; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 137, S. 1–3.

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dort ihre Entscheidung finden, wo die größte Sachkenntnis besteht (Klare [Prinzip der Subsidiarität!  – d. Verf.])«.494 Die beiden PTI-Mitarbeiter bemängelten den vorgelegten Entwurf des Bereiches des Vizepräsidenten komplett. Ihre Kritik glich einem Verriss, sie schrieben: er sei statisch, passiv, die »Ausführungen zur Funktion und Position des Vizepräsidenten« seien »nur widerwillig« erfolgt. Es entstehe »bei dem gesamten Entwurf durchgängig der Eindruck, als würde die Planung der Forschungsarbeit mit der Planung der Industriellen Warenproduktion [IWP] gleichgesetzt«.495 Das sei aber objektiv falsch. Solche klaren Widerreden wurden ab den 1970er-Jahren deutlich seltener. Andererseits war es auch ein Beispiel dafür, dass vernünftige Kritik, ein Suchen nach gegenseitigem Verständnis, wie es Wissenschaftsfunktionäre wie Steenbeck oft versuchten, ohne Erfolg blieb, denn der hatte ja bereits 1959 gesagt: »Die Planung der Grundlagenforschung ist eben etwas gänzlich anderes als etwa die Planung einer Schraubenfabrikation.«496 Ein Argument, auf das auch Rompe und Hartmann wiederholt verwiesen. Allein die Notwendigkeit, ins Offene hinein zu denken, gelang nicht, da letztlich der Wille des Staates hierzu fehlte. Ein Beispiel: Heinz Bethge sagte am Donnerstag, dem 27. August 1970, kurzfristig einen Termin bei Rompe am Freitag ab, da er bereits am Samstag nach Frankreich zu einer internationalen Tagung fahren müsse. Der Unart, nicht rechtzeitig zu informieren, verdanken wir ein beredtes Beispiel zur Kultur des Gespräches in der Sache »›noch nicht Gedachtes‹ zu denken«. Übrigens ganz im Geiste Jürgen Kuczynskis, der nie müde wurde, gerade dies einzufordern. Worum ging es? Bethge: »In der Tat ist es ja leider so, dass in den vorliegenden Prognosen eigentlich doch immer nur versucht wird, das gerade Betriebene zu untermauern. Dies trifft auch auf die wissenschaftlichen Konzeptionen zu. Jeder versucht, seine gerade betriebene Richtung abzusichern, und es ist leider viel zu wenig Mut vorhanden, auch einmal neue Dinge – eben noch nicht Gedachtes – mit Risiko anzugehen.« Bethge schrieb, dass es wenigstens einen »sehr guten Lichtblick« gebe, nämlich Paul Görlichs497 interdisziplinäre Arbeitsgruppe im Forschungsrat, genannt »Forschungsstrategie 494  Paper von Werner und Lotz vom 10.1.1969: »Zum Entwurf ›Aufgabenstellung, Struktur und Arbeitsweise des Bereiches des Vizepräsidenten für Planung und Ökonomie‹ vom 16.12.1968«; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 283, S. 1–5, hier 1 f. 495  Ebd., S. 3 f. 496  Steenbeck, Max: Broschüre, Berlin 1960 sowie ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 120, S. 3–20, hier 10 sowie Paper von Werner und Lotz; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 283, S. 1–5, hier 4. 497  (1905–1986). Promotion 1932, Habilitation 1942. 1932 Laboratoriumsleiter bei Zeiss Ikon in Dresden, 1946 Carl Zeiss Jena, von 1946 bis 1952 in der Sowjetunion, zurück, Direktor für Forschung und Entwicklung. 1954 Professor mit Lehrauftrag an der FSU Jena. Ordentliches Mitglied der DAW (1955) und der Leopoldina (1957). Der hochproduktive Görlich hatte viele Schüler: »Jeder, der mit Paul Görlich in Kontakt gekommen ist, lernte ihn als gütigen, warmherzigen und humorbegabten Menschen schätzen, der trotz unüberschaubarer Arbeitsüberlastung für alle, die seine Hilfe suchen, einfach ›da‹ ist.« Zit. nach: Karras, Hans: Paul Görlich 65 Jahre, in: Physikalische Blätter 26(1970)10, S. 469.

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›Halbleiter-Bauelemente‹«. Diese Gruppe wolle unkonventionelle Ideen generieren. Er selbst habe Gedanken zur Kristallphysik beigesteuert und eine Grenzüberschreitung in Richtung der Problematik »Dünnschicht-Mikroelektronik« beigesteuert. Bethge wies anschließend noch auf Unzulänglichkeiten solcher Gruppen wie der Görlich-Gruppe hin, da »zu viel Fußvolk aus Ministerien und VVBs dabei« sei. Für jene sei dies nicht mehr als nur ein Termin im Terminkalender. Bethge sprach abschließend die Frage des wissenschaftlichen Nachwuchses an, der sich leider nicht hinreichend mit dem Effekt des neu Gedachten auseinandersetze, jedenfalls nicht, wie es die Amerikaner täten, die die Suche nach dem Nutzeffekt quasi mit der Muttermilch eingesogen hätten. Das DDR-Instrument der ökonomischen Hebel reiche nicht hin, der »Hebelarm« sei »in der Regel zu kurz!«. Er könne sich vorstellen, dass Physikstudenten in höheren Semestern Vorlesungen geboten würden, die vom »Wechselspiel zwischen Physik und Technik« handelten. An historischen Beispielen solle gezeigt werden, wie aus der Physik Technik entspringe. Die Kenntnisse der DDR-Studenten auf diesem Gebiet seien leider »gleich Null«.498 3.3.2 Wissenschaftspolitik Es existierten in der DDR zahlreiche Lenkungs-Institutionen für Fragen der Wissenschaft, Forschung und Bildung unterschiedlicher Architektur und Arbeitsprofile, oft wurden sie reformiert und umbenannt. Die wichtigsten waren: Hauptverwaltung Wissenschaft und Technik (1949); im Ministerium für Planung die Hauptabteilung Wissenschaft und Technik (1949 bis 1950), die anschließend in der 1950 gegründeten Staatlichen Plankommission (SPK) etabliert wurde; Zentralamt für Forschung und Technik (1950 bis 1957); Staatssekretariat für Hochschulwesen (1951), umbenannt in Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen (1958 bis 1967) und anschließend in Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen (MHF); Amt für Kernforschung und Kerntechnik (1957 bis 1963); Zentralamt für Forschung und Technik (1957 bis 1961); Forschungsrat der DDR (1957 bis 1990); ZK-Abteilung Wissenschaft und Hochschulen (1952) sowie Abteilung Wissenschaften (1957); ZK-Arbeitsgruppe Forschung und technische Entwicklung, ab 1967 ZK-Abteilung; Staatssekretariat für Forschung und Technik (1961 bis 1967); Ministerium für Wissenschaft und Technik (1967 bis 1990). Über die Etablierung solcher Organe wurde das MfS, selbst Teil und Mitglied des Ministerrates der DDR, regelmäßig (auch vor-)informiert.499 Ein Papier von Rompe zur Situation der Wissenschaftspolitik in der Frage der Überleitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Produktion stammt vom 29. Juni 498  Schreiben von Bethge an Rompe vom 27.8.1970; BStU, MfS, AIM 5691/82, Teil II, 1 Bd., Bl. 192–194. 499  Zum Beispiel im Falle des SFT: Vgl. Beschluss-Protokoll 14/61; BStU, MfS, SdM, Nr. 1902, Bl. 295.

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1972. Der noch amtierende Generalsekretär der Akademie, Ernst August Lauter, notierte darauf: »unerledigt«. Dass er es nicht gelesen haben könnte, ist unwahrscheinlich. Es sollte wohl heißen, dass alles, was laufen sollte, »unerledigt« war. Das Papier500 in Auszügen: »I. Der Akademie der Wissenschaft muss es gelingen, für die weitere Entwicklung der Wissenschaft in der DDR folgende Schwerpunkte angemessen zu bearbeiten: – Die langfristige Pflege von ausgewählten Gebieten der Grundlagenforschung, darunter auch solchen, die nicht unmittelbar praxisorientiert sind, um die nationale Weiterentwicklung der Wissenschaftsdisziplinen zu sichern und die Forschung für künftige Anforderungen leistungsfähig zu halten. Die Rezeptionsfähigkeit für die Ergebnisse der Weltwissenschaft muss dabei auf einer wesentlich breiteren Basis aufrechterhalten werden, um den Weltfundus an Wissen jederzeit nutzen zu können. (Vgl. IV) Auswahlkriterien für die zu bearbeitenden Gebiete sind: die potenzielle Nützlichkeit des Gebietes für die Produktion, die Möglichkeit der internationalen Kooperation, die Existenz von fachlichen und methodischen Erfahrungen, dringende Forderungen der Volkswirtschaft. – Angewandte Forschung auf produktionswichtigen Gebieten in enger Zusammenarbeit mit der Industrie und anderen gesellschaftlichen Auftraggebern, einschließlich Überführung1) der Erkenntnisse und Ergebnisse in die gesellschaftliche Praxis.« Als Fußnote: »Wir verstehen unter ›Überführung‹ das Umsetzen von ›passgerechten‹ Ergebnissen der angewandten Forschung und Entwicklung in die materielle Produktion, in die Erzeugnis-, Geräte- und Verfahrensentwicklung, unter ›Überleitung‹ das Umsetzen von Ergebnissen der Erzeugnis- und Verfahrensentwicklung in die Serienproduktion.

1)

– Die Verbesserung und Intensivierung der laufenden Produktion durch effektiven Einsatz des einschlägigen Forschungspotenzials unter Nutzung des technologischen Weltfundus.« II. »Als nullte Näherung kann für die Grundlagenforschung eine Zweiteilung, die für ihre Planung von Bedeutung ist, vorgeschlagen werden: a) Forschungsaufgaben, bei denen es in erster Linie um die Erkundung neuer Denkansätze, um die Erweiterung des Erkenntnishorizontes geht, und bei denen in absehbarer Zeit keine überführbaren Ergebnisse erkennbar sind. Bei solchen Forschungsaufgaben muss die Planung sehr langfristig sein und mit geeigneten, adäquaten Methoden arbeiten. Die Planbarkeit ist beschränkt hauptsächlich auf die Auswahl der aussichtsreichsten Fragestellungen und Aufgaben, die Bereitstellung der notwendigen Forschungsmittel usw. Eine eindeutige und konkrete Detailplanung kann sich lediglich auf die Schaffung optimaler Voraussetzungen für die Forschung erstrecken; darüber hinaus ist sie im Allgemeinen nicht möglich und würde auch keine Vorteile bringen. […] b) Forschungsaufgaben, deren Ergebnisse mit großer Wahrscheinlichkeit für eine Überleitung in die materielle Produktion geeignet sind, insbesondere zur Verbesserung der ›laufenden‹ Produktion, aber auch zur Schaffung neuer Verfahren, Erzeugnisse und Technologien mit neuen Qualitäten.« 500  Vgl. Professor Ro / We: Papier vom 29.6.1972: Einige Aspekte der Einführung und Überleitung von Erkenntnissen und Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung in die gesellschaftliche Praxis, insbesondere in die materielle Produktion; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 250, S. 1–7.

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»Die ›potenzielle Nützlichkeit‹ des Gebietes ergibt sich hier aus der engen Wechselwirkung von sich ständig vertiefender Forschung und einem breiten industriellen Hinterland (z. B. Halbleiterphysik – elektronische Bauelemente). Ziel der an der Akademie durchgeführten Forschung ist die Ansammlung neuen Wissens, die Aufbereitung des Weltfundus an Wissen und die breite Absicherung des Gebietes im Hinblick auf neu zu erwartende Effekte, die die Erzeugnisentwicklung revolutionieren könnten. Sie sucht selbst nach neuen Effekten und Wirkprinzipien, gegebenenfalls einschließlich der technologischen Realisierung. Dabei wird eine qualifizierte und ausreichend langfristige Planung, die konkreter und detaillierter sein muss als im Falle a), dringend erforderlich, um eine schnellstmögliche Überführung zu sichern, da die produktionsvorbereitende Phase oft länger dauert als die Forschung. Die Planungsmöglichkeit ist abhängig von der Überschaubarkeit des Forschungsgebietes und von der ›Produktionsnähe‹ der Forschungen. Die Planbarkeit des Suchraumes bedeutet nicht die ›Vorausplanung des gewünschten Effektes‹. […]« III. »Eine Verkürzung der Überleitungszeiten wird gefördert durch die Schaffung richtiger Proportionen und Relationen zwischen den beteiligten Disziplinen der Grund­ lagenforschung und zwischen Forschung, Entwicklung und Produktionsvorlauf. Als eine Faustregel gilt z. B. die Proportion 1 : 10 : 100 bei der Elektronik und Kernphysik, oder 3 : 10 : 100 bei der Chemie.« »In besonderen Fällen kann es notwendig sein, einen Teil der Akademieforschungs­ kapazität für Überleitungsprobleme einzusetzen. Die Umprofilierung von ›Grundlagenforschern‹ würde gleichzeitig die Möglichkeit einer gezielten Fluktuation schaffen, die die Akademie in den nächsten Jahren braucht. Es ist damit eine erstrangige Aufgabe der Wissenschaftsplanung, diese komplizierten Zusammenhänge zu überschauen, geeignete Methodiken zu finden und diese im Plangeschehen durchzusetzen. Die Wissenschaftsplanung als Leitungsaufgabe der führenden Wissenschaftler muss in der Lage sein, aus gesellschaftlichen Erfordernissen konkrete Fragestellungen an die Wissenschaftsdisziplinen abzuleiten. […]«501 – »Die spezifischen Fragen der Überleitung bei Verfahren, Erzeugnissen und Technologien können nicht dahingehend verallgemeinert werden, dass sie einem ›Überleitungsalgorithmus‹ genügen, wohl aber kann das Überführen und Überleiten erlernt werden.« – Eine »bloße Übergabe von Papier« würde nicht den Problemlösungen gereichen. – Formale Berichte würden die Überleitung stören. – Für die Überführung, die »so schnell und reibungslos wie möglich zu gestalten« ist, »ist eine sehr enge und möglichst frühzeitige Zusammenarbeit zwischen Forschern, Technologen und Ökonomen (zwischen Forschungsinstitut und Industriebetrieb) notwendig«. – »Der Weltfundus ist auch bezüglich der Technologien und des ›Know-how‹ zu nutzen. Voraussetzung ist, dass dafür günstige Möglichkeiten bestehen (Rezeptionsfähigkeit der Forschung, auch auf nicht bearbeiteten Gebieten, ausreichende Informations­ vermittlung). Wenn das nicht der Fall ist, und wenn man dabei nicht auf langjährigen Erfahrungen und einer gewissen methodischen Kontinuität aufbauen kann, besteht allerdings die Gefahr, dass die Nutzung des Weltfundus sehr teuer wird und fast ebenso viel Aufwand erfordert, wie die Ermittlung der betreffenden Fakten durch eigene Forschung.« […]502 501  Ebd., S. 1–4. 502  Ebd., S. 5 f.

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Abschließend sprach Rompe das Problem an, forschungshungrige Absolventen für die Industrie zu begeistern: »Der Wissenschaftler in der Grundlagenforschung sieht sich oft an der Spitze einer Wertskala, da er ›reine Forschung‹ betreibt; es fehlt ein Klima, das der Erhöhung der moralischen Verantwortung für das Weitergeben der Erkenntnisse förderlich ist; es gelingt uns derzeit kaum, ›applikationskreative‹ Forscher in die Industrie zu vermitteln; der Industriepartner überschätzt die Möglichkeiten der technologischen Forschung an der Akademie; dem Akademieforscher sind oft Industrietechnologien fremd, er versucht teilweise die Forschungstechnologie schematisch zu übertragen.«503 Insgesamt ein Katalog des Unerfüllten. Die SED setzte auf Kooperationszwang. Das MWT hatte am 15. Dezember 1975 die Anforderungen an die physikalische Grundlagenforschung (AdW, MHF) zur »Sicherung der langfristigen und planmäßigen Realisierung der Aufgaben und Ziele für das Gebiet Elektrotechnik / Elektronik« zu Papier gebracht. Das Papier sah sich den Aussagen der 16. Tagung des ZK der SED verpflichtet und setzte »sich zum Ziel, die volkswirtschaftlichen Anforderungen auf dem Gebiet Elektrotechnik, Elektronik und Gerätebau mit den Aufgaben der physikalischen Grundlagenforschung zu verbinden und Anregungen für den Einsatz des Forschungspotenzials der AdW und des MHF zur Lösung derartiger Aufgaben zu geben«.504 Institution

Beschäftigte davon im StaatsAufwand davon im Staats(in VbE) plan WT (in VbE) (in Mio. Mark) plan (in Mio. Mark)

AdW

733

110

24,7

4,2

MHF

632

141

37,0

4,6

1 365

251

61,7

8,8

Gesamt

Tabelle 2: Forschungspotenziale für Elektrotechnik / Elektronik

Zusammen mit den kooperierenden Einrichtungen beider Bereiche arbeiteten 3 970 VbE in diesem Bereich.505 Insgesamt waren 35 Prozent des Gesamtpotenzials für den Bereich der Elektrotechnik und Elektronik eingesetzt. Die staatlichen Auflagen 1976 für Staatsplanaufgaben sahen eine Steigerung um 30 Prozent vor. Die Bedeutung der Beherrschung der Elektronik-Technologie wurde in diesem Dokument expressis verbis anerkannt, etwa auf den Gebieten der Weiterführung des »Siliziumprogramms«, des Übergangs zu Scheibendurchmessern von 100 mm, der Beherrschung der Ionenimplantation, der »Untersuchung neuer Technologien zur Herstellung von Schaltkreisen höchster Elementdichte, darunter Forschungen zum 503  Ebd., S. 7. 504  MWT, Abt. 5.2, vom 15.12.1975: Anforderungen an die physikalische Grundlagenforschung zur Sicherung der langfristigen und planmäßigen Realisierung der Aufgaben und Ziele für das Gebiet Elektrotechnik / E lektronik; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 388, S. 3–7, hier 3. 505  Vgl. ebd., S. 4. Die Zahlen verstehen sich ohne Interkosmos-Programm.

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Einsatz gesteuerter Elektronenstrahlen zur Herstellung von Strukturen (Hauptforschungsrichtung Elektronenstrahltechnologie)« u. a. m.506 Die Überführung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in die Indus­ trie war so gut wie immer kritisch. Wenige Wissenschaftler wie Erich Thilo507 und Werner Hartmann508 kritisierten dies fundamental. Meist wurde Kritik an anderen geübt und eigenes Bemühen herausgestellt. So berichtete Wolfgang Mundt im Herbst 1974, dass die Überführung von wissenschaftlichen Ergebnissen des Forschungsbereiches (FoB) Geo- und Kosmoswissenschaften in die Praxis zu wünschen übriglasse. Der gegenwärtige Stand sei »unzureichend«. Doch hob er sein Institut hervor, das Zentralinstitut für Physik der Erde (ZIPE), indem er drei Usancen erwähnte, u. a. eine verbesserte Ballontriangulation zur Landvermessung; ein Thema, das als RGW-Aufgabe im Rahmen des Interkosmos-Programms platziert war.509 Starrheit und Elastizität Dass Friedrich (genannt: Fritz) W. Selbmann510 sich nicht lange an der Spitze der SED halten konnte, lag schlicht an seiner Klugheit, die er der Parteidisziplin hin und wieder nicht unterwarf. Selbmann sah Ende der 1950er-Jahre in einer Rede vor dem Forschungsrat, kurz vor seiner Entmachtung, den Hauptmangel in Forschung und Entwicklung nicht primär im Mangel an Finanzmitteln, auch nicht im Mangel an qualifizierten Fachkräften oder im Mangel an Materialien und Kapazitäten. »Der Hauptmangel«

506  Ebd., S. 5 f. 507  (1898–1977). 1916 Obersekundareife, 1916 und 1919–1920 Technische Staatslehranstalten Chemnitz, 1920 Abitur als Externer am Kaiser-Friedrich-Realgymnasium Berlin; 1920–1925 Studium der Chemie an der Universität Berlin. 1925 promoviert, a. o. Professur und Dozentur von 1932–1943, 1943 o. Professsor in Graz für Anorganische Chemie, 1945 Professor mit Lehrstuhl für Chemie und Direktor des Chemischen Instituts der HU Berlin. Ordentliches Mitglied der DAW, Direktor des Institutes für anorganische Chemie. Mitglied der Leopoldina. MfS-Vorgang: BStU, MfS, AOP 771/63. 508  TSD; Nachlass Hartmann, G 39–43. 509  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 23.9.1974: Bericht von »Gotha« am 23.9.1974; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 45 f. 510  (1988–1975). 1918 Mitglied eines Arbeiter- und Soldatenrates. 1920 USPD, 1922 KPD. 1930–1932 Mitglied des Preußischen Landtages, 1932/33 Abgeordneter des Deutschen Reichstages. 1933 verhaftet und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. 1945 aus dem KZ Dachau geflohen. 1946–1948 Minister für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung in Sachsen. 1949 Mitglied des Deutschen Volksrates. 1949/50 Minister für Industrie. 1950/51 Minister für Schwerindustrie. 1951–1953 Minister für Hüttenwesen und Erzbergbau. 1953–1955 Minister für Schwerindustrie. 1954–1958 Mitglied des ZK der SED. 1955–1958 Stellv. Vorsitzender des MR und Vorsitzender der Kommission für Industrie und Verkehr. 1958 Rüge und Ausschluss aus dem ZK. 1958–1961 Stellv. Vorsitzender der SPK. 1961–1964 Stellv. Vorsitzender des Volkswirtschaftsrates. 1963/64 Leiter der Kommission für Wissenschaftlich-technische Dienste. Ab 1964 Schriftsteller.

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Abb. 10: Fritz Selbmann spricht zur Hochschulpolitik in der Kongresshalle Leipzig, 1948

bestand seiner Meinung nach »in der Unzulänglichkeit der Planung«. Zwar solle sie »elastisch« sein, müsse aber viel mehr als bislang den »wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechen«. Eine »ausschlaggebende Rolle« sah er hierfür bei den Werkleitern. Es war, als versuchte er die Quadratur des Kreises. Vieles, was er sagte, war durchaus richtig, er verquickte es jedoch mit Elementen der Zentralverwaltungsidee, sodass das Richtige verpuffte. So sollten zur Förderung der Auftragsforschung Vermittlungsstellen eingerichtet werden, die die Wünsche der Betriebe an die Institute weiterzuvermitteln hätten. Zur Koordinierung dieser Vermittlungsstellen sollte wiederum eine »zentrale Vermittlungsstelle« etabliert werden. Auch die Mittelzuführung klang moderat. So verkündete er, »dass von den für den Bereich Forschung und Technik vom Wirtschaftsrat für das Jahr 1958 insgesamt veranschlagten 840 Millionen DM rund 632 Millionen DM durch den Plan Forschung

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und Technik festgelegt werden. Rund 70 Millionen DM sollen zur Verfügung des Forschungsrates für unvorhergesehene Aufgaben in Reserve gehalten werden.« Der Rest war für Umlaufmittel und als Reserve gedacht. Peter A. Thiessen stimmte den Ausführungen Selbmanns vorbehaltlos zu. Sein Lob drohte die Diskussion zu ersticken. Doch es kam dann doch noch zur Kritik, der Informatiker Herbert Kortum brach das Schweigen. Er führte aus, dass der von Selbmann kritisierte Fehler bei der Planung von Forschung und Technik nicht aufgrund des Mangels an gutem Willen, sondern »auf den Mangel an Erfahrungen zurückzuführen« sei. Die Fachleute säßen oft auf falschen Stellen. Auch komme es zunächst darauf an, »die Bedeutung der einzelnen Industriezweige festzustellen«.511 Hans Frühauf 512 forderte, dass die »Kader in den Instituten […] auf ihre Eignung für wissenschaftliche Arbeit überprüft werden« sollten, »ungeeignete sollten in die Industrie überführt werden«. Und Steenbeck bemängelte, dass sich in den Betrieben wissenschaftlich verheißungsvolle Arbeiten verlören, sie würden nicht in die Produktion überführt, weil »auch weniger gute Fabrikate ohne Schwierigkeiten abgesetzt werden« könnten. Folglich sollten die Betriebe zur »Einführung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen durch den Plan verpflichtet« werden.513 Rompe bemerkte zur Auftragsforschung, dass sie zwar in Ordnung sei, man solle aber darauf achten, dass die Institute nicht mit Hilfsarbeiten beauftragt würden, da die Betriebe eine solche Neigung hätten. Man müsse eine »Ordnung für Vertragsabschlüsse« schaffen. In der heiklen Frage der Kaderpolitik solle man – das war gegen Frühauf gerichtet – Fingerspitzengefühl walten lassen und die jeweiligen Situationen, in denen sich die betreffenden Kader befänden, beachten. Möglicherweise könne man auch über eine Eignungsprüfung nachdenken. Jedenfalls solle man ihnen »nicht in Bausch und Bogen die notwendigen Fähigkeiten absprechen«. Der Genetiker Hans Stubbe514 wiederum unterstützte Frühauf, man möge die »Auslese der Kader für wissenschaftliche Arbeit« künftig »nach wesentlich strengeren Maßstäben« vornehmen. Die bisherige Fluktuation der Jüngeren sei viel zu gering. »Die Möglichkeiten eines Institutsleiters, für eine gesunde Fluktuation 511  Protokoll des Forschungsrates, S. 5–12, vermutlich 1958; ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 292, S. 5–7. 512  (1904–1991). Hochfrequenzphysiker. 1924–1928 Studium der Elektrotechnik an der TH Stuttgart. 1931 Promotion. Viele Funktionen in der DDR, u. a. 1951–1959 Prorektor an der TH Dresden, ab 1957 Mitglied des Forschungsrates, 1961/62 Staatssekretär für Forschung und Technik. Nach fünfjähriger Assistentenzeit bei Herrmann am Institut für Hochfrequenztechnik und Radiotechnik der TU Stuttgart musste er 1933 seine begonnene Hochschullehrerlaufbahn wegen Solidarität mit seinem Lehrer (aus pol. Gründen verhaftet) unterbrechen. Anschließend 16 Jahre in leitenden Stellungen in Industriebetrieben der Schwachstromtechnik. 1948 Berufung zum wissenschaftlichen Leiter der VVB Radio- und Fernmeldetechnik R-F-T. 1950 in der Nachfolge Barkhausens Lehrstuhl für Schwachstromtechnik an der TU Dresden. Vizepräsident der DAW. 1961/62 Staatssekretär für Forschung und Technik. Vgl. Festschrift [für Hans Frühauf ]: Wissenschaftliche Zeitschrift der HfE Ilmenau 1953–1963, 9(1963)3, S. 233 f. 513  Protokoll des Forschungsrates, S. 5–12, vermutlich 1958; ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 292, S. 5–7, hier 8. 514  (1902–1989). Siehe Kap. 3.5.1, Exkurs 3.

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zu sorgen, wird durch Bestimmungen eingeschränkt, die das Kündigungsrecht des Institutsleiters in unnötiger und unzweckmäßiger Weise einengen.«515 Selbmann führte zum Schluss aus, dass darauf geachtet werden müsse, dass »nicht ein Typus von Wissenschaftlern herangebildet« werde, der »sich nicht in den Betrieben die Hände schmutzig machen« wolle. »Die Auftragsforschung« würde »die Institutsleiter zu einer überlegten Kaderpolitik und zu einem Verzicht auf Aufgaben nötigen, die die Institute nicht wirtschaftlich lösen können«. Der Forschungsrat solle zukünftig »auch auf die Hochschulpolitik Einfluss nehmen«. Die Zahl der wissenschaftlich Ausgebildeten sei zu gering in der DDR. Und die »Frage der Einführung der neuen Technik in die Produktion« sei »weitgehend eine Frage der Erziehung der Werkleiter«. Die Erziehung reiche aber allein nicht immer aus, deshalb »müssen Aufträge erteilt werden, ›ob der Betrieb will oder nicht‹«.516 Der Forschungsrat sei ermächtigt, »sich der zentralen Arbeitskreise für Forschung und Technik zu bedienen«, er solle also davon auch »Gebrauch machen«, und die »Arbeitskreise sollten offiziell Gutachterorgane des Forschungsrates werden«. Für deren Tätigkeit und Funktion entwarf er einen regelrechten Algorithmus.517 Es war erkennbar, dass er überzeugt war, dass man alle Probleme mit guten Plänen lösen könne. Das war sein Problem. Thilo »steigerte sich« einmal »in seiner Erregung soweit, dass er wörtlich formulierte: ›In unserem Staat ist es viel schlimmer als unter den Faschisten‹.« Die, die Ideen und Wege zur Änderung hätten, seien nicht mehr da, und jene Funktionäre, die da seien, »verstünden von den Arbeiten nichts«.518 Zu Selbmann existiert ein in der Akte zu Thilo eingelegter inoffizieller Bericht, der anlässlich eines Empfanges des Präsidenten der DAW am 26. Oktober 1961 gefertigt worden war. Auf dem Empfang soll Selbmann »auf‌fallend herzlich begrüßt« worden sein und angeregt mit dem gerade »übergesiedelten« Johann G. Kienle (1895–1975) aus Heidelberg (Kap. 4.2.1) und Steenbeck diskutiert haben. Thilo soll gar versucht haben, ihm zu applaudieren. »Durch den Saal ging bei dieser Gelegenheit ein Raunen der Bewunderung und des ausdrücklichen Freundschaftsbeweises.«519 War diese Bewunderung dem Umstand geschuldet, ein Gestürzter, Gefallener in Verbindung mit seiner politischen Vita gewesen zu sein? Gewiss, aber es war auch die Intuition vieler seiner Mitmenschen, dass Selbmann wahrhaftig dachte, überzeugt war von seiner Idee, einer, den auch ein Geheimnis umfing: ein Denker, ein Dialektiker zu sein, einer der schrieb. Selbmann lässt in seinem Roman »Die lange Nacht« sein Alter Ego Robert Hesse mit dem bürgerlichen Philosophen Hestermanns im KZ Sachsenhausen sprechen.520 515  Protokoll des Forschungsrates S. 5–12, vermutlich 1958; ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 292, S. 5–7, hier 8 f. 516  Ebd., S. 10 f. 517  Ebd., S. 12. 518  Bericht vom 2.5.1962; BStU, MfS, AOP 771/63, 1 Bd., Bl. 140 f. 519  Abt. VI / E vom 30.10.1961: Bericht; ebd., Bl. 52–57, hier 56 f. 520  Selbmann, Fritz: Die lange Nacht. Halle 1961; vgl. auch Selbmann, Fritz [mit Vorbemerkung der Redaktion]: Zwei Kameraden, in: Die Weltbühne 17(1957)19, S. 582–587.

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Den Typus Hestermann gab es in der DDR zuhauf. Aus dem Roman: »Professor Hestermanns war sicher nicht der Mann, der Traktätchen schrieb und Flugblätter verteilte. Aber war nicht anzunehmen, dass dieser Mann, der aus seiner Nazifeindschaft nie ein Hehl gemacht hatte, von diesen Dingen mehr wusste als die Gestapo? Die Gestapo nahm es an. Das genügte, dass der Professor ins Lager kam. Der Professor liebte die Wahrheit, er hielt die Lüge für eine Sünde«.521 Die erste Sitzung des Forschungsrates fand am 24. August 1957 statt. In der Anfangsperiode waren es zunächst noch recht offene Gespräche trotz zum Teil heftiger Auseinandersetzungen, viele Mitglieder verbanden ähnliche Interessen und eine weitestgehend identische Sozialisierung. Später, als Funktionäre die Oberhand erhielten, geriet der Forschungsrat mehr und mehr zu einem Akklamationsorgan der SED. Von Hans Frühauf ist ein Bericht vom 13. September 1957 überliefert, in dem er diese erste Sitzung des Forschungsrates referiert. Die Berichterstattung trägt den Stempel von Uneinigkeiten in nahezu allen Fragen. Frühauf hatte in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft an der Akademie gegen eine gegnerische Gruppierung anzukämpfen,522 die im Präsidium der Akademie (Ertel, Lohmann, Bertsch) sitze. Hans Ertel,523 so Frühauf, sei ein »überzeugter Gegner« in Bezug auf die Forschungsgemeinschaft. Die beiden anderen aber schienen ihm von dieser Position nicht weit entfernt gewesen zu sein; Karl Lohmann (Direktor des Instituts für Biochemie) soll in der Sitzung aufgestanden sein und gesagt haben: »Ich habe ja gewusst, jetzt heißt es Strammstehen!« Anlass war der Beschluss, dass bei der Etat-Aufteilung der Institute die Forschungsgemeinschaft bestimme. Frühauf soll Offizier Günther Jahn vorgeschlagen haben, »die Gruppierung zu zerschlagen, indem er einen davon, vermutlich Lohmann, in den Vorstand der Forschungsgemeinschaft« aufnehmen wollte; die Idee: »Bei Stellungnahmen gegen die Forschungsgemeinschaft würde Lohmann in diesem Falle gegen die Interessen seines Institutes sprechen« müssen.524 Das Zentralamt für Forschung und Technik (ZAFT) der DDR legte 1958 einen Bericht über die »Erfahrungen und Lehren, die sich in der praktischen Anwendung 521  Ebd., S. 583. 522  Die erheblichen inneren und von außen durch die SED hineingetragenen Konflikte in der Gründungsphase der Forschungsgemeinschaft an der DAW 1956 zeichnet sehr schön Agnes Tandler nach. Dies trifft in besonderer Weise auf die Handlungen von Wittbrodt und P. A. Thiessen zu; vgl. Tandler: Geplante Zukunft, S. 71–79. 523  (1904–1971). Geophysiker, 1929–1932 Studium der Mathematik, Physik und Philosophie an der Universität Berlin. 1932 Promotion, 1942/43 Professor an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien. 1946 Professor und Direktor des Instituts für Meteorologie und Geophysik der HU Berlin. 1951–1961 Vizepräsident der DAW. Strafverfügung vom 9.1.1952. Nach §§ 1 u. 2 der Polizeiverordnung (Westberlin) erhielt er eine Geldstrafe in Höhe von 25 DM, ersatzweise fünf Tage Haft wegen Unterzeichnung eines Flugblattes mit dem Titel »Brief an die Ingenieure und Techniker Westberlins« bzgl. der »Volksbefragung gegen Remilitarisierung und für Friedensschluss im Jahre 1951«. Abt. VI/2 vom 13.9.1957: Bericht; BStU, MfS, AIM 1107/59, Teil I, 1 Bd., Bl. 41–43, hier 42 f. 524 Ebd.

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der Vertragsforschung ergeben« hatten, vor. Die Zusammenarbeit zwischen den Instituten der DAW, Hochschulen, Universitäten und Betrieben habe sich 1958 »weiter vertieft«. Besonders wurde die TH Dresden lobend erwähnt; der positive Trend gelte für die Forschungsinstitute und Hochschulen in Richtung Betriebe. In der anderen Richtung, also von den Betrieben ausgehend, galt dies nicht. Die »Vertragsforschung im engeren Sinne, d. h. Übertragung einer bestimmten Forschungsund Entwicklungsarbeit durch einen Betrieb an eine Forschungs- und Entwicklungsstelle bei gleichzeitiger Finanzierung der Arbeit durch den Auftraggeber«, war 1958 nur zögernd entwickelt worden. Die Ursache hierfür sah der Berichterstatter darin, dass der Grundsatz den Betrieben noch neu gewesen sei.525 Positiv wurde eingeschätzt, dass der VEB Geophysik mit Universitäts- und Hochschulinstituten »so gute Erfahrungen gesammelt« habe, »dass er wahrscheinlich auf den weiteren Ausbau seiner eigenen Forschungs- und Entwicklungskapazität verzichten könne«. Ein entscheidender und nachvollziehbarer Grund für die Reserviertheit sei das »Unvermögen vieler Betriebe gewesen, die wissenschaftlich-technischen Kernprobleme ihrer Produktion zu erkennen«. Genau dieser Umstand kennzeichnet auch eines der grundlegenden Probleme in der Frage der Innovationskultur in der DDR. Görlich hatte als Mitglied und im Auftrage des Forschungsrates in einer Analyse des Industriezweiges Feinmechanik / Optik / Elektronik »als besonders schwerwiegenden Mangel hervorgehoben, dass zahlreiche Auftraggeber Verträge nicht für die Dauer der Durchführung der übertragenen Aufgabe abschließen, sondern auf ein Planjahr befristen«.526 Ein generelles Problem bildete der Zwang. Dem semantischen Gebrauch in der DDR folgend, wimmelt es in dem Papier des ZAFT nur so von »Befehlen«: »Betriebe sind zu beauftragen«, »Bedarfsträger sind zu verpflichten«, »Die zentralen Arbeitskreise für Forschung und Technik sind zu beauflagen«, »Die Wissenschaftlich-technischen Zentren sind zu beauftragen«, »Die VVB sind zu beauftragen«, »Die Abteilung Maschinenbau« der Staatlichen Plankommission »hat dafür zu sorgen, dass« etc.527 Helmut Sandig, 1. Stellvertreter des Ministers der Finanzen, hielt am 4. November 1960 ein Referat vor dem Forschungsrat. Er bezog sich auf die »Aufgabenstellung des Siebenjahrplanes, die neue Technik rasch und allseitig zu entwickeln und anzuwenden«. In den letzten anderthalb Jahren war dafür »ein System von finanzpolitischen Maßnahmen ausgearbeitet und gesetzlich eingeführt« worden. Auch er agitierte den Zwang. Betriebe, die sich weigerten, veraltete Erzeugnisse nicht mehr zu produzieren, sollten über Restriktionen dazu gezwungen werden, etwa durch materielle Nachteile, Gewinnabstriche oder Qualitätsprüfungen: »Diese Gewinn525  ZAFT beim Forschungsrat der DDR vom 6.5.1959: Bericht über die Erfahrungen und Lehren in der praktischen Anwendung der Vertragsforschung; ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 310, S. 1–8, hier 1 f. 526  Ebd., S. 4 f. 527  Ebd., S. 7 f.

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abschläge, wenn notwendig, auch den gesamten Gewinn für ein Erzeugnis, müssen sie außerhalb des Planes an den Staat abführen.« Zu den »fördernden Maßnahmen« zählte, dass im Staatshaushalt für 1960 für die zentralen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben der Industrie über eine halbe Milliarde DM einzustellen waren.528 Sieben Jahre später sah Steenbeck die »Überwindung der zunächst notwendigen Zentralisation« und den »Übergang zu angemesseneren und auch ökonomisch wirksameren Methoden der Leitung von Wissenschaft und Technik« als vollzogen an.529 Am 13. Februar 1961 richtete der Forschungsrat der DDR an »alle Vorsitzenden der zentralen Arbeitskreise für Forschung und Technik« die Aufgabe, eine Art Bestandsaufnahme zu erstellen, wo Störungen in Forschung und Entwicklung aufgrund der »unbegründeten Kündigung des innerdeutschen Handelsabkommens« aufträten.530 Auch wurde die Umstellung auf die sogenannten Erfordernisse der wissenschaftlich-technischen Revolution realisiert. Parallel hierzu wurde das ZAFT als zentrales Organ des Ministerrates für die Koordinierung der wissenschaftlich-technischen Arbeit umgebildet und die Profilierung des Forschungsrates und seiner Gremien begonnen. Es sei anfänglich sehr schwierig gewesen, so Steenbeck Jahre später, den Wissenschaftlern »die Planung auf dem Gebiet der naturwissenschaftlichen Forschung« nahezubringen, die mit dem Argument auftraten: »Ich weiß doch nicht heute schon, was mir morgen erst einfällt.« Und weiter: »Mit der Umbildung des ZAFT in das Staatssekretariat für Forschung und Technik als zentrales Organ des Ministerrates für die Koordinierung der wissenschaftlich-technischen Arbeit wurde auch eine Neuprofilierung des Forschungsrates und seiner Gremien eingeleitet. Das betraf auch die bisher nach der Industriezweigstruktur gegliederten Zentralen Arbeitskreise.« Das sei notwendig geworden aufgrund der »Errichtung des antifaschistischen Schutzwalles in Berlin im August 1961«, damit die »Störfaktoren« des Westens ausgeschaltet werden konnten. Zum Allheilmittel »Forschungsrat« meinte Steenbeck, dass er sich »in seiner Struktur von der Industriezweiggliederung« gelöst und »seine Gremien mehr und mehr nach Hauptrichtungen« formiert habe, »die für die komplexe Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik« bedeutend seien. Das ökonomische Denken sei dadurch erleichtert worden, so habe sich der Forschungsrat mehr und mehr »darauf konzentrieren« können, »dem Ministerrat wertvolle Unterstützung und Entscheidungshilfen bei der Beurteilung und Auswahl der zentral zu entscheidenden wichtigsten Aufgaben in Wissenschaft und Technik zu geben.« Er beherrschte die Kunst der Umschreibung von Kritik und Ablehnung, etwa wenn er darauf verwies, dass die Diskussionen mit den Wissenschaftlern des Forschungsrates oft mühevoll, letztlich aber fruchtbar gewesen sein sollen.531 528  ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 315, S. 1–7, hier 5 f. 529  Steenbeck: Die Entwicklung der Wissenschaftspolitik in der DDR, Rede vom 25.4.1967; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 151, S. 1–23, hier 9 f. 530  Forschungsrat der DDR vom 13.2.1961: Sicherung der Wirtschaft der DDR vor Zufälligkeiten im innerdeutschen Handel; ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 318, S. 1–3, hier 1. 531 Steenbeck: Entwicklung der Wissenschaftspolitik; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 151, S. 1–23, hier 11–14.

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Steenbeck weiter: »Die vollkommenere, auf die Perspektive orientierte Planung und Leitung von Naturwissenschaft und Technik trug wesentlich dazu bei, dass immer engere Verbindungen und Beziehungen zwischen den Instituten der wissenschaftlichen Akademien, Hochschulen und Universitäten, der Industrie und den betrieblichen Forschungs- und Entwicklungsstellen herbeigeführt werden konnten. Mit dem Übergang zur neuen Wirtschaftspolitik nahmen diese Beziehungen zunehmend ökonomischen Charakter und vertragsrechtliche Formen an. Bis 1963 war die gesamte Forschung aus Mitteln des Staatshaushaltes finanziert worden.« Das sei vorteilhaft gewesen, »um unabhängig von den Betriebsergebnissen die Forschungsarbeiten auch finanziell zu sichern«. Jedoch: »In dem Maße aber, wie Partei und Regierung darauf orientierten, Wissenschaft und Technik als unmittelbare Produktivkraft einzusetzen und für die Erweiterung der Betriebe und Vervollkommnung der technischen Basis auch die Mittel durch die Betriebe selbst zu erwirtschaften, gingen von dieser Art der Finanzierung in der Industrie keine progressiven Impulse mehr aus.« Eine neue Finanzierungsart musste geschaffen werden; Steenbeck: »Nach dieser neuen Finanzierungsmethode führen die Betriebe aus den Preisbestandteilen der laufenden Produktion einen je nach Industriezweig unterschiedlichen Kostenanteil für die Finanzierung der geplanten Forschungs- und Entwicklungsthemen an ihre übergeordnete VVB ab. Diese Mittel werden als sogenannter Fonds Technik dort angesammelt und vom Gesichtspunkt der im gesamten Industriezweig erforderlichen Entwicklung von Wissenschaft und Technik den Betrieben zur Verfügung gestellt.« Damit sollten materielle Anreize gesetzt werden.532 Mit dem Vertragsgesetz von 1965 (Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft) sei, so Steenbeck, »eine bedeutsame rechtliche Regelung der zwischenbetrieblichen Kooperationsbeziehungen über wissenschaftlich-technische Leistungen« entstanden. Die Anwendung der Ware-Geld-Beziehung im Hinblick auf den Austausch wissenschaftlich-technischer Leistungen sei allerdings problematisch gewesen. Nach dem VII. Parteitag waren die Institute der Akademie dann dazu übergegangen, »Forschungsaufträge für Industriebetriebe auf der Grundlage derartiger Verträge zu übernehmen. Der Forschungsanteil dieser Institute zugunsten der Industrie darf jedoch nicht die durch den Plan vorgegebenen Proportionen zwischen der Erkundungs- und angewandten Forschung einerseits und der Lehrund Erziehungsarbeit andererseits verletzen.« Das aber musste permanent kontrolliert werden.533 1962 hatten jene Forschungsideen, die einen hohen kostensenkenden Faktor versprachen, von Regierungsseite den Vorzug erhalten. Am Institut für physikalische Stofftrennung (IpS) wurde 1962 ein Thema aufgenommen, das sich der Aufgabe gestellt hatte, Wiederkäuer mit anorganischem Stickstoff (AMBIKA, also Ammoniumbicarbonat) zu füttern: das Projekt »Isotopenkuh« war geboren. Durch ein

532  Ebd., S. 18 f. 533  Ebd., S. 20 f.

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solches Mittel erhoffte man sich eine beträchtliche Einsparung von Futter.534 An dem Projekt waren Mitte 1962 zwölf DDR-Institute beteiligt. Leitinstitut war das IpS. Tests an zwei Kühen sollen erfolgreich gewesen sein.535 Nach dem VI. Parteitag vom 15. bis 21. Januar 1963 entstand der erste in der DDR aufgestellte Perspektivplan der naturwissenschaftlichen Forschung, und zwar nach der Maxime, »einen langfristigen und von bürokratischem Ballast freien Perspektivplan« zu kreieren.536 Die Philosophie dieses komplizierten Planes war Metaphysik, die auch Steenbeck nicht »erden« konnte; Zitat: »Wir stützten uns konsequent auf das in unserer 2-Phasenplanung erfolgreich angewandte Prinzip der Rückrechnung, indem wir von den Zielstellungen künftiger Jahre ausgingen und einschätzten, welche Aufgaben in welchen Etappen bereits heute begonnen oder in den nächsten Jahren durchgeführt werden müssen.« Die Folge aber war harte Realität: Es entwickelte sich ein harter »wissenschaftlicher Meinungsstreit« über das Problem der Konzentration der Kräfte.537 Später, um den VII. Parteitag der SED im April 1967 herum, erlitt die Wissenschaft und Forschung das Diktat der Kooperationsgebote.538 Wer der Rede Steenbecks zur Berufung zum neuen Vorsitzenden des Forschungsrates am 24. Januar 1966 beiwohnte, bei der auch Ministerpräsident Willi Stoph anwesend war, erlebte einmal mehr, dass er in seinem Element war. Steenbeck sprach von der Bedeutung des Kollektivs, von vertrauensvoller Zusammenarbeit, vom begrenzten Wissen der Einzelnen, von der absoluten Wichtigkeit, wenigstens auf einem Gebiet etwas sehr genau wissen und können zu müssen.539 Wer Steenbeck kannte, wer ihm genau zuhörte, der konnte oft auch Kritik hören. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht. Zum scheidenden Thiessen in der Funktion des Vorsitzenden des Forschungsrares sagte er: »Du, lieber Peter Adolf Thiessen, warst mir seit mehr als 20 Jahren enger Zusammenarbeit immer so etwas wie ein älterer Bruder.« Aber er vergaß nicht, die Unterschiede in der künftigen Politik anzudeuten: Der Wechsel im Vorsitz, obgleich turnusmäßig nach vier Jahren erfolgt, sei ein »Bruch«, die Arbeit werde nicht »unverändert weiterlaufen« können wie bislang.540 Die Zeitschrift URANIA berichtete in ihrer letzten Ausgabe 1966 über die 1. Plenartagung des Forschungsrates am 2. September 1966, dessen Mitglieder anlässlich der Neuberufung (zur dritten Periode) zusammentraten. Stoph sprach zur Bedeutung der Wissenschaften und zur Frage der »Aufgaben des Forschungsrates 534  BV Leipzig, Abt. VI, vom 23.3.1962: Isotopenkuh; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 223. 535  Vgl. BV Leipzig, Abt. III/6, vom 12.7.1962: Bericht von »Müller« am 11.7.1962; ebd., Bl. 223. 536 Steenbeck: Entwicklung der Wissenschaftspolitik in der DDR; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 151, S. 1–23, hier 14. 537  Ebd., S. 15 u. 17. 538  Vgl. ebd., S. 20–22. 539  Vgl. Steenbeck: Rede vor dem Forschungsrat; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 138, S. 1–4, hier 1. 540  Ebd., S. 2–4.

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in der 2. Etappe des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung« (NÖSPL).541 Er hatte vor allem eine höhere Qualität in der Arbeit des Rates gefordert. Das Hauptgewicht wurde auf die analytische und prognostische Arbeit gelegt als Basis für künftige Weichenstellungen in den Staatsorganen, allen voran des Ministerrates und der SPK.542 Die Grundlage der Tätigkeit des Forschungsrates war bereits mit dem am 7. Januar 1965 vom Ministerrat bestätigten Statut gelegt worden. Stellvertretender Vorsitzender wurde Herbert Weiz, Staatssekretär für Forschung und Technik (SFT). Weitere 128 Mitglieder und außerordentliche Mitglieder vervollständigten den Rat. Für volkswirtschaftlich »entscheidende« und »wissenschaftliche Querschnittsgebiete« wurden Gruppen gebildet: u. a. Chemie und Chemietechnik, Grundfragen der Elektronik und Automatisierungstechnik, Grundfragen und rationelle Fertigung im Maschinenbau, Biologie, Physik / Mathematik.543 Steenbeck hob hervor, dass sich die prognostische Arbeit mehr als in der Vergangenheit auf strukturbestimmende »Möglichkeiten« erstrecken werde, »für die das ›Wozu‹ die wichtigste Frage« sei. Er sprach auch von der »starken Verjüngung« des Forschungsrates, die erfreulich sei. Die Kategorie »Außerordentliche Forschungsrats-Mitglieder« solle helfen, »jüngere Kollegen in die Verantwortung hineinwachsen zu lassen«. Keine Vielzahl von Aufgaben sei anzustreben, sondern eine Konzentration: »Wir können in unserem Staate nicht alles machen.« Fragen wie jene über zweckmäßige Bauelemente sollten von der elektronischen Industrie selbst gelöst werden. Wichtig sei der »Nutzeffekt einer Forschungseinrichtung für ihr Weiterbestehen oder ihren Ausbau«.544 Die Übernahme der Funktion des Vorsitzenden des Forschungsrates durch Steenbeck war nicht problemlos. Er setzte zur Bedingung, dass es im SFT zu keiner Veränderung in der Leitung kommen werde. Er habe sich – sinngemäß – mit Weiz zusammengerauft und wolle in seinem Alter keinen neuen Partner mehr in diesem Amte. Stoph hatte dem zugestimmt. Mit Weiz hatte Steenbeck am 11. Dezember 1965 gesprochen. Er verband die Funktionsübernahme mit einer Reihe von Neuerungen und Korrekturen hinsichtlich der Arbeit des Forschungsrates und darüber hinaus. Er wolle die Sektionen der DAW »zu Zentren des wissenschaftlichen Meinungsstreites und Erfahrungsaustausches machen«. Die Klassen der Akademie würden dies wegen ihrer heterogenen Zusammensetzung nicht leisten können.545

541  Steenbeck, Max: Wissenschaft – Prognose – Planung. Gedanken zur Arbeitsweise des neu berufenen Forschungsrates, in: URANIA 29(1966)12, S. 8–17, hier  8. Vgl. auch Beschluss über die Anwendung der Grundsätze des NÖSPL, in: Gesetzblatt der DDR, Teil II, 1963, Nr. 62 vom 17.7.1963, S. 437–452, hier 437. Zum Wesen und zur Interpretation des NÖSPL siehe die Richtlinie für das NÖSPL vom 11.7.1963, in: Gesetzblatt der DDR, Teil II, 1963, Nr. 64 vom 18.7.1963, S. 453–481. 542  Vgl. Steenbeck, Max: Wissenschaft – Prognose – Planung, S. 10 f. 543  Vgl. ebd., S. 14 f. 544  Ebd., S. 13–17. 545  MfS vom 14.12.1965: Information: Bericht; BStU, MfS, AP 2866/87, Bl. 141–147, hier 141 f.

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Solche Geschehnisse wurden an der Basis gewöhnlich genauer übersetzt: Am 3. September 1966 berichtete der GI »Müller« über am IsI Leipzig diskutierte Fragen im Zusammenhang mit der Plenartagung des Forschungsrates vom 2. September. Demnach soll Thiessen, so wurde kolportiert, seine Funktion als Vorsitzender selbst niedergelegt haben, weil ihm vorgeworfen worden sei, dass er nicht im Sinne der nationalen Volkswirtschaft gehandelt habe, »was sich in Mängeln der Organisierung der Forschung und Entwicklung in der DDR bemerkbar gemacht« habe. Mit Steenbeck erhoffe man »sich eine wesentliche Verbesserung der Tätigkeit des Forschungsrates«, nämlich »eine Konzentrierung auf die Hauptrichtungen der Volkswirtschaft« der DDR. In der DAW sei ihm dies jedoch als deren Vizepräsident nicht gelungen, da er dort gleichgestellte Wissenschaftler als Widersacher gehabt habe. Im Rahmen des Forschungsrates sei dies »jetzt grundsätzlich anders«. Mit Thiessen sei endlich ein Wissenschaftler »von der öffentlichen Bühne gegangen, von dem aus der Nazizeit bekannt sei, dass er sich bei der Vertreibung der jüdischen Intelligenz aus der faschistischen Reichsforschungsanstalt fragwürdige ›Verdienste‹ erworben habe«.546 »Besser als« bislang, sekundierte wenig später Werner Hartke, müsse die prognostische Arbeit verbessert werden, es müsse gelingen, »vorauszusagen, was die Zukunft bringen wird, um auf diesen Voraussagen Projekte aufzubauen, die der ganzen Menschheit nützen«.547 Gerade dies ist, wie wir in den Hauptkapiteln sehen werden, auf den Fachgebieten Hartmanns und Lauters nicht getan worden. Sie haben das auch gesagt. Andere Wissenschaftler wie Karl Lanius (Direktor der Forschungsstelle für Physik hoher Energien in Zeuthen) übten sich im Spagat. Lanius betonte die Bedeutung der prognostischen Arbeit im Rahmen der Teilchenphysik, da auf dem Gebiet der Kernphysik mit Überraschungen zu rechnen sei, es sei nicht überschaubar, »welche Überraschungen die Natur in diesen neuen Energiebereichen für uns bereithält«. Und Hans-Jürgen Treder sah für die extragalaktische Physik in der DDR gute Voraussetzungen, es sei »ein Arbeitsprogramm beschlossen« worden, »das in seiner Art einmalig« sei. Mit dem Schmidtspiegel in Tautenburg besitze man ein optisches Beobachtungsinstrument, »das in vielerlei Hinsicht das informationsreichste Instrument der ganzen Welt« sei. Samuel Rapoport betonte, dass das Zeitalter der Biologie angebrochen sei. Gegenwärtig sei eine Prognose der biologischen Wissenschaften in Arbeit, veranlasst durch Ministerrat und Forschungsrat.548 Steenbeck hatte anlässlich des 20. Geburtstags der DDR einen Text für die Schallplatte »20 Jahre DDR« vom 16. Mai 1969 unter dem Titel »Zur Wissenschaftspolitik der DDR« verfasst. Bislang sei es gelungen, so Steenbeck, »in einer Art Durchgangsstadium unserer Entwicklung […] den Anschluss an das Weltniveau zu finden und es in einigen [Disziplinen] sogar zu bestimmen«. Nun aber gehe es 546  BV Leipzig, Abt. XVIII/4, vom 3.9.1966: Informationen zur Plenartagung des Forschungsrates am 2.9.1966; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 243 f. 547  Interviews mit Wissenschaftlern der DDR zu den Erfolgen der DDR-Wissenschaft, in: URANIA 30(1967)4, S. 4–9, hier 6. 548  Ebd., S. 7 f.

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darum, »solche Leistungen auf allen der für uns strukturbestimmenden Gebiete zu erreichen. Das erfordere eine systematische Nutzung der Wissenschaft als Produktivkraft.« Sein Text ist eine Appellation auf die Tat- und Schöpferkraft der Intelligenz für die Gesellschaft: »Denn die gesellschaftliche Entwicklung kennt keinen Stillstand.«549 Aber gerade er wusste, wie es wirklich um die DDR-Wissenschaft bestellt war. Während er seine politische Heimat in der DDR fand, gelang es vielen seiner Alters- und Berufskollegen nicht, eine solche Überzeugung zu vertreten bzw. beizubehalten. Paul Görlich hatte am 14. Dezember 1966 in einem Gespräch unter sechs Augen gesagt: »Politik sei eine Wissenschaft zu dem Zwecke, viele Menschen freiheitlich glücklich zu machen.« Wenn hingegen, so Görlich sinngemäß, dagegen verstoßen werde, sei etwas nicht richtig. Ein »einheitliches Deutschland müsse unser Ziel sein«.550 Görlich war zu jener Zeit Forschungsdirektor im VEB Carl Zeiss Jena, der noch fünf Jahre nach Schließung der Grenzen an seiner alten politischen Position zumindest insgeheim festhielt und hoffte, dass die unsägliche Trennung zu Ende gehen möge. Zur Empirie des alltäglichen Wahnsinns: Zersplitterung, Chaos und Streit Ein besonders negatives Beispiel für den »Zickzack-Kurs« der SED lieferte die Stornierung der Schreibmaschinenproduktion »Erika« 1961 unter dem Aspekt der Beseitigung der sogenannten Störanfälligkeit. Siegfried Hildebrand hatte sich diesbezüglich am 25. Oktober 1961 beim Staatssekretär für Forschung und Technik, Frühauf, mit dem er befreundet war, energisch beschwert. Er schrieb, dass er erfahren habe, dass der Volkswirtschaftsrat (1961 bis 1965) Dispositionen getroffen habe, wonach »eine Abgabe des Werkes Großhainerstraße des VEB Schreib­ maschinenwerk Dresden« vorgesehen sei. Die Folge werde »eine völlige Stilllegung der Erika-Schreibmaschinenproduktion« sein. Hildebrand betonte, dass dies »in gar keinem Falle den Beschlüssen […] zur Förderung der Büromaschinenindustrie« gerecht werde. Zudem sei die Kleinschreibmaschine »Erika« bereits »seit Jahrzehnten […] eine der besten in der ganzen Welt«. Die Fertigung der Kleinschreibmaschinen durch Verlagerung in ein anderes sozialistisches Land würde die künftige Produktion eher noch störanfälliger machen. Die Abgabe, so habe er es gehört, sei bereits beschlossene Sache im Volkswirtschaftsrat, obgleich der die Einsprüche des Forschungsrates kenne.551 Die Zersplitterung der Forschung soll paradigmatisch anhand der Plasmaphysik demonstriert werden: 549  Steenbeck: Zur Wissenschaftspolitik der SED (Schallplattenproduktion vom 16.5.1969); ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 209, S. 1 f. 550  HA XVIII/5/2 vom 19.12.1966: Auswertung des Auftrages »Humboldt« vom 14.12.1966; BStU, MfS, AOP 14254/69, Bd. 6, Bl. 172–178, hier 177. 551 Schreiben von Hildebrand an Frühauf vom 25.10.1961; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 4959/81, Bd. 17, Bl. 267–269.

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Die Wissenschaftler registrierten zunehmend, dass Forschungsaufgaben hereinkamen, die sie in den seltensten Fällen selbst gewählt hätten. Dazu zählten militärische Aufgaben, auch Aufgaben der Grundlagenforschung, die wegen des Geheimnisschutzes dann nicht mehr für zivile Belange infrage kamen. Rompe soll Kuba (das ist Kurt Barthel, Schriftsteller und Sekretär des Schriftstellerverbands der DDR), vom ZK der SED und Mitglied der Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED, 1959 versprochen haben, dass in der Abteilung Mechanik des Institutes Rahnsdorf (1956 gegründet, die Mitarbeiter wurden zunächst rekrutiert mit Kompetenzen auf dem Gebiet der Hochtemperaturplasmaphysik) auch Explosivstoffe hergestellt werden sollten. Der Bericht stammt von Ludwig Wieczorek alias GI »Dingeldein«552 aus dem Institut für Optik und Spektroskopie (IOS), dem späteren Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie (ZOS), der außerdem von einem Beschluss »über die Eröffnung der Tätigkeit der Abteilung Mechanik« berichtete. Diese Aufgabe kennzeichnete bereits eine aufkommende Typik, nämlich die der Zersplitterung der Kräfte durch oft kurzfristig hereinkommende »wichtige« Aufgaben – etwa die Thematik einer Kondensatorenanlage auf Basis eines ZK-Beschlusses. Aber auch in Jena und in Falkenhagen wurde bereits an einer solchen Aufgabe gearbeitet. Sowohl die beteiligten Institutionen und Personen als auch die Tatsache der Mehrfachentwicklungen bei chronisch defizitären Etats zeugten von einer puren Mittelverschwendung und chaotischen Zentralverwaltungswirtschaft sowie seltsamen, nur schwer nachvollziehbaren Entscheidungsfindungsprozessen. Das sah auch »Dingeldein« so: »Die Kräfte der Wissenschaftler in der DDR« würden »für diese Aufgabe nicht konzentriert, sondern werden zersplittert, sodass die Durchführung von Forschungsarbeiten nicht mit allen zur Verfügung stehenden Kräften durchgeführt werden« könne. Er selbst arbeitete zu dieser Zeit an der Entwicklung eines Hochfrequenzspektrografen. Auch hier lag eine chaotische Zersplitterung mit folglich mangelhafter Gesamteffizienz vor. Dass das so war, war keine Folge mangelnden Vertrauens, sondern direkt der Zersplitterung geschuldet, die nicht beseitigt wurde oder besser: über den Markt hätte minimiert werden können. Es gebe, so der GI »Dingeldein« weiter, in der DDR Techniker mit großer Erfahrung auf diesem Gebiet. In Rahnsdorf habe man aber nicht genügend Entwickler, so würden »bereits in einem anderen Institut Spektrografen gebaut, und in Rahnsdorf« müssten »diese« nun erst »entwickelt werden. Also wieder eine Doppelentwicklung«.553 Überdies verstand »Dingeldein« Rompe nicht mehr, er glaubte, dass der »langsam« anfange »zu spinnen«. Die Abteilung Mechanik arbeite derzeit an ganz anderen Aufgaben als an jenen, die anfangs gestellt worden seien. Es sehe danach aus, dass der Trend hin zu militärischen Forschungen gehe. »Sollte dies eintreten, so würden zumindest drei von fünf vorhandenen Wissenschaftlern nicht im Institut verbleiben« können. Immerhin soll es zu einer »Aufmunterung« unter den Institutsmitarbeitern gekom552  (1930). Quelle: BStU, MfS, TA 316/85. 553  Abt. VI/3 vom 11.11.1959: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 10.11.1959; ebd., Bd. 1, Bl. 56–58, hier 56 f.

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men sein, als »bekannt wurde, dass die Parteileitung dem MfNV [Ministerium für Nationale Verteidigung] empfohlen« habe, Werner Schauer alias GI »Karl Wagner« »drei Jahre in die Produktion zu delegieren und ihn sofort aus dem Institut zu entfernen«. Die Maßnahmen, die Offizier Kriegk formulierte, waren bezeichnend für den desolaten Zustand am Standort Rahnsdorf: »1.) Es muss festgestellt werden, wer für die Desorganisation im Institut Rahnsdorf verantwortlich ist. Dies bezieht sich auf die Standortverteilung der einzelnen Abteilungen« und die Schließung der Abteilung Mechanik. »2.) Es wird festgestellt, welche Perspektive die Abteilung Forschung und Entwicklung im MfNV für die Abteilung Mechanik und die anderen Abteilungen vorsieht und inwieweit es hierbei im MfNV überhaupt eine Klarheit gibt.«554 Das Spektrum der Arbeiten in Rahnsdorf war vielfältig. Tageswünsche zu erfüllen, war eine nicht mehr seltene Aufgabe und Resultat von Gefälligkeitsersuchen. Die erwähnte Abteilung Mechanik war 1959 auch an Arbeiten der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Kernfusion beteiligt.555 Ein Umstand, der die Personalsorgen und die volkswirtschaftliche Ineffizienz deutlich macht. Kleinste Kapazitäten waren verstreut über die ganze Republik. Schauer soll zu Hause ein Schwarzbuch über das Institut verfasst haben, das 80 Seiten umfasste und bei der KPKK Köpenick hinterlegt worden sei.556 Dazu gesellten sich die Mangelerscheinungen in allem, die den vielfältigen und zum Teil höchsten Ansprüchen setzenden Aufgaben Begrenzungen auferlegten. Im Sommer 1961 hieß es, dass der Abteilung Mechanik für das nächste Jahr »alle Mittel für den Kauf von Materialien und Geräten« aus dem Westen »gestrichen« worden seien. Sie im sozialistischen Lager zu kaufen, war »in den meisten Fällen nicht möglich«.557 Ein heikles Thema – auch unter dem Aspekt der Bestimmungen des Alliierten Kontrollrates – war die Fusionsforschung, die mindestens bis 1965 betrieben wurde, wenngleich auf kleiner Sparflamme: »Es ist vor allem klar«, so der GI »Dingeldein«, »dass die DDR keinen ernsthaften Beitrag zur Fusionsforschung leisten« könne. Zudem könne keiner in der DDR die gegenwärtigen Bedürfnisse der Industrie hinsichtlich der Plasmaphysik benennen.558 In den ersten zwei Jahren habe man sich mit der Erforschung des heißen Plasmas befasst, woraus eine Reihe von Erkenntnissen und Nutzanwendungen sowie weiterführende Forschungen erwachsen seien.559 Es existierten Forschungsprojekte auch unter Steenbeck. Später wurden diese Arbeiten durch das Greifswalder Institut für Gasentladungsphysik unter dem Sommerfeld-

554  Ebd., Bl. 58. Zur Person Schauers siehe unten. 555  Vgl. Abt. VI/3 vom 4.12.1959: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 3.12.1959; ebd., Bl. 59 f., hier 59. 556  Vgl. Abt. VI/3: Bericht; ebd., Bl. 61 f., hier 62. 557 Abt. VI/3 vom 10.8.1961: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 10.8.1961; ebd., Bl. 76–79, hier 76. 558  Handschriftliche Ausarbeitung (offenbar von »Dingeldein«) zur Lage des III. PTI; ebd., Bl. 180–192, hier 180. 559  Vgl. ebd., Bl. 181–185.

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schüler und zeitweiligen Rektor der Greifswalder Universität Rudolf Seeliger und dem DAW-Institut in Berlin für Strahlungsquellen unter Rompe fortgeführt.560 Die Abteilung im Rahnsdorfer Institut bestand um 1961 aus drei Gruppen und drei Laboren. Auch existierte ein »Seminar«, das offenbar von Rompe geleitet wurde und zwölf Mitglieder umfasste.561 Zwei Jahre später forschte weiterhin eine ganze Reihe von Institutionen zu Fragen der Plasmaphysik. »Darunter« auch zu »Aufgaben, die durch mehrere Institute unabhängig voneinander durchgeführt« wurden. Etwa in Berlin-Buch, dort soll gar eine Forschergruppe ohne Forschungsauftrag gearbeitet und Sondenmessungen durchführt haben, und das, obgleich der VI. Parteitag der »Eigenbrötelei« den Kampf angesagt hatte. »Ungeklärt« war immer noch »die Frage der Zusammenarbeit mit der Gruppe« von Steenbeck in Jena. Rompe nehme gegenüber »Steenbeck eine […] sonderbare Haltung« ein. Der wolle Steenbeck besser nicht Einblicke »in die Probleme der Plasmaphysik« gewähren, »weil er alles nach Westdeutschland schleppt«. Er werde also auch nicht in die »neu zu bildende Kommission Plasmaphysik einbezogen«, hieß es hinter vorgehaltener Hand.562 Zur Plasmaphysik ist ein weiterer Bericht des GI »Dingeldein« vom 11. April 1963 überliefert. Darin ging es um die Struktur des Rahnsdorfer Institutes (dem sogenannten III. PTI). Die Struktur unter Winkler, mittlerweile Direktor, besaß zwei Stabsstellen und drei Bereiche, und zwar den Bereich Wissenschaft, den Wissenschaftlich-technischen Bereich und den Bereich Technik. Die beiden ersten Bereiche waren in jeweils drei Abteilungen gegliedert. Der dritte Bereich in drei Unterbereiche.563 Intern habe man, so »Dingeldein«, im Hause bereits über die weitere Entwicklung der Plasmaphysik in der DDR beraten. Ziel war zu bestimmen, welche Wege der Koordinierung beschritten werden könnten und sollten. Eine Vorstellung besagte, das III. PTI zum Leitinstitut zu machen. Institutionen, die auf diesem Gebiet forschten, waren das Institut Greifswald, das Institut für Strahlungsquellen, die Arbeitsstelle für Statistische Physik Leipzig und eben das III. PTI. Hinzu kamen nicht oder schwer erfassbare Institutionen, u. a. ein Institut in Potsdam, eine Stelle an der TH Ilmenau (Gasentladungsphysik) und das Institut in Berlin-Buch.564 Es mögen also insgesamt sieben Stellen gewesen sein. Das war für die kleine DDR ohne Zweifel ein unhaltbarer Zustand. Ohne Markt aber begann die Gier nach Fördertöpfen auszuufern, der Neid erlangte Macht. Die Idee, Rahnsdorf zu einem Leitinstitut zu machen (ähnlich wie später die AMD und das IE / IKF, siehe unten), 560  Vgl. Müller, Wolfgang D.: Geschichte der Kernenergie in der DDR. Kernforschung und Kerntechnik im Schatten des Sozialismus. Stuttgart 2001, S. 115. 561  Vgl. Organigramme; BStU, MfS, TA 316/85, Bd. 1, Bl. 85 f. 562  HA III/6/S vom 18.2.1963: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 14.2.1963; ebd., Bd. 1, Bl. 117–119, hier 117. Der Rufmord war verfestigt: »Dingeldein« soll laut Rompe 1968 verbreitet haben, »dass Steenbeck vermutlich ein Agent des Westens« sei. HFIM »Böttger« vom 23.11.1968: Monatsbericht November 1968; ebd., Bl. 128–135, hier 131. 563  Vgl. Organigramm; ebd., Bl. 124. 564  Vgl. HA III/6/S vom 21.4.1963: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 11.4.1963; ebd., Bl. 126–128.

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war ein üblicher DDR-Reflex, der letztlich nur zu einer weiteren Erstarrung des Handelns führte – und vor allem zu noch mehr Diskussionen und zu vermehrter Bildung von Kommissionen. Zudem konfligierte die Problematik »Leitinstitut« mit der Praxis einiger Großbetriebe in der DDR wie dem VEB Carl Zeiss Jena, die traditionell mit Institutionen direkt in Verbindung traten und Verträge abschlossen. Diese Wege waren noch einigermaßen elastisch, ließen Spielraum für Ausgestaltung der Verträge und anderweitige Anreize. Manchmal geriet selbst das übliche Chaos in ein noch größeres und die »Rettungen« daraus lauteten auch schon mal recht untypisch für die DDR, nämlich auf Entlassungen oder gar Finanzhilfe durch das MfS. Zwar wurden die Mittel für die Plasmaforschungen Mitte der 1960er-Jahre erheblich zusammengestrichen, von 6 auf 3 Millionen MDN, doch auch das war nicht genug. Die Auf‌lösung des III. PTI war plötzlich beschlossene Sache. Nach Rompes Vorstellungen sollte sich das III. PTI nach seiner Auflösung mit Hochgeschwindigkeitsumformung beschäftigen. Nach dem Rückzug des MfNV sollte die Mittelverteilung wie folgt aussehen: 30 Prozent für die Grundlagenforschung und 70 Prozent für Sonderaufgaben des MfS. Das MfS könne, hieß es, jährlich für 300 000 bis 500 000 MDN Forschungsaufgaben finanzieren, natürlich für eigene Zwecke. Aber auch diese Umstrukturierung werde Entlassungen bedeuten und laut Rompe insgesamt »nur ein rettender Strohhalm« sein.565 Am 17. August 1965 berichtete der GI »Dingeldein«, dass circa 20 Hochschulkräfte entlassen werden sollten. Dies sollte parallel zu einer Struktur­ änderung geschehen, auch er werde entlassen.566 Spätestens im November war entschieden, dass auch »Dingeldein« geht: in Betracht gezogen wurden für ihn das II. PTI, das HHI, die Staatliche Zentrale für Strahlenschutz oder der VEB Werk für Fernsehelektronik (WF) Berlin. Das MfS teilte ihm mit, dass es Interesse habe, dass er in das II. PTI oder in das WF gehe: »Dem IM wurde mitgeteilt, dass wir Interesse für die Aufnahme [seiner] Tätigkeit im II. PTI [oder] im WF […] hätten.«567 Er ging in das II. PTI. Einmal mehr thematisierte am 11. März 1965 »Dingeldein« die »persönlichen Differenzen zwischen Steenbeck und Rompe«, die sich als »Gefahr« für das Institut darzustellen begannen.568 Auch der Streit mit dem VEB Carl Zeiss Jena war unvermeidbar und bestimmte die folgenden Jahre. Wegen erheblicher Verwerfungen fand am 22. April 1968 in Leipzig eine Begegnung beider Parteien statt. Das Treffen aber endete nicht mit einer hinreichenden Klärung der Situation, sondern mit Irritatio-

565  HA XVIII/5/2 vom 13.2.1965: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 11.2.1965; ebd., Bl. 178 f. 566  Vgl. HA XVIII/5/2 vom 19.8.1965: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 17.8.1965; ebd., Bl. 221. 567  HA XVIII/5/2 vom 30.11.1965: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 25.11.1965; ebd., Bl. o. Pag., zwischen Bl. 221 u. 222. 568  HA XVIII/5/2 vom 11.3.1965: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 11.3.1965; ebd., Bl. 206 f., hier 206.

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nen, Verschnupfungen und einigen mehr oder weniger schlechten Kompromissen. Im Wesentlichen wurden lediglich die unterschiedlichen Positionen ausgetauscht.569 Am 19. Juli informierte er, dass die Verhandlungen beider Seiten »immer schwieriger« würden, Zeiss sei drauf und dran, das II. PTI »zu einer Abteilung des Betriebes machen« zu wollen, »in [der] Geräteentwicklung getrieben« werden solle.570 Die Klasse Chemie berief am 26. September 1963 in Vorbereitung der Präsidiumswahlen der DAW am 10. Oktober eine Sitzung ein, auf der Robert Havemann massiv gegen Akademiepräsident Hartke zu Felde zog. Etwa zu dieser Zeit tagte auch die Statutenkommission der Forschungsgemeinschaft, ebenfalls in Vorbereitung der DAW-Wahlen. Es zeigte sich, dass »die Differenzen zwischen den« beiden »Gruppen um Professor Rompe / K lare / Frühauf und Professor Steenbeck« fortbestanden. »Der Streit entzündete sich diesmal an der Formulierung im Geschäftsordnungsentwurf, dass der Vorsitzende der Forschungsgemeinschaft die Planung der Grundlagenforschung durchzuführen« hatte. »Steenbeck trat mit der Gegenmeinung auf«, dass das »Sache der Sektionen« sei. »Gegen Steenbecks Meinung« opponierte Frühauf, der »zu verstehen« gab, dass alle doch wüssten, »worum es ginge: darum, ob Professor Steenbeck als Vizepräsident größere Befugnisse als Professor Klare« habe »und diesem vorgesetzt ist oder nicht. Steenbeck äußerte, dass bei Bestehenbleiben dieses Passus die Geschäftsordnung nicht durchgehen würde. Auf Klares Frage, bei wem, antwortete Steenbeck, bei mir. Hans-Heinz Schober, Sekretär der Akademie-Parteileitung, äußerte, dass diese Streitigkeiten nun dazu führen könnten, dass ein reaktionärer Präsident gewählt werden könnte.571 Damit meinte er einen bürgerlichen Präsidenten, der nicht wie Hartke die Politik der SED durchwinke. Auf der Sitzung der SED-Parteileitung der Forschungsgemeinschaft am 1. Juni 1964 rechnete Schober erbarmungslos mit dem Wissenschaftlichen Sekretär der Forschungsgemeinschaft Hans Wittbrodt ab; seine Vorhaltungen waren ehrabschneidend. Wittbrodt nahm hierzu Stellung.572 Das Bemühen des VEB Carl Zeiss Jena, sich administrativ der Kapazitäten anderer Institutionen zu bedienen, ja einzuverleiben, war für die DDR allgemein und in besonderer Weise für Zeiss typisch. Das war auch Thema einer Information Wittbrodts an das MfS am 17. August 1964 zur Situation in der Forschungsgemeinschaft. Er tat seine Vermutung kund, dass es Bestrebungen gebe, die Institute der Forschungsgemeinschaft zu entziehen. Bereits drei Institute, u. a. das von Eberhard Leibnitz geleitete Institut für Verfahrenstechnik, würden »entsprechenden VVB

569  Vgl. Wieczorek: Begegnung am 22.4.1968 in Leipzig zwischen Vertretern des II. PTI und VEB Carl Zeiss Jena; ebd., Bl. 286–290. 570  HA XVIII/5: Bericht von »Dingeldein« am 19.7.1968; ebd., Bl. 291. 571  HA III/6/T vom 10.10.1963: Unterredung mit Schober; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 360–362, hier 361; Bericht der HA III/6/S vom 11.11.1963 zu Havemann; ebd., Bl. 381–388, hier 384. 572  Vgl. Wittbrodt: Ausführungen Schobers am 1.6.1964; BStU, MfS, AIM  15026, Teil  I, 1 Bd., Bl. 112–114.

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zu übergeben« sein. Es gebe hierzu bereits einen ministeriellen Entwurf.573 Es sei bereits hier darauf hingewiesen, dass die Protagonisten in zwei der Hauptkapitel, Hartmann und Barwich, den hierzu resistenten Weg verfolgten. Dem Staat, so Wittbrodt, fehle es an Durchgriffsmöglichkeiten. Man wolle ein ähnliches Regime wie bei der VVB. Man denke bereits an eine Art Generaldirektor, der bisherige Vorstand der Forschungsgemeinschaft könne dann als wissenschaftlicher Beirat fungieren. »Auf diese Weise würde die Legislative und Exekutive in die Hände von Staatsfunktionären gelegt.« Ein Beispiel dafür, dass  – im übertragenen Sinne  – »Honecker« bereits zu Ulbrichts Zeit auf dem Weg war und alles den Gesetzen der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsorganisation gehorchte. Das MfS schätzte zu Wittbrodt ein, dass der durch Schobers rigiden Auftritt unsicher geworden sei, er suche Halt und wisse nicht wo: »Seine früher guten Beziehungen zur Physik sind hinfällig.«574 Wie Schober wird auch Wittbrodt in den folgenden Hauptkapiteln eine Rolle spielen. Beide sind in der einschlägigen Historiografie nahezu unentdeckt, doch gerade an ihnen ist Zeitgeschichte ablesbar. Bei Hubert Laitko findet sich der nicht untermauerte Satz: »aber das Netzwerk um Rompe war stark genug, Wittbrodt in der Akademie zu halten.«575 In der Akte zu Wittbrodt ist ein Gespräch Jahns (es handelt sich um den oben bereits eingeführten Jahn576) mit Schober tradiert, das am 14. August 1964 stattfand. Möglicherweise ist diese Ablage ein Versehen, dank dessen wir einen markanten Beleg für die Gesprächskultur zwischen dem MfS und der SED besitzen. Der Wunsch mit Jahn zu sprechen, ging von Parteisekretär Schober aus. Der Präsident der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften Hans Stubbe soll zunächst in unfeiner, denunziatorischer Weise über Kurt Mothes gesprochen haben. Er habe demnach Mothes »als ausgesprochenen Gegner der DDR charakterisiert und ihm« vorgeworfen, »Faschist geblieben zu sein«. Er nutze »jede Möglichkeit« aus, »unserer Republik Schaden zuzufügen«. Als Beweis sehe er die Tatsache, dass Mothes die Jahresversammlung der Leopoldina ausgerechnet am 15. Jahrestag der DDR – in Weimar – stattfinden lasse. Das, so Schober, müsse das MfS wissen! Zum zweiten Anstrich, Jahn über Schobers Auslassungen in dem Gespräch: »Er [also Schober] habe das Gefühl, dass in der Abteilung Forschung und Technik des ZK, einschließlich des Genossen Apel, eine Politik betrieben« werde, »die das Bündnis mit der alten Intelligenz stört.«577 Schober soll es Jahn anhand der gerade erarbeiteten Direktive für die wissenschaftliche Forschung dargelegt haben. Ursprünglich habe Steenbeck

573  HA XVIII/5 vom 19.8.1964: Unterredung mit Wittbrodt; ebd., Bl. 193–195, hier 193. 574  Ebd., Bl. 193 f. 575  Laitko: Strategen, Organisatoren, Kritiker, Dissidenten, S. 39. 576  Im Bereich der HAXVIII/5 existierte auch ein Horst Jahn (28.2.1940) mit Zugang zum MWT. Er kam Ende 1972 zum MfS und wurde erst 1983 zum Hauptmann ernannt; BStU, MfS, KS 5158/90. 577  HA XVIII/5 vom 19.8.1964: Unterredung mit Schober; BStU, MfS, AIM 15026, Teil I, 1 Bd., Bl. 196 f., hier 196.

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die Ausarbeitung der Direktive geleitet, das führte jedoch nicht zu einem »annehmbaren Ergebnis«. Also übernahm Herbert Weiz578 diese Aufgabe, bezog jüngere Wissenschaftler ein und löste die Aufgabe binnen »kurzer Frist«. Man solle zwar, so Schober, Leute wie Steenbeck oder Thiessen nicht mit organisatorischen Aufgaben betrauen, aber sie seien als Ratgeber gut, »da sie das Fachwissen haben«. »Schober formulierte weiter: ›Ich muss diese von mir fest vermutete Tendenz dem MfS mitteilen, da es keine andere Stelle gibt, die Veränderungen herbeiführen könnte‹.«579 Inwiefern und welche, darüber existiert keine Explikation in Jahns Niederschrift. Es ist nicht zu vermuten, dass Jahn nicht alles adäquat verstand. Er hatte seine »Lehrzeit« bereits in Dresden gehabt, hatte zu Barwich und Hartmann gearbeitet. Schober rief das MfS um Hilfe an. Gegen das ZK? Doch wie schätzte Jahn selbst den Hinweis ein? Er vermutete, dass Schober von Thiessen vorgeschickt worden sei, da der ähnlich argumentierte und Schober habe wohl über das MfS die Parteileitung informieren, es also nicht selbst tun wollen. Jahn aber stellte offenbar nicht die Weichen auf Information auf dem Dienstweg, sondern nahm das Papier zur weiteren eigenen Verwendung, heißt allfälligen Überprüfung: »In der Trefftätigkeit mit dem Genossen Schober ist seine Beeinflussung durch Thiessen zu überprüfen.« Das heißt, dass Jahns Interpretation zur Handlungsmaxime wurde, und nicht der »Auftrag« Schobers.580 Ist es müßig zu spekulieren, ob, wenn Schobers Warnung an die Ohren Ulbrichts gekommen wäre, den Handlungen der jungen Garde (Weiz) wenigstens noch einige Zeit Einhalt entgegengebracht worden wäre. Hätte dies den Suizid Apels verhindert? Ein Entwurf zur Forschungspolitik der Akademie im Rahmen der »in Angriff genommenen langfristigen Planung von Wissenschaft und Wirtschaft« vom 29. Dezember 1964, der Verfasser ist vermutlich Wittbrodt, zeigt das ganze Dilemma des Zwanges der DDR, mit den vergleichsweise geringen Mitteln die richtige Forschungsstrategie zu finden, die der Wirtschaft mittel- und langfristig Befeuerung und Erfolg garantiert hätte. Oberflächlich gesehen ist das Papier wegen seiner diplomatischen und ideologischen Diktion nur für den Papierkorb gut gewesen, vielleicht ist es auch in einem solchen gelandet, weil die Kritik, die in diesem steckt,

578  (1924). 1942 Mitglied der NSDAP. 1943–1945 amerikanische Gefangenschaft. 1945/46 KPD / SED. 1946–1949 Studium an der FSU Jena. 1951–1955 Fernstudium an der TU Dresden (Ingenieur-Ökonom). 1953–1955 Leiter der HV Leichtmaschinenbau im Ministerium für Maschinenbau. 1955–1962 1. Stellv. Werkleiter im VEB Carl Zeiss Jena. Ab 1958 Mitglied des ZK der SED. 1962 Promotion am IfG. 1962–1967 Staatssekretär für Forschung und Technik in der Nachfolge von Frühauf. Ab 1963 Mitglied des Forschungsrates der DDR. Von 1974–1989 Minister für Wissenschaft und Technik. Seine Stellvertreter waren Staatssekretär Wolfgang Leupold (1926) und Staatssekretär Klaus Stubenrauch (1930). MfS, AIM 15081/63. Im SAE: XV/9309/61. Keine F 22 (weil) HV A: Vorgangsart: IMVG. Diensteinheit: HVA, Abt. 5. Die Unterlage AIM 15081/63 ist 1985 an die HV A / R zum Verbleib verbracht worden, damit vernichtet. 579  HA XVIII/5 vom 19.8.1964: Unterredung mit Schober BStU, MfS, AIM 15026, Teil I, 1 Bd., Bl. 196 f. Der Bericht ist vom 19.8.1964. 580  Ebd., Bl. 197.

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schon zu heftig für die SED-Hardliner war. Diese Punkte beinhalteten die Sorge, dass »eine Reihe von Disziplinen zunächst nur bedingt oder gar nicht einen deutlichen Rückhalt in der Entwicklung der gesamten Struktur unserer Republik« finden würden, Disziplinen, die international gesehen hohe Achtung und Bedeutung besäßen, zum Beispiel die Biologie, Geophysik, Astronomie, Astrophysik, »ja auch die Kernforschung«. Zwar hätten sich die Sektionen bemüht, eine ausgewogene Schwerpunktsetzung hinzubekommen, doch stehe dem die »Besorgnis« entgegen, »durch zu frühzeitiges Verzichten auf gewisse Forschungsrichtungen und Forschungsvorhaben die allgemeine Verbreiterung der wissenschaftlichen Grundlagen nicht ausreichend betreiben zu können«. Und hier steht ein Satz, der in Richtung Lauter (Kap. 4.2) wie eine düstere Prophezeiung gelesen werden muss: »Hierzu gehörte dann auch der Tatbestand, dass manche Einrichtungen der wissenschaftlichen Arbeit bestimmte Gebiete traditionell und mit Erfolg betrieben, obwohl die Neuordnung in unserem Staat dafür nur bedingt einen wirtschaftlichen Rückhalt bieten konnte.« Ein anderer Gedanke, der sich wie ein geheimer Faden durch das Papier rankt, ist der Fakt, dass auch bei den anerkannten Disziplinen (internationale Bedeutung, Nutzeffekt für die DDR) doch immer die Mittelknappheit dergestalt vorhanden war, dass »bei einer einfacher Summierung aller Forderungen stets die Leistungsfähigkeit« der DDR überzogen werde.581 Und noch einmal kam der Verfasser des Entwurfs zu einer Schlussfolgerung, die wie eine Warnung an den Allheilglauben der Perspektivplanung geklungen haben muss, indem er darauf verwies, dass es Gebiete in der naturwissenschaftlichen Forschung gebe, »die allgemein als ›große Wissenschaft‹ anerkannt« seien, »von denen kulturell äußerst wichtige Ergebnisse erwartet werden können, von denen aber nur bedingt oder erst in weiter Sicht erwartet werden kann, dass sie einen fühlbaren Beitrag zur Entwicklung der Wirtschaft in gezielter und gelenkter Form leisten werden und aus denen bis dahin nur im Nebenprodukt wirtschaftliche nutzbare Teilergebnisse erwartet werden können«. Abermals nannte er als Beispiele die Astrophysik, die Kosmonautik, »die Biologie als Ganzes« und »auch die Kernphysik«. Die Präposition »auch« zeigt, dass er mit der Situation der Kernphysik nicht einverstanden gewesen sein konnte. Er stellte abschließend die Frage, ob es richtig gewesen sei, nur jene Disziplinen aufzunehmen, die auch in die Volkswirtschaft der DDR aktuell passten, und nicht auch jene, die in der Welt unbestritten eine hohe Bedeutung hätten.582

581  Entwurf zur Forschungspolitik vom 29.12.1964 (offenbar von Wittbrodt); BStU, MfS, AIM 15026, Teil I, 1 Bd., Bl. 4–12, hier 5–7. 582  Ebd., Bl. 10.

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Wissenschaftspolitik in Hinterzimmern Am 9. November 1966 hatte Lotar Ziert alias GI »Karl«583, der designierte hauptamtliche Parteisekretär der Akademie-Parteileitung, dem MfS seine Vorstellungen über die künftige Leitung der DAW vorgestellt. Zwar enthielten sie nichts Aufregendes, doch ist es ein Vorgang der zeigt, dass grundsätzlich auf dieser Ebene kooperativ gehandelt wurde. Eingeschätzt wurden bei dieser Gelegenheit die fachliche Profilierung und das Selbstverständnis der Wissenschaftsfunktionäre Leibnitz, Hartke und Rompe. Allein ein Hinweis zu Rompe dürfte für das MfS an diesem Tag von operativem Wert gewesen sein, nämlich Rompes Position zur Grundlagenforschung, für die er gefordert haben soll, möglichst »Ruhe«, aber auch »freie Handhabe und nicht so viel Hineingerede durch den Staatsapparat« zu statuieren.584 Solche Auffassungen, die nicht den Geist des blinden Gehorsams atmeten, die eine eigene Auffassung vermuten ließen oder darstellten, waren dem MfS stets verdächtig. Ziert, wir werden ihm auch im dritten Hauptkapitel begegnen, war am 3. Juni 1965 als Vorsitzender des Büros des Generalsekretärs der DAW bestätigt worden. Bei einem Treffen mit dem MfS am selben Tag wurde er von Offizier Sattler an Offizier Klepel übergeben. Er berichtete, dass in seinem neuen »Arbeitsbereich ein furchtbares Durcheinander« herrsche.585 Solche Gespräche waren Usus und gerieten immer wieder zu wechselseitigen Handlungshilfen oder auch Anweisungen. Am 22. Juni 1965 besprach er mit dem MfS seine Politik hinsichtlich der personalen Zusammensetzung von Delegationen der Akademie zu diversen Zwecken. Es mache keinen Sinn, so Ziert, diese Fragen mit dem Präsidenten oder dem Generalsekretär zu besprechen. Der Präsident habe keinen Einfluss darauf. Also hielt man fest, dass es »in jedem Falle zweckmäßiger« sei, »besondere Wünsche des MfS über die Auslandsabteilung mit Gen[ossen] Schmidt [zu dieser und ihm im Kap. 4.2] und Gen[ossen] Mohaupt zu besprechen, gegebenenfalls« könne »auch der GI auf die Delegationsgestaltung Einfluss nehmen«.586 Tatsächlich bildete Zierts Büro so etwas wie den Operativstab des Generalsekretärs, war also ein Schlüsselbereich der Akademie, in dem die – im Kern wissenschaftspolitischen – Dokumente zur Administration der DAW und allfällige personalpolitische Dinge bearbeitet worden sind. Solche Dokumente waren zum Beispiel der Entwurf zur Planungsarbeit der DAW als zentrales Organ der ihr unterstellten bzw. zugeordneten Einrichtungen vom 10. Mai 1965587 oder etwa eine Ausarbeitung zur Leitungstätigkeit in der DAW mit zugehörigen Anlagen zur per-

583  (1928). BStU, MfS, AIM 12153/85. 584  HA XVIII/5/1 vom 9.11.1966: Bericht von »Karl«; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 132–135, hier 132. 585  HA XVIII/5/3 vom 4.6.1965: Bericht von »Karl« am 3.6.1965; ebd., Bl. 80 f. Das Büro des Generalsekretärs umfasste zehn Personen; HA XVIII/5/3 vom 26.6.1965: Bericht von »Karl« am 22.6.1965; ebd., Bl. 82–84. 586  Ebd., Bericht von »Karl« am 22.6.1965, Bl. 82. 587  Vgl. Ziert: Entwurf vom 10.5.1965: Zur Planungsarbeit der DAW als zentrales Organ der ihr unterstellten bzw. zugeordneten Einrichtungen; ebd., Bl. 91–101.

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sonalen, inhaltlichen und organisatorischen Struktur der DAW588. Das Spektrum der Gespräche zwischen Ziert und dem MfS war allumfassend, immer wieder ging es vor allem um personelle Fragen. So berichtete Ziert am 11. März 1966 über einige problematische Haltungen von Akademiemitgliedern in der Causa Havemann. Besonders negativ seien ihm in den Diskussionen um Havemann Mothes, Steenbeck und Steinitzer aufgefallen.589 Diese drei Personen hätten sich nicht, wie von der SED gewünscht, verhalten.590 Waren solche Gespräche wie zwischen Ziert und dem MfS irgendwie bekannt geworden, ahnte man sie? Es gibt Hinweise, die dies nahelegen. Das folgende Beispiel gehört zu jenen, die daran keinen Zweifel lassen, da es immer wieder inoffizielle Mitarbeiter gab, die sich mit Stasi-Verbindung brüsteten. Zur Frage der Arbeit der Akademie auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen fand am 7. Februar 1967 bei Ziert ein Gespräch statt, an dem zwei MfS-Offiziere (einer von ihnen war Horst Ribbecke) teilgenommen hatten. Thema war die »Verbesserung der Arbeit der Akademie auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen« inklusive der Verbindungen zur Bundesrepublik. Im Zentrum der Erörterung standen [A] und [B], gegen die disziplinarische Untersuchungen liefen. Ihnen wurde parteischädigendes Verhalten vorgeworfen. Und in genau dieser Frage muss Ziert gegenüber Rompe mindestens angedeutet haben, dass er sich mit dem MfS bereits abgestimmt hatte. »Nach dieser Schilderung [der Situation um die beiden – d. Verf.] wurde dem Genossen Ziert die Frage gestellt, warum er dem amtierenden Generalsekretär der DAW, Genossen Professor Rompe, im Zusammenhang mit dem geplanten Disziplinarverfahren gegen [B] gegenüber behauptet habe, [B] müsse von seiner Funktion abgelöst werden, das sei außerdem mit den zuständigen Genossen des MfS abgestimmt.«591 Ziert bestritt, dies so gesagt zu haben. Außerdem mische er sich als Parteisekretär nicht in diese Frage ein, sei aber der Meinung, dass ein Personalwechsel notwendig sei. Zur eigentlichen Thematik, der Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit, führte Ziert aus, dass sich die SED und die Leitung der DAW seit Längerem damit befassten. Es sei bereits eine Akademiekommission gebildet worden. Die arbeite zwar, das Ergebnis werde »jedoch von einem Dokument beeinflusst werden«, das

588  Vgl. Ziert: Ausarbeitung zur Leitungstätigkeit in der DAW (o. D.); ebd., Bl. 103–120. 589  Vgl. HA XVIII/5/1 vom 11.3.1966: Bericht von »Karl« am 11.3.1966; ebd., Bl. 127–131. 590  Der Manuskriptkürzung fiel leider auch der Exkurs »Ein Leben für offene Kommunikation: Parthier und Mothes« zum Opfer. Ein Exkurs, der u. a. die hohe Wertschätzung thematisierte, die Mothes bei den jüngeren Wissenschaftlern genoss, so etwa bei Benno Parthier (1932), der später, zwischen 1990 und 2003, Präsident der Leopoldina wurde. Christiane Parthier schrieb dem Verf. am 4.5.2019  – auch im Namen ihres Mannes  –, dass Mothes »insbesondere bei den jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der DDR eine Vorbildfunktion hatte, seine Reden zur Eröffnung der Jahresversammlungen der Leopoldina, die sich immer kritisch mit der Wissenschaftspolitik der DDR auseinandergesetzt haben, jedes Mal mit Spannung erwartet und in der Folge auch lebhaft diskutiert« wurden. 591  HA XVIII/5/1 vom 8.2.1967: Aktenvermerk; ebd., Bl. 139 f.

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noch nicht vorliege. Dieses werde im Auftrag des ZK von der DAW, dem SHF und dem Ministerium für Kultur auszuarbeiten sein.592 Ziert war dieser stets ernst dreinschauende Mann, der sich überall einmischte, alles beäugte. Nie lobte er, nie war er zufrieden, oft log er. Das wusste auch das MfS. Die Beschwerden über ihn kamen aus allen Richtungen. Der Kaderleiter der Akademie gab dem MfS Ende 1968 zu ihm eine Einschätzung. Am Anfang, als Ziert noch Leiter des Büros des Generalsekretärs war, soll die Zusammenarbeit mit ihm noch passabel gewesen sein. Das habe sich ab seiner Übernahme der Funktion des Akademie-Parteisekretärs »schlagartig« geändert. Zwischen beiden habe es eine harte Auseinandersetzung gegeben. Zu Ziert gewandt: »Du bist ein so eiskalter Kerl, dass Du mit Deiner Art Deines Auftretens keinen Hund hinterm Ofen vorlockst. Einen Parteisekretär müssen Genossen und Parteilose gerne haben, sie müssen mit allen Fragen und Problemen gerne zu ihm hinkommen. Dazu gehört in hohem Maße, dass ein Parteisekretär eine Persönlichkeit ist, die Wärme ausstrahlt, und das fehlt Dir leider völlig. Deine Art ist so, dass mancher«, und das sei noch untertrieben, »ängstlich ist.« Ziert soll blass geworden sein und den Raum verlassen haben.593 Am 13. September 1967 sprach das MfS mit Ziert einmal mehr über die Auslandstätigkeit der DAW. Aktuell hatte Rompe dafür zu sorgen, dass endlich »eine Konzeption über die Auslandstätigkeit« erarbeitet werde. Selbst zur anstehenden Neuwahl des Präsidenten der DAW existierten noch keine klaren Vorstellungen. Diesbezüglich hatte Leo Stern einen Brief an Ziert geschrieben, den dieser dem MfS-Offizier zeigte. Der Brief war auch an Hager und Hörnig gegangen. Der Inhalt ist ein Gespräch zwischen Stern und Klare. Klare habe dabei seine Kandidatur »infrage gestellt«. Diese Personalie hing mit der Funktionsänderung von Weiz zusammen. Ziert selbst wolle sich mit Hörnig in Verbindung setzen, um Klarheit in der Sache zu bekommen. Rompe soll sich selbst ins Gespräch für diese Position gebracht haben. Die Amtsperiode Hartkes lief am 10. Oktober 1967 aus.594

Exkurs 1: Hardliner der SED: Ziert Für den finalen Kampf (»Sturm auf die Festung ›Wissenschaft‹«) benötigte die SED und das MfS besondere Männer. Einer von ihnen war gewiss Lotar Ziert, der das Zepter der Akademiereform zu führen versuchte. Er benahm sich gegenüber gestandenen Wissenschaftlern oftmals regelrecht frech. Lauter unterbrach ihn einst in seiner Rede »und gab ihm zu verstehen, dass man mit Behauptungen und Unsachlichkeiten nichts ändern könne«. Der 1928 in Erfurt geborene Ziert 592  Ebd., Bl. 140. 593  MfS vom 12.11.1968: Ziert, Sekretär der APL; BStU, MfS, HA XVIII/5, Bündel (Bdl.) 431, Bl. 1–7, hier 5. 594  HA XVIII/5/1 vom 14.9.1967: Information; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil  II, Bd. 2, Bl. 148 f.

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war ob seines diktatorischen Auftretens verrufen.595 Ab 1939 besuchte er das Gymnasium in Jena, wo er 1940 zur Oberrealschule wechselte und 1946 die Reifeprüfung ablegte (zum Schulverlauf existieren in den Unterlagen divergierende Angaben). Ab 1947, dem Jahr seiner Mitgliedschaft in der SED, studierte er an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena.596 1953 sehen wir ihn für kurze Zeit in der Kontroll- und Koordinierungsstelle für die Arbeit der örtlichen Organe der Staatsgewalt beschäftigt.597 Aus der Beurteilung der Kaderabteilung der Präsidialkanzlei vom 21. Dezember 1953 folgt, dass er in dieser Institution das gesamte Jahr 1952 als Referent der Rechtsabteilung beschäftigt war. Es hatte Kritik an ihm gegeben, jedoch wurde er für entwicklungsfähig eingeschätzt. Demnach hatte er in dieser »Dienststelle hauptsächlich bei der Herstellung der Wandzeitung aktiv mitgearbeitet«.598 Einer anderen Quelle ist zu entnehmen, dass Ziert vom September 1952 an beim ZK der SED in der dort gebildeten Sonderkommission tätig gewesen sein soll. Hier sei er – mit einer zweimonatigen Unterbrechung (Koordinierungs- und Kontrollstelle) – im Ausschuss für Deutsche Einheit tätig gewesen. Ziert selbst hierzu: »Während des Prozesses gegen die KPD vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gehörte ich der Prozessvertretung der KPD an.«599 Zum Zeitpunkt seiner Werbung als GI »Karl« am 4. März 1958600 arbeitete er als Justiziar im Amt für Kernforschung und Kerntechnik (AKK). Seine Werbung erfolgte mit dem Ziel, ihn zur Spionageabwehr im Bereich der Kernforschung zu gewinnen. Er sei in der Lage, glaubte das MfS, »zu einem großen Teil unserer führenden Kernphysiker Kontakt aufzunehmen«, der bestehe »in gewisser Hinsicht« schon.601 Im AKK arbeitete er ab September 1957. In dem Bericht zu seiner Werbung wurde vermerkt, dass er doch keine Verbindungen zu führenden Kernphysikern der DDR habe. Den Decknamen »Karl« wählte er sich selbst, die Verpflichtung schrieb er auf Schreibmaschine und unterschrieb sie handschriftlich.602 Im AKK war er sofort Leiter der Abteilung Recht und ab 1958 Leiter der Abteilung Recht und internationale Angelegenheiten.603 1964 tauchte sein Name in der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) auf, wo er seit Oktober zunächst als stellvertretender Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen der DAW eingesetzt war.604 595  HFIM »Böttger« vom 24.10.1968: Monatsbericht Oktober 1968; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 117–122, hier 118 u. 120. 596  Vgl. Lebenslauf (o. D.); BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 13. 597  Vgl. Abt. VI/2 vom 19.2.1958: Vorschlag zur Werbung; ebd., Bl. 14–17, hier 15. 598 Präsident der DDR, Präsidialkanzlei, Kaderabt., vom 21.12.1953: Beurteilung; ebd., Bl. 33 f., hier 33. 599  Lebenslauf vom 29.1.1958; ebd., Bl. 37–39, hier 38. 600  Vgl. MfS: Aktenspiegel (o. D.); ebd., Bl. 3. 601  Abt. VI/2 vom 19.2.1958: Vorschlag zur Werbung; ebd., Bl. 14–17, hier 17. 602  Vgl. Abt.  VI/2 vom 11.3.1958: Werbung; ebd., Bl. 19–21; Verpflichtung vom 4.3.1958; ebd., Bl. 24. 603  Vgl. AKK, Kaderabt., vom 24.7.1961; ebd., Bl. 52. 604  Vgl. HA XVIII/5 vom 6.10.1964; ebd., Bl. 69.

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Politisch galt er als zuverlässig, soll aber stellenweise die Konspiration nicht beachtet (Prahlerei mit Macht und Einfluss) und zu moralisch anfechtbarem Verhalten geneigt haben.605 Am 9. Februar 1967 vermerkt die HA  XVIII/5/1, dass Ziert zum 1. Sekretär der Zentralen Parteileitung der DAW gewählt worden war. Man habe ihm mitgeteilt, »dass ab sofort die konspirative Zusammenarbeit eingestellt« sei, »wir aber als Organ Interesse« besäßen, »künftig offiziell über bestimmte Probleme Gedanken auszutauschen«. Ziert sprach hierzu seine »volle Zustimmung« aus.606 Der Abschlussbericht wurde erst am 22. April 1969 geschrieben. Hierin ist vermerkt, dass sich Ziert entgegen seiner Zusicherung, Kontakt mit dem MfS zu pflegen, sich »immer mehr« zurückgezogen habe. Schließlich riss der Kontakt ganz ab. »Im Verlauf der Anfangsschwierigkeiten bei der Verwirklichung der Akademiereform nahm er bei verschiedenen Punkten eine Position ein, die nicht zur Klärung, sondern eher zur Versteifung [schwer lesbar] seiner Beziehungen zum MfS führte.« Dies lasse vermuten, »dass er auch künftig einer weiteren Zusammenarbeit mit dem MfS ausweichen« werde: »Es wird daher vorgeschlagen, die inoffizielle Zusammenarbeit mit dem IMS ›Karl‹ abzubrechen und die Unterlagen als gesperrte Ablage in das Archiv zu geben.«607 Noch 1985 sehen wir Ziert in der Akademie den Posten des Leiters des Wissenschaftlichen Sekretariats im Forschungsbereich Gesellschaftswissenschaften der AdW bekleiden.608 Als amtierender Generalsekretär der DAW behandelte Rompe in seiner Rede am 6. April 1967 auf der Hauptversammlung der DAW, die kurz vor dem VII. Parteitag der SED stattfand, die außenpolitischen Aspekte in der Tätigkeit und Darstellung der Akademie. Er verwies auf die Korporation »Akademie«, die keine internationalen Beziehungen besaß, die für den Aufbau der DDR hätten nutzbar gemacht werden können, im Gegensatz etwa zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, entsprechend dem Gedanken Adolf von Harnacks. Rompe referierte als positives Beispiel der Außenwirkung allein die Geophysik: »Wertvoll war zweifellos auch die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Geophysik, wo die Wissenschaft der DDR erstmalig als gleichberechtigter Partner international akzeptiert wurde.« »Wertvoll« sei auch die Aufnahme der DAW bzw. deren wissenschaftlichen Gesellschaften in wissenschaftliche Unionen – als selbstständige Mitglieder – wie die Internationale Union für Geologische Wissenschaften.609 Doch nicht mehr lange sollte diese Einschätzung sakrosankt sein.

605  Vgl. HA XVIII/5/1 vom 27.4.1965: Beurteilung; ebd., Bl. 70 f. 606  HA XVIII/5/1 vom 9.2.1967: Aktenvermerk; ebd., Bl. 72. 607  HA XVIII/5/1 vom 22.4.1969: Abschlussbericht; ebd., Bl. 91. 608  Vgl. HA XVIII/5 vom 6.9.1985: Aktenvermerk; ebd., Bl. 92. 609  II. Hauptversammlung der DAW am 6.4.1967, Referat Rompe; ArchBBAW, Handbibliothek, S. 40–57, hier 42.

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Der künftige Präsident (ab 1968) und hier noch als Vizepräsident amtierende Hermann Klare hielt ebenfalls am 6. April 1967 eine Rede.610 Er sprach vornehmlich zu Fragen der Optimierung der Kooperationsbeziehungen der DAW. Gegenüber seinen Vorrednern besaß er den besten Redestil. Auch er gab sich als überzeugter Sozialist. Sein Schwergewicht lag auf dem Gebiet der Konzentration des Forschungspotenzials. Als positive Beispiele nannte er den astrophysikalischen Bereich und das III. PTI. Allerdings habe es erhebliche Komplikationen »bei der Auf‌lösung der Arbeitsstelle für kosmische Strahlung« gegeben. Entgegen den getroffenen Regelungen werde versucht, die Arbeiten »in anderer Form fortzusetzen«. Ernsthafte Auseinandersetzungen gab es bei der Auf‌lösung der Forschungsstelle für experimentelle Onkologie. Der Direktor habe Widerstand geleistet, das sei disziplinlos und die Angriffe trügen eine persönliche Note. Klare nannte als Grund für den passiven und aktiven Widerstand »individuell-konservative Faktoren«. Man zeige ihnen gegenüber mangelnden Mut und Scheu vor Auseinandersetzungen.611 Zur Statistik der Bestandsänderungen seit 1966 führte er aus, dass sowohl Themen­anzahl als auch die Anzahl der Einrichtungen, die abgegeben oder aufgelöst worden seien, fallend verliefen. Er hob hervor, dass dies volkswirtschaftlich gesehen noch längst kein Kriterium für die Qualität der Konzentrationsmaßnahmen darstelle. Die statistische Betrachtungsweise sei keinesfalls geeignet, den richtigen Blick auf die Notwendigkeit der Konzentration zu halten. Die DAW hatte hierfür von der SPK Vorgabekennziffern erhalten.612 Klare wies auf den Fakt der Zeitverkürzung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Nutzanwendung hin. Er betonte, dass die maximale Zeitverkürzung auch ein Investitionsproblem darstelle. Daraus folge die Notwendigkeit der Kooperation mit der Industrie. Zu diesem Zeitpunkt existierten über 20 Kooperationsvereinbarungen. Die Industrie mache aber den Fehler, von der DAW die eigenen Engpässe, heißt die eigenen operativen Probleme, lösen lassen zu wollen (»operative Tagesprobleme«). Die Institute aber seien keine Betriebslaboratorien. Die dominierende Rolle der Grundlagenforschung müsse gewahrt bleiben. Nur über ein Wachstum der Grundlagenforschung sei wissenschaftlicher Vorlauf möglich. Man werde sich gegen gegenteilige Tendenzen zur Wehr setzen. Das war in der Sache die härteste Aussage. Klare kritisierte ebenso deutlich die »abwartende Haltung« von Betrieben und Teilen der Industrie in der Kooperationsfrage.613

610  Vgl. ebd., Referat Klare, S. 71–89. 611  Ebd., S. 73. 612  Vgl. ebd., S. 75–79. 613  Ebd., S. 83–86.

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Akademiereform, Reformen des Forschungsrates: ewige Baustellen Mit Beginn der Akademiereform am 25. Juli 1968 explodierten förmlich die Unstimmigkeiten, wuchsen die offenen Fragen und Probleme. Wichtige wissenschaftspolitisch notwendige Entscheidungen erlitten Schiffbruch. Am 29. Oktober berichtete Erwin Schult alias GI »Dagmar« (Kap. 4.2) über eine erneute Änderung der Regelung der Leitungstätigkeit in der DAW, ein Vorgang, der zum Standartprogramm der SED zählte und stets belächelt wurde: Nun wollte man den Bereich Ökonomie und technische Versorgung trennen. Die Abteilungen Finanzen und Arbeitsökonomie sollten in einem selbstständigen Bereich zusammengeschlossen werden. Das war zwischen Weiz und Klare so abgesprochen worden.614 Die SED legte wiederholt eine entscheidende Parteiaktivtagung so, dass Kritiker wie Klare und Lauter nicht teilnehmen konnten. Lauter verstehe es nicht, dass man auch mit ihm nicht über die Reform spreche, ihn gar von Informationen ausgrenze. Ähnlich soll Kuczynski argumentiert haben. Der sei ohnehin ein Gegner der Reform. Er habe am 25. Juli 1968 das Plenum der DAW »kurz vor der Abstimmung über die Grundkonzeption für die Akademiereform und die Wahl des Präsidenten verlassen, weil er damit nicht einverstanden« gewesen sei.615 Klare andererseits grenzte Ziert in personalpolitischen Angelegenheiten aus. Nach Zierts »Darlegungen sei es eine Verletzung der führenden Rolle der Partei, wenn die Weisungen des Präsidenten der DAW vor ihrem Erlass nicht in der Akademieparteileitung diskutiert würden«. Ziert werde »anweisen«, dass dies künftig nicht mehr geschehe. Der Einwand eines Parteileitungsmitglieds, wonach dadurch eine »zweite staatliche Leitung« geschaffen werde, habe Ziert zurückgewiesen. Lauter sprach von Gängelei Zierts, er »führe ein ›diktatorisches Regime‹« und »mische sich in die staatlichen Entscheidungen ein, organisiere Spannungen und eine schlechte Arbeitsatmosphäre, isoliere und ›beschäftige ihn als Generalsekretär‹«. Er sei »nicht mehr gewillt«, sich von Ziert bestimmen zu lassen. Ziert habe erklärt, dass Lauter als Generalsekretär nur »ein Notbehelf« sei. Er werde abgelöst, »wenn man einen besseren Generalsekretär findet«.616 Die Reform, so in einer ersten Einschätzung vom Oktober, habe in allen wichtigen Fragen keinen Vorlauf gehabt, vor allem sei das Reformdokument »nur mit einem kleinen Kreis ausgewählter Wissenschaftler beraten« worden. In der Frage der auftragsgebundenen Forschung und aufgabenbezogenen Finanzierung sei man hinsichtlich deren Einführung zum 1. Januar 1969 entsprechend dem Ministerratsbeschluss vom 25. September 1968 keinen Schritt vorangekommen; in der Frage der »Profilierung und Konzentration der Forschung durch die Bildung von Forschungs614  Vgl. HA XVIII/5/1 vom 1.11.1968: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 29.10.1968; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 7–9, hier 7. 615  MfS vom 25.10.1968: Probleme im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Akademiereform; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1600, Bl. 1–13, hier 2–4. Die Information ging u. a. an Hager. 616  Ebd., Bl. 5 f.

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bereichen und Zentralinstituten« gelinge es derzeit »nur schwer, das bisher vorhandene Spezialfachdenken in ein Komplexdenken umzuwandeln«. Überdies würden im »zunehmendem Maße« von Wissenschaftlern »wissenschaftsorganisatorische Aufgaben« abgelehnt. Schließlich zeigten sich ideologische Probleme, die Grundsätze der Zentralisations- und Konzentrationsmaßnahmen betrafen. Thilo, Mothes, Bethge und andere befürchteten, dass das »wissenschaftliche Leben der Akademie gefährdet sei«. Sie setzten eher auf kleine Gruppen und internationale Kooperation.617 Bereits Jahre vor der Akademiereform hatte es, wie wir oben gesehen haben, Unruhe gegeben. Wissenschaftler mussten liebgewonnene Positionen räumen, Institutionen wurden aufgelöst, zusammengelegt oder transformiert. Bürgerliche Wissenschaftler wurden vermehrt diskriminiert. Ein Beispiel aus dem Institut für Geodynamik in Jena: Dort hatte dessen Direktor, Otto Meißer, einen seiner Mitarbeiter am 20. September 1965 für eine Auszeichnung vorgeschlagen, die Lauter nicht akzeptierte. Lauter will auch nicht eine Ablehnung des Votums das Wort geredet haben, sondern für eine Vertagung des Verfahrens plädiert haben.618 Aus den Worten und Argumenten Lauters ist ablesbar, dass es eine Hintergrundsanweisung zur Nichtgenehmigung gegeben haben muss. In einem anderen Schreiben vom 24. Oktober 1965 an Rompe zur Lage der seismologischen Forschung in Jena, verfasst von acht Wissenschaftlern, schrieben die Verfasser von »tiefer Sorge um den Fortgang der seismologischen Forschung und der ihr anvertrauten Gebiete, die sich seit dem Anschluss des gegenwärtigen Instituts für Geodynamik in Jena an die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin« ergeben hätten. Die Unterzeichner waren am ehemaligen Institut für Geodynamik und Erdbebenforschung tätig; seit der Zusammenlegung des Instituts für Bodendynamik und Erdbebenforschung, Jena, mit der Arbeitsstelle für Praktische Geophysik in Freiberg am 16. Februar 1964 seien sie »ständig mit Maßnahmen konfrontiert« und »zu Handlungen veranlasst« worden, »die ihnen weder wissenschaftlich noch wirtschaftlich verantwortbar« schienen. »Diesbezügliche Bedenken der Wissenschaftler« seien »fast immer vom Institutsdirektor mit dem Hinweis auf die ihm vorbehaltene Einzelleitung des Instituts zurückgewiesen worden.« Die Verfasser operierten mit Argumenten, die sie stets vorgehalten bekamen und nun verletzt sahen. Etwa wenn sie dem Institutsdirektor die Verletzung des »sozialistischen Prinzips von der verantwortungsbewussten Einzelleitung« vorwarfen mit der Folge »einer weitgehenden Entpersönlichung der Mitarbeiter«. Sie schrieben: »Die ungewöhnlich harte und oft persönlich verletzende Handlungsweise des Direktors« habe »eine tiefe Resignation und zunehmende Arbeitsunlust bewirkt«. Ferner: »Wissenschaftler, die nationalen und internationalen Gremien angehören und deren diesbezügliche Arbeit auch der Unterstützung durch den Institutsdirektor bedarf, sehen sich bei der Durchführung ihrer Aufgaben stark eingeschränkt oder sogar daran gehindert.« Sie führten 617  Ebd., Bl. 9–13. 618  Vgl. Schreiben von Lauter an Meißer vom 1.10.1965; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 267, S. 1 f.

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Beispiele schlechter Wissenschaftspolitik an und verwiesen auf den Abbruch der Zusammenarbeit zwischen ihrem Institut und der SDAG Wismut am 12. Oktober 1964, obgleich die Wismut mitfinanziere und keine Routinearbeiten für das Institut daraus erwüchsen. Sie sprachen gar von einer seltenen Gelegenheit, »die Einwirkung von Sprengerschütterungen auf Bauwerke wissenschaftlich zu untersuchen«. Das Institut für Bodendynamik und Erdbebenforschung habe nicht zuletzt aus diesem Grunde Gerätezukäufe aus der Bundesrepublik getätigt. 1964 hätten noch sieben Messungen trotz des Widerstandes des Direktors und wegen der dagegen opponierenden Wismut-Generaldirektion durchgeführt werden können. »Ähnlich schwere Störungen« beeinträchtigten »die Zusammenarbeit des Instituts mit dem VEB Mansfeld-Kombinat ›Wilhelm Pieck‹ und dem Rat des Bezirkes Halle«. Jene waren im Rahmen des Katastrophenschutzes an solchen Untersuchungen in der Mansfelder Mulde interessiert. Die durch Mitarbeiter des Instituts entwickelte seismische Stationsapparatur sei in die Produktion des VEB Geophysikalischer Gerätebau Brieselang aufgenommen worden. Diese Form der Zusammenarbeit sei vom Direktor abgeschafft worden. Die Autoren nahmen kein Blatt vor den Mund und kritisierten den Direktor ungewöhnlich scharf. Objektiv warfen sie ihm Sabotagehandlungen vor – wenn sie denn eben von oben nicht sanktioniert worden wären, was die Wissenschaftler so aber nicht thematisiert hatten: Unterbindung volkswirtschaftlich relevanter Forschungen; Beendigung von Planthemen mit nachweisbaren volkswirtschaftlichen Erfolgen und Effekten; Beeinträchtigung und / oder Beendigung von internationalen Kooperationen; Abbruch von Kooperationen mit der FSU Jena. Also: »Die seismologische Forschung am Institut für Geodynamik hat keine eigentliche Förderung mehr erfahren und nimmt angesichts der traditionellen Aufgaben des Instituts auf internationaler Ebene und der fachlichen Orientierung der vom Institut für Bodendynamik und Erdbebenforschung übernommenen Wissenschaftler in der Perspektive einen viel zu engen Raum ein. Alle Bestrebungen, diese Einengung zu verhindern, waren ergebnislos.«619 Man sah sich »einer wachsenden Anzahl von Reglements gegenübergestellt«, die die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter deutlich bremse. »Die geforderte sofortige Information auch über unwesentliche Details, zum Beispiel Fragen der Einzelteilfertigung in der Werkstatt und Ausführung einfacher elektrischer Schaltungen, hemmt den Arbeitsablauf.« Vorzeigepflichten, Rapporte und Kontrollzwang entsprachen einem Druck, der das Klima negativ beeinflusste: »Diese ständige Unruhe« erfasse »alle Arbeitsbereiche des Instituts und« sei »der notwendigen schöpferischen Konzentration sehr hinderlich«. Schlussendlich schrieben die Verfasser, dass sie sich im Klaren seien über die Konsequenzen, den der Bericht zeitigen werde: Sie seien »sich der Verantwortung bewusst, die sie mit der Abfassung dieses Berichts auf sich genommen« hätten. »Lassen Sie sich bitte, sehr verehrter Herr Vorsitzender [des Fachbereiches Physik-Nord der Forschungsgemeinschaft der Naturwissenschaftlichen, Technischen und Medizinischen Institute der DAW zu Berlin – d. Verf.], 619  Schreiben von Wissenschaftlern an Rompe; ebd., S. 1–8, hier 1–4.

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aufrichtig versichern, dass die Disziplin am Institut für Geodynamik auch weiterhin gewahrt« bleibt und alles vermieden wird, »was dem Ansehen des Instituts, der DAW und der DDR abträglich« ist.620 Man wusste aus Erfahrung, dass solche Schreiben nicht ohne Folgen blieben. Später, im Zuge der 1974 erfolgten Umwandlung des Staatssekretariats für Geologie (das 1967 gegründet wurde) in ein Ministerium für Geologie kam es zu umfangreichen und grundlegenden Strukturüberlegungen. Auch auf diesem Gebiet gab es keine stringente und transparente Forschungspolitik, es wurde »abgeris­sen«, umgelagert, wieder neu errichtet etc. Im Sommer 1974 schätzte Mundt vom ZIPE ein, dass die Grundkonzeption zwar stehe, es jedoch an finanziellen und personellen Mitteln deutlich fehle. Das neu zu gründende Geologische Institut solle schwerpunktmäßig die tektonisch-physikalischen Untersuchungen, Fragen der Geochemie, der maritimen Geologie und der Krustengeologie bearbeiten. »Zur Lösung dieser Aufgaben« seien »eine Vielzahl von Laboruntersuchungen vorgesehen. Auch hier« fehle »es bisher an Räumen und Apparaturen«.621 Die Bildung eines solchen selbstständigen Institutes werde auch 1978/79 noch nicht stattfinden können, laut Beschluss des Präsidiums der AdW erst 1980. Bis dahin werde der Bereich III des Zentralinstituts für solar-terrestrische Physik (ZISTP) entsprechend profiliert werden.622 Siehe hierzu das zweite Hauptkapitel. Die Bedeutung der »Entscheidung jedes Einzelnen«, so Hartke, »für eine entschiedene Konzentration der Forschung« wird »ohne Vorbehalte oder Rücksicht auf die Konsequenzen einer Umstellung getroffen«. Lobend und als Beispiel einmal mehr wurde das III. PTI genannt, wo die Arbeiten zur Hochtemperaturplasmaphysik zwar eingestellt worden waren, dafür aber metallurgische Grundlagenarbeiten liefen. Eine hohe Bedeutung für die Kontrolle an Ort und Stelle wurde der Leitungstätigkeit beigemessen: »Jede Maßnahme« solle »mit zweckmäßiger Kontrollmaßnahme« verbunden werden. Der Altphilologe Hartke war wenig einfühlsam, selten klang leise Kritik wie folgt bei ihm an: »Die Bildung von Kommissionen ist nicht ohne Weiteres ein demokratisches Element.« Vielmehr müssten Mitarbeiter zu gut durchdachten Dokumenten ihre Meinung sagen können. Die sozialistische Gemeinschaftsarbeit sei noch zu schwach entwickelt. Die »Einführung neuer Methoden der sozialis­ tischen Gemeinschaftsarbeit« werde sich »zur Existenzfrage« auswachsen. »Wir«, so Hartke, »stellen immer wieder fest«, dass DAW-Mitarbeiter die Gesetze der DDR dahingehend überprüfen, ob sie für die DAW sinnvoll seien – je nach Urteil verhalten sie sich dann so oder so. Diese Gesetze gelten jedoch alle auch für die DAW.

620  Ebd., S. 5 u. 7. 621  Abt. XVIII / I nst. vom 21.8.1974: Bericht von »Gotha« am 21.8.1974; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 33–35, hier 33 f. 622  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 25.2.1978: Bericht zum Treffen mit »Martin«; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 295. ZISTP: Bezeichnung für 1968–1984, mehrere Umbenennungen.

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Heißt es in den Gesetzestexten »Betrieb und Betriebsdirektor«, heißt es bei uns »Institut und Institutsdirektor«.623 Ähnlich war die Rede des amtierenden Generalsekretärs der DAW, Rompe, auf der Hauptversammlung am 6. April 1967. Auch sie atmete den Geist eines Parteisoldaten, ohne die liberale Attitüde Steenbecks, eine Rede der Hermetisierung und der verstärkten Politisierung der Wissenschaftspolitik der DDR. Einem kurzen historiografischen Abstecher mit Bemerkungen zu den anfänglichen Beschränkungen der Akademie als bloße Korporation ohne internationale Beziehungen und eingeschränkt im Handeln durch die Kontrollratsbestimmungen, in Sonderheit auf den Gebieten der Kern- und Halbleiterphysik, folgten die gewohnten Hinweise auf die hilfreiche Unterstützung der Sowjetunion, hier vor allem auf dem Gebiet der Kernenergie. Mit dieser Hilfe sei es der DDR gelungen, »in einer geradezu unglaublich kurzen Zeit von wenigen – fünf – Jahren eine international beachtliche Kernphysik mit der dazugehörigen Technik aufzubauen«. Insgesamt hätten die weltweit verschiedenartigsten Verbindungen der DAW »zweifellos dazu beigetragen, das internationale Ansehen der DDR zu heben, wenn sie vielleicht auch nicht immer einen ausweisbaren ökonomischen Nutzen erbracht« hätten.624 Dann war Schluss mit der Vergangenheit, es folgte Klartext. Ein Text, der von substanzieller Bedeutung für die Geschehnisse im zweiten Hauptkapitel ist. Auf drei Gebieten, so Rompe, sei es nicht mehr hinnehmbar, weiter wie bislang die internationalen – gemeint waren die westlichen – Kontakte zu pflegen. Man führe zurzeit einen Schriftenaustausch mit circa 1 000 Institutionen aus 70 Ländern, der koste die Akademie jährlich circa 100 000 MDN und stehe »ganz und gar nicht mit den wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Schwerpunkten unserer Akademie in Übereinstimmung«. Zweitens sei die Reisetätigkeit zu Tagungen und zu Institutionen wesentlich zu umfangreich: dieser Posten werde Jahr um Jahr steigen und habe im letzten Jahr bereits die Zahl von 3 000 erreicht. »Abgesehen von ihrem manchmal zweifelhaften wissenschaftlichen und politischen Nutzen stehen sie oft auch in keinem Verhältnis zum ökonomischen Aufwand.« Drittens würden auch Einladungen an Wissenschaftler in die DDR »oft erhebliche Mittel« beanspruchen, »ohne vorherige fundierte Aussage, ob auch hier der ökonomische Aufwand an Zeit und Geld, einschließlich der Valutamittel, den erwarteten und erforderlichen wissenschaftlichen und politischen Nutzen« erbringe. »Ganz analog wird jetzt die Frage hinsichtlich der Wertung der internationalen Beziehungen der Akademie zu erarbeiten sein.« Die frühere »Praktik des Suchens internationaler Betätigungsmöglichkeiten um jeden Preis, um die DDR repräsentativ zu machen, die nicht selten jedoch auch von rein persönlichen Erwägungen ausging, müsse durch eine kritische Prüfung ersetzt werden und es müsse klar ersichtlich sein, welchen

623  II. Hauptversammlung der DAW am 6.4.1967, Referat Hartke; ArchBBAW, Handbibliothek, S. 1–39, hier 23, 25 f., 29, 33 f. u. 36 f. 624  II. Hauptversammlung der DAW am 6.4.1967, Referat Rompe; ebd., S. 40–57, hier 41–43.

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politischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Nutzen solche Beziehungen heute für die sozialistische DDR« versprächen.625 Die Auslandsbeziehungen der Akademie hätten laut Rompe »der Verwirklichung der Politik von Partei und Regierung« zu dienen. Zweitens würden die »Beziehungen zu kapitalistischen Ländern«, in Sonderheit »die Beziehungen zu Westdeutschland«, gegenwärtig »vor allem durch politische Gesichtspunkte diktiert« sowie drittens, folgend aus den beiden erstgenannten Aspekten, werde »eine zentrale Planung und Organisation der internationalen Beziehungen« der DAW »auf höchstem wissenschaftlichen Niveau unbedingt erforderlich« sein. Zum ersten Punkt nannte Rompe die Notwendigkeit, die Partnerpflege zu den sozialistischen Ländern zu verstärken, und zum zweiten Aspekt die Notwendigkeit, die Pflege der Westbeziehung strikt abhängig zu machen vom Nutzeffekt; mit anderen Worten: diese Beziehungen sollten ab sofort »planmäßig und zielgerichtet im Interesse unserer ökonomischen und wissenschaftlichen Erfordernisse erfolgen«. Gegenwärtig pflege die DAW mit über 70 Ländern »wissenschaftspolitische Beziehungen unterschiedlicher Art und unterschiedlichen Umfanges«. Dies werde kritisch »zu durchmustern« sein »unter den Gesichtspunkten einer angemessenen Relation von Aufwand und Nutzen«. Für die Auslandstätigkeit der DAW seien »die Gesichtspunkte der zweiten Etappe des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung, wie sie letztlich auf der 14. Plenarsitzung des Zentralkomitees der SED verkündet worden« seien, bestimmend.626 »An die Spitze« der neuen Auslandspolitik der DAW stellte Rompe naturgemäß die Beziehungen zur Sowjetunion: sie sei auf dem Gebiet der Wissenschaft »ein anspruchsvoller Partner«. Als ein positives Beispiel nannte er das Gebiet der Halbleiterphysik, auf dem es Vereinbarungen zwischen der DAW und der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion gebe, »die in den letzten Jahren den Übergang zu einer neuen, höheren Form erreicht« hätten. Statt kurzfristige Studienreisen zu organisieren, führe man nunmehr »langdauernde Studienaufenthalte und Arbeitsaufenthalte zur Durchführung gemeinsamer Arbeiten« durch.627 Zu den Wissenschaftsbeziehungen zum Westen forderte Rompe, dass »sie unter der Voraussetzung des maximalen Vorteils der DDR und der vollen Gleichberechtigung« zu stehen hätten. Nach den Prinzipien der DDR-Außenpolitik würden diese Wissenschaftsbeziehungen »differenziert durchgeführt«. Dies treffe auf die Wissenschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik im besonderen Maße zu. Hier seien sie »in völliger Übereinstimmung mit der Politik von Partei und Regierung« zu realisieren. Nach dem Mauerbau, oder mit den Worten Rompes, »der Abwehr des Versuches einer direkten Überwältigung der DDR«, sei die Bundesrepublik zu »raffinierteren Mitteln, die […] eine verteufelte Ähnlichkeit mit ähnlichen Praktiken der Hitler-Periode« hätten, übergegangen. Hierzu gehöre, der DDR das Niveau abzustreiten und zu suggerieren, dass sie die Hilfe der Bundesrepublik benötige, 625  Ebd., S. 43–45. 626  Ebd., S. 45 f. 627  Ebd., S. 48 f.

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sie sonst »nicht lebensfähig« sei. Und ein drittes Mal betonte er, dass: »alle unsere Wissenschaftsbeziehungen zu Westdeutschland« nun »gründlich auf den effektiven Nutzen für die DDR in wissenschaftlicher, ökonomischer und politischer Hinsicht geprüft werden« müssten. Dies gelte für Einzelreisen von Wissenschaftlern, Einladungen in die DDR, Delegationen zu Tagungen u. ä. »Untaugliche Partner« dürften nicht in die DDR eingeladen werden. Auch die Art und Weise der Angliederung von wissenschaftlichen Gesellschaften an die DAW müsse auf den Prüfstand. Diese Angliederung sei »keine formale Angelegenheit, sondern legt der Leitung der Akademie die Verpflichtung auf, in bestimmtem Maße das wissenschaftliche Leben der Gesellschaften zu fördern und ihre Wissenschaftspolitik mitzugestalten«. Bereits 1963 habe der Ministerrat der DDR zuständigen staatlichen Organen die Aufgabe gestellt, »den Status der Wissenschaftlichen Gesellschaften in der DDR insgesamt möglichst bald zu klären«, das sei nun endlich zu lösen.628 Wissend, dass die Reisebeschränkungen großen Ärger bereiten würden, kam er nochmals auf die Reisetätigkeit zu sprechen, die natürlich »ein legitimes Hilfsmittel der wissenschaftlichen Tätigkeit sei. Bei der Entscheidung über die Durchführung von Reisen dieser Art werden wir aber künftig auf die Einhaltung der alten Forderung stärker achten, ob sie aus der wissenschaftlichen Gesamtplanung abgeleitet sind und einen angemessenen wissenschaftlichen Nutzen versprechen. An die Stelle der passiven Reisepolitik werden wir gerade hier eine aktive Reisepolitik [mit dann massiver Involvierung des MfS – d. Verf.] setzen, indem wir festlegen werden, zu welchen Anlässen Reisen durchgeführt werden und wer sie durchführt.« Die zuständigen staatlichen Leiter müssten künftig ernsthaft prüfen, »ob solche Reisen wirklich für die Durchführung bedeutender Forschungsvorhaben maximalen Nutzen erbringen können«. Und weiter: »Reisen unserer Wissenschaftler werden nur durchgeführt werden, wenn sie im unbedingten und allseitigen Interesse der DDR stehen, ein maximaler Nutzen ersichtlich ist und jede Möglichkeit der Diskriminierung und der Diversion ausgeschlossen ist und unsere Vertreter gleichberechtigt auftreten können und als Bürger der DDR respektiert werden. Wir werden konsequent eine Realisierung von westdeutschen Stellen gezielt versandten Einladungen oder von Einzelpersönlichkeiten besorgten Einladungen stoppen und wir empfehlen gleichzeitig, bereits die Vorplanung von Reisen zu Tagungen und Kongressen personengebunden durchzuführen, damit willkürliche Vortragsmeldungen vermieden werden.« Einladungen zu Veranstaltungen und zu Vorträgen sowie zum Erfahrungsaustausch würden »nur angenommen werden«, soweit »sie von der zuständigen übergeordneten Leitung der Akademie bestätigt sind und klar ist, dass für uns, für die sozialistische DDR und ihre Wissenschaft maximaler Nutzen erwartet werden kann. Das schließt mit ein, dass unveröffentlichte Forschungsergebnisse in Westdeutschland weder vorzutragen, noch zu diskutieren, geschweige denn zu veröffentlichen sind. Wir sagen offen, dass die Zeit des Verschenkens von Forschungsergebnissen für 628  Ebd., S. 51–53. Grundlegend zur Funktion des MR: Lapp, Peter J.: Der Ministerrat der DDR. Aufgaben, Arbeitsweise und Struktur der anderen deutschen Regierung. Opladen 1982.

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uns vorbei ist.« Wegen der von der Bundesrepublik »heraufbeschworenen Lage« würden »in Zukunft nur Vertreter unserer Akademie nach Westdeutschland reisen, die offenkundig durch ihre gesamte bisherige Tätigkeit zur Stärkung des Ansehens der DDR beigetragen haben, mit ihr eng verbunden und bereit und in der Lage sind, aktiv die Interessen der DDR zu vertreten. Unsere Vertreter müssen bewiesen haben, dass sie auch in komplizierten politischen Situationen richtig reagieren und konsequent gegen jede Diskriminierung auftreten« können.629 Dieser Text zeigt, dass Rompe ein Mann der SED war, der direkt instruiert worden war bis hinein in die Begrifflichkeit. Dies unterschied ihn prägnant etwa von Steenbeck oder Klare. Am 31. Juli 1968 versammelte Klare zur Beratung die Direktoren und leitenden Mitarbeiter der Institute und Einrichtungen zu Fragen der Akademiereform.630 Anlass der Zusammenkunft war die Sitzung des Plenums der DAW vom 25. Juli, auf der die Zustimmung zur »Grundkonzeption und Struktur der DAW zu Berlin« erfolgt war. Auf der Sitzung wurde zudem die neue Akademie-Leitung gewählt. Die Akademiereform sei, so Klare, eingebettet in die »tiefgreifende Umwälzung der Produktivkräfte« in der DDR. Der Sozialismus verfüge gegenüber dem kapitalistischen System über »die entscheidenden sozialen Voraussetzungen«, um die Potenzen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu nutzen; er zitierte Ulbricht, der betont hatte, dass »die sozialistische und die wissenschaftlich-technische Revolution zu einem Prozess zu verbinden« seien.631 Forschung müsse, hieß es, auf Hauptaufgaben konzentriert werden, dies entspreche den gesellschaftlichen Erfordernissen. Daraus folge zwangsläufig die Notwendigkeit, entsprechende Leitungsstrukturen zu entwickeln. Die Argumentation der SED unterlag der Faszination von Worten, also hieß es: »Aufbau eines Kooperationssystems« zwischen den Forschungseinrichtungen und Nutzern. »Zugleich« gab »die Akademiereform neuen Formen der Planung und Leitung der wissenschaftlichen Arbeit Raum«. Die »Manufaktur-Periode der Wissenschaft« sei vorbei, so Klare. Gleichzeitig versuchte er zu beruhigen: »Es geht hier nicht um die Abschaffung bewährter Traditionen!«632 Zur auftragsgebundenen Forschung und Finanzierung führte Rompe aus, dass sie in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess einbezogen werden müssten. Ziel der Reform sei es, »Erkundungs- und Grundlagenforschung« so zu organisieren, dass Bestleistungen die gesellschaftliche Entwicklung befördern. Forschungskapazitäten würden in aller Konsequenz auf Schwerpunktaufgaben gelegt werden. »Die Berechtigung einer Zugehörigkeit zur DAW muss durch höchste Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt und immer wieder neu erworben werden.« Für die inhaltliche Aus629  Ebd., S. 54 f. 630  Vgl. Referat von Klare, geschrieben am 26.7.1968, zur Beratung der Direktoren und leitenden Mitarbeiter der Institute und Einrichtungen am 31.7.1968 zu Fragen der Akademiereform, S. 1–21; ArchBBAW, Handbibliothek. Eingeheftet das Gemeinsame Arbeitsprogramm des Präsidenten der DAW und der Akademie-Parteileitung bis zum Jahresende 1968, vom 26.7.1968, S. 1–5; ebd. 631  Ebd., Referat von Klare, S. 2 f. 632  Ebd., S. 4 f.

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gestaltung der Reform sei den Akademiemitgliedern ein Spielraum gegeben. »Die DAW« sei »eine wissenschaftliche Einrichtung der DDR.« Bei der Reform werde die Einheit der Akademie das tragende Prinzip werden, das hieß, dass die Zäsur zwischen dem Wirken des Plenums und der Forschungsinstitute überwunden werden sollte. Die interdisziplinären Grenzen und die starre Trennung der Disziplinen sollten beseitigt werden.633 Es waren letztlich Parolen, auch wenn es strukturelle Probleme gab, die zeitgemäß zu lösen waren. Selbst positiv besetzte Begriffe wurden ausgetauscht. So hob Klare hervor, dass der Begriff »Forschungsgemeinschaft« bzw. »Arbeitsgemeinschaft« in den letzten Jahren seinen Sinn verändert habe. Das Zentralistische stehe im Mittelpunkt: die Veränderung der Leitungsstruktur sei von Vorteil, die Akademie werde »nur eine Kaderleitung, eine Planungsleitung und einen Bereich für Ökonomie und Verwaltung besitzen«. Die Frage, warum Forschungsbereiche gebildet würden, hänge mit der künftigen Rolle der auftragsgebundenen Forschung und Finanzierung zusammen. Die Konzentrierung auf strukturbestimmende Zweige der Volkswirtschaft erfordere größere Einheiten. Daraus folge unmittelbar die Bildung von Zentralinstituten. Den Forschungsbereichen (FoB) würden zukünftig präzise Aufträge für die Volkswirtschaft – als gesellschaftliche Aufträge – gegeben. Der jeweilige FoB habe die auftragsgebundene Forschung und aufgabenbezogene Finanzierung sicherzustellen. Klare zitierte den Minister für Wissenschaft und Technik Günter Prey mit der Aussage, dass es nicht darum gehe, »Partner um jeden Preis zu suchen und Aufträge zu binden, nur um die Finanzierung der Aufwendungen in den Forschungseinrichtungen zu sichern«. Beim Leiter jedes Forschungsbereiches werde ein wissenschaftlicher Beirat eingerichtet. Er werde ein »beratendes Organ« sein. »Bedeutungsvoll« sei »die in der Konzeption vorgesehene personelle Zusammensetzung der Beiräte«. In diesen erfolge die »Verschmelzung« der wissenschaftlichen Potenzen. Zunächst solle der Inhalt der einzelnen FoB, dann sollten die Struktur und die Leitung geklärt werden. Das Plenum der Akademie könne hingegen »als lebendige und zeitgemäße universitas litterarum« wirken.634 Die Vorschläge für neue Mitglieder der DAW sollten von Mitgliedern des Ministerrates, Ordentlichen Akademiemitgliedern und vom Präsidium des Forschungsrates unterbreitet werden können.635 Das untergrub die Souveränität der DAW und brach mit ihrer Tradition. Es ist leicht an dieser Kaskade von Veränderungen erkennbar, dass bis in die Wortwahl hinein demokratische Formen, Traditionen und Selbstbestimmungsmerkmale abgebaut, der Zugriff der SED deutlich verbessert werden sollte. Völlig analog geschah dies im Hochschulbereich über die Zwangsgründung von Sektionen. Im praktischen Vollzug zeigte sich rasch, dass damit ineffiziente Strukturen aufgebaut wurden, der administrative und Verwaltungsaufwand erheblich wuchs. Die Entscheidungswege verzweigten und verlängerten sich. Verwaltungsaufgaben 633  Ebd., S. 6–9. 634  Ebd., S. 10–16. 635  Vgl. ebd., S. 18.

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waren und sind für Vollblutwissenschaftler immer ein Problem. Das Problem war so alt wie auch weit verbreitet: In einem Brief von 1959 klagte Werner Hartmann gegenüber einem chinesischen Wissenschaftler, dass er bereits seit fünf Jahren kaum zum Nachdenken komme.636 Der Philosoph Hans-Georg Gadamer ging nicht zuletzt aus diesem Grunde aus Leipzig fort. Wissenschaftliche Antriebe aus sich selbst heraus wurden erheblich begrenzt. Überall wuchsen Barrieren, die Imprimaturverfahren lähmten die notwendige Aktualität in der Kommunikation. Zahllos sind die Beispiele, meist dezidiert tradiert: Ein Wissenschaftler aus dem Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie (ZOS) arbeite, so oder so ähnlich ist es häufig kommuniziert worden, an einer »ausgefallenen Thematik«, die (nicht) mehr in das Profil des Hauses passe. Er wollte die Arbeit veröffentlichen, doch dem wurde nicht zugestimmt. Durch »Eingreifen des IM« sei »jedoch« sein Manuskript als »Arbeit einer Privatperson und nicht als Mitarbeiter der AdW / ZOS ausgewiesen« und »an Physiks Letters verschickt« worden.637 Der Wissenschaftler hatte Glück. Die Arbeit erschien nun in einem angesehenen internationalen Fachblatt. Die Führungsspitze der DAW traf sich am 18. und 19. November 1968 in der Hakeburg im Bezirk Potsdam zu einer Klausur. Beteiligt waren Präsident, Vizepräsident, Generalsekretär sowie Fachbereichsleiter, Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Sekretariats und die Bereichsleiter Ökonomie und Planung, unter Letzteren befand sich auch Erwin Schult. Ernst August Lauter soll sich positiv über »die Rolle eines Leiters« in der Sowjetunion geäußert haben, er habe lange gebraucht um »die hauptamtliche Tätigkeit richtig« zu begreifen. »Jetzt« habe »er sich völlig zu dieser Meinung durchgerungen«. Hiermit meinte Lauter das sowjetische Modell, wonach die besten Wissenschaftler auch Führungsaufgaben zu übernehmen hatten. Anders Rompe, Lanius, Treder und Wolfgang Böhme, sie hätten zwar betont, dass es notwendig sei, Spitzenwissenschaftler mit Leitungstätigkeit zu betrauen, doch hielten sie dies »nur als Übergangslösung für richtig, dann sollten sie aber wieder reine Wissenschaftsarbeit leisten«. Auch Schult will diese Auf‌fassung unterstützt haben.638 Es sei eine offene, diskussionsfreudige Begegnung gewesen. Am Abend seien »fast alle beim Skatspielen« zusammen gewesen.639 Schult berichtete dem MfS am 6. Dezember von der nachfolgenden Präsidiumssitzung der DAW. Die Diskussion sei unsystematisch erfolgt und »die auf der Hake­ burg beschlossenen Maßnahmen« seien »wieder verändert« worden. »Dort« war »beschlossen« worden, »die Forschungsbereichsleiter hauptamtlich einzusetzen«. Das war überhaupt eines der Hauptthemen der letzten Sitzungen. Die Sitzung am 636 Vgl. Auswertung von Archivunterlagen Hartmanns; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 36, Bl. 6. Die Blattangaben zu dieser Signatur folgen der ersten BStU-Paginierung (Stempel ohne Umrandung) von vor dem 11.12.2001. 637  HA XVIII/5/2 vom 26.2.1976: Bericht von »Fritz« am 13.2.1976; BStU, MfS, AIM 16981/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 181–185, hier 183. 638  HA XVIII/5/1 vom 20.11.1968: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 20.11.1968; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 10–12, hier 10 f. 639  Ebd., Bl. 12.

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6. Dezember habe nun wieder »andere Momente« gezeigt. Treder hatte vorgeschlagen, nicht das Zentralinstitut übernehmen zu wollen, sondern den FoB »Kosmische Physik«. Möglich, dass Treder geglaubt haben könnte, dass ihm diese Funktion noch einigermaßen die wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeit rette. Doch Parteisekretär Ziert war dagegen, er äußerte Kritik, worauf Treder sich daraufhin wieder zurückgezogen habe. Es soll dann zu einer kompromissähnlichen Vereinbarung zwischen Ziert und Lauter dergestalt gekommen sein, die führenden Wissenschaftler zwar »zum Leiter zu machen«, ihnen »aber daneben einen geschäftsführenden Direktor« zu geben. Anschließend entbrannte eine Diskussion über diese »Ständigen Stellvertreter«.640 Zur ideologischen Frage der Akademiereform äußerte Schult, dass praktisch jede Seite mit jeder anderen Seite in Verständnis- und Handlungskonflikte geraten sei. Fachbereiche vs. Parteileitung vs. Parteigruppe vs. Wissenschaftliches Sekretariat etc.: »Es herrscht keine offene Atmosphäre. Die Genossen der Nuschkestraße warten darauf, dass die andere Seite einen Fehler macht, um darauf einzugehen.« Die Idee, auf der Hakeburg einen Korpsgeist zu entfachen, war gut, nur gelang es nicht. Vertrauen konnte nicht hergestellt werden. Während der Direktorenkonferenz am 27. November 1968 kam es gar zu einer Art von Diskussionsverweigerung, Schult wertete das als »ein sehr ernstes Zeichen für die ideologische Seite der Akademiereform«.641 Das MfS sammelte eine Vielzahl von Kritik an der Reform und teils drastische »Ausbrüche« von Funktionären.642 Die Industriekopplung war für einige Institute wie das ZOS von nahezu existenzieller Bedeutung, andere fanden sich nicht mit der ungewohnten Praxis zurecht. Das ZOS konnte am 15. August 1968 plötzlich keine Gehälter zahlen, weil es schlicht versäumt hatte, das Geld vom Kombinat Carl Zeiss Jena abzufordern.643 Das MfS machte Sonderschichten, um sich die von IM vorgetragenen Kritiken im Zentralinstitut für Isotopen- und Strahlenforschung (ZfI) über die »Unzufriedenheit einer größeren Anzahl von Wissenschaftlern« anzuhören. Mehrere Wissenschaftler trugen sich mit Kündigungsgedanken.644 Hierzu zählten der »Zweifel am Wert des neuen Leitungssystems«, der Zuwachs an Zeitaufwand für organisatorische Arbeiten sowie der »Zweifel an der Richtigkeit der perspektivischen Aufgaben«. Da die Umprofilierung »innerhalb von« nur »wenigen Wochen vollzogen werden« musste, wurden viele Personalgespräche – etwa wegen der Abberufung als Abteilungsleiter  – nicht durchgeführt. Weder gab es für die Mitarbeiter hinreichende Informationen über ihren »Platz in der neuen Struktur« 640  HA XVIII/5/1 vom 9.12.1968: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 6.12.1968; ebd., Bl. 13–15, hier 13. 641  Ebd., Bl. 14 f. 642  Noch weit über den eigentlichen Zeitraum der Reform hinaus, wie 1981; vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 222 u. 229 f. 643  Vgl. HFIM »Böttger« vom 22.8.1969: Monatsbericht August 1969; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 234–239, hier 236. 644  BV Leipzig, Abt. XVIII/1, vom 11.3.1971: Bericht von »Müller« am 16.2.1971; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 68 f.

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noch über die neuen Vorgesetzten. Von einer Einbeziehung der Mitarbeiter in die Strukturüberlegungen konnte keine Rede sein. Die von der Umprofilierung direkt betroffenen Bereichsleiter hätten »den Prozess der Umprofilierung nicht nur nicht unterstützt, sondern teilweise unter Verletzung der Partei- und Staatsdisziplin nach besten Kräften aufzuhalten und zu stören versucht«. Ein IM gab zu bedenken, dass die negativen Faktoren bei der »Auflösung eingespielter Kollektive« klarer hervorträten »als die Vorteile der Herausbildung neuer interdisziplinärer Kollektive«. Die Strukturreform werde jedoch kaderpolitisch »genutzt, um einige negativ auftretende Leiter durch fortschrittliche Wissenschaftler zu ersetzen«. Dies jedoch sei »auf den Unwillen zahlreicher nicht fortschrittlicher Mitarbeiter« gestoßen.645 Zur Wirksamkeit der Akademiereform äußerte der Physiker Karl-Heinz Schmelovsky, »dass früher die Leute das gemacht hätten, was ihnen Spaß machte, und das hätte keine Resonanz und keinen Erfolg gehabt, dann hätte man ihnen neue Aufgaben übertragen, die sie nicht mehr mit Freude machen würden, und das Endresultat nach außen hin wäre auch gleich null«.646 Kaum waren 1968 Anweisungen erfolgt, galten sie nicht mehr. Eine straffe Informationspolitik existierte nicht, die Kommunikation lief als »Buschfunk«. Fragen, ob Forschungsbereichsleiter die Funktion hauptamtlich oder ehrenamtlich ausführen sollten, waren nicht geklärt, einige wichtige Stellen waren nicht besetzt, Funktionsträger waren ohne Geschäftsbereich. Umstritten war die Frage, ob Spitzenwissenschaftler organisatorische Funktionen übernehmen sollten. Sie selbst hielten dies nur für eine Übergangsperiode für gerechtfertigt, dann wollten »sie aber wieder reine Wissenschaftsarbeit leisten« dürfen.647 Auch lehnten sie »Auswertekollektive zu sowjetischen Parteitagen« in ihren wissenschaftlichen Instituten ab.648 Im Dezember 1968 soll Lauter in Bezug auf die Übernahme der Funktion als Vizepräsident der Akademie gesagt haben, dass er sich nicht wohl fühle. Er trauere seiner fachlichen Arbeit nach. »Wenn ich es vier Jahre mache, bin ich wissenschaftlich tot.« Andere äußerten sich ähnlich.649 Parteisekretär Ziert konnte sich nicht wie gewollt durchsetzen, mit Kompromissen begann, so Schult, »die Durchlöcherung der Akademiereform«.650 Wurden im Zuge der Akademiereform nicht wenige kleinere Fachrichtung wegrationalisiert oder zur Bedeutungslosigkeit degradiert, so entstanden nach der Reform aus der naturgegebenen dynamischen Differenzierung wissenschaftlicher 645  BV Leipzig, Abt. XVIII/1, vom 11.3.1971: Bericht von »Müller« am 10.3.1971; ebd., Bl. 53–58, hier 53–55. 646  Gespräch zwischen Fischer und Schmelovsky, Bericht vom 27.1.1972; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 4, Bl. 14. 647  Bericht von »Dagmar« am 20.11.1968; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 10–12, hier 11. 648  HA XVIII/5 vom 2.4.1971: Bericht von »Dagmar« am 1.4.1971; ebd., Bl. 255 f., hier 255. 649 HA XVIII/5/1 vom 9.12.1968: Bericht von »Dagmar« am 6.12.1968; ebd., Bl. 13–15, hier 14. 650  Ebd., Bl. 13.

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Tätigkeit wieder neue. »Beseitigte« der Leiter des ZfI Leipzig, Klaus Wetzel651 alias GI resp. IM »Müller«, Entwicklungsrichtungen, so wurden ihm bereits 1975 seine produktiven wissenschaftlichen Impulse wieder zum Problem, da er angeblich der »Gefahr einer Zersplitterung« nicht hinreichend begegne.652 1981 behauptete ein IM, dass Wetzel die Kooperation mit den sozialistischen Staaten als drittrangig betrachte und die Gestaltung seinen Mitarbeitern überlasse, die Reisetätigkeit in den Westen aber vor allem selbst durchführe. Er besitze »keine kommunistische Grundeinstellung«; habe keine »tiefere Beziehung […] zur Arbeiterklasse und zu ihrer Partei«; er betrachte sich »als eine Art Apostel der Wissenschaft«; Aufgabenstellungen aus der Industrie würden »eigentlich störend wirken auf die Orientierung des Instituts auf die Grundlagenforschung«.653 Ab Oktober 1969 musste für das Politbüro der SED eine Vorlage erarbeitet werden, die für die Gestaltung der nächsten Etappe der Akademiereform benötigt wurde. Am 11. März 1970 berichtete Kroitzsch, dass die letzten Wochen hektisch verliefen, da die Vorlage ständig umgearbeitet werden musste. Der mittlerweile amtierende 1. Sekretär der SED-Kreisleitung der Akademie Horst Klemm konnte indes »voller Stolz« berichten, dass die Vorlage fertig sei und am 17. Februar vom Politbüro beschlossen werden solle. Doch die Vorlage sei zu den Akten gelegt worden, »ohne jemals dem Politbüro vorgelegen zu haben«. Zuletzt aber, auf der letzten Präsidiumssitzung, sollte wieder eine Vorlage erarbeitet werden »über das gleiche Problem«, und wieder für Ulbricht. Kroitzsch hatte demnach eine Stunde Zeit um mit Treder den Inhalt zu diskutieren, dann noch circa eine Stunde für die Redaktion des Beitrages. »Für Korrekturen war keine Zeit mehr«, da die Vorlage über den Instanzenweg noch am selben Tag zu Ulbricht gelangen sollte: »Es ist organisatorisch ein vollkommen unmöglicher Arbeitsstil. Eine derartige Vorlage kann nicht in so kurzer Zeit erarbeitet werden. Eine Person, die einen derartigen Bericht« für Ulbricht »in so kurzer Zeit verlangt, ist nach meiner Meinung falsch am Platz, da dem Bericht jegliche Gründlichkeit und Aussagekraft fehlen muss«.654 Heinz Bethge vom Institut für Festkörperphysik und Elektronenmikroskopie (IFE) Halle des Zentralinstituts für Festkörperphysik und Werkstoffforschung (ZFW) Dresden äußerte zur Akademiereform am 22. Dezember 1969, dass er und seine Mitarbeiter »sehr unzufrieden« mit der Reform seien, »sie ertränken in Papier. 651  (1932). 1950 Studium der Chemie an der KMU Leipzig. Spätestens 1959 hatte er kommissarisch die Leitung der Abt. »Gewinnung stabiler Isotope« im IpS inne, FG »Schweres Wasser«. BV Leipzig, Abt. VI, vom 11.7.1959: Vorschlag für die Anwerbung eines GI aus dem IpS; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 6–11, hier 7; Schriftliche Verpflichtungserklärung vom 30.7.1959 sowie Anwerbungsbericht vom 17.7.1959; ebd., Bl. 22 u. 19 f.; Beschluss über Archivierung eines IM-Vorganges vom 15.11.1989; ebd., Bd. 2, Bl. 2 f. 652  Beurteilung vom Forschungsbereichsleiter der AdW, Klaus Fuchs, vom 25.3.1975; ebd., Bd. 1, Bl. 208–212, hier 210. 653  BV Leipzig, Abt. XVIII, vom 24.2.1981: Einschätzung zu Wetzel; ebd., Bl. 218–223. 654 BV Potsdam: Berichterstattung von »Geos« am 11.3.1970; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 220.

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Bei den ehemaligen Fachbereichen habe es besser geklappt.« Die bisherige Haushaltsfinanzierung sei besser gewesen als die wirtschaftliche Rechnungsführung. Er müsse sich nun selbst »um jede zeitraubende Kleinigkeit kümmern (Anträge über Rat des Bezirkes)«. Er billige nicht die Existenz »personell aufgeblähter Struktureinheiten«. Er bezweifle, ob die Bildung von Zentralinstituten richtig sei.655 Am 14. April 1970 berichtete Kroitzsch über das Planungschaos an der Akademie. Der Bericht, in der Wiedergabe seines Führungs-IM (FIM) »Gerlach«, bezog sich auf eine Einschätzung des Direktors für Planung und Ökonomie der DAW. Er zeigt en miniature, dass die Zentralverwaltungswirtschaft vor allem eine Zerfaserung stringenter Handlungsabläufe bedeutete, und dies auf eine nahezu luxuriöse Art: »Charakteristisch für das Durcheinander in der DAW und für die Verdrehung der Leitungstätigkeit und Organisationswissenschaft ist folgendes Beispiel: Das Wissenschaftliche Sekretariat des Forschungsbereiches, dessen Leiter der IM ist, musste einen Bericht an den Präsidenten der DAW, Professor Klare, geben, in dem die Umsetzung« der Abteilung Dr.  Wagners vom Zentralinstitut für Physik der Erde [ZIPE] zum ZISTP und die Abteilung Dr. Krauses vom ZIPE zum Zentralinstitut für Astrophysik [ZIAP] »begründet wurde, sodass der Präsident eine entsprechende Direktive herausgeben kann. Diese Direktive bzw. Weisung wurde den Einrichtungen der DAW wie Finanzen, Sicherheit, Auslandsfragen und Planung und Ökonomie zugestellt, damit Einwände rechtzeitig gemacht werden können. Der stellvertretende Direktor für Planung und Ökonomie […] schickte daraufhin eine Mitarbeiterin zum IM, die sich nach der Begründung für diese Umbesetzung erkundigen sollte. Der IM ist aber nicht verpflichtet, die für den Präsidenten der DAW gemachte Begründung noch einmal abzugeben. Es ist auch nicht die Aufgabe der Abteilung Planung und Ökonomie, sich um die Begründung der Umbesetzung zu kümmern.«656 Zur Umsetzung Hans-Jürgen Treders von Berlin nach Potsdam auf Weisung Lauters notierte der Führungsoffizier von Kroitzsch am 8. Mai 1970: Danach habe sich Lauter auf den Beschluss der Führungsgruppe des DAW-Präsidenten berufen, der weder Kroitzsch noch Treder zur Kenntnis gegeben worden sei. Treder beschwerte sich postwendend, indem er auf erhebliche logistische Konflikte und Hindernisse sowie auf wochenlange Arbeitsunterbrechungen verwies. Kroitzsch, und das ist die eigentliche Nachricht dieser Angelegenheit, war aber der Auf‌fassung, dass Lauter diese Weisung deshalb gegeben habe, »damit die Arbeit des IM als Leiter des wissenschaftlichen Sekretariats für längere Zeit lahmgelegt« werde. »Aufgrund des Umzuges würde das wissenschaftliche Sekretariat den Auftrag betreffs der sozialistischen Landeskultur [hier ging es um ein zu erstellendes Akademieangebot zur Entscheidungsfindung zur sozialistischen Landeskultur unter Minister Werner 655  Aus einem Gespräch mit Bethge am 22.12.1969; BStU, MfS, AIM 5691/82, Teil I, 1 Bd., Bl. 115–118, hier 115. 656 BV Potsdam: Berichterstattung von »Geos« am 14.4.1970; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 249. Es handelt sich um Christian-Ullrich Wagner.

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Titel per Ministerratsbeschluss vom Oktober 1969 – d. Verf.] nicht erfüllen« können, »und darüber hinaus für mindestens sechs bis acht Monate arbeitsunfähig sein«.657 Vier Tage später, am 12. Mai, kam Kroitzsch auf den Einfall, dass Lauter die Weisung gegeben haben könnte, um die Informationskanäle zum MfS aufdecken zu können; im Wortlaut: »um die Kanäle aufzuklären, die dem MfS Informationen überbringen«. Kroitzsch bezog »sich dabei auf eine Aussprache von Professor Lauter, der auf einer Veranstaltung zur Vorbereitung der URSI-Tagung sagte, dass es unter ihnen geschulte Leute des MfS gebe, die den Wortlaut vertraulicher fachlicher Gespräche dem Ministerium übermitteln würden. Er habe von einem Genossen des MfS wortgetreu gehört, was auf der vertraulichen Beratung am x.y. gesprochen worden sei. Professor Lauter versuchte damals diese Mitarbeiter herauszufinden. Er kritisierte diese Taktik und diffamierte sie. ›Geos‹ war damals nicht auf der infrage kommenden Veranstaltung, von der Professor Lauter wortgetreue Wiedergaben durch das MfS erhalten haben will.«658 Jedenfalls habe sich Treder über »einen dicken Beschwerdebrief« bei Klare beklagt. Da der aber erkrankt war, erhielt Lauter den Brief, der unter den Brief »alles übertrieben« schrieb und Stiller die Weisung gab, seine Weisung durchzusetzen. Kroitzsch selbst hatte sich beim wissenschaftlichen Sekretariat des Präsidenten beschwert. Es habe sich aber bislang in der Sache nichts bewegt. Sein Führungsoffizier wiederholte an dieser Stelle noch einmal die Vermutung von Kroitzsch, Lauter werde auf diese Weise nach Spitzeln des MfS fahnden.659 Die Lage in den hohen Leitungsebenen der Akademie blieb unverändert. Im Juni 1970 berichtete Karl Weidensporn* alias IM »Senftleben« vom Zentralinstitut für Kern- und Strahlungsforschung am Standort Leipzig über die Bildung von sechs Arbeitsgruppen, die weiland damit befasst waren, »Leistungsangebote« zu erstellen. Dabei wüssten sie nicht einmal, »für wen diese Leistungsangebote« überhaupt seien. Jedenfalls sollen sie über den Rahmen der Akademie hinausgegangen sein. Man befürchte deshalb, dass ihnen die Konkretheit fehle, wenn man nicht wisse, wer der Abnehmer oder Partner sei. Es werde daher zu massiven Rückfragen kommen und im Endergebnis müsse man die Arbeit wieder von vorn beginnen. Auch seien die Besetzungen der Leiterstellen nicht nachvollziehbar, da sie vom jeweiligen Mangel an Fachkompetenz gekennzeichnet seien. Entweder sie hätten vom Fach überhaupt nichts oder erst seit Kürzerem etwas gehört. Eine Person habe als Leiter der Arbeitsgruppe Geologie etwa vor einem Jahr zum ersten Male etwas über geologische Probleme gehört; der Leiter der Arbeitsgruppe Chemie habe »noch nie eine verfahrenstechnische Chemieanlage gesehen bzw. überhaupt etwas mit Verfahrenstechnik zu tun gehabt«.660

657  BV Potsdam: Berichterstattung von »Geos« am 8.5.1970; ebd., Bl. 254 f. 658  BV Potsdam: Berichterstattung von »Geos« am 12.5.1970; ebd., Bl. 256. 659  BV Potsdam: Treff bericht über die Mitteilungen von »Geos« am 23.6.1970; ebd., Bl. 270. 660  BV Leipzig vom 8.6.1970: Bericht von »Senftleben«; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 271/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 82.

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Am 14. Januar 1971 schrieb sich Bethge seinen Ärger von der Seele. Sein Thema hieß, wenn auch nicht so genannt, die Folgen der Akademiereform. Das 18 Seiten umfassende Schreiben ist eine Mischung aus allgemeinen Einschätzungen zu den Folgen der Akademiereform, Vorschlägen zur Reform der Reform und zum nicht geringen Teil auch seiner Verärgerung über seine Absetzung als Institutsdirektor. Es sei an der Akademie nach nunmehr zweijähriger Reformzeit »eine nervenaufreibende Geschäftigkeit eingetreten« und es habe sich »ein kleinkariertes Management breitgemacht«.661 Die Idee, »ein verstärktes Wirksamwerden für die strukturbestimmenden Wirtschaftszweige durch Konzentration und ein Übernehmen größerer Verantwortung für den Gesamtforschungsprozess« zu erreichen, halte er zwar für »unbedingt richtig«, doch nicht in Hinsicht auf die Bildung von Zentralinstituten und den damit zusammenhängenden tiefen inneren Problemen.662 Hier kann nur auf einige, thematisch besonders wichtige Kritikpunkte Bethges eingegangen werden: Erstens: Das völlig unzureichende Informationsmanagement. Die abgreifbaren Informationen seien, so Bethge, »ausgesprochen mangelhaft«. Zwei Jahre dauere es, bis ein Konferenzbericht als Druck vorliege. Zudem können Konferenzberichte und Monografien wegen Geldmangels kaum mehr beschafft werden. Die Mittel hierfür würden »laufend verringert werden«. Aber auch Dienstreisen würden minimiert, es sei aber noch wichtiger als das Lesen von Broschüren und Büchern, das »Herumhören und das Gespräch auf Tagungen oder der Eindruck vom Besuch eines führenden Labors«. Selbst »diese Möglichkeiten« würden »laufend schlechter«. »Wir schnüren uns hier einfach vom internationalen Trend ab«. Insgesamt stelle dieser Umstand, der allgemeine Bedeutung habe, eine »bedrohliche Situation« dar, die es »dringlich erforderlich« mache, »dass wir irgendwie zu einem effektiven System kommen, um wenigstens die möglichen Informationen wirksam werden zu lassen«. Die Reduzierung der Institute von 70 auf 30 könne nicht als »der gravierendste Erfolg« gewertet werden. Zumindest für sein ehemaliges Institut, das Institut für Elektronenmikroskopie und Festkörperphysik, könne das nicht gelten, im Gegenteil, die Situation habe sich »erheblich verschlechtert«. Man habe durch die Reform »einen Tempoverlust in der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit in den letzten zwei Jahren erlitten«. Zwar seien die Gründe hierfür vielschichtig, hervorsteche aber der Fakt, dass die Leitungs- und Administrationswege nun erheblich verlängert worden seien.663 Für sein ehemaliges Institut habe sich »die Ökonomie auf alle Fälle sehr verschlechtert« (wegen zusätzlicher Verwaltungsaufgaben für auswärtige Institute). Und weiter: »Aber auch in der messbaren Ökonomie« gebe »es einige Merkwürdigkeiten, die eigentlich ganz im Gegensatz zu den wirklichen Forderungen der Ökonomie stehen. Wir hatten uns früher immer sehr bemüht, die Gemeinkosten niedrig zu 661  Schreiben von Bethge an Klare vom 14.1.1971; BStU, MfS, AIM 5691/82, Teil I, 1 Bd., Bl. 144–161, hier 144. 662  Ebd., Bl. 146. 663  Ebd., Bl. 148–150.

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halten. Als wir im letzten Sommer nochmals als Verlauf für die Planung 1971 die Gemeinkosten etwas genauer berechnen wollten, wurde uns gesagt, es sei unnütz, denn ab 1971 hat das Zentralinstitut einen einheitlichen Gemeinkostensatz, der nun freilich um 15 Prozent höher liegt! Man sollte auch keinesfalls vergessen, dass mit dem Größerwerden der Einrichtungen der Koeffizient in Parkinsons Gleichung zunimmt. Wenn ich mir ansehe, was in Dresden als Stabsorgane (34 Planstellen) und Funktionalorgane aufgebaut wurde, dann nähert sich dies schon der Größenordnung unserer ehemaligen Forschungsgemeinschaft.«664 Und zur Import- und Dienstreiseproblematik: »Wichtige Entscheidungen« diesbezüglich würden »völlig am grünen Tisch getroffen, ohne jede Beratung im Kollektiv. Viel lästige Arbeit ist auf uns zugekommen, weil Dinge, die wir früher mit der linken Hand getan haben – z. B. das Arbeiten mit dem Lohnfonds –, uns jetzt kleinlichst vorgegeben werden und dann doch falsch sind, sodass wir letztlich, um nicht ganz hintangesetzt zu werden, doch wieder alles kontrollieren und richtigstellen müssen, was natürlich wieder mit Schreibereien verbunden ist.« Zudem lägen nun die meisten Verantwortlichkeiten »aufgrund staatlicher Weisungen oder Regelungen in der Struktureinheit bzw. in der Zusammenarbeit mit dem örtlichen Staatsapparat«. Es entstehe hier »eine sehr belastende Doppelarbeit« [keine Hilfe aus Dresden – d. Verf.]. »Einerseits« müsse man »selbst alles organisieren und durchführen« und »andererseits« müssten »die Dinge aber zentral, d. h. in Dresden behandelt und bearbeitet werden«. Die besten Leute des Managements seien zudem abgezogen worden, dies müsse nun aufgefangen werden von anderen. »Gerade unseren besten Nachwuchsleuten muss Zeit und Ruhe für die wissenschaftliche Arbeit gegeben werden. Wissenschaft kann man nicht zwischen Tür und Angel treiben, und ein Zeitraum von wenigen Monaten, in denen der Wissenschaftler nicht voll bei der Sache ist, kann genügen, um einen gravierenden Rückstand entstehen zu lassen, der nur in einem ungleich längeren Zeitraum wieder hereinzuholen ist. Dies ist zwar mit einfacher Algebra nicht zu erklären«, aber es sei völlig klar, »dass wirklich erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit sich dem Erfolg nur mit zunehmender Intensität und Begeisterung nähert«.665 Bethge erörterte anschließend Vorschläge zu einer besseren Strukturreform, je nach den Leitungslinien Wissenschaft und Verwaltung, die aber hier aus Platzgründen nicht diskutiert werden können. Zum Schluss kam er zu einer persönlichen Sache. Er sei »einen Tag vor Weihnachten nach Dresden« beordert worden, wo ihm seine angeblichen Verfehlungen vorgeworfen worden seien. Die in dem Papier angeführten seien nicht der Rede wert, ja Bagatellen und eine Lüge (er habe sich nicht genügend für sein Haus eingesetzt), aber sie hätten der Garnierung des Zieles gedient, ihn als Institutsdirektor im Zuge der Reformen zu »entsorgen«.666 Weidensporn* berichtete im Februar 1971 »zur politisch-ideologischen Lage am Zentralinstitut«. Der »zusammenfassende« Bericht ist mit zahlreichen Anlagen zur 664  Ebd., Bl. 152. 665  Ebd., Bl. 153 f. 666  Ebd., Bl. 157–160.

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Erhärtung des von ihm Gesagten versehen worden. Zwar sei man bemüht gewesen, die Anforderungen zur »Vollendung der Akademiereform« zu erfüllen, doch »aus der Sicht der gegenwärtigen Lage« müsse »festgestellt werden, dass es ernste und grobe Verstöße gegen die Prinzipien der sozialistischen Demokratie, der Arbeit mit dem Menschen und auch gegen gültige Rechtsnormen (Gesetzbuch der Arbeit)« gebe. Der IM stellte erstens fest, dass »die aus der Reform resultierenden und im volkswirtschaftlichen Interesse nötigen Veränderungen des Inhalts und der Form der weiteren wissenschaftlichen Arbeit nicht gemäß den Beschlüssen der 11. Tagung des ZK und der Staatsratstagung in Merseburg im Sinne einer Konzentration der Potenziale durchgeführt« würden. Dies sei allein dadurch bewiesen worden, dass die Veranstaltung zur Verteidigung der Leistungsangebote am 20. November 1970 misslang, da »die Konzeption seitens der Prognostik und Zielstellung unzureichend« gewesen sei und demzufolge von Ulrich Hofmann667, Beauftragter des Akademiepräsidenten, kritisiert worden sei, »weil nicht nach volkswirtschaftlichen Erfordernissen, sondern nach den subjektiven Wünschen einzelner Leiter orientiert worden war«. Zweitens wurden »die sich ergebenden notwendigen Korrekturen« nach diesem Datum »innerhalb von drei Tagen (übers Wochenende) durchgepeitscht und von den Leitern allein vorgenommen. Alle sich ergebenden Veränderungen sowohl vom Inhalt und der Ausrichtung der weiteren wissenschaftlichen Arbeit als auch von der Form (Struktur des Instituts) her wurden nicht mit den Kollegen beraten, sondern es wurden im Endergebnis nur dürftige Mitteilungen erteilt.« Es sei »Tatsache, dass bis zum heutigen Tage ein großer Teil der umprofilierten Wissenschaftler nicht weiß, wen sie nun zum Vorgesetzten haben bzw. ob sie noch selbst in ihren alten Funktionen sind oder nicht«.668 Mehrere IM berichteten über die Ansichten ihrer Kollegen, dass »man hier systematisch Sabotage betreibt und das Institut kaputt machen« wolle.669 Einige solcher Mitarbeitermeinungen aus »der Sicht der durchgeführten Reform und der seit 1. Februar 1971 in Kraft getretenen neuen Strukturen« am ZfI seien hier kurz zitiert, [A]: »Meine Abteilung wurde zerschlagen, ohne dass eine besondere Konzeption vorlag.« [B]: »(in maßloser permanenter Erregung zur Quelle [Weidensporn*  – d.  Verf.]). Mir ist […] gesagt worden, wenn ich in die Partei ginge, könne ich sofort eine Abteilung bekommen. Daraufhin habe ich von ihm verlangt, dass er mir sofort eine Bescheinigung als Opfer des Sozialismus geben soll.« [C]: »Ich habe den Eindruck, dass die gar nicht wollen, dass wir hier noch arbeiten. Ich kenne 667 (1931). 1972 Vizepräsident für Forschung und Entwicklung der AdW. Er ist spät im Zusammenhang mit der Sicherung des Vorhabens »Heide« als GMS registriert worden. Die Zusammenarbeit erfolgte mit Jahn, es soll eine »funktionsbedingte« Zusammenarbeit gewesen sein: HA XVIII/5 vom 24.6.1988; BStU, MfS, AGMS 14908/89, 1 Bd., Bl. 41. Von einer Werbung ist keine Rede: HA XVIII/5 vom 28.11.1989: Abschlussbericht zu GMS-Akte »Ulli«; ebd., Bl. 7. Er dürfte von der Registrierung als GMS nichts gewusst haben. 668  BV Leipzig vom 3.2.1971: Bericht von »Senftleben«; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 271/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 99 f., hier 99. 669  Ebd., Bl. 100.

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zwei Tage nach Inkrafttreten der Struktur weder meine Aufgaben, noch meinen Abteilungs­leiter.« [D]: »Ich finde die Art und Weise, wie mit den Mitarbeitern umgegangen wird, unmöglich. Ich kenne als BGL-Mitglied die Struktur auch nur vom Hörensagen. Ich werde eine Diskussion über die Struktur offen am ZfI erzwingen.« [E]: »Als Abteilungsleiter abgesetzt, dies erfuhr er am 28. Januar in einer Versammlung. Gespräche mit ihm wurden jedoch nicht geführt. Weiß nicht, wie er vertragsgebundenen Plan erfüllen soll, hat noch keine Vorstellungen, ob er kündigt oder bleibt. Mitarbeiter seiner Abteilung sind empört über Art und Weise. Viele Mitarbeiter suchen den Sinn« dieser Reform. Weidensporn* nannte und zitierte ein Dutzend Personen.670 Der IM »Planitz« erläuterte, dass die »ganzen Maßnahmen der Umprofilierungen« nicht dazu dienten, »um in erster Linie der Wissenschaft oder unserem Staat zu dienen, sondern« sie seien »von subjektiven Wünschen getragen und hatten zum Ziel, für Professor [F] ein entsprechendes Äquivalent zu schaffen und dies in der Person des ›Senkrechtstarters‹« [G]. Die Profilierung zeitigte indes, dass der Gemeinkostensatz von 180 auf 208 Prozent stieg, die Zahl der Bereiche nicht wie gewünscht verringert wurden, sondern sich gar vermehrten, auch die Zahl der Mitarbeiter in den Funktionalorganen wuchs »ständig weiter« an und betrug derzeit bereits 45 Personen. Demgegenüber standen 260 Mitarbeiter in der Forschung (außer im Berliner Bereich). Die Mitarbeiter der ÖTV waren hierin noch nicht einmal berücksichtigt worden.671 Jedenfalls sei die Beratung am 20. November »konzeptionslos und diffus« verlaufen, worauf der für die Akademie zuständige Ulrich Hofmann das Wort ergriffen habe um die »Problematik noch zu retten, da die« vorgelegte »Konzeption des ZfI vom Inhalt und der Struktur her nicht vertretbar« gewesen sein soll. Die Forschungskonzeption soll den volkswirtschaftlichen Erwartungen nicht entsprochen haben. Sie öffne, was die praktische Zusammenarbeit mit der Industrie anlange, dem Zufall Tür und Tor. Am ZfI würde kaum noch ein Mitarbeiter »an eine langfristige und kontinuierliche Planung der wissenschaftlichen Arbeit glauben«. Pessimismus breite sich aus, es habe »keinerlei Zweck, etwas zu sagen«.672 Klare, der parteilose Präsident, erhielt das zweifelhafte Lob der SED-Geschichtsschreibung, dass sich »unter seiner Leitung […] die Umgestaltung der Akademie zur Forschungsakademie der sozialistischen Gesellschaft« vollzogen habe.673 Ein Urteil, das expressis verbis zutreffend ist, jedoch Hohn sprach für das, was man erreichen wollte: einen Wissenschaftsschub für die Volkswirtschaft der DDR. In eklatanter Weise belegen dies die zahlreichen empirischen Befunde und in Sonderheit die Darstellung im zweiten Hauptkapitel der Untersuchung. Letztlich bestätigte das MfS es selbst: 670  Anlage 4 zum Bericht der BV Leipzig vom 3.2.1971; ebd., Bl. 101. 671  Anlage 5 zum Bericht der BV Leipzig vom 3.2.1971; ebd., Bl. 102. 672  Anlage 7 zum Bericht der BV Leipzig vom 3.2.1971; ebd., Bl. 103. 673  Hartkopf, Werner: Die Akademie der Wissenschaften. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte. Berlin 1975, S. 192.

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»1. Die Reform der DAW hatte keinen ausreichenden politisch-ideologischen, wissenschaftlichen und kadermäßigen Vorlauf. Das Dokument wurde vor der Beschlussfassung im Ministerrat nur mit einem kleinen Kreis ausgewählter Wissenschaftler beraten. […] 3. […] Es gelingt nur schwer, das bisher vorhandene Spezialfachdenken in ein Komplexdenken umzuwandeln. In zunehmendem Maße werden wissenschaftsorganisatorische Aufgaben von dazu befähigten Wissenschaftlern abgelehnt. […] 4. Die Entwicklung geeigneter Kader der DAW wurde vernachlässigt. […] Die bisherige Geringschätzung wissenschaftsorganisatorischer Aufgaben führt zu einer Überbewertung des ›reinen Wissenschaftlers‹, wodurch die Bereitschaft der Übernahme zentraler Leitungsfunktionen gemindert ist. 5. Die Reform der DAW von der Gelehrtengesellschaft zur Forschungsakademie bringt eine Reihe ideologischer Probleme mit sich. […] Einige Akademiemitglieder […] befürchten, dass durch den Wegfall der bisherigen Klassen das wissenschaftliche Leben der Akademie gefährdet sei. […] Es wurden ›Theorien‹ verbreitet, wonach kleine Wissenschaftlergruppen die höchste Effektivität erzielen. Dadurch wird die Entwicklung zur Groß- und Komplexforschung erschwert. […] Die auftragsgebundene Forschung wird als ›Diktat der Industrie‹ gegenüber der Wissenschaft interpretiert.«674

Am 1. September 1972 erfolgte die Berufung von Claus Grote675 zum Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften, es ist das Datum der endgültigen Machtübernahme der »Gelehrtenrepublik« durch die SED. Mit ihm installierte die Partei- und Staatsführung einen Spiritus Rector, der die sowjetischen und ZK-Interessen vorbehaltlos umsetzte. Kurz danach erfolgte am 7. Oktober die Umbenennung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Akademie der Wissenschaften der DDR. Peter Nötzoldt akzentuiert die Akademiereform 1968 bis 1972 als »Abschluss des sich in den Jahren zuvor vollzogenen dynamischen Entwicklungsprozesses«, dem entspricht der Befund dieser Untersuchung. Die »korporative Selbstverwaltung der Gelehrten an der DAW« beseitigte die SED damit »endgültig«.676

Exkurs 2: Lehrbeispiel »SBG«: alltägliche Tristesse Am 28. September 1971 berichtete Manfred Klotz* alias IM »Annekathrin« vom ZIPE über die Akademiereform. Nach seiner Einschätzung werde zu viel admi­nistriert, insbesondere sei die ökonomisch-technische Versorgung durch die 674  HA XVIII: Information des MfS an Kurt Hager vom 25.10.1968: Einige Probleme in der DAW im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Akademiereform; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1600, Bl. 1–13, hier 9–13. 675  Vgl. GMS »Wismut«; BStU, MfS, AGMS  16084/89, 1  Bd. Zunächst als IMS »Garten« geplant. Da er für den KGB »erfasst« war, erfolgte zunächst »keine Registrierung als IM«. Nach Abstimmung mit dem KGB konnte mit ihm gearbeitet werden. 1984 wurde er als GMS »Wismut« – mündlich – verpflichtet (Bl. 3–8). 676  Nötzoldt, Peter: Zwischen Tradition und Anpassung – Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1946–1972), in: Girnus, Wolfgang / Meier, Klaus (Hrsg.): Forschungsakademien in der DDR – Modelle und Wirklichkeit. Leipzig 2014, S. 37–64, hier 60.

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gleichnamige ÖTV deutlich schlechter geworden, die Wissenschaftler müssten zunehmend »organisatorische und verwaltungstechnische Fragen übernehmen und lösen«. Der ÖTV-Apparat sei aufgebläht. Die »direkte Hobbyforschung außerhalb der auftragsgebundenen Forschung und des Jahresplanes gibt es nicht« mehr. Die Sowjetunion sehe es im Rahmen Interkosmos sehr gern, wenn die DDR sich einbringen könne, etwa mit dem Satellitenbeobachtungsgerät (SBG). »Wir haben jedoch«, so der IM, »nicht die Besatzung dafür und haben uns – da diese Beobachtungen keinen direkten Nutzen bringen – auf ein Minimum an Beobachtungen beschränkt.«677 Am 7. Dezember berichtete er dem MfS, dass es wegen der fehlenden Unterstützung seitens des VEB Carl Zeiss Jena Anfangsschwierigkeiten gegeben habe. Nun werde das SBG mit einem Lasergerät aus eigener Entwicklung ausgestattet.678 Kurzzeitig erwog die TH Greiz, das SBG von Zeiss zu kaufen. Doch diese Absicht war nur von kurzer Dauer. Die TH entschied sich für ein Gerät aus BRD-Produktion.679 Im Bericht von Klotz* vom 20. Februar 1973 ist vermerkt, dass im August 1972 auf der Budapester COSPAR-Tagung beschlossen worden sei, dass die DDR ein zweites SBG mit Laserradar bauen solle. Der Termin war für Januar 1973 geplant. Zeiss Jena aber reagierte mit einer Absage, da man binnen so kurzer Zeit keine Kapazität frei bekomme. Vermutet wurde, dass das MWT eine Dringlichkeitsanforderung bewusst »verlegt« habe. Nun hätten alle beteiligten Länder ihre Teile gebaut, nur die DDR nicht. Klotz*: »Deshalb wurde heute beschlossen, dass die Zeitgebereinheit aus dem Gerät des ZIPE ausgebaut und nach Prag geschickt wird.« Über eine Dringlichkeitsstufe sollte dann für ZIPE das Gerät von Zeiss Jena gebaut werden.680 Diese Einheit fehlte nun dem ZIPE, da »Zeiss trotz Dringlichkeitsschreiben nicht kurzfristig liefern« konnte. Da das Laserradar fehle, »fällt es nicht so auf, da uns die Zeitgebereinheit fehlt«. Und weiter: »Die Schwierigkeiten in dieser sozialistischen Gruppe Laserradar liegen vor allem in der Frage der Instandhaltung und Wartung der Laserradargeräte, die im Rahmen von Interkosmos in Ondreof [Ondřejov – d. Verf.] gebaut werden bzw. wurden.«681 Das Gerät arbeitete dann aber auch nicht richtig, da die Zeitgebereinheit gegen Streuimpulse zu empfindlich war.682 Indes ging diese alles andere als untypische Geschichte so weiter. Eine Initiativgruppe »Laserradar« hatte Ende 1973 beschlossen, dass alle beteiligten Länder »entsprechend ausgebildete Monteure« an den aufzustellenden Orten in der Welt mitschicken müsse. Das erwies sich als notwendig, da eine gemeinsame Service677  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 28.9.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 176 f. Das Pseudonym Manfred Klotz* ist gesetzt, da der Teil I fehlt. Die Identität ist jedoch absolut sicher. 678  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 7.12.1971; ebd., Teil II, Bd. 1, Bl. 195. 679  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 12.6.1972; ebd., Bl. 228 f. 680  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 20.2.1973; ebd., Bl. 291. 681  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 27.4.1973; ebd., Bl. 296 f. 682  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 12.7.1973; ebd., Bd. 2, Bl. 13–16.

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mannschaft nicht aufgebaut werden konnte. Die DDR musste für den Einsatzort Kairo sofort zwei bis drei Monteure »schicken, um die von der DDR gelieferte Zeitgebereinheit zu justieren und die sowjetische Bedienungsmannschaft einzuweisen«. Zudem mussten alle Aggregate doppelt geliefert werden, um Ausfälle besser kompensieren zu können. Es gab aber »ohnehin schon Schwierigkeiten, die Zeitgebereinheiten von Zeiss zu beziehen und dann bei uns entsprechend zu ergänzen bzw. umzubauen«, da die Kapazität nicht reichte »und die DDR sich zunächst ohnehin nur verpflichtet hatte, an der gemeinsamen Konstruktion eines Gerätes teilzunehmen«. Die Sowjetunion hatte gedrängt, weitere Einheiten zu bauen. »Wir weigerten uns aber strikt aus Kapazitätsgründen, Monteure überall dorthin zu schicken, wo diese Geräte aufgestellt werden.« Es sei der Zeitpunkt gekommen, die Mitarbeit der DDR »grundlegend zu überdenken und daraus konsequente Schlüsse zu ziehen«.683 Im März 1974 berichtete Klotz*, dass die Frage der Monteure immer noch nicht gelöst sei. Das MWT könne auch keine finanziellen Mittel bereitstellen. Und »wenn das ZIPE die Reise von zwei Mitarbeitern des ZIPE [nach Kairo] finanzieren würde, müssten alle anderen Dienstreisen gestrichen werden«. Und: »Eine langfristige Einplanung von Mitteln war jedoch bisher nicht möglich, da das Institut für Elektronik (IE) dafür verantwortlich war.« Auch die Schulungen für die Teilnahme an den Programmen mit den Satellitenbeobachtungsgeräten verliefen pannenreich. Die Einladungen hatte der IM über das MWT abzuschicken. Das hatte er auch getan. Am 4. Dezember 1973 sei vom MWT bestätigt worden, dass sie hinausgegangen seien. Doch dann habe man erfahren, dass die sowjetischen und tschechischen Kollegen noch keine erhalten hätten. Im MWT nachgefragt hieß es, die Einladungen seien liegengeblieben. So würden nun weniger Teilnehmer zu den Schulungen kommen. Zwei SBG-Stationen aus der Sowjetunion würden nun keine Teilnehmer entsenden können etc. »Derartige Schlappen« gebe es auch in den anderen Ländern.684 Der Gesamtzustand der Akademiereform hatte sich Anfang 1973 keinesfalls verbessert. Weidensporn* berichtete am 21. Februar, dass ihm »unbekannt« sei, »ob für das ZfI ein zentraler Plan« vorliege, »und wenn ja, welche Zielstellungen darin verankert sind«. Alle würden mehr oder weniger nach eigenem »Gutdünken schalten und walten«, ganz »unabhängig« davon, »ob das in den langfristigen Plänen der Volkswirtschaft seinen Niederschlag finde oder nicht«.685 Wenig später berichtete er zur Forschungsplanung bis 1990 und bemängelte vor allem, dass die Institutsleitung »keine Vorgaben im Hinblick auf strategische Zielstellungen« mache.686 683  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 5.12.1973; ebd., Bl. 24. 684  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 5.3.1974; ebd., Bl. 36 f. 685  BV Leipzig vom 25.2.1973: Bericht von »Senftleben« am 21.2.1973; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 271/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 188–194, hier 193. 686  BV Leipzig vom 3.4.1973: Bericht von »Senftleben« am 30.3.1973; ebd., Bl. 230–234, hier 233.

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Die Wissenschaftspolitik erschöpfte sich mehr denn je in einem plakativen und diskursiven Charakter: Die 19. Sitzung der Gruppe 11 (Physik) des Forschungsrates tagte am 12. Oktober 1973 in der Sektion Physik der KMU Leipzig. Der Vorstand hatte in seiner Juli-Sitzung aufgefordert, unter Berücksichtigung »gesellschaftlicher Bedürfniskomplexe die Schwerpunkte der Staatsplanthematik« zu präzisieren. Es war eine zähe Diskussion, in der einige »Unklarheiten« festgestellt worden sind »hinsichtlich der Verzahnung Hauptforschungsrichtungen [HFR]  – gesellschaftliche Bedürfniskomplexe sowie hinsichtlich der Kriterien für solche Staatsplan-Schwerpunkte, die gegenwärtig stärker Grundlagenforschungscharakter« hätten. Das kam deutlich in der Diskussion zum Forschungsprogramm Physik zum Ausdruck. In der Diskussion zur HFR Theoretische Physik löste »die Mitteilung, dass die von der AdW aufgestellte Liste der HFR die Theoretische Physik nicht als selbstständige HFR enthält, allgemeine Verwunderung aus«. Das konnte die Gruppe beim besten Willen nicht akzeptieren, sie plädierte für eine »selbstständige Stellung der HFR mit einer partiellen Bilanzierung«, wofür »angemessene Kapazitäten einzusetzen« seien.687 Die Probleme im Zuge der Strukturreform im ZfI rissen bis 1975/76 nicht ab.688 Wenige Tage zuvor, am 18. Mai, hatte Weidensporn* von »Unzufriedenheit über die erneuten Profilierungsmaßnahmen der Institutsleitung und die dabei geübten Leitungspraktiken und -methoden« berichtet. Dies sei Konsens zwischen ihm und Führungskräften des Hauses. Es herrsche Übereinstimmung darin, »dass seitens der Institutsleitung keine klare Linie mehr gegeben« werde »und dass alles drunter und drüber gehe. Struktur- und Profiländerungen seien an der Tagesordnung, und die betreffenden zuständigen staatlichen Leiter (Bereichsleiter bzw. Abt.-leiter)« würden »von der Institutsleitung […] häufig übergangen, d. h. weder bei der Entscheidungsvorbereitung noch bei der Realisierung verantwortlich einbezogen. Jede Kritik an dieser Arbeitsweise« werde »den betreffenden Leitern bzw. Mitarbeitern als persönliche ›Opposition‹ gegen die Institutsleitung ausgelegt, und man habe mit Repressalien zu rechnen. Das hat inzwischen dazu geführt, dass fast keiner mehr seine Meinung offen« vertrete, »zumal man den Eindruck gewonnen habe, dass die Institutsleitung schalten und walten« könne, »wie es ihr beliebt. Bei den Strukturmaßnahmen ist zu verzeichnen, dass mehr und mehr von Personen und nicht von der Sache ausgegangen« werde, »und das« zeige »sich dann auch an den sich bildenden Gruppierungen. Diese Arbeitsweise der Institutsleitung war über weite Strecken ein Intrigenspiel, »ein Hemmnis bei der Schaffung einer offenen, vertrauensvollen und schöpferischen Atmosphäre«.689 Weidensporn* berichtete ferner, dass die gute Zusammenarbeit mit dem Chemischen Kombinat Bitterfeld (CKB) eingestellt 687  19. Sitzung der Gruppe 11 des FR am 12.10.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 388, S. 1–3. 688 Vgl. BV Leipzig vom 27.6.1975: Bericht von »Senftleben« am 27.6.1975; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 271/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 10 f. 689  BV Leipzig vom 22.5.1976: Bericht von »Senftleben« am 18.5.1976; ebd., Bl. 71.

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werden solle. Inhalt der Vereinbarung waren analytische Messungen mittels vom ZfI entwickelten Messmethoden. Dienstleistungen, die nun diskreditiert würden. Das CKB aber sei für die Weiterführung der massenspektrometrischen Analysen. »Die Unterbindung der Zusammenarbeit« könne »für diesen Betrieb nachteilige Folgen auf das Exportgeschäft haben«. Die Jahresproduktion belief sich auf circa eine Million Mark, davon entfiel die Hälfte auf das Exportgeschäft.690 Am 21. Mai 1976 folgten Beschwerden über Strukturmaßnahmen in der Abteilung 5, Bereich Tracerforschung. Weidensporn* berichtete, dass in der krankenbedingten Abwesenheit eines Abteilungsleiters ein Entschluss in der Institutsleitung gefasst worden war, dessen Abteilung aufzuspalten: »Durch diese Strukturmaßnahmen werde ein eingespieltes Kollektiv, das an wichtigen Staatsplanvorhaben im Rahmen der Hauptforschungsrichtung Biologie […] tätig« sei, »zerschlagen, und die Erfüllung dieser Aufgaben infrage gestellt«. Der übergangene Leiter erwog eine Beschwerde beim Präsidenten der AdW.691 Selbst zehn Jahre später schien alles beim Alten.692 Grundsätzlich war das Problem nicht entschieden, wie die Arbeit im ZfI aktuell zu organisieren sei: entweder über eine methodenorientierte oder über eine problemorientierte Arbeit. Der IM: »›Das letzte Mal haben sie (die Institutsleitung) zehn Jahre gebraucht um festzustellen, dass sie Mist gemacht haben‹.«693 Die Berichte über diese neuerlichen Strukturveränderungen währten das ganze Jahr. Am 22. Oktober 1980 berichtete er vom Unmut, dass die »alte Hasen« unter jungen unerfahrenen Leitern arbeiten müssten.694 Steenbeck mag beizeiten das Scheitern gesehen haben. Er hatte Weiz Ende 1970 von seinem Wunsche unterrichtet, das Amt des Vorsitzenden des Forschungsrates der DDR aus Altersgründen nicht mehr ausüben zu wollen.695 Doch die Prozedur zog sich sehr lange hin. Am 4. Januar 1972 sprach er mit Weiz über die Neubildung des Forschungsrates. Der sei mit momentan 160 Mitgliedern zu groß und träge. Der neue sollte lediglich maximal 25 Personen umfassen. Die dem Forschungsrat angehörenden Arbeitskreise sollten nun dem MWT zugeordnet werden. Mithin mussten auch die zentralen Arbeitskreise (ZAK) des Forschungsrates reformiert werden, 700 Mitglieder seien einfach zu viel. Die Neubildung solle noch im 1. Halbjahr 1972 erfolgen. Steenbeck wolle dies auch mit Hager besprechen, ferner mit Mittag und Grüneberg. Als Personal an der Spitze der Akademie könne er weder Klare noch Hartke als künftige Präsidenten resp. Vizepräsidenten empfehlen, allein Lauter könne als Generalsekretär weiterarbeiten (was hier wie eine belanglose Nachricht daherkommt, erweist sich unten als mutiges Wort, Kap. 4.2). Steenbeck kritisierte ferner, dass die Akademie »vom Apparat«, jedoch »nicht von der Leitung geführt« 690  BV Leipzig vom 19.5.1976: Bericht von »Senftleben« am 18.5.1976; ebd., Bl. 72. 691  BV Leipzig vom 25.5.1976: Bericht von »Senftleben« am 21.5.1976; ebd., Bl. 178. 692  Vgl. BV Leipzig vom 28.7.1980: Bericht von »Senftleben« am 28.7.1980; ebd., Bl. 358 f. 693  Ebd., Bl. 362. 694  BV Leipzig vom 24.10.1980: Bericht von »Senftleben« am 22.10.1980; ebd., Bd. 3, Bl. 9–16, hier 13. 695  Vgl. HA XVIII/5 vom 11.12.1970; BStU, MfS, AP 2866/87, Bl. 161.

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werde. Zwar wisse er, dass Wissenschaftler nicht leiten könnten, doch an der Spitze der Akademie solle ein Wissenschaftler stehen. »Mit Lauter könne man ja noch auskommen, er macht wenigstens etwas, aber es muss einer da sein, der ihn bändigt.« In einem Gespräch mit Hager über die Akademie sei keine Einigkeit erzielt worden. Jedenfalls könne die Akademie laut Hager nicht vom MWT geführt werden. Hager sei dafür, das MWT aufzulösen. Steenbeck sei nicht dieser Auf‌fassung gewesen. Es gebe keine Einigkeit zwischen beiden. Er habe abschließend vorgeschlagen, für die Spitze der Akademie als Präsidenten einen Mann aus der Industrie zu bringen. »Er hält Professor Hartmann von der Molekularelektronik für geeignet, weil er etwas von der Industrie versteht und nicht weltfremd als Präsident sein würde. Hartmann wird jetzt 60 Jahre. Müller von Jena sei auch sehr gut, aber das ginge jetzt nicht. Dr. Weiz hatte diesen Auf‌fassungen nicht widersprochen und sie als diskutabel hingestellt.«696 Die fulminante Tragweite dieses Vorschlages wird erst im Finale des ersten Hauptkapitels deutlich werden. Bemerkenswert ist, dass Steenbeck 1970 der Fürsprecher jener beiden Akteure war, die die SED in Verbindung mit dem MfS bald brutal entmachten wird. Hätte Steenbeck Macht oder Zugriff in der Frage »Hartmann« bekommen, hätte er ihn eventuell retten können. Manchmal fehlt in der Geschichte ein Wimpernschlag für eine völlig andere Situation. Doch Weiz hörte nicht, oder durfte nicht auf Steenbeck hören. Mutmaßlich stammen diese und andere Informationen aus einem Konvolut aus der Gesprächsebene Weiz – Mittig, jedenfalls aus dieser hierarchischen Ebene. Sie besitzen nicht die typischen Kopfangaben des MfS bei Berichten und diversen Aktenvermerken, auch sind sie sprachlich überdurchschnittlich gut verfasst. Hatte Steenbeck etwas geahnt oder gewusst? War er ein Seher? »Weil er etwas von Industrie versteht« – das Argument war Steenbeck wichtig und genau diese Botschaft versuchte er im Sinne Hartmanns auch in die Überlegungen einfließen zu lassen. Es war in der DDR weit verbreitet, den Industriephysiker geringer zu schätzen als jenen, der an der Akademie arbeitete: »Physiker 2. Ranges« nannte man sie.697 Wenn es aber ein Papier aus der Ebene »Weiz – Mittig« war, dann dürfte auch festgestanden haben, dass die Option »Hartmann« einem Nullum glich. Der baldige Stellvertreter Mielkes, Rudi Mittig, war Gesprächspartner von Günter Mittag! Steenbeck, Klare und Frühauf: drei Macher Gespräche auf der Ebene Weiz – Steenbeck waren offensichtlich nicht selten, und nach Aktenlage gingen sie regelmäßig von Steenbeck aus. So trafen sich beide auch am 14. Juni 1974. Es ging an diesem Tag um halbprivate Probleme, Thema war Steenbecks Manuskript für ein Buch, das »eine Mischung von Memoiren und Auto696  Information über ein Gespräch zwischen Weiz und Steenbeck am 4.1.1972; ebd., Bl. 169 f. 697  MfS vom 5.6.1959: Bericht u. a. über die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Industrie; BStU, MfS, HA XVIII, Bdl. 428, Bl. 1–4.

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biografie werden« sollte. Er könne sich vorstellen, dass das Buch (wenn überhaupt) nur in der DDR Interesse finden werde. Ihm gehe es um ein ehrliches Buch, ihm sei klar geworden, »dass er in seinem Leben persönlich viel zu wenig getan habe, Menschen in Not zu helfen, obwohl er auf einige Fälle hinweisen könnte. So hatte er sich zum Beispiel für zwei Inhaftierte verwendet, deren vorzeitige Entlassung erwirkt und einen so gefördert, dass er heute ein ausgezeichneter theoretischer Physiker ist (Dabei handelt es sich um Begebenheiten aus der Geschichte der DDR.)«698 Aktuell brachte Steenbeck den Fall eines tschechischen Freundes (Ždenék Málek) vor Weiz, der in der Folge der 1968er-Ereignisse in seiner Heimat in Schwierigkeiten gekommen war und dem er finanziell helfen wolle. Konkret ging es um Hilfe bei der Beschaffung von CS-Kronen. Weiz lehnte dieses Ansinnen ab, worauf es zu einer Auseinandersetzung zwischen beiden kam. Steenbeck lehnte eine politische Implikation ab, es sei sein Freund, er wolle ihm helfen. Weiz aber blieb hart. Steenbeck soll sich, so insistiert es der Berichtsempfänger, positiv von Weiz »beeindruckt« gezeigt haben. Dies kann im Hinblick auf den Charakter Steenbecks so nicht gesehen werden. Er mag zwar »beeindruckt« gewesen sein, jedoch versuchte er ob seiner Erfolglosigkeit sofort zu retten was zu retten war, nämlich das »ehrliche« Buch, und anderes, an dieser Stelle (noch) nicht Vorgebrachtes. Er hatte Erfolge eben auch deshalb immer wieder verbuchen können, weil er den Kniefall beherrschte. Er war zu klug, es sich auch fürderhin bei Gesuchen zu verderben. Er wusste, dass Bittgesuche die einzige Hoffnung waren. Und wer außer ihm hatte überhaupt auf dieser Ebene Zugriff? Ja, er werde Weiz das Buch vor dem Druck vorlegen, ja er unternehme nichts mehr in der Sache des Forschungsrates (Weiz solle befehlen, er widerspreche nicht) etc.699 Gewiss, diese scheinbare Unterwürfigkeit mag auch einen aktuellen Grund besessen haben. Er wollte einer Einladung der Philipps-Universität Marburg, Fachbereich der Physikalischen Chemie, folgen. Doch Weiz war an diesem Tag die Härte in Person; der unbekannte Berichterstatter notierte, dass Weiz »diese Einladung zur Kenntnis genommen und mir mitgeteilt« habe, »dass er die Teilnahme ablehnen« werde. Es ist anzunehmen, dass er dies zu dem Offizier im besonderen Einsatz Horst Fischer sagte (Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 10). Steenbeck war nach Marburg eingeladen worden, um über Voraussetzungen der kreativen wissenschaftlichen Arbeit einen Vortrag zu halten.700 Weiz setzte nach dem Gespräch mit ihm Schritte in Gang, das beabsichtigte Treffen Steenbecks mit dessen tschechischem Freund zu unterbinden.701 Eine regelrechte Farce entwickelte sich 1977, als Steenbeck den Krupp-Energie-Forschungspreis über seine in der Sowjetunion erarbeitete Grundlagenarbeit für die Ultrazentrifuge (quasi seine Entwicklung) verliehen bekam, das MfS einen Brief verschwinden ließ und einen 698  Gespräch zwischen Weiz und Steenbeck am 14.6.1974; BStU, MfS, AP 2866/87, Bl. ­171–174, hier 171. 699  Ebd., Bl. 173. 700  Vgl. Schreiben der Universität Marburg an Steenbeck vom 4.6.1974; ebd., Bl. 175. 701  Vgl. Gespräch zwischen Weiz und Steenbeck; ebd., Bl. 171–174, hier 174.

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anderen auf täppische Weise öffnete, sodass sich Steenbeck gezwungen sah, beim MfS zu protestieren. Das MfS schob wie üblich die gegnerische Seite vor. Steenbeck soll sich mit den Erläuterungen des MfS zufrieden gezeigt haben.702 Offenbar hatte das MfS kein Gespür für die geistige Überlegenheit Steenbecks, die von der Zwecklosigkeit seines Aufbegehrens gegen solche Lügen getragen gewesen sein mochte. Die Produktivkraft von Wissenschaft und Technik, ihre einstige Utopieträchtigkeit und für Ideologen hochwillkommene propagandistische Nützlichkeit geriet in den 1960er-Jahren in eine zwei Jahrzehnte lange Hochkonjunktur, die erst in den 1980er-Jahren, was die DDR anlangte, in eine Ermüdungsphase eintrat  – trotz oder gerade wegen der neuen Hochtechnologieprogramme. Am 2. November 1966 hielt Steenbeck zu den großen Fragen dieses Epochenverständnisses einen Festvortrag. Er verwies auf den rasanten Anstieg des Wissens, der explosionsartig verlaufe, sprach von der raschen Veraltung des Wissens nach gegenwärtig immer circa zehn Jahren, die dazu zwinge, ständig zu lernen, ständig das Wissen zu erneuern. Eine Folge davon sei eine starke Spezialisierung. Für die arme DDR war besonders sein Hinweis problematisch, dass die »in der Forschung und der Technik benutzten Verfahren« immer »aufwendiger« würden. In kurzer Zeit würden auch die modernsten Produktionsanlagen wieder veralten. Und nochmals als Mahner: »Ist eine solche Entwicklung notwendig – ist sie überhaupt vernünftig. Sind nicht die Naturwissenschaften, die ja die Grundlage dieser ganzen Entwicklung bilden – sind nicht sie letzten Endes schuld an der Zerrissenheit, Unausgeglichenheit, Nervosität und auch Zukunftsangst unseres heutigen Lebens«? Also »wohin führt das Ganze, wohin kann es führen?« Die Naturwissenschaften seien eine »harte Denkschule, die in jahrhundertelanger Entwicklung entstanden ist und sich dabei immer wieder im Vergleichen ihrer Ergebnisse mit der objektiven Wirklichkeit kontrolliert hat; eben das ist die tiefste Quelle ihrer Autorität«. Und: »Denn unsere Art zu begründen, vertrauen die Menschen.«703 Aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte vertraue die Jugend nicht mehr blindlings, man müsse ihr genau vorrechnen was ist. »Sie sind nicht mehr [er setzte hier handschriftlich ein »wie« ein] die Schüler von Plato, Kant oder Hegel, und sie sind auch nicht mehr [er setzte auch hier ein »wie« ein] die Schüler von Marx. Sie misstrauen allgemeinen Prinzipien, großen Worten und großen Männern. Sie verlangen Kontrolle und Bewährung in den realen Details, und genau das entspricht dem nüchternen Arbeitsstil der Naturwissenschaften.« Und weiter: »Aber nur die Erfolgskontrolle durch die Erfahrung entscheidet, ob es dann wirklich so ist.«704 Seine Vorstellung: »Alle Einzelwissenschaften zusammen können den richtungslos gewordenen Menschen den Weg in die Zukunft sicher überzeugender und vollständiger zeigen als jede für sich.« Und: »Die technisch-wissenschaftliche Revolution, 702  Vgl. HA XVIII/5 vom 9.11.1977; ebd., Bl. 182 f. 703  Steenbeck: Festvortrag. Rede vor der größten wissenschaftlichen Gesellschaft der DDR; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 141, S. 2–25, hier 3–8. 704  Ebd., S. 9 f.

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die nicht zuletzt gerade die Möglichkeiten einer allgemeinen Zerstörung rasant vergrößert, rollt sonst über uns hinweg – die gleiche Revolution, die rational angewandt, vor allem auch den heute benachteiligten Völkern eine lebenswerte Existenz erst ermöglichen kann.«705 Steenbeck war in einer Frage stets berechenbar, wenngleich er im Laufe der Zeit hierin müder wurde, auch, weil er nur beschränkt erfolgreich war: in der Sache, von der SED Angegriffenen zu helfen, ob es ein Student und Widerständler war wie Heinz Steudel oder ein gestandener Wissenschaftler wie Werner Hartmann. Weniger aber half er dem Kommunisten Robert Havemann. Das wird deutlich in einem Schreiben an den Präsidenten der DAW, Hartke, vom 6. Januar 1966, worin er zum Fall Havemann Stellung bezog. Darin teilte er mit, dass er »mit der Reaktion unserer Akademie auf den neuen Fall Havemann keineswegs einverstanden« sei. »Erforderlich« sei vielmehr »eine klare, eindeutig und unmissverständlich begründete Distanzierung«. Administrativ eingeleitete Maßnahmen könnten den angerichteten Schaden gar noch vergrößern. Er fordere eine Erklärung, die das Verhalten Havemanns in die Schranken verweise, eine Erklärung, die »eine wahrhaft akademiewürdige und notwendige Reaktion« darstelle. Der Ausschluss aus der Forschungsgemeinschaft sei geboten, andererseits sei es aber nicht korrekt von Hartke, Havemann generell Hausverbot zu erteilen, da der auf diese Weise seinen Rechten als korrespondierendes Mitglied der Akademie verlustig gehe. Schließlich erhebe die Akademie »aus – auch politisch – guten Gründen den Anspruch, eine gesamtdeutsche Akademie zu sein, und es gibt hierfür die Berufung und auch für das Ausscheiden der Mitglieder einen klar festgelegten Modus.« Streng genommen könne ihm somit nicht das Recht genommen werden, an Veranstaltungen seiner Klasse teilzunehmen.706 Oder war auch diese Wortmeldung eher ein Rettungsakt, zu retten, was rettbar schien? Das Verfahren gegen Havemann hatte Tradition. Ein Bericht vom GI »Irene« betraf den Ausschluss des Philosophen Ernst Bloch auf der Plenarsitzung der DAW am 26. Oktober 1961. 49 Akademiemitglieder waren anwesend, von denen sich fünf der Stimme enthielten oder dagegen stimmten wie Mothes. Andere wie Steenbeck und Thilo verließen kurz vor der Abstimmung den Saal. Der GI »Irene« aber hatte ein Gespräch mit Thilo, der ihm begründete, dass er eine solche Verfahrensweise, wie von der Akademie ausgeführt, »niemals mitmachen würde«. Thilo in der Wiedergabe des GI »Irene«: »Es wäre unmöglich, dass das Plenum einer Akademie über den Ausschluss eines Mitgliedes befindet ohne Diskussion und ohne Debatte.« Worauf »Irene« ihm sagte, dass die Begründungen von den Klassen kämen. »Irene« will ihm auch gesagt haben, »dass er angesichts eines solchen tragschweren Beschlusses vorher mit dem Präsidenten oder einem anderen führenden Akademiemitglied hätte sprechen können«. Das, so Thilo, habe er getan, und zwar nach dem Rat Rompes. 705  Ebd., S. 23 f. 706  Schreiben von Steenbeck an Hartke vom 6.1.1966; BStU, MfS, AP 2866/87, Bl. 148–150, hier 148 f.

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Der habe ihm geraten, wenn er »innerlich mit dem Fall Bloch nicht« klarkomme, möge er »vor der Abstimmung« den Plenarsaal verlassen. »Sehen sie«, sagte er zum GI »Irene«, »das genau tat ich: hier bin ich und jetzt gehe ich […] Eine Vielzahl von Leuten, die mit mir einer Meinung« seien, hätten dies ebenso getan. Thilo nannte zum Beispiel Gustav Hertz und Johann G. Kienle aus Heidelberg. Nach der Plenarsitzung seien Thiessen, Thilo und Eberhard Leibnitz im Arbeitszimmer von GI »Irene« zusammengekommen. Alle drei sollen einen deprimierenden Eindruck gemacht haben: »Sie waren nicht nur deprimiert, sondern sie fingen an fürchterlich über bestimmte Dinge, die sie erleben, zu schimpfen, und keiner von ihnen geizte mit Beispielen.« Thiessen soll gesagt haben, dass die Arbeiter »alle Lust verloren« hätten, »vernünftig zu arbeiten, weil die Nichtskönner, von denen jeder angenommen hat noch im Sommer, dass sie auf Eis gelegt werden würden, weiter ideologische Schulung veranstalten während der Arbeitszeit und die Leute nur von der Arbeit abhalten«.707 In den Instituten werde nicht mehr diskutiert, »sondern die Institutsdirektoren hätten nur noch damit zu tun, die Depressionen ihrer Mitarbeiter zu mildern. Außerdem würde eine Reihe von Schnüfflern vonseiten der Partei durch die Labors gehen und Bemerkungen aufschnappen, die dann schnell aufgeschrieben werden und irgendwohin gemeldet werden.« Thiessen hat gesagt, dass man manchen Schnüffler erkannt habe und auf den Arm nehme, doch die »wären so dumm, dass sie nicht einmal dieses bemerken«. Thilo soll »in dasselbe Horn« geblasen haben und die Zustände in den Instituten als »unglaublich und unhaltbar« erklärt haben. Ähnlich auch Leibnitz, der die Situation an den Universitäten beleuchtete. Ferner würden die drei Professoren anhand ihrer Kinder und Enkelkinder erzählt haben, »die das 1., 2. oder 3. Jahr zur Schule gingen, wo in unglaublicher Art und Weise die Kinder mit Fragebögen bombardiert würden, in denen u. a. auch steht, welches Fernsehen im Elternhaus gesehen und welcher Rundfunk gehört« werde. »Alle drei Herren« sollen sich »entsetzlich empört« haben »über solche Verfahrensweisen«. »Besonders« Thilo lehne »jede Aussage« hierüber ab. Auch wolle er seinen Kindern nicht zumuten »dieses unendlich blöde Getue vom Sandmännchen sich anzuschauen«. Auf die provokatorische Frage des GI »Irene«, doch einmal als Hochschullehrer mit Staatssekretär Girnus über die Situation an den Universitäten zu reden, sollen alle drei laut gelacht haben: »Das lohne nicht und mit dem ganzen Staatssekretariat wäre überhaupt nichts anzufangen.« Sie »dächten nicht daran, irgendetwas zur Änderung herbeizuführen«.708 Ein Bericht des Kaderleiters Max Becker vom 15. Oktober 1971 zeigt den Charakter Steenbecks. Anlässlich des Republikgeburtstages waren drei Personen mit dem Nationalpreis I. Klasse ausgezeichnet worden, die diese hohe Auszeichnung aus politischen Gründen wegen negativen politischen Auftretens und der »Eintrittsverweigerung« in die DSF nicht bekommen sollten. Die Kaderabteilung des ZIAP hatte gegen die Auszeichnung zweier ihrer Mitarbeiter votiert. Auch die Parteileitung habe 707  Abt. VI / E vom 30.10.1961: Bericht; BStU, MfS, AOP 771/63, 1 Bd., Bl. 52–57, hier 52 f. 708  Ebd., Bl. 55 f.

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sich dem Negativurteil angeschlossen. Becker hatte den Auftrag erhalten, für den dritten Auszuzeichnenden, einen Wissenschaftler aus dem VEB Chemieanlagen­bau Dresden, eine Einschätzung von der dortigen Kaderleitung einzuholen. Auch diese fiel politisch negativ aus. Das Thema, für das die drei Wissenschaftler die Auszeichnung erhielten, beinhaltete die Entwicklung der Dynamotheorie des Magnet­ feldes. Der »Initiator dieser Auszeichnung« war Steenbeck.709 Heinz Stiller und Heinz Kautzleben stimmten der Auszeichnung nicht zu. »Der GMS vertrat den Standpunkt, dass man sich vonseiten der Akademie nicht gegenüber Steenbeck durchsetzen« könne. »Bei der Parteileitung und Kaderabteilung herrscht Missstimmung. Man sei der Meinung, dass man bei solchen Auszeichnungen die fachlichen Leistungen überbetont und das politische Verhalten dieser Personen völlig außer Acht lässt.« Auf Beckers Ersuchen, ihm ein Exemplar der Arbeit zu geben, habe ihm einer der Ausgezeichneten eines in englischer Sprache übergeben und bemerkt, dass sie den Abdruck im Westen als »2. Nationalpreis« ansähen.710 Im Nachlass Kuczynskis existiert ein wunderbarer, humanistischer Brief an ihn vom 16. Mai 1979, in dem Steenbeck die Frage aufwarf, warum es den Menschen trotz fortschreitender Technikentwicklung nicht gelinge, ruhiger, sondern paradoxerweise immer hektischer, das Leben isolierter, egoistischer und eben nicht genussvoller zu leben! Und: »Das ist doch keine bejahenswerte Entwicklung zu wahrer Lebensfreude. Muss es so sein? Woran liegt das? Kann man es ändern?« Er schreibt, dass Kuczynski ja nicht als wichtigste Ursache die ökonomische Natur nennen solle. Indirekt spiele vielleicht die ökonomische Natur »eine wichtige Rolle als Mitursache für ein persönliches Gefühl von Unsicherheit, das sich dann als Stress äußert«. In Bezug auf das Tempo der wirtschaftlichen, technischen, sozialen, politischen Entwicklung als ein Ganzes bemerkte er: »Denn diese Zusammenhänge sind fast jedem so wenig durchschaubar, dass er nicht mehr festen Grund für sein Leben finden kann. Er resigniert, wenn er es versucht hat, und kommt so schließlich in ein Schwimmen ohne Wurzeln und Ziel.«711 Auf Steenbecks Memoiren Schritte auf meinem Lebensweg. Impulse und Wir­ kungen 712 kann hier nicht eingegangen werden. Es soll lediglich an eine Kritik Klares erinnert werden, die unbeantwortet blieb. Er schrieb an ihn am 26. März 1978 und bewertete sein Buch als »eine packende und lohnenswerte Lektüre, auch wenn sie streckenweise meinen Widerspruch hervorgerufen hat (Ärger wäre zu viel gesagt)«. Das Kapitel »Weg und Ziel« habe ihm »am besten gefallen«. Er störe sich aber an der Überbetonung der Physik und wies darauf hin, dass viele andere Forschungen, allererst die Chemie, mit oft deutlich geringeren Mitteln sehr bedeutende Ergebnisse erzielt hätten. Dann aber folgte die Frage: »Ich hätte erwartet, dass Sie 709  BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 21.10.1971: Bericht von Becker am 15.10.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AGMS 2106/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 151 f. 710  Ebd., Bl. 152. 711 Schreiben von Steenbeck an Kuczynski vom 16.5.1979: Erziehung und Manipulation; ArchBBAW, Nachlass Kuczynski, Nr. 171, S. 1–5, hier 1–3. 712  Steenbeck, Max: Schritte auf meinem Lebensweg. Impulse und Wirkungen. Berlin 1977.

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etwas mehr über Gemeinsames (in der Arbeit) und Probleme (im Zusammenleben im fremden Land) mit den anderen deutschen Kollegen (Ardenne, Hertz, Volmer, Thiessen u. v. a.) sagen würden, oder waren Sie völlig unabhängig voneinander tätig?« Man urteile – ja, »seien Sie mir bitte nicht böse, aber dieser Brief sollte schon aufrichtig sein –, Sie neigen (auch in Ihrem Buch) dazu, hier und da Zensuren zu verteilen. (Vielleicht ist das ein Erbe bei Lehrer-Söhnen)«.713 Klare, dem Unterschätzten, ging es um das Authentische. Er kam noch einmal auf die DDR-Zeit zurück und erinnerte an Steenbecks Anweisung, »uns die ›Produktions-Unterstützung‹ beschert« zu haben. Steenbeck habe damals darauf gedrängt, dass »diese von allen Akademie-Instituten ad hoc und sofort als ›besonders auszuweisender Teil ihrer Arbeitskraft bei der Lösung konkreter Schwierigkeiten in Betrieben‹ gemacht werden sollte«. Einige Institute machten das längst auf ihre Art, nun aber, wie angeordnet »konnte das in der Art, wie es der Forschungsrat verlangte, nicht funktionieren – und das tat es auch nicht, sodass die diesbezügliche ›Produktionsunterstützungs-Verordnung‹ nach wenigen Jahren aufgehoben wurde. Ich habe mir die Mühe gemacht und mir die Akten aus jener Zeit noch einmal an­gesehen. Nach erheblichem Druck durch MWT und Forschungsrat blieb uns (d. h. der Forschungsgemeinschaft) nichts anderes übrig, als (gegen besseres Wissen) die Institute mit einer solchen Aufgabe zu beauflagen, wobei wir – um ein Ausweichen zu verhindern – dafür Prozentsätze von der Gesamtkapazität festlegten. Die Reaktion war äußerst interessant. […] Gerade die Institute, deren Direktoren die Produktionsunterstützung so eifrig im Forschungsrat propagierten, schrieben uns mit bewegten Worten, dass das für sie natürlich nicht infrage käme, da sie Grundlagenforschung betrieben und deshalb eine Ausnahme bildeten. Ich habe Herrn Hartke damals diese Briefe gegeben und gebeten, das im Präsidium insbesondere in Ihrer Gegenwart zu behandeln, um Klarheit zu schaffen; aber er wollte nicht. So blieb alles nur halber Kram; die Institute, die bereits gute Verbindungen zur Industrie hatten, mussten nun eine Menge Papier vollschreiben und Verträge mit der Industrie aushandeln, andere konnten in der Tat fast nichts tun (z. B. die Astronomie, Astrophysik, Mathematik etc.), und die übrigen lavierten so herum.« Ergo, alles ärgerlich und eine unproduktive Periode, »die sich dann auch noch zuspitzte, als die unsachliche Auseinandersetzung zwischen Herrn Rapoport und den Bucher Instituten (auch dem ZIMET) über diese Problematik begann«. Weiter: »Ich weiß nicht, ob Ihnen das, wie Sie schreiben, Feindschaft im wörtlichen Sinne einbrachte; diejenigen, die wie Correns, Rompe, Leibnitz, andere und ich aus der Industrieforschung kamen, waren eher überrascht, dass Sie sich als Industrie-Physiker offensichtlich nicht davon überzeugen ließen, dass viele Institute der AdW gar nicht ›an für sie geeignete Betriebe herantreten‹ konnten, weil diese sie laufend ›abblitzen‹ ließen.«714

713  Schreiben von Klare an Steenbeck vom 26.3.1978; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 51, S. 1–9, hier 1–4. 714  Ebd., S. 5 f.

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Klare gab ein Beispiel: »Wir (d. h. [Erich] Correns und ich) offerierten Buna (Herrn [Johannes] Nelles, Werkdirektor des VEB Chemische Werke Buna]) damals einen neuen Initiator für Akrylnitrilpolymerisation, der ein wesentlich besseres Endprodukt lieferte; Antwort von Nelles: ›Wie polymerisiert wird, bestimme ich, das mache ich nun schon 20 Jahre und da können nicht Leute aus einem AdW-Institut angelaufen kommen und glauben, mir etwas vormachen zu können.‹ De mortuis nil nisi bene, aber das war in gewisser Weise typisch.« Klare habe versucht, das dem Forschungsrat verständlich zu machen, habe »aber wenig Verständnis« gefunden. Bis zur Akademiereform habe das nun so weitergehen müssen und habe ihm und Leibnitz dann auch noch »den Beinamen ›Produktionsheinis‹« eingetragen. Ein Problem sei seit 1959 immer noch nicht gelöst: »die Schwierigkeiten und die Langwierigkeit bei der Überführung von Forschungsergebnissen in die Praxis«. Im sozialistischen Lager heiße dieses Problem die »Überführungsproblematik«. Sie probierten heute immer noch, schrieb Klare. Was er, Steenbeck, in seinem Buche schreibe, sei gut und schön, löse aber das Problem der Überführung nicht. »Ich habe mich gewundert, dass Sie auf diese Problematik fast gar nicht eingehen.« Besonders, schrieb Klare, »kratzt« mich folgende Ausführung von ihnen: »›Sicher aber lag die Notwendigkeit unübersehbar vor uns, unsere Industrie durch Einbeziehung neuen Wissens zu modernisieren. Es galt dafür die Voraussetzungen zu schaffen […] Diese gesellschaftspolitische Aufgabe übernahm [Klare ließ hier aus: »auf Vorschlag von Fritz Selbmann« – d. Verf.] der Forschungsrat; erst als nach längerer Zeit die Struktur der Akademie entsprechend neu gebildet wurde – sie heißt jetzt Akademie der Wissenschaften der DDR –, stieg auch sie verstärkt in diese Aufgabe ein.‹« Klare dazu: »Ich meine, dass nicht die neu gebildete Struktur der Akademie diese befähigte, in die besagte Aufgabe ›einzusteigen‹, das wäre ja relativ einfach gewesen; ich möchte doch betonen, dass sich inhaltlich Wesentliches änderte und dass sich die Akademie eben zum wissenschaftlichen Zentrum der Grundlagenforschung in der DDR entwickelte.« Und weiter: »1963 bei der Abfassung des neuen Statutes wurde m. E. die durchaus vorhandene Chance vergeben, die Akademie schon früher, als es geschehen ist, in diese Richtung zu entwickeln; im Vorstand der Forschungsgemeinschaft haben wir diese Möglichkeiten ernsthaft diskutiert; aber im Präsidium der AdW fanden wir dagegen wenig Begeisterung.« Klare, als Vizepräsident, war damals selbst nicht entschieden genug dafür eingetreten: »Erinnern Sie sich eigentlich noch daran, dass Sie mein (mir gar nicht erwünschtes) neues Amt als Präsident 1968/69 nicht eben erleichtert haben, als Sie mir bedeuteten, dass die Akademie ihre entscheidenden Impulse vom Forschungsrat empfangen würde und ihre wissenschaftlichen Programme vor seinen Gremien zu verteidigen habe. Ich habe damals versucht, Ihnen deutlich zu machen, dass ich diese ziemlich unverblümte ›Unterstellungsforderung‹ auf die Dauer nicht mitmachen würde, da Stellung und Verantwortung der AdW sich letztlich doch wohl ihrem Vorbild, der AdW der UdSSR, angleichen müssten, sodass wir zu einem anderen Kooperationsverhältnis kommen müssten.« Klare schrieb abschließend, dass der Ärger greifbar bleibe. Er steuere nun auf die 70 zu, führe den Nachfolger ein und werde nicht wie Steenbeck Memoiren schreiben,

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es stünde eh wenig anderes drin »und was Sie nicht sagten, – ja das kann ich ebenso wenig aufschreiben«.715 Es wäre nicht gedruckt worden. Klare schrieb Jürgen Kuczynski am 12. Juni 1972, dass ihm »entgegengehalten« worden sei, dass man »sich dem Weltstand« anzupassen habe, »sonst könnten wir nicht exportieren«. Und: »Ich habe dagegengehalten, dass es doch möglich sein müsse, eine eigene Mode zu entwickeln, die überzeuge und nicht abschrecke. Aber davon sind wir leider noch weit entfernt.«716 Eine gewiss nicht zu unterschätzende Bedeutung im Sinne der Wissenschaftspolitik der DDR hatte Hans Frühauf 717, der in der neueren Historiografie eher vergessen ist. Das vielzitierte Werk »Naturwissenschaft und Technik in der DDR« nennt ihn nur einmal in einer Schautafel.718 Ein Mann der exakten Wissenschaften par excellence, ein genauer Beobachter von Personen, eine Persönlichkeit, die immer irgendwie in Wissenschaftsfragen präsent war, niemand aber so recht wusste, warum. Frühauf war nicht Mitglied der SED. Er steht jedoch für jene, die oft redeten, als wären sie es gewesen. Er kam in der zweiten Reihe der Wissenschaftsfunktionäre just zu der Zeit zum Zuge, als Selbmann in Ungnade geriet. Frühauf war inoffizieller Mitarbeiter des MfS. Der Vorschlag zur Registrierung als GI erfolgte am 15. März 1956. Er sollte »in erster Linie an seinem Westkontakt arbeiten. Ferner erfolgt sein Einsatz in Richtung Ardenne«.719 Tatsächlich ist diese Beschränkung nahezu strikt eingehalten worden. Am 6. Oktober 1955 vermittelte er dem MfS ein genaues Bild von Ardenne, das in der DDR später Allgemeingut war. Der sei zwar ein ausgezeichneter Organisator, habe aber deutliche wissenschaftliche Grenzen und trotzdem »eine beachtliche Reihe neue Momente auf dem Gebiet der Elektronen entwickelt«. Offizier Jahn, Führungsoffizier von Frühauf, notierte: »Frühauf schätzt Ardenne mit seinen wissenschaftlichen Grenzen, seinem Propaganda- und Geschäftstrieb sehr real ein. Er sieht aber, dass es Ardenne gelingt, ein gutes Kollektiv um sich zu schaffen, mit dessen Hilfe gute wissenschaftliche Leistungen möglich sind. Ohne seine Mitarbeiter ist Ardenne nichts.« Wie Rompe und Hertz warne auch Frühauf, Ardenne zu überschätzen. Den Vorschlag des Zentralamtes für Forschung und Technik (ZAFT), Ardenne einen Dr. hc. zu verleihen, habe er abgelehnt.720 715  Ebd., S. 6–9. 716 Schreiben von Klare an Kuczynski vom 12.6.1972; ArchBBAW, Nachlass Kuczynski, Nr. 66, 1 S. 717  (1904–1991). Physiker. 1911–1915 Volks- u. Oberschule. Nach dem Abitur (1923) in einer Esslinger Maschinenfabrik. 1924–1928 Studium an der TH Stuttgart. 1928 Diplom, 1931 Promotion zum Dr. Ing. Tätigkeiten als Chefingenieur, Chefkonstrukteur und Betriebsleiter. Ab 1951 an der TH resp. TU Dresden, Lehrstuhl für Hochfrequenztechnik. 1957 Direktor des Instituts für Hochfrequenztechnik und Elektronenröhren. 1957 Vizepräsident der DAW. Ab Nov. 1958 1. Stellv. des Vorsitzenden des Forschungsrates der DDR. 718  Hoffmann, Dieter / Macrakis, Kristie (Hrsg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 353. 719  Abt. VI/2 vom 15.3.1956: Vorschlag zur Registrierung zum GI; BStU, MfS, AIM 1107/59, Teil I, 1 Bd., Bl. 9–13, hier 13. 720  Abt. VI/2 vom 14.10.1955: Kontaktaufnahme; ebd., Bl. 19 f.

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Am 1. Februar 1956 sprach Offizier Jahn mit Frühauf u. a. über die Situation an der TH Dresden zu Fragen der Rektoren-Neuwahl. Es ging vor allem um die Auseinandersetzungen zwischen der SED und den Hochschullehrern. Frühauf zitierte aus einem Brief eines Ingenieurs, der im Zusammenhang mit einer Flucht geschrieben worden und in seine Hände gekommen war, darin hieß es: »Es wurde deutlich, dass uns jede geistige Freiheit fehlt und unser Schicksal von dem Anonym-Mann der Kaderabteilung abhängt, der im Verborgenen den Lebensfaden spinnt.«721 In einem zweiten Gespräch mit Jahn am selben Tag informierte er über Reaktionen in Bezug auf »den Stand und das Verhalten der Wissenschaftler der TH zur Berufung Ardennes«. Der bemühe sich seit 1955 um eine Berufung. Es sei deutlich, dass Ardenne sich im Gegensatz zur üblichen Weise selbst ins Gespräch zu bringen verstehe. Er soll »diese Bestrebungen« Ardennes »scharf« zurückgewiesen haben. Wilhelm Macke soll sogar mit seinem Weggang gedroht haben: »Macke oder Ardenne«. Eine Berufung Ardennes an die Fakultät für Kerntechnik sei deshalb unmöglich geworden. Nun versuche man, Ardenne durch das Physikalische Institut der TH berufen zu lassen. Alfred Recknagel, Direktor des Instituts für Experimental- und Elektronenphysik der TH Dresden, billige den Vorschlag, sei aber nicht bereit, den Vorschlag dazu einzubringen. Der Rektor werde sich gerade bemühen, ein Mitglied des Fakultätsrates hierfür zu finden. Jahn übersetzte diese Informationen in üblicher MfS-Manier, wonach die Dresdener Wissenschaftler mit ihrer Blockadehaltung versuchten, quasi das SfH zu zwingen, diese Berufung vorzunehmen. »Damit soll vor Westdeutschland und dem kapitalistischen Ausland der Beweis erbracht werden, dass die Wissenschaftler Ardenne ablehnen, der Staat ihn aber braucht und fördert, obwohl seine Qualifikation angezweifelt« werde. In Dresden wisse man, dass Ardenne mit den Leistungen seiner heutigen und früheren Mitarbeiter »hausieren« gehe. Er soll in seinem Schreibtisch ein Aufzeichnungsgerät für die Gespräche gebaut und installiert haben.722 Gerhard Barkleit schenkt Ardenne Glauben, wenn er ihm in seinen Selbstzeugnissen folgt und behauptet, dass der nach seiner »Rückkehr aus der Sowjetunion […] jedenfalls keine allzu große Neigung« verspürt habe, »sich in Dresden dauerhaft in der Lehre zu engagieren«.723 Jahn interpretierte das Gesprächs-Verhältnis zu Frühauf wie folgt: »Der Kontakt wurde in ein konspiratives Agenturverhältnis überführt. Der GI erfüllte seine Aufträge immer korrekt und mit eigener Initiative.«724 Was das genau hieß, wird erst mit dem Abschluss des GI-Vorgangs klar: »Der GI ist führender Wissenschaftler der DDR und wurde im März 1956 ohne sein Wissen zum GI registriert.« Jahn war zwischenzeitlich zum Oberleutnant befördert worden. Der Bericht ist von Switala bestätigt worden. Die Treffs fanden ausschließlich im Dienstzimmer Frühaufs statt, 721  Abt. VI/2 vom 6.2.1956: Feindliche Strömungen an der TH Dresden; ebd., Bl. 26–28. 722  Abt. VI/2 vom 6.2.1956: Reaktionen zum Berufungsvorhaben für Ardenne; ebd., Bl. 29 f. 723  Barkleit: Manfred von Ardenne, S. 352. 724  Abt. VI/2 vom 11.4.1956: Perspektivplan für »Rembrandt«; BStU, MfS, AIM  1107/59, Teil I, 1 Bd., Bl. 38.

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Frühauf wollte keinen anderen Gesprächsort. 1957 sei der Kontakt infolge einer Veränderung in der Dienstfunktion Frühaufs eingestellt worden. Frühauf »klammert sich an bürgerliche Ehrbegriffe und erwartet, dass seine Informationen als intern behandelt werden«.725 Was man eben unter dem Aspekt offiziell oder halboffiziell geführter Gespräche auch so handhaben konnte. Der Vorgang wurde am 14. Februar 1959 archiviert.726 Laut einer Mitteilung Frühaufs am 18. Juli 1956 war Ardenne die Professur Anfang Juli ehrenhalber verliehen worden, Grundlage dafür bildeten seine Veröffentlichungen und sein Tabellenbuch.727 Ein Bericht der Abteilung VI/2 des MfS, der in der Akte zu Frühauf eingeheftet ist, ihm aber nicht zwingend zugesprochen werden kann, betrifft auch ihn selbst (Der Bericht ist gegengezeichnet von Major Kairies, also nicht von Jahn.). In dem Bericht heißt es, dass weiland »die Aufdeckung von Petöfikreisen728 in der DDR leichter« gewesen sei als die Macht bürgerlicher Wissenschaftler zu begrenzen.729 Um diese Macht brechen zu können, plante die SED bereits in diesem Jahr, also 1957, eine massive Besetzung der Entscheidungsgremien der Forschungsgemeinschaft mit SED-Funktionären.730 3.3.3  Wissenschaftsplanung und -organisation Robert Havemann hatte  – anders als der auch eingeladene Werner Hartmann (Kap.  4.1)  – am VI. Parteitag als Gast teilgenommen. Aus einem Bericht der HA  III/6/S vom 6. Februar 1963 geht hervor, dass er die Beschlüsse zu Fragen der Wissenschaft und Technik vollständig geteilt haben soll, allerdings meinte, dass sie im Widerspruch zu den noch vorherrschenden praktischen Möglichkeiten stünden. Er schätzte ein, »dass die gegenwärtigen Organisationsformen und die damit verbundenen Erlasse und Verordnungen nicht mit den Vorstellungen« an der Basis übereinstimmten »und als Ausdruck des Administrierens gewertet« würden. »Ausgangspunkt für diese Haltung« sei die von Max Steenbeck »angeregte und vom Staatsapparat beschlossene Produktionsunterstützung. Namentlich« Erich Thilo soll »der Auffassung« gewesen sein, »dass diese Produktionsunterstützung formal« sei »und verbunden mit der sogenannten Vertragsforschung von den einzelnen Institu­ ten nur erfüllt« werde, »um der staatlichen Seite gegenüber ein Alibi« zu besitzen. Er »äußerte sich in der Form, dass er sich passiv verhalten werde, da sich die Produktionsunterstützung in einem halben Jahr sowieso totläuft«. Anders Havemann, 725  Abt. VI/2 vom 14.2.1959: Bemerkungen zu »Rembrandt«; ebd., Bl. 43. 726  Vgl. HA  XVIII/5 vom 14.2.1959: Beschluss über das Abbrechen der Verbindung; ebd., Bl. 44. 727  Abt. VI/2 vom 20.7.1956: Bericht; ebd., Bl. 22–24, hier 22. 728  Sándor Petőfi (1823–1849). Dichter. Nach ihm benannt ein Kreis junger Poeten, der zu den Impulsen des Ungarischen Volksaufstandes gezählt wird. 729  Abt. VI/2 vom 28.3.1957: Bericht; BStU, MfS, AIM 1107/59, Teil I, 1 Bd., Bl. 36 f. 730  Siehe hierzu ausführlich Kap. 3.5.

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der überzeugt war, dass die Schaffung von wissenschaftlich-technischen Räten bei den VVB »die exakte staatliche und produktive Basis« sei, »auf der eine Vereinigung der Bedürfnisse der Produktion mit den Möglichkeiten der entsprechenden wissenschaftlichen Forschungsinstitute gegeben« sei. Die HU Berlin pflege mit dem VEB Agfa Wolfen bereits eine solche »echte Zusammenarbeit und gegenseitige Befruchtung für die Entwicklung«. Es komme »darauf an, Wissenschaft und Industrie gemeinsam zu organisieren«. Jedoch halte er die »gegenwärtige Form der zentralen staatlichen Leitung von Forschung und Technik in Form des Forschungsrates und auch des Staatssekretariats für Forschung und Technik für nicht zweckmäßig«. Repräsentativkörperschaften seien nicht effektiv. Für die Bindung der Wissenschaft an die Industrie sei der Kapitalismus beispielhaft. Wissenschaftlern solle die Möglichkeit »zur echten Mitarbeit« gegeben werden. Das gespannte Verhältnis zwischen Chemikern und Physikern sei »schädlich für die Wissenschaftsorganisation der DDR«. Dass Peter Adolf Thiessen passiv resp. inaktiv sei, so Havemann, könne Ausdruck dafür sein, dass er den Forschungsrat als sinnlos erachte. Immerhin habe er die Position der Chemiker im Forschungsrat gestärkt durch Kooptierung von Wolfgang Schirmer (Direktor des Instituts für physikalische Chemie der DAW) und Eberhard Leibnitz (Direktor des Instituts für Verfahrenstechnik der organischen Chemie der DAW). Die Einbeziehung Steenbecks sei Ausdruck der Koexistenz, doch habe dessen Einsatz für die »von ihm inspirierte Produktionshilfe« seinem Ansehen bei den Wissenschaftlern geschadet.731 In Le Monde vom 8. Juli 1969 erläuterte Steenbeck, dass die DDR-Industrie »fast von vorn angefangen« habe, sie habe »mit sehr geringen Mitteln begonnen. Es musste sofort irgendetwas hergestellt werden. Es wurde viel hergestellt, was nicht sehr modern war. Die Industrie hatte zu wenige Forschungszentren und arbeitete nicht genügend für die Zukunft. Es schien damals rationeller, einen Arbeiter zu beschäftigen als einen Wissenschaftler.« Und weiter: »Deshalb müssen gegenwärtig viele Forschungsinstitute Aufgaben wahrnehmen, die den Betrieben hätten übertragen werden müssen.« Le Monde stellte fragend fest: »Zwei aufeinanderfolgende Entscheidungen über die Anwendung des Gesetzes über die Hochschulreform« hätten »die wissenschaftliche Forschung der Kontrolle der Industrie unterstellt«. Steenbeck erinnert, dass dies von Ulbricht vor einem Jahr in Jena angekündigt worden sei. Anfang 1969 habe Ulbricht Kurt Hager »an die Spitze eines Komitees gestellt, das aus den Universitäten bis 1975 ›Kombinate der Wissenschaft‹ machen« solle. »Die Planung der Wissenschaft« werde »von nun an nach der Planung der Betriebe erfolgen«. Steenbeck gab zu, dass ein solcher Übergang schwer sei: »In der Vergangenheit«, sagte er, »wurden die Ausgaben für die Forschung vom Staat finanziert. Damit machen wir Schluss. Der größte Teil der wissenschaftlichen Forschung, die auf der Grundlage von Verträgen mit der Industrie erfolgt, wird künftig von der Industrie finanziert« werden. Le Monde fragte ferner, ob dann die Grundlagenforschung nicht zurückgehen werde. Hager, so Steenbeck, soll garantiert haben, 731  HA III/6/S vom 6.2.1963: Bericht; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 2, Bl. 290–294.

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»dass verschiedene ›Forschungen auf Randgebieten‹ nicht verschwinden« würden, etwa auf den Gebieten Astronomie und Theoretische Physik. »Dem Forschungsrat« werde »es obliegen, den Ministerpräsidenten dabei zu unterstützen, zwischen dem ›Grundsätzlichen‹ und dem ›Gewöhnlichen‹ zu unterscheiden.« Die DDR praktiziere die »Planung gegen den Strich«. Nicht die Zukunft werde vorausgesehen, sondern die Gegenwart.732 In der Zentralverwaltungswirtschaft war – abzüglich der Ideologie des Marxismus-Leninismus – kein Thema wichtiger und präsenter als das der Planung. Sie war in der DDR allumfassend, quasi-heilig und vor allem ideologiedurchtränkt. Nahezu idealtypisch dafür steht das folgende Dokument. Es zeigt, wie kommunistisches Denken, hier aus der Mitte der Wissenschaft kommend, gleichsam als intrinsisches Gift der Ideologie, in ureigene Belange der Wissenschaft einfloss. Es ist eine 19 Seiten umfassende Schrift von Martin Strauss zur »Planung der theoretisch-physikalischen Forschung«. Strauss ging es um nichts weniger als um die Schaffung von wissenschaftlichen Grundlagen für eine Theorie der Physik. Er vertrat die Ansicht, dass es viele Physiker in den kapitalistischen Ländern gebe, denen es kraft der Umstände in ihren Ländern versagt sei, »zu einem richtigen theoretischen Verständnis ihrer Arbeit und damit zur Entwicklung einer wissenschaftlich begründeten Strategie der theoretischen Forschung, kurz zu einer brauchbaren Theorie der Physik« zu gelangen.733 Es ist dabei irrelevant, weil in der Sache der hier behandelten Themata unbedeutend, was und wie Strauss argumentierte. Einer wissenschaftlichen Prüfung halten seine zentralen Argumente ohnehin nicht stand, weil sie suggerierten, dass es einen konsistenten Machtstrom von westlichen Irrlehren gegen den Fortschritt gegeben habe. Erwartungsgemäß mündete sein Konstruktivismus in seinen Lieblingskampf gegen den Positivismus Machs. Die »Hauptform des wiederbelebten Positivismus«, so Strauss, sei »der ›Operationales‹, der sich besonders in den angelsächsischen Ländern großer Beliebtheit erfreut und dessen Hauptapostel Professor P. W. Brügemann [vermutl. Bridgman, Percy W.] von der Havard Universität und Professor H. Dinge in London« seien. Die »leninistische« Arroganz von Strauss kannte oft kein Halten: »Das durch Relativitäts- und Quantentheorie erzwungene jähe Erwachen aus zwei jahrhundertlangem dogmatischem Schlummer hat in der theoretischen Physik der kapitalistischen Länder eine Art philosophischer Panik erzeugt, die sich in einseitigen Abstraktionen wie dem Operationalismus und dem rationalistischen Formalismus kristallisiert hat. Der Herausarbeitung einer wissenschaftlichen Theorie der Physik, die als Leitstern der theoretischen Forschung dienen konnte, sind dadurch potenzielle Kräfte entzogen« worden.734 Dies war nur sein Vorspiel für den »Beweis« der Planbarkeit von Grundlagenforschung: 732  Übersetzungsscript von Jean-Paul Picaper zum Interview der Le Monde mit Max Steenbeck zur DDR-Wissenschaft vom 8.7.1969; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 239, S. 1–4. 733  Strauss: Zur Entwicklung der theoretischen Physik und zur Planung der theoretisch-physikalischen Forschung; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 51, S. E 1–E 19, hier E 3. 734  Ebd., S. E 6 f.

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In seinen Ausführungen zur »Theorie der Physik und die Planung der physika­ lischen Forschung« stellte er als Motto einen Ausspruch von S. I. Wawilow, Präsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, voran; Zitat: »Freilich lassen sich ›unerwartete‹ wissenschaftliche Ergebnisse und Entdeckungen nicht planen, die Besonderheit einer echten Wissenschaft besteht jedoch auch darin, dass in ihr begründete Erwartungen und Voraussichten wesentliche Faktoren darstellen.« Und weiter: »Die Idee des Planes in der Wissenschaft«, so Wawilow zitierend, sei »den sowjetischen Gelehrten ›zur Gewohnheit, zur Natur und zur Notwendigkeit‹ geworden«. Sobald aber der Übergang zur Planpraxis notwendig wurde, blieb Propagandisten wie Strauss, der seine Ansichten in zahlreichen Beiträgen auch in der Tagespresse verbreitete, nur der Griff zur rhetorischen Krücke; Strauss: »Es wäre daher von beträchtlicher praktischer Bedeutung, eine objektive Instanz zu haben, bei der man sich Rat in derartigen Entscheidungen holen« könnte, »die also in der Lage« ist, »›begründete Erwartungen‹ hinsichtlich der ›hoffnungsvollsten Möglichkeiten‹ zu geben«.735 Strauss sah in der Theoretischen Physik diese Instanz!736 Neben dem irrationalen Element, existierte ein von Haus aus rationales, das jedoch zunehmend seinen klaren Charakter verlor: die Betonung der Bedeutung der Grundlagenforschung. Bereits Mitte der 1950er-Jahre erlebte sie, wie wir oben gesehen haben, eine Anfechtung, sodass die Wissenschaftlergemeinde sich fortan genötigt sah, um sie zu kämpfen. Tradiert ist ein Manuskript von Friedrich Möglich über die Tätigkeit der DAW. Es stammt sehr wahrscheinlich aus dem Jahr 1955. Danach sei die Absicht der DDR erkennbar gewesen, die DAW »stärker auf eine Tätigkeit auszurichten, bei der nicht allein die Grundlagenforschung, sondern auch die praktischen Erfordernisse des Augenblicks berücksichtigt werden sollen«. Diese Grunddebatte sei nicht auf die Welt der sozialistischen Länder beschränkt, sondern vielleicht »in noch höherem Maße« auch des Westens. Es gebe Wissenschaftler, »die sich von jeder Tätigkeit, die man als angewandte Forschung bezeichnen kann«, distanzierten. Ernste Forschung sei für sie Grundlagenforschung, ein »Anliegen eines ernsten Forschers«. Möglich wies auf die Selbstverständlichkeit hin, dass nicht alles Grundlagenforschung sein könne und dass auch angewandte Forschung ein ernstes Geschäft sei. Gleichzeitig verwies er auf die miserablen Zustände, denen man mit Rückzug in die Studierkammer nicht begegnen könne. Ihm sei nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einem russischen Mathematiker gesagt worden, dass sie in Russland »zunächst die Maurerkelle« in die Hand genommen hätten, »um Häuser zu bauen«. Ein Erfordernis, das »ihnen«, so der Mathematiker, »in Deutschland auch nicht erspart bleiben« wird.737 Möglich führte aus, dass zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung lediglich ein Scheinproblem besteht. Denn in »einem tieferen« Sinne gäbe »es keine 735  Ebd., S. E 14 u. E14a. 736  Vgl. ebd., S. E 15. 737  Möglich: Tätigkeit der DAW, Manuskript 1955; ArchBBAW, Nachlass Möglich, Nr. 56, S. 1–9, hier 1 f.

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reine Forschung« und »auch keine angewandte Forschung«. Dies zeige das Beispiel der Kernphysik in den letzten Jahrzehnten. Ein Jahr nach Hahns Entdeckung der Kernspaltung wurde bereits die »Atomenergiemaschine« konstruiert. Lediglich in »durchgearbeiteten« Gebieten sei die Zeitspanne zwischen Entdeckung und technischer Anwendung »ziemlich beträchtlich«. Da die Forscher sich meist auf solche Gebiete bezögen und nicht auf die der Erfindung mit rascher technischer Gestaltung, werde das Problem so kommuniziert. Es dürfe nicht gesagt werden, »dass Grundlagenforschung nun sofort und ohne weitere Mühe zu einem technisch verwertbaren Prozess umgestaltet werden« könne. »Nichts wäre falscher, als dieses anzunehmen.« Die Umsetzung von Grundlagenforschung in die Praxis sei »eine besondere Aufgabe«.738 Wegen finanziellen Mangels sei es also richtig, eine Reihenfolge der Bedeutung einzelner Disziplinen festzulegen. Es könne gar keine Frage sein, »dass im Weltmaßstab die Kernphysik an erster Stelle« stehe, es sei aber eine solche, ob es auch für die DDR »zweckmäßig« sei, »sich dieser Wertung anzuschließen«. Der IV. Parteitag habe beschlossen, die Kernphysik nicht an erste Stelle zu setzen. Trotz der späteren Sowjetbereitschaft, die Kernphysik zu unterstützen, sei dieser Entschluss der DDR »noch wichtig«. Für unsere Wirtschaft stünden andere Fragen im Vordergrund als die Kernphysik. Nämlich: »Festkörperphysik [Basis der Mikroelektronik – d. Verf.] oder – besser gesagt – Festkörperforschung ist ein Zweig der Naturwissenschaften, der nicht mehr ganz zur Physik gehört, sondern bei dem es nötig ist, auch chemische Forschungsmethoden heranzuziehen.«739 Im weiteren Verlauf ging Möglich auf die Vielfalt dieser Forschungsrichtung ein und favorisierte sie eindeutig. Er schrieb von der Problematik der Grundmaterialien, also Selen und Silizium, nannte auch andere Probleme noch, die sich später als richtig erwiesen. Schließlich endete er mit einem »Hohelied« auf die Festkörperphysik: »Die Festkörperphysik ist eine neue Wissenschaft. […] Inzwischen fängt die Wissenschaft der Festkörperphysik an, den Charakter einer wirklich exakten Forschungsmethode anzunehmen. Diese Tatsache ist aber noch nicht in das Bewusstsein aller Wissenschaftler eingedrungen.« Desto erfreulicher sei Ulbrichts Votum auf dem IV. Parteitag, sie »als eine der vordringlichsten Forschungsaufgaben« anzusehen.740 Falsch aber schätzte der Autor die Kosten ein, nämlich bedeutend geringer als bei der Kernphysik. Tatsächlich wurde 1956 ein Neubau des Institutes für Festkörperphysik der DAW in der Mohrenstrasse, Berlin, beschlossen. Die Leitung erhielt Möglich. Das Institut war vordem in Berlin-Buch angesiedelt. An den Strukturen wurde permanent gebastelt, nie war die SED zufrieden mit der Steuerungsfunktion ihrer Synapsen im Wissenschaftsbetrieb. Hinsichtlich des alten Geschäftsverteilungsplanes vom 16. Februar 1959 für das Wissenschaftliche Sekretariat (WS) der Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, tech738  Ebd., S. 2 f. 739  Ebd., S. 4 f. 740  Ebd., S. 9.

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nischen und medizinischen Institute der DAW wurde kritisiert, dass die dort »zum Ausdruck« gekommene »Organisierung der Arbeit« formal geblieben sei, da »es den Mitwirkenden nicht« gelungen sei, die »Methode der kollektiven Beratung« so zum Leben zu erwecken, dass daraus eine »persönliche Verantwortung« erwachsen sei, »denn: ›Die Erörterung ist etwas Gemeinsames, aber die Verantwortung etwas Persönliches!‹«. Genau dies war eine generelle Problematik in der DDR, denn eine echte, engagierte Teilhabe im Sinne der Plan- und Berichtsideologie der SED konnte es aus einem einfachen Grunde nicht geben, der Tatsache nämlich, dass jede Eigeninitiative gefesselt war. Eine Fesselung, die im Laufe der Zeit stärker werden sollte: »Hauptaufgabe des Wissenschaftlichen Sekretariats« sei es laut der neuen Geschäftsordnung, »die Geschäfte der Forschungsgemeinschaft nach den Weisungen des Vorstandes zu führen«. Die Aufgabe des WS konnte keineswegs die Elastizität erhöhen, wenn das WS nun per definitionem auf die wissenschaftliche Arbeit der Institute dergestalt Einfluss zu nehmen hatte, dass diese »geeignete Forschungsergebnisse in die Praxis« zu überführen hatten. Dem WS kam somit eine Koordinierungsfunktion zwischen allen beteiligten Institutionen zu. Da das WS aber eine politische Funktion besaß, bildete es einen administrativen Brückenkopf der SED und nicht selten auch des MfS.741 So regelte der Abschnitt III zur »Durchsetzung der Kaderpolitik« die Aufgaben der Kaderabteilung. Von dieser gleichsam zentralen Kaderabteilung aus zogen sich in zehn Unterpunkten die Fäden zu den Kaderabteilungen der der Forschungsgemeinschaft angeschlossenen Institute. Zum Beispiel Punkt 1: »Die Anleitung und Kontrolle der Kaderabteilungen der Institute und Einrichtungen.« Oder Punkt 9: »Die Mitwirkung bei der Ausstellung von Zeugnissen und Beurteilungen.« Oder Punkt 10: »Die Mitwirkung bei der Genehmigung von Reisen außerhalb der DDR und die kadermäßige Bearbeitung von Anträgen auf Genehmigung des Aufenthaltes in der DDR.« Es war also ein einflussreicher, weil auch gegenüber den betreffenden Kaderabteilungen der Institute recht anonym handelnder Bereich, der auf fachliche und persönliche Erkenntnisse, Fakten oder Bedingungen nicht so eingehen konnte und musste wie die Kaderabteilungen vor Ort in den Instituten. Es ist wichtig zu betonen, dass die Kaderabteilung des WS eben nicht nur für den eigenen Bereich »WS« zuständig war, sondern sich auf explizite und eminente Weise auf alle denkbaren personalen und verwaltungstechnischen Belange, ob Prämienausschüttung, Arbeit der Konfliktkommissionen, Stellenpläne, Arbeitsverträge, Altersversorgung, Arbeitsschutz, Lehrlingsausbildung etc. erstreckte.742 Auch das gesamte Investbaugeschehen unterlag dem Dirigismus und der Kontrolle des WS.743 Hier ist auch jene strukturelle Omnipotenz im Wissenschaftsbetrieb installiert, von der die Max 741  Geschäftsverteilungsplan für das WS der Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute der DAW vom 16.2.1959; BStU, MfS, AOP 613/61; Bd. 1, Bl. 40–56, hier 40 f. 742  Ebd., Bl. 47–49. 743  Vgl. ebd., Bl. 52–56.

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Beckers Selbstverständnis und arttypische Arroganz gegenüber den primären Fragen von Wissenschaft und Forschung bezogen. Strauss mischte sich in die Wissenschaftsplanung ein, während die eigentlichen Fragen, um die es ging und die Möglich umriss, unberührt blieben. Ihm genügte es, »richtige« Planung aus ideologischen Gründen heraus zu fordern. Der erfolgreiche Wissenschaftler jedoch nahm eine aus der Praxis geronnene entgegengesetzte Position ein. Erich Thilo äußerte 1962 gegenüber dem MfS, dass er »stets und überall seinen Standpunkt darlegen« werde, »dass man die Wissenschaft keiner exakten Planung unterziehen« könne.744 Die wahren Probleme seien andere: Er sei durchaus bereit, auch »wichtige Vertragsforschungen zu übernehmen«, obgleich dies eine »komplizierte Frage« sei, denn: »Obwohl es im gesamten chemischen Bereich der Forschung eine ganze Reihe von Ergebnissen gibt, die produktionsreif sind, mangelt es sehr oft an notwendigen Investitionen, Forschungsergebnisse in der Produktion zu verwirklichen.« Hinzu komme »noch die Schwierigkeit, dass einschlägige Industriebetriebe durch mangelnde Kapazitäten nicht in der Lage« seien, »Forschungsergebnisse in die Produktion zu überführen«. Als Beispiel wies er auf einen Kollegen hin, der »sehr viele abgeschlossene Ergebnisse der Forschung bei sich liegen« habe, »die produktionsreif« seien. Zu deren »Verwirklichung in der Produktion« seien jedoch »keine Investitionen vorhanden«. Und gelangte tatsächlich einmal etwas in die Nähe eines möglichen Westexports, standen plötzlich Kriterien wie der Geheimnisschutz auf der Verhinderungsagenda und torpedierten jedes Marketing. Zu einem Brief Hermann Klares an alle Institutsdirektoren der Forschungsgemeinschaft anlässlich der 15. Tagung des ZK der SED, Pläne aufzustellen, letztlich auch mit Blick auf die Leistungserhöhung und Zusammenarbeit mit der Industrie, soll Thilo gesagt haben, dass er damit nichts anzufangen wisse: Nachwuchs-Wissenschaftler, Doktoranden – das realisiere er ja »schon lange«. Klare kannte Thilo, wusste, dass der für die SED-Planungsweise kein Verständnis aufbrachte. Also umging er ihn. Es war geplant, über den Brief auf der nächsten Direktorensitzung der Akademie am 5. Juni 1962 zu sprechen. Thilo hatte bereits im Vorfeld wissen lassen, »dass er es nicht verstehe und dagegen sei, die Politik mit der Wissenschaft zu verquicken. Er sei Wissenschaftler und kein Politiker. Der zuständige MfS-Mitarbeiter schlussfolgerte, dass Thilos »Haltung hinsichtlich einer exakten Planung in der Wissenschaft« deutlich »zu erkennen« gebe, dass er »nach wie vor den Standpunkt des Nur-Wissenschaftlers vertrete und mit Politik nichts im Sinn« habe.745 Thilo sprach die DDR-Realitäten meist »sehr offen« an. Fehler der Funktionäre soll er ihnen »ewig« vorgeworfen haben, widerspreche man ihm, brause er auf. Es sei »sehr schwer«, ihn »politisch zu beeinflussen. Er will Tatsachen sehen.«746 Anlässlich einer Aussprache zur 2. Plenartagung des Forschungsrates, woran auch 744 HA  III/6/T vom 15.5.1962: Aussprache mit Thilo; BStU, MfS, AOP  771/63, 1  Bd., Bl. 152–155, hier 152. 745  Ebd., Bl. 153–155. 746 »Biene« vom 27.8.1962; ebd., Bl. 220 f.

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Ulbricht teilgenommen hatte, habe er dessen Ausführungen gelobt, da er die Probleme genannt habe, die die Wissenschaftler schon lange hätten. Sagte aber auch, man möge nun endlich aufhören zu debattieren, sondern versuchen, die Hinweise Ulbrichts endlich umzusetzen. Thilo kritisierte die nicht adäquate Umsetzung der Ulbricht-Vorschläge durch die Hauptdirektoren der VVB und wandte sich gegen die »abstrakte« 25-Prozent-Regelung, Institutskapazitäten in dieser Höhe für die Unterstützung der Industrie bereitzustellen. Es müsse der Satz variabel gehalten werden.747 Es verwundert nicht, dass das MfS Thilo operativ bearbeitete. Allerdings musste der Vorgang im Januar 1963 eingestellt werden, da sich keine belastbaren Anhaltspunkte für eine direkte feindliche Betätigung fanden.748 Eine geraffte Wiedergabe der Rede Robert Rompes in der Sektion 1 im Rahmen eines wissenschaftlichen Kolloquiums über »Aktuelle Probleme der weiteren Verbesserung der Prognose, Planung und ökonomischen Durchdringung der Forschungsarbeiten mit dem Ziel der Erhöhung ihrer Effektivität«, die als »Nur für den Dienstgebrauch« (NfD) eingestuft worden war, weil sie angeblich kleinere Sicherheitsprobleme beinhaltete, fand im Institut für Forschungsökonomie der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst Ende 1968 statt. Sie behandelte wissenschaftsorganisatorische Fragestellungen, auch Definitionen, die den vertraulichen Charakter keineswegs erkennen lassen. Rompe zitierte eingangs Ulbricht mit dessen Feststellung, dass für ihn »Forschung nur das« sei, »was ausgehend vom Weltniveau weit darüber hinausgeht«. Er soll auf der Tagung gefragt haben: »Wer hält sich eigentlich daran?« und festgestellt haben: »Die Definition von Walter Ulbricht fördert unsere Entwicklung, die praktizistische Handhabung hemmt sie.« Ein weiteres Problem, das Rompe ansprach, war, dass die »Einführung neuer Dinge« keinesfalls »nur eine Frage der Überführung der wissenschaftlichen Ergebnisse auf der direkten Linie zur Produktion« sei, »sondern mindestens genauso die Vorbereitung des Einsatzes«. Er verwies auf den großen Mitteleinsatz westlicher Konzerne für diese Zwecke, jedenfalls seien diese höher als für Forschung und Entwicklung. Jedes Industrieprodukt brauche auch Soziologie und Psychologie. Als fünftes Problem benannte er die Qualifikationsstruktur, »das Spektrum der Experten und ihr kollektives Zusammenwirken«. Weiter: »Auf einem Hauptgebiet« sollten etwa »ein Viertel Spezialisten des Fachs« sein »und drei Viertel aus anderen Fächern« stammen, »z. B. Elektroniker, Chemiker, Mechaniker und Techniker«. Ein sechstes Problem bildete das »Prinzip der auftragsgebundenen Forschung. Keine Forschung ohne gesellschaftlichen Auftrag.«749 747  HA III/6/T vom 28.11.1962: Bericht zu Thilo; ebd., Bl. 272–276, hier 272 f. 748  Vgl. HA III/6/T vom 2.1.1963: Beschluss zur Einstellung der Vorlaufakte operativ (VAO); ebd., Bl. 311 f. 749 Kurzinformation Nr. 36/68 (NfD): Kolloquium über »Aktuelle Probleme der weiteren Verbesserung der Prognose, Planung und ökonomischen Durchdringung der Forschungsarbeiten mit dem Ziel der Erhöhung ihrer Effektivität«, Veranstalter: Institut für Forschungsökonomie der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, Ende 1968; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 283, S. 1–4, hier 1–3.

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Doch selbst wenn die Organisation der Wissenschaft in den Betrieben staatlicherseits einigermaßen rational aufgebaut worden wäre, hätte der Dirigismus sie ad absurdum geführt. In den wirtschaftspolitischen Abteilungen des ZK der SED arbeiteten circa 270 politische und 50 technische Mitarbeiter. Im Herrschaftsbereich Günter Mittags in der 4. Etage des ZK der SED lagen neun Abteilungen, eine dieser war die Abteilung »Forschung und technische Entwicklung«. Sie hatte circa 20 Mitarbeiter. Das Arbeitsgebiet umfasste das MWT und alle zentralen technischen Institutionen. Der Hochschulbereich und die Akademie zählten nicht hierzu.750 Im unmittelbaren Herrschaftsbereich Mittags, jener Person also, die in der DDR die wohl meistgefürchtete und -verhasste Person gewesen sein mag, lag vor allem auch der Mikroelektronikstandort Dresden, Thema des ersten Hauptkapitels dieser Untersuchung. Es sei vorausgeschickt, dass es hinsichtlich der oft grotesken und nutzlosen Eigenart der Planungsideologie in der DDR in der Bewertung durch Wissenschaftler allenfalls in der öffentlichen Sphäre einen Dissens gab, der bereits in der halböffentlichen Sphäre nahezu vollständig verschwand. Nach unten hin war man sich immer einiger, jedoch gab es erhebliche Differenzen und Dissonanzen zwischen den Vertretern der SED-Funktionalorgane und der Wissenschaftlergemeinde. Intern nahm man die Planungsregularien hin, machte Witze und folgte soweit es ging den eigenen Vorstellungen von Planung und mehr noch den harten Diktaten der allgegenwärtigen Mangelwirtschaft. Abgerechnet wurde dann wieder unisono erfolgsorientiert im Stil der SED-Ideologie. Das sicherte in Ruhe gelassen zu werden, Auszeichnungen und Prämien einstreichen zu können. So traf Weidensporn* am 14. Juni 1960 den Kern dessen, was der DDR-Wissenschaftler mit oder ohne Funktion über die Planung mehr oder weniger öffentlich sagte: »Der Abteilungsleiter füllt die Formulare aus, der Institutsdirektor unterschreibt sie und der Vorstand der Forschungsgemeinschaft bestätigt sie. Es ist mir kein Fall bekannt, dass so ein Antrag abgelehnt, oder fachlich bzw. terminlich geändert wurde. In den wenigsten Fällen werden die Forschungspläne in Arbeitskreisen ›verlesen‹. Denn hier gilt das Prinzip: ›Redest du mir nicht hinein, so rede ich dir nicht hinein.« Weidensporn* belegte gegenüber dem MfS diese Haltung mit Beispielen aus dem täglichen Leben. Ein Mitarbeiter vom Institut für Gerätebau der DAW soll »fast wörtlich« zu Weidensporn* gesagt haben: »Ich lasse mir von Euch nicht hineinreden, sonst trete ich überhaupt aus dem Verein aus. Die Pläne werden aufgestellt nach dem Motto: ›Was liegt mir, was macht wenig Ärger und was sieht nach etwas aus‹. Die volkswirtschaftliche Notwendigkeit wird in den wenigsten Fällen berücksichtigt.« Weidensporn* sprach darüber hinaus etwas aus, was geradezu systemisch bis an das Ende der DDR galt und auch die psycho-soziale Lage der Verantwortlichen in hohem Maße widerspiegelte und damit deren Los charakterisierte: »In der Wissenschaft fürchtet man sich noch vor der Bezeichnung ›sozialistische Gemeinschaftsarbeit‹«, obgleich es Beispiele gelungener Zusammen750  Vgl. Janson: Totengräber der DDR, S. 171–173.

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arbeit gebe. »Wirtschaftsfunktionäre schaltet man dabei lieber nicht ein, denn das bedeutet keine Unterstützung, sondern Mehrarbeit durch Kostenerfassung, Aufteilung, Abrechnung usw.«751 Der GI »Müller« berichtete dem MfS am 21. Juli 1965 von administrativen Maßnahmen Leibnitz’, wonach am Forschungszentrum Leipzig die Politik der Partei und Regierung nicht umgesetzt werde. Er bat das MfS, entsprechend wirksam zu werden. Solche Inspiration oder auch Selbst-Anmaßung war recht verbreitet unter den IM in Schlüsselfunktionen. »Müller« bemängelte u. a die hohe Fluktuation und die damit einhergehende Streichung der Planstellen, den Abbau der wissenschaftlichen Kräfte »zugunsten der technischen Hilfskräfte« und die Weigerung, die 48-Stunden-Woche einzuführen. Es sei für die gegenwärtige Situation am Forschungszentrum »typisch«, »dass die Mitarbeiter des Forschungszentrums Angst um ihren Arbeitsplatz haben, da sie befürchten, dass die Gehälter rapide abgebaut werden und dass sie keine weitere Perspektive in der weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit sehen.«752 Der Zick-Zack-Kurs oder salopp formuliert, das »Rein in die Kartoffeln, Raus aus den Kartoffeln«, war hinsichtlich der großen volkswirtschaftlichen Projekte Usus in der DDR. War dies eine Regelhaftigkeit, weil die Zentralverwaltungswirtschaft nicht griff, oder eine direkte Folge der Zentralverwaltungswirtschaft? Spätestens Ende Oktober 1962 war klar, dass das Bauvorhaben für das Institut für physikalische Stofftrennung (IpS) nicht mehr als Staatsplanvorhaben eingestuft werden würde. Daraufhin wandte sich der Direktor umgehend an Bertram Winde von der Staatlichen Plankommission (SPK), um die dringende Notwendigkeit des Bauvorhabens zu untermauern. Einen Durchschlag des Schreibens an Winde erhielt Lotar Ziert vom Amt für Kernforschung und Kerntechnik (AKK). Der Direktor des IpS war Leiter der zeitweiligen Unterkommission der 13. Kommission des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). In der Erörterung des Geschehens kam rasch zutage, dass es keine Chancen auf eine Weiterführung als Staatsplanaufgabe gebe, denn das Aus stehe bereits seit Anfang 1962 zumindest virulent im Raum. Winde soll hierbei eine maßgebende Rolle gespielt haben.753 Wir haben es hier mit einer geradezu klassischen Vermischung verschiedener Instanzen zu tun, die der Nichterfüllung der Pläne in die Karten spielte. Hinzu kamen Entscheidungsträger wie Winde und Ziert, die wie ein unsteter Windhauch agierten. Sie versprachen, verzögerten und agierten ohne jede Verlässlichkeit. Der Direktor: »Überdies fälle Dr. Winde seine Entscheidungen nicht als Wissenschaftler, sondern als ein Mensch, der mit dem Rücken an die Wand zu kommen suche.«754 Und genau dies ist zu beachten, weil symptomatisch: Aus der Einzelperspektive etwa Hartmanns (Kap. 4.1.2) mag Winde den bösen Buben gespielt haben, doch allein die Vielzahl der Begehren ließen ihm 751  BV Leipzig: Bericht von »Senftleben« am 14.6.1960; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 271/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 242–245. 752  BV Leipzig, Abt. XVIII/4, vom 6.8.1965: Information; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 12–14, hier 13. 753  Ebd., Bl. 12. 754  Ebd., Bl. 12 f.

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oft genug gar keine andere Wahl: die Decke (der Ressourcen) war einfach zu kurz. Versprechen verschafften wenigstens Zeitgewinn und Ruhe für den Moment. Und an diesem Punkt entstanden jene vielen, teils auch dramatisch endenden Schicksale, auf deren unterster Skala der Suff und an der obersten der Suizid stand. Der GI »Müller«, dem wir den Bericht verdanken, kolportierte, dass Winde, der im Gegensatz zum Leiter der AKK Karl Rambusch755 nicht wissenschaftlich arbeitete, im AKK aber eine Professur erhielt, sich als Mitarbeiter der SPK nun am AKK rächen wolle. Winde war also Rambusch »unterlegen«, weil der protegiert wurde. »Solche Manipulationen«, so der GI »Müller« einen Kollegen Wissenschaftler zitierend, spielen »überhaupt eine wesentliche Rolle beim Zustandekommen wichtiger Entscheidungen«: Der GI »Müller« gab schlussendlich in seinem Bericht eine für DDR-Kenner überhaupt nicht paradox klingende Pointe zum Besten: »Trotzdem« werde »das Bauvorhaben IpS fortgeführt werden, weil der Vorstand der Forschungsgemeinschaft [der DAW – d. Verf.] folgenden Weg eingeschlagen habe: Anknüpfung an den Forschungsrat, Referat von Walter Ulbricht beim Forschungsrat, Rehabilitierung der Wissenschaft, Rückhalt beim Forschungsrat bei der ›ideologischen Durchsetzung‹ der Bauvorhaben der Akademie«.756 Wohin man den Blick in die Akten der Akteure auch lenkt, ob wie eben nach Leipzig oder nach Berlin und Dresden, überall hatte Winde ein Desaster zu moderieren. Ziert alias »Kurt« hatte es da leichter. Er hatte dafür zu sorgen, dass die SED-Linie eingehalten wurde. Da war die Ressourcenfrage kein Problem. Er hatte am 21. September 1962 von Winde »vertraulich« mitgeteilt bekommen, dass er beabsichtige, die SPK zu verlassen. Er wolle gen Süden ziehen. Gründe habe er ihm nicht mitgeteilt. Ziert aber glaubte, die Gründe zu kennen. Er nahm an, dass Winde erkannt habe, dass ihn die zunehmend komplexen und komplizierten Aufgaben überfordern würden und deshalb lieber rechtzeitig das Schiff verlassen wolle.757 Noch einmal gefragt, was eigentlich vermochte eine Zentralverwaltungswirtschaft bewirken, die nur auf dem Papier keine Mangelwirtschaft war, die Investmittel, materielle und personelle Kapazitäten »bereitstellte«, die aber zugleich von mehreren Stellen beansprucht worden sind? Der Plan suggerierte eine Zugriffs­ fähigkeit, die es in der Realität so nicht gab. Immer schon schien es oder war es so, dass eine Stelle bereits zugegriffen hatte, im Zweifel jene, die über entsprechende Beziehungen verfügte. Ein Beispiel zu den fehlenden finanziellen Mitteln:

755  (1918–1999). Feinmechanikerlehre bei Carl Zeiss Jena. 1938–1940 Studium an den Ingenieurschulen in Hildburghausen und an der Gaußschule in Berlin. 1946 Studium an der FSU Jena, 1952 Diplomphysiker, Leiter des Nautisch-Hydrografischen Institutes in Berlin-Friedrichshagen. Ab 1955 Leiter des AKK. 1956 Ernennung zum Professor. 1961 VEB Atomkraftwerk I in Rheinsberg (1964 Direktor). 756  Bericht von »Müller« am 19.11.1962; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 12–14, hier 13. 757  HA III/6/S vom 22.9.1962: Bericht von »Karl« am 21.9.1962; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 272–274.

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Hans-Heinz Schober, Sekretär der Akademie-Parteileitung, teilte dem MfS am 12. Juli 1962 mit, dass in einem Schreiben Alfred Baumbachs vom Staatssekretariat für Forschung und Technik mitgeteilt worden sei, dass die Forschungsgemeinschaft 1963 lediglich 126 Millionen DM bekommen könne. 15 Millionen weniger als 1962. Die SPK hatte noch im Mai 1962 mitgeteilt, dass es wie für 1962 auch 1963 wieder 141 Millionen DM geben werde. Bei der lohnintensiven Arbeit, so Schober, könne dies nur mit der Entlassung von 1 200 Mitarbeitern ausgeglichen werden. Demnach kursierten bereits in »allen Instituten Gerüchte«, wonach »1963 jeder neunte entlassen würde«. Schober war der Meinung, dass das nicht angehe in einer Zeit, in der von der SED betont werde, dass die Wissenschaft sich immer mehr zur Produktivkraft entwickele. Thilo soll in diesem Zusammenhang gesagt haben, dass er bald an der DDR verzweifle. Schober wies darauf hin, dass bei einer solchen Kündigungswelle nicht unbedingt die Schlechtesten gingen, sondern die Guten versuchen würden, anderenorts eine bessere Stellung zu erreichen (»um der Gefahr der Entlassung zu entgehen« sowie, dass »reaktionäre Direktoren fortschrittliche Mitarbeiter entlassen werden statt ihrer Gesinnungsfreunde«). In der Frage der Umprofilierung der Wissenschaft will Schober ähnlich wie Peter Adolf Thiessen argumentiert haben, wonach der Anteil der Grundlagenforschung »zusammen­ gedrückt« werden müsse. Jedes Institut sollte mindestens 25 Prozent seiner Kapazität »für Tagesfragen verwenden« (Dies hatte Thilo, siehe oben, kritisiert.)758 Ungeachtet echter Probleme wurde fleißig denunziert. So trug Schober am 30. Januar 1963 dem MfS zu, dass Havemann »gemeinsam mit verschiedenen parteilosen Professoren negativ zu Fragen der Produktionsunterstützung«, auch gegen »unsere Schulpolitik«, argumentiere. Davon habe er selbstverständlich »dem ZK Mitteilung gemacht«.759 In der Theorie sah alles stets einfacher aus, noch einfacher oft, als das folgende hier von 1964 stammende Beispiel, als Steenbeck zur Organisationsstruktur der Wissenschaft in der DDR in einem Vortrag an der Fakultät für Berufspädagogik der TU Dresden Grundsätzliches ausführte: »Die zur Planung nötigen organisatorischen Arbeiten leitet das Staatssekretariat für Forschung und Technik. Die tatsächliche Durchführung erfolgt unter Beteiligung der Organe des Forschungsrats, der Deutschen Akademie der Wissenschaften und von zahlreichen aktiven Wissenschaftlern aus allen Bereichen unserer Republik.«760 Es verbot sich von selbst, dieses Verfahren zu kritisieren, denn kaum einer wusste wie er, wie unmöglich die Umsetzung dessen war, da er einer der wenigen war, der gleich auf drei Ebenen zu Hause war: auf der Ebene der Universität und des wissenschaftlichen Instituts, auf der Ebene der 758  HA III/6/T vom 13.7.1962: Unterredung mit Schober; BStU, MfS, AOP 771/63, 1 Bd., Bl. 209–211. 759  HA III/6/T vom 6.2.1963: Aktennotiz zu Havemann; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 170. 760  Steenbeck, Max: Perspektiven der wissenschaftlich-technischen Entwicklung in der DDR und Forderungen an den Nachwuchs. Druckschrift des Deutschen Instituts für Berufsbildung. Tagung an der Fakultät für Berufspädagogik der TU Dresden zu Fragen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung vom 1.–21.9.1964; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 132, S. 1–8, hier 4.

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DAW sowie auf der Ebene des Forschungsrates. Er versuchte scheinbar kleinere, aber für die Wissenschaft bedeutende Aspekte kritisch darzustellen. Die Prognosetechnik sei aus seiner Sicht unverzichtbar, dennoch warnte er »vor zu detaillierten Prognosen«. Zu seiner Studienzeit wären Antibiotika, Raumfahrt und der Transistor undenkbar gewesen. »Die inzwischen weitaus größer gewordene Entwicklungsgeschwindigkeit« mache »heute zuverlässige Prognosen im Detail noch schwieriger«. Steenbeck hielt konsequent sein halbpessimistisches (reales) Bild von der Entwicklung der Menschheit bei und teilte oft nicht zwischen Sozialismus (GUT) und Kapitalis­mus (BÖSE) ein: »Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Entwicklung auf der Erde noch ziemlich lange am Rande einer Katastrophe erfolgen wird; dass diese Katastrophe dann tatsächlich nicht eintritt, wird der Lebenswille der Menschen bewirken müssen.«761 Was könne man überhaupt tun? »Ein beschränktes Gebiet gut kennenzulernen, bis in die Tiefen, in denen die Unsicherheit beginnt, in diesem Gebiet auch in einigen Ecken Staub zu wischen und damit die schwere Kunst zu lernen, vernünftige Fragen zu stellen, Probleme zu sehen, das Selbstdenken zu üben und nicht nur das Nach-Denken, das nur zu leicht zum Nachschwätzen wird, das sind die Voraussetzungen für solides schöpferisches Arbeiten.« Notwendig sei die »Erziehung zum selbstständigen Denken. Kann unser heutiger Lehrkörper diese Aufgabe lösen?« Die Antworten, die Steenbeck gab, deuten eher auf ein Nein hin. Aber vom Nachwuchs selbst seien nicht »alle zum Selbstdenken bereit oder fähig«. Dies solle bei ihrem Einsatz beachtet werden. Das selbstständige Denken sei aber nicht nur in den naturwissenschaftlichen Bereichen notwendig, es sei »für den gesellschaftswissenschaftlichen Bereich genauso nötig«.762 Die Botschaft für die Zuhörer war deutlich: Lernt das Eigentliche in Forschung und Technik. Das Prinzip der Subsidiarität fehlte in der Zentralverwaltungswirtschaft. Dieses Prinzip, das typisch in der Forschungspolitik von Siemens war, ist zur Zeit des Nationalsozialismus kaum ausgehebelt worden, in der DDR ab den 1960er-Jahren zunehmend und unter Honecker total. Otto Lucke vom Institut für Meteorologie und Geophysik der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der HU Berlin hatte sich Notizen über die 1. Sitzung des Sektionskonsiliums der DAW am 25. Oktober 1963 gemacht. Es ist ein Schlüsseldokument. Der Forschungsrat werde von nun an »die meisten der bisherigen Aufgaben der Klassen« übernehmen. Die Sektionen hätten nun »die Aufgaben vom ZAK des Forschungsrates für die Erkundungsforschung und die gezielte Grundlagenforschung« bekommen. Das Sektionskonsilium sei die Gemeinschaft der Sektionen. Das habe die Aufgabe, »die Planung der wissenschaftlichen Forschung durchzuführen und den Kontakt zwischen den Sektionen herzustellen«. Eine Beschreibung, die zeigt, dass zwei Akteursgruppen völlig fehlten: die auftraggebende und auftragfördernde Industrie auf der einen, und die Wissenschaftlergruppen auf der anderen Seite. Die eine, die Raum, Zeit und Geld zu geben hatte, die andere, die nach Planung vorgegebene Aufgaben­ 761  Ebd., S. 5 f. 762  Ebd., S. 7 f.

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stellungen, gegebene und eigene, zu realisieren hatte. Lucke weiter: Basierend auf dem neuen Statut der DAW 763 sei auch die zukünftige Planung der wissenschaftlichen Forschung diskutiert worden: »Für ein Forschungsunternehmen müssen Thema, Methode und Ziel von vornherein« feststehen. Es müsse klar sein, »was in der DDR schnell genug durchgeführt werden« könne: entweder für die Wirtschaftsentwicklung oder Grundlagenforschung. »Fragen wie: ›Sind Mittel genug vorhanden, dass wir Schritt halten können?‹«, müssten ernstlich »diskutiert werden«. Das waren gleichsam Minimalforderungen der Wissenschaft. Da aber auch die finanziellen Zuflüsse für die Forschung nicht steigen würden, müssten die Themen der Institute auf Schwerpunkte ausgerichtet werden. Für »unvorhergesehene Fragen« stünden lediglich 5 Prozent der Mittel zur Verfügung. Die Auswahl der Schwerpunkte sei aber auch deshalb wichtig, um sie in den Staatsplan aufnehmen zu können. Diese würden bei Mittelzuschüssen bevorzugt behandelt werden, was wiederum »für die Perspektive des wissenschaftlichen Nachwuchses« von Bedeutung sei. Folglich müsse eine Bestandsaufnahme der Themen und deren »kritische Revision« erfolgen. In die Kritik flössen der Rang des Themas in der Wissenschaftsentwicklung und seine Resonanz in der Weltwissenschaft ein. Letzteres müsse nachgewiesen werden. Die Institute »sollen aufgefordert werden, ihre Themen zu verteidigen«. Und die harte Botschaft: »Unfruchtbare Institute sollten eingehen.« Eine Rangordnung der Themen sei zu erstellen. »Die Rechte der Sektionen und des Konsiliums« seien, so notierte Lucke, »gegenüber den Aufgaben ziemlich mager«. Diese Gremien hätten »keinen Einfluss auf die Exekutive«. Für Mittel könnten sie lediglich Empfehlungen geben »oder sie verweigern«. Die Sektionen hätten »das Recht, die Gründe zu erfahren, weshalb einige ihrer Empfehlungen abgelehnt wurden«. Der beschlossene Plan für die Arbeit der Sektionen und ihres Konsiliums sah vor, beginnend im November 1963 die Vorarbeiten abzuschließen, im Frühjahr 1964 sollte die Abwägung der Forschungsthemen durchgeführt werden, um im Endeffekt den Forschungsplan für 1965 zu bilanzieren.764 Keine Prognose ohne Rückschau, keine Zukunft ohne Gewesenes. Wilhelm Hofweber (Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 1) analysierte in einem offenbar offiziellen Schreiben vom 6. November 1964 die informelle Auswertearbeit im Staatssekretariat für Forschung und Technik (SFT). Wie so oft in der Zentralverwaltungswirtschaft hieß es, dass das eingehende Material nicht jedem zukomme, es werde »nur teilweise ausgewertet« werden, liege »verstreut« herum und ginge »schließlich in der Fülle verloren oder« gerate gar »in Vergessenheit«. Über die »unzähligen internationalen Protokolle und Beschlüsse aller Ständigen Kommissionen des RGW« fehlten jegliche Übersichten. Verflechtungen könne man so nicht nachgehen. Es sei 763  Das Statut trat mit Wirkung vom 2.5.1963 in Kraft, veröffentlicht im Gesetzblatt der DDR, Teil II, 1963, Nr. 73, S. 571. In ihm ist unter § 15 auch die Rolle von staatlichen Organen bei der Gestaltung der Forschungspolitik der Forschungsgemeinschaft und des Sektionskonsiliums verankert (Bl. L III/141). 764  Lucke: 1. Sitzung des Sektionskonsiliums am 25.10.1963; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 239, S. 1 f.

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»aber notwendig, bei Bedarf kurzfristig alle im SFT eingegangenen Nachrichten über ein bestimmtes Gebiet zusammenfassen zu können, um die Sachlage auf einem bestimmten Gebiet darzustellen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen«. Dies könnten nur jene, die über das notwendige Fachwissen verfügten. »Eine ›formale‹ Auswertung durch Nicht- oder Halbwisser (auch mit Diplom!) würde nur die Akten vermehren.« Dies zu vermeiden, halte er aufgrund der geringen Kapazitäten an guten, zur Verfügung stehenden Fachkräften leider für aussichtslos. Im SFT würden lediglich nur etwa 10 Prozent des Materials irgendwann einmal benötigt, »ohne dass irgendjemand vorhersagen« könne, »welcher Teil dies sein wird«.765 Hofweber schlug ein praktikables, in Stufen konstruiertes Verarbeitungsprogramm der Nachrichtenquellen vor.766 Steenbeck zeigte sich 1964 überzeugt, dass es für die Gesamtplanung der Volkswirtschaft des Forschungsrates bedürfe. Der bestand zu dieser Zeit aus circa 60 anerkannten Wissenschaftlern, die berufen und staatlich bestätigt wurden. Es war »das höchste beratende Organ des Ministerrates der DDR« für sämtliche Fragen der Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft. Exekutivrecht besaß es nicht. Es sollte laut Steenbeck das »Nerven- und nicht« das »Muskelsystem im Wirtschaftskörper« darstellen. Bei seiner Arbeit stützte er sich auf das Staatssekretariat für Forschung und Technik (SFT), dessen Leiter gleichzeitig 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Forschungsrates war und den für den Forschungsrat notwendigen Apparat als Teil seines Staatssekretariats leitete. Der Vorsitzende des Forschungsrates selbst und seine zwei Stellvertreter waren Wissenschaftler mit technischer Erfahrung. Zum Vorstand des Forschungsrates gehörten vor allem »hohe Vertreter von Partei und Regierung, ferner die Präsidenten der Akademien, der Rektorenkonferenz der Universitäten und Hochschulen und der Kammer der Technik« (KdT). Die Verbindung des Forschungsrates zur Wissenschaftsbasis wurde über circa 100 Zentrale Arbeitskreise (ZAK), »die jeweils ein Spezialgebiet der technischen Entwicklung« repräsentierten (zum Beispiel »Zentraler Arbeitskreis Chemie«), realisiert. Ferner existierte »eine völlig analoge Funktion für die Planung der Grundlagenforschung« an der Akademie in den Sektionen, »die in dieser Aufgabe Organe des Forschungsrates« seien. Die ZAK seien, so Steenbeck, aus den »Bedürfnissen der Praxis« entstanden. Jedem ZAK war ein namentlich festgelegtes Mitglied des Forschungsrates zugeordnet. Die Leiter der ZAK waren »nicht notwendig selbst Mitglieder des Forschungsrates«.767 Das Plenum des Forschungsrates trat etwa einmal im Jahr zusammen. Hier wurden globale und Querschnittsfragen behandelt. Das Protokoll der 1. Sitzung des ZAK Plasmaphysik vom 21. November 1966 steht beispielhaft für die Konstituierung solcher Arbeitskreise im Forschungsrat 765  Hofweber vom 6.11.1964: Auswertung des im SFT eingehenden Nachrichtenmaterials; BStU, MfS, AIM 309/67, Teil II, Bd. 3, Bl. 228–237, hier 228. 766  Vgl. ebd., Bl. 229–232. 767  Steenbeck, Max: Grundlagen, Aufgaben und Arbeitsweise des Forschungsrates der DDR, in: Die Technik, 19(1964)10, S. 656–659, hier 657.

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der DDR und für die beiden neuen Schwergewichte in der Umsetzung der Wissenschaftspolitik der SED: Prognose und Konzentration.768 Günter Vojta erläuterte den elf Anwesenden, unter ihnen Waldemar Buschinski, Vertreter des Staatssekretariats für Forschung und Technik (Kap. 4.2.2), »die Notwendigkeit der Gründung eines Zentralen Arbeitskreises Plasmaphysik und seine Aufgaben. Der ZAK Plasmaphysik ist ein Organ des Forschungsrates der DDR und wurde durch ihn einberufen.« Seine »wesentlichen Aufgaben« lägen »in der Koordinierung der Forschung auf dem Gebiet der Plasmaphysik in der DDR und der prognostischen Einschätzung der Entwicklung der Plasmaphysik im Weltmaßstab sowie in der DDR«. Es ging um folgende Fragen: der »Konzentration der Forschungskapazitäten«, der »Schaffung neuer Forschungsmöglichkeiten, der rationelleren Nutzung der vorhandenen Forschungseinrichtungen sowie« der »Organisation von nationaler und internationaler Zusammenarbeit und von Tagungsbesuchen«. Besonders wichtig war die »vorrangige Behandlung volkswirtschaftlich wichtiger Probleme der Grundlagenforschung«, die »durch Empfehlung des ZAK gesichert werden« sollte. Zur Wandlung des Lenkungsinstruments führte Vojta aus: »Die früher erzeugnisgebundene Organisationsform der Zentralen Arbeitskreise und die von der Industrie isolierte Existenz der Unterkommissionen hat sich als nicht zweckmäßig erwiesen.« Die jetzt gefundene Form der ZAK erlaube »organunabhängige Empfehlungen dem Forschungsrat zu erteilen, die vom Forschungsrat dem Staatssekretariat für Forschung und Technik als Exekutivorgan zugeleitet« würden. Die ehemalige Unterkommission Plasmaphysik werde deshalb aus diesen Gründen aufgelöst. Der ZAK Plasmaphysik gehörte der Gruppe 11, »Physik und Mathematik«, an, die von Artur Lösche geleitet wurde. Zu ihr gehörte ferner die ZAK Mathematik, Grundlagenprobleme der Theore­ tischen Physik, Festkörperphysik und Kernphysik. Ernst August Lauter nahm als Forschungsratsmitglied die Interessen der Plasmaphysik wahr. Zur Abgrenzungsproblematik des Fachs wurde u. a. ausgeführt, dass die Verbindung zur Astro- und Geophysik über Lauter »in seiner Eigenschaft als für den ZAK Plasmaphysik zuständiges Mitglied des Forschungsrates« realisiert werden würde. Dem ZAK Plasmaphysik war sofort die Aufgabe übertragen worden, bis zum 1. Januar 1967 »eine Erstfassung einer langfristigen wissenschaftlichen Prognose der Entwicklung der Plasmaphysik im Weltmaßstab sowie über die möglichen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft der DDR aufzustellen«. Zur Realisierung der Aufgabe wurden vier Arbeitsgruppen benannt und deren konkrete Arbeitsziele terminiert festgelegt. Doch schon auf der ersten Sitzung, zu einem dritten und letzten Punkt, den Auslandsreisen, schlugen die Ressourcenengpässe durch: es wurde mitgeteilt, »dass die Valutamittel für Reisen in das kapitalistische Ausland und nach Westdeutschland für 1967 empfindlich gekürzt« worden seien.769 768  Die weiteren Mitglieder der Gruppe 11: Lösche, Lauter, Rompe, Richter, Schröder sowie Treder (Theorie), Brauer (Festkörperphysik) und Schintlmeister (Kernphysik). 769  Wolff, H.: Protokoll der 1. Sitzung des ZAK Plasmaphysik vom 21.11.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 387, S. 1–6. Die Reisemittel für 1967 betrugen nur noch 3 700 MDN.

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Zur Frage, wie sich die Arbeit bezüglich der Planungsarbeit des Forschungsrates vollzog, führte Steenbeck aus, dass die Verantwortung für den Plan bei der Staatlichen Plankommission (SPK) liege. Der Forschungsrat konnte nach Bedarf beratend eingreifen. Dagegen durfte der Forschungsrat Entwicklungsfragen beurteilen, also Zukunftsfragen beantworten. Solche Fragen der künftigen Praxis zum Beispiel waren: »Welche Forschungen und Entwicklungen müssen in langfristiger Voraussicht schon heute begonnen oder bevorzugt gefördert werden und wo können diese durchgeführt werden?« Idealiter sollte so ein detaillierter Plan(entwurf) nach den von der SPK »in Abstimmung mit dem Forschungsrat gegebenen Richtlinien« entstehen. Die würden dann vom SFT zusammengestellt werden. Sie würden dann wiederum »in zum Teil sehr eingehender Diskussion von den jeweiligen Gruppenleitern des Forschungsrates vor der Plankommission und Vertretern anderer Organe und Ministerien verteidigt werden«. Die wichtigsten sollten dann »zu Staatsplan-Themen erklärt« werden. Die Pläne waren von Jahr zu Jahr zu präzisieren und sollten somit immer realistischer werden.770 Nun war Steenbeck zu klug, um nicht gesehen zu haben, dass die geschaffenen, an Kybernetik erinnernden Strukturen starr waren. Drei Jahre später, im Schlusswort auf der Plenartagung des Forschungsrates am 9. Juni 1967, ignorierte er dieses Wissen und führte – nachdem er zunächst seine völlige Einigkeit mit dem Grundsatzreferat von Herbert Weiz erklärt hatte – aus, dass die bisherige Arbeit des Forschungsrates erfolgreich verlaufen sei und dass insbesondere »ein systematisches In-die-Zukunft-Denken« neue Fragestellungen eröffnet habe. Man möge bedenken, dass wegen der Gefahr der Zersplitterung nicht alles bearbeitet werden sollte. »Wir müssen auch den Mut zu einer bewussten Unvollkommenheit haben.« Wichtig blieb die Konzentration auf Schwerpunkte. Es sollte gelingen, »fundiert auch die Grenzen angeben« zu können. »Bei der Aufstellung des nächsten Perspektivplanes der naturwissenschaftlichen Forschung für die Zeit ab 1970« sollten »grundsätzlich Pläne und Maßnahmen, Institutsumprofilierungen, Neugründungen usw. in Zukunft nicht mehr nach der Opportunität für eine Augenblickslösung« bedacht werden, »sondern ausschließlich anhand der durch Prognosen begründeten Entwicklungsrichtung«. Vor allem sollte »der Konzentrationsprozess mit aller Konsequenz weiter vorangetrieben werden«. Immer müsse auch ein Partner auf der Anwenderseite vorhanden sein. Steenbeck sah die wechselseitigen Schwierigkeiten durchaus, Zitat: »Wir müssen alle daran mitarbeiten und dafür sorgen, dass in der Industrie diese aufnahmebereiten Partner entstehen.«771 Ob man dies nun Planideologie, Planeuphorie oder auch anders heißen mag, letztendlich war es nur ein Theoriegebilde, das den fehlenden Markt nicht zu ersetzen in der Lage war. Steenbeck versuchte, die Kritiker zu beruhigen, auch künftig werde Erkundungsforschung möglich bleiben, nicht alles dürfe utilisiert werden, auch »um geistig be770  Steenbeck: Grundlagen, Aufgaben und Arbeitsweise des Forschungsrates der DDR, S. 658. 771 Steenbeck: Schlusswort auf der Forschungsrat-Plenartagung am 9.6.1967; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 152, S. 1–7, hier 1–4.

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weglich genug« bleiben zu können. Vielleicht, so Steenbeck, solle man als Stimulans einen Preis stiften. Wichtig aber solle bleiben, dass »solche Arbeiten« nicht »zu einem lockenden Schlupfwinkel für Leute« würden, »die vor einer Erfolgskontrolle ihrer Arbeiten Angst« hätten.772 Ein solcher Ansatz aber, der letztlich aus fiskalischen Gründen kam, war für den Bereich der Grundlagenforschung nahezu tödlich, denn Forschen und freies Denken bedarf einer weitestgehenden Kontroll-, Ideologieund vor allem Handlungsfreiheit. Hätte es einen freien Markt gegeben, hätte niemand in der Administration Angst vor faulen Wissenschaftlern haben müssen. Die Faulheit wurde vielmehr regelmäßig von außen stimuliert und erzeugt, nämlich über ideologisch präferierte Personalauswahl und Kontrolldruck. Obgleich Steenbeck dies mit Sicherheit auch so gesehen hat, glaubte er in seinem Schlusswort sagen zu müssen: »Vor solchen Leuten müssen wir uns überall schützen. Wenn schon die Durchführung jeder Forschungsarbeit ein Kredit ist, den die Gesellschaft dem Forscher gibt und der den Forscher verpflichtet, so gilt das ganz bestimmt auch für die Erkundungsforschung. Gerade hier hat darum nicht jeder Anspruch auf diesen Kredit, sondern nur der, der seine Kreditwürdigkeit schon bewiesen hat.«773 Der letzte Satz war freilich realitätsfern, denn wie sollte ein Jungtalent etwa zu einem »Kredit« kommen, der sicher immer einige Jahre zu leisten war, bis sich die fruchtbaren Ergebnisse einstellten? Steenbeck wusste, dass die Resonanz auf »die Aufstellung dieses ersten Perspektivplanes der naturwissenschaftlichen Forschung zunächst keineswegs überall begeisternde Zustimmung gefunden« hatte, »dass sich aber diese ehrliche und solide Arbeit doch ganz eindeutig gelohnt« habe.774 Inwiefern dies zutraf, führte Steenbeck nicht aus. Es waren solche Auftritte, die bei seinen Kollegen immer wieder den Vorschuss, den er sich zweifellos erwarb, schmelzen ließen. Dieser erste Perspektivplan kam keineswegs aus den Kinderschuhen heraus. Wirklich gelernt hatte man aus den »Irrungen und Wirrungen« effektiv nie, auch Rompes kluge Ratschläge halfen nicht. Bereits am 8. Februar 1965 hatte er darauf hingewiesen, dass für die Umsetzung des ersten Perspektivplans der naturwissenschaftlichen Forschung »nicht zu erwarten [sei,] »dass alle Einzelheiten des Erarbeiteten eine endgültige Form haben« würden. Es sei »aber wichtig zu lernen, wie man einen solchen Plan erarbeiten« müsse.775 Auf der Plenartagung des Forschungsrates am 9. Juni 1967 war es zu keinem Streitgespräch gekommen, es kam zu keinem »Aufeinanderprallen verschiedener Meinungen«, wie man es wegen der aufgehäuften Probleme hätte erwarten müssen. Der Kreis war einmal mehr zu groß, die Gebiete, über die berichtet worden war, waren »in Ausgangspunkt und Richtung zu unterschiedlich«. Einer Andeutung Steenbecks nach, muss auf diesen Schwachpunkt wenigstens Leibnitz hingewiesen 772  Ebd., S. 5. 773 Ebd. 774  Ebd., S. 6. 775  Diskussionsbeitrag von Rompe am 8.2.1965; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 281, S. 1 f., hier 1.

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haben, wonach es »zu einer ganzen Anzahl ernsthafter Diskussionen« hätte kommen müssen.776 Doch es sollten noch fünf Jahre bis zur »Reparatur« vergehen. Zur (komplizierten) Struktur der Wissenschafts- und Forschungsorganisation zum Zeitpunkt der Akademiereform und zur finalen Beseitigung Lauters aus seinen administrativen Machtfunktionen (Kap. 4.2): Formal unterstand die Akademie dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, die Verantwortung nahm der damalige Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, Weiz, wahr. Die Planung der Forschungsaufgaben erfolgte in Abstimmung mit dem MWT, verteidigt wurden sie vor dem MWT. Das nahm diese in den Staatsplan Wissenschaft und Technik auf. Die Auftragsforschung war zwar keine völlige Abkehr von der Grundlagenforschung, jedoch eine planungsstrategische und ökonomische Verzahnung der Akademie mit der Industrie. Es war gewollt, dass die Grundlagenforschung in den Industriebereichen leitungs- und planungsmäßig von der Akademie besorgt werden sollte,777 wogegen sich Klare 1972 aus Gründen der »Überforderung der Leitung der DAW« wandte.778 Der Forschungsrat – als zentrales beratendes Organ des Ministerrates für wissenschaftlich-technische Fragen  – stand wiederholt in der Kritik. 1972 bestand der Forschungsrat aus 14 Fachgruppen und 77 ihnen untergeordneten Zentralen Arbeitskreisen.779 Ob Günter Prey in seiner Eigenschaft als Minister des MWT vom MfS gebeten worden war, über die aktuelle Wissenschaftsorganisation am 16. November 1970 zu informieren oder dies aus freien Stücken oder qua Amt tat, wissen wir nicht. Zum gleichen Thema, aber mit Bezug auf die DAW, war es der Wunsch des MfS, Prey am 2. Dezember 1970 zu hören. Das Grundthema war die »Gestaltung der sozialistischen Wissenschaftsorganisation im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Volkswirtschaftsplanes« für 1971 und der Perspektivplan 1971 bis 1975. Prey informierte über eine Reihe von Unzulänglichkeiten, in Sonderheit über Abstimmungs­probleme zwischen und innerhalb der volkswirtschaftlichen Zweige.780 Er fasste seine Sorge um »einen wirklich real bilanzierten Volkswirtschaftsplan« in drei Hauptpunkte zusammen, die er im Grundsatz in der Sitzung des Ministerrates zuvor am 11. November 1970 auch so vertreten hatte. Von der Chronologie her ist zu vermuten, dass das MfS die Aussprache gesucht hatte, da es von Preys Kritik gehört haben dürfte. Zu den drei Kritikpunkten: 776 Steenbeck: Schlusswort auf der Forschungsrat-Plenartagung am 9.6.1967; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 152, S. 1–7, hier 6 f. 777  Verordnung über die Leitung, Planung und Finanzierung der Forschung an der Akademie der Wissenschaften und an Universitäten und Hochschulen der DDR, in: Gesetzblatt der DDR, Teil II, 1972, S. 589. Siehe zum staatspolitischen Verständnis dieser für die Forschung so einschneidenden Gesetzeslage Hanke, Peter: Planungsprobleme in der Grundlagenforschung. Berlin 1975. 778 MfS vom 20.5.1972: Zur Entwicklung der DAW; BStU, MfS, HA  XVIII, Bdl.  444, Bl. 1–24, hier 24. 779  Vgl. ebd., Bl. 4 f. 780  HA XVIII/5 vom 18.11.1970: Information; BStU, MfS, AIM  10537/84, Teil  I, 1  Bd., Bl. 56–58.

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Die abgegebenen Konzeptionen zur Wissenschaftsorganisation der Zweige stünden »noch nebeneinander«. Sie seien »nicht exakt in der Aussage zwischen Zielstellung  – Investition  – Folgeinvestition und Kooperation zu anderen Zweigen bilanziert und damit, weil exakte Berechnungen fehlen, nicht im Detail planbar«. Ein zweiter Hauptkritikpunkt betraf den »Prozess der Planung und Bilanzierung zwischen solchen grundlegenden Verhältnissen wie Werkstoff  – Technologien  – leistungsfähige Anlagen oder die Herbeiführung einer verknüpfbaren Kette von Verfahrensauswahl  – Metallurgie und Maschinenbau«, dies werde »noch nicht beherrscht«. Schließlich verwies er auf die Verschuldungsproblematik im Osten und im Westen und plädierte dafür, dass diese Prämissen »Grundlage der echten Berechnung der Reproduktionsfähigkeit« werden sollten. Auch die Prognose sei davon abhängig, nämlich die Frage, welches real erreichbare volkswirtschaftliche Wachstum überhaupt möglich sei.781 Am 2. Dezember 1970 ging es um die wichtige Frage der Einbindung der Akademie in industrielle Aufgaben. Prey soll die Auffassung vertreten haben, dass die Forschungsorientierung der Akademie nicht in Analogie zu der in der volkswirtschaftlichen Struktur stehen solle. Die Akademie dürfe »nicht schlechthin als eine Entwicklungsabteilung der Industrie angesehen werden«. Er sei »der Ansicht«, dass das MWT »auf der Grundlage des Prinzips der auftragsgebundenen Forschung der entscheidende gesellschaftliche Auftraggeber der DAW« sein müsse. Diesem Grundsatz sei er bislang gefolgt. 1971 würde das circa 40 bis 50 Prozent der DAW-Kapazität »im Interesse der Erkundungs- und Vorlaufforschung (Basis: Plan Wissenschaft und Technik) binden«. Er begründete dies damit, dass die Leistungsangebote der DAW »nicht den Anforderungen und Vorstellungen des MWT« entsprächen.782 Der folgende bedeutende Satz von Prey, der gewissermaßen der aktuellen Wissenschaftspolitik der DDR einen Strich durch die Rechnung machte, lautete, dass das »Hauptsteuerungsinstrument in der Forschung der Akademie« unbedingt wieder »auftragsgebundene, über den Haushalt des MWT finanzierte WK (Wissenschaftskonzeptionen) werden« müssten, »um die gegenwärtig durch Industrieaufträge hervorgerufene Zersplitterung allmählich zu überwinden«.783 Nichts war logischer, nichts den Grundsätzen von Wissenschaft und Forschung näher. Man kann es mit Gründen auch so nennen: Die Zersplitterung ist nicht beseitigt, sondern sogar noch vermehrt worden. Des Weiteren erörterte Prey Hauptrichtungen der interdisziplinären Forschung für die DAW auf den Feldern der Molekularbiologie, Informatik, Werkstoffe und Mikroprozesse. In den übrigen Forschungsgebieten wie Astronomie, Mathematik und Raumforschung zum Beispiel, die trotz ihres eingeschränkten Nutzeffektes »nicht vernachlässigt werden sollten«, sei diese »Erkundungs- und Erkenntnisforschung im vertretbaren Rahmen zu halten«. In summa jedoch seien all

781  Ebd., Bl. 57. 782  HA XVIII/5 vom 4.12.1970: Aussprache des MfS mit Prey; ebd., Bl. 59–64, hier 59 f. 783  Ebd., Bl. 60.

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diese Gebiete »eindeutig in den Bereich der Grundlagen-, Vorlauf- und Erkenntnisund Erkundungsforschung einzuordnen und ausschließlich für das Potenzial der DAW« zu nutzen. Und dann folgte ein Satz, der schlicht die aktuelle SED-Strategie widersprach; Zitat: »Die unmittelbare industriewirksame Anwendungsforschung muss ihre natürliche Basis in den Großforschungszentren und Forschungseinrichtungen bei den Kombinaten der Industrie haben.«784 Preys Auftritt am 11. November 1970 im Ministerrat und seine anschließenden Erläuterungen vor dem MfS mögen sein Ende als Minister eingeleitet haben (Kap. 3.5.1, Exkurs 4). Natürlich hatte die DDR jederzeit Zugriff auf das Weltwissen, sie hatte Organe und Stabsstellen, Wissenschaftler und Referenten, die sich mit solchen Fragen beschäftigten. Sie hätte sich beispielsweise frühzeitig an Heinrich Siedentopf orientieren können, der für Deutschland spätestens 1949 erkannt hatte, dass mit dem aus England stammenden Begriff der »Operational Research« eine Planungsforschung notwendig und interessant wurde, die sich den modernen industriellen Bedingungen mit Notwendigkeit stelle. Schon in dieser frühen Zeit war erkannt worden, dass die industrielle Planungsforschung von der Betriebsleitung zu trennen sei, »freie Mitarbeiter« und / oder kleine Forschergruppen »besonders fruchtbar« seien. Neben Fachkenntnissen sei die Fähigkeit wichtig, »die Dinge im großen Zusammenhang zu sehen sowie das Geschick, ein gutes Vertrauensverhältnis zur Betriebsleitung, den Entwicklungsabteilungen und der Arbeiterschaft herzustellen«.785 Hartmann und Barwich strebten genau diese Trennung – aus analogen Erkenntnissen – an. Siedentopf zeigt sich in Übereinkunft mit englischen Forschern überzeugt, »dass Naturwissenschaftler zur Lösung von Planforschungs-Aufgaben besonders be­ fähigt« seien. Und weiter: »Daher sollte auch bei uns für verschiedene Aufgaben der industriellen Planung und der staatlichen Verwaltung die Heranziehung von Naturwissenschaftlern anstelle von Juristen, Kaufleuten und Technikern von größtem Nutzen sein.«786 Tatsächlich hatte die DDR diesen Denkertyp unter Ulbricht sogar in der Admi­ nistration: Erich Apel und eben Günter Prey. Apel erschoss sich, Prey geriet unter Honecker rasch auf das Abstellgleis. Sie waren die letzten dieser Zunft des Denkens in großen, modernen Zusammenhängen. Peter Weingarts »Wissensproduktion«, 1976 gedruckt, zu einer Zeit, als der Staatssozialismus noch eine unerschütterliche Realität schien, die zwangsläufig zu Fragen der Wissenschaftspolitik, -planung, -entwicklung, -geschichte, -philosophie und -soziologie direkt oder zumindest indirekt immer auch solche Denkansätze beinhaltete, hat mit Sicherheit, etwa im Institut für Politik und Wirtschaft (IPW) der DDR, vorgelegen. Man hätte – 784  Ebd., Bl. 60–62. 785  Demnach entstand die Planungsforschung während der Schlacht um England (Angriffe, Abwehr, Kapazitäten); wesentliche Akteure waren die Professoren Blackett und Williams sowie nach dem Krieg Goodeve; vgl. Siedentopf, Heinrich: Planungsforschung, in: Physikalische Blätter 5(1949)5, S. 201–205, hier 204. 786  Ebd., S. 204 f.

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systeminvariant – aus solchen Werken durchaus lernen können. Zu den namhaften Autoren, die sich dezidiert mit analogen östlichen Fragen befassten, zählte Michael Polanyi. Weingart: »Bei der Analyse von Wissenschaftsplanungskonzeptionen ist das entscheidende Kriterium, wie sich die Planungsmechanismen zu den Eigenregulativen der Wissenschaften verhalten, d. h., ob sie diese unberührt lassen oder partiell oder ganz außer Kraft setzen, denn nur daraus ergeben sich die tatsächlichen Auswirkungen auf die Wissenschaftsentwicklung.«787 Für die DDR traf diese Frage nachgerade universell und generell zu. Die Physik hatte als erste Disziplin eine gewisse paradigmatische Entwicklung hinsichtlich der industriellen Einformung erreicht (pionierhaft bei Siemens). Da wo dieses gleichsam feste Stadium (noch) nicht erreicht war, »fehlte«, so sieht es auch Weingart, »ein intern bestimmtes Forschungsprogramm, das die Wissenschaft gegenüber externen Zwecksetzungen resistent gemacht hätte«.788 Offenbar aber folgte im fortgeschrittenen Stadium der Paradigmatisierung einer Spezialdisziplin, wie wir dies im Fall der modernen Physik (Quantenphysik) beobachten können, eine historische Periode, in der die Resistenz deutlich an Festigkeit gewann und als Haltung und Geist selbst auch auf andere Disziplinen übergriff. In der DDR jedenfalls, das haben wir oben gesehen, kam es nicht zu dieser »Festigkeit«. Wenn Weingart »das bestimmende Prinzip der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems in der Entstehung der Vorstellung der ›reinen‹ Wissenschaft«, der Grundlagenforschung sieht,789 trifft diese Universalie jedoch nicht auf die DDR zu. Hier war die Grundlagenforschung durch die permanenten »Planspiele« und manifeste Ressourcenengpässe gefesselt, milde formuliert: sie verlor zunehmend an Elastizität. Doch all dies wurde von Machtkämpfen und Kräftezersplitterungen noch zusätzlich überformt. Ein Beispiel aus der Praxis der von der SED insbe­ sondere ab 1972 geforderten langfristigen Planung bis 1990: Die AdW hatte diese nun auch für die Grundlagenforschung zu erarbeiten. Viktor Kroitzsch war Sekretär der Programmkommission, der u. a. Ernst August Lauter, Hans-Jürgen Treder und Heinz Stiller angehörten. Diese drei waren mit der Forschungsgruppe Geo- und Astrowissenschaften befasst. Stiller hatte eine Konzeption vorgeschlagen, die auf der Basis »von Vorstellungen« des Offiziers im besonderen Einsatz (OibE) Horst Fischers, Mitarbeiter im MWT, entstand (!). Sie sah unter der Überschrift »Konzep­ tion Kosmische Physik« vier Forschungsrichtungen vor: Interkosmos-Forschung, Physik des Kosmos, Ressourcen und Umwelt. Treder war dezidiert der Meinung, dass die Physik bei dieser Zusammenballung deutlich überfordert sei. Nach ihm sollte die Kosmische Physik in der Physik, Interkosmos-Forschung im Gerätebau, die Ressourcen in der Geologie und die Umwelt im neu zu schaffenden Bereich »Umweltforschung« bearbeitet werden. Das war logisch. Unten, im zweiten Haupt-

787  Weingart: Wissensproduktion und soziale Struktur, S. 136. 788  Ebd., S. 140. 789 Ebd.

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kapitel, wird gezeigt, dass diese Logik des Fachs gar nichts galt. Kroitzsch vertrat gegenüber FIM »Gerlach« die Meinung, dass Treder sich nicht durchsetzen werde.790 Stets ist die Kräftezersplitterung beklagt worden.791 Bereits im Bereich des VEB Physikalische Werkstätten (Plasmaphysik) Berlin-Rahnsdorf war es zu Machtkämpfen zwischen Rompe und Steenbeck gekommen. Der Betrieb (siehe S. 186) war selbst Produkt und Herd einer Kräftezersplitterung, er ging einerseits über in das III. Physikalisch-Technische Institut (PTI), später dann in das ZOS (Quanten­ optik), andererseits partiell ins ZISTP (HHI) und von hier später in das IE resp. IKF. Und obendrauf war noch das Militärproblem gesattelt. Auch hier liefen strukturelle Maßnahmen im Zusammenhang mit militärischen und / oder MfS-Aufgaben. 1965 betrug der geplante Anteil der »Sonderforschung für das MfS« im III. PTI sage und schreibe 70 Prozent.792 Wegen drastischer Mittelkürzungen kam es in Sonderheit zu Personalproblemen, zudem waren die gerätetechnischen Mittel knapp. Man war daran gewöhnt. So hieß es drei Tage vor dem Bau der Mauer für den VEB Physikalische Werkstätten, dass für das Planjahr 1962 »alle Mittel für den Kauf von Materialien und Geräten aus dem kapitalistischem Währungsgebiet gestrichen worden« seien.793 Wie oben bereits referiert, befassten sich 1959 in der DDR mindestens sieben Einrichtungen mit knapp 100 Mitarbeitern mit Themen der Plasmaphysik, doch dürfte dies an sich nicht das eigentliche Problem gewesen sein. Gut möglich, dass gerade die Beseitigung der Kräftezersplitterung kontraproduktiv war, da gerade sie den fehlenden Markt ein wenig zu kaschieren schien. Was Not tat, war nicht diese Kräftezersplitterung aufzuheben, sondern zunächst einen verbesserten Informationsaustausch zu organisieren. Auch mit der Industrie. Paul Görlich von Carl Zeiss Jena hatte auf einer Sitzung des Forschungsrates 1967 das Forschungsprogramm der Akademie deutlich kritisiert, da es »den Erfordernissen der Industrie« nicht entspreche.794 Auch nach der Akademiereform hatte die DDR das Problem der Zersplitterung immer noch nicht gelöst. Wir wissen, dass die SED primär den Austausch der Eliten und die Industrieanbindung im Blick hatte (analog der 3. Hochschulreform); Hermann Peiter: »In einer vertraulichen Verschlusssache (Vorlage zur Sitzung des Sekretariats der KL [Kreisleitung der SED  – d. Verf.] am 23. Mai 1969: Kadernomenklatur der SED-KL der DAW) ist festgeschrieben: ›Sämtliche Ernennungen von Wissenschaftlern der DAW zu Professoren der Akademie fallen unter die 790  BV Potsdam: Bericht von »Geos« am 6.3.1973; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM  973/85, Teil II., Bd. 2, Bl. 139 f. 791  Vgl. Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 10.11.1959; BStU, MfS, TA 316/85, Bd. 1, Bl. 57. 792  Vgl. HA XVIII/5/2 vom 13.2.1965: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 11.2.1965; ebd., Bl. 178 f. 793 Abt. VI/3 vom 10.8.1961: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 10.8.1961; ebd., Bl. 76–79, hier 76. 794  HA XVIII/5/2 vom 9.9.1967: Bericht zum Treffen mit »Dingeldein« am 7.9.1967; ebd., Bl. 258 f., Anlage, Bl. 260–262.

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Nomen­k latur der Kreisleitung.‹«795 Die SED hatte vor allem das Ziel, über Strukturreformen vollständig und final die Macht zu ergreifen. Kein anderes Mittel als die Zentralisation – ohne demokratische Elemente versteht sich – war hier zielführender. Parteisekretär Lotar Ziert wollte »um jeden Preis Zentralinstitute gründen, ob die Voraussetzungen dazu da sind oder nicht«.796 Zahlreiche Äußerungen von involvierten IM des MfS in Spitzenfunktionen mit Verbindungen zur ministerialen Ebene zeugen von Widersprüchen, divergenten Interpretationen der Weisungen und interessengeleiteten Aushandlungsprozessen.797 Obgleich Lauters Autorität als Generalsekretär der Akademie bereits angegriffen war, wurde er noch im Januar 1971 als Fachrichtungsleiter der solar-terrestrischen Physik eingesetzt und zeichnete somit gegenüber dem Zentralinstitut für solar-­ terrestrische Physik (ZISTP) in allen Fachfragen verantwortlich. Durchsetzen konnte er sich forschungspolitisch aber immer weniger. Im November 1972 zeigte ein als ehrenamtlicher Parteisekretär eingesetzter Wissenschaftler Zivilcourage und teilte ihm mit, dass er von Günther Jahn, nun HA AK, erfahren habe, »dass sie mit allen Mitteln versuchen« würden, ihn »abzuschießen«. Zur Rechenschaft gezogen, es sei ihm »verboten« worden, darüber zu sprechen, soll er geantwortet haben: »die Leitung [müsse] darüber informiert werden«.798 Unmittelbar vor der Gründung des Instituts für Elektronik (IE), am 20. Februar 1973, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Forschungsstelle für Kosmische Elektronik (FKE), die im November 1972 aus dem ZISTP ausgegliedert worden war, mit Ulrich Hofmann, dem 1. Vizepräsidenten der AdW, und OibE Horst Fischer. Der Streitpunkt war bemerkenswert, da es um die Frage Raumforschung oder Grundlagenforschung Elektronik ging. Hofmann wollte erreichen, dass »ein Institut für die Grundlagenforschung der Elektronik gegründet« werde und »nicht eine eigene Kosmosforschung der DDR«.799 (Umfassend im Kap. 4.2.2)

3.4  Inkompatibilitäten der Zentralverwaltungswirtschaft In diesem Kapitel geht es um Geld, Geist und Handlung oder anders gesagt: um Investition, Invention und Innovation. Ein Märchen à la Idylle »DDR« erzählte im Februar 1961 der Weltbühne-Autor Jean Villain. Ein Märchen aus dem VEB Elektronische Bauelemente »Carl von 795  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff, S. 179. Quellenhinweis: Larch Berlin, C Rep.  90301-11, 33. 796  HFIM »Böttger« vom 23.11.1968: Monatsbericht November 1968; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 128–135, hier 134. 797  Vgl. HA XVIII/5 vom 26.9.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 26.9.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 95–98. 798  HA XVIII/5: Information von »Dagmar« am 16.11.1972; ebd., Bl. 127 f., hier 130. 799  HA XVIII/5 vom 23.2.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 22.2.1973; ebd., Bl. 164–166, hier 164.

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­ ssietzky Werk« in Teltow (EBT), wo Frauen im Akkord elektronische Bauelemente, O genauer: Widerstände fertigten. Ein Mann aus dem Westen kam zu Besuch und sah, wie schwer und monoton die Arbeit war – ein Wandspruch im Meisterbüro lautete: »Wer hier nicht verrückt wird, ist selber dran schuld!« Und er mag erfahren haben, wie diese Arbeit Monat für Monat schwerer wurde, da sich die Frauen plötzlich der Konkurrenz immer weiter verbesserter teilautomatischer Maschinen ausgesetzt sahen, und wie sie schließlich versuchten, dem jeweiligen Produktionsausstoß manuell Paroli zu bieten, bis sie es bei 6 000 Stück pro Tag schließlich aufgaben. Die Maschinen, »konstruiert in einer bescheidenden Baracke am Rande des Werkgeländes!«, hatten gesiegt. Der Mann aus dem Westen sah sich in all seinen Vorurteilen bestätigt. Doch Villain schrieb ja ein Märchen, also kam eine Person mit einem Brigadetagebuch in der Hand, er blätterte darin herum und entdeckte einen Eintrag, der vom Engagement der Frauen erzählte, von ihren Studienwünschen, Sehnsüchten und Erfüllungen, auch von einem Offenen Brief, in dem es keck hieß: »Wir verlangen!« und die Bitte, in die SED aufgenommen zu werden. Villain: »Der Mann aus dem Westen schluckt einmal mehr und schaut um sich, als sähe er die Automaten im Raum soeben zum ersten Mal.«800 Der Begriff Zentralplanwirtschaft wird im Kontext der Untersuchung synonym mit Zentralverwaltungswirtschaft verstanden. Der Gabler wählt letzteren als ersten Begriff, dies ist korrekt, da er primäre Qualität für die DDR besaß. Alles wurde zentral verwaltet, nicht aber alles zentral nach Plänen gestaltet. Der Begriff »Zen­ tralplanwirtschaft« ist in einem strengeren Sinne eine Wirtschafts-Kategorie. Über diesen Begriff den politischen Begriff des »Patriarchensozialismus« zu setzen, wie es Reinhard Mocek tut,801 ist zumindest nicht praktikabel, da die Annahme, dass die Entscheidungen faktisch vom jeweiligen SED-Generalsekretär ausgeübt worden sind, so nicht zutrifft. Realer und operationaler ist dagegen die Definition der Zentralverwaltungswirtschaft im Gabler, der sie als »Wirtschaftsordnung, in der die innerhalb einer Gesellschaft ablaufenden Wirtschaftsprozesse von einer staatlichen Zentralinstanz geplant und koordiniert werden«, beschreibt. Lediglich im »Idealfall ist nur ein Planträger vorhanden«. Der Gegensatz hierzu ist die Marktwirtschaft,802 in der viele Konkurrenzen mit- und gegeneinander handeln. In der engeren Historiografie der Zentralverwaltungswirtschaft der SBZ / DDR ist umstritten, von wann an sie eigentlich galt. Peter Hefele geht entgegen einem von ihm festgestellten neueren Trend unter politischen Historikern »davon aus, dass die Grundsatzentscheidung für die Etablierung einer Zentralverwaltungswirtschaft […] spätestens 1946 gefallen sein dürfte«.803 Das ist normativ unbestritten, realfaktisch 800  Villain, Jean: Mädchen und Widerstände, in: Die Weltbühne 16(1961)8, S. 240–245. 801  Vgl. Mocek, Reinhard: Vom Patriarchensozialismus zur sozialistischen Demokratie. Gedanken zu einer neuen Theorie der Gesellschaft, in: Initial. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 1(1990)1, S. 5–15. 802  Gabler Volkswirtschafts Lexikon. Wiesbaden 1996, S. 1349. 803  Hefele, Peter: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZ / DDR nach Westdeutschland. Stuttgart 1998, S. 35 f.

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aber dauerte es noch geraume Zeit, bis die entsprechenden wichtigsten Strukturen aufgebaut waren. Noch länger dauerte die mentale Einstellung darauf. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Wissenschaft, Forschung und Technik. Nimmt man das oben angeführte Märchen von Jean Villain und die Tatsache, dass nicht ein abstrakter Patriarch regierte, sondern oft genug nur die selbstherrlichen Funktionäre der mittleren und unteren Ebene, dann wird sofort einsichtig, dass Rudolf Bahro die genaueste Definition zur Lage der Werktätigen in der DDR früh gefunden hatte. Er erkannte, dass der Staatssozialismus lediglich eine technokratische Variante der von Marx festgestellten und beklagten Entfremdung lieferte, die einen »Überbau« schuf, »der nur dazu gut zu sein« schien, »dies so unentrinnbar systematisch und bürokratisch geordnet wie möglich zu tun«; letztlich zum Zwecke, »die Entfremdung, die Subalternität der arbeitenden Massen« auf »neuer Stufe« andauern zu lassen.804 Die Arbeitsteilung erfuhr also eine noch viel schärfere Form, nicht so sehr in der Spaltung der Intelligenz und der Arbeiterschaft, sondern zwischen Anordnenden (Funktionären) und Ausführenden, so sehr, dass »die werktätigen Massen«, wie Guntolf Herzberg mit Bahro schreibt, »nicht ›den geringsten positiven Einfluss auf die Entscheidungen‹« hatten.805 Tatsächlich ist diese Trennung und Entfremdung schärfer, widerspruchserregender und folgewirksamer gewesen, als jene zwischen Intelligenz und Arbeiterschaft. Dies wird unten im ersten Hauptkapitel gezeigt. Hier sah sich der Wissenschaftler und Betriebschef Werner Hartmann zusammen mit seinen einfachen Bediensteten bis zur Reinigungskraft, Wissenschaftlern und Leitern in einer Front gegen einzelne Funktionäre von SED und Staat (meist) außerhalb seines Betriebes. Bahros Analysen in der Alternative gehen deutlich über die üblichen Klein- und Einzelkritiken an Missständen und Verfahrensfragen der DDR-Wirtschaft hinaus, sodass dieses Buch zusammen mit Wolfgang Harichs 1975 erschienenem Buch Kommunismus ohne Wachstum?, Hermann von Bergs Spiegel-Manifest von 1978 und Jürgen Kuczynskis806 Dialog mit meinem Urenkel von 1977 so etwas wie das eigentliche Grundverständnis einer 40-jährigen deutschen Teilgeschichte liefert, ein Grundverständnis, das heutige Werke schon allein deshalb nicht mehr liefern können, da sie nicht aus der unmittelbaren lebendigen Anschauung schöpfen. Dies ist auch der Grund dafür, dass es für das übernächste Kapitel über die Innovationskultur in der DDR eigentlich nur ein empfehlenswertes Buch gibt, nämlich jenes von Harry Maier. Eine Anmerkung zum Urenkel von Kuczynski: Das Buch konnte erst 1983, nach zähen, aber im Stile Kuczynskis immer geduldigen und höflichen Auseinandersetzungen mit den SED-Entscheidern erscheinen. Natürlich musste er nicht nur 804  Bei Herzberg, Guntolf / S eifert, Kurt: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie. Berlin 2002, S. 174; vgl. auch Bahro, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Berlin 1990, S. 8. 805  Herzberg / Seifert: Rudolf Bahro, S. 179 f. 806  Zu Kuczynskis autobiografischen Ansätzen vgl. Depkat, Volker: Die DDR-Autobiographik als Ort sozialistischer Identitätspolitik, in: Sabrow, Martin (Hrsg.): Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2012, S. 110–138.

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Kompromisse schließen, sondern auch manche Zensur-Kröte schlucken: Änderungen erfolgten, »wo Hager Änderungen wünschte«. Es ist jedoch nicht völlig klar, ob dies auf alle Änderungen in den Fahnen zutrifft. Sicher aber auf solche wie im ersten Kapitel des Buches, »Erste Frage«, wo der ursprüngliche Text auf Seite 12 f., 38. Zeile beginnend, hieß: »Dass es dabei zu furchtbaren Verbrechen kam, wie in der späteren ›Stalinzeit‹, ist unmenschlich.« Handschriftlich durchgestrichen und verbessert: »Dass wir nach den Erfahrungen der ›Stalinzeit‹ mit äußerster Umsicht vorgehen, wird jeder erkennen.«807 Das ist zweifellos eine Kröte, die er schlucken musste. Aber er hat den interessierten DDR-Bürgern, die ihn auf seinen Vorträgen in der DDR erleben durften, wenigstens mündlich davon erzählt. Andere dagegen beließen es auch in solchen Vorträgen meist nur mit Andeutungen oder es half ungewollt ein Versprecher: Anlässlich des Todes von Stalin verlas Generalleutnant Vincent Müller, Mitglied einer Delegation des Ministeriums des Innern, gegenüber dem sowjetischen General Kasakin eine Beileidsnote, in der es hieß: »Stalin war und wird immer bleiben der beste Freund des deutschen Volkes.« Müller jedoch las »statt Freund – Feind vor und verbesserte sich sofort«.808 Ist von Kuczynski die Rede, muss sie es auch von seinem kongenialen Partner Fritz, eigentlich Friedrich Behrens sein. Behrens war, was thematisch von Interesse ist, Mitglied des Forschungsrats. Als Leiter der Gruppe Arbeitsproduktivität des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der DAW tat er sich bereits früh mit Kritik- und Reformvorschlägen hervor. Von 1956 bis 1959 hatte er, so Heinz-Dieter ­Haustein,809 zusammen mit Arne Benary »versucht, eine Reform der DDR-Wirtschaft in Richtung auf Nutzung spontaner Marktprozesse ohne Aufgabe der zentralen Planung der großen Proportionen gedanklich vorzubereiten«. Es erfolgte sofort eine Gegenkampagne in der Zeitschrift Wirtschaftswissenschaft.810 Behrens war Denker, die Vereinnahmung für platte Ideologie im akademischen Lehrbetrieb konnte er mental und intellektuell nicht leisten. Seinem Schreiben an Kuczynski vom 26. September 1950 ist zu entnehmen, dass er herauswollte aus dem akademischen Betrieb, er wolle von Leipzig weg: »raus aus der reinen Lehrtätigkeit«, denn »das werde ich in Leipzig nie können.« Er schrieb dies vor dem Hintergrund, dass die Politische Ökonomie demnächst als Grundfach aller Fakultäten eingeführt werden sollte. Er hätte also Vorlesungen für 1 200 Studenten halten müssen. Ihm aber lag Grundlagenforschung auf dem Gebiet angewandter volkswirtschaftlicher Statistik am Herzen; Behrens: »der alte Zustand« hat sich »verschlimmert, Zersplitterung durch politische Aufgaben und Universitätsverwaltung. Ich werde wahrscheinlich 807  Fahnen zum Manuskript von »Urenkel«; ArchBBAW, Nachlass Kuczynski, Nr. 176; vgl. auch Kuczynski, Jürgen: Dialog mit meinem Urenkel. Berlin, Weimar 1986, S. 12 f. 808  Bericht vom 12.3.1953; BStU, MfS, AIM 167/51, Bd. 1, Bl. 104. 809  Heinz-Dieter Haustein. Wirtschaftswissenschaftler. Vielfach beachtete Veröffentlichungen u. a. zur Innovationstheorie. 1968 wurde sein zusammen mit Gert Wilde geschriebenes Buch »Prognose und Entscheidung« nach erfolgter Denunziation eingestampft; vgl. Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 22. 810  Ebd., S. 18.

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bald eine Gewaltlösung herbeiführen, indem ich mich nach Greifswald berufen lasse, denn die Partei hat ja keine Einsicht, dass sie uns unter Naturschutz stellt.«811 Behrens ging, so Haustein, in die innere Emigration; »Benary nahm sich wenig später das Leben.« Haustein verwies in diesem Zusammenhang auch auf Kuczynski, der es mit Michael Faraday gehalten haben soll, der »den lieben Gott außen vorließ, wenn er sein Laboratorium betrat«.812 Überdies habe er Kuczynski stets verteidigt, »von dem viele sagten, ›Ja der, der kann das wagen‹. Sie selbst wagten es aber nicht und schufen sich so ein Alibi für ihre absichtliche Denkfaulheit«.813 Nun, Denkfaulheit war es sicher nicht allein, sondern fehlende Courage oder einfach nur Angst oder Feigheit. Neben Behrens und Benary darf auch Gunther Kohlmey (Direktor des Instituts für Wirtschaftswissenschaften) nicht unerwähnt bleiben.814 Von einer ordentlichen, tatsächlichen oder irgendwie wenigstens tendenziell aufgreifbaren effizienten Zentralverwaltungswirtschaft ist in dieser Untersuchung nicht, allenfalls nur von einem »Zentralplanchaos« die Rede. Die Planwirtschaft der DDR barg nach Gernot Gutmann »eine Reihe von ›eingebauten‹ Konstruktionsfehlern, die insbesondere hinsichtlich der Gewinnung und der Nutzung von Informationen für die Entscheidungsträger und hinsichtlich der Motivation der Menschen zu hoher Leistung negative Wirkungen zur Folge hatten«.815 Tatsächlich stand das Leistungsprinzip im Sinne eines selbstbestimmten Entscheids inmitten eines Systems von sehr begrenzten und verformten Leistungsanreizen während der gesamten DDR-Zeit in der Kritik. In der Umbruchssituation 1989 berichtete ein Spitzel aus der Sektion Physik der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU), dass die dortigen SED-Genossen »ein langfristiges Modell für die Sicherung eines leistungsorientierten Zuwachses in der Volkswirtschaft« vermissten. Der Forschungsdirektor des Zeiss-Kombinates, Klaus-Dieter Gattner, wolle nun selbst initiativ werden und »eigene Modelle« aufstellen und ausprobieren.816 Ähnlich äußerten sich im Oktober 1989 die Studenten der Sektion Mathematik der FSU.817 Es ist eigentlich eine erbärmliche Zustandsbeschreibung, dass solche Selbstverständlichkeiten nun erst aufkamen. Doch die Gewinnung hinreichender Informationen für die Planung war schwierig, denn, so auch Gutmann, das »Wissen an der Spitze der Entscheidungspyramide« war »unvermeidbar unzureichend«. Und das galt erst recht für die zahllosen (verdichteten ZAIG-)Berichte des MfS nach oben, die dazu noch u. a. einer »Strafdelikt-Verschiebung« und / oder »Strafdeliktunschärfe« gehorchten. 811  Schreiben von Behrens an Kuczynski vom 24.5.1948; ArchBBAW, Nachlass Kuczynski, Nr. 96, 1 S. 812  Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 19. 813  Ebd., S. 24. 814  Vgl. Wagener: Anschluss verpasst?, S. 132. 815  Gutmann, Gernot: Produktivität und Wirtschaftsordnung. Die Wirtschaft der DDR im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 33(1990), S. 17–26, hier 19 f. 816  Stimmungs- und Meinungsbild in der Sektion Physik; BStU, MfS, BV  Gera, Abt.  XV, Nr. 1386, Bl. 7. 817  Vgl. Information aus der Sektion Mathematik der FSU Jena; ebd., Bl. 9 f.

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Was heißen soll, dass Defizite, Pleiten und Pannen, wenn überhaupt, nicht systemischen, sondern kriminellen Ursachen zugeschoben worden sind. Gutmann: »Viele konkrete produktionstechnische und organisatorische Tatbestände waren also den Planungsgremien in der DDR gar nicht zureichend bekannt.«818 Gutmann weist auf einen vernachlässigten Umstand in der Frage der Kompetenz der DDR-Betriebsleiter hin, nämlich den der oft fehlenden Erfahrung. Zur mangelhaften Managerkompetenz »zählen« nach ihm »der selbstverantwortliche Umgang mit wirtschaftlichen Risiken, Kostenbewusstsein und ein Denken in alternativen Marktchancen sowie unternehmerische Kreativität«. Und weiter: »Das fehlende Erfahrungswissen führt häufig zu erheblichen Verhaltensunsicherheiten, die sich in planloser Geschäftigkeit, zumeist aber in einer weitgehenden Lähmung betrieblicher Initiativen ausdrücken.«819 Nur bei wenigen Leitern hat es diese Defizite nicht gegeben. Dennoch trifft das Urteil Gutmanns zu, da Ausnahmen kein Gewicht besaßen und auch die Fluktuation der Leiter überaus hoch war. Die Zerstörung des Marktes vor allem infolge der Implantierung einer Zentralverwaltungswirtschaft war irreparabel: Jedes zentral bestimmte Pro für eine Erzeugnisentwicklung oder -produktion vertiefte oder verbreiterte an anderer Stelle den Mangel. So verfestigte sich in der Mangelwirtschaft eine dauerhafte Krise, die lediglich über Reformen unterhalb der unantastbaren ideologischen Prämissen temporär für – oftmals nur etikettierte – Erholungsphasen sorgte. Speziell die Wissenschaft und Technik war, nachdem sie ihrer utopischen Frühphase verlustig gegangen war, teleologisch: Die zuständigen Zentralbehörden gaben die Ziele vor und grenzten somit Offenheit, also andere Möglichkeiten aus. Dagegen dynamisiert in grundständig marktwirtschaftlichen Gesellschaften Freiheit sowohl Invention als auch Innovation. 3.4.1  Investition und Invention Beides, Investitionen und Inventionen (Erfindungen mit volkswirtschaftlicher Relevanz durch Forschung und Entwicklung), sind unabdingbare Voraussetzungen für Innovationen. An beidem herrschte in der DDR fundamentaler Mangel. Aber auch an Investitionen – dem Motor des Leistungszuwachses – grundsätzlich immer sowie an Grundlagenforschung und damit Inventionen zunehmend. Bedenkt man allein  – etwa mit Jörg Roesler820  – die fünf ausgeprägten Wirtschaftskrisen von 1952/53, 1961/62, 1970/71, 1981/82 und 1989/90, die alle mit erheblichen finanziellen Problemen einhergingen, dann kann es keine hinreichende Grundlagenforschung in der DDR gegeben haben. Insofern befand sie sich in einer Dauerkrise. 818  Gutmann: Produktivität und Wirtschaftsordnung, S. 20. 819  Ebd., S. 21. 820  Roesler, Jörg: Jedes Mal existenzgefährdend?, in: Schultz, Helga / Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 155–175, hier 157.

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Grundlagenforschung ist eine Vorbedingung für Inventionen. Natürlich gilt dies, makroökonomisch betrachtet, nur ceteris paribus. Der Gesamtblick, wie in Roeslers Definition der Krisen, entstammt den komplexen Folgen der Wirtschaftsordnung: »Unter Wirtschaftskrisen in der DDR-Planwirtschaft sind Phasen konjunkturellen Niedergangs zu verstehen. Verletzungen bestimmter Proportionen bzw. Gleichgewichtsstörungen in der Volkswirtschaft lösten einen Rückgang des Wirtschaftswachstums aus.«821 Roesler aber sucht nicht nach hintergründigen Faktoren der Dauerkrise, sondern nach gleichsam programmatischen und Ereignissen. Es fällt (nicht nur) bei ihm auf, dass die Frage der Grundlagenforschung im Hinblick auf die Innovationsfähigkeit bezüglich der Krisendiagnostik keine direkte Rolle spielt, im Übrigen auch gesellschaftspolitische Faktoren nicht. Wir werden jedoch unten sehen, wie fundamental die Innovationsfrage für die DDR gewesen ist. 1961/62 lagen die Gründe nach Roesler vor allem in der Arbeitskräftekrise, der Kollektivierung der Landwirtschaft, in der Drohung des Handelsabbruches durch die Bundesrepublik sowie in der Schließung der Westgrenzen. Die DDR versuchte diese Krise zu lösen mit der sogenannten Störfreimachung, der Rückgewinnung von Arbeitskräften und dem NÖS.822 Unter dem Begriff »Störfreimachung«823 verstand die DDR Maßnahmen, sich unabhängig von Westimporten machen zu können, zweitens, die eintretenden Defizite der Handelsbeschränkungen über (auch illegale) Beschaffungsmaßnahmen zu kompensieren. 1970/71 lagen nach Roesler die Gründe u. a. in den »Fortschrittsindustrien«, mit denen »nach Ulbrichts Vorstellungen die DDR die wissenschaftlich-technische Revolution meistern« wollte: »Überholen ohne einzuholen«. Es gelang jedoch nicht, die Zulieferindustrie adäquat zu entwickeln. Der Versuch, hier eine Lösung der Krise zu versuchen, etwa über den Rückbau der »ehrgeizigen« Ziele des Fünfjahrplanes 1971 bis 1975, funktionierte auch nicht, zumindest nicht nachhaltig. Freilich wurden dadurch »Investitionsmittel frei, die in die Entwicklung der ›notleidenden‹ Konsumgüterindustrie gesteckt werden konnten«. Und die Öffnung zum Weltkreditmarkt824 half auch nur temporär die Staatspleite zu vermeiden. Zur Krise 1981/82 nennt Roesler als Gründe Kreditengpässe und Devisenverschuldung. Die Lösung der Krise suchte die DDR demnach u. a. durch die Steigerung des Westexports, die Konsolidierung der Handelsbilanz sowie mit Deviseneinnahmen durch Rohstoffexporte und Halbfertigwaren zu begegnen. »Durch die Entwicklung der Mikroelektronik« habe dann »Günter Mittag versucht, die Exportposition zu halten bzw. wiederzugewinnen. Doch der äußerst kostenaufwendige Versuch schlug fehl.«825 Abschließend geht Roesler der Frage nach, ob die Wirtschafts­k risen 821  Ebd., S. 158. 822  Vgl. ebd., S. 163. 823  Der offizielle Begriff hieß »Umstellung der Volkswirtschaft«, vgl. Schenk, Fritz: »Störfrei­ machung« der Zonenwirtschaft. Politische und wirtschaftliche Probleme, in: SBZ-Archiv 14(1961)19, S. 301–303. 824  Vgl. Roesler: Jedes Mal existenzgefährdend?, S. 165 f. 825  Ebd., S. 169.

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»Etappen auf dem Weg zum Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft bildeten«. Er sieht dies nicht so, eher, dass die jeweiligen Lösungen der Krisen die jeweilig darauffolgende »programmiert hat«.826 Aber es sind alles nur Erscheinungen der Oberfläche, es sind statistisch-symptomatische, nicht jedoch immanente Faktoren. Lösungsversuche, etwa die fundamentale Stärkung der Innovationskraft, was ein deutliches Bekenntnis zur Grundlagenforschung, der man übrigens Zeit geben muss, vorausgesetzt hätte, werden nicht diskutiert. In der Summe sieht Roesler, dass die DDR-Wirtschaftspolitik gut lief und Erfolg brachte, »bis sich mit dem von Ulbricht angesetzten Programm des ›Überholens ohne einzuholen!‹ die Fehler von 1958/59« wiederholt hätten. »Die Krise von 1952/53 hat mit jenen von 1961/62 und 1970/71 gemein, dass sie von einem ambitionierten Investitionsprogramm ausgelöst wurde.«827 Pointiert formuliert: Ulbrichts Weg der Investitionen war falsch und führte in den Ruin. Dieser Auffassung folge ich nicht. Investitionen Solcherart Rede über die Investitionsproblematik aber kann angesichts der Tatsache, dass damit nicht die Frage geklärt ist, wie die Investitionen in potenzielle Nutzräume flossen, geschweige denn, ob sie Leistungspotenziale eröffneten und zu Folgeinvestitionen führten, nicht genügen. Waren die Investitionen hinreichend, flossen sie zielführend, was geschah mit ihnen an der Basis? Wir wollen an dieser Stelle hineingehen in die Zeit unmittelbar vor dem offenen Ausbruch der Krise 1959/60 anhand von einigen Beispielen aus der Akademie der Wissenschaften. Es waren überaus entscheidende Jahre, gleichsam ein letztes Aufbäumen vor der Grenzschließung, der Hermetisierung der DDR. Horst Gumprecht (Kap.  5.1, Abschnitt: Sabotage) sprach laut einem MfS-Bericht vom 14. Dezember 1959 von großen Verzögerungen im Baugeschehen (Investbauten) der Akademie. Seit 1948 bis zu diesem Zeitpunkt seien die Investmittel der Forschungsgemeinschaft der Akademie der Wissenschaften auf die Institute direkt geleitet worden, entsprechend den Anforderungen der jeweiligen Institute. Der Bericht machte das Fehlen eines Perspektivplanes für den »wesentlichen Mangel im Baugeschehen« verantwortlich. Dadurch sei Zersplitterung der Mittel eingetreten.828 Dem oder den Verfassern des Berichtes dürfte eine Zentralisierung und Monopolisierung der Mittellenkung vorgeschwebt haben, ein Ansatz, der nicht unvernünftig ist, aber auch Nachteile gegenüber dem Individualprinzip besitzt. Die Wirklichkeit aber bestand in der Akademie darin, dass ein ständiger Verteilungskampf unter dem Diktat nie zureichender Gesamtinvestmittel, oft über die Schiene der jeweils besseren Beziehungen, herrschte. Bereits Ende der 1950er-Jahre existierte das Instrument »Perspektivplan«; 826  Ebd., S. 173. 827  Ebd., S. 174. 828  Abt. VI/4 vom 14.12.1959: Bericht; BStU, MfS, AOP 613/61; Bd. 1, Bl. 16–18, hier 16.

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der erste wurde 1958/59 aufgestellt. Verantwortlich hierfür war die Abteilung Planung der Forschungsgemeinschaft. Trotzdem waren die Mittel zu gering und SED sowie MfS suchten Schuldige zu finden, da man die öffentlich propagierte Wirtschaftsphilosophie nicht anzutasten bereit war. Der Leiter der Abteilung Planung, Gumprecht, der mit dem alltäglichen Mangel nicht fertig werden konnte, und der nach Kenntnisstand des MfS »eng« mit Benary »befreundet« gewesen sein soll,829 geriet folglich rasch ins Fadenkreuz des MfS. Die grundsätzliche Regelung im Baugeschehen der DAW sah zwar einfach und transparent aus. Die Abteilung Planung und Statistik war Vertragspartner des Entwurfsbüros, doch konnte sie ihre Arbeit erst beginnen, nachdem »der Vorstand beschlossen« hatte, »welche Institute und in welchem Umfange und innerhalb welchen Zeitraumes gebaut werden« sollten.830 Und genau dies setzte gewöhnlich langandauernden Streit geradezu voraus. Bereits mit dem ersten Perspektivplan für 1958/59 waren die Projektierungen nicht rechtzeitig fertig geworden, sodass man sich gezwungen sah, gleitende Projektierungen vorzunehmen (wie bei Hartmann, Kap. 4.1.2). Abgesehen vom ewigen Mangel an Baustoffen, Materialien und Arbeitskräften ist in dem Papier der Umstand themenrelevant, dass neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, auf die man nicht vorbereitet war, eintraten, sodass die Projektierungsunterlagen oft nachkorrigiert werden mussten. Mit anderen Worten: die Prognosetätigkeit, die in die Pläne einfließen sollte, zeigte Defizite, und zwar im Hinblick auf die Aktual- und mittelfristigen Stände in Wissenschaft, Forschung und Technik. Auch dies ist ein Phänomen der Unelastizität. Die SED besaß zur Abhilfe des Problems nicht jene Kompetenz, die an die Wurzel der Übel heranzugehen in der Lage gewesen wäre, etwa die Kommunikationstiefe hin zum Westen zu öffnen. Im Gegenteil, die Schranken wurden vermehrt. So verfiel sie auch hier wieder ihrem typischen Reflex: sie berief die »Bildung von Leitungskollektiven« ein und gab diesen den restriktiven Auftrag, die Korrekturen aufgrund der neueren Forschungsergebnisse zu minimieren und »nur solche Änderungen« zuzulassen, »die wissenschaftlich vertretbar« seien.831 Zusätzliche Leitungsgremien aber erhöhen in der Regel die Ineffizienz. Ein weiteres Beispiel: Ende März 1960 hatte »Peter Adolf Thiessen vom Leiter des VEB Bauprojektierung Wissenschaft ein Schreiben« erhalten, »wonach die Projektierung des Isotopenlabors per 1. April eingestellt« werden würde, »da auf Wunsch des Planträgers zunächst die Perspektivbebauung in Berlin-Adlershof völlig klargestellt werden müsse«. Thiessen, der hierüber erbost war, »führte in diesem Zusammenhang etliche Gespräche mit Verantwortlichen«. Von Wittbrodt erfuhr er, dass zunächst einige Dinge der städtebaulichen Konzeption klargestellt werden müssten. Im Übrigen, so Wittbrodt, sei Günther Rienäcker als »Generalsekretär der Akademie Planträger und somit müssten die Dinge letzten Endes von dort verantwortet werden«. Thiessen »erkannte« das Argument »nicht als sachlich an«. So verschwimme 829 Ebd. 830  Abt. VI/4 vom 23.1.1960: Bericht zum Treffen mit »Kurt« am 22.1.1960; ebd., Bl. 23 f. 831  Abt. VI/4 vom 14.12.1959: Bericht; ebd., Bl. 16–18, hier 17.

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die Verantwortlichkeit vollends. »Wittbrodt antwortete darauf genauso erregt, wenn jemand sein Gesicht nicht passe, dann könne er ja gehen. Professor Thiessen quittierte diese Bemerkung mit der Mitteilung, dass das wohl leere Versprechungen wären.« Im Zusammenhang mit dieser – nicht völlig unüblichen – Auseinandersetzung kam es zu einem Gespräch Thiessens mit einem Kollegen Wittbrodts: Der führte aus, »dass die Behandlung der Investitionen in der Forschungsgemeinschaft zzt. nach seiner Ansicht keinerlei Grund und Boden habe«. Die Durchführung der Investitionen in der Forschungsgemeinschaft sei zusammengebrochen.832 Der folgende Zwischenbericht des MfS vom 30. Juni 1960 für den Bereich der Akademie kann als Einstimmung auf wesensgleiche Geschehnisse in Dresden (im Kap. 4.1) gesehen werden. Er besitzt darüber hinaus universelle und generelle Qualität. Demnach sollte laut MfS für den Aufbau der Akademie bereits ein größerer, wenngleich noch nicht genau bezifferbarer finanzieller Schaden eingetreten sein, mindestens in Höhe von 375 000 DM, den die Arbeit Gumprechts und seines Stellvertreters der Abteilung Planung und Statistik verursacht haben soll.833 Was natürlich völliger Unsinn war, denn es mangelte an allem, was man zur akkuraten Durchführung der Investitionen benötigt hätte. Das MfS vertiefte sich nicht in die Wirklichkeit, sondern in die Dokumente der Projektbeantragung, studierte Gesetzestexte und Entwicklungsdokumente bezüglich der Institute der Forschungsgemeinschaft. Dokumente wurden ausgehoben und vereinfacht auf das Ziel der Findung eines Schuldigen getrimmt. Danach sei am 18. Juni 1959 von Hermann Grosse (SPK) der »Startschuss für den Aufbau des Forschungszentrums in Berlin-Adlershof gegeben worden«. Am 24. Juni 1958 wurde nach einem entsprechenden Vortrag Hans Frühaufs konstatiert, dass »sofort mit der Vorplanung und der Ausarbeitung der Aufgabenstellung« begonnen werden müsse. Das MfS aber stellte fest, dass man längst hätte beginnen müssen, da die Aufgabe bereits durch einen Ministerratsbeschluss von 1955 vorgegeben worden sei.834 Der zehnseitige Bericht aufgrund der Mitteilungen des GI »Architekt« ist eine Aneinanderreihung all der Probleme in den vergangenen Jahren, des Ärgers der Wissenschaftler um Thiessen und Thilo und der hoffnungslosen Drahtseilakte Gumprechts. Das MfS überführte am 19. April 1960 den Überprüfungsvorgang (ÜV) in den Operativen Vorgang (OV) »Planer«.835 Der Anlass zur Eröffnung des OV wurde in der Unplanmäßigkeit des Baugeschehens im Investgeschehen des Forschungsverbundes der DAW gesehen: Es habe »große Hemmungen im Bauablauf« gegeben. Insistiert wurde, dass seitens der Regierung alles getan worden sei, dass das Verfahren habe reibungslos abgewickelt werden können. Der »entscheidenden Bedeutung« der Grundlagenforschung für den Auf- und Ausbau der Institute im Rahmen des Siebenjahrplanes sei jedenfalls hinreichend Rechnung getragen worden. Hierfür seien Mittel in Höhe 832  MfS vom 22.4.1960: Projektierung des Isotopenlabors des IPC; ebd., Bl. 162 f. 833  Vgl. Abt. VI/4 vom 30.6.1960: Zwischenbericht; ebd., Bl. 199–207, hier 207. 834  Abt. VI/4 vom 29.7.1960: Bericht; ebd., Bl. 311–320, hier 311. 835  Vgl. Abt. VI/4 vom 14.3.1961: Abschlussbericht zum OV »Planer«; ebd.; Bd. 2, Bl. 293–295.

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von 375,545 Millionen DM zur Verfügung gestellt worden. Allein für den Wissenschaftsstandort Berlin-Adlershof seien 107,232 Millionen DM bereitgestellt worden. Aufgrund des ungenügenden Vorlaufs bei der Projektierung und der Notlösung der gleitenden Projektierung sei es zu einem »wilden« Bauen« gekommen. Hierfür seien Gumprecht und sein Stellvertreter verantwortlich.836 Im August 1960 sollte der Abschluss des OV realisiert werden, doch die HA IX/3 wies darauf hin, dass der »Verdacht nicht« erhärtet habe werden können, »weil nicht hinreichend bewiesen« sei, »dass beide Personen für den entstandenen Schaden allein verantwortlich« seien. Also wurde weiterermittelt.837 In Bezug auf die Maßnahme »A« (Abhören des Telefonverkehrs) wurde für die Dauer von vier Wochen jeweils von 6.00 Uhr bis zur Nachtruhe die Observation in die Wege geleitet. Zur Begründung wurde u. a. angeführt, dass Gumprecht »in Verbindung mit der parteifeindlichen Gruppe Behrens und Benary« stehe.838 Belastbare Beweise gab es nicht.839 Im Zuge der Ermittlungen gegen Gumprecht geriet jedoch mehr und mehr Hans Wittbrodt, der Wissenschaftliche Sekretär der Forschungsgemeinschaft, nicht zuletzt kraft seines Amtes und des damit verbunden Statuts für das Wissenschaftliche Sekretariat ins Visier des MfS. Wittbrodt war bürgerlicher Herkunft, sein Vater, Hauptschulrat, der zur Zeit der Schulreform der »geistige Kopf der ›Rütli-Schule‹« gewesen sein soll.840 Von 1928 bis 1933 war Wittbrodt im Roten Studentenbund organisiert. Er studierte Physik an der TH Berlin bis zum Diplom 1935. Ab 1946 war er Assistent am Physikalischen Institut der Universität Berlin und in der Deutschen Wirtschaftskommission tätig. Dort Leiter, war er u. a. in der Hauptabteilung Wissenschaft und Technik, später auf gleichem Gebiet im Zentralamt für Forschung und Technik, tätig. Seit 1953 war er Wissenschaftlicher Direktor der DAW, anschließend Wissenschaftlicher Sekretär. Das MfS schätzte ihn politisch-ideologisch als »schwach« ein. Er soll – in der Sprache des MfS – »großen Wert darauf« gelegt haben, »einen engeren Kontakt zu den Spezialisten« Barwich, Hartmann, Ardenne und Hertz zu bekommen.841 Der Abschluss des OV gegen Gumprecht und Wittbrodt erfolgte am 14. März 1961. Man habe eine »Schädlingstätigkeit« trotz des »starken Verdachts« zwar nicht feststellen können, dafür aber eine »Unfähigkeit« in Bezug auf die Bearbeitung des Investvorhabens.842 Am 21. März ist der Vorgang archiviert worden.843 Von 1955 836  MfS vom 17.8.1960: Einschätzung des OV »Planer«; ebd., Bl. 23 f. 837  Abt. VI/4 vom August 1960: Operativplan zum OV »Planer«; ebd., Bl. 31–35, hier 31. 838  Vgl. Abt. VI/4 vom 25.8.1960: Maßnahme »A« zum OV »Planer«; ebd., Bl. 74 f. 839  Vgl. Bericht von »Tobak« vom 15.8.1959; ebd., Bl. 90 f. 840  Abt. VI/4 vom 14.3.1961: Vorschlag zur Anwerbung eines GI; BStU, MfS, AIM 15026, Teil  I, 1  Bd., Bl. 13–24, hier  13–15. Die Information des MfS war richtig, Wilhelm Wittbrodt (1878–1961) war der erste Rektor der Rütli-Schule in Berlin. Auch war er Aktivist der Esperanto-​ Sprache. 1934 wurde er aus dem Schuldienst entlassen. 841  Abt. VI/4 vom 1.9.1960: Bericht; BStU, MfS, AOP 613/61, Bd. 2, Bl. 105–111, hier 106 f. u. 110. 842  Abschlussbericht zum OV »Planer«; ebd., Bl. 293–295, hier 295. 843  Vgl. Abt. VI/4 vom 21.3.1961: Beschluss für das Einstellen eines OV; ebd., Bl. 296 f.

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bis 1957 nutze das MfS Wittbrodt als Kontaktperson. Insgesamt soll von 1953 bis 1961 ein guter offizieller Kontakt zu ihm bestanden haben. Am 14. März 1961 kreierte die Abteilung VI/4 den Vorschlag zur Anwerbung Wittbrodts als GI.844 Nur anderthalb Jahre später, am 23. Oktober 1962, schlug das MfS vor, ihn von seiner Funktion des Wissenschaftlichen Sekretärs zu entbinden. Aus der Begründung des zuständigen Offiziers: Wittbrodt habe die Funktion seit Gründung der Forschungsgemeinschaft der DAW inne, es habe sich u. a. gezeigt, dass er unfähig sei, das Amt auszufüllen, keine eigenen Ideen entwickele, seine Koordinierungsfunktion schleifen lasse, ein »Bewunderer« des ehemaligen Ministers Selbmann sei und den Standpunkt vertrete, dass der Grundlagenforschung der Primat zukomme.845 Wenn wir es nicht empirisch wüssten, dass der wahre Grund darin lag, dass er kein fügsamer Parteisoldat war, wäre ein Rätsel zu lösen. Denn ein belastbarer oder auch nur ein einfacher, nachvollziehbarer Grund ist der Begründung nicht beigegeben. Es ist eine Kompilation aus nichtssagenden Hinweisen zu Verbindungen, etwa zu Rompe und Hartmann.846 Warum gerade diese Verbindungen zur Ablösung führen sollten, bleibt unbeantwortet. Nichts anderes besagen die übrigen »Hinweise«. Am 8. März 1963 verfasste das MfS einen erneuten Auskunftsbericht, der ebenfalls keine neuen Fakten beinhaltete.847 Vom 23. März 1964 ist ein Papier von Wittbrodt überliefert, dass ihn als Verfechter der Grundlagenforschung zeigt, in dem Sinne, dass die Akademieinstitute sich vornehmlich dieser Aufgabe zu widmen hätten.848 Damit hatte er seinen Abschuss gleichsam selbst eingeleitet. Auf der Sitzung der Parteileitung der Forschungsgemeinschaft am 1. Juni rechnete Parteisekretär Schober erbarmungslos mit Wittbrodt ab.849 Das MfS befragte am 1. Oktober 1964 Wittbrodt zur Flucht Barwichs (Kap. 4.3.1). Seine schriftliche Antwort hob die antifaschistische Grundhaltung Barwichs hervor. Der hatte ihm 1942/43 anvertraut, dass man »aktiv gegen Hitler« kämpfen müsse.850 Beide waren seit den 1930er-Jahren befreundet. Demnach besuchte Barwich ihn noch am 12. August in seinem Dienstzimmer in Berlin. Die Befragung Wittbrodts lieferte keine Daten, die Barwich aktuell belasteten, wohl aber erregte er den Verdacht gegen sich selbst. Denn Wittbrodt sprach von einer Aussage Barwichs ihm gegenüber im Jahr 1943, wonach er, Barwich, Material weitergegeben habe, das, so nach dem Glauben Wittbrodts, an den sowjetischen Geheimdienst gegangen sei. Das war durchaus ob der Biografie Barwichs plausibel, aber eben nur eine Vermutung. Es war der natürliche Reflex des MfS, nun zu unterstellen, dass Wittbrodt dies 844  Vgl. Abt. VI/4 vom 14.3.1961: Vorschlag zur Anwerbung eines GI; BStU, MfS, AIM 15026, Teil I, 1 Bd., Bl. 13–24, hier 13–15. 845  MfS vom 23.10.1962: Vorschlag zur Ablösung Wittbrodts; ebd., Bl. 25–30, hier 26–28. 846  Vgl. ebd., Bl. 29. 847  Vgl. HA III/6/T vom 8.3.1963: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 95–98. 848  Vgl. Wittbrodt vom 23.3.1964: Darlegung zur Wissenschaftsstrategie an der DAW; ebd., Bl. 104–110. 849  Vgl. Wittbrodt: Ausführungen Schobers am 1.6.1964; ebd., Bl. 112–114. 850  Wittbrodt: Barwichs Flucht, vom 15.10.1964; ebd., Bl. 176.

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rechtzeitig dem MfS hätte mitteilen müssen, schließlich könnte es auch Material gewesen sein, das Barwich einem westlichen Geheimdienst zukommen ließ. Ein willkommenes Argument, um ihm am 17. Dezember als GI »Anton« zu werben.851 Im MfS-Amtsdeutsch: wurde der Umstand »seiner verspäteten Mitteilung über Barwichs Beziehungen zu westlichen Geheimdiensten [sic!]« als Werbungsbegründung ausgeführt.852 Eine Erpressung, die das MfS unverhohlen verschriftete: Er müsse sich entscheiden, »dass er nach einer Seite hin konkret werden muss, wenn er sich in Zukunft behaupten will. Er hat sich verstandesmäßig für uns entschieden. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass er heikle Fragen umgeht oder abschwächt.« Das MfS war es leid, dass Wittbrodt bislang lavierte mit einem Ausgleich »zwischen den Forderungen der Partei einerseits und dem Verhalten der bürgerlichen Wissenschaftler« andererseits. Man wolle ihm noch keinen Auftrag geben, sondern prüfen, ob er selbst aktiv werde, denn es war ein Brief von Barwich an ihn unterwegs, den es bereits abgefangen hatte. Die Werbung wurde von den Offizieren Horst Ribbecke von der HA XVIII/5 und Günther Jahn vorgenommen.853 Es liegt eine schriftliche Verpflichtungserklärung vom 17. Dezember vor.854 Die Durchsicht der Arbeitsakte zeigt, dass die äußerst spärlichen Berichte (vielfach nur Dokumente) den offiziell, funktional zu übergebenen adäquat waren. Oft waren es persönliche Belange, die er mitteilte. Es war dies die Zeit, in der seine Perspektivlosigkeit wuchs; ihm ist mehrfach deutlich gemacht worden, zu gehorchen. Dass für eine saubere Person wie Wittbrodt, die nur den ehrlichen Umgang mit anderen kannte, mit all diesen Hässlichkeiten gesundheitliche Probleme nicht ausbleiben konnten, war zu erwarten. Inmitten einer schweren, auch langfristigen Erkrankung schrieb ihn das MfS endlich ab. Der Abschlussbericht datiert vom 1. Dezember 1969.855 Auch er war Opfer der SED und des MfS, in einer Rubrik, die die Aufarbeitung nicht kennt. Sein Kampf bestand darin, für die führenden bürgerlichen Wissenschaftler Investitionen (rechtzeitig) zu bekommen und den Primat der Grundlagenforschung zu verteidigen. Wirklich bewegen konnte er wenig, da die Verteilungsmasse an Investmitteln zu gering war. Inventionen Fritz Zwicky fragte 1949, »was zu tun« sei »in einer dürren Periode wie der heutigen, in welcher kein überragendes Genie mehr vorhanden zu sein scheint«. Und er fragte weiter, ob es »eine grundlegende Methode« gebe, »eine Philosophie der wissen851  Vgl. HA XVIII/5/2 vom 5.10.1964: Wittbrodt über Barwich; ebd., Bl. 181 f. 852  HA XVIII/5 vom 23.12.1964: Bericht über die Werbung am 17.12.1964; ebd., Bl. 190 f., hier 190. 853  Ebd., Bl. 190 f. 854  Vgl. Verpflichtungserklärung vom 17.12.1964; ebd., Bl. 192. 855  Vgl. HA XVIII/5 vom 1.12.1969: Abschlussbericht; ebd., Bl. 210 f. sowie HA XVIII/5 vom 1.12.1969: Beschluss zum Einstellen eines IM-Vorgangs; ebd., Bl. 212 f.

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schaftlichen Forschung, die im Prinzip imstande ist, Erfindungsgabe und Genie zu ersetzen«. Sein Beitrag behandelt die Notwendigkeit der Vorurteilslosigkeit, eine Forderung, die unerfüllt dazu führt, dass sie denjenigen, »der an konventionelle wissenschaftliche, gesellschaftliche oder politische Ideologien gebunden ist, unfehlbar zu Fall bringen« würde. Und weiter: »Morphologisches Denken und Handeln gelingt nur dem wahrhaft freien Menschen und stellt deshalb die fundamentale Stärke der Demokratie dar. Alle Diktaturen und absoluten Ideologien würden sich durch morphologisches Denken und Handeln das eigene Grab graben.« Erheblich reduziert, bedeutet das morphologische Denken nach Zwicky Folgendes: Scharfe Formulierung des Problems (1). Herausschälung der impliziten Parameter (2). Anordnung aller Lösungen des Problems in einem »morphologischen Kasten«  (3). Leistungsbewertung aller möglichen Lösungen unter dem Aspekt der ursprüng­ lichen Zielsetzung (4). Auswahl der leistungsfähigsten Lösungen (5). Wesentlich war Zwicky die »direkte Aktion« und nicht »unfruchtbares Teegeschwätz«.856 Tatsächlich kann gezeigt werden, dass diese den Natur- und Technikwissenschaften immanente Methode durch Außeneingriffe meist empfindlich gestört, eingeschränkt oder gar zerstört wurde. Die morphologische Methode entspricht dem Autonomieanspruch der Wissenschaften als Grundlage der Invention unter dem Aspekt der modernen, kollektiv und industriell kultivierten Wissenschafts­ gestaltung. Es wundert vielleicht, warum 1949 eine solche Selbstverständlichkeit so prononciert dargelegt werden musste, wie es Zwicky für dringend notwendig hielt. Er hatte zwar an ganz Deutschland gedacht, doch speziell die Lage der Wissenschaften in der SBZ / DDR dürfte ihm nicht entgangen sein. Dort wurde gerade versucht, die Wissenschaft zu instrumentalisieren, sowohl mit weichen als auch mit harten Mitteln. Ein zweites Phänomen, das in den heutigen Analysen kaum je Gegenstand der Erörterung ist, ist die für Inventionen notwendige Begeisterung für das Fach sowie die Fähigkeit für ein selbstbestimmtes Suchen und Finden von Lösungen. Der SED missfiel alles Selbstbestimmte, Draufgängerische, alle Begeisterung, die nicht von ihr gestiftet und kontrolliert worden war. Und dies erstreckte sich – im Widerspruch zur eigenen Propaganda und zu manchen Auffassungen heute – bis an das Ende der DDR. Ein inoffizieller Mitarbeiter der TH Ilmenau berichtete im Sommer 1986, dass er in einer Ausgabe der Zeitschrift Jugend und Technik einen Artikel gefunden habe, der einen jungen Forschertypus zum Inhalt habe, der »voll« auf jemand zutreffe, den er kenne. Der verwende »seine ganze Zeit dafür«, »um bei den Dingen, die ihn interessieren, vorwärtszukommen«. Der nämlich sei »ein Draufgänger, unerschrocken«, und manchmal würde der »auch unredlich« handeln, »um Dinge durchzusetzen, die er braucht, aber im Sinne der Wissenschaft«.857 Solch ein Eigen856  Zwicky, Fritz: Morphologische Astronomie, in: Physikalische Blätter 5(1949)1, S. 4–10, hier 4 f. 857  BV Suhl, Abt. XX, vom 14.8.1986: Bericht von »Nobi« vom 7.8.1986; BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Nr. 1522, Bl. 20 f., hier 20.

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sinn war in der DDR nicht beliebt. Sie wurden freundlich an die Hand genommen, diszipliniert und gesteuert. Gelang dies, war es meist auch aus für eine Forscherkarriere mit Weltzuschnitt. Und es war auch jeweils ein Aus für Inventionen. Der Eigensinn gestandener Wissenschaftler war der SED regelrecht verhasst, ein Eigensinn, der der DDR – und der Weltwissenschaft ganz allgemein – viel hätte schenken können. Nun sind dies aber Phänomene, die auch in der postmodernen Welt, schaut man in das Innenleben der heutigen Wissenschaft, mindestens einen gebrochenen Status besitzen. Der Physikochemiker und Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts an der Universität Marburg, Hans Kuhn, hatte seine Kündigung zum 30. Juni 1970 wegen der unzumutbaren herrschenden Bildungspolitik eingereicht: »An der Universität sollte die für eine freie Ideenentfaltung wichtige Begeisterung an der naturwissenschaftlichen Denkweise, die Freude am Entdecken von Zusammenhängen und am Erfinden neuer Realisierungsmöglichkeiten geweckt werden. Von einer solchen freien und lebendigen Forschung sind in der Vergangenheit die entscheidenden Impulse ausgegangen, die zu den neuen Erkenntnissen und Entwicklungen geführt haben, durch die unser naturwissenschaftliches Zeitalter geprägt ist.«858 Kuhn führte detailliert eine ganze Reihe von teils gravierenden Mängeln auf, beispielsweise zur Arbeit der Forschungsgruppe und zum Selektionsverfahren für den Hochschullehrernachwuchs.859 Auch hatte er dargelegt, wie Forschung in Richtung von Inventionen organisatorisch eigentlich auszusehen habe: zu Ausbildungsaufgaben, Organisationsform, Grundausbildung, Sinn der Ausbildung zum Forschen, Organisation der Ausbildung zum Forschen, Größe, Leitung und Struktur der Forschungsabteilung sowie zur Frage des Selektionsprozesses bei der Auswahl des akademischen Nachwuchses.860 Robert Rompe wusste dies nur zu genau. Etwa 1976, als er zur Begeisterung ausführte: »Alle großen wissenschaftlichen Leistungen, wie der Aufbau der Quanten­ physik oder der großen Gebiete der Technik wie Energietechnik, Elektronik, Flugtechnik, Auto, haben ihre Mitarbeiter begeistert. Ohne diese innere Einstellung wären diese wunderbaren Schöpfungen menschlichen Geistes und Initiative nicht zustande gekommen.« Ist aber deshalb »die Ermittlung und Vorgabe aussichtsreicher, begeisternder Gebiete und Probleme so bedeutungsvoll«, wie er glaubte?861 Sind es nicht vielmehr Begeisterte, die fehlten? Denn nur Begeisterte können begeistern! Funktionäre konnten dies im ideologischen Korsett der DDR schon gar nicht. Martin Strauss hatte 1965 zur reinen Grundlagenforschung kritisch angemerkt, dass sie »praktisch überhaupt keine Impulse aus den gesellschaftlichen Bedürfnissen« erhalte, »es sei denn, man rechne die wissenschaftliche Neugier zu letzteren 858  Kuhn, Hans: Gedanken über die Struktur einer naturwissenschaftlichen Universitätseinrichtung, in: Physikalische Blätter 26(1970)7, S. 313–316, hier 313. 859  Vgl. Die Hohe Schule in Hessen. Aus Äußerungen von hessischen Dozenten, auch Auszüge aus dem Kündigungsschreiben Kuhns, in: Physikalische Blätter 26(1970)8, S. 371–375. 860  Vgl. Kuhn: Struktur einer naturwissenschaftlichen Universitätseinrichtung, S. 313–316. 861  Rompe, Robert: Rede, in: APK 1(1976)2, S. 14–21; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 284, S. 20.

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hinzu«, die aber sei »dafür in viel höherem Maße als in früheren Zeiten abhängig vom Stand der Technik«. Aber nur wenige Jahre später war sie nahezu völlig von den Schwankungen der notorisch schwachen Finanzkraft und den persönlichen Einschätzungen von SED-Funktionären abhängig. Wenngleich dieser Gedanke zu jenen zählte, die Strauss zum »bevorstehenden I. Philosophischen Kongress der DDR im April 1965 und zu den eingereichten Thesen ›Naturwissenschaft, Technik und Philosophie‹« verfasst hatte, die insgesamt widersprüchlich zusammengestellt waren, blieb er seinem Primat der Grundlagenforschung treu; zum Beispiel die inneren Faktoren betreffend: »Zu den inneren Faktoren gehört vor allem, dass die relative Eigengesetzlichkeit der naturwissenschaftlichen Forschung vor allem in der Physik sich immer mehr einer absoluten Eigengesetzlichkeit nähert.« Strauss plädierte nahezu für eine uneingeschränkte Förderung der Grundlagenforschung, es müsse »alles vermieden werden, was zu einer Beschränkung der Grundlagenforschung auf den zukunftsträchtigen Gebieten führen würde, sogar wenn auf diesen Gebieten bei uns infolge des Mangels an hierfür verfügbaren Nachwuchskräften keine entscheidenden Beiträge geliefert werden könnten«.862 Die SED hatte es also durch die Rompes, Steenbecks, Hartmanns und Strauss’, die charakterlich und politisch nicht verschiedener sein konnten, immer gewusst, woran die Wissenschaftspolitik der DDR laborierte, was ihr eigentlich notgetan hätte. Sie hatte es sogar zunehmend nicht vermocht, auf diese Stimmen zu hören. Allein mit dem Blick auf die moderne, mathematisierte Form der Physik stellte Strauss gar einen »neuen Ausbildungsmangel« fest, »nämlich das Fehlen einer systematischen Ausbildung in Wissenschaftstheorie im engeren Sinne, insbesondere Wissenschaftslogik«.863 Tatsächlich zog sich diese Zustandsbeschreibung wie ein roter Faden durch die Geschichte der DDR. Weder der erzelitäre Strauss noch der pädagogisch befähigte Hartmann, weder der SED-treue Rompe noch der vermittelnde Steenbeck erreichten die SED. Sie wollte es nicht hören, weil sie nicht im Traum daran dachte, Offenheit und Freiheit zu gestatten. Nur der Typ »Strauss«, den es durchaus in einigen prominenten Fällen gab, verbaute es sich selbst, gehört zu werden. Der SED zu geistig und nicht hörig genug, den Wissenschaftlern zu unfertig und überdreht. Rompe ließ das Thema der besseren (Aus-)Bildung zunehmend nicht mehr los. Anfang 1977 verfasste er Bildungsthesen, die er auf Akademieebene zur Diskussion zu stellen beabsichtigte. In einem Brief u. a. an Kuczynski vom 25. Mai 1977 bat er, seine sechs Thesen zu Bildungsproblemen kritisch zu hinterfragen.864 Sein zentraler Zielpunkt war wie so oft, Grundlagen besser zu vermitteln. So heißt es in seiner zweiten These, dass es die Aufgabe der Universitäten und Hochschulen sei, »Grundwissen zu vermitteln und dabei disponible Kader auszubilden mit einem Gefühl für 862  Strauss, Martin: Thesen in Vorbereitung des I. Philosophischen Kongresses der DDR 1965 vom 10.12.1964; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 61, S. 1–4, hier 2 f. 863  Ebd., S. 4. 864  Vgl. Schreiben von Rompe an Kuczynski vom 25.5.1977; ArchBBAW, Nachlass Kuczynski, Nr. 48, 1 S.

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die Entwicklungstendenzen der Wissenschaft und der Fähigkeit, sich ständig zu vertiefen«. Und Kuczynski hatte, was nicht verwundert, wer seinen Kampf für Bildung und Wissenschaft verfolgte, genau diese These mit drei Ausrufezeichen glossiert. Die dritte These von Rompe behandelte die »Verkopplung von Forschung und Lehre«, diese sei, so Rompe, »von großer gesellschaftlicher Bedeutung« und »auch wichtig für die Ausbildung des Wissenschaftlers« und bedürfe »der aktiven Zusammenarbeit der Universitäten, Hochschulen, Akademien und Industrieinstitute«. Kuczynski glossierte, dass davon bei uns »nicht die Rede« sein könne. In der 4. These behandelt Rompe das Problem der Grundlagenforschung: »Das Nachdenken über Grundlagenprobleme« sei »lebensnotwendig für die schöpferische Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik.«865 Zu diesem Brief und den Thesen ist als Anlage ein Protokoll der Klasse Physik beigefügt, das Rompe ebenfalls Kuczynski schickte. Hierin ist der Mangel in der Physikausbildung formuliert, der darin bestand, nicht Physiker für den künftigen Beruf, sondern im Hinblick auf die Abschlussprüfungen an den Universitäten auszubilden: »Das Studium bereitet die Studenten nicht auf das Abschlussexamen vor, sondern auf ihre berufliche Tätigkeit als Physiker während ihres ganzen Lebens.«866 Das Papier atmet regelrecht den Ärger an der mangelnden Verknüpfung von Physik an der Universität und Physik in der Industrie. Nach Harry Maier existiert eine notwendige Bedingtheit von Invention und Inno­vation. Ihnen gemeinsam ist, dass sie Ergebnis kreativer Arbeit sind (also Neues hervorbringen). Ein Prozess, »der mit der Persönlichkeit des Schöpfers, aber auch mit seinen Arbeits- und Lebensumständen zusammenhängt«. Das Originalprodukt dieser kreativen Arbeit in der Forschung ist die wissenschaftlich-technische Pro­ blemlösung, die Invention genannt wird. Erst Forschung und Produktion zusammen verwandeln eine Invention in eine Innovation.867 Kann eine Projektidee oder zufällige Erfindung in Forschung und Entwicklung validiert werden, dann kann auch von einer Erfindung oder Invention gesprochen werden. Erst über ein Konzept zu Investition, Fertigung und Marketing, das Erfolg verspricht, kommt es zur sogenannten Produkt- oder Prozessinnovation. Ein technischer Misserfolg in der Phase der Forschung und Entwicklung dagegen bedeutet, dass keine Invention vorliegt. Ein Misserfolg in der Phase der Investition, Fertigung oder auch im Marketing ist ein ökonomischer Misserfolg, also keine Innovation.868 Allein die – geschönten – Statistiken der Kennziffern für Forschung und Entwicklung 1970 bis 1975 zeigen ein bedenkliches Bild: Während für die sechs Jahre das Wachstum der Beschäftigten für Forschung und Entwicklung (F / E) mit 865  Rompe vom 25.5.1977: Thesen zu Bildungsproblemen; ebd., S. 1 f. 866  Rompe zum Brief vom 25.5.1967: Auszug aus einem Protokoll der Klasse Physik; ebd., S. 1–3, hier 1. 867  Maier, Harry: Innovation oder Stagnation: Bedingungen der Wirtschaftsreform in sozialistischen Ländern. Köln 1987, S. 117. 868  Vgl. Brockhoff, Klaus: Forschung und Entwicklung. Planung und Kontrolle. München, Wien, Oldenburg 1989, S. 18 f.

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124,9 Prozent und der Ausrüstungsgrad pro Beschäftigter gar um 159,5 Prozent angegeben wurden, fehlte bei den Investitionen für F / E (inklusive Ausrüstungen) und separat für Ausrüstungen für F / E eine solche Wachstumsangabe. Der Grund: die Werte für Investitionen für F / E oszillierten praktisch mit einem Minimum für 1972 (280 Millionen Mark) und einem Maximum für 1974 (363,6 Millionen Mark). Für 1975 fiel der Wert noch unter dem für 1971 (290,4 Millionen Mark). Bei Ausrüstungen für F / E ein analoges Bild. Dieser unstete Verlauf zeigt sich ebenfalls für denselben Zeitraum für den Bereich der Industrieministerien, und noch einmal, mit einer Jahresverschiebung für den Bereich MEE. Die Werte für Investitionen für F / E (in Klammern für Ausrüstungen für F / E) lauteten: 1971: 56,4 (42,3); 1972: 40,1 (34,9); 1973: 56,8 (44,5); 1974: 51,6 (40,0); 1975: 48,7 (43,3). Das Wachstum in der Kennziffer »Beschäftigte für F / E« wurde mit 108,7 Prozent angegeben.869 Grundsätzlich sollte bereits die Invention in sich technisch machbar sein. Dies gilt auch für die Technologie! Eine zu hohe Misserfolgsquote in der Produktionsphase zeugt von einer unreifen Invention. Das bezieht sich interessanterweise auch auf »importierte« Inventionen, deren Materialität Black-Box-Charakter aufwies. Das hat die DDR nach der abrupten Beendigung der Hartmann-Phase in der Mikroelektronik-Entwicklung erleben müssen, als sie Ende der 1980er-Jahre den 256-Kilobit-Speicherchip in die Massenproduktion überführte und auch Hartmann selbst, als sie ihm nicht die hinreichende Zeit und hinreichenden Mittel für ausgereifte eigene Lösungen in der Entwicklungsphase einräumte. Die Entwicklung – als Produkt von sukzessiven Inventionen – ist erst abgeschlossen, wenn die Produktausschussquote hinreichend niedrig und die Produktqualität hinreichend hoch und vorhersagbar ist.870 3.4.2 Innovation Was tun wir, wenn mit Josef Pieper gilt, dass Geschichte nur als Fragment gegeben ist? Die Antwort liefert er uns gleichsam mit: Man führt dem Fragment weitere Fragmente zu. Bei aller Ergänzung des Fragmentarischen aber bleibt es doch immer nur ein Fragment. Quantitative Ergänzungen des Fragments können paradoxerweise den Charakter des Fragmentarischen noch steigern.871 Wenn dies so ist, können wir dann guten Gewissens überhaupt eine Geschichte der Innovation schreiben, wenn wir an Maiers Werk über die Innovationsproblematik in der DDR denken?

869  Vgl. Forschungsstelle beim MWT: Kennziffernübersicht; BArch, Abt. Potsdam, DF4/14646, S. 1–156 u. weitere num. S., hier A, B u. F. 870  »Solange man nur hoffen kann, dass der Produktionsprozess ›diesmal‹ störungsfrei läuft und das Produkt ›diesmal‹ die gewünschten Eigenschaften hat, für das nächste Mal aber keine Aussage wagen kann, darf nicht von einer abgeschlossenen Entwicklung gesprochen werden.«, in: Brockhoff: Forschung und Entwicklung, S. 24. 871  Vgl. Pieper: Hoffnung und Geschichte, S. 34 f.

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Er sah bereits alles Wesentliche, obgleich er nicht an der Basis des Geschehens selbst tätig war. Die Beschäftigung mit volkswirtschaftlichen Fragen der DDR führt regelmäßig zu logischen Fehlstellen oder Brüchen in dem Sinne und Maße, wie es opportun scheint, mit Standardbegriffen und -formeln operieren zu müssen, denen der entsprechende empirische Datenzugriff fehlt. Es mag sich hier ein Unbehagen auf andere Weise fortsetzen, das der ehemalige Leser ökonomischer Literatur der DDR nur zu gut kannte, nämlich, dass die DDR-eigene ökonomische, wirtschaftliche, soziologische und betriebswirtschaftliche Semantik mit der erlebten Realität wenig zu tun hatte.872 Die Realität sah komplett anders aus als jene Welt der Determiniertheiten, Prozesse, Prinzipien und Kennziffern. Von den Auswüchsen der Planberichterstattung und Statistik sowie des fehlenden Zugriffs auf wahre Daten ganz zu schweigen. Ein sekundäres Anliegen dieses Kapitels ist es, durch Präzisierung wesentlicher Fragen sowie ausgewählter Begriffe und Bedingungen der Innovationsproblematik zu zweifelsfreieren Urteilen zu gelangen. Dies konnte vor allem erreicht werden über den komplexen Datenzugriff und zum anderen durch strikte Reduzierung des Gesamtphänomens »Innovationskultur« auf nur ein Fragment der Technologiegeschichte der DDR, nämlich dem der Frühgeschichte der DDR-Mikroelektronik. Der DDR fehlte nicht der Wille zu Innovationen, wenngleich sie nahezu über ihre gesamte Existenz hin keinen rechten Begriff davon hatte und in der Literatur seither von Innovationsblockaden und nicht befriedigten Innovationszwängen die Rede ist. Die Innovationsblockade der DDR ist nicht nur ein substanzielles, materiales Problem gewesen, sondern auch ein normatives und sprachliches. Die Mikroelektronik-Technologie zu entwickeln, war ein solcher Zwang. Doch neben dem fehlenden Begriff »Innovation« fehlte auch – mit wenigen lokalen Ausnahmen – jener der »Technologie«. Das ist bemerkenswert, da die DDR ihre wissenschaftlich-technische Utopie medial zelebrierte und sich das sozialistische Lager eine Führerschaft hierin andichtete. Zum Definitionsverständnis des Begriffs »Innovation« Der Begriff »Innovation« ist heute ausdifferenzierter als zu DDR-Zeiten, er wird nachgerade inflationär gebraucht und verkommt zu einem Schlagwort in dem Maße, wie es einen Mangel an Basis- und Durchbruchsinnovationen zu registrieren gilt. Einst klassisch aus Inventionen nahezu naturgemäß heraus entstanden, wird die Innovation heute mehr und mehr abgelöst durch staatspolitische Steuerungsimpulse (Windkraftanlagen und Stromtrassen).

872  Hier ist nicht nur die umfangreiche fachbezogene propagandistische DDR-Literatur gemeint, sondern jene der gehobenen Art, zum Beispiel: Gatovskij, Lev M. / Kutta, František / Maier, Harry (Hrsg.): Wissenschaft – Ökonomie – Fortschritt. Berlin 1977.

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Der Begriff Innovation soll hier für jenen produkt- oder technologieeinführenden Vorgang in der Volkswirtschaft gelten, der zwischen Invention (Erfindung mit volkswirtschaftlicher Relevanz durch Forschung und Entwicklung) und Diffusion (Marktdurchdringung) liegt. Der Platz der Innovation ist mithin jener Bereich in der Volkswirtschaft, der am empfindlichsten auf zentralwirtschaftliche Eingriffe reagiert, insbesondere wenn diese inkonsistent erfolgten. Wir unterscheiden zwischen Invention (Making things possible)  und Innovation (Making things happen).873 Oder mit Maier gesagt: Forschung und Produktion zusammen verwandeln eine Invention in eine Innovation.874 In der DDR hatte es keine Marktwirtschaft, oder anders gesagt: keine freien produktionswirksamen Prozesse gegeben. Innovationen  – also produktionsprozessverändernde Produktionstechniken  – erscheinen in der DDR insofern verformt, gestülpt, gequetscht, unvollendet, abgewürgt oder verfremdet. In der DDR ist der Begriff Innovation lange Zeit verschwiegen worden. Schumpeters Bücher lagen in den Giftschränken der Bibliotheken. Er zählte nicht zum Kanon volkswirtschaftlichen Denkens. Das bedeutende Ökonomische Lexikon der DDR in drei Bänden (ein 15 000 Begriffe umfassendes und von circa 500 Wissenschaftlern und Lektoren bearbeitetes Buch) erwähnt selbst in seiner dritten Auf‌lage von 1978 – dem Jahr, in dem die DDR massiv versuchte, die Technologie der Mikroelektronik zu beherrschen – das Stichwort Innovation nicht. Allein der Begriff »Erfindung«, den wir gewöhnlich als Invention zu verwenden gewohnt sind, subsummiert Elemente der Innovation: »Erfindung – gegenüber dem Weltstand neue Lösung eines technischen Problems, durch die wesentliche Seiten der bekannten Technik weiterentwickelt werden. Erfindungen haben im Ergebnis schöpferischer Tätigkeit die Entwicklung neuer Erzeugnisse oder produktionstechnischer Verfahren sowie die Weiterentwicklung bekannter Erzeugnisse oder Verfahren zum Gegenstand.«875 Auch definiert das Lexikon Begriffe wie »Erneuerung der Produktion«, »Erneuerungsgrad« und »Erneuerungsmodelle«. Unter »Erneuerung der Produktion« findet sich schlechthin die Innovationsidee: »Erneuerung der Produktion  – Ablösung veralteter oder nicht mehr dem Bedarf entsprechenden Erzeugnisse durch Neu- bzw. Weiterentwicklung und Veränderung der entsprechenden Produktionsbedingungen (Technologie, Organisation usw.). Die Erfindungen ist notwendig, um die sich ständig weiterentwickelnden Bedürfnisse und den wachsenden Bedarf zu befriedigen, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt […] durchzusetzen und den Reproduktionsprozess zu intensivieren. Sie stellt hohe Anforderungen an die wissenschaftlich-technische Vorbereitung der Produktion und kann mithilfe 873  Einige Vorgedanken des Kapitels in: Buthmann, Reinhard: Hat es eine Innovationskultur in der DDR überhaupt gegeben, geben können?, in: Schneider, Jürgen: Die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR (1945–1990). Eine ordnungstheoretische Analyse (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 132.2). Stuttgart 2017, S. 1136–1142. 874  Vgl. Maier: Innovation oder Stagnation, S. 117. 875  Ökonomisches Lexikon in drei Bänden. Berlin 1978 (3., neu bearbeitete Auf‌lage), Bd. A–G, S. 562.

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des Erneuerungsgrades gemessen werden.«876 Elemente des Innovationsbegriffs beschreibt ferner das Begriffspaar »Forschung und Entwicklung«, jene »Gesamtheit der Tätigkeiten zur Gewinnung neuer wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse sowie zur effektiven Nutzung dieser Erkenntnisse in der gesellschaftlichen Praxis, insbesondere in der Produktion.«877 Kurt Erdmann stellt fest, dass der Begriff Innovation mit den Begriffen wissenschaftlich-technische Revolution und wissenschaftlich-technischer Fortschritt »mit abgedeckt« worden sei.878 Erstmals sei der Begriff in der 5. Auf‌lage des Wörterbuchs der Ökonomie. Sozialismus879 von 1983 verwandt worden. Das in 6. Auf‌lage 1984 erschienene Buch definierte Innovation folgendermaßen: »Der Innovationsprozess beginnt bei der grundlegend neuen Idee, geht über den Forschungs- und Entwicklungsprozess, die technische Realisierung, die oft Investitionen erfordert, und die rasche Produktion bis zum Absatz der Erzeugnisse in großer Breite.« Die Autoren legten insbesondere Wert auf die Verkürzung des Gesamtprozesses, also auf die rasche Markteinführung. »Die Innovationsgeschwindigkeit« müsse »dem Tempo entsprechen, in dem sich international der Generationswechsel bei Erzeugnissen und Verfahren« vollziehe. »Heute« seien »Innovationsprozesse aus einem Sonderfall zu einer ständigen, normalen Aufgabe geworden«.880 Als Spezialliteratur erwähnt Erdmann das von Werner Sydow herausgegebene Sammelwerk In die Zukunft gedacht. Wissenschaftler aus sechs Ländern entwickeln Ideen zu Wissenschaft und Technik.881 Jenes Feld, wo die Innovation im Rahmen der sogenannten wissenschaftlich-technischen Revolution gewissermaßen namenlos zu Hause war, hieß in der DDR die intensiv erweiterte Reproduktion. Oft wurde der verdeckte Begriff der Innovation synonym oder in Einheit mit Intensivierung, Effizienz-Steigerung, Veredlung oder auch nur Kostensenkung gebraucht. Den Begriff Innovation in der Veredlung oder in der Intensivierung zu setzen, ist zweifelhaft, da die Hürden zu solchen zu herabgesetzt erscheinen. Auf einer Tagung 1982 in Marburg zu Innovationsproblemen in Ost und West hatten zwei Referenten aus der DDR den Begriff Innovation jedenfalls nicht zu verwenden gewagt.882 Ein Mann aus dem ZK der SED habe ihn, so Haustein in seiner Erinnerung, Anfang der 1980er-Jahre ausgelacht, weil er den Begriff Innovation, der damals »als unmarxistischer Westbegriff abgelehnt« worden war, gebraucht und auf Marx verwiesen habe: »dass schon Marx das Wort in der von ihm selbst redigierten und ergänzten französischen Ausgabe des ersten Bandes des 876  Ebd., S. 567. 877  Ebd., S. 577. 878  Erdmann, Kurt: Innovationsbemühungen und zentrale Planung – Kernanliegen des Wirtschaftssystems der DDR, in: FS-Analysen, (1986)5: Die Wirtschaft der DDR unter Leistungsdruck und Innovationszwang, S. 5–58, hier 15. 879  Wörterbuch der Ökonomie. Sozialismus. Berlin 1983, S. 401 f. 880  Wörterbuch der Ökonomie. Sozialismus. Berlin 1984, S. 401–403. 881  Sydow, Werner: In die Zukunft gedacht. Wissenschaftler aus sechs Ländern entwickeln Ideen zu Wissenschaft und Technik. Berlin 1983. 882  Vgl. Erdmann: Innovationsbemühungen und zentrale Planung, S. 16.

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›Kapitals‹ am Beispiel der Markteinführung einer neuen Methode in der Eisen- und Stahlherstellung verwendete«.883 Indes geschah es in diesem Jahr, also 1982, dass das Lexikon der Wirtschaft die Begriffe »Innovationen« und »Innovationsprozesse« auswies: »Innovationen – Bezeichnung für Neuartigkeit von Erzeugnissen, Dienstleistungen, Organisationsformen, die auf wissenschaftlichen Aussagen basieren und deren Realisierung z. T. bedeutende wissenschaftlich-technische bzw. wissenschaftlich-organisatorische Leistungen darstellen.«884 Immerhin ein Jahr früher als in der 5. Auf‌lage des Wörterbuches der Ökonomie. Dieser Artikel über Innovationsprozesse ist recht flach gehalten und hebt vor allem auf den Internationalisierungsaspekt von Innovationen ab. Er erwähnt jedoch einen Umstand, der für die DDR ein großes Problem darstellte, wenn bei »der Beurteilung von Innovationen« zu bedenken aufgegeben war, »dass von Erfindungen bzw. neuem technischem Wissen allein noch keine volkswirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen oder ökonomischen Wirkungen« ausgehen. Doch der typische Lösungsansatz entsprach der Zentralplanwirtschaft: »Erst entsprechende Entscheidungen über die Anwendung von Erfindungen bzw. neuem Wissen können die geplanten Wirkungen erzielen.«885 Erdmann stellte 1986 fest, dass es kein Zufall sein könne, wenn binnen nur eines Monats gleich »mehrere offiziöse Aufsätze zur Vervollkommnung des Wirtschaftssystems und zur Innovationsproblematik« erschienen seien. Mit dem Beschluss des Politbüros und des Ministerrates vom August 1986 sei das »offizielle Startsignal für ein strafferes Innovationskonzept« gegeben worden. Er deutete Günter Mittags Äußerungen im Neuen Deutschland vom 3. Oktober als dringenden Innovationsappell und verwies diesbezüglich auf die Langfassung des Artikels in der SED-­ eigenen Hauszeitschrift Einheit.886 Die Innovationsoffensive erhielt am 8. Oktober 1986, verwaltungssprachlich verklausuliert unter dem Titel »Verordnung über Erneuerungspaß und das Pflichtenheft«, Gesetzeskraft.887 Die Verordnung trat am 1. Januar 1987 in Kraft. Interpretatorisch ist jedoch zu beachten, dass dieses Ja zur Innovation zwei Reflexen gefolgt sein könnte, die es erheblich relativieren. Zum ersten wegen der massiven Bedeutung der Hochtechnologie für die ehrgeizigen Militärprogramme der DDR wie Filigran, Heide und Präzision (die allererst das Schlagwort von den Schlüsseltechnologien lieferten)888 sowie zweitens als Antwort auf die Politik Michail Gorbatschows. Das Phänomen der exzessiven  – militä­ rischen – Durchdringung vieler Forschungsprozesse und -stellen der DDR hatte zuvor so nie existiert. 1955, als der Ministerrat der DDR Maßnahmen zur Förderung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts beschloss, war die diesbezügliche 883  Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 17. 884  Albrecht, Günter: Lexikon der Wirtschaft. Arbeit Bildung Soziales. Berlin 1982, S. 476 f., hier 476. 885  Ebd., S. 477. 886  Mittag, Günter: Leitung, Planung und wirtschaftliche Rechnungsführung in der Volkswirtschaft der DDR, in: Einheit 41(1986)10, S. 876–883. 887  Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 30, vom 8.10.1986, S. 409–415. 888  Vgl. Buthmann: Hochtechnologien und Staatssicherheit, passim.

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Sprache bedeutend klarer.889 Dies hier zu erwähnen, ist für die Untersuchung nicht unbedeutend, denn die Programmatik der SED zur Frage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts war zumindest von 1955 bis Ende der 1970er-Jahre echt, weil vorrangig auf den zivilen Sektor der Volkswirtschaft zielend.890 Die Annahme von Innovationsprojekten kleinerer Art aus Forschungsinstitutionen durch Produktionsbetriebe war ein generelles Problem. Werner Hartmann (Kap.  4.1) benötigte für die Mikroelektronik zahlreiche Groß- und Kleingeräte, die es auf dem DDR- resp. RGW-Markt nicht gab und die größtenteils auf der Embargoliste des Westens standen; ein Beispiel: Hartmann hatte Paul Görlich von Carl Zeiss Jena direkt kontaktiert und um Herstellung fotolithografischer Geräte gebeten. Görlich sagte zwar einer Prüfung zu, beschied aber abschlägig, weil er Absatzprobleme für das plantechnisch gebunde Zeiss befürchtete. Hartmann erfuhr später von Zeiss-Mitarbeitern, dass »Görlich in seinem Arbeitsbereich bei CZ jede Diskussion über diese ›Spinnerei‹ ME verboten!« habe. Das bedeutete einen Zeitverlust von mehreren Jahren: »Wir begannen diese Arbeiten selbst, sie führten später zu großen Erfolgen von Carl Zeiss im Export und in der Zusammenarbeit mit der UdSSR.«891 Auch Maier verweist auf den Fakt, dass in der DDR bis 1986 kaum von Produktinnovationen und von der Innovationsrate die Rede war, aber plötzlich Zahlen im Raum standen, die nirgendwo in der Welt auch nur annähernd erreicht worden seien. Das Ergebnis mündete folglich in Schein-Innovationen und war wie auf Hartmanns Scheitern zugeschnitten: »Alle Versuche, Innovationen von der Zentrale in die Produktionseinheiten hineinzudrücken, müssen scheitern. Nur wenn eigene Innovationsstrategien verfolgt werden und die Betriebe mit ihrem Erfolg auch wachsen können, werden sie die mit grundlegenden Innovationen verbundenen Risiken auf sich nehmen.« In Bezug auf die Monopolisierung in der DDR und die systemimmanente Innovationsträgheit in den Kombinaten schreibt Maier – gleichfalls wie auf Hartmanns Streben zugeschnitten: »Tatsächlich haben sich kleinere Wissenschafts- und Ingenieurbetriebe in der Phase der Erstrealisierung von Innovationen als unersetzlich erwiesen. Die Bereitschaft einer Gesellschaft, solche Betriebe entstehen und mit Erfolg wachsen zu lassen, ist ein wichtiges Kriterium ihrer Innovationsfähigkeit.«892 Die nach außen hin nahezu hermetisch organisierte und kommunizierte Zentralverwaltungswirtschaft der DDR mit ihrer fehlenden zeitlichen und materiellen Elastizität sowie erheblich eingeschränkter Weltoffenheit und nicht zuletzt die problematische Kooperation der Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen mit sozialistischen Betrieben und dem völlig unterentwickelten Dienstleistungssektor 889  Vgl. Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1955, Nr. 63, S. 521–531. 890  Vgl. Ebert, Georg / K och, Gerhard / Matho, Fred / M ilke, Harry: Ökonomische Gesetze im gesellschaftlichen System des Sozialismus. Berlin 1969; Seickert, Heinz: Produktivkraft Wissenschaft im Sozialismus. Berlin 1973; Beyer, Achim et al.: Wissenschaft in der DDR. Köln 1973. 891  TSD; Nachlass Hartmann, H 51 f. 892  Maier: Innovation oder Stagnation, S. 90–92.

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machten eine effektive Innovationskultur bereits im Ansatz schwierig, oft unmöglich. Joseph A. Schumpeter glaubte den Vorteil zentral gelenkter Volkswirtschaften darin zu sehen, Basisinnovationen leichter durchsetzen zu können. Darauf verweist auch Maier.893 Doch diese Idee trog. Im Folgenden werden problemorientiert fünf ausgewählte Voraussetzungen erläutert, die für den Sprach- und Anwendungsgebrauch in der DDR hinsichtlich der Innovationsproblematik wesentlich waren. Anschließend soll versucht werden, Maiers Thesen in Bezug auf die Innovationsphasen anhand eines volkswirtschaftlich eminent wichtigen Geschehensprozesses, der Entwicklung der Mikroelektronik in den 1960er-Jahren, kurz zu prüfen. Im Mittelpunkt des Geschehensprozesses, der im ersten Hauptkapitel voll entfaltet ist, steht dabei die Frage, wie die innovativen Prozesse in der DDR – trotz mutiger Einsätze und beachtenswerter Inventionen – bereits im Realisationsstatus regelmäßig gestört wurden und in der Konsequenz quasi notwendig scheitern mussten. 1. Grundlagenforschung: Der Weg zu Inventionen Sehr früh wurde versucht, die Grundlagenforschung mit industriellen Institutionen administrativ zu verknüpfen. 1953 wurde eine zweitägige Sondertagung des Plenums der Deutschen Akademie der Wissenschaften »über die Beteiligung der Akademie am Aufbau des Sozialismus« durchgeführt. Der Direktor des HeinrichHertz-­Instituts, Otto Hachenberg, schrieb am 13. Februar 1953 die Personalstelle der DAW an, um für eine »Koordinierungsstelle« eine Planstelle zu bekommen, »mit dem Ziel, die vom Stellvertreter des Ministerpräsidenten [Walter Ulbricht] geforderte enge schöpferische Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis in die Tat umzusetzen und damit die Arbeitsproduktivität in den volkseigenen Betrieben zu steigern«.894 Diese Synapse oder Schaltstelle für den Übergang von Inventionen zu Innovationen oder anders ausgedrückt, zwischen Grundlagenforschung und Entwicklung, effektiv gestalten zu müssen, war also rechtzeitig erkannt worden. Es ist in dieser Untersuchung die Frage thematisiert, inwiefern mit der Grundlagenforschung sowohl die frei initiierte als auch staatlich initiierte harmonisierte oder eben nicht. Max Steenbeck jedenfalls wurde nicht müde, eine Binsenwahrheit, die Bedeutung der Grundlagenforschung, hervorzuheben: Es sei notwendig, »auch Forschung zu treiben, bei der man den Nutzen nicht sofort sieht und nicht messen kann«. Er möchte die »nicht zweckgebundene Forschung als unbedingte Notwendigkeit erkennen lassen«. Jedoch: Planung sei »in der Grundlagenforschung nicht nur möglich, sondern unbedingt nötig«. Die Planung aber müsse elastisch bleiben. 893  Harry Maier (1934–2010). 1954–1958 Studium an der HfÖ und HU Berlin. 1961 Promotion, 1967 Habilitation. 1968 Professor, AdW. 1975 stellv. Direktor des ZI für Wirtschaftswissenschaften. Verließ 1986 die DDR. Tätig u. a. am Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München sowie 1990–1999 an der Universität Flensburg. Vgl. Maier: Innovation oder Stagnation, S. 60. 894  Schreiben von Hachenberg an die Personalstelle der DAW vom 13.2.1953; ArchBBAW, AKL-HHI, Nr. 707, S. 1 f.

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»Die Planung der Grundlagenforschung ist eben etwas gänzlich anderes als etwa die Planung einer Schraubenfabrikation.« In die Grundlagenforschung sollten nicht die Besten gehen, sondern die Richtigen. Steenbeck sah ein großes Defizit in den Produktionsbetrieben, Grundlagenforschungsinteressierten eine Wirkungsstätte zu schaffen. »Wenn ein Forscher erfolgreich sein soll, muss ihm auf anderen Gebieten ein gewisses Maß an – sagen wir ruhig – Narrenfreiheit zugestanden werden, die die Konzentration auf seine eigentliche Arbeit erst ermöglicht.«895 Bereits unter dem späten Ulbricht, etwa ab 1967, wurde die Grundlagen- oder auch Erkundungsforschung zugunsten der angewandten Forschung und einer Art von Zwangsbindung der Forschungsinstitute an die Industrie erheblich restriktiver. Sowohl die hierfür notwendigen materiellen und personellen Ressourcen und Kapazitäten als auch das methodologische Verständnis dafür, auf welchen Wegen es zu kreativen und damit innovationsträchtigen Inventionen kommen könne, degenerierten. Das zeitliche Fenster, in dem es erdrutschartig zur Verdichtung dieses Geschehens kam, bildete die Akademiereform der Jahre 1968 bis 1972. Nicht zufällig wuchs umgekehrt proportional dazu das Bedürfnis nach Inventionen und Innovationen. Abgesehen von dieser destruktiv-dynamischen Phase befand sich die Grundlagenforschung der DDR in einer nahezu dauerhaften Krise, die lediglich temporär und / oder lokal ausgesetzt war. In finanzieller und materieller Hinsicht war sie es stets. Wie schädlich die Absenkung der Grundlagenforschung an der Akademie der Wissenschaften sich auf das Innovationsklima in der DDR-Volkswirtschaft auswirkte, darauf verweist Maier mit Blick auf die zunehmende Vertragsforschung in den 1980er-Jahren. Insgesamt kam dadurch die DDR »in die Situation, eine nur sehr kostspielige Nachzüglerrolle zu spielen bei der Hervorbringung, Durchsetzung und Ausbreitung von Basisinnovationen«. Die Tendenz zur Reduzierung der Grundlagenforschung sah Maier durch den Beschluss des ZK der SED im Juni 1985 (10. Tagung) gegeben.896 Allein dies ist, wie wir oben sahen, ein Fehlurteil. Denn diese Tendenz erhob ihr Haupt bereits in den späten 1950er-Jahren deutlich. Grundlagenforschungsinstitute hatten nun, so Maier weiter, 50 Prozent ihres Potenzials mit Kombinaten zu binden. Er zeigte sich jedoch überzeugt, dass seine ehemaligen Wissenschaftlerkollegen auch künftig »wie immer nach Mitteln und Wegen suchen« würden, »um wenigstens einen Teil ihres Forschungspotenzials für die Grundlagenforschung zu retten«.897

895 Steenbeck, Max: Broschüre, Berlin  1960; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 120, S. 3–20, hier 3, 10, 18 f. u. 21. 896  Vgl. Maier: Innovation oder Stagnation, S. 132 f. 897  Ebd., S. 134 f. u. 139.

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2. Industrieanbindung à la DDR: eine plantechnische Vergewaltigung Die kreativsten Wissenschaftler in der Periode Ulbrichts wussten aus eigener Prägung und Erfahrung, wie unverzichtbar und förderlich die Forschungsarbeit für und vor allem in der Industrie war. Dass sie zu den heftigsten Kritikern der DDR-Weise von Industriebindung zählten, ist kein Widerspruch, sondern ein deutlicher Hinweis darauf, wie unzweckmäßig das »Wie« in der DDR gehandhabt worden war. Manuel Schramm diskutiert die Frage, ob die Akademiereform, wie für die Hochschullandschaft die 3. Hochschulreform, »einen Einschnitt in den Beziehungen zur volkseigenen Industrie bildete«. Seine Argumente nahm er aus Tandlers Zukunft und Gläsers & Meskes Anwendungsorientierung. Demnach sollten »alle [sic!] Forschungsprojekte über Wirtschaftsverträge von externen Partnern finanziert werden«. Viele Kombinate, darunter auch Carl Zeiss Jena, haben sich geweigert, die Vorfinanzierungen zu leisten. Mit der Machtübernahme Honeckers hätte sich diese strickte Regelung wieder gelockert, so Schramm. Tatsächlich hatte es über einen weiten Zeitraum beider Herrscher ein ewiges Auf und Ab gegeben, jedoch mit tendenziellem Fall in der Frage des Gesamtniveaus, von 62 Prozent im Jahre 1971 auf 35 Prozent im Jahre 1975. Diese Wissenschaftspolitik sei laut Schramm erfolgreich wie auch nicht erfolgreich gewesen. Besonders die industrierelevanten Disziplinen hätten positive Beispiele geliefert.898 Schramm stützt sich diesbezüglich auf das Institut für Optik und Spektroskopie (IOS).899 Es sind jedoch meist programmatische und strukturelle Daten überliefert, die implizieren (können), dass inhaltliche Trendwenden (möglicherweise) stattfanden. Sicher wissen wir es aus ihnen jedenfalls nicht. Schramm erwähnt, dass der Vorstand der Forschungsgemeinschaft die Umbenennung des IOS in Institut für Spektroskopie und Optische Geräte vorgeschlagen habe. Der Direktor, Ernst Lau,900 aber habe dies mit Verweis auf den Grundlagenforschungscharakter des IOS abgelehnt. Für den Gerätebau seien vielmehr Zeiss und das Institut für Gerätebau zuständig. Lau hatte 1954 auch darauf hingewiesen, dass die Forschungsthemen »fast immer« aus dem Hause selbst kämen. Lediglich zwei seien von der Staatlichen Plankommission gekommen, worauf dies prompt zu Parallelentwicklungen geführt habe.901 Schramm erwähnt auch 898  Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 106. Hier Quellenhinweis auf: Tandler, S. 288–290, und Gläser / Meske, S. 102–107. 899  Vgl. Chronik des ZOS; ArchBBAW, VA 17154, S. 4–6 u. 11 sowie ebd., AKL 17, fol. 217 f. Siehe auch Günther, Manfred (Hrsg.): Wissenschaftshistorische Adlershofer Splitter, Nr. 4: Institut für Optik und Spektroskopie. Berlin 1998, S. 50–115. 900  (1893–1978). 1911–1920 Studium der Philosophie, Physik und Psychologie in Berlin und Tübingen. 1920–1946 Wissenschaftl. Mitarbeiter der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. 1946 Leiter des Optischen Laboratoriums und Direktor des IO, 1953 Professor. Siehe auch Foitzik, Leonhard: Ernst Lau 65 Jahre, in: Günther, Manfred (Hrsg.): Wissenschaftshistorische Adlershofer Splitter, Nr. 4. Berlin 1998, S. 99–105. 901  Vgl. Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 108. Hier Quellen­ hinweis auf: ArchBBAW, Akademieleitung 17, fol. 52.

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die Ressourcenprobleme der DDR,902 die mit diesem Urkonflikt negativ verbandelt waren. Traten besondere Engpässe auf, und das geschah nahezu stets, waren die Pläne, ob terminlich oder inhaltlich, oft nur noch Makulatur. Schramm weist ferner auf einen interessanten klimatischen Aspekt hin, der infolge der Verminderung der Forschungsbasis zugunsten der Auftragsforschung des aktuell zum Zentralinstitut erhobenen IOS, also ZOS,903 eintrat, wonach sich Mitte der 1970er-Jahre die Spannung zwischen dem ZOS und dem VEB Carl Zeiss Jena entladen habe. Die Akademieführung hatte generell festgestellt, dass die Industrie »nahezu keine Arbeiten der Akademie finanziert« habe. So habe der neue Direktor des Hauses, Klaus Junge alias IM »Fritz«904, an Karlheinz Müller, Forschungsdirektor von Zeiss geschrieben, ob Zeiss nicht drei Forschungsthemen finanzieren könne. Der habe geantwortet, dass das bisherige Verfahren optimal sei, eine Änderung des Status quo nicht infrage komme.905 Der Streit ZOS vs. Zeiss setzte sich 1975 fort. Zeiss hatte sich bereiterklärt, circa ein Viertel der insgesamt 1,77 Million Mark zu bezahlen.906 Insgesamt waren es grundsätzliche Kontroversen.907 3. Kreativität: gewollt und dennoch oft fehlgelenkt Innovationen bedürfen immer der Kreativität, Inventionen meistens. Zur Hervorbringung und Durchsetzung von Basisinnovationen – und eine solche ist die Zukunftstechnologie »Mikroelektronik« in jenen Jahren gewesen  – spielte die Kreativität eine entscheidende Rolle. Kreativität aber, und darauf verwies Maier, ist nicht nur »als spezifisches Merkmal eines einzelnen Menschen« zu betrachten, es ist ein gesellschaftliches Phänomen: »Alles Gerede über Kreativität und Schöpfertum 902  Vgl. Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 110. 903  Mit der Akademiereform wurde das IOS 1970/71 mit dem II. PTI sowie dem Institut für spezielle Probleme der theoretischen Physik zum Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie (ZOS) zusammengelegt. Neuer Leiter wurde der bisherige Leiter des II. PTI, Klaus Junge. Vgl. Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 109. Bereits am 2.10.1968 hatte »Stern« berichtet, dass beabsichtigt sei, das II. PTI mit dem IOS zusammenzulegen, in: HA XVIII/5/3 vom 9.10.1968: Bericht zum Treffen mit »Stern« am 2.10.1968; BStU, MfS, AIM  12184/85, Teil  II, 1 Bd., Bl. 35 f. 904  (1926). 1946–54 Studium der Physik an der HU Berlin; 1954–1956 wissenschaftl. Assistent an der HU Berlin; 1956–1990 AdW; 1958–1963 Abteilungsleiter im VEB Physikalische Werkstätten Rahnsdorf. 1963 Promotion und beauftragter Leiter des II. PTI, 1965 Direktor. 1969 Habilitation, 1970 Professor. In den 1970er-Jahren Direktor des ZOS. Bereits 1962 kannte er sechs hauptamtliche Mitarbeiter. Vgl. Abt. VI/3 vom 12.11.1957: Vorschlag zur Anwerbung; BStU, MfS, AIM 16981/89, Beifügung, 1 Bd., Bl. 94–99; HA III/6/P vom 13.3.1962: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 142 f. Schriftliche Verpflichtung am 21.12.1957; ebd., Bl. 146 f. 905  Vgl. Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 110. Hier Quellenhinweis auf: ArchBBAW, IOS, C 2350, Junge an Müller vom 18.6.1974 und ebd., Müller an Junge vom 19.8.1974. 906  Vgl. ebd., Quellenhinweis auf: ArchBBAW, IOS, C 2350, Junge an Müller 23.6.1975. 907  Vgl. Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 111.

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hilft nichts, wenn nicht die Bedingungen geschaffen werden, unter denen sich das kreative Potenzial eines Volkes entfalten« kann. Die bürokratisch-autoritären gesellschaftlichen Strukturen stünden dem entgegen.908 Hermann Peiter kritisiert Laiko zutreffend, wenn er schreibt: »Hubert Laitko hält fest, ›dass die Führung der SED in der Sphäre der Wissenschaft keineswegs eine Ausschaltung von Kreativität, sondern deren Kanalisation anstrebte‹. […] In Kanalisationen entfaltet sich indessen keine Kreativität. In den Kanalisationen unter unseren Städten fehlt die frische Luft. Die ist die Voraussetzung für Kreativität […]. Keine ›Kanalisierung‹ ohne Kanäle. Die Wissenschaft jedoch gehört ins Offene, bildlich gesprochen: auf das offene Meer. Dort sind Kanäle überflüssig.« Und weiter: »Zwischen Erstickung von Kreativität und ihrer Kanalisierung besteht kein bedeutender Unterschied.«909 Es handelt sich bei dem sprachlichen Bild von Laitko um ein Beispiel dafür, die DDR an sich zu verteidigen. Natürlich wurde in populärwissenschaftlichen, akademischen und privaten Kreisen dauernd über die Notwendigkeit von Kreativität gesprochen, doch das konnte aufgrund der fehlenden gesellschaftlichen Grundbedingungen wie Freiheit und Markt kaum Früchte tragen. Peiter: »Nach Hubert Laitko hat die SED im naturwissenschaftlichen Bereich sich mit Kanalisierungen zurückgehalten. ›Es sei hier daran erinnert, dass die Akademie seit 1946 gezielt zu einer dominant naturwissenschaftlichen und naturwissenschaftlich-technischen Forschungsorganisation ausgestaltet worden war; die Gesellschaftswissenschaften stellten höchstens ein Zehntel des in ihr vorhandenen wissenschaftlichen Personals‹«.910 Peiter »spießt« auch Rompe treffsicher auf, der auf der SED-Kreisleitung der DAW am 27. November 1969 ausgeführt hatte, dass die Kreisleitung ihre Hauptaufgabe darin sehen müsse, »›subjektivistische Auffassungen auszuschalten, ideologische Hemmnisse zu beseitigen‹. Statt ›subjektivistisch‹ hätte« jedoch »Rompe klar sagen sollen: ›selbstständig‹.«911 4. Weltoffene Kommunikation und Kooperation: ein verschlossenes Reich Wir werden insbesondere in den ersten beiden Hauptkapiteln auf diese Frage zurückkommen. An dieser Stelle kann eine Feststellung Maiers vollkommen genügen. Er verweist auf die Unberechenbarkeit des Forschens, da die Ergebnisse der Forschungstätigkeit oft unbestimmt seien. Ein Reduktionsmittel des Forschungsrisikos sei »die aktive Teilnahme an der internationalen Kooperation von Forschern«. Maier: »Das gegenwärtige System der ›Reisekader‹ in den sozialistischen Ländern 908  Maier: Innovation oder Stagnation, S. 140 f. 909  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff, S. 81, auch S. 87. 910  Ebd., S. 81 f. Quellenhinweis auf: Laitko, Hubert: Wissenschaftspolitik, in: Herbst, A ­ ndreas / ​ Stephan, Gerd-Rüdiger / Winkler, Jürgen (Hrsg.): Die SED. Geschichte – Organisation – Politik. Berlin 1997, S. 405–420, hier 411. 911  Peiter: Wissenschaft im Würgegriff, S. 84. Quellenhinweis auf: Protokoll vom 15.1.1970, S. 2 f. Larch Berlin, C Rep. 903-01-11, 22.

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schließt allzu oft gerade den Schöpfer der innovationsrelevanten Problemlösung von der internationalen Forschungskooperation aus. Die offiziell ernannten ›Reisekader‹ erweisen sich oft als inkompetent und werden international nicht akzeptiert. Trotz penetranter Anbiederungsversuche werden solche ›blinden Passagiere‹ normalerweise von der Gemeinschaft der Wissenschaftler abgeschüttelt.«912 5. Zentralverwaltungswirtschaft: die WIB In dem im ersten Hauptkapitel behandelten Fall der Mikroelektronik-Technologie handelt es sich um eine gewollte radikale Innovation (auch revolutionäre oder Sprung- resp. Basisinnovation). Dass dies so war, war dem Vater der Mikroelektronik-Technologie in der DDR, Werner Hartmann, bewusst. Er hat es buchstäblich am eigenen Leib erfahren müssen. Um sie überhaupt verwirklichen zu können, musste er aus dem Zwangskäfig der plantechnischen Maschinerie heraus. Er forderte deshalb zu Recht für seinen und andere ähnliche Betriebe und Innovationsprojekte die Errichtung sogenannter Wissenschaftlich-industrieller Betriebe (WIB). Das war sein Begriff, auf den er stets Wert legte. Stattdessen setzte sich für diese Betriebsform der Begriff »Wissenschaftlicher Industriebetrieb« durch. Der WIB kam gleichsam einem Kulturbruch in der DDR gleich und konnte nur dank der Unterstützung Erich Apels – zumindest für eine kleine Anzahl von VEB und nur für kurze Zeit – gelingen. Die Idee für solche Zwitterbetriebe entstand bereits 1957. Die Idee des WIB ist geradezu ideal, die Problematik der Zentralverwaltungswirtschaft zu beleuchten. Zur Erläuterung: Hartmann versuchte über ein Schreiben an Karl Rambusch vom 24. November 1959 seinen VEB Vakutronik in einen »wissenschaftlichen Industriebetrieb« umzuwandeln; Hartmann: die »starre Struktur der üblichen volkseigenen Betriebe mit festem Planziel in Bezug auf Produktion, Typen, Menge, Wert verhindert, Neuentwicklungen in schnellem Tempo herauszubringen«. Die für »›Schraubenfabriken‹ gültige Planungstechnik« müsse »mit allen ihren Konsequenzen für einen WIB modifiziert werden«.913 Hierzu führte MfS-Offizier Günther Jahn am 11. Dezember 1959 ein klärendes Gespräch mit Rambusch. Der vertrat die Auffassung, dass Erich Apel im Gegensatz zu Fritz Selbmann »ungünstig abschneidet«. Apel mache oft »rasche Zugeständnisse, und zwar auf sehr burschikose Art. Während der Tagung des Wissenschaftlichen Rates am 3. Dezember« habe »Genosse Apel etwa zu Hartmann« geäußert: »Also, Werner, Deine Angelegenheit ist in Ordnung, ich habe mit Ulbricht gesprochen, wenn das Amt anders denkt, ist das Quatsch.«914 Eine solche »Dekonzentration 912  Maier: Innovation oder Stagnation, S. 128. 913  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 185; BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 190–250, hier 203. 914  Abt. VI/2 vom 11.12.1959: Aussprache mit Rambusch am 11.12.1959; ebd., Bd. 22, Bl. 76 f., hier 76.

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der Verfügungsrechte schuf« jedoch »ungewohnte Unsicherheiten«915 – und damit Freiheiten. Das rief speziell den Staatssicherheitsdienst auf den Plan, der negative Stimmen generierte mit dem Ergebnis, dass Hartmann im Betrieb offenbar wenig positive Resonanz erhalten haben soll: »Seine Versuche, die leitenden Mitarbeiter des Betriebes dafür zu gewinnen, sind bisher gescheitert.« Über den Charakter solcher WIB soll er geäußert haben, dass in ihnen die Entwicklungsabteilungen einen hohen Stellenwert besäßen und dass auf der Produktionsseite primär das große Sortiment stehe, hingegen die Stückzahlen klein gehalten würden. Er sei der Überzeugung, dass der »gesamte technische Fortschritt« künftig »von solchen Betrieben« abhängen werde. »Zur Erreichung einer maximalen Beweglichkeit des Betriebes soll grundsätzliche Änderung in der ›Planungsphilosophie‹ überlegt werden, ohne die prinzipielle Planungsordnung zu ändern.«916 Die gesamte Mikroelektronik-Technologie war in der DDR gesetzgeberisch verankert: Wissenschaft – Technik – Produktion – Absatz,917 normativ heruntergebrochen bis hinein in die Technologie und Absatzbereiche. Kaum aber waren die neuen Schlagworte, Verfahren und Richtlinien ausgegeben, folgten Planbetrug, Prämienausschüttungen und Im- und Exportprobleme. Kroitzsch berichtete am 21. März 1983 seinem Führungsoffizier, dass es seit Jahren im ZIPE die Erscheinung gebe, dass es »bei konkreten Anwendungsmöglichkeiten der Fernerkundung, die zum Teil hohen volkswirtschaftlichen Nutzen erbringen könnten, absolutes Desinteresse« gebe. Als Beispiel nannte er Anforderungen seitens der Braunkohleindustrie, das Abbaugeschehen zu überwachen und zum Beispiel dadurch »havarieverursachende Störkörper rechtzeitig zu erkennen«. Aber man gehe darauf nicht ein. Der verlorene Nutzen gehe in die Millionen.918 Fritz Behrens hatte hiervor beizeiten gewarnt, gegen den quasi rechnergestützten Aberglauben, dass »alle Fragen […] zentral entschieden« werden könnten.919 Geändert hat sich in der DDR hieran nie etwas. Überall hat es in der Komplexität der DDR-Volkswirtschaft Engpässe und Fehlstellen gegeben, sodass das Supremat der Innovation gleichsam in der Luft hing, was in der neueren historiografischen Literatur oft nicht hinreichend beachtet wird, in der DDR aber von jedermann gewusst und ganz vereinzelt auch veröffentlicht war; so schreibt Heuer 1986: »Was nützt eine rasche Entwicklung beim Finalproduzenten, wenn der Zulieferer nicht mitziehen kann oder will, was nützt eine umwälzende Erfindung, wenn der Industriebetrieb seine Überführungsverpflichtungen nicht erfüllt.«920 915  Steiner: Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft, S. 147. 916  Bericht von »Kupfer« vom 20.2.1960 zu einem Schreiben von Hartmann an Rambusch vom 24.9.1959; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22, Bl. 44 f., hier 44. 917  Vgl. Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 30, vom 8.10.1986. 918  BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 21.3.1984: Berichterstattung von »Geos« am 20.3.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 4, FiKo, Bl. 124. 919  Behrens, Fritz: Kritik der politischen Ökonomie und ökonomischen Theorie des Sozialismus, in: Eichner, Walter / Schmidt, Alfred (Hrsg.): Kritik der politischen Ökonomie heute. 100 Jahre »Kapital«. Frankfurt / M. 1968, S. 288–299, hier 295. 920  Heuer, Uwe-Jens: Wirtschaftsdynamik und Recht, in: spectrum 32(1986)10, S. 1.

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Maier hebt hervor, dass die Beschlüsse des Politbüros (mit Gesetzescharakter) als solche nicht nur nicht veröffentlicht wurden, sondern obendrein von nur wenigen Menschen zur Kenntnis genommen werden konnten, in der Regel nur von den zuständigen Ministern und Kombinatsdirektoren (und dem MfS!). Über die Beschlüsse durfte zudem nicht diskutiert werden, sie besaßen faktisch »Befehls­ charakter«.921 Ohne Markt, so Maier, sei »eine effektive Planung sowohl auf volkswirtschaftlicher als auch betrieblicher Ebene unmöglich«. »Erst durch den Markt« verfüge »die Planung über jene Informationen und Bewertungsindikatoren, die einen staatlichen Eingriff in die Wirtschaft sinnvoll werden lassen können« – aber nicht müssen. In der DDR, so wird unten gezeigt werden, wurde administrativ ohne reale Gründe und Gegebenheiten geplant. Nochmals Maier: »Eine fundamentale Ursache für die Tendenz zur Überzentralisierung der Wirtschaft« in den sozialistischen Ländern liege »im dualen Charakter des ökonomischen Entscheidungsprozesses. Die wesentlichen ökonomischen Entscheidungen« würden »im Parteiapparat getroffen, während die wirtschaftsleitenden Instanzen diese Beschlüsse auszuführen« hätten.922 Bleibt hinzuzufügen, dass, während der Parteiapparat entschied, zwar die Staats- und Wirtschaftsfunktionäre die Verantwortung trugen, jedoch das MfS tatkräftig seine diversen Rollen im Prozess spielte. Zwar kann man dies nicht problemlos als Anonymität des Risikos des ökonomischen Handels werten, da ja alle Handlungsträger mehr oder weniger unfreiwillig Risiken eingehen mussten, sehr wohl aber als eine Strategie, freiwilliges Risiko der handelnden Personen zu begrenzen bzw. unmöglich zu machen. Leonid Abalkin stellt 1988 rückblickend den Grundfehler der Sowjetwirtschaft im sozialistischen Eigentum wie folgt dar: »Die kompliziertesten Probleme beziehen sich auf das sozialistische Staatseigentum, auf die Überwindung seiner Entpersönlichung und Anonymität sowie eines Zustandes, bei dem die staatlichen Betriebe nicht auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und auf die Veränderungen der gesellschaftlichen Bedürfnisse reagieren.«923 Erst wenn die Betriebe, so Maier, »selbstständig über ihr Produktionsprogramm, ihre Innovationspolitik entscheiden« könnten, würden »sie auch bereit sein, das damit verbundene Risiko zu tragen«.924 Hartmann, Lauter und andere hatten kein Problem mit der Akzeptanz des Risikos in der Forschung. Die Risikoübernahme gehörte zur Wissenschaftsausübung wie auch zum unternehmerischen Tun. Die sogenannte Risikoübernahmefunktion war für sie selbstverständlich. Hartmann kalkulierte das Risiko, war überzeugt, dass er die neue Technologie beherrschen würde  – auch wenn er manchmal wegen der schwierigen Umständen Angst bekam, ob es denn gutgehen werde, etwa 1968, als die Gebäudeanlagen wuchsen: 921  Maier: Innovation oder Stagnation, S. 168. 922  Ebd., S. 46 f. 923  Abalkin, Leonid: Über die Aufarbeitung der geschichtlichen Erfahrungen in der sowjeti­schen Wirtschaft, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 41(1988)2, S. 120–128, hier 127. 924  Maier: Innovation oder Stagnation, S. 47.

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»Ein Leiter muss lernen, mit der Angst zu leben!«925 Kullas verweist auf den Aspekt der Innovation als einer natürlichen Funktion des Unternehmers und besonders auf Schumpeter, wonach das Unternehmertum »immer mit neuen Produkten oder Prozessen verbunden« ist.926 Im Umkehrschluss: Die neuen Produkte und Prozesse der Mikroelektronik-Technologie benötigten den Typ des Unternehmers und nicht den Typ des Parteifunktionärs. Mit Schumpeter gesagt: Der Unternehmer liegt quer zur Marktstabilität, er ist Revolutionär der Wirtschaft.927 Die Risikoübernahmefunktion war äußerst gering, die Verantwortungsabschiebung entsprechend groß. Für den Erfolg geht der Mensch Risiken ein. Die SED hatte auch die Bedeutung des Risikos faktisch viel zu spät erkannt, das MfS wegen seiner Mission konnte dies hingegen nie: Es suchte geradezu nach Hinweisen, wer risikovoll arbeitete! Sein Impetus in der Wirtschaft war demzufolge massiv risikofeindlich und damit notwendig innovationsfeindlich. Man kann den Schaden dieser Institution nicht hoch genug einschätzen. Kapitalverbrechen und Hochverrat, wer diese Vokabeln diesbezüglich nicht anwenden mag, hat ein Problem mit den Kerngesetzen jeder Volkswirtschaft. »Wie durch einen Fluch verwandeln sich Landstriche, die bis dahin als außerordentlich innovativ galten«, so Maier, »in Technologie-Museen«. Materialisiert gesehen, war das MfS dieser Fluch. Das aber konnte Maier nicht wissen. Ahnte er es? Maier zitiert Breschnew, der auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU 1971 gesagt haben soll, dass »die Produktionseinheiten« Innovationen scheuten wie der Teufel das Weihwasser. Bürokratische Systeme besitzen, darauf verwies Maier zu Recht, einen Selbsterhaltungstrieb, der auf Gleichgewicht des Bestehenden beruht. Basisinnovationen, so Maier, würden das Gleichgewicht zerstören. Von daher mag die DDR den Begriff Innovation auch umgedeutet und mit dem Begriff Rationalisierung abgedeckt haben. Maier zitiert ein Erlebnis, das er 1984 anlässlich eines Besuches einer internationalen Innovationsforschergruppe bei Siemens-Österreich hatte. Es ging um die geringe Erfolgsquote von innovativen Leistungen im Westen, nämlich nur 2 bis 3 Prozent aller Produktideen. Dabei soll der sowjetische Nobelpreisträger Leonid Kantorowitsch ihm zugeflüstert haben: »Dies versuche ich die ganze Zeit unserem Minister für Elektrotechnik / Elektronik beizubringen. Doch er wimmelt mich immer mit der Bemerkung ab: ›Genosse Kantorowitsch, wir sind zu weit zurück, um uns diesen Luxus leisten zu können.‹ Dabei übersieht er, dass wir gerade deshalb so weit zurück sind, weil sich uns notwendige Gestehungskosten von Innovationen als Luxus darstellen.« Maier erinnert daran, dass bei Änderungen von Staatsplanthemen in Forschung und Entwicklung fünf Mitglieder des Ministerrates unterschreiben mussten. Dies erkläre »die absolute Dominanz von kleinen Ver-

925  TSD; Nachlass Hartmann, H 147. 926  Kullas, Matthias: Der Konvergenzprozess zwischen Ost- und Westdeutschland. Hemmnisse und politische Handlungsmöglichkeiten. Hamburg 2011, S. 86–90, hier 81 u. 89. 927  Vgl. Schumpeter, Joseph A.: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung: Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und Konjunkturzyklus. Berlin 1952, S. 100.

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besserungsinnovationen«. Radikale Innovationen würden »nur neue Planauflagen bedeuten«.928 Betriebe, so Maier, durften keine eigenen Strategien verfolgen, und damit spielten die »Forschungs- und Entwicklungsabteilungen nicht die ihnen in einer modernen Produktion zukommende Rolle«. Die Betriebsleitungen konnten nur »ganz ›sichere Sachen‹« machen, also »kleinere Produkt- und Prozessinnovationen, die eine Erfüllung« resp. »Übererfüllung des Jahresplanes garantieren«. »Je radikaler eine Problemlösung, umso größer das Risiko eines Fehlschlages und umso unerbittlicher die Sanktionen der übergeordneten Planungsorgane.« An die Betriebe herangetragene größere Innovationsversprechungen würden demzufolge als »›weltfremd‹ und ›akademisch‹ zurückgewiesen«, so Maier. Es könne bestenfalls in bestehende Systeme hineininnoviert werden.929 Abschließend soll Maiers 5-Phasen-Modell des Innovationsprozesses anhand der Lage von Hartmanns AME Dresden verifiziert werden. 1. Phase: Einführungsphase Hochqualifizierte Spezialisten hätten Zugang zum Know-how, seien eng mit der Forschung und Entwicklung verbunden, Organisationstalent sei ideal. Idealtypisch hierfür sind Hartmanns Betriebsphilosophie und seine Siemenserfahrung. Werner von Siemens hatte geschrieben: »Eine wesentliche Ursache für das schnelle Aufblühen unserer Fabriken sehe ich darin, dass die Gegenstände unserer Fabrikation zum großen Teil auf eigenen Erfindungen beruhten. Waren diese auch in den meisten Fällen nicht durch Patente geschützt, so gaben sie uns doch immer einen Vorsprung vor unseren Konkurrenten, der dann gewöhnlich so lange anhielt, bis wir durch neue Verbesserungen abermals einen Vorsprung gewannen.«930. Richard Vieweg schrieb über Siemens als einen Künder für die selbstständige Geltung der Wissenschaftsdisziplin Technische Physik, dass der für die Schaffung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt den »dreifachem Pflichtenkreis« entwarf: Bildung von Grundeinheiten und Normalien – Ausführung von Prüfverfahren und Prüftechnik – Durchführung technisch-physikalischer Forschungsarbeiten.931 Hartmann verlangte, es genauso zu machen. Seine Anfänge standen jedoch unter dem Aspekt absolut unzureichender Ressourcen. Gerade in dieser Phase sind qualifizierte Facharbeiter und Wissenschaftler wichtig. Der experimentelle Charakter der Fertigung ist in dieser Phase hoch, er ist werkstattnah.932 Bei Hartmann hieß diese Phase Schmiedelabor: Hier wurden an Geräten »problemorientierte Versuche durchgeführt, die für die Kunden von Belang waren: eine Art Applikationsstelle, oder auch Erkundungsforschungs928  Maier: Innovation oder Stagnation, S. 48 f. 929  Ebd., S. 130 f. 930  Siemens, Walter von: Lebenserinnerungen. München 1983, S. 324 f. 931  Vieweg, Richard: Technische Physik, in: Physikalische Blätter 4(1948)1, S. 16–20, hier 19. 932  Vgl. Maier: Innovation oder Stagnation, S. 144 f.

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stelle«. Die Fragestellungen hatten hier den Charakter: noch »grob wie Eisen in einer Schmiede«.933 Last but not least: Der Zugang zum Know-how war kanalisiert bis verriegelt. 2. Phase: Schnelles Wachstum Der Bedarf an speziellen Ausrüstungen und Verfahren wächst ebenso wie der Bedarf an Fachpersonal.934 In dieser Phase sind hohe Investitionen notwendig. Diese Kriterien sind aus unterschiedlichen Gründen (etwa des fehlenden Dienstleistungs­sektors, fehlenden Zugriffs auf den Westmarkt, fehlender Finanztitel) nicht annähernd erfüllt worden (Tb. 4 u. 5). Erich Apel konnte nur partiell und temporär helfen. 3. Phase: Reifephase Es ist dies das Feld der Automatisierung, Standardisierung und Mechanisierung.935 Bei Hartmann war diese Phase, an westlichen Standards gemessen, nahezu inexistent. Die DDR ersetzte diese Phase nach seiner Entfernung durch den illegalen Technologieimport. Realiter kam es in dieser Phase nur zu – nicht markt­offenen – Rationalisierungsinnovationen. 4. Phase: Saturation Weitestgehende vollautomatische Produktion.936 In der DDR zuletzt nur in den beiden unteren Technologieniveaus existent, wobei die Probleme der dritten Phase fortbestanden. 5. Phase: Veraltungsphase Die Produktion wird in dieser Phase überwiegend durch Teilfacharbeiter gehalten; technologisch gesehen ist es eine Stagnationsphase.937 In der DDR ist sie auf keinem Technologieniveau existent gewesen. Maier schätzt ein, dass in der DDR, jedenfalls von der Struktur der Beschäftigten her, die dritte und vierte Phase vorherrschte.938 Auf dem Gebiet der Mikroelek­tronik933  TSD; Nachlass Hartmann, G 92. 934  Vgl. Maier: Innovation oder Stagnation, S. 145. 935  Vgl. ebd. 936  Vgl. ebd., S. 146. 937  Vgl. ebd. Diese Phase heißt bei Maier Veraltungs-, nicht Verwaltungsphase! 938  Vgl. ebd.

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Technologie kann dem nicht beigepflichtet werden, da die relevanten technologischen Grundausstattungen etwa im Bereich des VEB Kombinat Mikroelektronik Erfurt (KME) keine eigenen »Gewächse« waren, sondern illegal aus verschiedenen Herkunftsquellen zusammengesetzt worden sind. Zusätzlich bewirkte das »Selektions- und Eingriffsregime« des MfS ein tendenzielles Herabdrücken auf die zweite und dritte Phase. Die beiden ersten Phasen waren zudem nie ausgereift. Auch das Bildungssystem der DDR war den Erfordernissen dieser Hochtechnologie nicht gerecht, es war zumindest in Teilen »völlig veraltet«. Das Mittelmaß dominierte, die kreativen Kräfte lagen brach oder wurden stetig aussortiert. Auch darauf verweist Maier.939

3.5  Beengte Spielräume Gemeinhin sprechen wir in Bezug auf die Wirtschaftsgeschichte der DDR von Brüchen und Abbrüchen. Nicht aber sosehr von Aufbrüchen. Noch steht eine Arbeit über die innere Kultur nur dieser Aufbrüche aus. Hinweise liefert die Untersuchung hierzu in Fülle, denn es geht auch um Aufbrüche, genauer: um Innovationsversuche. Lauter brach auf zu einem ganzheitlichen, später zu einem anthropologischen Verständnis der Meteorologie, und Hartmann brach aus dem Gewohnten der alten Elektronik-Technik auf. Guntolf Herzberg konstatiert bei vielen Autoren einen Mangel an Definitionskraft, was denn »Sozialismus faktisch« überhaupt gewesen sei. Er erwähnt Rudolf Bahro, der diesbezüglich vom Protosozialismus sprach, der bei dem Begriff »real existierender Sozialismus« von ihm mitgedacht sei. Aber laut Herzberg kam Bahro eben auch nicht ohne Akrobatik aus, wenn er von einer »wirklich sozialistisch-kommunistischen Perspektive im Marx’schen Sinne« sprach. Herzberg erwähnt Helmut Fleischer, der möglicherweise einen Ausweg aus dem definitorischen Dilemma mit seinem Begriff vom »real möglichen Sozialismus« aufgezeigt habe.940 Dieser Ansicht kann man beipflichten, da der Begriff einen Definitionsraum bietet, der eine Engführung geradezu verbietet. Und hier hinein würden dann auch jene Legitimationsstrategien der DDR passen, die meist vergessen werden, obgleich sie dem Staat Stabilität verliehen. Es sind jene drei Narrative, die in der gesamten Geschichte der DDR nahezu unverändert blieben: die Ideologie des Marxismus-Leninismus in all seinen Ableitungen, der Antifaschismus sowie die Fortschrittsgläubigkeit, die wie ein unhintergehbares säkularisiertes, aber auch pseudoreligiöses Motiv instrumentalisiert wurde. Und das eben war mehr als nur ein Möglichkeitsraum, es war der reale Machtraum allgegenwärtiger, auch willkürlicher Herrschaft, wie anhand der Untersuchung gezeigt wird. Zwei der Narrative, der Antifaschismus und die marxistisch-leninistische Ideologie, waren dabei direkte Herrschaftsinstrumente 939  Vgl. ebd., S. 147. 940  Herzberg / S eifert: Rudolf Bahro, S. 232 f.

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zur Personalselektion und -instrumentalisierung; hierzu ein Beispiel von oben: Der aus England in die DDR remigrierte Physiker Martin Strauss verknüpfte die ihm entgegengebrachten Vorbehalte primär mit der versteckten Macht alter Nazis, nicht aber mit fachlichen Gründen, die sehr wohl existierten. Er habe, so 1954 in einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer und Physik-Nobelpreisträger Max Born, an der Ostberliner Humboldt-Universität eine Vorlesung über Spezielle Relativitätstheorie gehalten, doch »sogar das hat Kämpfe gekostet«, da sein Institutsdirektor, »der hier im wissenschaftlichen Vakuum der unmittelbaren Nachkriegszeit Hauptvertreter der Theoretischen Physik wurde, die Ankündigung der Vorlesung zu unterbinden versuchte«. Strauss vergaß nicht hinzuzufügen, dass bereits die Nationalsozialisten die moderne Theoretische Physik als jüdisches Machwerk »unterdrückt und verfolgt« hätten.941 3.5.1  Wissenschaft und Fortschritt unter Ulbricht Die Periode der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war jenseits aller Hoffnungen und Trauer auch die Zeit hoher Kriminalität, purer Angst und des Terrors. Eines Terrors, der u. a. die Angewohnheit hatte, im Morgengrauen an die Tür zu klopfen. Selbst die Sowjets beklagten allmählich das Verschwinden von Personen. Am 3. Dezember 1948 wandte sich der Thüringer Chef der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), Generalmajor Ivan S. Kolesničenko, an den Stellvertreter des Leiters der Agitpropabteilung des ZK der VKP(b) Boris N. Ponomare``v: »Ich spreche nicht vom Jahre 1945, als viel Willkür zugelassen wurde, die dazu führte, dass wir in einigen Fällen noch heute nicht imstande sind, sie bis zum Ende zu klären. Heute jedoch ruft das ›Verschwinden von Menschen‹ mithilfe unserer Opersektoren [das sind die operativen NKWD(MGB)-Sektoren, in denen die operativen Gruppen (Opergruppen) operierten – d. Verf.] unter der Bevölkerung größten Unmut hervor und gibt den uns feindlichen Elementen Nahrung für die antisowjetische Propaganda […] Ich wage zu behaupten, dass derartige Handlungen unserer Staatssicherheitsorgane die stärkste antisowjetische Propaganda und Hass vonseiten der Deutschen gegen uns hervorrufen. Das ist eine ernste Frage für unsere Politik in Deutschland.« Und weiter: »Mir scheint, je länger wir das ›geheime Verschwinden‹ von Deutschen zulassen, desto mehr werden wir an Popularität in Deutschland verlieren, die von uns mit vielen Anstrengungen errungen wurde.«942 Das folgende Beispiel zeigt, dass sich über dieses Datum hinaus, der »Schüler« der Opergruppen, der Staatssicherheitsdienst der DDR, in dieser Praxis übte. Auch 941  Schreiben von Strauss an Born vom 26.12.1954; ArchBBAW, Nachlass Strauss, Nr. 174. 942  Zitiert von Sacharov, Vladimir V. / Filippovych, Dmitrij N. / Kubina, Michael: Tschekisten in Deutschland. Organisation, Aufgaben und Aspekte der Tätigkeit der sowjetischen Sicherheitsapparate in der SBZ (1945–1949), in: Wilke, Manfred (Hrsg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD / SED auf dem Weg zur Macht. Berlin 1998, S. 293–336, hier 315.

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in Wissenschaftsbereichen der SBZ und der frühen DDR verschwanden plötzlich Personen, wie beispielsweise die Rechnerin Helga Starke. Der Leiter des Astrophysikalischen Observatoriums in Potsdam, Walter R. Grotrian (1890–1954) schrieb am 3. September 1951 an die Deutsche Akademie der Wissenschaften (DAW), dass Frau Starke seit dem 29. August nicht mehr zum Dienst erschienen sei. Deren Vater, mit dem Grotrian sofort Kontakt aufgenommen hatte, berichtete, dass zwei Herren, ausweislich Mitarbeiter der Kripo, am 29. August, morgens um 6.30 Uhr, seine Tochter abgeholt hätten. Seitdem sei sie nicht mehr erschienen. Grotrian stellte in seinem Schreiben seiner Mitarbeiterin ein sehr gutes Zeugnis aus und bat um Nachforschungen. Die DAW antwortete am 22. September, dass sie »in dieser Angelegenheit nichts unternehmen könne und dass die Gehaltszahlungen ab sofort einzustellen seien«. Grotrian zeigte sich am 8. Januar 1952 deutlich verärgert, da er immer noch keine Antwort erhalten hatte, auch der Vater wisse weiterhin nichts; Grotrian: »Bei dieser Sachlage fühle ich mich verpflichtet, unter Bezugnahme auf die Artikel 134 und 136 der Verfassung der DDR erneut auf diesen Fall hinzuweisen. Ich richte an die DAW die Bitte, Schritte zu unternehmen, um den Fall zu klären, insbesondere festzustellen, ob ein richterlicher Verhaftungsbefehl vorliegt, welcher Verbrechen oder Vergehen Helga Starke beschuldigt und wann eine Gerichtsverhandlung stattfinden wird. Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass dieser Fall unter der Belegschaft des Astrophysikalischen Observatoriums starke Beunruhigung hervorgerufen hat.« Grotrian sandte sein Schreiben an den Präsidenten der DAW und alle administrativ zuständigen Stellen.943 Erst drei Monate später, am 4. April, wurde ihm unter Hinzufügung einer Anlage geantwortet. Die Anlage ist eine Mitschrift eines Telefongespräches, das der ihm antwortende Mitarbeiter der DAW-Leitung just an diesem Tage mit dem Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser,944 geführt hatte. Demnach sei er von Zaisser angerufen worden. Der habe ausgeführt, Grotrian Folgendes »zu vermitteln«: »Wegen des Hinweises von Herrn Professor Grotrian auf die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik hinsichtlich der Verhaftung der genannten Rechnerin weist der Minister darauf hin, dass die Verfassung die staatlichen Organe nicht verpflichtet, an irgendwelche fragestellenden Personen Auskünfte wegen erfolgter Verhaftungen zu erteilen. Der Minister lässt jedoch Herrn Professor Grotrian mitteilen, dass die Rechnerin verhaftet wurde, um eine Untersuchung durchzuführen und dass nach dem Stand der Untersuchung Herr Professor Grotrian für längere Zeit nicht auf die Mithilfe der Genannten rechnen könne. Ferner fügt der Minister eine allgemeine Bemerkung hinzu, nämlich diese, dass in der Deutschen Demokratischen Republik noch nie ein Unschuldiger verhaftet oder ein Verhafteter nach Feststellung seiner Unschuld in Haft gehalten worden ist. Ich habe dem Minister für seine persönliche Bemühung in dieser Angelegenheit meinen Dank ausgesprochen und ihm meiner-

943  Schreiben von Grotrian vom 8.1.1952: Anfrage; ArchBBAW, AKL, Nr. 13, 1 S. 944  (1893–1958). Februar 1950 bis Juli 1953 Minister für Staatssicherheit.

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seits mitgeteilt, dass die erteilte Auskunft mir vollständig genüge.«945 Mit Sicherheit aber dürfte diese freche Mitteilung Grotrian nicht genügt haben. Grotrian war von 1951 bis 1954 Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums. Der renommierte Astrophysiker verstarb zwei Jahre später im Alter von nur 64 Jahren. Helga Starke war in das berüchtigte Workuta gekommen.946 Willkür und Gnadenlosigkeit herrschten in den 1950er-Jahren. Hafturteile wurden selten revidiert, meist jedoch vor Ablauf der verhängten Haftstrafe in Bewährung umgewandelt. Gnade im Wortsinn existierte nicht. Die Begnadigung war lediglich ein Instrument, das Milde suggerieren sollte: Abschreckung und Milde zu zeigen war der DDR ein billiges und gemeines Instrument der Herrschaft. Eine dieser Begnadigungen veröffentlichte das Neue Deutschland am 10. Februar 1956. Der Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, wandelte die gegen Max Held und Werner Rudert verhängten Todesstrafen in lebenslängliche Zuchthausstrafen um. Nicht in der (ohnehin verlogenen) Sache wurde das Urteil revidiert, sondern allein mit politischer Absicht der Rücksichtnahme auf die Außenwirkung der DDR: »Um vor dem ganzen deutschen Volke zum Ausdruck zu bringen, dass die DDR ihrerseits bereit ist, zur Milderung der Spannungen beizutragen.«947 Die Urteile zu Held und Rudert stammten erst vom 27. Januar, in einem Klima vager Hoffnungen. Zuvor, im September 1955, war die Anerkennung der DDR durch die Sowjetunion als souveräner Staat erfolgt, die Nachkriegszeit war formal beendet. Es erfolgte die Entlassung aller Kriegsgefangenen, Kriegsverurteilten, SMT-Verurteilten, Gulag-Häftlinge u. a. aus der Sowjetunion. Die DDR zog mit der Leerung ihrer Zuchthäuser im Januar 1956 nach. Die Fälle Rudert und Held waren die letzten, quasi typischen Todesurteile aus einem machtpolitischen Kalkül heraus. Zu diesem und weiteren ungünstigen Umständen für die junge Volkswirtschaft und Wissenschaft der DDR gesellten sich die restriktiven gesetzlichen Bedingungen zur Ausübung breiter Bereiche der Wissenschaften. Das Gesetz Nr. 25 des Alliierten Kontrollrats zur Regelung und Überwachung der wissenschaftlichen Forschung vom 29. April 1946 enthält mehrere themenrelevante Aspekte, an die zu erinnern ist: Artikel II (1.): »Angewandte wissenschaftliche Forschung ist untersagt auf Gebieten, welche a)  rein oder wesentlich militärischer Natur sind, b)  in dem bei­ gefügten Verzeichnis ›A‹ besonders aufgeführt sind. 2. Angewandte wissenschaftliche Forschung auf irgendeinem der in dem beigefügten Verzeichnis ›B‹ besonders 945  DAW, Josef Naas, vom 4.4.1952: Aktenvermerk; ArchBBAW, AKL, Nr. 13, 1 S. 946  Helga Starkes, verh. Sperlich, Schicksal ist auch Gegenstand der Aufarbeitung der Stiftung Gedenkstätte Lindenberg (Potsdam) zur Geschichte der Opfer sowjetischer Militärtribunale, die sie als Zeitzeugin aktiv unterstützt. Sie war zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt worden, kam aber, was kein Einzelfall war, im Todesjahr von Stalin frei und ging anschließend in den Westen. Aus einem Gespräch mit dem Verf. am 8.2.2020. Literaturhinweis: Gumpel, Werner: Workuta – Die Stadt der lebenden Toten. Leipzig 2015. 947 Schluss mit Spionage und Sabotage! Maßnahmen zur Minderung der Spannungen in Deutschland, in: Neues Deutschland vom 10.2.1956, S. 1; vgl. Wir gingen freiwillig, in: Hamburger Abendblatt vom 4.2.1956, S. 1.

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aufgeführten Gebiete ist nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Zonen­ befehlshabers, in dessen Zone das Forschungsinstitut liegt, zulässig.« Darüber hinaus bestimmte der Artikel III (1.), dass »grundlegende wissenschaftliche Forschung, rein oder wesentlich militärischer Natur«, verboten war. Bei abgestufter militärischer Bedeutung gab es abgeleitete Möglichkeiten der Erlaubnis. Artikel IV (1.) legte fest, dass wissenschaftliche Forschung, so sie nicht laut Artikel II und III verboten war, immer noch der Genehmigung durch den zuständigen Zonenbefehlshaber bedurfte. Der Artikel VI (1.) bestimmte die Erfassung des gesamten technischen und wissenschaftlichen Personals in den Instituten und die Frage ihrer möglichen Entfernung. (2.) bestimmte, dass Höhere Angestellte, die Mitglied der NSDAP »oder anderer nationalsozialistischer Organisationen gewesen« sind, »zu entfernen und durch Personen mit einwandfreier politischer Vergangenheit zu ersetzen« seien. Die Verbotsliste des Verzeichnisses »A« enthielt u. a.: angewandte Atomphysik; bestimmte technische Segmente der Luftfahrtindustrie; »Raketenantrieb, Düsentrieb und Gasturbinen«; elektromagnetische, infrarote und akustische Strahlung bestimmter Zwecke. Das Verzeichnis »B« enthielt angewandte wissenschaftliche Forschung mit Genehmigungsmöglichkeiten wie bei der Entwicklung von Röhren.948 Eine historische Genese des Gesetzes Nr. 25 liegt von Manfred Heinemann unter dem Titel »Überwachung und ›Inventur‹ der deutschen Forschung« vor. Das Gesetz beendete »die Periode der direkten Ausbeutung kriegsnaher Forschung durch die alliierten militärischen Geheimdienste« und »eröffnete« zugleich »eine neue Periode der Forschungsüberwachung«. Verbote, Kontrollen, Selbstkontrolle, der Abtransport von Wissenschaftlern in die Siegerstaaten u.v.a.m. bedeutete insgesamt eine Art von »zusätzlicher Barriere bei der Erneuerung« der Grundlagenund Anwendungsforschung. Zumindest für die Bundesrepublik begann mit dem Ende dieser Periode die »Aufholjagd« zur Weltspitze.949 Was die Ermittlung und Ausbeutung von Forschung und Entwicklung in der sowjetischen Zone anlangte, waren – neben dem NKWD-Komplex und der sowjetischen Akademie der Wissenschaften  – auch sogenannte Technische Büros beteiligt, die als Außenstellen sowjetischer Fachministerien fungierten.950 Zum Aderlass an Personal aufgrund von Fluchten, Auswanderungen und Verhaftungen zählt eben auch, dass die DDR massive Reparationspflichten zu leisten hatte. Hierzu wiederum gehört der Fakt, dass in der SBZ viele Menschen für die Sowjetunion arbeiten mussten. 1946 sollen es 7 596 Wissenschaftler und Techniker gewesen sein. Mehrheitlich arbeiteten sie für Rüstungsprojekte. Aufgrund der Vereinbarungen der Alliierten war dies eigentlich 948  Gesetz Nr. 25 des Kontrollrats, Berlin vom 29.4.1946: Überwachung der wissenschaftlichen Forschung, abgedruckt in: Physikalische Blätter 2(1946)3, S. 49–52. 949 Heinemann, Manfred: Überwachung und »Inventur« der deutschen Forschung. Das Kontrollratsgesetz Nr. 25 und die alliierte Forschungskontrolle im Bereich der Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft (KWG / M PG) 1945–1955, in: Mertens, Lothar (Hrsg.): Politischer Systembruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft? (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 76), Berlin 2001, 167–199, hier 167 f. 950  Vgl. ebd., S. 175.

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nicht statthaft, zumindest aber sehr problematisch. So kam recht rasch die Idee auf, sie in die Sowjetunion zu verbringen. Da die Freiwilligkeit sich hierzu in Grenzen hielt, wurden viele von ihnen zwangsverpflichtet. Einige Historiker sprechen von Deportationen.951 1966 resümierte Robert Rompe zur Bedeutung der Beschlüsse des Kontrollrates zum Verbot des Studiums »der Physik, Chemie, Elektronik, Mikrobiologie zum Zwecke der Aufnahme von Forschungen«, dass die SMAD deshalb zunächst nur bereit war, die Universitäten und Hochschulen »als Ausbildungsstätten für Lehrer zu eröffnen, auch in den Fächern Physik, Chemie, Elektronik, Biologie«. Trotz großer Probleme und Behinderungen seien jedoch »bedeutende Wissenschaftler« geblieben »bzw. kamen zu uns«, wie z. B. die Professoren Friedrich, Ertel, Thilo, Krauss, Hartke und Meyer.952 Allerdings stand deren Bindung zur DDR auf recht tönernen Füßen. Zur Festigung dieser Bindung untereinander und vor allem an die DDR wurde 1948 die Kammer der Technik (KdT) gegründet. Ulbricht sah in ihr expressis verbis ein Instrument zur Bindung der »fortschrittlichen Intelligenz« an die DDR.953 Nach dem Mauerbau verlor sich mehr und mehr die Bedeutung dieser ideologischen Zweckbindung.954 Ulbricht war intelligenter und befähigter als Honecker. Seine Offenheit im Umgang mit Menschen gestattete ihm den »Zugriff« auf sie. Vertrauen zu ihm zu gewinnen war möglich. Alles dies unterschied ihn von Honecker. Ulbricht war neben allem Bösen eines SED-Herrschers auch Reformer. »Er gestand« im Rahmen des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS), so Carl-Heinz Janson, »den Betrieben das Recht auf Schadenersatz zu, wenn übergeordnete Organe falsch entschieden, und er bezeichnete die administrativen Methoden der Führung als ›weder das Einzige noch das Vorherrschende im entwickelten ökonomischen System‹ des Sozialismus.«955 Er zeigte sich »zugänglich« auch »für theoretische Fragen«.956 Er schätzte Bildung; Ulbricht: »Wenn in Leipzig nicht ein so hohes Bildungsniveau gewesen wäre, dann könnte ich heute nicht so arbeiten. Diese prinzipielle Schulungsarbeit hat sich aus­ gezahlt. Studium des Marxismus und gleichzeitige Aneignung eines breiten Allgemeinwissens.«957 Tatsächlich gab es eine beachtliche Bildungstradition der Arbeiter in den 1920er-Jahren, sowohl auf sozialdemokratischer als auch auf kommunistischer Seite. Nach dem 7. Parteitag der KPD im August 1921 etablierte die Partei bei der Zentrale die Abteilung »Bildung und Propaganda«. Die Sozialdemokratie dagegen »entpolitisierte« und knüpfte Kontakte zu bürgerlichen Bildungskonfessio951  Tschekisten in Deutschland, S. 327 f. Hier Quellenhinweis auf: GARF, F. 7317, Kat. 22, Akte 12, Bl. 100–102. 952  Rompe: Manuskript der Rundfunksendung am 14.4.1966 (Gespräch mit Berliner Rundfunk am 12.4.1966); ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 282, S. 1–6, hier 2 u. 5. 953  Becker, O. E. H.: Die Kammer der Technik, in: PZ-Archiv 13, (1951), S. 9 f., hier 10. 954  Erster Kongress der KdT, in: Neues Deutschland vom 4.12.1955, S. 1. 955  Janson: Totengräber der DDR, S. 35. 956  Ebd., S. 38 u. 54. 957  Schäfer, Jochen: Arbeiterklasse und Bildung, in: URANIA 29(1966)1, S. 38–41 u. 82 f.

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nen. Dies blieb nicht ohne Kritik, doch ihre Bildungsphilosophie war volksnäher und übte auch auf Kommunisten eine Anziehungskraft aus.958 Nicht nur Ulbricht sprach gern mit Wissenschaftlern, sondern auch umgekehrt. Oft brüsteten sie sich mit den Gesprächen und drohten Funktionären, zu ihm mit ihren Anliegen und Beschwerden zu gehen. Er verstand sie, manchmal sprach er wie sie: Bei einem Treffen leitender Agrarwissenschaftler soll Ulbricht gesagt haben, dass das »Parteibuch der Mitglieder des Landwirtschaftsrates« nicht relevant sei, »Hauptsache sei, dass sie ein hohes Wissen besitzen«. Darauf bezog sich später auch Hans Stubbe und meinte, dass er fehl am Platze sei, wenn es wahr werde, dass 1965 an den Instituten 60 Prozent Arbeiterkader zu arbeiten hätten.959

Exkurs 3: Der Widerstand der Genetiker: Stubbe Hans Stubbes Visitenkarte: Er hatte »fast nie Zeit« und konnte »inhaltslose Gespräche nicht ertragen«.960 1902 in Berlin als Sohn eines Schulrates geboren, studierte er von 1925 bis 1929 an der Universität Berlin und in Göttingen Landwirtschaft, Biologie, speziell Genetik. Nach einer zweijährigen Assistentenzeit am Institut für Vererbungsforschung wurde er 1929 von Erwin Baur promoviert. 1936 ist er wegen antifaschistischer Haltung als Abteilungsleiter am Kaiser-­Wilhelm-Institut für Züchtungsfragen in Müncheberg / Mark »entfernt« worden, erhielt aber eine Anstellung am Institut für Biologie in Dahlem, wo er 1940 habilitierte. 1943 wurde er Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Kulturpflanzenforschung in Wien, 1946 Ordinarius und Direktor des Instituts für Genetik an der MLU Halle / Wittenberg, schließlich, 1951, ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (DAL) und deren Präsident. Er war Mitglied der Leopoldina. Der Parteilose war Mitherausgeber von sechs Fachzeitschriften wie Der Züchter und genoss mit seinem Gaterslebener Institut für Kulturpflanzenforschung nahezu Kultstatus. In summa für das MfS Grund genug, sich mit ihm zu beschäftigen: Er habe in einem Buch die Lehren Mitschurins und Lyssenkos verleumdet. In der DDR nicht erschienen, fand es im Westen »reißenden Absatz«.961 958  Vgl. Wimmer, Walter: Das Wissen und die Macht. Zur Geschichte der Schulungsarbeit in der deutschen Arbeiterbewegung während der Jahre der Weimarer Republik, in: URANIA 29(1966)2, S. 34–37 u. 82 f., hier 35. 959  HA III/3/J vom 1.12.1962: Auszug aus einem Treff bericht; BStU, MfS, AOP  2414/63, 1 Bd., Bl. 213. 960  Bericht von »Inge« vom 27.1.1960; ebd., Bl. 85 f., hier 85. Eines seiner Hauptwerke: Stubbe, Hans: Kurze Geschichte der Genetik bis zur Wiederentdeckung der Vererbungsregeln Gregor Mendels. Jena 1965. Zu Leben und Wirken: Käding, Edda: Engagement und Verantwortung. Hans Stubbe, Genetiker und Züchtungsforscher. Eine Biographie. Müncheberg 1999. 961  HA III/3/J vom 29.11.1961: Materialzusammenfassung; ebd., Bl. 151–162, hier 153 f. sowie HA III/5/O vom 9.4.1956: Lebenslauf; ebd., Bl. 40–42.

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Abb. 11: Ausstellung des Mitschurin-Kabinetts der Maschinen-Traktoren-Station Barnitz, 1955

Der Beschluss für das Anlegen eines Operativ-Vorlaufes gegen Hans Stubbe stammt vom 17. September 1960.962 Im Auskunftsbericht der HA III/3/J vom 15. Februar 1962 lautete die Begründung auf »Abwehr des negativen politisch-ideologischen Einflusses reaktionärer Agrarwissenschaftler Westberlins, Westdeutschlands und des kapitalistischen Auslandes«. Stubbe sei, hieß es, gegen die Lehren Lyssenkos und Mitschurins eingestellt.963 Allerdings fand das MfS nichts, was man gegen ihn in Richtung Sabotage oder Spionage hätte verwenden können, außer seiner klaren Haltung hinsichtlich der Freiheit der Wissenschaft. Der Vorgang wurde am 5. Februar 1963 geschlossen, allerdings mit dem selbstherrlichen Vermerk, wonach das Ziel, die »negativen politisch-ideologischen Einflüsse reaktionärer Agrarwissenschaftler« des Westens zu bannen, realisiert worden sei. Stubbe werde sich nun gemäß den SED-Leitlinien verhalten.964 Doch einige 962  Vgl. HA III/3/J vom 17.9.1960: Beschluss für das Anlegen einer VAO; ebd., Bl. 12 f. 963  Vgl. HA III/3/J vom 15.2.1962: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 183–185, hier 183. 964  HA III/3/J vom 5.2.1963: Abschlussvermerk; ebd., Bl. 214 sowie HA III/3/J vom 5.2.1963: Beschluss für das Einstellen einer VAO; ebd., Bl. 215 f.

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seiner Mitarbeiter waren nicht so glimpflich davongekommen, andere konnten flüchten. Ein Briefwechsel zwischen Stubbe und einem geflüchteten Mitarbeiter habe gezeigt, dass Stubbe »über interne Angelegenheiten des Akademiebereiches und deren leitende Professoren informiert. Außerdem zeigen diese Briefe, dass Professor Stubbe in der DDR entlarvte Feinde unter den Agrarwissenschaftlern stützt.« Den gesamten Schriftverkehr beider sichtete der GI »Inge« zusammen mit seinem Führungsoffizier bei einem konspirativen Einbruch in seinen Arbeitsräumen. Der Umfang der Unterlagen soll »beträchtlich« gewesen sein. Der Offizier schrieb übrigens: »konsperatives Fokopieren«.965 Ein Schreiben Stubbes an das Büro der Klasse Chemie, Biologie und Geologie vom 15. April 1957 hätte für ihn durchaus gefährlich werden können. Es ging um eine in russischer Sprache eingereichte Dissertation, die von seinen beiden des Russischen mächtigen Mitarbeitern jedoch nicht fachlich beurteilt werden konnte. Das Büro möge, so Stubbe, in Moskau um eine Übersetzung nachsuchen, wenn es die sowjetische Akademie der Wissenschaften für so wichtig erachte. Stubbe aber sprach noch einen anderen Gesichtspunkt an, der ihm wichtig war. Denn die Dissertation kam aus jenem Institut für Genetik, dessen Direktor Lyssenko war; Stubbe: »Zu seinen maßgebenden Mitarbeitern gehören Professor Nushdin und Professor Glustschenko. Diese drei Herren haben vor nicht langer Zeit in einer sowjetischen Zeitschrift heftige Angriffe gegen mich und meine Mitarbeiter geführt, da unsere Ergebnisse, die an sehr großem Material und mit großer Sorgfalt durchgeführt wurden, nicht mit den Erkenntnissen der fortschrittlichen sowjetischen Biologie übereinstimmen. So lange solche Angriffe von Mitgliedern eines Instituts der sowjetischen Akademie der Wissenschaften noch möglich sind, zumal keinerlei stichhaltige Argumente vorliegen, scheint uns eine Verbindung zu diesem Institut nicht möglich, und wir müssten es grundsätzlich ablehnen unsererseits zu einer Arbeit dieses Instituts Stellung zu nehmen.«966 Der Staatssicherheitsdienst hatte diese Information auf inoffiziellem Wege erhalten.967 Hubert Laitko schreibt: »Das Exempel Stubbes und seines erfolgreichen Kampfes gegen den Lyssenkismus veranschaulicht, dass es nicht zutreffend wäre, die Naturwissenschaftler in der DDR als passive Objekte einer zentralistischen Wissenschaftspolitik zu betrachten. Sie konnten diese Politik mitgestalten, nicht nur dann, wenn sie wie Rompe selbst dem politischen System angehörten, sondern auch dann, wenn sie wie der parteilose Stubbe eher am Rand dieses Systems standen.«968 Stimmt diese Behauptung nur deshalb, weil Stubbe »eher am Rand dieses Systems« stand? Da standen andere wie Thilo, Mothes, Tembrock, Emmel und Hartmann aber auch  – und scheiterten bei ihren Versuchen, die SED-Wissenschaftspolitik substanziell zu verändern. Laitko liefert selbst den 965  HA III/3/J vom 23.4.1959: Schriftverkehr Stubbe; ebd., Bl. 72. 966  Schreiben von Stubbe an Wille vom 15.4.1957; ebd., Bl. 50. 967  Vgl. Information vom 2.5.1957; ebd., Bl. 53 f. 968  Laitko: Strategen, Organisatoren, Kritiker, Dissidenten, S. 51.

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Beleg dafür: Stubbe, so sein Nachfolger, sei »ein in hohem Grade politischer Mensch«, ein »Citoyen« – mit der Vorstellung sozialer Gerechtigkeit, »die dem Sozialismusgedanken zugrunde lag, und konnte sich von diesem Ausgangspunkt her mit den Verhältnissen in der DDR arrangieren«.969 Allerdings war er drauf und dran, um 1950/51 die DDR zu verlassen. In einem Brief an den Astronomen Kienle (Kap. 4.2.1) drückte er seine Verärgerung »über den administrativen Umgang mit seinem Gaterslebener Institut« aus. Doch er erhielt keine entsprechende Offerte. Also schrieb er Kienle: »Möge mir also in Zukunft keiner mehr einen Vorwurf machen, dass ich noch hier bin! Ich muss ja befürchten, dass ich auch als Steineklopfer dort drüben nicht mehr Anstellung finde, weil ich kommunistisch infiziert bin.« Erst 1953 erhielt er ein konkretes Angebot vom MPG-Präsidenten Otto Hahn, die Leitung eines neuen Instituts für Genetik zu übernehmen. Doch Stubbe war mittlerweile Präsident der DAL. Immerhin, so Laitko, konnte er das Angebot gut als Druckmittel anwenden, um »die ständigen öffentlichen Angriffe gegen die Genetik in der DDR« zu minimieren.970 Max Steenbeck schrieb für einen von Alexander Abusch herausgegebenen Almanach971 zum 75. Geburtstag Ulbrichts seine Erinnerungen an ihn nieder, die nur die guten Seiten Ulbrichts zum Inhalt hatten, also kam der Beitrag abzüglich einiger stilistischer Änderungen und des Austauschs des Titels (der lautete ursprünglich »Begegnungen mit Walter Ulbricht«) auch recht glatt durch. Allerdings erfolgten selbst diese Änderungen im »Einvernehmen« des Lektorats mit Abusch, worin Steenbeck nicht involviert war.972 Steenbeck hatte eine erste Begegnung mit Ulbricht 1956, zwei Tage nach seinem Entschluss, in der DDR zu bleiben. Ulbricht wollte von ihm wissen, warum er sich nach »ausgedehnten Informationsreisen durch beide deutsche Staaten« für die DDR entschieden habe. Die letzte Zusammenkunft mit Ulbricht fand im Frühjahr 1968 statt. Dieses Treffen, so Steenbeck, hatte »unter anderem Maßnahmen zur Förderung meiner persönlichen wissenschaftlichen Arbeit« zum Inhalt. Steenbeck lobte an Ulbricht dessen Interesse an der Wissenschaft ganz allgemein und an Menschen, sein »außergewöhnliches Gedächtnis sogar für Details« und seine Zielstrebigkeit in den Absichten. »Gespräche mit ihm« seien »immer anspruchsvoll und anstrengend« gewesen, sie seien aber »nie ohne Ergebnis« ausgegangen. Ein schwieriges Unterfangen in der damaligen Anfangszeit »war die Gewinnung der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz, denn hier gab es oft ein rein fachlich orientiertes und häufig bewusst oder unbewusst überheblich betontes Wissen unter Missachtung gesellschaftlicher Verpflichtungen der Wissenschaft, 969 Ebd. 970  Ebd., S. 51 f. u. 56. 971  Steenbeck, Max: Klare Vorausschau und Stetigkeit, in: Abusch, Alexander (Hrsg.): Walter Ulbricht. Schriftsteller, Künstler, Architekten, Wissenschaftler und Pädagogen zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag. Berlin und Weimar 1968, S. 312–314. 972  Schreiben des Lektorats des Aufbau-Verlags an Steenbeck vom 4.4.1968; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 75, 1 S. Die Fassungen vom 28.2. u. 9.4.1968; ebd., je 3 S.

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ein Ausweichenwollen in eine politische Neutralität«. Steenbeck biederte sich mit solchen Worten gewiss nicht an, er war, was die Idee des Sozialismus betraf, gläubig. In einem seiner Gespräche mit Ulbricht sei der von sich aus der Auffassung gewesen, dass »der Zentralismus in der Steuerung und Regelung […] weitgehend abgebaut werden« müsse, als Korrektiv für den fehlenden marktwirtschaftlichen Wettbewerb. Die Verantwortung müsse stärker bei den Betrieben selbst liegen. Zwei Jahre später war das Neue ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) eingeführt, das diese Vorstellungen ins Zentrum rückte.973 Hinter dem pragmatischen Zug Ulbrichts verbarg sich jedoch ein zweites Gesicht. Auf der I. Funktionärskonferenz der FDJ am 26. November 1950 in Berlin hatte er wie weiland Stalin auf dem VIII. Komsomolkongress ausdrücklich die Jugend zum Sturm auf die Festung »Wissenschaft« aufgefordert. Er war es, der die Finals mit der 3. Hochschulreform und der Akademiereform einleitete. Auch Christian Sachse sieht einen pragmatischen Zug in der Ulbricht’schen Politik: »Man ließ die ›idealistischen‹ Wissenschaftler – soweit nötig – gewähren und die politisch allgewaltigen kommunistischen Revolutionäre, die – ebenso wenig wie ihre parteiamtlichen Ideologen – in der Regel keine naturwissenschaftliche Ausbildung hatten, konzentrierten sich auf die technologisch nutzbaren Ergebnisse ›ihrer Ingenieure‹.«974 Heinz-Dieter Haustein sieht den Untergang des Staatssozialismus bereits in seinem Anfang analog der griechischen Tragödie begründet: »Wie konnte man es wagen, das heilige Privateigentum anzutasten! Man musste es tun, wenn man den Sozialismus wollte, und mit jedem Schritt in diese Richtung beschleunigte man den Untergang.«975 Der Physiker würde sagen, man nahm mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln die Freiheitsgrade aus dem Wirtschaftsprozess heraus, die für die Bewegung auch in der Gesellschaft zu sorgen hatten. Erstarrung war die zwingende Folge. Ulbricht sah das, und versuchte gegen den Apparat Lockerungen, die jedoch scheiterten, da ihm sowohl der Parteiapparat als auch die Sowjetunion zunehmend die Hände banden. Honecker später interessierte so etwas nicht. Hausteins Erkenntnis ist eine Erkenntnis ex ante. Carl-Heinz Janson: »Es gelang zu keiner Zeit, die bürokratisch-administrative Planungs- und Leitungsweise zu überwinden, sie uferte vielmehr aus und förderte Erstarrung und Desinteresse statt Flexibilität und Motivation.«976 Ulbricht herrschte in einer Periode, in der die deutsche Frage lange Zeit offen war oder zumindest offen schien. Dieser Umstand und seine Affinität zur Wissenschaft und Bildung waren von erheblicher Bedeutung für das Dasein der bürgerlichen Wissenschaftler. Die Topoi »deutsche Wissenschaft« und »deutsche Wissenschaftler« waren allgegenwärtig  – und sie prägten, ob gewollt oder nicht, das tägliche Handeln mit. Der Präsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Walter 973  Steenbeck: Abschrift vom 9.4.1968; ebd., S. 1–3. 974  Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik, S. 7. 975  Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 30. 976  Janson: Totengräber der DDR, S. 135.

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Abb. 12: Leonid Breschnew zu Gast auf dem VII. Parteitag der SED, April 1967

Friedrich, schrieb in der Nationalzeitung vom 31. Januar 1954 unter dem Titel »Wissenschaft in einem geeinten Deutschland« einen Beitrag, der diesen Traum eines geeinten »deutschen Volkes« zeigte, wonach die deutschen Wissenschaftler »bisher auch in einem gespaltenen Deutschland für die Einheit ihrer Heimat arbeiten« konnten, was »sich besonders deutlich in der bereits bestehenden Zusammenarbeit der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin mit der Wissenschaft des Westens Deutschlands« gezeigt habe. Friedrich verwies auf Kooperationsprojekte wie das Goethe-Wörterbuch, an dem übrigens Hildegard Emmel (Kap. 3.2.2, Abschnitt: Der Fall Hildegard Emmel) mitarbeitete, und zeigte sich überzeugt, dass es in der deutschen Wissenschaft »nie« eine Trennung gegeben habe. »Wir sind der festen Überzeugung«, so Friedrich, »dass bei einem politischen Zusammenschluss die wissenschaftliche Arbeit unserer Gelehrten zu einer bedeutenden Festigung der

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deutschen Einheit beitragen« werde. Und zu den möglichen Impulsen der DDR für eine Einheit – im Zusammenhang mit der Forderung, dass an den Verhandlungen zu einer deutschen Einheit auch »Vertreter der beiden Staatsteile zu Wort kommen« – führte er die planmäßige Aufwärtsentwicklung an, also den, wenn man so will, geplanten Fortschritt in der Wissenschaft in der DDR.977 Dass aber nur wenige Jahre später, als der Naturwissenschaftler Friedrich so redete, seine Kollegin Emmel mit eben diesem, »ihrem«, Goethe scheiterte, sahen wir oben. Die Kehrseite der Unterdrückung aber war der reziprok wachsende Freiheitswille. 1955 ist es zu einer krisenhaften Zuspitzung in der Frage der Besuchsverbote für Westberlin gekommen. Am 25. November 1955 schrieb der persönliche Referent Walter Ulbrichts, Otto Gotsche an den Präsidenten der DAL, Stubbe. Dies erfolgte im Auftrage Ulbrichts und war veranlasst wegen einer Beschwerde von Schmalfuß, der sich für eine Veränderung in der Reisepraxis ausgesprochen hatte. Gotsche: »Infolge der gegenwärtigen politischen Situation kann eine Veränderung der notwendigen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen im Stadtgebiet Berlin aufgrund der Politik der Bonner und Westberliner Regierungsstellen nicht erfolgen.« Die DDR treffe kein Verschulden an der restriktiven Situation. Um »unliebsame Zwischenfälle von vornherein auszuscheiden [sic!], bitte ich, Herrn Professor Dr. Schmalfuß darauf hinzuweisen, dass es zweckmäßig ist, das Westberliner Gebiet bei seinen Dienstreisen nach Berlin nicht zu berühren, die auch für alle Regierungsmitglieder geltenden Anordnungen zu beachten und Ostberlin zu umfahren«.978 Doch es gab auch die andere Seite, Separatisten und solche, die die Bundesrepublik ideologisch und ökonomisch besiegt träumten. Zu ihnen zählten an vorderster Stelle die hauptamtlichen und inoffiziellen Kräfte des Staatssicherheitsdienstes. Damit der kommunistische Weg überhaupt real erschien, mussten sie zwingend taktieren. Ein Beispiel liefert die Direktive Nr. 48/55 des MfS von Ernst Wollweber »für die Zusammenarbeit mit Angehörigen der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz« vom 30. November 1955. Die Direktive war eine direkte Reaktion auf den Umbruch in der Organisationsstruktur des Staatssicherheitsdienstes. Die Rückernennung zum MfS war gerade eine Woche alt. Es herrschte erhebliche Unzufriedenheit in der Art und Weise der »Zusammenarbeit mit Angehörigen der schaffenden Intelligenz«. Die Schwierigkeiten, »Mängel und Schwächen« hätten demnach sowohl die operative Arbeit gehemmt als auch der Volkswirtschaft geschadet; Zitat: »Die Auswirkungen dieser Mängel und Schwächen in der operativen Arbeit zeigten sich darin, dass Wissenschaftler, Ingenieure, Spezialisten usw. infolge unqualifizierter Arbeit unserer Mitarbeiter bei der Kontaktaufnahme, Anwerbung und Zusammenarbeit unsicher in ihrer Arbeit wurden und in einigen Fällen die DDR verließen.« Man zeigte sich u. a. davon überzeugt, dadurch Wissenschaftler durch Flucht verloren zu haben, etwa auch, weil 977  Friedrich, Walter: Wissenschaft in einem geeinten Deutschland, in: Nationalzeitung vom 31.1.1954, S. 7. 978  Schreiben von Gotsche an Stubbe vom 25.11.1955; BStU, MfS, AOP 2414/63, 1 Bd., Bl. 34.

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sie »gegen ihre Überzeugung für die Mitarbeit angeworben« worden waren, oder auch, »weil Personen aus ihrer näheren Umgebung angeworben wurden, sie von der Anwerbung erfahren haben und sich deshalb bedroht« gefühlt hätten. Wiederum andere, zumal leitende Wissenschaftler, würden darüber klagen, dass MfS-Mitarbeiter ohne sie zu informieren im Institut »wirksam geworden« seien und »offiziellen Kontakt zu Mitarbeitern des Instituts« aufgenommen hätten. Sie fühlten »sich als Leiter übergangen«. Dadurch werde »ihre Autorität untergraben« und für sie feststehen, dass die Staatsorgane ihnen »nicht das notwendige Vertrauen« entgegenbrächten. Mitarbeiter des MfS gäben sich als Angehörige anderer Ministerien aus. Aus all diesen von Wollweber erkannten Missständen folgten Korrekturmaßnahmen, in deren Mittelpunkt die Qualifizierung der MfS-Mitarbeiter stand: Einsatz von »besonders« qualifizierten Mitarbeitern, »die möglichst Fachkenntnisse auf dem Aufgabengebiet des zu bearbeitenden Objektes besitzen oder mindestens so viel Allgemeinwissen und Einfühlungsvermögen haben, dass sie sich in kurzer Zeit einen Überblick über die Aufgaben und Besonderheiten ihres Objektes verschaffen können«. Wollweber favorisierte (zunächst) die Kontaktaufnahme und nicht die Verpflichtung. Bei der Aufnahme der Verbindung soll dafür gesorgt werden, dass die angesprochene Person nicht »zu falschen Schlussfolgerungen« komme, sie solle »selbst an einer Verbindung interessiert« sein resp. werden. Nur Mitarbeiter sollten dies versuchen, »die befähigt sind, in Kreisen der schaffenden Intelligenz zu arbeiten«.979 Ob diese »Reform« gelang, darf bezweifelt werden. Jedenfalls suchte der Staatssicherheitsdienst weiterhin mit allen Mitteln intensiv und zäh deren Nähe, meist unter dem Vorwand, Hilfe, wenn nötig, und die tat grundsätzlich immer not, bieten zu können. Am 12. Februar 1957 suchten Mitarbeiter des Dienstes Gustav Hertz in dessen Institut auf, um sich über die Forschungsergebnisse seines Hauses unterrichten zu lassen. Zunächst erklärte Hertz, dass er es »nicht verstehen« könne, »dass sich die Staatssicherheit für wissenschaftliche Arbeiten und Probleme interessiert«. Die Aufgabe der Staatssicherheit sei doch, so Hertz, für die Sicherheit des Staates zu sorgen. Die Mitarbeiter erklärten ihm, dass der Gegner sehr wohl sich für fachliche Dimensionen in der Arbeit der Institute interessiere. Angeblich soll Hertz das verstanden und begriffen haben, dass das Interesse des Staatssicherheitsdienstes eine Hilfsleistung für das Institut bedeuten könne. Und so liefen die Gespräche meist auch an: So sprach Hertz bei dieser Gelegenheit gleich seinen Ärger darüber aus, dass jüngere, sehr gute Wissenschaftler – im Gegensatz zu älteren, die ihren Leistungszenit überschritten hätten – ein viel zu geringes Gehalt bekämen. Als Beispiel nannte er Lösche, der auf dem Gebiet der Kernresonanz international führend sei, doch der bekomme »lediglich Gehalt«, besitze also »keinen Einzelvertrag«. Hertz schätzte ihn als Nummer  1 in seinem Institut ein. Und »zum Staatssekretariat für Hochschulwesen« habe er überhaupt »kein Vertrauen, da die Vertreter«, die das

979  MfS vom 30.11.1955: Direktive Nr. 48/55 für die Zusammenarbeit mit Angehörigen der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz; BStU, MfS, DSt., Nr. 101141, Bl. 1–9, hier 1–5.

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Institut aufsuchten, »vieles versprechen, was sie nicht halten können«. Solche Besuche seien »überflüssig«.980 Auf Fragen des Staatssicherheitsdienstes nach der Qualität der Arbeit seines Hauses argumentierte Herz raffiniert: Er sei mit der Arbeit der Gruppe Lösche »sehr zufrieden«, mit der Gruppe Holzmüller981 »leidlich zufrieden« und mit seiner  – »nicht zufrieden«. So geantwortet zeigt, dass er auf objektive Gründe orientierte und nicht auf personale. Seine Gruppe beschäftige sich mit Halbleiterphysik, das sei »ein neues und auch ziemlich schwieriges Gebiet«. Zudem seien seine Mitarbeiter noch recht jung, sie müssten erst Erfahrungen sammeln. Er differenzierte dann die Einschätzung seiner Mitarbeiter – ob er dies gesprächsweise selbst einfügte oder dazu aufgefordert worden war, entzieht sich der Dokumentation des Gesprächs. Wahrscheinlich wurde er vom MfS dazu aufgefordert, denn die Verweigerung einer Spende eines Mitarbeiters für ungarische Arbeiter wischte er vom Tisch mit der Bemerkung, dass man das nicht negativ bewerten solle, der sei ein sehr fleißiger und junger Mitarbeiter. Die Verbindung zwischen den Wissenschaftlern aus Ost und West sei gut, nachteilig aber wirke sich der Mangel an Westgeld aus, der immer wieder Abhängigkeiten zeitige.982 Die folgende Aussprache – Hertz hatte keinen Einwand dagegen vorgebracht – fand am 13. März statt. Die betreffenden Mitarbeiter der BV Leipzig bereiteten sich wiederum schriftlich auf dieses Gespräch vor, und zwar zu den Themen Physikertagung, Ereignisse im Institut und Frühjahrsmesse 1957. An der Vorbereitung waren drei Offiziere beteiligt.983 Dem niedergeschriebenen Gesprächstext nach zu urteilen, erhielt die Frage der Tagung der Physikalischen Gesellschaft der DDR den größten Platz. Man sprach über Sinn und Nutzen eines Zusammenschlusses beider deutschen Gesellschaften, war jedoch, zumindest was den Zeitpunkt anlangte, gegenwärtig nicht dafür. Sie diskutierten die Auf‌lösung des Reichsforschungsamtes (Hertz war nicht Mitglied gewesen), wodurch sich gleichsam eine Spaltung ergeben habe: Ein Teil der Mitglieder arbeite im Westen, der andere im Osten. Angeblich, so steht in dem Bericht vermerkt, habe sich Hertz als ein Anhänger der Planwirtschaft gezeigt.984 Befragt zum Studium des Marxismus-Leninismus, soll er die Auf‌fassung vertreten haben, dass Physiker »sich« nicht »groß mit den Fragen der Philosophie abgeben« müssten. Er halte »es nicht für richtig, z. B. heute noch Dinge zu bringen, die Marx und Engels über die Physik vor 100 Jahren gesagt« hätten.985

980  BV Leipzig, Abt. VI, vom 13.2.1957: Aussprachebericht; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. ­68–73, hier 68 f. 981  Holzmüller habilitierte an der Universität Berlin und war Mitarbeiter von Thiessen vor 1945. 982  BV Leipzig, Abt. VI, vom 13.2.1957: Aussprachebericht; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. ­68–73, hier 70–72. 983  Vgl. BV Leipzig, Abt. VI, vom 12.3.1957: Schriftliche Vorbereitung auf ein Gespräch mit Hertz; ebd., Bl. 75. 984  Vgl. BV Leipzig, Abt. VI, vom 13.3.1957: Aussprachebericht; ebd., Bl. 77–81, hier 79. 985  Ebd., Bl. 80 f.

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Abb. 13: Walter Ulbricht (2. v. l.) und Gustav Hertz (3. v. l.) auf der Konferenz des Forschungsrates der DDR; ganz links Hans Frühauf, ganz rechts Peter A. Thiessen, November 1959

Insbesondere zu Robert Rompe soll Hertz einen vielfältigen und auch familiären Kontakt gepflegt haben. Seine Verbindungen zu Heinz Barwich und Josef Schintl­ meister dagegen sollen eher oberflächlicher Natur gewesen sein. Seine Sekretärin übergab dem MfS ein Psychogramm über Hertz. Demnach soll er keinen Widerspruch geduldet haben, er schätze seine Gesprächspartner, so sie ein sicheres Auftreten zeigten. Insgesamt gesehen sei er »ziemlich zurückhaltend« und in geistiger Hinsicht agil und lebendig. Er treibe Sport, sei ein Gegner von Festveranstaltungen, Banketts u.dgl.m. Er lebe ziemlich zurückgezogen und bescheiden.986 Das MfS war stets 986  BV Leipzig, Abt. VI, vom 8.11.1957: Besprechung mit der Sekretärin; ebd., Bl. 103–106, hier 104 f.

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bemüht, solche Angaben fortlaufend zu verifizieren. Am 8. November 1957 wurde der SED-Sekretär zu Hertz befragt. Der meinte, dass der »ein Wissenschaftler« sei »mit rein bürgerlichen Ansichten, der in bestimmten Dingen die Politik von Partei und Regierung nicht« begreife. Größeren Raum erhielt in diesem Gespräch die Personalie Bernhard Kockel (Kap. 5.1), Hertz sei bemüht, ihn in Leipzig zu halten, die Parteileitung habe jedoch den Beschluss gefasst, ihn an die Akademie zu versetzen. Hertz habe sich deutlich dagegen ausgesprochen.987 Das Thema der Flucht entzweite regelmäßig die beiden um Kompromisse bemühten Seiten, jene der »Sprecher« der bürgerlichen Seite und jener der SED-Seite. Am 11. November 1958 nahmen an einer Sitzung des Präsidiums der DAL Landwirtschaftsminister Hans Reichelt und Erich Mückenberger teil. Der Präsident der DAL, Hans Stubbe, hatte dem Staatssicherheitsdienst »die Hauptschuld« an den Republikfluchten gegeben. Er bezog sich hierbei auf vertrauliche Gespräche mit Wissenschaftlern, die ihn gebeten hätten, diese Sache an geeigneter Stelle vorzutragen. Er sei jedoch »nicht bereit, Namen dieser Wissenschaftler zu nennen«. Er mag gewusst haben, was das für diese hätte bedeuten können. Vertrauen und Angst, Misstrauen und Mut sind geronnen in dieser klaren Position Stubbes und drückten dem damaligen Klima einen adäquaten Stempel auf. Stubbe schlug gar vor, »dass die Organe der Staatssicherheit weder zu den wissenschaftlichen noch technischen Mitarbeitern der Institute Verbindung aufnehmen«. Die Wissenschaftler würden es jedoch akzeptieren, wenn diese Kontakte lediglich mit den Institutsdirektoren liefen. Reichelt hatte laut dem Staatssicherheitsdienst erfahren, dass sich Mückenberger in dieser Frage an Mielke wenden wolle.988 Neben der Flucht bildete die »Abwerbung« eines der am häufigsten gebrauchten Topoi des Staatssicherheitsdienstes der 1950er-Jahre. Sie fand tatsächlich statt. Jedoch subsummierte der Dienst generell alle Hinweise auf eine mögliche oder bewiesene Verbindung zwischen Ost- und Westwissenschaftlern unter dem Verdachtsmerkmal »Abwerbung«; Beispiel: »Der westdeutsche Telefunken-Konzern beschäftigt sich sehr stark mit der Abwerbung von Angehörigen der technischen Intelligenz und anderen Spezialisten aus dem VEB Funkwerk Erfurt. Der Agent des amerikanischen Geheimdienstes [A], ehemals beschäftigt im VEB Funkwerk Erfurt, jetzt in Haft befindlich, führte neben seiner Spionagetätigkeit Aufträge der Abwerbung durch. […] Sein Spezialgebiet ist die Abwerbung von Wissenschaftlern und Spezialisten auf dem Gebiet der Hochfrequenz- und Elektrotechnik.« In diesem Fall will der Staatssicherheitsdienst konkrete Hinweise – namentlich und fallweise bewiesen – besessen haben. Im berichteten Fall würden die in die Bundesrepublik geflüchteten ehemaligen Funkwerker mit ihrem »Club der ehemaligen Erfurter« Abwerbearbeit für das Telefunkenwerk Ulm betreiben. So sei der Leiter des Labors für Messgeräteentwicklung im VEB Funkwerk Erfurt [B] im Mai 1958 geflohen. Er sei in den Augen des MfS ein sogenannter »typischer Nur-Fachmann« 987  BV Leipzig, Abt. VI, vom 8.11.1957: Besprechung mit dem Sekretär der BPO; ebd., Bl. 107 f. 988  HA III/3 vom 11.11.1958: Bericht; BStU, MfS, AOP 2414/63, 1 Bd., Bl. 199.

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gewesen, »welcher über seinen Arbeitsbereich hinaus keinen Blick für irgendwelche gesellschaftlichen Zusammenhänge hatte. Er« habe »aus dieser seiner Einstellung auch keinen Hehl« gemacht »und verlangte von der Kader-Abteilung nur solche Jung-Ingenieure, die in Gesellschaftswissenschaft eine schlechte Note erhalten hatten. Weiterhin forderte er speziell die aus der SED ausgeschlossenen Ingenieure an.« Ihm sei in den Westen im Oktober 1958 ein weiterer Abteilungsleiter aus der Messgeräteentwicklung gefolgt [C]. Im Mai 1959 folgte dann der stellvertretende Laborleiter der Messegeräteentwicklung [D] in den Westen. Alle drei fanden eine Anstellung im Telefunkenwerk Bagnang.989 Der SED brannte das Problem der Abwerbung und Flucht zunehmend auf den Nägeln, sie fand bis zur Grenzschließung keinen Weg der Eindämmung. Anweisungen und Propaganda verfehlten weitestgehend die gewünschte Wirkung. Ein Vertreter der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock schrieb in der Sache Abwerbungen am 25. Juni 1958 den Leiter des Observatoriums Kühlungsborn, Ernst August Lauter, an. Er teilte ihm einen Auszug aus dem Protokoll der Senatssitzung vom 21. Mai mit, wonach »die Übersiedlung von Lehrkräften« in die Bundesrepublik »in einem Schreiben des Herrn Staatssekretärs für das Hoch- und Fachschulwesen behandelt« worden sei: »Es kann unter keinen Umständen verantwortet werden, dem NATO-Staat zusätzliche Kräfte, mögen es nun Fachwissenschaftler, Assistenten, Facharbeiter oder ungelernte Arbeiten sein, zuzuführen.« Die Bundesrepublik betreibe die atomare Aufrüstung; einer solchen Entwicklung könne die DDR nicht auch noch Unterstützung geben. »Aus diesem Grunde ist den Hochschullehrern nahezubringen, dass es befremdend für unseren Staat sein muss, wenn sie Berufungen an Hochschulen der Bundesrepublik und des Auslandes annehmen, ohne sich vorher der Zustimmung ihrer vorgesetzten Organe vergewissert zu haben.«990 MfS-Gutachter Hanisch (Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 2) wertete solche Abgänge im Dresdener Raum im Stasistil wie folgt: »Die fast schlagartige Schwächung unseres Entwicklungspotenzials auf dem Gebiet der Halbleitertechnik zum Zeitpunkt des Übergangs zur Produktion in Frankfurt / Oder durch Republikflucht des größten Teils der hochqualifizierten Kader des IHT [Institut für Halbleitertechnik Teltow] lässt deutlich die steuernde Hand des Gegners unseres Aufbaus erkennen! Eine solche Lesart wollen Menschen wie Professor Hartmann und Gleichgesinnte jedoch niemals akzeptieren, schieben die Schuld auf übergeordnete Leitungen und stimulieren gleiche Verhaltensweisen bei ihren Mitarbeitern durch ihre eigene gesellschaftlich unklare oder negative Grundhaltung zu diesen Problemen. Eine solche Verhaltensweise war für Professor Hartmann typisch!«991 989  BV Erfurt, KD Erfurt, vom 19.8.1959: Bericht über Abwerbungen; BStU, MfS, BV Erfurt, AS 1/63–6, Bl. 9 f. 990  Schreiben von Bräuniger an Lauter vom 25.6.1958; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 226, 1 S. 991  Vgl. Hanisch: Chronik der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden vom 15.8.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 2554/76, Bd. 39, Bl. 172–252. Die handschriftliche Version in: BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 5, Bl. 80–186, hier 105.

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Die SED focht einen Mehrfrontenkrieg. An jener der Wissenschaftspolitik stand als Anführer Rompe. Sein wissenschaftlicher Nachlass zeigt, dass er gern über geschichtliche Aspekte der Physik resümierte und es verstand, diese auf der Klaviatur der SED zu zelebrieren, was ihm vergleichsweise weniger übel genommen wurde als anderen; Rompe rückblickend: Nach dem Krieg habe es »nur wenige arbeitsfähige bedeutendere Stätten physikalischer Forschung« gegeben. Die physikalischen Institute der Hochschulen in Leipzig, Berlin und Dresden seien »völlig zerstört« worden und »aus den zunächst von den Amerikanern besetzten Universitäten Jena und Leipzig sowie dem Forschungsbereich von Carl Zeiss Jena« hatten die Amerikaner beim »Abzug die Physiker zwangsweise mitgenommen und im Lager Heidenheim (Württemberg) interniert«. Die gesamte Forschung stand, so Rompe, unter Kontrolle. Die Betätigung in der Physik war an den Universitäten nur unter dem Aspekt der Ausbildung von Lehrern gestattet. Die SMAD ermöglichte die »Wiederaufnahme der physikalischen Forschung auf aktuellen Gebieten der Physik« in Forschungsbereichen. »Für manche Gebiete von strategischer Bedeutung, wie Kernphysik, Elektronik und wissenschaftlicher Gerätebau, erhielt eine größere Anzahl von Physikern (darunter Hertz, Steenbeck, Görlich) die Möglichkeit, in der Sowjetunion Arbeiten durchzuführen, von denen sie in den nächsten Jahren – die letzten etwa nach zehn Jahren – zurückkehrten und das wissenschaftliche Potenzial der DDR mit ihren großen Erfahrungen – erworben durch Mitarbeit in Kollektiven sowjetischer Wissenschaftler und an Aufgaben größten Formats – bereicherten.«992 In der Öffentlichkeit zeigte sich Rompe antiwestlich eingestellt: »Wie auf allen Gebieten des Lebens, so fügte die Spaltungspolitik der USA und ihrer westdeutschen Gefolgsleute auch der Physik in der DDR schweren Schaden zu.« Für den Ostblock gab es nur Lob: »Der nächste große Schritt voraus war die Aufnahme der Arbeiten auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Atomenergie, wobei durch das zwischen der DDR und der UdSSR abgeschlossene Staatsabkommen mithilfe der sowjetischen Wissenschaftler die Überwindung einer damals in der DDR vorhandenen Lücke von zehn bis zwölf Jahren auf dem Gebiet der niederenergetischen Kernphysik, der Isotopentechnik, der Kernenergetik zu überwinden war.«993 Hierzu ausführlich Kap. 4.3.1. Die Physiker, so Rompe, seien mit der Herausforderung konfrontiert gewesen, »sich frühzeitig Gedanken zu machen über die Planung der Physik im Sinne einer hohen Effektivität für die Industrie der DDR«. Die unter seinem Vorsitz gestandene Sektion für Physik, »der auch zahlreiche Fachvertreter aus Hochschulen und der Industrie angehörten, und die eine koordinierende Tätigkeit für die physikalische Forschungsthematik an Akademie und Hochschulinstituten viele Jahre im Auftrag der zuständigen Staatlichen Organe ausgeübt« habe, sei auf Anregung zahlreicher Physiker entstanden. Der entscheidende »Anreger« aber dürfte er gewesen sein, 992  Rompe, Robert: Die Entwicklung der Physik in der DDR seit 1945; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 283, S. 1–5, hier 1 f. 993  Ebd., S. 3.

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insbesondere was die Verflechtung mit SED-Interessen anlangte. Wegen der zunehmenden Entwicklung der Industrie-Bedürfnisse, so Rompe, sei die komplexe Gesamtplanung des wissenschaftlichen Vorlaufs jedoch noch wichtiger geworden. Deshalb habe man die Funktion der Sektion Physik »durch Organe des inzwischen gebildeten Forschungsrates der DDR (Vorsitzender Peter Adolf Thiessen, ab 1967 Max Steenbeck), durch Arbeitskreise des Forschungsrates und schließlich durch die Bildung einer Gruppe Physik beim Forschungsrat (Vorsitzender Artur Lösche)« praktisch »übernommen und weiterentwickelt«. Ab 1965 erfolgte die Entwicklung der Physik dann – angeblich – »nach strengen Kriterien der Erreichung höchsten wissenschaftlichen Niveaus durch Konzentration auf Schwerpunkte strukturbestimmender Industriezweige und auf einige wenige Probleme fundamentaler Forschung von größtem, international anerkannten Erkenntniswert«. Als Hauptarbeitsrichtungen der Physik nannte Rompe die Festkörper- und Halbleiterphysik, die Elektronik, Plasmaphysik und Gaselektronik, den Wissenschaftlichen Gerätebau, den Bereich der Modernen Werkstoffe sowie im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Sowjet­ union die Kernphysik, Kerntechnik und die kosmische Physik.994 In den 1950er-Jahren besaßen die bürgerlichen Wissenschaftler durchaus ein Machtpotenzial, das sie auch versuchten, auszuschöpfen. Das MfS erhielt offenbar von Rompe – auf offiziellem Wege – am 28. März 1957 Nachricht von Absichten bürgerlicher Wissenschaftler, ihre wissenschaftspolitische Hoheit zu verteidigen resp. auszubauen. Demnach sei die »Aufdeckung von Petöfikreisen in der DDR leichter« gewesen, so sinngemäß Rompe, als derzeit Bestrebungen von Spitzenwissenschaftlern, »Machtfunktionen zu erhalten«, wirksam begegnen zu können.995 Besonders die Professoren Georg Bilkenroth,996 Heinrich Bertsch und Erich Thilo seien bestrebt, ohne Beachtung der Gesetze regieren zu wollen. Wissenschaftspolitisch stand in diesem Jahr die Profilierung der Forschungsgemeinschaft auf der Agenda, in der wichtige Institute der Industrie und des Wissenschaftssektors kooptiert werden sollten. Die SED erhoffte sich mit diesem Instrument mehr Einfluss auf forschungsstrategischem Gebiet zu erhalten. Das Kuratorium zur Leitung der Forschungsgemeinschaft sollte aus 30 Prozent Akademiewissenschaftlern, 30 Prozent Industriewissenschaftlern und 40 Prozent Partei- und Staatsfunktionären (!) zusammengesetzt sein. Der entsprechende ZK-Beschluss soll, so Rompe, vom »vorbereitenden Komitee gründlich sabotiert und verändert« worden sein. Damit könne »berechtigt« davon ausgegangen werden, »dass die bürgerlichen Wissenschaftler unter allen Umständen den Einfluss des Partei- und Staatsapparates vermindern wollen, sodass sie wie in der Akademie die letzten bindenden Entschlüsse fassen können«. So setzten sie offenbar durch, dass 50 Prozent Akademiewissenschaftler und die anderen 50 Prozent aus Industrie und Staatsfunktionären kämen. Alle 994  Ebd., S. 4 f. 995  Abt. VI/2 vom 28.3.1957: Bericht; BStU, MfS, AIM 1107/59, Teil I, 1 Bd., Bl. 36 f. 996  Federführend in der Entwicklung der Braunkohlenindustrie der DDR involviert. Mitglied der AdW.

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Mitglieder des Kuratoriums sollten nach Vorstellung der genannten Professoren von der Deutschen Akademie der Wissenschaften bestimmt werden können. Rompe wies gegenüber dem MfS darauf hin, dass auf diese Weise die Partei- und Staatsfunktionäre am Gängelband der Akademiewissenschaftler zu hängen kämen, auch seien auf diese Weise »alle bürgerlichen Professoren wieder untergeschlüpft und hätten ihren Einfluss geltend gemacht«. In der Kommission waren tätig: Thiessen, Eisenkolb, Bilkenroth, Görlich, Frühauf, Bertsch, Thilo, Correns, Steenbeck und Rompe. Unter ihnen befanden sich lediglich drei SED-Genossen, wobei Bertsch dieser Rolle überhaupt nicht gerecht werde, »da er jeden Parteibeschluss sabotiert«. Um wegen der abweichenden Haltung von Bertsch in der Kuratoriumsfrage »eine gemeinsame Linie« festlegen zu können, war von der Parteileitung der Akademie festgelegt worden, eine vorbereitende Sitzung durchzuführen. Dieser blieb Bertsch »wegen Krankheit« fern, obgleich er »eine Stunde später in sehr munterem Z ­ ustand auf der Kommissionsbesprechung« anwesend war. Rompe oder Offizier Kairies schlug vor, dass »man unbedingt sich mit Parteifunktionären aus dem ZK konsultieren« müsse, »damit ein richtiges Vorgehen garantiert« sei. Fritz Selbmann kümmere sich »sehr wenig um diese Angelegenheit«.997 Görlich wurde später unter Spionageverdacht gesetzt.998 Zur Situation im Präsidium der DAW ist ein Bericht vom 23. April 1958 überliefert. Es handelt sich um einen inoffiziellen Bericht einer »Petra«, die die Sekretärin des stellvertretenden Generalsekretärs Robert Dewey vertrat. Der Bericht suggerierte, »dass sich die Situation im Präsidium wesentlich zu unseren Gunsten«, also der SED, »verändert« habe, »d. h., dass es den Genossen Präsidiumsmitgliedern insbesondere nach der 35. Tagung des ZK und der III. Hochschulkonferenz gelungen sei, die bürgerlichen Präsidiumsmitglieder zu positiven Stellungnahmen zu bewegen, zumindest aber ein solches politisches Klima geschaffen zu haben, dass einige es nicht mehr wagen (besonders Vizepräsident Hans Ertel), offen gegen unsere Prinzipien aufzutreten. Die Genossen würden im Präsidium bei politischen Entscheidungen nicht mehr vor den Bürgerlichen zurückweichen, was er an einigen Beispielen erläuterte.« Ausführlich berichtete »Petra« zu drei »Hauptpunkten«: erstens zur Personalie des ehemaligen Sekretärs der Klasse für Philosophie, der sich geweigert habe, einen Appell zu unterzeichnen, der auch von »einigen westdeutschen und Westberliner Wissenschaftlern unterzeichnet« worden war. In der Konsequenz soll er sein Amt zur Verfügung gestellt haben. Zweitens hätten sich in Kreisen bürgerlicher Wissenschaftler im Präsidium der DAW in Hinblick auf die 35. Tagung »keinerlei spürbare Diskussionen« ergeben. Dies geschah erst im Falle Selbmanns. Hier habe es im Umkreis des Präsidenten der DAW, Max Volmer, »Bestrebungen gegeben«, für ihn und seine Arbeit »Solidaritätsbekundungen« zu starten. Zur 997  Abt. VI/2: Bericht an Kairies vom 28.3.1957; BStU, MfS, AOP 771/63, 1 Bd., Bl. 118 f., hier 118. 998 Vgl. HA XVIII/5/2 vom 22.2.1966: Auskunftsbericht zum OV »Laser«; BStU, MfS, AU 747/69, Bd. 5, Bl. 383–390.

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III. Hochschulkonferenz soll es sofort ein Echo gegeben haben. Rienäcker, Generalsekretär der DAW, habe die Ergebnisse so dargestellt, dass »selbst Ertel es nicht mehr wagen konnte, negativ aufzutreten«.999 Ein nicht datierter Bericht in der Hartke-Akte nach der Grenzschließung 1961 spiegelt die breite Debatte an der Spitze der DAW wider. Abgesehen von einzelnen ideologischen Wertungen ist er signifikant für die Zeit bis zumindest 1965. Von der Diktion her ist es ein summarischer Bericht aus der Feder eines MfS-Offiziers. Demnach soll nach 1961 ein »grundlegender Wandel in der ideologischen Situation unverkennbar eingetreten« sein. »Die Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Entwicklung« sei angeblich »in weit breiteren Kreisen anerkannt.« Gab es Einwände, beruhten sie angeblich auf einem theoretischen Mangel an marxistischen Kenntnissen. Die Wirtschaftskonferenz am 25. und 26. Juni 1963, das NÖSPL und die 5. Tagung1000 würden eine große Rolle spielen. Dennoch wurden erhebliche »Mängel in der Bürokratie« konstatiert. Die GeWi-Konferenz entfalte »wenig erkennbare Wirkung«. Jedoch befinde sich die Diskussion hinsichtlich des sozialistischen Bildungswesens »in breitester Form mit positivem Interesse im Gange«; es gebe aber viele Einwände, Thilo soll gar geäußert haben, dass 90 Prozent der Vorstellungen Utopie seien. Ferner: »Angesichts der Entwicklung in der Wissenschaft« des Westens, »insbesondere in Westdeutschland«, sei »die Überzeugung von den Vorzügen der sozialistischen Gesellschaftsordnung für die Wissenschaft« einer »immer stärkeren Skepsis« gewichen. Die DDR gebe zu wenig Mittel für die Wissenschaft aus. Fragen der Planung und Leitung an der DAW, die politische Verantwortung der Wissenschaftler, Fragen der Reisetätigkeit u. a. m. würden noch nicht verstanden. »Selbst leitende Persönlichkeiten verneinen spontan zunächst die Verpflichtung zu politischer Einschätzung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften (Klare / Steenbeck).« Die »Staatsspitze« mache nicht genügend Gebrauch von den Potenzen der Akademie, es mache das Schlagwort von der »Entmachtung der Akademie« die Runde. Im zehnten von zwölf Punkten hielt der MfS-Offizier fest: »Offener Reden scheuen sich viele Wissenschaftler offenbar bei vielen Gelegenheiten, z. B. im Forschungsrat. Dahinter steht Resignation über Einfluss der Wissenschaftler und die Scheu vor dem Niederknüppeln anderer wissenschaftlicher Meinungen (Molekularbiologie, Medizin).« Die Zusammenarbeit mache Fortschritte, jedoch drohe die Grundlagenforschung dabei »zu kurz zu kommen«. Man wünsche »genügend Verantwortungsfreiheit und mehr Vertrauen gegenüber dem Grundlagenforscher«. Die Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Industrie und die Frage der reinen Grundlagenforschung bekomme im Zusammenhang mit den »Diskussionen über den Freiheitsbegriff einen gefährlichen Doppelaspekt«. Diesbezüglich seien Thilo, Frühauf, Bertsch und Mothes aufgefallen. »Eine 999  Bericht von »Petra« am 23.4.1958; BStU, MfS, HA XX/9, Nr. 2173, Bl. 8–13, hier 8 u. 10. 1000  Tatsächlich besaß die 5. Tagung hinsichtlich der Wissenschaftspolitik der SED einen außerordentlich hohen Stellenwert. Zur Durchführung der Beschlüsse waren das SFT und der Forschungsrat mit vielfältigen Aufgaben involviert (etwa zur Profilierung und Konzentration der Kapazitäten), in: SFT vom 4.11.1966: Hinweise zur Einschätzung der Arbeit des SFT nach dem VI. Parteitag; BArch, Hoppegarten F 4, Nr. 6406, S. 1–17.

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überragende Rolle« in den Diskussionen spiele die »Isolierung unserer Wissenschaft vom Fortschritt der internationalen Wissenschaft«. »Unsere Westpolitik« werde »– auch von Genossen – immer noch nicht verstanden. Große Klagen« gebe es in der Frage des Literaturbezugs, insbesondere, »dass man ausländische Literatur nicht als Betriebsmittel seitens der staatlichen Organe« ansehe.1001 Thilo, ein Fall von Aufrichtigkeit Oberst Herbert Weidauer hatte am 13. März 1962 im Rahmen der operativen Bearbeitung Erich Thilos die Politik Ulbrichts referiert: »Die Parteiführung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, insbesondere der Genosse Walter U ­ lbricht, hat in mehreren wichtigen politischen Plenen und anderen Tagungen zum Ausdruck gebracht, dass mit den Wissenschaftlern und der technischen Intelligenz so gearbeitet werden muss, dass wir bei ihnen die Überzeugung erwecken, dass sie ihre Kraft, ihr Können und Wissen dem Arbeiter-und-Bauern-Staat in dem sie leben, zum Wohle des Staates, zur Verfügung stellen und durch ihren Einsatz und ihre Arbeitsergebnisse bei der Erhaltung des Friedens helfen und zur Sicherung des Friedens beitragen. Die Partei hat auch wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass wir von der wissenschaftlichen, technischen und medizinischen Intelligenz nicht verlangen, dass sie über Nacht Marxisten werden. Es muss in allen Fällen berücksichtigt werden, dass die Überbleibsel einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung besonders bei dem oben erwähnten Kreis nachteilig wirken und der genannte Kreis aus diesem Grunde einer besonderen Betreuung politisch und auch von menschlicher Seite gesehen bedarf.«1002 Wegen des Verdachts, zersetzerisch gegen die SED zu wirken, beschloss das MfS am 17. April 1962, Thilo operativ zu bearbeiten.1003 Thilo nehme »heute im starken Maße eine konservative Haltung zur Entwicklung in der DDR ein, die oftmals eine ablehnende Tendenz« zeige. Das MfS machte ihn indirekt für die hohe Zahl der Flüchtlinge verantwortlich. Um 1952 sollen es an seiner Sektion 29 von 55 Absolventen gewesen sein, der »überwiegende Teil« dieser Studenten habe bei ihm studiert.1004 Bei ihm herrsche die Tendenz vor, »mit Mitgliedern der SED nichts zu tun« haben zu wollen. So habe »Thilo unlängst in einer Institutsleitersitzung die Bemerkung fallen« lassen, »dass er in seinem Institut keine politischen Agenten einstelle, womit er Mitglieder der SED« gemeint haben soll. Ein inoffizieller Mitarbeiter habe gar gehört, dass er »überhaupt mit niemanden von der SED etwas zu tun haben möchte«. Wörtlich soll er geäußert haben: »Mit Herrn Ulbricht möchte 1001  Politisch-ideologische Lage an der DAW, ohne Kopfangaben; BStU, MfS, AGMS 11620/69, 1 Bd., Bl. 45–47. 1002  HA III vom 13.3.1962: Stellungnahme; BStU, MfS, AOP 771/63, 1 Bd., Bl. 21–23, hier 21. 1003  Vgl. HA III/6/T vom 17.4.1962: Beschluss für das Anlegen einer VAO; ebd., Bl. 12 f. Direkt zum Fluchtgeschehen: Abt. VI / V vom 5.3.1953: Bericht; ebd., Bl. 80. 1004  Sekretariat für Hochschulwesen: Vertrauliche Hausmitteilung vom 3.1.1952; ebd., Bl. 64.

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ich nichts zu tun haben, da er noch nie einen solchen Mann gesehen habe, der so wenig Humor habe wie Herr Ulbricht und demzufolge« könne »man mit solchen Leuten nicht umgehen.«1005 Tatsächlich, und das belegen Quellen, hatte Thilo wiederholt den Personenkult und den Inhalt der sozialistischen Presse kritisiert. 1955 soll er gedroht haben, mit seinen Mitarbeitern den Forschungsstandort Adlershof zu verlassen, wenn die Bewaffnung des Betriebsschutzes B mit Pistolen vollzogen werde. Zur Abstimmung über den Ausschluss von Ernst Bloch (Flucht aus der DDR1006) 1961, als von 54 Anwesenden 49 für den Ausschluss stimmten, habe sich Thilo der Stimme enthalten. Eine Aufforderung von »Genossen im Wohngebiet«, eine Erklärung gegen den Empfang von Westrundfunk zu unterschreiben, sei er nicht nachgekommen. Er soll dieses Ansinnen als eine Methode bezeichnet haben, »mit der er sich niemals einverstanden erklären werde«. Zwei Stunden habe ihn die kategorische Ablehnung gekostet.1007 Auch den Mauerbau habe er abgelehnt. Alle seine Mitarbeiter dächten so.1008 Thilo besaß zahlreiche aktive, zumeist bedeutende Verbindungen nach Westdeutschland (das MfS zählte 41), vornehmlich wissenschaftsbezogen. Innerhalb der DDR will das MfS hingegen nur 18 festere Verbindungen festgestellt haben, darunter zu Rompe, Leibnitz, Rienäcker und Stroux. Das MfS zeigte sich überzeugt, dass Thilo eine Gefahr sei, da »er junge Wissenschaftler weiterhin negativ« beeinflusse, und dass »sich letzten Endes in seinem Institut immer mehr eine größere Gruppe von Wissenschaftlern zusammenballe, die geschlossen gegen die DDR Stellung« beziehe. Es schätzte ein, dass Thilo »einer der Vertreter sein« werde, »der gegen die Durchsetzung des Ministerratsbeschlusses über die neue Ordnung zur Planung und Organisierung wissenschaftlich-technischer Arbeit plädieren« werde.1009 Oberst Weidauer bestätigte umgehend die Expertise und empfahl Hauptmann Günther Jahn für die konkrete Umsetzung der operativen Arbeitsplanung. Generalleutnant Walter oblag die Bestätigung.1010 Das unmittelbare Ziel des MfS zu diesem Zeitpunkt bestand nicht darin, Thilo »sofort aus der Funktion abzulösen«, sondern Material zu »erarbeiten«, das gegebenenfalls als Druckmittel gegen ihn verwandt werden könne: »dass er sich umstellen muss und unser Arbeiter-und-Bauern-Staat eine solche Arbeitsweise auf keinen Fall dulden« könne. Es erwog den Einsatz ope1005  HA III/6/R vom 12.3.1962: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 14–20, hier 15 f. Dieser ist eine Kompilation aus mehreren IM-Berichten. Zur Ulbricht-Passage siehe Bericht über Thilo vom 8.3.1962; ebd., Bl. 31–33, hier 31 sowie aus der Originalquelle: HA III/6/R vom 6.3.1962: Bericht zum Treffen mit »Irene«; ebd., Bl. 36–40, hier 36 f. Über den Agenten: Bericht der HA III/6/R vom 2.3.1962; ebd., Bl. 34 f., hier 34. 1006 Zur Bearbeitung Blochs durch den Staatssicherheitsdienst der DDR siehe Herzberg, Guntolf: Ernst Bloch in Leipzig: Der operative Vorgang »Wild«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42(1994)8, S. 677–693. 1007  Abt. VI / E vom 30.10.1961: Bericht; BStU, MfS, AOP 771/63, 1 Bd., Bl. 52–57, hier 54. 1008  Vgl. HA III/6/R vom 12.3.1962: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 14–20, hier 16. 1009  Ebd., Bl. 17–20. 1010  Vgl. HA III vom 13.3.1962: Stellungnahme; ebd., Bl. 21–23, hier 21.

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rativer Technik und das Heranschleusen von inoffiziellen Mitarbeitern.1011 Der erste Operativplan wurde sofort aufgestellt. Er umfasste das Standardrepertoire des MfS. Im Zusammenhang mit dem sogenannten Nationalen Dokument, in dem es darum ging, in den Instituten das Engagement für die Steigerung der »Produktivität auch der wissenschaftlichen Arbeit, die Konzentration der Forschung auf wissenschaftliche Schwerpunkte« zu lenken, ganz nach den Leitlinien der 14. und 15. Tagung des ZK der SED, äußerte Thilo sein Unbehagen mit der SED-Politik. Klare hatte in einem Brief um Stellungnahme gebeten: Gegenüber GI »Irene« soll Thilo gesagt haben, »dass er nicht daran dächte, in irgendeiner Form auch nur Stellung zu beziehen; ganz abgesehen davon, dass Briefe, die derartig schlecht formuliert sind, überhaupt nicht in die Welt hinausgeschickt werden« sollten. »In seinem Institut wäre alles in Ordnung. Er hätte nichts zu berichten, er und seine Leute würden arbeiten so viel und so gut sie es könnten, mehr wäre also nicht herauszuholen. Aber in diesem Staate wo er lebt, in diesem unserem Staate gäbe es nur eins, und das wäre ein absolutes Chaos und eine absolute Pleite. Das läge wiederum daran, dass die guten Leute alle vertrieben und verjagt wurden und die mittelmäßigen regieren, die keine Ahnung von den Sachen und Sachfragen hätten. Herr Thilo steigerte sich in seiner Erregung soweit, dass er wörtlich formulierte: ›In unserem Staat ist es viel schlimmer als unter den Faschisten‹.«1012 Die, die Ideen und Wege zur Änderung hätten, seien nicht mehr da, und jene Funktionäre, die da sind, »verstünden von den Arbeiten nichts«. Auf die Frage, wen er meine, soll er geantwortet haben: Fritz Selbmann.1013 Auf der Kippe Ein Protokoll einer Besprechung beim Präsidenten der DAW, Werner Hartke, am 5. November 1964 ist ein Schlüsseldokument für jenen Zustand der DAW, der zu kippen drohte – und dann auch bald kippen sollte in Richtung Akklamationsanstalt der SED. Anwesend waren Hartke, Rienäcker, Bertsch, Thilo, Gummel, Frühauf und Dewey sowie mit »halbstündiger Verspätung« auch noch Mothes und Kraatz. Hartke hob eingangs hervor, dass man »wieder regelmäßig diese zwangslosen Besprechungen« durchführen müsse. »Hier könne und solle man seine Sorgen ›abladen‹ und freimütig und rechtzeitig besprechen – und nicht erst, wenn ›das Kind in den Brunnen gefallen‹ sei.« Er nahm direkt Bezug zu den von Mothes geäußerten Sorgen hinsichtlich des wissenschaftlichen Nachwuchses. Frühauf hatte dessen Sorgen noch unterstrichen. Es ist dem Protokoll nicht zu entnehmen, welche Eckpunkte hierzu diskutiert worden waren; vermerkt wurde lediglich, dass »am Schlusse einer solchen Ausbildung keinesfalls mit Sicherheit der ›Professor‹ stehen müsse!« Das 1011  Ebd., Bl. 22 f. 1012  Bericht vom 2.5.1962; ebd., Bl. 140 f., hier 140. 1013  Ebd., Bl. 141.

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Einheitliche sozialistische Bildungswesen zeige »doch noch viele Unzulänglichkeiten«. Es zeige sich auch, so Thilo, dass die Partei und Regierung die Bedeutung der DAW nicht erkenne. Fast alle hätten diese Bemerkung unterstrichen. Partei und Regierung sollten der DAW zeigen, »dass man bereit sei, ihr eine sehr wesentliche Stellung einzuräumen«. Aber auch die DAW möge sich doch so zeigen, dass man an ihr nicht vorbeigehen könne. »Dieses noch mangelnde Bewusstsein« der »Rolle der DAW zeige sich auch in der Zuwahl-Politik, wo es doch darauf ankäme, sich zur Mitarbeit verpflichtet fühlende, aktive Wissenschaftler – und nicht nur ›ehrenhalber‹ – zu wählen. Tatsächlich aber sei die DAW in vieler Hinsicht ihren großen Möglichkeiten nicht gerecht geworden, und man nütze auch ›von oben‹ ihre großen Kapazitäten noch keineswegs genügend. Faktisch übernähmen diese Rolle oft« der Forschungsrat, die Staatliche Plankommission und auch der Volkswirtschaftsrat. Ein weiterer Kritikpunkt bildete die heillose Überforderung der Spitzenwissenschaftler aufgrund von Funktionsausübungen. Eine kleine Anzahl könne ein solches »Riesengebilde« wie die DAW nicht »mit dem notwendigen Erfolg leiten«. Die Gefahr für die meist älteren Wissenschaftler sei, dass sie ihre Fachgebiete nicht mehr hinreichend verfolgen könnten, um kreativ zu bleiben.1014 Zu dieser Thematik ist ein inoffizieller Bericht tradiert: »Frühauf beschäftigt sich weiterhin mit der Frage: wie könne man nun aber die wirklich geeigneten Leiter gewinnen? Die Wissenschaftler seien im Effekt immer weniger bereit, ›Staatsfunktionen‹ zu übernehmen.« Rienäcker wandte sich gegen die Art und Weise, die Akademie seitens der Industrie wie eine Feuerwehr zu behandeln resp. zu benutzen. Bertsch wies auf die Gefahr hin, dass die Industrie wissenschaftliche Institutionen der DAW an sich reißen könnte; das sah auch Hartke ähnlich, der von der Macht »starker VVB-Generaldirektoren« sprach. Und Thilo wies ihn darauf hin, »dass Aufgaben und Kompetenzen des Forschungsrates gegenüber der DAW wieder klar definiert und richtig hergestellt werden müssten«. Frühauf formulierte: »Aufgabe des Forschungsrates sei es: zu beraten! Aufgabe der DAW aber: zu forschen!« Bei aller Kompetenzproblematik aber stehe immer die Frage, so Frühauf, »wieviel Entscheidungsfreiheit« die Leiter »an höherer Stelle fänden«. Die Entscheidungsfreiheit sei »sehr eng eingegrenzt, und auch dieses ›Hinein-Regieren‹ mittlerer Ebenen in die Entscheidungsebene der Wissenschaftler verärgere viele von ihnen«. Zu diesem Zeitpunkt traf Mothes ein und wandte sich der Frage der »Eigenverantwortlichkeit« zu. »Diese so notwendige Verantwortungs- und Entscheidungsfreiheit« werde »oft eingeengt« »gerade durch Leute, meist jüngere, die an sich nicht unklug und sicher besten Willens, doch viel zu wenig sacherfahren seien und daher in Wissenschaftsfragen nicht genügend Voraussetzungen besäßen. Notwendig sei, so Herr Mothes weiter, dass die DAW wieder höchste wissenschaftliche Instanz in der DDR werde; das berühre alles immer wieder notwendig die Grundfrage: Rolle der DAW!« Man benötige »echte Verantwortung« und nicht so sehr Nationalpreise. 1014  Besprechung beim Präsidenten der DAW am 5.11.1964; BStU, MfS, AGMS  11620/69, 1 Bd., Bl. 48–51, hier 48 f.

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Mothes beurteilte anschließend Staatssekretär Ernst-Joachim Gießmann (SHF), der »besser als Girnus« sei, doch auch er habe kein Geld und alles treibe auf ein Chaos zu. »(Er weist auf ein Gespräch mit Görlich hin, das zeige, wie es tatsächlich für wesentliche, wissenschaftliche Forschungsunternehmen kein Geld gäbe!)« Bertsch und partiell Rienäcker hätten dies unterstrichen und die »Debatte« ging nun über zu »›früheren Zeiten‹ (Frühauf)«. Da sei man »zwar arm« gewesen, habe jedoch »die erforderliche Entscheidungs-Freiheit« besessen. Man sei auch noch vorwärtsgekommen. Kraatz monierte, dass man »nicht einmal über 200 bis 300 DM zusätzlich benötigter Mittel entscheiden könne. Der persönliche Impetus und jede echte Initiative würden so völlig erstickt.« Und an dieser Stelle »stelle sich« dann auch »notwendig schlechthin die Vertrauensfrage«. Im weiteren Verlauf des Gesprächs gaben die Teilnehmer eine Reihe von ähnlichen Einzelbeispielen.1015 1966 gab es keinen Zweifel, dass sich die DDR in »einer wirtschaftspolitisch diffizilen Lage« befand, zumal bei der Sowjetunion das Neue Ökonomische System (NÖS) mit seinen marktwirtschaftlichen Elementen auf Ablehnung stieß. Laut Haustein hatte Ulbricht noch in diesem Jahr auf der Rationalisierungskonferenz in Leipzig »in sehr scharfer Form jegliche Eingriffe in die verbliebenen privaten Produktions- und Handelsbetriebe zurückgewiesen«. Doch zeitgleich leitete Honecker bereits die Sekretariatssitzungen des ZK der SED. »Die Machtenthebung«, so Haunstein, »hatte schon früh begonnen.« Die 11. Tagung des ZK sei »ein Affront Honeckers gegen Ulbricht« gewesen, »der im Unterschied zu Honecker lieber ins Theater als auf die Jagd ging«.1016 Ulbricht behandelte in seinem Referat auf der 11. Tagung das NÖSPL und auch die Thematik der SPK.1017 Einer seiner Hauptforderungen bestand in der Ausarbeitung von Prognosen zur Optimierung der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Perspektive. Abkehr von der Wiedervereinigung Zentrale Verwerfungen, Konflikte sowie krisenhafte Zuspitzungen schlugen stets bis in die Niederungen der Volkswirtschaft und Wissenschaft durch. Parallel dazu wuchs das Unbehagen in der Bevölkerung und als Antwort darauf optimierte der Staatssicherheitsdienst seine Kontroll- und Restriktionsbefugnisse. Das allgemeine Desinteresse nahm sichtbar zu: Am Parteilehrjahr nähmen nur noch ein Drittel aller SED-Genossen teil, klagte ein Institutsdirektor der Akademie gegenüber seinem Führungsoffizier Kriegk im April 1967. Einerseits würden sie mit SED-Ideologie übersättigt, andererseits aber zu den Veränderungen in der Akademielandschaft

1015  Ebd., Bl. 49–51. 1016  Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 5. 1017  Vgl. Ulbricht, Walter: Referat auf der 11. Tagung des ZK der SED, in: Neues Deutschland vom 18.12.1965, S. 3–11.

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weder gefragt noch beteiligt.1018 Strengste Erfolgskontrolle (Steenbeck), die Ankündigung tiefgreifender Veränderungen in der Akademielandschaft, all das war nicht nach dem Geschmack vor allem auch der Leistungsträger an der Akademie. Stoph hatte in seiner Rede am 2. September 1966 vor dem Forschungsrat die wissenschaftspolitische Vorlage hierfür (nach)geliefert.1019 Ein halbes Jahr später prangerte Werner Hartke auf der II. Hauptversammlung die angeblichen Versäumnisse der Akademiker in einem langen Referat an, insbesondere die laxe Mitarbeit der Akademie bei der Umsetzung des Gesetzes über das einheitliche Bildungssystem, konkret zu den Lehrplänen des Volksbildungsministeriums. Er beklagte, dass es zu wenige Anregungen gebe und auch von der kollektiven Meinungsbildung kein Gebrauch gemacht werde.1020 Auch auf dieser Ebene zelebrierte die Akademie die geforderte Distanz zur Bundesrepublik. »Wir sind«, so Hartke zur Frage der Deutschen Einheit, »an einer Wiedervereinigung um jeden Preis gar nicht interessiert.« Auch an eine Konföderation mit »Neonazis« nicht: »Alles wird vielmehr davon abhängen, ob und wann es gelingt, in Westdeutschland demokratische Veränderungen und die Anerkennung der DDR durchzusetzen.« Von daher dürfe nicht mehr von einer »gesamtdeutschen« Wissenschaft oder von einer »Einheit« der deutschen Wissenschaft geredet werden. Solches Gerede suggeriere den DDR-Wissenschaftlern nur, dass die DDR ein Provisorium sei. Falsche Auffassungen über eine mögliche Wiedervereinigung hätten erhebliche Auswirkungen auf den Wissenschaftsbetrieb gehabt; Hartke: »Heute werden in der DDR Forschungsthemen bearbeitet, deren Bearbeitung mehr im Interesse der westdeutschen Bundesrepublik als im Interesse der DDR« läge. DDR-Wissenschaftler würden mit ihren westdeutschen Kollegen Forschungsthemen abstimmen und, um Doppelarbeit zu vermeiden, solche Themen übernehmen, die nur Westdeutschland zugutekämen. Dies täten sie gar im Bewusstsein der alten kollegialen Zusammenarbeit. Das Gebiet der Wissenschaft sei alles andere als ein politikfreier Raum, vielmehr tobe hier ein erbitterter Klassenkampf.1021 In Zeitungen und Zeitschriften war das Schlagwort von der Prognostik zu finden: plakativ, propagandistisch, wissenschaftlich. Die URANIA druckte 1967 einen wissenschaftlichen Aufsatz von Johannes Rekus ab. Der verwies auf einen Umstand, der für die DDR bislang virulent war, spätestens aber ab den 1970er-Jahren in nicht wenigen volkswirtschaftlichen Zweigen dramatische Züge annahm, weil genau Folgendes nicht beachtet wurde; Rekus: »Mit einer in der geschichtlichen Entwick-

1018  Vgl. HA XVIII/5/2 vom 4.4.1967: Bericht zum Treffen mit »Fritz« am 31.3.1963; BStU, MfS, AIM 16981/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 244–246. 1019  Vgl. Stoph, Willi: Die Bedeutung der Wissenschaft und die Aufgaben des Forschungsrates der DDR. Berlin 1966, S. 38–48. Rede zur Neugliederung des Vorstandes und der Arbeitsgruppen des Forschungsrates. 1020  Vgl. DAW, II. Hauptversammlung am 6.4.1967, Referat Hartke; ArchBBAW, Handbibliothek, S. 1–39, hier 6–9. 1021  Ebd., S. 15 f.

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lung immer kürzeren zeitlichen ›Phasenverschiebung‹ folgt die Entwicklung und Verflechtung analoger Industriezweige, in denen die gewonnenen Erkenntnisse in immer kürzeren Zeiträumen mit ständig höherem Wirkungsgrad in Technologien und Erzeugnissen umgesetzt werden.«1022 Doch die Sachzwänge der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft, die ungenügende Elastizität, der fehlende Binnenund Weltmarkt sowie die Parteidiktatur der SED ließen seine und anderer Wissenschaftler Mahnungen, Hinweise und Logik ins Leere laufen. Allein den Betroffenen an der Basis, den Wissenschaftlern, Betriebsleitern und Ingenieuren, gaben solche Beiträge ein wenig Genugtuung, da sie ja immer schon darauf verwiesen hatten, dass »jene Prozesse und Systembeziehungen« notwendig zu »berücksichtigen« seien, »die die Entwicklung des zu prognostizierenden Objektes fördernd oder hemmend beeinflussen und ihren Verlauf bestimmen«.1023 Nicht müde wurde Steenbeck in der Endphase Ulbrichts mit Referaten und Publikationen zur Notwendigkeit der Prognostik, in die er wie gewohnt Mahnungen und subkutane Kritik einstreute. Auf der 14. Tagung des ZK der SED am 16. Dezember 1966 führte er zur prognostischen Arbeitsmethodik aus, dass in 20 Jahren nur noch ein Satz von 20 Prozent des derzeitigen Wissens Bestand haben werde. Ein Fakt, der die Prognostik künftig überaus schwierig mache; in seiner mahnenden Diktion: »Wer diese Angaben für übertrieben hält, soll sich bitte die in den letzten 20 Jahren erfolgte internationale Entwicklung vor Augen halten, etwa in der Halbleitertechnik, in der Kern- und Raketentechnik, bei Elektronenrechnern aller Art, als auch bei der Bekämpfung der Tuberkulose und Kinderlähmung.« Und weiter: »Die Hauptaufgabe exakter prognostischer Arbeit« bestehe darin, »den richtigen Zeitpunkt für eine solche Entscheidung genügend früh im Voraus zu bestimmen, sodass die für eine fundierte Entscheidung erforderlichen Angaben dann auch tatsächlich erarbeitet vorliegen«. Ferner: »In diesem Sinne ist die Prognose eine vorausschauende Planung zukünftiger Entscheidungen nach Zeitpunkt und Fragestellung; der Plan selbst aber entsteht erst durch diese Entscheidungen.« Steenbeck wollte bei den SED-Funktionären erreichen, dass der Plan gewissermaßen zunächst immer erst sekundär sei. Man solle zunächst auf mögliche Trends schauen und dann zu einem gegebenen Zeitpunkt, der weder zu früh noch zu spät zu erfolgen habe, die Planung beginnen. Freilich gebe es auch simple Prognoseentscheidungen, die bereits an einer geplanten und in Planung begriffene Entwicklung anschlössen.1024 Steenbeck betonte immer wieder die Wichtigkeit der Alternativdarstellungen und Variantenvergleiche und nicht zuletzt der Ergebnisvorstellungen. Hierbei befinde sich der Forschungsrat gleichsam an erster Stelle der Verantwortung für die Prognosetätigkeit. Steenbeck entwickelte zwar eine Prognostik-Methode, die jedoch von den ZK-Funktionären 1022  Rekus, Johannes: Prognostik. Von Naturwissenschaft und Technik – Wichtiges Instrument zur Vorbereitung strategischer Entscheidungen, in: URANIA 30(1967)10, S. 12–20, hier 14. 1023  Ebd., S. 20. 1024  Steenbeck: Rede auf der 14. ZK-Tagung der SED am 16.12.1966; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 144, S. 1–7, Deckblatt, hier 1 f.

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eher nicht verstanden worden sein mag, etwa wenn er darlegte, dass die Prognostik nicht in der Lage sei, »den Weg der Wirtschaft weit in die Zukunft hinein vorauszubestimmen«, sie könne aber eine Landkarte möglicher Wege aufstellen.1025

Exkurs 4: Fremdkörper in den Beziehungsgeflechten: Prey Ein besonderes Merkmal der Ulbricht-Herrschaft ist, dass unter ihm im Unterschied zu Honecker bemerkenswerte Karrieren stattfanden, nicht zuletzt jene kryptische von Manfred von Ardenne, aber auch bemerkenswert helle, wie von Erich Apel und Günter Prey. Prey wurde 1930 in Berlin-Lichtenberg geboren, er war ein noch junger Mann, als er zu seinem Karriereflug ansetzte. Dabei war er alles andere als stromlinienförmig veranlagt, er war intelligent, selbstbewusst, was man ihm auch ansah. Von 1936 bis 1940 besuchte er die Volksschule, dann die Mittelschule bis 1947. Anschließend absolvierte er ein Studium an der Chemie-Ingenieurschule von Groß-Berlin von 1947 bis 1949. Der SED trat er 1950 bei. 1951/52 studierte er ein weiteres Jahr an der Chemie-Ingenieurschule und schloss als Chemietechniker ab. 1952/53 war er zunächst Abteilungsleiter im VEB Plasta in Berlin-Erkner. Ab Februar 1953 nahm er eine Tätigkeit in der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle (ZKK) auf. Anschließend, ab dem 1. Juli 1957, war er stellvertretender Aufbauleiter im CFW Guben, dort von 1959 bis 1966 Werkdirektor. Von 1966 bis 1967 und 1974 bis 1982 war er stellvertretender Minister des Ministeriums für Chemie (MfC). Dazwischen von 1967, also mit 37 Jahren, bis 1974 Minister für Wissenschaft und Technik (MWT).1026 Der Vorschlag, ihn zum Minister zu machen, stammte vom 7. Juli 1967.1027 Dieser Vorgang lief auch über den Tisch von Offizier Jahn. Eine Karriere im Bereich von Wissenschaft und Technik, die einmalig und als solche wohl eher zufällig verlaufen sein mag. Jahn wusste auch, dass Leibnitz und Klare Kenntnis »von dem Vorschlag« gehabt hatten, ihn, Prey, »als Nachfolger des Genossen Weiz einzusetzen«. Leibnitz soll diesbezüglich »optimistisch« gewesen sein, Klare eher nicht. Der hätte gern einen Minister gesehen, »der selbst einmal wissenschaftlich gearbeitet« habe. Prey, so Klare, »sei verantwortlich für den ›Gigantismus‹« in Guben.1028 Zum 1. September 1982 wurde Prey Direktor des Zentralen Informationsinstituts der chemischen Industrie (ZIC). Mit nur 53 Jahren starb er am 7. Mai 1983: Das System hatte ihn ver-

1025  Ebd., S. 6 f. 1026  Vgl. Jahn vom 6.7.1967; Prey  – eventuell Minister für Forschung und Technik; BStU, MfS, AIM 10537/84, Teil I, 1 Bd., Bl. 48. 1027  Vgl. Berufung zum Minister für Wissenschaft und Technik per Volkskammerbeschluss vom 29.11.1971 (Stoph) und Mitteilung der Abberufung per MR-Beschluss vom 14.2.1974 (Sinder­ mann); ebd., Bl. 127 f. 1028  Jahn vom 6.7.1967; ebd., Bl. 48.

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schlungen. Er war auf nahezu allen Fachgebieten kompetent; »Gesprächspartner ohne Sachkenntnis« sollen »von ihm ignoriert« worden sein. Er war korrekt und höf‌lich, anders als die meisten mittleren bis hohen Funktionäre. Sein Auftreten gegenüber »nachgestellten Mitarbeitern war jeder Zeit korrekt«, besonders gegenüber weiblichen Mitarbeitern, die dies »als angenehm« empfanden. Das Verhältnis zu Minister Günther Wyschofsky hingegen sei »nicht gut« gewesen. »Beide gingen sich, soweit möglich, aus dem Weg.«1029 Der Werbungsvorschlag der HA III/4/M stammt vom 28. September 1959.1030 Seine Verpflichtung als Geheimer Informator (GI) erfolgte genau zwei Monate später.1031 Prey soll »ohne Hemmung« zugestimmt und sich den Decknamen »Erhardt« gewählt haben.1032 Am 13. März 1963 wurde der Vorgang eingestellt, da er auf dem VI. Parteitag der SED als Kandidat des ZK gewählt worden war.1033 Die inoffizielle Tätigkeit ist am 30. Oktober 1979 wieder aufgenommen worden.1034 Dazwischen gab es die offizielle Verbindung mit dem MfS, das diese am 9. August 1967 aufgenommen hatte. Sie erfolgte von Ribbecke und Johannes Maye, Letzterer war der Führungsoffizier. Die Verbindung Preys zur HV A erfolgte durch Offizier Walzel. Prey war auch für die Auswertung von HV A-beschafften Materialien bestätigt.1035 Der IM-Vorgang ist wegen seines Todes am 8. Mai am 23. Juli 1983 archiviert worden.1036 Aus seiner Akte stammt ein Schlüsseldokument zur Verortung des MfS in der Struktur des Ministeriums für Wissenschaft und Technik: »a) Bildung einer Arbeitsgruppe beim Minister unter Leitung eines Offiziers im besonderen Einsatz. b) Aufbau einer ›Regimeabteilung‹ mit den Aufgaben zur Gewährleistung des Geheimnisschutzes (VS-Hauptstelle), Karteiensystem / A nalyse ZZ-Kader (Bestätigungsverfahren), Reisekaderstamm, Realisierung Außenbeziehungen Wissenschaft. c) Bildung einer zentralen Reisestelle analog den Aufgaben der Abteilung für Auslandsdienstreisen beim Ministerrat. d) Darlegung der Gesamtkonzeption Außenbeziehungen / Auslandsabteilung der DAW / System Auslandsbeauftragte mit der Bitte, bei Neuprofilierung der 1029  HA XVIII/1 vom 29.10.1982: Zum Bericht von »Paul Rose«; ebd., Bl. 135. Wyschofsky (1929): Minister für Chemische Industrie von 1966 bis 1989. 1030  Vgl. HA III/4/M vom 28.9.1959: Werbungsvorschlag; BStU, MfS, AIM  4251/63, PA, 1 Bd., Bl. 37–40. 1031  Vgl. Verpflichtung vom 28.11.1959; ebd., Bl. 43. 1032  HA III/4/M vom 3.12.1959: Verpflichtungsbericht; ebd., Bl. 44–46, hier 46. 1033  Vgl. HA III/4/M vom 13.3.1963: Beschluss für das Einstellen des GI-Vorgangs; ebd., Bl. 52 f. 1034  Vgl. HA XVIII/1 vom 30.10.1979: Beschluss über das Anlegen eines IM-Vorgangs; BStU, MfS, AIM 10537/84, Teil I, 1 Bd., Bl. 10. 1035  HA XVIII/1 vom 18.11.1982: Bestätigung; ebd., Bl. 137. 1036  Vgl. HA XVIII/1 vom 23.7.1983: Beschluss über die Archivierung des IM-Vorganges; ebd., Bl. 139 sowie HA XVIII/1 vom 23.7.1983: Abschlusseinschätzung zu »Erhard«; ebd., Bl. 141.

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DAW die Beibehaltung der Einheitlichkeit diese[s] neuen Systems mit zu unterstützen. e) Prüfen der Möglichkeiten zur Einrichtung eines Aufgabengebietes zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik, besonders in Anlehnung an den Ein- und Ausreiseverkehr beim Ministerium für Wissenschaft und Technik.«1037 Epilog zu Ulbrichts Tod: Alfred Zappe alias IM »Heinz Ludwig«1038 gab der Staatssicherheit folgende Information vom Tode Ulbrichts: »Um 15.30 Uhr wurde die gesamte Belegschaft der« Verwaltung Vermessung und Kartenwesen (VVK) »des MdI beim Leiter der Verwaltung zusammengenommen. Dort wurde die Nachricht vom Tode des Gen[ossen] Walter Ulbricht in einer sehr würdigen und kurzen Form bekannt gegeben. Bis zu diesem Zeitpunkt war keinem Mitarbeiter der VVK die Todesnachricht bekannt. Diese Nachricht wurde sehr gefasst, aber mit großer Anteilnahme entgegengenommen. […] Man ist der Meinung, dass sich die Partei- und Staatsführung bereits auf den Umstand, dass der Gen[osse] Walter Ulbricht während der X. Weltfestspiele sterben könnte, eingestellt« habe.1039 3.5.2  Wissenschaft und Fortschritt unter Honecker Rasch entstand Hoffnungslosigkeit unter Honecker, und zwar als Folge einer Hoffnung auf ihn: Kein Aufbruch, »keine Hoffnung«, schrieb Werner Mittenzwei in Zwielicht.1040 Der Sturz Ulbrichts wurde am 3. Mai 1971 auf der 16. Tagung des ZK vollzogen. Die Staatssicherheit registrierte emsig die Stimmung in der Bevölkerung. Die Meinungen waren grob gesehen dreigeteilt, die einen verbanden mit der Machtergreifung von Honecker Hoffnungen auf einen liberaleren Sozialismus, andere erwarteten überhaupt keine nennenswerten Veränderungen und ein dritter Teil war einfach nur froh, dass der »Zickenbart« weg war. Aus dem ZIPE erhielt die Staatssicherheit u. a. von Manfred Klotz* alias IM »Annekathrin« die Information, dass mehrere Mitarbeiter übereinstimmend meinten, dass die Ablösung Ulbrichts gut sei. Provokatorische Äußerungen habe es nicht gegeben. Auch werde »eine ›Sturz‹-Theorie« über Ulbrichts Ablösung nicht diskutiert. »Bilder vom Gen[ossen] 1037  HA XVIII/5 vom 10.8.1967: Verbindungsaufnahme zu Prey; ebd., Bl. 49 f. 1038  Dipl.-Ing. für Vermessungswesen, Mitarbeiter in der Verwaltung »Vermessung und Kartenwesen« des MdI. Schriftlich verpflichtet als GI am 22.11.1966 von der HA VII/1. Werbungseinstieg: Hinweis auf die Festnahme der »Agenten« Karte* und Koitzsch, die Zappe kannte. HA VII/1 vom 25.11.1966: Bericht über die durchgeführte Werbung; BStU, MfS, AIM  7783/71, Teil  I, Bd. 1, Bl. 17–19. 1039  HA VII/1 vom 1.8.1973: Information zum Ableben Walter Ulbrichts; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 182. 1040  Mittenzwei, Werner: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit. Leipzig 2004, S. 305.

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Ulbricht hängen in keinem Gebäude, da man ungern lebende Persönlichkeiten als Bilder hinhängt.«1041 »Die Wahl von Erich Honecker«, so die Aussage eines Mitglieds des sogenannten Siebenerkreises aus Dresden 1980, sei »als ›Beginn der Ära der mittelmäßigen Bürokraten‹« bezeichnet worden. Dagegen habe »Walter Ulbricht ›ein gewisses Format‹«. Die nun sich verschärfende »Abgrenzungspolitik« sei im Kreis »als ›eine endgültige Spaltung Deutschlands verurteilt‹« worden.1042 Das große Ziel des Kommunismus, die Beseitigung des Bürgertums, war unter Ulbricht, wie wir bislang sahen, nur aufgeschoben. Als es danach aussah, dass man die bürgerlichen Wissenschaftler nicht mehr benötige, wurden sie unter Druck gesetzt, zunehmend isoliert und bei widerständigem Verhalten auf vielfältige Weise liquidiert. Insofern folgten sie ihren geisteswissenschaftlichen Kollegen. Und es entsprach Honeckers Überzeugung: »Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.«1043 Glich der Einsatz Honeckers für eine neue Platzbestimmung der Wissenschaften einem Schisma wie es Karsten Plog 1972 in einem Aufsatz für Die Zeit feststellte? Dafür spricht vieles. Tatsächlich hatte Honecker den Primat der Politik gegenüber den Ansprüchen der Wissenschaftler gefordert, mehr noch, die Wissenschaftler wieder in die zweite Reihe hinter die Arbeiterklasse versetzt.1044 Dies wurde auch stets und überall ausgeführt: Obgleich Prämienmittel knapp waren, konnten Wissenschaftler nur dann ausgezeichnet werden, wenn auch Arbeiter nominiert wurden. So beauftragte der ZK-Kandidat Bernd Junghans seinen APO-Sekretär, entsprechende »Genossen« zu benennen. Dies gab aber Ärger, da er geglaubt habe oder habe glauben müssen, dass die Ausgewählten auch an dem benannten »Thema mitgearbeitet hätten«.1045 Der Mikroelektroniker Junghans war zu dieser Zeit Direktor des Entwurfszentrums VEB ZMD, Nachfolger von Werner Hartmann. Plog sah gewissermaßen eine Re-Ideologisierung des Ulbricht’schen kyberne­ tischen Systemdenkens und eine Engführung zur Sowjetunion.1046 Seit dem VIII. Parteitag der SED lief eine Kampagne, die darauf zielte, technokratische Züge und Modellbildungen zurückzudrängen. Dies wird deutlich am Tenor vieler Aufsätze und Artikel, wie etwa in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (DZfPh), aber auch an Hagers früher Kritik gegen das 1969  – vor allem von Ulbricht als 1041  BV Potsdam: Situationsbericht von »Annekathrin« vom 5.5.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 148. 1042  BV Dresden vom 9.4.1980: Erklärung; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4959/81, Bd. 2, Bl. 112–130, hier 125. 1043 Anlass: Übergabe von 32-Bit-Mikroprozessoren an ihn, in: Berliner Zeitung vom 15.8.1989, S. 3. 1044  Vgl. Plog, Karsten: Vorfahrt für die Ideologie. Wissenschaftler in der DDR: Höchste Produktivkraft oder Gehilfen der Arbeiterklasse?  – Kritik an Ulbricht, in: Die Zeit, Nr. 8, vom 25.2.1972, S. 54. 1045  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 27.3.1986: Information zur Prämienvergabe zum 64-Kilo-​ DRAM im VEB ZFTM; BStU, MfS, BV Dresden, Abt. XVIII, Nr. 1081, Bd. 2, Bl. 264 f., hier 264. 1046  Vgl. Plog: Vorfahrt für die Ideologie, S. 54.

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»Katechismus« bezeichnete  – erschienene Buch Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR. Die Produktivkraft »Wissenschaft« hatte bei ­Ulbricht die Funktion des Schrittmachers, er hatte ihr gar »höchste Produktivkraft« zugesprochen. Das jedoch verstieß gegen die kommunistische Orthodoxie. Die »Übersetzung« des MfS für dieses Dilemma aber lautete: Entfernung der »reaktionären« und vor allem nicht sowjetfreundlichen Wissenschaftler. Jedenfalls begriffen westliche Kommentatoren sowie Wissenschaftler in Ost und West das neue Zeichen Honeckers durchaus rasch und hießen es wissenschaftsfeindlich. Tatsächlich wurde unter Honecker die Wissenschaft »durch ein neues System der fachbezogenen wissenschaftlichen Räte« buchstäblich an die Kette gelegt. Zu dieser Zeit, so Haustein, kamen oft »die plötzlich von außen eingesetzten Praktiker, die auf Tagespolitik und Parteilichkeit geeicht waren«1047 – wie etwa im Falle des Instituts für Kosmos­ forschung Ralf Joachim und Hermann Zapfe (Kap. 4.2.2). War in dem, was unter Honecker aufgelöst worden ist, der Keim des Neuen? Wohin »ging« dessen »Ethos«? Manches sieht rückblickend so aus, als habe Honecker einem weltweiten Prozess, dem Zeitgeist vorauseilend gehorcht (Entbürgerlichung, Großforschung, Verproletarisierung, Verschuldung). Harry Maier pointiert den Übergang von Ulbricht zu Honecker scharf als Abbruch der Reformbemühungen, als Übergang eines schuldenfreien Landes in ein verschuldetes. Ulbricht sei aus dem Ruder geraten und habe gar formuliert, dass die Entscheidungen »dort gefällt werden« sollten, »wo die größte Sachkenntnis vorhanden« sei. Doch das Subsidiaritätsprinzip verstieß fundamental gegen die Zentralverwaltungswirtschaft. Noch 1971 hatte Ulbricht auf der Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz der SED versucht, das NÖS zu verteidigen. Dies habe Paul Verner verhindert, der ihm das Wort entzog.1048 Das Buch Politische Ökonomie des Sozialismus, entstanden unter Leitung Mittags, die sogenannte Mittag-Bibel, wurde eingestampft. Mittags zweiter Profilierungsversuch schlug mit Honeckers Machtergreifung zunächst fehl. Es kam zur sogenannten »Mittags-Pause«. Nachfol­ger wurde Werner Krolikowski, der als extrem Honecker- und sowjettreu sowie als »in ökonomischen Fragen völlig unerfahren« galt und selbst vor der Einfuhr der stalinistischen sogenannten Gegenpläne nicht zurückschreckte. Wir haben ihn oben im Fall »Emmel« erlebt. Die Gegenpläne appellierten an die Arbeiter, die von der wissenschaftlich-technischen Intelligenz ausgearbeiteten und von der Bürokratie starr verwalteten Pläne zu überbieten. Die Folgen lagen auf der Hand: Statistikbetrug, Qualitätssenkung, fallende Investitionsquote, Steigerung der Unfälle und Havarien. Im Oktober 1976 erhielt Mittag seine alte Machtposition zurück, die »Mittags-Pause« war vorüber.1049 Schaut man unter dem Aspekt der »Mittags-Pause« allein auf das Geschehen um Hartmann im ersten Hauptkapitel, dann passt es nicht zusammen, sehr wohl aber in Bezug auf den volkswirtschaftspolitischen Weg 1047  Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 15. 1048  Maier: Innovation oder Stagnation, S. 63. 1049  Ebd., S. 64–66.

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Honeckers. Sehr wahrscheinlich aber ist, dass Mittag in dieser Pause Jagdtrophäen brauchte, um wieder aufsteigen zu können. Der alte Konflikt (siehe S. 441) mit Hartmann mag ihm da gerade recht gekommen sein. Maier: »Es setzte eine hemmungslose Welle der Zentralisierung der Entscheidungsprozesse ein.«1050 Haustein zeigt sich überzeugt, dass unter Mittag eine »analytische Arbeit den Herrschenden immer unwillkommener« erschien. Er ordnete die Einstellung der Publikationsorgane Wirtschaft, Statistische Praxis und Planwirtschaft an. An der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) wurden »immer mehr Dissertationen und Diplomarbeiten« als Vertrauliche Dienstsachen (VD) und Vertrauliche Verschlusssachen (VVS) eingestuft.1051 Die Hermetisierung gegenüber der Welt wurde perfekter gemacht. Mittag wird eher mit Honecker in Verbindung gebracht denn mit Ulbricht. Dafür spricht viel, tatsächlich standen sie psychogrammatisch eng beieinander. Gegen beide gedacht war Ulbricht einfach ein Anderer, ein arbeitender Politiker. Mittag war Hardliner, Honecker kalt. Gründe, Tatsachen, Gesetze galten beiden wenig. Wie Mittag öffentlich argumentierte, zeigt ein Papier, das Stichworte aus seinem Schlusswort auf der Industriezweigkonferenz Elektronik-Elektrotechnik in Dresden am 31. Januar 1969 enthält. Sie stammen von Rompe. »1. Härte und Konsequenz bei der Durchführung der Beschlüsse. Erzielung von Höchstleistungen durch vollständige Entwicklung des ökonomischen Systems. 2. Hauptaugenmerk: Perspektivplan. Eigenverantwortliche Tätigkeit der Betriebe in Verbindung mit zentraler Planung. 3. Pionier- und Spitzenleistungen setzen entsprechende Organisationsformen voraus, die sich durch Ausrichtung auf das Einheitssystem der Elektronik und des wissenschaftlichen Gerätebaus ergeben. 4. Ende des alten Zopfes bei der Ausbildung: 3. Hochschulreform. In diesem Zusammenhang wurde besonders erwähnt die Friedrich-Schiller-Universität Jena in Kooperation mit VEB Carl Zeiss in Forschung und Lehre. Keine Ausbildung ohne Verbindung mit der Industrie. Schneller und intensiver lernen durch moderne Technik: Lernmaschinen. 5. Schwerste Folgen durch Zurückbleiben der Datenverarbeitung. Konzentration auf Operationsforschung als Leitinstrument für die Planung, die mathematisch formuliert in Beziehung zur Warenproduktion gebracht wird. 6. Größte Zurückhaltung bei Veröffentlichungen. Sicherung der ökonomischen Auswertung vor der Veröffentlichung. 7. Schonungslose Diskussion aller Probleme. Die Konferenz wurde veranstaltet nicht der schönen Worte wegen. Die Diskussionsbemerkungen täuschen häufig Einmütigkeit und bereits erfolgte Lösung aller Schwierigkeiten vor. 8. Durch Konzentration entstehen zweifellos Lücken, die aber leichter geschlossen werden können, als eine große Lücke auf wichtigem Gebiet. Dadurch erforderlich Aufgabe liebgewordener Themen (Hobbyforschung). 9. Undiskutabler Stand des Patent- und Lizenzwesens.

1050  Ebd., S. 67. 1051  Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 15.

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10. Jede Veranstaltung und Verhandlung mit ausländischen Firmen, die Konkurrenten von DDR-Kombinaten sind, ist mit den betreffenden Kombinaten abzusprechen (Beispiel: Perkin-Elmer, KMU Leipzig). 11. Erhöhung der Arbeitsproduktivität und des Ausnutzungsgrades der Maschinen […] 12. Keine Verhinderung freier und offener Diskussionen im Betrieb unter dem Vorwand der Geheimhaltung.«1052

Mittag, so Janson, »traf alle wesentlichen Entscheidungen oder führte sie herbei. Er konnte sich dabei eines funktionierenden Apparats bedienen. Auf allen Ebenen saßen Leiter, Experten [und] Mitarbeiter und sorgten dafür, dass die Entscheidungen diszipliniert durchgeführt wurden.« Und: »Seine Mitarbeiter erlebten ihn vor allem als prinzipiell, scharf und kritisch. Eine Erörterung ungelöster Probleme mit den Mitarbeitern gab es bei ihm nicht. Er erteilte entsprechende Aufträge zu ihrer Lösung. Wenn er in das Zimmer eines Untergebenen kam, der telefonierte, musste der das Gespräch sofort unterbrechen, oder er drückte selbst die Taste.« Man hatte »Angst vor ihm«. Widersprach jemand einmal, dann »zahlte er« es ihm »heim, manchmal sofort, manchmal später, aber stets schmerzhaft und langanhaltend. Wer das miterlebt hatte, der hatte keine Ambitionen, den Bannstrahl auf sich zu richten. Beschwerden bei Honecker hatten keinen Sinn. Der hätte sie an Mittag zur Klärung weitergeleitet.« Vor allem forderte Mittag »nicht selten«, bestimmte Kader abzulösen. In solchen Fällen erhielt die zuständige Abteilung den Auftrag, hierfür eine »Vorlage auszuarbeiten«. Das war im Fall der Untersuchung Aufgabe der Abteilung »Forschung und technische Entwicklung« im ZK der SED. »Wer aber aus politischen Gründen abgelöst wurde oder weil Mittag ihn los sein wollte, der hatte nichts zu lachen, wenn es ihm nicht gelang, völlig aus dessen Zuständigkeitsbereich zu verschwinden.«1053 Ardenne urteilte am 1. November 1990 im Neuen Deutschland: »Ich habe Mittag menschlich geachtet [sic!], aber in seinem Wirken als Katastrophe angesehen. Er war ein Theoretiker und Illusionist, er hat nie etwas vom realen Leben in der Wirtschaft mitbekommen und war Ratschlägen gegenüber in keiner Weise aufgeschlossen. […] Die Beauftragung Mittags mit der gesamten Wirtschaftslenkung war eine Fahrlässigkeit sondergleichen.«1054 Mittag sei intrigant gewesen, stur, erbarmungslos, äußerst misstrauisch, despotisch, taktisch gewieft, schlau; er »entschied ohne Hemmungen über Vorgänge, die er nicht kompetent beurteilen konnte; manipulierte skrupellos Fakten«. Er hatte Gelegenheit bekommen, gründlichst alle 17 Panzerschränke in seinem Bürobereich zu leeren. »Mittag hatte ›klar Schiff‹ gemacht und wohl Hunderte von Kilogramm Papier vernichtet. Niemand hat ihn daran gehindert. Erst Gregor Gysi setzte wenige Wochen später

1052 Rompe: Stichworte aus dem Schlusswort von Dr. Günter Mittag auf der Industriezweig­ konferenz Elektronik-Elektrotechnik, Dresden am 31.1.1969; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 283, S. 1 f. 1053  Janson: Totengräber der DDR, S. 14, 24 f., 160 u. 189 f. 1054  Ebd., S. 204 f.

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durch, dass die Arbeitszimmer versiegelt wurden.« Und: »Die Skala der Ablehnung war breit, sie reichte von Distanz bis Hass. Aber Widerstand gab es nicht.«1055 Ulbricht hatte Apel, Honecker Mittag. Für die Wissenschaftler sagte das alles. Unter Honecker wich neben Resten einer gewissen Reformbereitschaft und einer Experimentierfreudigkeit rasch auch das Utopische, und mit diesen auch die – partiell vorhanden gewesene – echte Begeisterung für den Sozialismus: ein Ermüdungseffekt machte sich nun breit. Selbst das Gehorchen degenerierte. Obgleich vom hohen Stellenwert interdisziplinärer Diskurse gezeichnet, war die Teilnahme von Wissenschaftlern an der Sitzung des Wissenschaftlichen Rates des Forschungsprogramms Mathematik, Mechanik, Kybernetik und Informationsverarbeitung am 21. Oktober 1976 in Berlin-Adlershof katastrophal. Wenngleich eine geringe protokollarische Unschärfe in der Frage des Status der Gäste vorliegt, ist klar, dass von den 25 geladenen Personen lediglich zwölf erschienen waren, die übrigen fehlten entschuldigt. Unter den fehlenden befand sich auch Gerhard Montag1056 vom MWT, aber auch der Mathematiker Lothar Budach von der HU Berlin und die beiden Professoren der TH Ilmenau Werner Kemnitz und Gerhard Linnemann.1057 Einige Tagungsordnungspunkte erledigten sich damit von selbst, etwa die Beiträge zu Fragen der Theoretischen Mathematik und zur Informationsverarbeitungstechnik.1058 Es war eine wissenschaftlich schwerlastige, durchaus reizvolle interdisziplinäre Veranstaltung, die unter Ulbricht vermutlich eine höhere Resonanz erfahren hätte. Neben den Ermüdungseffekten gewann ein weiteres Merkmal der DDR-Volkswirtschaft an Dominanz. Da die zentralgesteuerte Planwirtschaft den Betrieben die Planauflagen und Arbeitsleistungen, Betriebs- und Arbeitsmittel sowie Werk- und Rohstoffe administrativ zuwies, erstarrte dieses Geflecht von diversen Relationen zunehmend durch die Grundsätze für eine langfristige Planung und eine zu eng interpretierte prognostische Arbeit. Diese Grundsätze galten für die Akademieinstitute und mit Wissenschaftsfragen befasste Betriebe; ein Beispiel: Ein Papier des Vizepräsidenten für Forschung und Planung vom 22. Januar 1973 referiert zunächst die gesetzlichen Grundlagen des Beschlusses des Ministerrates vom 3. Mai 1972 »Zur Entwicklung der langfristigen Planung«, der im Übrigen mit den Beschlüssen des Politbüros der SED vom 11. Januar 1972 und des Ministerrates vom 8. De1055  Ebd., S. 215, 255 f. u. 270. 1056  Montag studierte Fertigungstechnik an der TU Dresden. Zuletzt war er als GMS unter dem Decknamen »Pfeiffer« registriert. Abschlussbericht vom 12.12.1989; BStU, MfS, AGMS 16070/89, 1 Bd., Bl. 3 f. Beschluss über das Anlegen einer GMS-Akte (Nachregistrierung) vom 4.12.1980; ebd., Bl. 6. Es existiert kein Hinweis, dass er über den genaueren GMS-Status etwas gewusst haben muss. Vor seiner Umregistrierung als GMS arbeitete er jahrelang als IMS »Pfeiffer«. »Aufgrund seiner leitenden Funktion als Sektionsdirektor an der TU ›Otto von Guericke‹ in Magdeburg wurde er als GMS umregistriert.«; ebd., Bl. 62. 1057  Vgl. Programmrat MMKI vom 20. Oktober 1976: Protokoll der Sitzung des Wissenschaftlichen Rates des Forschungsprogramms Mathematik, Mechanik, Kybernetik und Informationsverarbeitung (MMKI) am 21.10.1976 in Berlin-Adlershof; Archiv der TU Ilmenau, Sgn. 11.364, S. 1–22, hier 1 f. 1058  Vgl. ebd., S. 3 f. u. 9.

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zember 1971 sowie vom 18. Oktober 1972 korrespondierte. Zu den allgemeinen Grundsätzen ist ausgeführt, dass die langfristige Planung dem Ziel diene, die Kooperation mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten »zur allseitigen Stärkung des sozialistischen Lagers« eng miteinander abzustimmen. Die langfristige Planung zielte bis in das Jahr 1990 und gab vor, hierfür die »Voraussetzungen für eine kontinuierliche und stabile Entwicklung der Volkswirtschaft auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu schaffen«. Der Autor war der Auf‌fassung, dass diese Art der Planung dem Wesen der Wissenschaft entspreche. Die Gesamtkonzeption hierfür sollte »in Verantwortung der AdW in enger Zusammenarbeit mit SPK, MWT und MHF« erfolgen. Der langfristige, 15 Jahre umfassende Plan war in Fünf‌jahresabschnitten zu untergliedern. Der erste Abschnitt 1976 bis 1980 entsprach »hinsichtlich Inhalt und Kennziffern den Erfordernissen eines Fünfjahrplanes«. Der zweite von 1981 bis 1985 sollte orientierenden Charakter bei einem vereinfachten Kennziffernsystem besitzen. Der dritte von 1986 bis 1990 war grobmaschig geplant. In den Mittelpunkt der Planstrategie wurde »die Schaffung eines langfristigen wissenschaftlich-technischen Vorlaufs, die Intensivierung der Reproduktionsprozesse durch Rationalisierung« und die »Sicherung einer beschleunigten Überleitung von Forschungsergebnissen durch eine geschlossene Kooperationskette der Vorbereitungsstufen von der Theorie bis zur Applikation einschließlich potenzieller Nutzer« gestellt. Die Forschungspläne waren »als einheitliche strategische Führungs- und Entscheidungsdokumente für die Grundlagenforschung der DDR bis 1990 auszuarbeiten«.1059 Zu den inhaltlichen und organisatorischen Grundsätzen wurde u. a. ausgeführt, dass die Prognosearbeit an der AdW sich vorzugsweise auf die Erfüllung des Ministerratsbeschlusses vom 18. Oktober 1972 zu konzentrieren habe. Aufgabenstellungen und Termine würden für die prognostischen Arbeiten so gesetzt werden, dass sie »unmittelbar und gezielt auf die Unterstützung der Bestimmung wichtiger Ziel- und Aufgabenstellungen der langfristigen Planung« orientieren. Immer wieder wurde in dem Papier eine »Vertiefung der Kooperation« gefordert. Hiermit meinte man stets jene mit der Sowjetunion und mit den Betrieben im eigenen Land, weniger mit jenen der sozialistischen Länder wie Polen oder Bulgarien, schon gar nicht mit westlichen Betrieben oder Instituten. Die prognostische Arbeit sollte »in enger Verbindung von Wissenschaft, Technik und Produktion« erfolgen, »d. h., dass bereits bei der Abstimmung der Wissenschaftsstrategie Lösungsweg und -schritte sowie der zeitliche (zum Teil parallele) Ablauf als Komplex von wissenschaftlich-technischen Forschungs-, Investitions- und Produktionsaufgaben planmäßig festzulegen« waren.1060 Ein Diskussionspapier zu Fragen der langfristigen Planung vom 10. April 1973 zeigt, dass in den Reihen der Wissenschaftler deutliche Skepsis herrschte und Gegen1059  Vizepräsident für Forschung und Planung vom 22.1.1973: Grundsätze zur langfristigen Planung und prognostischen Arbeit an der AdW der DDR; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 250, S. 1–11, hier 1–4. 1060  Ebd., S. 5–10.

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argumente diplomatisch vorgebracht worden sind. Sehr wahrscheinlich stammt es von Ernst August Lauter, dem Hauptakteur im zweiten Hauptkapitel. In ihm ist die Rede davon, dass die langfristige Planung ein »Versuch« sei, die nationalen und internationalen Erfordernisse der RGW-Länder miteinander zu verknüpfen. »Qualitative Veränderungen im wissenschaftlich-technischen Fortschritt«, heißt es, können »nur in begrenztem Umfang in kurzen Fristen produktionswirksam« werden. Sie würden »begrenzt« allein durch die »Trägheit der Investitionen«. Ein dritter Anstrich wird noch deutlicher, denn er zeigt über den Rand »sozialistischer« betriebswirtschaftlicher Überlegungen hinaus: »Durch die konkreten gesellschaftlichen Randbedingungen sind der extensiven Erweiterung des Wissenschaftsbetriebes in der ganzen Welt Grenzen gesetzt. Eine unkontrollierte extensive Erweiterung kann weder mit zukünftigen Erfordernissen der Gesellschaft, noch aus der Logik der Wissenschaft selbst erklärt werden. Unter sozialistischen Bedingungen bedeutet daher die Forderung nach extensiver Erweiterung zum gegenwärtigen Zeitpunkt Vergeudung von gesellschaftlichem Reichtum mit allen Auswirkungen auf den Menschen selbst.«1061 Eine weitere Warnung sprach der Autor hinsichtlich der Hochschulbildung aus. Man möge den Blick nicht verengt auf die professionelle Wissenschaftlerkarriere belassen, sondern es müsse klar sein, dass die Hochschulbildung »immer mehr Voraus­setzung für die Ausübung einer breiten Palette von Berufen, die gleichzeitig ein hohes Maß an Fertigkeiten und Erfahrung erfordern«, werde. Auch sei das zahlenmäßige Wachstum des wissenschaftlichen Personals nicht mehr so gewachsen wie in den vergangenen 50 Jahren. In einem siebenten Anstrich warnte der Autor vor einem Überschätzen der sogenannten Abfallprodukte aus der militärischenund Weltraumforschung. Tatsächlich war es Lauter, der sich wiederholt »gegen die Förderung von Prestigegebieten« aussprach. Auch der achte Anstrich entsprach seinem Denken: »Die ökonomische Effektivität der Grundlagenforschung lässt sich nicht berechnen, sondern nur global abschätzen. Obwohl der Unbestimmtheitsgrad beim Übergang zur angewandten Forschung und technischen Entwicklung sinkt, bleibt eine große Unsicherheit bei der Bestimmung des Nutzens ›potenziell effektiver Technik‹. Dazu kommen die Unsicherheiten bei der Zusammenschaltung von Kooperationspartnern.« Der zehnte Kritikpunkt bezeichnete einen für DDR-Wissenschaftler schmerzlichen Aspekt: »Die gezielte Nutzung des Weltfundus der Wissenschaft ist weiterhin ein ›offenes Problem‹. Da oft kein schneller Zugriff zum vorhandenen Wissen möglich ist, werden die Probleme von Fall zu Fall neu bearbeitet. Es werden für jedes Problem ›spezifisch neue Grundlagenerkenntnisse gesammelt‹, obwohl die Aufgaben mit dem vorhandenen technischen Grundwissen lösbar« seien. Das Papier endet mit der Fragestellung: »Gibt es einen Stillstand im wissenschaftlich-technischen Fortschritt, wenn man auf originelle Lösungen zur Befriedigung bekannter Bedürfnisse und Qualitätssprünge in längeren Zeiträumen

1061  Diskussionsgrundlage zu Fragen der langfristigen Planung vom 10.4.1973; ebd., S. 1–3, hier 1 f.

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verzichtet?«1062 Es ist eine Kritik, die sich nur wenige wie Lauter trauten; mit Folgen, wie wir unten sehen werden. Der zunehmend plakativ-entfremdete Charakter der Volkswirtschafts- und Wissenschaftspolitik der SED aber barg durchaus noch Zündstoff in den Führungsriegen, da es alte Funktionäre gab, denen die Sachbezogenheit noch etwas galt. Das folgende Beispiel mag davon zeugen. Es muss vor dem 14. Juli 1975 zu einem zumindest kleinen Eklat gekommen sein. Stand gar Herbert Weiz in Ungnade? Oder nur Horst Sindermann? Ein Schreiben von Steenbeck an Weiz beginnt jedenfalls mit der Bemerkung, dass es zu der Anlage »keinen Kommentar« brauche (die Anlage ist der unten referierte Brief an Sindermann). Dann folgen Bemerkungen, die ein Treffen mit Ministerpräsident Wladimir A. Kirillin zum Inhalt haben. Ein folgender, zweiter Abschnitt bezieht sich eher nicht auf diese Bemerkungen, sondern auf den Eingangssatz, mithin also auf die Anlage. Steenbeck schrieb: »Ich will Ihre Sorgen nicht vermehren; Sie haben davon sicher genug. Früher haben Sie einmal gesagt, dass Aussprachen mit mir für Sie oft nützlich gewesen seien, auch außer dem rein Sachlichen. Ich habe Ihnen seinerzeit versprochen, Sie nicht im Stich zu lassen, solange Sie mich brauchen, und ich habe Ihnen auch gesagt, dass sich das auf Ihre Person bezieht. Auch dazu stehe ich noch heute.«1063 Er schrieb Sindermann, der von 1971 bis 1973 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der DDR und am 3. Oktober 1973 zum Vorsitzenden des Ministerrats der DDR gewählt worden war. Wegen seiner zu liberalen Wirtschaftspolitik war er von Honecker durch Stoph ersetzt worden. Das geschah bei der konstituierenden Sitzung der Volkskammer am 29. Oktober 1976, bei der Honecker zum Staatsratsvorsitzenden und Sindermann zum Präsidenten der Volkskammer gewählt wurden. Der Brief Steenbecks an Sindermann datiert vom 14. Juli 1975: »Dies ist ein sehr persönlicher Brief, der Form nach ein Entschuldigungsschreiben; denn es täte mir aufrichtig leid, wenn ich Sie durch eine mehr hingeworfene als überlegte Formulierung verletzt haben sollte.« Hatte Steenbeck Weiz, den Mann Honeckers, verteidigt? Weiter: »Der Sache nach bin ich – und nicht nur ich – in der Tat voll Sorge; und weil diese während der ganzen Jubiläumsfeierlichkeiten unserer Aka­demie neben vielen sicher vorhandenen und durchaus positiven Dingen nirgends auch nur anklang, und weil ich glaubte, auch Sie müssten das wissen, kam es in der Kürze zu der vielleicht missverständlichen Ausdrucksweise. Ich weiß genau, dass es nicht darauf ankommt, Recht zu behalten, sondern darauf, dass das Richtige geschieht, und ich würde mich im Grunde sogar freuen, wenn ich Unrecht hätte.« Steenbeck glaubte, dass Weiz dem Disput zwischen beiden zugehört habe und versicherte Sindermann, dass er zu Weiz ein vertrauensvolles Verhältnis habe; »Er kennt meine Sorgen und teilt wenigstens einige von ihnen.« Er wolle sich nicht vordrängen, er möchte, dass Sindermann sich für Weiz einmal Zeit nehme, um ihm zuzuhören. Er teilte ihm mit, dass er Weiz eine Abschrift dieses Briefes zuschicke als 1062  Ebd., S. 2 f. 1063 Schreiben von Steenbeck an Weiz vom 14.7.1975; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 365, 1 S.

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»ein Zeichen meines Vertrauens«.1064 Horst Sindermann sparte in seiner unvollendet gebliebenen Autobiografie weitestgehend die DDR-Zeit aus.1065 Heinz-Dieter Haustein schreibt in Erlebnis Wissenschaft unter der Kapitelüberschrift »Die neue Ära Honecker« über die Zeit nach 1970 von der »Periode, als in der DDR drei verhängnisvolle Fehlentscheidungen der politischen Führung« erfolgt seien. Diese Fehler waren erstens die »Liquidierung des NÖS«, also die Abschaffung halbstaatlicher Betriebe und die Beseitigung des Wettbewerbs durch Kombinatszentralisation; zweitens »die Drosselung der akademischen Bildung«; drittens die »vielleicht größte politische Fehlentscheidung«, die Abkehr von der anzustrebenden Einheit Deutschlands.1066 Indem er die Umgestaltung der Wirtschaft, heißt die Abschaffung des NÖS, mit gesellschaftlichen und politischen Maßnahmen synchronisierte, beschleunigte er den Untergang des Sozialismus. Synchronisation an sich ist zwar richtig, will man den wirtschaftlichen Erfolg,1067 doch hätte er für das NÖS das Privateigentum vor allem im Dienstleistungssektor stärken und nicht entscheidend schwächen müssen. Dass er es nicht tat, lag in der Konsequenz seines staatspolitischen Sozialismusmodells. Carl-Heinz Janson pointiert: »Das Experiment war gescheitert. Es wurde abgebrochen, ohne dass jemals eine offizielle Verlautbarung erfolgte. Die Rolle des Plans wurde wieder betont, die Worte Markt und Gewinn kamen nicht mehr vor, an ihrer Stelle traten der sozialistische Wettbewerb und die Betonung der Sozialpolitik.« Und zur Rolle Mittags: »Ausgerechnet derjenige, der einen maßgeblichen Anteil an dieser Politik zu verantworten hatte, warf die größten Steine auf Ulbricht.«1068 Ferner: »Anstatt das Experiment von Entstellungen zu befreien und zielstrebig weiterzuführen, wurde es abgebrochen und Ulbricht aus der Parteispitze entfernt.« Der VIII. Parteitag »war Erich Honeckers Triumph über Walter Ulbricht«. Er war »eine Zäsur in der Geschichte der SED«. Janson erinnert eine Anekdote über die sechs Etappen des NÖS, die man sich in der DDR gern erzählte: »1. Ausarbeitung der Grundsätze, 2. ihre Einführung in die Praxis, 3. allgemeines Chaos, 4. Suche nach den Schuldigen, 5. Bestrafung der Unschuldigen und 6. Auszeichnung der Unbeteiligten.«1069 Für viele war es kein Witz. Die DDR zeigte sich unter Honecker zwar heller und etwas bunter, doch die Unterdrückungen und Restriktionen blieben nicht nur, sie wurden vielmehr raffinierter. Entstanden selbst scheinbar legale oder gesellschaftsnützliche Freiräume, etwa in der Umweltfrage, wurden sie alsbald in Häfen der SED-Transmittanten 1064  Schreiben von Steenbeck an Sindermann vom 14.7.1975; ebd., 1 S. 1065  Vgl. Sindermann, Horst: Vor Tageslicht. Autobiografie. Mit einem Vorwort von Egon Krenz. Berlin 2015. 1066  Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 8 f. 1067  So Abalkin im Rückblick auf die Versäumnisse in der Sowjetwirtschaft: »Ökonomische Umgestaltungen, besonders wenn sie die wirtschaftliche Lage von Grund auf bessern sollen, lassen sich ohne gleichzeitige und adäquate Veränderungen im politischen System, im sozialen und geistigen Bereich nicht realisieren.« Abalkin: Über die Aufarbeitung der geschichtlichen Erfahrungen in der sowjetischen Wirtschaft, S. 120 f. 1068  Janson: Totengräber der DDR, S. 40. 1069  Ebd., S. 46 f.

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gelotst oder wenn dies nicht möglich war, geschlossen. So entstand 1971/72 unter dem Dache der Astronautischen Gesellschaft die Jugendarbeitsgruppe KOSMOS (JAGK), da man glaubte, unter Honecker gehe dies. 1975 war sie beseitigt, vom MfS federführend aufgelöst, besser: liquidiert. Letztlich besiegelte die JAGK den zivilen Charakter dieser Gesellschaft. Manch einer wie Lauter wollte sie gar auf‌lösen  – freilich aus anderen Motiven. Mit Bezug auf einen Rapport zum IAF-Kongress in Mar del Plata von Eberhardt Hollax alias IM »Dresden« (Kap. 4.2.1), Vizepräsident der Gesellschaft, fragte ihn Lauter nach der Rolle eines Herrn Horst Hoffmann, DDR-Journalist, dort. Und zwar so, dass er sich bei dieser Frage »an den Kopf fasste« und fragte, »wie denn dieser Herr dorthin gekommen sei«, was er dort zu tun habe. Hollax will geantwortet haben: »als Vertreter der Presse«. »Mit angewiderter Miene fragte mich Herr Professor Lauter, ›haben Sie einen Presseausweis gesehen‹. Dabei sah er Herrn Professor Treder vielsagend an und Herr Professor Treder lächelte.« Lauter soll diesbezüglich gesagt haben, »dass er sich das vorgenommen habe, die Auflösung der Astronautischen Gesellschaft herbeizuführen«.1070 Allein dieses Dreiergespräch symbolisiert die Ära »Honecker«. Der Durchgriff zu rationalem Handeln war verloren gegangen, die Interessen der Schaffenden verpufften zunehmend unter dem Primat der Spionage und Kontrolle. Alternde Systeme degenerieren am Inzest. Sie stoßen alles Neue, Aufstehende, sie Bewegende ab. Übrig blieb ein ständiger Kampf »Jeder gegen Jeden«, von Kohäsion fehlte zuletzt jede Spur. Und genau dieses Element, das dann notwendig in die Revolution von 1989 führte, ist den drei von Haustein genannten »Fehlern« hinzuzufügen, nämlich viertens: die Verhinderung von Kohäsion.

3.6  Vertrauen und Misstrauen, Parteifeinde und feindliche Plattformen Anna Seghers erzählte 1963 von einer Begegnung mit einem westdeutschen Journalisten, der neugierig war, was sie von Walter Ulbricht so halte. Sie kenne ihn nicht wirklich, glaube aber seinen Grundgedanken gut zu kennen, alles für den Sozialismus zu tun, und genau darauf könne sie vertrauen. Nach einer Weile des Nachdenkens erwiderte der Journalist: »Vertrauen! Das ist ein Gefühl. Darauf kann man nicht bauen.« Ja, antwortete Seghers: »Es ist aber ein Gefühl, das auf vielen Erfahrungen beruht. Besonders in diesem Fall. Da weiß ich genau Bescheid.«1071 In diesem Kapitel wird auf ein Kategorienpaar hingewiesen, das geeignet erscheint, das Problem des Staatssicherheitsdienstes insbesondere für leitende Mitarbeiter von Institutionen, Instituten und Betrieben sozialpsychologisch plastisch 1070  HA XVIII/5/3: Bericht von »Dresden« vom 25.2.1970; BStU, MfS, AIM 11978/86, Teil II, Bd. 1, Bl. 71–77, hier 76. 1071  Seghers, Anna: Vertrauen, in: Walter Ulbricht. Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Pädagogen zu seinem siebzigsten Geburtstag. Berlin 1963, S. 211–213, hier 211.

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werden zu lassen. Es handelt sich um das Kategorienpaar »Vertrauen – Misstrauen«. Ein Phänomen, das sich in den 1980er-Jahren verlor, aber in den drei Jahrzehnten davor einen hohen und, wie wir sehen werden, partiell gar höchsten Stellenwert besaß. Und fiel das Wort »Vertrauen«, war immer konkret »gesagt, was damit gemeint« war.1072 Es war kein Gefühl. Wie kaum eine andere Kategorie vermag die Kategorie »Vertrauen« den Blick auf die intellektuellen Kommunikationsprozesse und die generelle Lage der bürgerlichen Wissenschaftler in der DDR zu öffnen und zu schärfen: die Sprache des versagten Vertrauens oder anders gesagt: des nicht gegebenen Vertrauensvorschusses. Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind Fundamente in aufbauenden und kostenintensiven Wirtschafts- und Forschungsprozessen. Die Handlungen der bürgerlichen Wissenschaftler lebten nicht von den Zukunftsverheißungen des Sozialismus und sonstigen »Vorschüssen«, sondern vom Vertrauen auf die bereits gemachten Erfahrungen in der Vergangenheit: davon zehrten sie, dahin flüchteten sie gedanklich in den schweren Stunden der Reglementierung. Vertrauen schafft allererst den Raum für Handlungen, Vertrauen ist ein Mandat, das Scheitern zwar nicht billigt, jedoch einräumt, versteht und nicht bestraft. Die Kraft des Vertrauens lässt die Last der Schwierigkeiten leichter werden, vermag sie zu begrenzen. Vertrauen stiftet eine Bindekraft und mündet in Redlichkeit als eine Art zurückgezahlten Kredits. Redlich aber handelt der, der das ihm anvertraute Gut und die Mitarbeiter schützt und zum Erfolg hinsichtlich der Aufgabenstellung zu führen vermag. Das Problem Vertrauen vs. Misstrauen ist bereits in den 1950er-Jahren in SED-Kreisen deutlich erkannt und diskutiert worden. Wie sehr es einzelnen immer wieder auf den Nägeln brannte, belegt ein Entwurf von Peter Wiese, gedacht als »Entschließung über die Einheit der Partei und der Grundorganisation« vom 10. Dezember 1956. Wiese, der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der HU Berlin angehörend, lehrte an der Forstfakultät Eberswalde. Er wurde 1926 in Berlin-Lankwitz geboren, eben dort, wo auch zwei der Protagonisten der nachfolgenden Hauptkapitel das Licht der Welt erblickten: Werner Hartmann und Heinz Barwich. Gegen Wiese wurde beginnend am 17. Februar 1958 operativ wegen des Verdachts feindlicher Verbindungsaufnahme und Bildung einer feindlichen Plattform an der HU Berlin ermittelt.1073 Das Geschehen selbst lag im Lichte der 1956/57er-Ereignisse. In einer Zeit, in der Selbstbezichtigungen geradezu erpresst wurden. So auch von Wiese: »›In meiner Plattform waren Formulierungen wie bei Harich. Auch der Genosse [A] (Assistent bei Wiese) hat meiner Linie nicht widersprochen. Z. B. in der Frage Riashören. Es gab tatsächlich ernste Elemente einer Gruppierung. Die Zusammenkünfte waren aber rein zufällig‹ (Sie waren aber regelmäßig nach den Sitzungen der Institutsleitung. Man brauchte keine besondere Organisation, denn 1072  Anspielung auf eine zentrale Fragestellung bei Frevert, Ute: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München 2013, S. 7. 1073  BV Frankfurt / O., KD Eberswalde, vom 17.2.1958: Beschluss für das Anlegen eines OV; BStU, MfS, AOP 572/59, Bd. 1, Bl. 9 f.

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diese bestand in der Institutsleitung!)«.1074 Wiese kam automatisch mit seinem Papier vom 10. Dezember 1956 in die Kritik und somit in die Bearbeitung durch das MfS. Das »entdeckte« sofort eine Gruppierung am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Universität, zu der es auch Friedrich Herneck zählte.1075 Wieses Verhaftung erfolgte am 7. März 1958.1076 Im Haftbeschluss der HA  V/6/II des Staatssicherheitsdienstes ist als Grund der Inhaftierung angegeben, dass Wiese »Mitglied einer konterrevolutionären Gruppe am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Humboldt-Universität« sei.1077 Das, was hier ablief, geschah 25 Jahre später ganz ähnlich in Dresden. Es ist dies auch ein Beispiel dafür, dass nicht nur Vertrauen gegen Misstrauen stand, sondern Vertrauen durch Zersetzung in Misstrauen umschlug: Das Hauptproblem sah Wiese darin, dass die politische Führung der an der Fakultät arbeitenden und studierenden Menschen eine Frage der Parteiorganisation war, die einfach schlecht sei. Es sei sehr schwer, »sie zu meistern«, heißt es in seiner Erklärung: »Die Parteiorganisation sowie unsere Partei als Ganzes, insbesondere unsere Parteiführung bis hinunter zum Bezirk und Kreis, unsere Parteipresse und unser Rundfunk genießen nicht das volle Vertrauen unserer Menschen. Es muss rückhaltlos festgestellt werden, dass es uns in den vergangenen Wochen nicht gelungen ist, dieses Vertrauen für die Partei zu erobern, auch nicht mithilfe der Genossen der Bezirksleitung«. Als Ursachen sind u. a. angegeben: die »schablonenhafte Behandlung« und das »Hinwegsetzen über Gefühle und Gedanken, Bevormunden und Gängeln der einfachen Menschen, Vorenthalten von Informationen u. a. seitens der Presse, flache Argumentationen, Sturheit und Voreingenommenheit einzelner Funktionäre vor allem in der Forstverwaltung, Unterbinden von Diskussionen durch Drohungen, durch Gleichsetzung von Unzufriedenheit mit Feindseligkeit.« Es herrsche »ein gewisses Misstrauen in die Aufrichtigkeit unserer Absichten«.1078 Und weiter: »Dieses Misstrauen in unseren Köpfen mag noch so viele Gründe finden: es ist zutiefst ungesund und schädlich. Wir erwarten, dass uns unser ZK die volle Wahrheit sagt.« Trotzdem sehe man die Zukunft optimistisch: »Wir gründen unsere Überzeugung auf die Anerkennung der Beschlüsse der 3. Parteikonferenz und der 28. und 29. Plenartagung des ZK, auf die Ausführungen des Genossen Ulbricht vor den 1. Kreissekretären über die Notwendigkeit der Änderung der Methoden der Parteiarbeit, auf weitere Veröffentlichungen in der Parteipresse.« Das Papier endet 1074  Aktennotiz ohne Kopfangaben zu den Auseinandersetzungen am Institut für Gesellschaftswissenschaften der HU Berlin von Oktober bis Dezember 1957; ebd., Bl. 33–41, hier 38. 1075  HA  V/6 vom 4.3.1958; BStU, MfS, AOPK  691/58, Bl. 44–51. Zu dieser Gesamtpro­ blematik vgl. Herzberg, Guntolf: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58. Berlin 2006, S. 391–395, 628–630 u. 650 f. 1076 Vgl. HA  V/6/II vom 29.10.1959: Beschluss für das Ablegen eines OV; BStU, MfS, AOP 572/59, Bd. 1, Bl. 92 f. 1077  HA V/6/II, vom 7.3.1958: Haftbeschluss; BStU, MfS, UV 698/61, Bd. 1, Bl. 73. 1078  Entwurf vom 10.12.1956: Entschließung über die Einheit der Partei und der Grundorganisation; BStU, MfS, AOPK 691/58, Bl. 90–94, hier 90 f.

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mit dem Slogan: »Freiheit für Feinde des Sozialismus und Kameradschaft gegenüber Provokateuren lassen wir nicht zu. So werden wir das Vertrauen und die politische Führung an der Fakultät wirklich erobern.«1079 Der Text wurde Wiese trotz allem Pro für den Sozialismus zum Verhängnis, die Partei sah in ihm einen Aufweichler. Er widerrief am 4. Januar 1957. Die Selbstbezichtigung war der SED ein probates Mittel zur Demütigung und Disziplinierung ihrer Mitglieder, ein tradiertes Mittel aus der Geschichte der Kommunistischen Parteien zur Selbstgeißelung. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU und den damit aufgeworfenen Problemen habe er sich »mehr und mehr in einen einseitigen Skeptizismus« hineingefressen, so Wiese: »Ich möchte deshalb hier vor allem darlegen, wie es dazu kam, insbesondere, woraus mein Misstrauen resultierte.« Und »dieses unselige Misstrauen« gehört nunmehr der Vergangenheit an.1080 Seine Selbstbezichtigung war kunstvoll gewoben aus Anteilen einer Rechtfertigung durch Herkunft und Berufsethos als Pädagoge, einer schonungslosen Selbstkritik sowie durchaus auch Trotz in dem Sinne, dass nicht alles, was er sagte, falsch gewesen sein könne. So komme er aus kleinbürgerlichem Hause, ihm fehle es an der harten Schule des proletarischen Klassenkampfes, den er lediglich platonisch kenne. Er habe einfach keinen »sauberen Fragebogen« wie andere, er empfinde sich als Parteimitglied zweiten Grades. Er sei abgewichen von der Parteilinie, indem er angenommen habe, mit seiner Kritik der Partei zu helfen: »Diese Abweichung war kein bloßes oberflächliches Schwanken, sondern Ergebnis intensiver Auseinandersetzung. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit Problemen, die der XX. Parteitag der KPdSU aufwarf, fraß ich mich mehr und mehr in einen einseitigen Skeptizismus hinein und urteilte schließlich in allen Fragen von der Basis des Misstrauens gegenüber dem ZK und gegen führende Genossen überhaupt. Und das ist m. E. der Kern der Frage meiner Abweichung. Worin diese Abweichung besteht, geht im Wesentlichen aus meinem ›Entschließungsentwurf‹ und meiner letzten Erklärung vor der Mitgliederversammlung hervor.« Ihm komme dies »täglich lächerlicher und beschämender vor«; er habe zuletzt fungiert »wie ein Krankheitserreger«, er habe »idiotische und feindliche Auffassungen« unterstützt.1081 Sein Misstrauen habe begonnen mit dem Zweifel an der Isoliertheit der Probleme, die der XX. Parteitag der KPdSU aufgeworfen habe, im Glauben, dass Elemente des aktuellen polnischen Reformweges und auch Jugoslawiens sowie Elemente des Togliatti-Interviews auch für die DDR Geltung und Weg bedeuten könnten.1082 Konzeptionen des »Dritten Weges«, wie sie ihm durch Westreisen und durch westliche Literatur bekannt geworden seien, hätten diese Tendenz bei ihm gestärkt. Schließlich habe ihn ein Artikel von Leo Bauer über dessen persönliches Schicksal 1079  Ebd., Bl. 93 f. 1080  Erklärung vom 4.1.1957 über mein Verhältnis zur Partei, zum ZK, zur Politik der Partei und über die Ursachen meiner vorübergehenden Abweichung von der Parteilinie; ebd., Bl. 70–80, hier 72. 1081  Derselbe Titel; ebd., Bl. 95–105, hier 96–98. 1082  Vgl. ebd., Bl. 100.

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weiter in die Krise getrieben. Zwar habe er keine Sympathie für Bauer entwickeln können, doch »an den von ihm dargestellten Tatsachen« habe er nicht gezweifelt. »Wie ein giftiger Stachel« seien diese Darstellungen »in« ihm »hängen« geblieben. So habe er nun erst recht weitere Fakten für die Stärkung solcher feindlichen Positionen gesammelt, »sodass ich mich schließlich völlig verrannte in der Auffassung, die Partei könnte nur wirklich gesund werden, wenn über Fehler und teilweise aufgetretene Verzerrungen aus der Vergangenheit offen gesprochen würde«. Wiese verurteilte abschließend seine »ganze Konzeption« und nannte sie eine »revisionistische Plattform«. Seine Arbeit sei in diesem Sinne »zersetzend für die Schlagkraft der Parteiorganisation an der Fakultät« gewesen. Er werde jedoch »nicht aus einem Extrem in das andere verfallen und alles von« seinen »Auffassungen über die Methoden der Propaganda usw. über Bord werfen«. Er habe »wieder volles Vertrauen zurückgewonnen« und könne bereits wieder »mit voller Überzeugung die Parteilinie vertreten«.1083 Um den Vorwurf, einer feindlichen Plattform anzugehören oder sie gar gegründet zu haben, geht es auch unten mehrfach. Es soll deshalb an dieser Stelle explizit darauf eingegangen werden, da dieses Phänomen immer auch auf eine sehr inhärente Weise die Frage des Vertrauens in den Mittelpunkt rückt. Ein 39-seitiges Protokoll über die SED-Parteileitungssitzung der HU Berlin am 25. März 1958 im Berliner Zeughaus glich eher einem Tribunal denn einer Parteisitzung. Es fielen drastische Formulierungen. Hans Singer, 1. Sekretär der Universitätsparteileitung, fragte einleitend Klaus Sternberg, ob es zwei Plattformen gegeben habe, eine von 1956 und eine andere, jener Resolution entsprechend, die von Wiese über die Eberswalder Parteiorganisation eingebracht worden sei. Sternberg: Ja, Wiese habe sie im Juni 1956 vorgelegt. Sie habe seiner Erinnerung nach »in einer sehr zynischen Art und Weise personelle Veränderungen in der Leitung der Partei« sowie »in der Staatsführung« gefordert. Der »Mechanismus« des DDR-Staates habe völlig verändert werden sollen, die »Abkehr von der Diktatur des Proletariats« nach dem Vorbild von polnischen und ungarischen konterrevolutionären Zielen habe erreicht werden sollen. Alles sei »offen hinaus auf Liquidierung der Arbeiter- und Bauernmacht« gelaufen. Diese Grundlage der Konzeption sei »nicht zerschlagen« worden. Wieses Referat im September 1956 sei ein Rückzug gewesen, ohne die Preisgabe der grundlegenden Motive der Plattform. Singer: »Wir müssen uns wirklich klar werden darüber, dass hier eine konterrevolutionäre Gruppe gearbeitet hat«, denn das, was Sternberg gesagt habe »über das Programm der Gruppe«, sei »ungeheuerlich«.1084 Die HA V/6 hatte im Zuge der Ermittlungen in einem Bericht vom 21. März 1958 festgehalten, dass selbst die Parteileitung des gesellschaftswissenschaftlichen Instituts »eine ausgesprochene revisionistische Linie« eingenommen habe und »direkt« für »die Fehlerdiskussion nach dem XX.  Parteitag« der KPdSU verantwortlich sei. Der ehemalige Institutsleiter Saar, der Dozent Crüger und der jetzige 1083  Ebd., Bl. 101–105. 1084 SED-Parteileitung der HU Berlin, vom 26.3.1958: Protokoll der Leitungssitzung am 25.3.1958; ebd., Bl. 219–257, hier 219–222.

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Institutsdirektor Sternberg würden »unter dem Deckmantel des ›Kampfes gegen den Dogmatismus‹« nun auch »Diskussionen über verschiedene Fehler in der politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung der DDR und anderer sozialistischer Staaten« suchen. Das »Vertrauen zur Parteiführung und die Richtigkeit von Partei und Regierung« sei von ihnen »systematisch untergraben« worden. Der »Kampf um die Reinhaltung des Marxismus-Leninismus« werde nicht geführt; »Wiese, Herneck und andere konnten lange Zeit revisionistische Auffassungen vor den Studenten, im Falle Hernecks sogar vor Naturwissenschaftlern, vertreten.« Über Herneck meinte das MfS, dass der die Auffassung vertreten habe, dass »Lenins Werk ›Materialismus und Empiriokritizismus‹« nicht mehr »für die heutige Auseinandersetzung mit der katholischen Philosophie« tauge. Parallel zur »Aufweichung des Instituts für Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium« hätten die Mitglieder der »feindlichen Gruppe die Verleumdung und Diffamierung der Partei treu ergebener Mitglieder betrieben«. »Besonders schwerwiegend« seien »die Auswirkungen der Tätigkeit der feindlichen Gruppe an der Forstwirtschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität in Eberswalde« gewesen. Hier sei Wiese tätig gewesen. Dessen Vorlesungen hätten eine »›unpolitische‹ Tendenz« aufgewiesen. Das MfS fasste zusammen, dass der »Lehrkörper des Instituts« durchaus »politisch falsch orientiert und missbraucht« worden sei. Die Gruppe habe »Zersetzungsarbeit« betrieben und damit »Unsicherheit und Misstrauen der Partei gegenüber gesät und das Eindringen der bürgerlichen Ideologie auf die Lehrkräfte und die Studenten begünstigt«.1085 Am 9. April schlug das MfS der SED vor, eine »parteiinterne Veranstaltung zum Zwecke der Entlarvung der Feindtätigkeit an den Hochschulen« der DDR zu organisieren. Dies wurde auch realisiert. Es waren die üblichen Verfahren, die abschrecken und einschüchtern sollten. Hierin wurde nicht weichgezeichnet, sondern von der Gefährlichkeit solcher »Staatsverräter« gesprochen.1086 Sternberg wusste im obigen Zusammenhang auch über Havemann und Strauss negativ zu berichten. Demnach soll Havemann dem »parteilosen Dr. Martin Strauss« sowie dem gleichfalls parteilosen Biologen Jakob Ségal nahegestanden haben. Strauss habe auch im Sonntag geschrieben, »das doch offensichtlich damals ein Organ war, das der Konterrevolution Vorschub leistete und sie mit organisieren half«. Es war dessen Kampf gegen die Dogmatiker. Ségal soll auf dem Gebiet der Biologie »in genau der gleichen Richtung« aufgetreten sein, »genau so scharf und zynisch, wobei sich sein besonderer Hass gegen die ›Verherrlichung‹ […] der Pawlow’schen Psychologie« wandte. Sternberg: »Sowohl Strauss als auch Ségal waren auf Anregung von Herneck zu unserer Abteilung eingeladen worden, der scheinbar recht guten Kontakt mit ihnen wie ja auch mit Havemann unterhielt.« Herneck, Havemann, Strauss und Ségal hätten einer ihrem »Wesen nach antimarxistischen Naturphilosophie« 1085  HA  V/6 vom 21.3.1958: Bericht über die Auswirkungen der Tätigkeit der feindlichen Gruppe an der HU Berlin; ebd., Bl. 264–273. 1086 MfS vom 9.4.1958: Vorschlag zur Durchführung einer parteiinternen Veranstaltung zum Zwecke der Entlarvung der Feindtätigkeit an den Hochschulen der DDR; ebd., Bl. 328–333.

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das Wort geredet.1087 In der Grundorganisation der Historiker soll der Dozent für die mittelalterliche Geschichte Deutschlands, Ekhard Müller-Mertens, ebenso »von der Linie der Partei hartnäckig« abgewichen sein.1088 Sternberg »wanderte« denunziatorisch durch nahezu alle Fakultäten und machte auch nicht vor dem Institut Jürgen Kuczynskis halt. Sternberg schloss: »Das, liebe Genossen, sind alle Probleme und Zusammenhänge, die mir bei meinen Überlegungen der letzten Tage noch eingefallen sind. Vielleicht sind einige davon gewisse Anknüpfpunkte, mit denen sich etwas anfangen lässt. Und ihr wisst, dass ich sehr froh darüber bin, wenn ich helfen kann, um die Partei zu stärken und meine schweren Fehler wieder auszubessern.«1089 Einen denunziatorischen Bericht über Havemann schrieb Sternberg am 2. April 1958. Er kenne Havemann »oberflächlich seit einigen Jahren von Parteiberatungen an der Universität«. Es vergehe seit etwa zwei Jahren »keine solche Versammlung, Professorenbesprechung, Parteiaktivtagung, Funktionärskonferenz oder dergleichen, ohne dass Gen[osse] Havemann nicht in Kampf gegen den ›Dogmatismus‹ gemacht hätte. Er ist ein sehr guter, brillanter Redner und versteht, Genossen, die die Parteilinie vertreten, in einer witzigen und geschmeidigen Art zu verleumden und herunterzuputzen.« Havemann habe gewusst, so Sternberg, »dass es zwischen der Partei und Gen[ossen] Herneck erhebliche Meinungsverschiedenheiten gab, [er trotzdem] den Gen[ossen] Herneck nach Westberlin zu einer Pressekonferenz« mitnahm »und popularisierte ihn auf diese Weise«. Dies sei ein »Affront gegen die Partei«. Er habe »sich immer hinter ihn gestellt und ihm den Rücken gestärkt«. Havemann habe die Auffassung vertreten, dass der Dogmatismus »zutiefst schädlich« sei und demzufolge zur »Erstarrung des wissenschaftlichen Lebens« geführt habe. Dies habe der »Partei größten Schaden« bereitet. Er wolle »dazu beitragen, die Partei und das Leben vom Dogmatismus zu ›befreien‹ und eine reinere Luft zu schaffen, eine gesäuberte Atmosphäre in der Partei, um die Partei stärker zu machen und sie näher an die Massen heranzuführen«. Er habe Ernst Bloch im Herbst 1957 verteidigt, obgleich »sich schnell« herausgestellt habe, »dass Gen[osse] Havemann überhaupt nichts von Bloch und seiner Philosophie kannte und gelesen hatte, aber er hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Einschätzung der Partei, Blochs Philosophie hätte der ideologischen Vorbereitung der Konterrevolution in unserer Republik gedient, zurückzuweisen und sie abzulehnen«. Im Zusammenhang mit einem Artikel, den Havemann für die Universitätsparteizeitung geschrieben und den die Partei abgelehnt habe, habe es mit ihm »stundenlang« Diskussionen gegeben. Er habe gedroht, im Falle einer Ablehnung den Artikel »an den schwarzen Brettern anbringen« zu wollen, »damit die ›Meinungsfreiheit‹ zur Geltung kommen könne«.1090 In einem sechsseitigen Brief an die Parteileitung vom 20. März hatte Sternberg 1087  4. Bericht von Sternberg (o. D.); ebd., Bl. 337–344, hier 337–339. 1088  Ebd., Bl. 340. Siehe auch Müller-Mertens, Eckhard: Existenz zwischen den Fronten. Analytische Memoiren oder Report zur Weltanschauung und geistig-politischen Einstellung. Leipzig 2011. 1089 4. Bericht von Sternberg (o. D.); BStU, MfS, AOPK  691/58, Bd. 1, Bl. 337–344, hier 342–344. 1090  Bericht von Sternberg über Havemann vom 2.4.1958; ebd., Bl. 345–348.

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vorausgeschickt: »Wie Ihr wisst, mache ich mir laufend Gedanken über weitere Zusammenhänge, auf die ich bisher in meinen Überlegungen noch nicht gekommen war. Was ich dabei herausfinde und irgendwelchen Anhaltspunkten auch nur ähnlich ist, das teile ich Euch mit und werde es auch in Zukunft tun, da meine Sinne durch das Zusammentreffen mit Euch noch besonders geschärft worden sind.«1091 Ein 45-seitiges Protokoll über ein Plenum des Institutes für Gesellschaftswissenschaften der HU Berlin zeigt die Vernetzung von Schuldzuweisung, Schuldabweisung, Anklage und Selbstbezichtigung, aus dem die obigen Bezichtigungen rührten. Letztlich zeigt es, dass die Selbstbezichtigungen der SED nicht reichten, sie wollte selbst das Vertrauen der Delinquenten in sich zerstören. Einer bezichtigte sich selbst, übernahm teilweise Verantwortung für die eingetretene Situation; zu ihm hieß es, dass er »als einer derjenigen im Institut« gelte, »die am konsequentesten eintraten für die Trennung von Wissenschaft und Politik«. Ein anderer gab vor, sich verrannt zu haben. Wieder ein anderer gab Schuld zu, zeigte sich reuevoll, schob alles irgendwie auf die Ereignisse in der Sowjetunion im Zusammenhang mit dem XX. Parteitag der KPdSU. Herneck aber übte Kritik an der Institutsleitung, wobei er sich »als Mitglied der Forschungskommission« mit einschließe, er distanziere sich von seiner frühen, zynischen Verurteilung Stalins, erkenne jetzt die »Tragik Stalins«, lasse aber nicht ab von seinem Weg, an die Leistungen der bürgerlichen Wissenschaftler anknüpfen zu wollen »um sie dann an den Marxismus-Leninismus heranzuführen«. Das sei »schwierig«, man könne »ausgleiten« dabei.1092 Auf Herneck hatte es Sternberg besonders abgesehen. Gegen ihn müsse man »etwas prinzipieller Stellung nehmen«. Dessen Verhältnis zu den Naturwissenschaften zeige eine »falsche Konzeption«. Es sei »konfus, die Frage der Fachverbundenheit so zu stellen«, quasi »als Zugeständnis an das, was bürgerlich an den Naturwissenschaftlern« sei. Er, Herneck, soll »sich ernsthaft überlegen, um welchen Preis sein Kontakt zu den Naturwissenschaftlern erreicht worden ist«; Sternberg: »Man darf doch den parteilosen Naturwissenschaftlern keine prinzipiellen Zugeständnisse machen!«1093 Taut legte noch einmal gegen Thiel (»Überhegelianismus«) und Herneck (»platter Positivismus«) nach, er habe das Gefühl, dass Herneck »ein Eisberg« sei, der sich »1/10 über Wasser und 9/10 unter Wasser« befinde. Er lege einen »Rauchvorhang« vor die bürgerlichen Wissenschaftler. »Was macht der Gen[osse] Herneck? Er sucht krampfhaft nach einer Stelle, wo Lenin etwas Positives über Mach sagt.« Er »verfälsche« gar Lenin’sche Zitate und stelle sie »sinnlos« zusammen. »Damit verlasse er die Klassengrundlage und braue eklektizistische Bettelsuppen zusammen.« Und: »Warum seien es Havemann und Ségal, die vor dem Forum der bürgerlichen Wissen1091  Bericht von Sternberg an die Partei vom 20.3.1958; ebd., Bl. 349–354. 1092  Protokoll des Plenums des Institutes für Gesellschaftswissenschaften der HU Berlin vom 5.12.1957; ebd., Bd. 2, Bl. 2–90 (pag. S. des 45-seitigen Textes), hier 22 f., 26, 30 f., 34, 38, 42–43, u. 48–52. 1093  Ebd., Bl. 56, 62–64 u. 68 f.

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schaftler den Gen[ossen] Herneck am eifrigsten verteidigten?« Ferner: »Man müsse den politischen Kern der positivistischen Auffassungen endlich einmal herausholen. Der Positivismus sei doch zzt. die stärkste Waffe der Bourgeoisie.« Und: »Auf die Dauer sei aber doch politische Narrenfreiheit für den Gen[ossen] Havemann nicht zulässig.« Herneck wolle »aus der marxistischen Philosophie eine bloße Forschungsmethode machen«, »er schleiche« sich »von hinten heran, das sei politische Feigheit«; »die Artikel« Hernecks seien »nicht wissenschaftlich«, in der Pause – auch dies steht im Protokoll  – stellte Herneck einem Genossen die Frage »Wollt Ihr mich schlachten?«, worauf der zur Antwort gegeben haben soll: »Wir führen die Auseinandersetzung, um uns zu vereinen. Merkst Du denn gar nicht […], dass Du diese Auseinandersetzung gar nicht begreifst und Dich auf die bürgerliche Position begibst?« Peter Musiolek gab zu bedenken, dass Herneck kein Eisberg sei, sondern »eine aristokratische Bulldogge«. In seinem Schlusswort bezeichnete Robert Naumann diese infame, zynische Prozedur als »kameradschaftliche Aussprache«; Zitat: »Es bestand eine ernste Gefahr. Das Institut für Wirtschaftswissenschaften« von Wolfgang Heinrichs sei »durch Behrens und Kohlmey an den Rand der Katastrophe gebracht worden. Und auch das Grundstudium bewegte sich in Richtung auf eine Katastrophe.« Herneck solle »zur nächsten Woche eine schriftliche Stellungnahme vorlegen«: »Wir brauchen nicht nur Wissen, sondern bolschewistische Festigkeit.« Und ferner: »Die Umwandlung der Universität ist ein sehr schwieriger Prozess! Es handelt sich nicht nur um den Genossen Herneck, sondern um seinen Einfluss auf die Studenten und auf die bürgerlichen Wissenschaftler.«1094 Der nachhaltigste Ausdruck dieser Konflikte lebte in den 1960er-Jahren wieder in den Ereignissen um Havemann auf und endete erst in den 1970er-Jahren. Auf der Aktivtagung der SED-Organisation an der HU Berlin am 17. Februar 1964 nahm Havemann einmal mehr das Wort. Zwangsläufig kam es zu Auseinandersetzungen mit Kurt Hager. SED-Getreue assistierten und werteten erwartungsgemäß: Die Vorwürfe Hagers gegenüber Havemann seien »völlig zutreffend und zu Recht« geäußert worden. Havemann betreibe »Revision im Namen des Marxismus«. Hager soll laut Müller-Mertens gesagt haben, dass er »den Marxismus als eine ewige Wahrheit« betrachte. »Unerschütterlich wird er verteidigt und um seine Durchsetzung gekämpft.« Havemann soll sich darauf nicht eingelassen haben. »Er erfuhr wütende Anfeindungen von renommierten Professoren, alten Genossen.« Wie beispielsweise von Wilhelm Girnus. Hager habe die Abberufung des Parteisekretärs Werner Tzschoppe geteilt, da der Havemanns Vorträge monatelang geduldet habe. Der Jurist Peter A.  Steiniger verglich Tzschoppe mit Havemann: »›Dem Jammerbild eines Sekretärs entsprach das Jammerbild eines Professors.‹« Tzschoppe soll offen, kritikfähig und kreditwillig gewesen sein.1095 Die Führung in der »Ausrichtung der Geschichtswissenschaften« und der anderen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen oblag der Abteilung Wissenschaft (vor1094  Ebd., Bl. 70–74, 76, 84, 86 u. 88. 1095  Müller-Mertens: Existenz zwischen den Fronten, S. 202–203 u. 212.

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mals die Abteilung Propaganda) des ZK der SED. Zuständiger Sekretär war Kurt Hager; Abteilungsleiter von 1955 bis 1989 Johannes Hörnig, 1963 Kandidat, ab 1967 Mitglied des ZK der SED.1096

Exkurs 5: Parteifeinde: Müller-Mertens und Zehm Müller-Mertens wurde auf der Delegiertenkonferenz der SED-Universitätsparteiorganisation der HU Berlin durch Hans Singer hart kritisiert, und zwar erstens wegen seiner Auffassung, dass die SED »insgesamt an Vertrauen verloren« habe, wobei doch »der XX. Parteitag die Gelegenheit« gegeben habe, allererst wieder »Vertrauen herzustellen«, doch »die Partei habe das nicht genutzt«.1097 In der tribunalähnlichen Diskussion wurde der Spieß einfach umgekehrt. Müller-Mertens habe seinerseits »nicht genügend Vertrauen in die Richtigkeit der Parteiführung« gehabt. Später, zur Zeit der 3. Hochschulreform, sei es, so Müller-Mertens, überdies auch um die »Kardinalfrage« nach der »Funktion der Wissenschaft« gegangen, die er angeblich nicht richtig gesehen habe. Dabei stellte er eigentlich nur Fragen, aber bereits das war der SED zu viel, zum Beispiel: »Soll die Wissenschaft einen autonomen Platz einnehmen« oder soll sie der Politik dienen. Er will in den 1960er-Jahren »mit Nachdruck für eine autonome Wissenschaft, für den Primat der Fachwissenschaft und einen akademischen Studienbetrieb« eingetreten sein.1098 Müller-Mertens Funktionärskarriere war 1968 praktisch beendet; Müller-­ Mertens: »sang- und klanglos oder besser eisig als bisheriger Fachrichtungsleiter verabschiedet«, meine »›schleichende‹ Kaltstellung und Isolierung war in den frühen 1970er-Jahren vollzogen«.1099 Aber das gab es auch: Vom 29. März 1979 bis zum 25. Oktober 1989 war Müller-Mertens an 135 Arbeitstagen in Westberlin zu Bibliotheksbesuchen. Die hauseigene Bibliothek verkam nahezu wegen der miserablen Devisenzuteilung.1100 Allerdings, ein Günter Tembrock beispielsweise konnte von einem solchen Privileg (Vertrauen?) nur träumen. Unter Honecker versuchte Müller-Mertens später den Weg in die fachliche Autonomie, ein Weg, der für die Natur- und Technikwissenschaftler aus wissenschaftsorganisatori1096  Vgl. ebd., S. 229. 1097  Ebd., Bl. 161 f. 1098  Ebd., S. 152, 195 u.  197. Hinweis zur Aktenlage Müller-Mertens: Enthalten in einem Kollektiv-Vorgang zu zunächst 12 Personen, angelegt am 23.3.1959. Ermittlungsrichtung § 13, Abs. 1 des STEG wegen Hetze gegen die DDR. Quelle: BV Groß-Berlin, Abt. V/6, vom 23.3.1959: Beschluss für das Anlegen eines OV; BStU, MfS, AOP 691/58, Bd. 1, Bl. 12 f. Im Vorgang ist festgestellt, »dass es in der Fachrichtung Geschichte 1956/57 eine parteifeindliche Gruppe« gegeben habe, sie habe 1956 Pressefreiheit gefordert. Die Gruppe habe sich infolge von Auseinandersetzungen in der Parteigruppe aufgelöst. 1099  Müller-Mertens: Existenz zwischen den Fronten, S. 307 u. 309. 1100  Vgl. ebd., S. 326.

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schen Gründen kaum mehr möglich war. Müller-Mertens: »Es war kein Rückzug in ›Nischen‹. Es war eine Konzentration auf die eigenen Wirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. In diesen richtete ich die Arbeit auf selbstständige kritische Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit aus, auf offene Fragestellungen, auf eine Pluralität wissenschaftlicher Meinungen, auf Meinungsfreiheit der Studenten und Mitarbeiter, auf den wissenschaftlichen Meinungsstreit und Diskurs.« Die SED aber hatte nie seine frühere Kritik vergessen. Noch bei seiner Emeritierung wurde Bezug auf sie genommen.1101 Neben dem Begriff der »feindlichen Plattform« kursierte als Angstmacher der Begriff »Parteifeind«. Ein solcher zu sein, zeihte man zum Beispiel Günter Zehm. Dieser radikal, intellektuell denkende, zum Streit begabte Zehm, den Kowalczuk mit einem Selbstzitat in Geist im Dienste der Macht in Erinnerung brachte (»Erst im Zuchthaus wurde der Kommunismus buchstäblich aus mir herausgeprügelt. Ich wollte mit den Vernehmungskommissaren debattieren, und sie antworteten mit der Faust. Was für eine Lehre wurde mir da zuteil!«1102), den Hans Mayer so knapp wie treffend beschrieb in Ein Doktortitel vor Gericht (»Der Philosophie-Student Zehm aber wurde damals nicht verschont. Man hat ihn verhaftet und verhört. Was ihm angetan wurde an körperlicher und seelischer Erniedrigung, lässt sich ahnen.«1103) und der nach der Wiedervereinigung ans rechte Ufer der Meinungsbildung trieb oder medial getrieben wurde (Der Rektor der Jenenser Universität: »Das, was ich von Herrn Zehm gelesen habe, ist durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt.«1104). Das MfS bearbeitete ihn unter dem Titel »Parteifeind«. Zehm wurde 1933 in Crimmitschau geboren. Von 1952 bis 1956 studierte er Philosophie an der Karl-Marx-Universität Leipzig, davor lagen zwei Jahre Studium der Publizistik in Leipzig. Anfang 1957 kam er an die Universität Jena. Der Schüler von Ernst Bloch war einer der »von ihm am meisten geförderten Studenten«. In der MfS-Sprache erschien jedoch alles ganz anders gewertet: »Nach dem XX. Parteitag« der KPdSU »scharte sich am philosophischen Institut um Zehm eine Reihe gleichgesinnter Assistenten und Studenten, die als Gruppe Zehm bezeichnet wurde. Unter der Losung ›Kampf dem Dogmatismus‹ forderten sie freie Meinungsäußerung und wollten eine breite Diskussion über die in der DDR gemachten Fehler [sogenannte Fehlerdiskussion – d. Verf.] entwickeln.« Die Gruppe erhalte von Bloch »volle Unterstützung und Anerkennung«. Zehm

1101  Ebd., S. 367, 375 u. 378. 1102  Kowalczuk, Ilko-Sascha: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ / DDR 1945 bis 1961. Berlin  2003, S. 458. Quellenhinweis aus Fricke, Karl Wilhelm: Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report. Köln 1984, S. 124. 1103  Mayer, Hans: Ein Doktortitel vor Gericht vom 3.11.1972, in: https://www.zeit.de/1972/44/ ein-doktortitel-vor-gericht; letzter Zugriff: 10.1.2020. 1104  Universität Jena: »Rechtsextremer im Nadelstreifenanzug«, in: https://www.spiegel.de/ lebenundlernen/uniuniversitaet-jena-rechtsextremer-im-nadelstreifenanzug-a-133160.html; letzter Zugriff: 10.1.2020.

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habe »gute Verbindung« zu Wolfgang Harich, »der inzwischen verhaftet« worden sei.1105 Am 27. Februar 1957 wurde er von der Grundorganisation (GO) Philosophie der Universität Jena aus der SED ausgeschlossen. Sechs Mitglieder von insgesamt 45 stimmten dagegen. Die Begründung lautete auf »parteifeindliche ideologische Zersetzungsarbeit sowohl auf theoretisch philosophischem Gebiet, wie auch in praktisch politischen Fragen«.1106 Das MfS beschloss am 6. Mai 1957, ihn operativ zu bearbeiten: Zehm sei Schüler von Bloch und müsse deshalb »als bewusster Gegner unserer Republik betrachtet werden«.1107 Er wurde 1957 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, wovon er drei Jahre in den berüchtigten Zuchthäusern in Waldheim und Torgau einsaß. Nach der Amnestie 1960 ging er 1961 in die Bundesrepublik. Dort studierte er an der Universität Frankfurt u. a. bei Theodor W. Adorno. Ob Wiese, Müller-Mertens oder Zehm, sie alle hatten Vertrauen gegenüber der Wahrheitsverpflichtung der Wissenschaften als eine Art von Kategorischem Imperativ; Vertrauen, das ihnen die SED-Funktionäre postwendend entzogen. Ein Leben ohne Vertrauen innerhalb einer Familie ist zum Untergang verdammt. Die christliche Theologie kommt ohne den Begriff Vertrauen generell nicht aus, kaum ein Gebet, eine Predigt, ein Gedanke zum Tag, der nicht auf irgendeine Weise an dieses Wort erinnert. Das Wort von Johannes vom Kreuz enthält – auch als dessen Negation  – bereits alle entscheidenden Merkmale der Bedeutung des Vertrauens mit Blick auf diese Untersuchung: »In der Bedrängnis wende dich sofort voll Vertrauen an Gott, und du wirst gestärkt, erleuchtet und belehrt.« Es ist ein zweiseitiges Verhältnis, das hier ausgedrückt ist. Wer Vertrauen erlangen will, muss selbst schon zum Vertrauen bereit sein. Einerseits wird Vertrauen ohne Vorleistungen erwartet, andererseits sind wir es selber, die Vertrauen allererst schenken müssen: »Die Verwirklichung vieler Dinge hängt von dem Vertrauen ab, mit dem wir sie erwarten, erhoffen, erbeten.« So der Theologe und Widerstandskämpfer Alfred Delp.1108 Ute Frevert diskutiert die(se)  Asymmetrie zwischen Vertrauensnehmer und Vertrauensgeber und zeigt, dass diese naturbedingt eintritt, da es sich bei dem Vertrauensakt eben nicht um einen Kooperationsvertrag mit Prüf- und Kontrollinstrumenten handelt. Vielmehr ist es ein vor-rationaler Akt, der »sich nicht auf einer Matrix rationaler Entscheidung abbilden« lässt.1109 Hartmann, die zentrale Person des folgenden Hauptkapitels, forderte Vertrauensschenkung expressis verbis, also bei Weitem nicht nur indirekt, immer wieder ein. Er konnte dies, weil er in Bezug auf die Sachfragen ein starkes Selbstvertrauen besaß. Vertrauen hängt offenbar eng 1105  BV Leipzig, Abt. V/1, vom 5.1.1957: Auszug aus dem Material über Bloch; BStU, MfS, BV Gera, AOP 96/57, Gruppenvorgang Nr. 6/57, Bl. 19 f. 1106  BV Gera, KD Jena, vom 5.4.1957: Aktenvermerk; ebd., Bl. 87. 1107  Ebd., Bl. 103 f. 1108  Zitiert aus: Das Wort Gottes für jeden Tag 2015, Tag: 20.2.2015. Leipzig 2014. 1109  Frevert: Vertrauensfragen, S. 17–21.

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mit Selbstvertrauen zusammen und so wundert es nicht, dass Ulbricht (zumindest partiell) Vertrauen schenken konnte, nicht aber Honecker, der sich selbst nicht geglaubt haben mag. Vertrauen findet seinen Ausdruck in Aushandlungsprozessen. Ohne Wagnis geht dies nie. Ginge dies, wäre Vertrauen obsolet. Robert Spaemann hat dies in seinem Aufsatz »Vertrauen – ein Wagnis« zur Sprache gebracht: »Das Vertrauen in Menschen beruht nicht auf einem Wahrscheinlichkeitskalkül, sondern ist eine Form von Gewissheit. Dieser Gewissheit entspricht aber objektiv nur eine hohe Wahrscheinlichkeit. Sie kann trügerisch sein. Aber diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen wäre bereits die Zerstörung. Kein spieltheoretischer Kalkül kann hier weiterhelfen. Die Kluft zwischen dieser Wahrscheinlichkeit und dem Wagnis des Vertrauens ist der Gegenstand, der mich damals beschäftigte.«1110 Und dieses Damals war seine Geschichte mit der SED, die er erfahren hatte (siehe S. 100). Was gehört in die Definition des Vertrauens, damit der Begriff für die Gegenstandsbereiche vorliegender Untersuchung kategoriale Bedeutung bekommt, auch wenn wir sie hier nicht operational und formativ genutzt haben? Zur Beantwortung dieser Frage mag die Interpretation des Buches Rut (3,1–18) von Thomas Koppehl zielführend sein, die auch auf Spaemanns »DDR-Aufsatz« weist: »Vertrauen ist immer mit diesem Wagnis, sich auf das Handeln des andern anzuweisen, verbunden.«1111 Bernhard Gotto zeigt in einem kritischen Beitrag zur Problematik des Begriffs Vertrauen in der politischen Diplomatie drei Hauptlinien in der historischen Beschäftigung mit diesem Begriff auf. Erstens Vertrauen als Gefühl. Die persönlichen Beziehungen besitzen hier kardinale Bedeutung. Zweitens: Vertrauen als operatives Ziel außenpolitischen Handelns. Diese Modalität kommt ohne das Attribut, wie wir sehen werden, beim vorliegenden Untersuchungsgegenstand am häufigsten vor. Drittens als rhetorische Strategie. Die, so muss hinzugefügt werden, oft einen ausgeprägt appellativen Zug besitzt. Mit Vehemenz treffen wir diese dritte Form aufseiten des MfS an. Wie einen Stempelaufdruck verlangte es von seinen inoffiziellen Mitarbeitern, ihm Vertrauen entgegenzubringen. Andererseits war es das Organ schlechthin, das überhaupt kein Vertrauen besaß, ja, geschenktes und erworbenes Vertrauen brutal brach, oder seine inoffiziellen Mitarbeiter anwies, es zu brechen. Keine zweiseitige Vertrauens-Balance war (und ist bei Geheimdiensten generell) so fundamental gestört wie jene, die in der Institution MfS gelebt worden ist. Obgleich es scheint, dass diese drei Linien erschöpfend die Phänomene des Vertrauens beschreiben können, fand Gotto mit Recht, dass diese Erklärungsmuster nicht hinreichend sind. Und dies ist jene, eher sublime Form oder Dimension des Vertrauens, die die »soziologische Definition von Vertrauen als eine generalisierte Erwartungshaltung bei Unsicherheit über das Verhalten anderer« zu beschreiben in

1110  Spaemann: Über Gott und die Welt, S. 72. 1111  Evangelischer Kalender »Sonne und Schild«. Leipzig 2013, Tag: 11.7.2014.

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der Lage ist.1112 Gottos Hinweis auf diese Seite des Vertrauens zielt ins Zentrum vorliegender Untersuchung; Gotto: »Vertrauen bedeutet demnach, vom Wohlverhalten eines Gegenübers auszugehen, dessen Entscheidungen und Absichten man nicht kennt. Einer der Autoren des Bandes, so Gotto, nämlich Matthias Peter habe dieses Vertrauen ›paraphrasiert‹ als ›Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit, Berechenbarkeit und Transparenz‹«.1113 Oben, bei Koppehl, steht es begrifflich vollendeter: sich auf das Handeln des andern anzuweisen. Bei Werner Hartmann, aber auch bei zahlreichen anderen bürgerlichen Wissenschaftlern, hieß dies übersetzt: Lasst uns nur machen. Dies nennt Peter eine Beschwörungsformel.1114 Gotto diskutiert hieran die Frage, welche Rolle Verhaltenserwartungen spielen, »also Vertrauen oder Misstrauen als Ersatz für Sicherheit und Wissen«. Genau dies ist der definitorische Kern jenes Vertrauens, um den es hier geht. Gotto meint, dass man, »wenn man solche Erwartungen zum Gegenstand der Analyse macht«, »feste Kriterien« gewinnen könne, »um Vertrauen dingfest zu machen« und somit dem Begriff die Unschärfe entstanden durch Emotionen nehmen könnte. In der Analyse mag das gelingen, aber im Leben? Da hilft eher die Beziehungsarbeit, wie sie Frevert für die dauerhaft gelingende Liebe für notwendig erachtet.1115 Anders gesagt: Mit dem Akt der gegenseitigen Vertrauensschenkung sind die Akteure fortan bis zum Gelingen der Sache aufeinander angewiesen. Ein anderer Autor des von Gotto abschließend besprochenen Bandes, Peter U. Weiß, wählte hierfür die Kommunikationsdichte als Substitutions- und Erklärungselement.1116 Das trifft in den vorliegenden Fällen allerdings eher nicht zu, wie wir sehen werden. Vertrauen hatte Hartmann in Erich Apel und nicht etwa in Otfried Steger, den Minister für Elektrotechnik und Elektronik, obgleich er sich mit Letzterem in derselben Sache öfter getroffen und besprochen hatte. Vertrauen hatte Ernst August Lauter (Hauptakteur im zweiten Hauptkapitel) lange Zeit in Wolfgang Böhme, auch womöglich umgekehrt, jedoch missbrauchte Letzterer das ihm geschenkte Vertrauen zum Schaden der Sache (!) auf das Gewissenloseste. Und vertrauen mussten sie sich, wie wir sehen werden. Beide, obgleich in eher konkurrierenden Institutionen beschäftigt, trafen und sprachen sich häufig. Freilich existierte auch so etwas wie eine Dichte hinsichtlich nicht gerechtfertigten Vertrauens. Im Rahmen klinischer Studien zur Krebs-Mehrschritt-Therapie an der Medizinischen Akademie Dresden 1112  Gotto, Bernhard: Kommentar, in: Kreis, Reinhild (Hrsg.): Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, München, Boston 2015, S. 98 f. 1113  Peter, Matthias: Vertrauen als Ressource der Diplomatie. Die Bundesrepublik Deutschland im KSZE-Prozess, in: Kreis, Reinhild (Hrsg.): Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, München, Boston 2015, S. 65–82, hier 68. 1114  Vgl. ebd., S. 78. 1115  Frevert: Vertrauensfragen, S. 63. 1116  Vgl. Gotto: Kommentar, S. 100 f.

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bekam Ardenne 1981 nicht mehr das gewünschte Grüne Licht für diverse Mittelzuweisungen wie gefordert. Bei einem Treffen von Ardenne mit Herbert Weiz und Ludwig Mecklinger vom Ministerium für Gesundheitswesen (MfG) am 23. Juli 1981 bat er diesen, »ihm trotz gegenteiliger Urteile einiger Experten Vertrauen zu schenken, weil das, was er wolle, richtig sei. Die Minister wiesen die Bitte um Vertrauen als unangemessen zurück und erinnerten ihn daran, dass er in der Vergangenheit oft und mit Nachdruck ›Experimente mit Menschen‹ gefordert habe, von denen er heute selbst sagt, dass sie zu früh gekommen seien. Sie gestanden ihm jedoch zu, seine medizinischen Forschungen weiterhin als ›Sonderforschungsvorhaben‹ zu fördern.«1117 Die Frage, die sich für die Untersuchung für jene Leser stellt, die der Kategorie »Vertrauen« besondere Beachtung schenken wollen, heißt, wie interpersonales Vertrauen überhaupt aus den Akten des BStU destillierbar ist, nämlich unabhängig von den direkten Aufweisen. Gotto schreibt, selbst wenn Quellen interpersonales Vertrauen oder Misstrauen belegen, »bleiben Zweifel bestehen, ob Sympathie beziehungsweise Abneigung zwischen« den »Akteuren« handlungsleitend1118 waren oder mit anderen Worten: einen signifikanten Einfluss auf Handlungen, Entwicklungen und Geschehen ausübten. Wir werden unten sehen, dass dieser Zweifel in den Quellen des BStU weniger einen Grund findet als in den gewöhnlichen, staatlichen und institutionellen Archiven der DDR! Es ist zwar eine dringende Frage, die generell bei Quellen zu stellen ist, doch fällt auf, dass bei den Akten des BStU der Begriff, besser: der Tatbestand des Vertrauens, jedenfalls bei der Natur des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes, mehr als oft mit Händen zu greifen ist. Anders gesagt: wir müssen den Begriff erst gar nicht vermuten, konstruieren oder suchen. Vertrauen war in den Quellen dieser Provenienz quasi kristallin abgreifbar: Vertrauen darauf, dass das Vorhaben gelingen mag, vertrauen auf Gesetze, vertrauen auf Absprachen, vertrauen auf die (eigene)  Tradition, vertrauen auf die Institutionen, vertrauen auf das Faktische, vertrauen auf die Normativität des Faktischen, vertrauen auf die Logik des Faches, vertrauen auf den Fortschritts(gedanken), vertrauen auf die Zukunft, vertrauen auf die Fachschaft, vertrauen auf den oder die Wissenschaftlerkollegen. Und das Misstrauen dazu ein Antonym, als eine universale Gewissheit in einer Hinsicht: auf die Versprechungen der SED. Versuche von Autoren, sich der Kategorie Vertrauen bei der Untersuchung der volkswirtschaftlichen und wissenschaftlichen Welten der DDR zu bedienen, sind rar. Nahezu allein steht hier Schramms mutiger Versuch, die Frage des Vertrauens in den Zusammenhang mit der Frage der Innovationsfähigkeit zu stellen. Es ist leider evident, dass es ihm wenig gelingt, den Begriff des Vertrauens kategorial so zu operationalisieren, dass dieser in der Lage wäre, aus den gleichsam naturalen Konflikten das Element Vertrauen so zu destillieren, dass wir Erklärungsgewissheiten bekommen könnten, warum das DDR-System auch hinsichtlich dieser Frage scheiterte. 1117  Barkleit: Manfred von Ardenne, S. 223. 1118  Gotto: Kommentar, S. 102.

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Dennoch ist dieser Frageansatz wichtig. Schramm fragt, was Vertrauen überhaupt sei und wie es zustande komme. Er erwähnt Definitionsversuche zahlreicher Autoren wie zum Beispiel Anette Baier, Diego Gambetum und Barbara Misztal, nicht aber Niklas Luhmann1119. Das ist verblüffend. Auch ist zu bezweifeln, ob wir mit metaähnlichen Definitionen wie jene von Peter Preisendörfer, wonach Vertrauen »ein sozialer Mechanismus« ist,1120 empirisch wie erkenntnistheoretisch weiterkommen. Denn was ist Vertrauen sonst! Und warum Mechanismus? Interagieren Menschen wie Maschinen? Schramm scheint sich festgelegt zu haben, dass Vertrauen eben nicht nur eine moralische oder intrinsische, also psychologische Kategorie sein kann. Schramm zeigt, wo Vertrauen auftritt: nämlich Vertrauen gegenüber nahestehenden Personen und Vertrauen Systemen gegenüber, zum Beispiel gegenüber einem Rechtssystem.1121 Im Kontext dieser Untersuchung ist Vertrauen jedoch nahezu ausschließlich gegenüber konkreten Personen zu denken, die in sozialen (funktionalen) Rahmen agierten, in denen eben nicht grundsätzlich oder blind vertraut werden konnte. Es ist eine Art von Vertrauensschenkung in einem System der offenkundigen Vertrauenslosigkeit, des Misstrauens. Und genau hier steckt ein Problem, denn Vertrauen ist notwendig an zwei ganz konkreten Bedingungen geknüpft: Es bedarf der Freiheit und der Verantwortung. Beides aber existierte in der DDR nur sehr verkümmert, lokal und temporär. Aber es existierte, sonst hätte es Vertrauen überhaupt nicht geben können. So gesehen bildete in der DDR Vertrauen eine Anomalie. Doch das beschreibt nur eine Seite. Eine andere ist die, dass aufgrund einer äußerst verknappten naturalen Zuweisung in allem (!) notwendig Vertrauen gestiftet wurde und werden musste: Man war gehalten, mit anderen Deals zu schließen, sonst wäre vieles erst gar nicht zustande gekommen. Deals auch gegen die Planaufsicht! Deals gegen die Ungewissheit. Ein Vertrauen »in das geregelte Funktionieren« – nach Schramm – konnte es in der DDR in der Tat nicht geben, wohl aber partiell zu Personen in diesem System, die Vertrauen schenkten oder verhießen. Nur verlegt er die Beweisführung seines Vertrauenskonzeptes in die Mesoebene, wenn er einräumt, dass »die Bedeutung persönlicher Beziehungen und des politisch-administrativen Rahmens nicht unterschätzt werden« dürfe.1122 In der Neuen Institutionenökonomie1123 sieht er eine formlose Institution, »deren Vorhandensein für den wirtschaftlichen Erfolg einer Gesellschaft wichtig« ist. Genau dies aber ist unter dem Gesichtspunkt der zentral1119  Luhmann, Niklas: Vertrauen. Stuttgart 2000. 1120  Preisendörfer, Peter: Vertrauen als soziologische Kategorie. Möglichkeiten und Grenzen einer entscheidungstheoretischen Fundierung des Vertrauenskonzepts, in: Zeitschrift für Soziologie 24(1995)4, S. 263–272; vgl. auch Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 19. 1121  Vgl. Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 20. 1122  Ebd., S. 20. 1123  Abkürzung NIÖ. Sie untersucht speziell die Transaktionskosten zwischen zwei Handelspartnern im weitesten Sinne. Es werden die Wirkungen von Institutionen etwa des Rechts, der Politik oder der Wirtschaft auf untere Wirtschaftseinheiten wie etwa Unternehmen untersucht.

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gelenkten, oft aktionistischen Zuweisung, und noch öfter der beziehungsgelenkten knappester oder gar nicht vorhandener naturaler Faktoren nahezu abwegig. Für die DDR kann die Neue Institutionenökonomie schlechterdings nicht gelten. Als nicht realistisch, und hierin ist ihm unbedingt beizupflichten, sieht er jene »Erwartungen« an, »die sich auf die Absicht, nicht aber« auf »die Kompetenz eines Akteurs beziehen«. Schramm bezieht seine Kritik auf Tanja Rippergers Auffassung:1124 »Um eine riskante Vorleistung zu erbringen, muss der Vertrauensnehmer in den Augen des Vertrauensgebers nicht nur guten Willens, sondern vielmehr auch in der Lage sein, seine Versprechen einzuhalten.«1125 Genau dies ist z. B. bei Hartmann der Fall. Schramm ahnt zwar, dass es in der DDR wegen ihrer Verfasstheit weniger Vertrauen geben musste, weiß aber nicht recht, »unter welchen Bedingungen Vertrauensnetzwerke in der DDR entstehen und fortdauern konnten«.1126 Schramms Frage, ob Vertrauen »eine wichtige Rolle bei Forschungs- und Entwicklungskooperationen« spielte oder ob nicht andere Koordinierungsmechanismen »wie Markt oder Hierarchie« ausreichten,1127 ist kaum diskussionsfähig, da es keinen Markt gab, der ernstlich Innovationsleistungen hätte befördern können. Grundsätzlich gilt im Falle der DDR: Vertrauen war in den komplexen Beziehungs- und Handlungssystemen, also in den Betrieben und Institutionen, so notwendig wie auch gleichzeitig unmöglich. Die zentralistisch formierten Verwaltungsmechanismen und die dreifach angelegten sich gegenseitig misstrauenden Machtstrukturen (SED, staatliche Ebene, MfS) standen einem Vertrauen nahezu feindlich gegenüber. Allerdings nicht so krass für die Aufbauphase der 1950er-Jahre. Für die DDR gilt, dass deren »Koordinierungsmechanismus ›Hierarchie‹« extrem ausgebildet war und wegen seiner Starrheit per se andere Koordinierungsmechanismen unmöglich machte, sieht man einmal von Pseudokoordinierungsmechanismen mit geringem Handlungsspielraum ab (etwa die Rolle des FDGB). Wir haben dies oben kurz unter dem Aspekt der Koersion abgehandelt. Hervorzuheben aber ist, dass ein solch starres, zentralistisch formiertes Hierarchiekonzept in den volkswirtschaftlichen Handlungsräumen (Forschung, Entwicklung, Produktion und Handel) geradezu nach Elastizität schrie. Vertrauen war partiell und in kleinen Handlungsräumen ein unüberschätzbares Mittel gewesen, Tempoverluste und Starrheiten zu minimieren. Erst mit Honeckers Machtantritt verlor sich auch dieses Mittel und degenerierte zu einem unbedeutenden Residuum. Vertrauen ist ein universell angewandter Begriff, der überall in den Sphären der Gesellschaft der DDR latent vorhanden war und immer dann erinnert oder gefordert worden ist, wenn administrierte Handlungsabläufe gegen individuell notwendige Entscheidungen in konträre Lagen gerieten. Das folgende Beispiel aus der Literatur 1124  Ripperger, Tanja: Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips. Tübin­ gen 1998, S. 39 f. 1125  Schramm: Die Kategorie Vertrauen in Innovationsprozessen, S. 23. 1126  Ebd., S. 24. 1127  Ebd., S. 26.

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mag für alle gesellschaftlichen Bereiche stehen. Nach seiner Solidarisierung mit Wolf Biermann, die er nicht widerrief, schrieb Franz Fühmann am 29. Mai 1978 an Günter Rücker – indem er die »unglaublichen Maßnahmen« gegen sich erwähnt – und um Informationshilfe bat. Zu ihm habe er schließlich »Vertrauen« (Rücker war Sekretär der Akademie-Sektion). Dagegen könne er nach seiner »statutenwidrigen Aussperrung vom Kongress keinen Funken Vertrauen zum Apparat des Verbandes mehr aufbringen«.1128 Am 6. Mai 1978 hatte er den Staatssekretär im Ministerium für Kultur, Kurt Löffler, um ein Gespräch gebeten über unzumutbare Dinge, die ihm widerführen, etwa von der »merkwürdigen Ausschließung vom Schriftstellerkongress« und einer »merkwürdigen Folge und Fülle gezielter Verleumdung«. Er jedenfalls wolle »mit vollem Vertrauen kommen«, vergisst aber nicht zu betonen, dass, sollte eine dritte Person hinzugezogen werden, dies nicht Gerhard Henninger, der 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR, sein dürfe.1129 Das war exakt jene Situation, in der sich die Protagonisten der Hauptkapitel des Öfteren befanden. Die Vertrauenseinforderung war in der DDR vor allem eine Forderung nach Partizipation im herrschaftsgesättigten System. Da, wo alles geplant wurde, eigenmächtige kreative Mitwirkung nicht erwünscht war, wo das Risiko zunehmend und später nahezu völlig vermieden werden musste (Kap. 4.1.2), egal ob infolge der strikten Durchplanung der Forschungs- und Entwicklungsprozesse und / oder der Angst vor Bestrafung, war Vertrauen nur schwer möglich. Anthony Giddens diskutiert für die Frage der Wirkungen in der Spätmoderne Probleme des Verhältnisses von Risiko (Risikogesellschaft) und Vertrauen (Vertrauensmechanismen).1130 Tatsächlich hatte sich ein solches ambivalentes Verhält­nis auch in der DDR entwickelt: Mit dem Scheitern als Wissenschafts- resp. Industriefunktionär, und das war gleichsam an der Tagesordnung, war weniger ein finanzieller Ruin, denn ein gesellschaftlicher Absturz, wenn nicht gar eine Inhaftierung verbunden. Vertrauensmechanismen kamen auf diese Weise gar nicht erst zum Tragen, desto mehr aber Rück- und Versicherungsmechanismen. Giddens: »Aktives Vertrauen stellt sich nur mit erheblichem Aufwand ein und muss wachgehalten ­ artmann, der werden.«1131 Wie sehr das zutraf, zeigt einmal mehr das Beispiel H dies, im Unterschied zu vielen Zeitgenossen, nicht nur erwartete, sondern auch einforderte – und expressis verbis nicht erhielt (siehe S. 441). Giddens: »Vertrauen muss erworben werden und sich bewähren, was in der Regel voraussetzt, dass man sich mit dem anderen austauscht und ihm gegenüber emotional aufgeschlossen ist.«1132 Dieser so einsichtigen wie notwendigen Forderung stand in der DDR die faktische, gefühlte und / oder gewusste Existenz des Denunzianten und des Spitzels entgegen. Es bildeten sich Vertrauensinseln. Giddens weiter: »Innerhalb von Orga1128  Schreiben von Fühmann an Rücker vom 29.5.1978; BStU, MfS, AOP  3764/89, Bd. 3, Bl. 167 f., hier 167. 1129  Schreiben von Fühmann an Löffler vom 6.6.1978; ebd., Bl. 192. 1130  Vgl. Giddens: Risiko, Vertrauen, Reflexivität, S. 319. 1131  Ebd., S. 319. 1132  Ebd., S. 320.

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nisationen beruht aktives Vertrauen auf einer institutionellen ›Öffnung‹. Damit in diesem Kontext ›Autonomie‹ entstehen kann, sind persönliche Verantwortung und von unten nach oben sich durchsetzende Entscheidungsverfahren erforderlich.«1133 Das ist genau jener Umstand, der in der DDR nicht gegeben war. Den eigenen Weg gehen dürfen, wie Hartmann und andere, verkennt  – mit Guntolf Herzberg gesagt –, »dass hochindustrialisierte Gesellschaften – und dazu gehören typmäßig einige sozialistische Länder – so komplex strukturiert sind, dass Basisentscheidungen nach dem Muster der urgesellschaftlichen Volksversammlung, der athenischen Demokratie, der Pariser Kommune oder des Habermas’schen ›herrschaftsfreien Dialogs‹ auf das technologische und damit auch auf das zivilisatorische Niveau destruierend wirken müssen, weil keine gesellschaftlichen Gruppen außerhalb der Staats- und Wirtschaftsapparate über die notwendigen Informationen hinsichtlich der Ressourcen, Inputs und Outputs, der Vernetzung usw. verfügen und deshalb den ökonomischen Mechanismus nicht aufrechterhalten könnten.« Eine Alternative sieht Herzberg im individuellen Weg des Ausstiegs oder in der Partizipation (Vertrauen geschenkt bekommen und dafür die Leistung geben: Belohnung nach beiden Seiten!).1134 Vertrauen stiftet Motivation und Mut, mündet in Invention und Innovation. Heute wissen wir mit Blick auf die Techniken und Methoden des Staatssicherheitsdienstes, wie trügerisch alltäglich geschenktes Vertrauen war, da es systematisch von inoffiziellen Mitarbeitern gebrochen wurde. Wer in der DDR nicht naiv war oder sich in Ignoranz übte, musste gewahr sein, überall abgehört oder denunziert zu werden. Ein Beispiel: Der inoffizielle Mitarbeiter »Müller« hatte von einem Gespräch zwischen dem Leiter der Investabteilung der Leipziger Akademie-Institute [X] und einem Mitarbeiter seines Hauses [Y] erfahren. Das Gespräch drehte sich um die Frage, ob es sinnvoll und möglich sei, eine Sprechfunkanlage im Institut für physikalische Stofftrennung Leipzig (IpS) zu installieren. Der Leiter [X] habe dabei auf Leibnitz verwiesen, der von solchen Dingen ein Gegner sei, da eine solche Anlage die Arbeit empfindlich stören werde. Der Mitarbeiter des IpS [Y], das wolle ihm [X] »kameradschaftlich anvertrauen«, möge über dieses Projekt mit Justus Mühlenpfordt bitte »nicht in« dessen Arbeitszimmer sprechen, da dort »Abhöranlagen eingebaut« seien. »Abhöranlagen befänden sich außerdem in allen Arbeitszimmern der übrigen Direktoren.« Der Leiter der Investabteilung bat dem Mitarbeiter des IpS [X], »diese Mitteilung als vertraulich zu behandeln«.1135 Bei diesem Fall handelte es sich um ein im Überkontext »Generelles Misstrauen in der DDR« eingeschachteltes Paar, bestehend aus einem Misstrauensbeweis bei gleichzeitiger Vertrauensschenkung. Dies war typisch und formierte nicht selten Absprachen und Handlungen. 1133  Ebd., S. 321. 1134  Herzberg, Guntolf: Modell einer herrschaftsfreien Kommunikation, in: Initial. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 1(1990)2, S. 135–147, hier 145 f. 1135  BV Leipzig, Abt. VI, vom 27.10.1961: Bericht von »Müller« am 27.10.1961; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1992/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 191.

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In diesem Fall aber brach – und das war mit Blick auf die Spitzeldienste für das MfS alles andere als selten – der um Vertrauen gebetene Mitarbeiter [Y] das Vertrauen, denn er berichtete ja mindestens einem Kollegen hiervon, nämlich Klaus Wetzel alias GI »Müller«. Und der wiederum brach es auch, indem er es noch am selben Tag dem MfS berichtete.1136 Kaskaden des Vertrauensmissbrauchs. Wer – sozial und allgemein gesellschaftlich gesehen – Misstrauen säte, und dies war die tiefste Essenz des MfS, der darf sich nicht wundern, dass Vertrauen sich versteckte, dass die Freiheitsgrade geringer und schwächer wurden und somit Leistungsbereitschaft, Innovationskraft, Kreativität und Mut zum Risiko abstarben, sich, wenn möglich, in Refugien begaben oder gar begruben. Das wiederum mag einige gesellschaftliche Verwerfungen erzeugt haben, die als personale Defizite heute immer wieder im politischen Raum diskutiert werden. Misstrauen stiftet Angst, Vorsicht und Verzicht. Misstrauen kann durchaus als Primärtugend und Primärkategorie des MfS angesehen werden: siehe hierzu auch Kowalczuks Hinweis auf die Biografie des HV A-Mannes Arthur Illner alias Richard Stahlmann, der seinen Namen alle Ehre machte, als er von Otto Last gefragt wurde, ob er für einen bestimmten Genossen beide Hände ins Feuer legen würde, und antwortete: »Die linke Hand ganz und von der rechten drei Finger. Zwei Finger muss man im Klassenkampf immer noch haben, um abdrücken zu können.«1137 Hanisch fand bei seiner Recherchearbeit zu Hartmann in Auswertung von Archivunterlagen folgende Äußerung Hartmanns: »Wir wussten, dass wir nur in einer Welt, in der wieder das Vertrauen von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, von Staatsmann zu Staatsmann zu wachsen beginnt, darauf hoffen konnten, die Heimat wiederzusehen. Wir haben diese Krankheit der Menschheit, das Misstrauen, am eigenen Leibe in aller Härte und Eindringlichkeit, die oft, sehr oft außerordentlich schmerzlich war, fühlen müssen.« Dies hatte Hartmann offenbar im Mai 1960 im Zusammenhang einer Reise in die Sowjetunion gesagt und niedergeschrieben.1138 Eine Erfahrung, die er später noch um einiges schmerzlicher verspüren sollte. Diese krankhafte Brutalität des Misstrauens ist durch Lenin wesentlich »kulturfähig« gemacht worden. Kowalczuk zitiert in seinem Buch Stasi konkret Äußerungen Stalins auf dem XVII. Parteitag der KPdSU im Januar 1934, dass sich die Parteiführung vom »genialen Gedanken Lenins leiten« lasse, wonach »die Hauptsache in der Organisationsarbeit die Auswahl der Menschen und die Kontrolle der Durchführung der Beschlüsse« sei.1139 Übersetzt hieß dies in der sprichwörtlich gewordenen Weise: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Kowalczuk verweist an anderer Stelle auf einen unbekannten Autor, der 1931 gesagt haben soll: »Das Vertrauen 1136 Ebd. 1137  Anonyme Verfasser: Aus dem Leben eines Berufsrevolutionärs. Erinnerungen an Richard Stahlmann. Gedruckt: Offizin Andersen Nexö, jedoch nur im MfS »verteilt«. Leipzig 1986, S. 93. 1138  Hanisch: Auswertung von Archivunterlagen vom 3.6.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 8, Bl. 279 f., hier 279. 1139  Kowalczuk: Stasi konkret, S. 47.

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in der revolutionären Partei fußt einzig und allein auf organisierter Kontrolle.«1140 Und nichts anderes lebte das MfS! Nochmals Kowalczuk, den Alt-MfSler Heinrich Fomferra zitierend: »Die Arbeit in der Staatssicherheit wurde immer als ›Parteiarbeit betrachtet und auch gewertet‹.«1141 Kowalczuk trifft Wesen und Kern von SED und Staatssicherheitsdienst, wenn er schlussfolgert, dass es »kein zwischenmenschliches Vertrauen« hat geben können. Da scherte im Grundsätzlichen nicht einmal Walter Ulbricht aus, der ja, wie wir oben gesehen haben, bürgerlichen Wissenschaftlern mit Vertrauensvorschuss den Hof zu machen verstand. Aber parallel dazu existierte eben der andere Ulbricht: »Wir müssen überall Vertrauensleute haben und müssen wissen, was los ist.«1142 Die oberste Behörde des universellen und generellen Misstrauens bediente sich in der Vertrauensfrage einer beispiellosen Schizophrenie, da hieß es nicht selten in der Anleitung von inoffiziellen Mitarbeitern: »Vorbehalte, Misstrauen abbauen!« Und so können wir mit Niklas Luhmann in der Frage des Vertrauens schließen: »Die prekäre Natur des Vertrauens findet schließlich in der Art und Weise Ausdruck, wie es in die Umwelt rückprojiziert wird. Menschen und soziale Einrichtungen, denen man vertraut, werden dadurch zu Symbolkomplexen, die besonders störempfindlich sind und gleichsam jedes Ereignis unter dem Gesichtspunkt der Vertrauensfrage registrieren. […] Eine Lüge kann das gesamte Vertrauen zerstören, und gerade die kleinen Missgriffe und Darstellungsfehler entlarven durch ihren Symbolwert oft mit unerbittlicher Schärfe den ›wahren Charakter‹.«1143

1140  Ebd., S. 48. 1141  Ebd., S. 62 f. 1142  Ebd., S. 48 u. 55. Kowalczuk zitiert den Bericht über die Innenministerkonferenz vom 12.10.1947; hier Quellenhinweis auf: SAPMO, BArch, DY 30, IV 2/13/109, Bl. 74. 1143  Luhmann: Vertrauen, S. 35 f.

4  Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie

4.1  Der Visionär oder die Entwicklung der Mikroelektronik Sie wurden »nicht verstanden und deswegen gefürchtet, verfolgt, schikaniert und manchmal auch physisch liquidiert. Auch ich rechne mich zu diesen Menschen, meine Weitsicht betraf die Mikroelektronik, mein Kampf für sie, meine Erfolge und die dann folgende Behandlung ab 1974 berechtigen mich dazu.«1

Eine Nachgeschichte Es war ein regnerischer Tag, an dem ich mich 2001 das erste Mal mit Renée ­Hartmann, der Witwe von Werner Hartmann traf. Sie holte mich am Dresdener Bahnhof ab, wir sprachen über den freien Fall der Sitten in Dresden und ganz allgemein über die Bildungssituation, die neuen Machtverhältnisse im Lande und die Schänder von SED und MfS. Sie war voll ungebrochenen Zornes, eine Art von Kraft, die nicht wusste, wohin. Sie weinte viel an diesem Tag. Sie hatte mit ihrem Mann eine Zweisamkeit geteilt, wie sie nicht häufig vorkommt in der Welt, und wenn doch, dann meist spät: das Hohelied der Liebe. Es war Hartmanns dritte Ehe, geschlossen 1971. Wenn die Erinnerungen sie fortzureißen drohten, kam sie unvermittelt zur Sache, zur Sache ihres unermüdlichen Kampfes für die Rehabilitation ihres Mannes. Das war ihr einziger Halt. Sie schrieb unmittelbar nach der ostdeutschen Revolution Briefe, Petitionen und Eingaben an zahlreiche Institutionen, Behörden, Personen und Honoratioren. Auch Kurt Biedenkopf war bei ihr zu Hause, hörte zu. Doch eine Rehabilitation ist immer nur ein vergeblicher kosmetischer Versuch, ein böses Geschehen angemessen zu sühnen. Eine Werner-Hartmann-Straße, die frühere Straße E im Stadtteil Albertstadt, erinnert seit 1997 an ihn. Renée Gertrud Hartmann schrieb mir vordem: »Ende der 1950er-Jahre erkannte mein Mann mit Weitblick die Bedeutung der Mikroelektronik und verglich sie mit der Erfindung des Rades. Mit Unterstützung von Dr. Erich Apel, dem damaligen Wirtschaftschef der DDR, baute er im wahrsten Sinne des Wortes auf der grünen

1 Hartmann reflektiert ein Gedicht von Max von Pettenkofer auf den Mitbegründer der modernen Chemie, Antoine Laurent de Lavoisier, der hingerichtet worden ist. Alles was ich tat, so Hartmann sinngemäß über sich selbst, tat ich, um die Wirtschaft voranzubringen, die DDR aber befürchtete die Veränderung des Bestehenden. TSD; Nachlass Hartmann, H 3.

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Abb. 14: Renée Gertrud und Werner Hartmann am Lago Maggiore, 1984

Wiese in Dresden die Arbeitsstelle für Molekularelektronik auf. Sie war Keimzelle, Innovationszentrum und Produktionsstätte zugleich. Dr. Apel musste sich später an seinem Schreibtisch erschießen, nach Ansicht von Insidern auf Betreiben von Dr. Günter Mittag. Dieser Selbstmord veränderte die Situation. Die Mikroelektronik war schwer durchschaubar für Ideologen, sie war geradezu prädestiniert dafür, mit dem systembedingten Unverstand zu kollidieren. Mittag bezeichnete die Mikroelektronik als das persönliche Hobby meines Mannes, andere Funktionäre taten das Thema als Spinnerei ab. Nach zwei Nationalpreisen lag sein Engagement immer noch zwischen Enttäuschung und Hoffnung; es war ein Seiltanz der größten Kompromisslosigkeit, die gerade noch lebbar war. Mein Mann war kein handlicher Typ für Ideologen  – ein etwas viereckiger Geradeausdenker, der in kontroversen Diskussionen immer nur die Priorität für die Effizienz seiner Arbeit kannte. Dank seiner Souveränität und seiner anerkannt fachlichen Kompetenz konnte er sich noch eine gewisse Zeit als parteiloser Fremdkörper in der stasi- und parteigesteuerten Wirtschaft halten. 1967 kam es zu einem Eklat mit Mittag. In dem Buch ›Totengräber der Nation‹ von Carl-Heinz Janson kann man nachlesen, dass Mittag Widerspruch niemals duldete oder vergaß. Früher oder später wurde es den Betreffenden mit erbarmungs- und hemmungslosen unsachlichen Argumenten heimgezahlt. Der gesamte Wirkungsmechanismus der DDR stand Mittag dabei eingeübt zur Verfügung. Er wurde der Mephisto des Politbüros genannt. Er war von seiner eigenen Reichweite berauscht, weil er sie als grenzenlos erfuhr. 1974 war es

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soweit!«2 Es ist eine spannende Frage, inwieweit diese, auch aus der Emotionalität geronnene Generalerklärung mit der historiografischen »Wahrheit« übereinstimmt. Dresden ist zumindest zwischenzeitlich einer der führenden Standorte der Mikroelektronik-Hochtechnologie in Europa gewesen. Man spricht in der Stadt stolz von einem »Silicon Saxony«, und es ist auch wahr, wenngleich es nur Wenige wissen, dass es ohne Hartmann diesen Standort heute sicher nicht geben würde. Auch in der Siliziumherstellung für Wafer, Basis der Mikroelektronik, erreichte das nahe Dresden gelegene Freiberg den internationalen Durchbruch. Im Juni 2004 eröffnete dort die Wacker-Tochter Siltronic AG die Produktion von 300-mm-Wafern mit einer monatlichen Stückzahl von 125 000 Scheiben. Das war damals der größte Standort außerhalb Japans.3 Mit Fab 30 und 36 von Advanced Miro Devices (AMD) wurde bis 2004 ein gigantischer Mikroelektronikkomplex in Dresden fertig.4 Wer war Hartmann, dessen Name mit dem Aufstieg und Fall der eher eigenständigen, denn auf Technologieimport setzenden Mikroelektronik-Technologie in der DDR verbunden ist, und der am 30. Januar 1912 in Friedenau, weiland einer Gemeinde im Kreis Teltow, als Sohn eines selbstständigen Malermeisters geboren wurde? Zehnjährig kam er nach vier Jahren Volksschule auf das Steglitzer Reformrealgymnasium, wo er die Reifeprüfung »Mit Auszeichnung« abschloss. Anschließend studierte er an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg Technische Physik zu einer Zeit, als die Industrie »langsam begann, den Wert von Physikern in ihren Fabriken zu erkennen«.5 Dieser auf Praxisbezug und Innovation bezogene Umstand wurde für ihn stilbildend. Es sollte ein fruchtbringendes Studium werden, das seinen Anfang unter Wilhelm Westphal nahm, der im Hause Max Plancks6, des neben Albert Einstein berühmtesten Physikers des 20. Jahrhunderts, verkehrte. Westphal war ebenso Ausnahmedidaktiker wie erfolgreicher Fachautor, auf den u. a. die Einführung des Physikalischen Praktikums an deutschen Hochschulen zurückgeht. Mit Westphal und anderen Studenten nahm Hartmann an Führungen durch Betriebe mit physikalischer Ausrichtung teil, ging zu Abendvorträgen und wanderte an manch einem Sonntag durch den Grunewald. Oftmals endeten diese Disputationsausflüge im Hause Westphals in Berlin-Zehlendorf, wo weiter diskutiert wurde. Da ging es dann weniger um Fakten denn um das »viel wichtigere Verstehen, Durchdringen, Herstellen von Zusammenhängen« physikalischer Gesetzmäßigkeiten und Phänomene. Hartmann wird es später beklagen, dass ein solch »enger freundschaftlicher Kontakt« an den Hochschulen und Universitäten »infolge des Massencharakters der heutigen Ausbildung nicht mehr möglich« war. 2  Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Renée Gertrud Hartmann. Vgl. auch das Interview von Frohse, Jürgen: An der Seite eines Querdenkers, in: Der Elbhang-Kurier (2018)6, S. 16–18. 3  Vgl. Wafer-Fabrik in Freiberg eröffnet, in: VDI nachrichten vom 25.6.2004, Nr. 25. 4  Vgl. High-Tech-Architektur für die nächste Halbleitergeneration, in: VDI nachrichten vom 28.1.2005, Nr. 4. Erklärung zu Fab = Fabrik 30 resp. 36: jeweilige Jahresdifferenz zum Gründerjahr der AMD. 5  TSD; Nachlass Hartmann, C 22. 6  Vgl. Westphal, Wilhelm: Erinnerung an Planck, in: Physikalische Blätter 4(1948)4, S. 167–169.

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Mit den Physikern und Charakterköpfen Wilhelm Westphal, Gustav Hertz und Max ­Volmer hatte er – neben ebensolchen wie den Mathematikern Erich Rothe und Georg Hamel – ausgezeichnete, in Fachkreisen hochgeschätzte Lehrer. Nicht unerwähnt sollen auch der theoretische Physiker Richard Becker und der Atomphysiker Fritz G. Houtermans sein, der in der Geschichte seines Faches und darüber hinaus eine bedeutende Rolle spielte. Ein Unterricht, der Spaß machte und in dem auch Spaß passierte. So »schockierte« Hertz einmal seine Studenten während eines physikalischen Experimentes mit dem Satz: »Ich gehe nun mal mit meiner Flamme hier in die dunkle Ecke des Hörsaals und Sie passen auf, was passiert!« Im Hörsaal brach schallendes Gelächter daraufhin aus, denn um 1930 nannte man seine Freundin noch »meine Flamme«.7 Mit dem Nobelpreisträger von 1925 verband ihn bis zu dessen Tod 1975 eine nahezu lebenslange, wenngleich eigentümlich distanzierte Freundschaft. Von seinen Lehrern spielte neben Hertz auch Volmer, von 1956 bis 1958 Präsident der Deutschen Akademie zu Berlin (DAW),8 eine bedeutende Rolle in der Wissenschaftsgeschichte der DDR. Hartmann finanzierte sein Studium zum Teil durch nebenberuf‌liche Tätigkeiten als Taxifahrer und Klavierspieler, in Sonderheit aber über Stipendien, die er aufgrund hervorragender Studienleistungen erhielt. Da er 1933 das Vorexamen »Mit Auszeichnung« abschloss, wurden ihm die Studiengebühren teilweise erlassen. Unter Hertz beschäftigte er sich mit der damals noch recht jungen Halbleiterphysik, woraus seine Diplomarbeit mit dem Thema der Ausarbeitung eines zuverlässigen Verfahrens zur Herstellung von Sperrschichtzellen hervorging. Das Studium schloss er 1935 an der TH Berlin-Charlottenburg mit dem akademischen Grad eines Diplom-Ingenieurs »Mit Auszeichnung« ab. Sodann folgte er Hertz in die industrienahe Halbleiterforschung in das berühmte Berliner Siemens-Forschungslaboratorium II. Auf Anregung des namhaften Halbleiterphysikers Walter Schottky entschied er sich für Forschungen auf dem Gebiet der elektrischen Untersuchungen an oxydischen Halbleitern. Mit diesem Thema wurde er 1936 an der TH Berlin von Volmer promoviert. 1937 folgte der erste Karriereschritt. Er wechselte zur Fernseh GmbH Berlin und wurde dort Leiter des Labors für Bildaufnahmeröhren und Sekundärelektronenvervielfacher (SEV). Hier arbeitete er an der Entwicklung modernster elektronischer Bauelemente und Bauelementegruppen wie Fotokathoden und Ultrarotsichtgeräte, die für die Rüstungsindustrie von Bedeutung waren. Dieser Tatsache verdankte er die Freistellung vom Militärdienst (sogenannter Uk-Vermerk). Zahlreiche Patent­ anmeldungen und Aufsätze entstanden.9 Bereits zu dieser Zeit war er, nach allem was wir wissen, ein Vollblutwissenschaftler, einer, der kein besonderes politisches oder anderes Interesse erkennen ließ. Günter Dörfel schreibt, dass wir bei ihm in 7  TSD; Nachlass Hartmann, C 22 f. 8  Vgl. 70. Geburtstag, in: Neues Deutschland vom 4.5.1955, S. 4; Neuer Präsident der DAW, in: Neues Deutschland. Beilage vom 26.2.1956, S. 3. 9  Zum Beispiel: Hartmann, Werner / Schottky, Walter: Über den Sinn der Gleichrichterwirkung bei Überschuss- und Defekthalbleitern, in: Naturwissenschaften 24(1936), S. 588.

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Abb. 15: Wohnhaus von Werner Hartmann in Agudseri, um 1952

Abb. 16: Vakutronik-Stand auf der Leipziger Messe, 1961

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der Nazizeit »eines nicht« entdecken: »politische Motive«. Er mied »intensives und dauerhaftes Engagement« im Politischen und hatte »Glück. In seinem Umfeld« wurde »erfolgreiche Arbeit, aber nicht unbedingt politische Betätigung oder gar parteipolitisches Bekenntnis verlangt«.10 Wiederum Hertz war es, der Hartmann persönlich überzeugte, 1945 mit ihm in die Sowjetunion zu gehen. Er kam nach Agudseri am Schwarzen Meer und bearbeitete dort in dem von Hertz geleiteten Institut im Rahmen des Atomprogramms der Sowjetunion Aufgaben der kernphysikalischen Messtechnik. 1955 kehrte Hartmann in die Heimat zurück. Er und seine Kollegen wurden sofort und intensiv umworben, auch Walter Ulbricht machte sich persönlich auf, um ihn zu überzeugen, dass man in der DDR wissenschaftlich erfolgreich arbeiten könne. Hartmann nahm die Offerte Ulbrichts und Willi Stophs, in Dresden einen Betrieb für kernphysikalische Messtechnik aufzubauen, an. Es entstand der VEB Vakutronik Dresden.11 Vakutroniks Produktpalette umfasste u. a. Zählrohre, Ionisationskammern und Strahlendosimeter. Die starre zentralistische Verknebelung seines Betriebes brachte ihn jedoch rasch zu der Einsicht, dass es notwendig ist, schnellstmöglich einen von der Zentralverwaltungswirtschaft etwas befreiteren Betrieb entwickeln zu müssen. So entstand die Idee des Wissenschaftlichen Industriebetriebes (WIB), eine Idee, die er gemeinsam mit Apel weiterverfolgte und überraschend bis zur Gesetzesfixierung brachte. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre war Hartmann im VEB Vakutronik Dresden sowohl Werkleiter als auch Entwicklungsleiter. 1956 habilitierte er an der Fakultät für Kerntechnik der TH Dresden mit einer Arbeit über kernphysikalische Messgeräte.12 In der Habilitationsschrift findet sich auch der Nachweis einer Erfindung, die er aufgrund der Geheimhaltung in der Sowjetunion nicht veröffentlichen durfte.13 Es handelt sich um jene, die später als Sekundärelektronen- oder Everhart-Thornley-Detektor bekannt wurde (das physikalische Prinzip: Kombination aus Szintillator und Photomultipier zur Teilchen-zu-Teilchen-Verstärkung mittels Photonen). Im Frühjahr 1956 erhielt er den vollen Lehrauftrag als nebenamtlicher Professor an der Fakultät Kerntechnik14 mit dem Lehrauftrag für kern10  Dörfel, Günter: Werner Hartmann: Industriephysiker, Hochschullehrer, Manager, Opfer, in: Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Physik im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt / M. 2003, S. 221–230, hier 223 f. 11  Heute VacuTec Messtechnik GmbH Dresden. 12  Vgl. Hartmann, Werner: Kernphysikalische Messgeräte, in: Hertz, Gustav (Hrsg.): Grundlagen und Arbeitsmethoden der Kernphysik. Berlin 1957, S. 137–176. 13  Eine Erfahrung, die er mit dem sowjetischen Raketentechniker Sergej Koroljows (1907–1966) teilte; vgl. Buthmann, Reinhard: Konfliktfall »Kosmos«. Die politische Geschichte einer Jugendarbeitsgruppe in der DDR. Köln, Weimar, Wien 2012, S. 72 f. 14  Die TH Dresden wurde als technische Bildungsanstalt am 1.2.1828 gegründet und ist am 6.10.1961 in den Status einer Universität überführt worden. Kurt Schwabe war erster Nachkriegsrektor. Die Fakultät für Kerntechnik wurde am 15.11.1955 gegründet. Josef Schintlmeister leitete das Institut für experimentelle Kernforschung, Werner Lange das Institut für Anwendung radioaktiver Isotope, ab 1960 Lieselott Herforth.

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physikalische Elektronik. Die Ernennungsurkunde wurde ihm am 26. April vom Staatssekretär für Hochschulwesen, Gerhard Harig, ausgestellt.15 Die Fakultät war zum 15. November des Vorjahres eingerichtet worden.16 An der Hochschule baute er die Abteilung Kernstrahlungsphysik auf und errichtete ein mit dem Lehrbetrieb verbundenes Praktikum für Impulselektronik. Seine erste Vorlesung und somit erste »Adresse« hieß »Kernphysikalische Messgeräte«, eine zweite folgte unter dem Titel »Kernphysikalische Elektronik«. Nach der 1961 erfolgten Umbenennung der Hochschule in »Technische Universität« und der 1968 bildungspolitisch verordneten Abschaffung der Fakultäten und Neugründung von Sektionen las er »Physik der Halbleiter« und »Elektrophysik«. Ab 1968 gehörte er der Sektion Physik, später der Sektion Informationstechnik und zuletzt der Sektion Elektroniktechnologie und Feingerätetechnik an. Hartmann wurde am 1. September 1977 emeritiert. Seine letzte Vorlesung hielt er – drei Jahre nach seiner Entfernung von der Arbeitsstelle für Mikroelektronik Dresden (AMD) – am 5. Juli 1977. Der Chefredakteur der Zeitschrift rfe, Wolfgang Schlegel, der bei Hartmann Elektrophysik hörte, erinnert sich: »Es waren die interessantesten und brillantesten Vorlesungen meiner Studienzeit, obwohl wir viele gute Hochschullehrer hatten, z. B. Professor Alfred Recknagel mit seiner Experimentalphysik, Professor Walter Reichardt (Akustik), Professor Klaus Lunze (Elektrotechnik). Die Hartmann’schen Vorlesungen zeichneten sich durch den berühmten Blick über den Tellerrand aus, den er uns bot und der überhaupt nicht selbstverständlich, geschweige denn die Regel war. Dies und seine packende Vortragsweise sorgten dafür, dass ich wohl keine seiner Vorlesungen versäumte«.17 Hartmann hatte die Angewohnheit, sein Wissen als nicht abgeschlossen zu deklarieren, eine auch pädagogische Art, sein Gegenüber zu sich hochzuziehen. Hartmann erfuhr, dass diese Art bei den Leitern und Funktionären gewöhnlich nicht gut ankam: »Wenn man etwas nicht tiefgründig verstand, tat man so, als verstünde oder wisse man dies.« Und weiter: »Ich habe mich bemüht, diesen klaren ehrlichen Standpunkt der Darlegung meines tatsächlichen Wissenstandes ohne Schönfärberei oder Vertuschung immer beizubehalten. Ich glaube, damit dient man der Sache mehr als mit geistiger Hochstapelei.«18 Den Studenten versuchte er nahezubringen, dass Fleiß und Mut zu Fehlern unabdingbare Voraussetzungen jeder wissenschaftlichen Karriere seien. Einmal gemachte Fehler dürften allerdings nicht wiederholt werden, übersetzt: man müsse »bewusst Erfahrungen sammeln«.19 Hartmanns langjähriger Kollege Hans Becker zeigt sich 2012 rückblickend erstaunt, dass dessen »Lebensweg in Zehn-Jahres-Abschnitte gegliedert« und dass 15  Vgl. Ernennungsurkunde vom 26.4.1956; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 8, Bl. 40 u. 89. 16  An der Fakultät inkl. ihrer Institute lehrten und arbeiteten u. a. Heinz Barwich, Wilhelm Macke, Werner Lange, Paul Kunze, Werner Hartmann und Heinz Pose, vgl. Abschnitt »Die Fakultät für Kerntechnik«, in: Pommerin, Reiner: Geschichte der TU Dresden. Köln 2003, S. 274 f. 17  Wolfgang E. Schlegel an den Verf. am 1.3.2004. 18  TSD; Nachlass Hartmann, G 84. 19  Ebd., WH 9.

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»diese Tendenz zur Systematik« wohl »überhaupt als ein Prinzip seines Wirkens zu erkennen« sei: 1925 bis 1935 Ausbildung und Studium, 1935 bis 1945 Forschungsjahrzehnt und fachliche Profilierung, dann das Sowjetunion-Jahrzehnt bis 1955, dann das Aufbaujahrzehnt (Vakutronik und Gründung der AMD) bis 1965, dann das Mikroelektronikjahrzehnt bis 1974, schließlich das Jahrzehnt der Demütigung.20 Man darf jedoch nicht vergessen, dass die entscheidenden Zäsuren keine freiwilligen waren: die Dauer des Sowjetunion-Aufenthaltes bis 1955, die Abkehr von Vakutronik 1959/60, das Hausverbot und die Entlassung aus der AMD 1974 und das Sterbedatum 1988. Und: war nicht vieles nach dem Zweiten Weltkrieg Irrtum? Er hätte gewiss wie sein Freund Erwin W. Müller (1911–1977), Erfinder des Feldelektronenmikroskops, beizeiten in die USA auswandern können. Möglich aber, dass sein geradliniger Charakter die kalkulierte Flucht immer wieder aussetzte, solange, bis es eines Tages dafür zu spät war. Er blieb sich selbst stets treu und war für alle berechenbar – zumindest bis auf eine kurze Episode 1975/76, als er es mit dem MfS-Offizier Werner Lonitz21 zu tun bekam. Er geriet in eine existenzielle Not, zu sehr war er auf sein Fach orientiert, andere Gebiete gaben ihm keinen Halt. Hartmann, so erzählt es Lothar Schauer, dessen Vater keine gute Rolle in dieser Untersuchung spielt, habe sich aus den gesellschaftlichen Künstlertreffen in den Villen auf dem Weißen Hirsch wohl recht wenig gemacht, er kaufte aber einen Flügel, auf dem die Mädchen auch lernen sollten, und bat meine Mutter, eine erste Notenausstattung auszuwählen, deren Auswahl dann überschwänglich von ihm gelobt wurde.22 Er war eine geachtete Autorität, direkt und ehrlich. Standesunterschiede kannte er nicht. Betrat jemand sein Zimmer, stand er stets auf, um ihn zu begrüßen, ob es ein Direktor oder eine Reinemachfrau war, machte keinen Unterschied. Das aber kam bei Funktionären meist nicht gut an; Hartmann: »Gerade in einem sozialistischen Staat müsste dies Verhalten selbstverständlich sein!«23 Doch sein Verhalten trug Früchte; Becker: »Vom Herrn Doktor Abteilungs­ leiter bis zur Frau Reinigungshelferin wusste jeder, was zu tun ist und wofür gearbeitet wurde.«24

20  Becker, Hans: 100. Geburtstag von Werner Hartmann (1912–1988), Begründer der Mikroelektronik im Osten Deutschlands, in: 120 Jahre VDE-Bezirksverein Dresden. Entwicklung der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik. Ausgewählte Jubiläen und Innovationen zur sächsischen Technikgeschichte. Dresden 2012, S. 188–210, hier 188. 21  (1930). Hauptquelle: BStU, MfS, KuSch, Nr. 13443/90. 22  Schreiben von Lothar Schauer an den Verf. vom 8.6.2014. Ihm danke ich in besonderer Weise, die nicht zerstörbare Liebe zu seinem Vater von den Versuchungen der Zeit zu trennen. 23  TSD; Nachlass Hartmann, G 127. 24  Becker: 100. Geburtstag von Werner Hartmann, S. 205.

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4.1.1 Fachgeschichtliches Das verblüffendste Phänomen der modernen Mikroelektronik ist ein offensichtliches: kaum eine Technik  – zumal mit Myriaden Wunderwirkungen ausgestattet – liegt so leicht in der Hand der Bedienung wie das Smartphone und ist doch zugleich das Produkt der neben der Raumfahrttechnik mit Abstand kompliziertesten Wissenschaft, Technik, Technologie und Produktionsorganisation. Wenn im Folgenden wichtige Aspekte und Begriffe dieser Technik kurz dargestellt werden, dann ist zu beachten, dass diese erstens, zugeschnitten auf das folgende Kapitel, eine einführende Ergänzung liefern, und zweitens, technikgeschichtlich gesehen alter Stoff sind, sie hier – zum Verständnis der alten Texte und Probleme – nicht in den modernsten, heute üblichen Ausprägungen erfolgen. Eine zweite Vorbemerkung: Das, was führende Wissenschaftler und viele ihrer Mitarbeiter trotz widriger Umstände leisteten, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Man riss zu DDR-Zeiten Witze über die Entwicklung der Mikroelektronik, Witze wie: »Unsere Mikroelektronik ist so gewaltig, dass man sie von innen besichtigen kann.«25 Diese Untersuchung ist geeignet, solche Witze zum Verstummen zu bringen. Eingerissen aber werden die Fassaden, die um diese Entwicklung herum errichtet wurden. Fassaden vor allem, die das – in diesem Falle maßlose – zerstörerische Werk des Staatssicherheitsdienstes verbargen. Werner Hartmanns selbstverfasste Geschichte der Entwicklung der Mikroelektronik passt nicht in die Stereotype autobiografischer Aufarbeitung, ebenso wenig in die Genrewelt des Samisdat. Er sprach hinsichtlich seiner Aufzeichnungen von seinem »Museum«, irgendwann, so mag er gehofft haben, würden Relikte seines Schaffens in Vitrinen ausgestellt werden – wenn überhaupt. Aber er musste diese, seine Geschichte aufschreiben. Er musste es sich von der Seele schreiben. Es ist eine für einen technischen Physiker nicht anders zu erwartende versachlichte Introspektion eines unerhörten Vorgangs, eines nahezu unmöglichen technologischen Kraftaktes, den die Fachwelt auf ganz andere Weise präsentiert bekam, nämlich als Überhöhung der Erfolge, als Lüge und Ausblendung sowie zuletzt als Kaltstellung des Pioniers selbst. Hartmanns (unveröffentlichte) »Biografie« zählt nicht wie etwa die (veröffentlichte) Jürgen Kuczynskis zu jenen, die sich dem sozialistischen Gedanken verschrieben fühlten und den »Charakter der DDR als ›Wahrheitsdiktatur‹«26 wiedergaben, sondern als ein Relikt alter bürgerlicher Wahrheitspflicht: der Sache gerecht werden müssend. Hartmann besaß nicht die geringste Chance in der DDR nach 1974 frei veröffentlichen zu können. Er musste auf eine ferne Zeit hoffen, da für ihn nicht einmal nur ein »Anknabbern«27 des Tabus möglich war. Seine Kollegen 25  Aufgefunden in: BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Nr. 1511, Bd. 2, Bl. 80. 26  Depkat: Die DDR-Autobiographik als Ort sozialistischer Identitätspolitik, S. 138. 27  Lokatis, Siegfried: Angeknabberte Tabus: das Genre der Autographie und die Zensur in der DDR, in: Sabrow, Martin (Hrsg.): Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2012, S. 139–148.

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Abb. 17: 32-Bit-Prozessor

Manfred von Ardenne und Max Steenbeck hingegen waren nicht gefallen, sondern durften als Aushängeschilder der SED ihre Wahrheiten veröffentlichen, manch ein Tabu definiert »anknabbern«. Nur Heinz Barwich konnte mit seinem Buch »Das rote Atom« das Tabu brechen – allerdings erst nach seiner Flucht ins Ausland. Tatsächlich fragte sich Hartmann 1981, ob er richtig gehandelt habe, in der DDR zu bleiben. Er komme sich vor wie ein Jongleur, der mit zehn Bällen arbeite.28 Namhafte Physiker der DDR wie Hans Frühauf, Robert Rompe und Friedrich Möglich haben bereits Mitte der 1950er-Jahre, also recht früh, die Bedeutung der

28  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, G 26; Barwich, Heinz: Das rote Atom. Als deutscher Wissenschaftler im Geheimkreis der russischen Kernphysik. München 1967.

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Halbleitertechnik, die die Basis der Mikroelektronik bildet, klar erkannt.29 Keiner jedoch außer Werner Hartmann hatte das Gespür dafür, dass diese Zukunftstechnik nur mit einer völlig neuartigen Technik, später Mikroelektronik-Technologie geheißen, möglich sein würde, vor allem aber nicht den Mut, diesen neuen Weg voller Ungewissheiten inmitten einer Mangelwirtschaft auch zu gehen. Zu ihnen zählt gewiss Matthias Falter (1908–1985), Leiter des Instituts für Halbleitertechnik (IHT) in Teltow bei Berlin, der der veralteten Herstellung von Halbleiterbauelementen anhing und später zeitweise unter Hartmann arbeitete. Man darf jenen wie Falter allerdings nicht unbesehen unterstellen, dass sie das Neue nicht auch erkannt haben mochten, vielleicht hielten sie insgeheim den Weg für eine solche Basisinnovation aufgrund des Mangelwesens in der DDR schlicht für nicht gangbar. Hartmann verglich noch Anfang der 1960er-Jahre die Bedeutung der Mikroelektronik, als deren grundlegende Verfahren bereits bekannt waren, mit der des Rades.30 Seine Konzeption, die Entwicklung und Produktion »nach technologischen Gesichtspunkten aufzubauen und danach ihre Struktur auszurichten«, entsprach genau jenen »wissenschaftlichen und technologischen Verfahren«31, die aus der Zukunftsvision der neuen Technologie entsprangen. Hartmann jedenfalls hatte die primäre Rolle der Technologie bereits bei der Entwicklung der SEV von 1937 erkannt.32 Falter hingegen kultivierte im IHT »eine völlig andere Organisationsform«, die organisationstheoretisch eher mit Nest- oder Werkstattfertigung zu vergleichen ist. Jedenfalls baute er quasi für jeden Typ eines Halbleiter-Bauelementes eine eigenständige Abteilung auf. Das war auch ökonomisch nicht tragbar, da auf diese Weise eine »Vielzahl verschiedener Geräte entstand«, die für einen ähnlichen, oft sogar gleichen technologischen Schritt benötigt wurde. Auch die notwendige Kommunikation zwischen den Abteilungen litt unter dieser Separierung: »Es war ein ineffektiver, unökonomischer Weg.«33 Und dennoch ließ Hartmann seine Mitarbeiter bei Falter anlernen. Von dessen 800 Mitarbeitern im IHT arbeiteten allerdings nur 30 an der zukunftsverheißenden Silizium-Planar-Epitaxie-Technologie. Das »Erlernen des Handwerks« war Hartmann äußerst wichtig. Ihm ging es immer um Grundlagen, die man beherrschen müsse. Seine Mitarbeiter gingen bei Falter von Abteilung zu Abteilung und machten die »verblüffende Entdeckung«, dass die »Kommunikation nahezu Null« war. Der Deutsche, so Hartmann, sei recht »eigenbrötlerisch«, bei den Sowjetmenschen habe er diese Abkapslung so »nie erlebt und den Amerikanern« sage man sogar »einen ausgesprochenen Gemeinschaftsgeist« nach. Dies wollte er auch erreichen und prägte für die Arbeitsstelle für Molekularelektronik (AME) die Losung: »AME ein Labor«.34 29  Zum Beispiel Frühauf, Hans: Industrie-Elektronik, in: Neues Deutschland vom 4./5.8.1956, Beilage, S. 3. 30  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 16. 31  Ebd., H 29 f. 32  Vgl. ebd., H 17. 33  Ebd., H 30. 34  Ebd., H 54 f. Die Losung »musste« später umformuliert werden in »AMD ein sozialistisches Labor«.

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Sein Kollege Becker versteht diese Losung als interdisziplinäre Kollegialität. Hartmann selbst hatte dieses »ein« immer auch so interpretiert; es »wurde«, wie er es später formulierte, »tatsächlich zur Basis einer fruchtbaren Gemeinschaftsarbeit« in der AME. Und: »Rückblickend ist es für mich eine der größten Befriedigungen, diesen Gedanken in eine Belegschaft von ca. 1 000 Mitarbeitern eingepflanzt, durchgesetzt und zum Erfolg geführt zu haben. Im Sitzungszimmer hing diese Losung in weißen Buchstaben auf rotem Tuch an der Wand. Wenige Tage nach meiner Entlassung im Juni 1974 wurde sie wie manches andere, was an mich erinnern konnte, entfernt.«35 Diese zur Losung geronnene »interdisziplinäre Kollegialität« ist zugleich Voraussetzung und Folge der neuartigen Technologie. Und diese neuartige Technologie wollte oder konnte, wie wir unten sehen werden, außerhalb der Arbeitsstelle kaum jemand begreifen. Hartmann schrieb später, dass »das Studium der Technologie […] geradezu verrufen« war. Für ihn aber war Technologie ein Faszinosum.36 Den Begriff Molekularelektronik, der in die Namensgebung der Arbeitsstelle für die ersten anderthalb Jahrzehnte einging, bezeichnete Hartmann später als unglücklich.37 Hartmann sprach 1963 auf einer Rede zur »Verbraucherkonferenz für ›Mikro-Modul-Technik‹ und Kompaktbausteine« über diesen Begriff: Man rede zwar in der Welt von Molekularelektronik, es gäbe »aber kaum Ansätze zu einer echten Molekularelektronik«, einer Technik, »die die Elementarprozesse der Wechselwirkung von freien Ladungsträgern mit ihrer Umwelt im Festkörper geschickt ausnutzt. Das Ziel dieser Ausnutzung besteht in der Erzeugung bestimmter gewünschter elektronischer Funktionen. Dabei ist zu erwarten, dass man von der heute üblichen Denkweise in Bauelementen übergeht zu einer Konzeption, die sich der schon erwähnten Elementarprozesse als Komponenten bedient.« Bald schon werde »der Entwicklungsingenieur elektronischer Schaltungen kaum noch den Lötkolben kennen, sondern vielmehr die Festkörperelektronik und -physik sowie die maschinelle Rechentechnik beherrschen müssen«.38 Die Mikroelektronikindustrie ist eine Dienstleistungsindustrie. Schon früh war abzusehen, dass die kleinen Bauelemente die Gerätewelt erobern würden. Gustav Hertz betonte am 22. Januar 1962 mit Nachdruck, dass der Stand der Geräte- und Bauelementeproduktion in der DDR deshalb so schlecht sei, weil es »an der erforderlichen Konsequenz der staatlichen und Betriebsleitungen fehle, einen radikalen Umschwung zu erreichen«. Wortwörtlich soll er gesagt haben: »Seit zehn Jahren wird davon gesprochen – erreicht wurde nichts Wesentliches, außer fünf Jahre Tempoverlust.«39 In einem Rückblick Anfang der 1980er-Jahre beschrieb es Hartmann ähnlich: Die »negative Einstellung« zur Mikroelektronik »wurde grundsätzlich 35  Ebd., H 56. 36  Ebd., H 64 f. 37  Vgl. Notiz L 1/65 – Ha / L a vom 4.1.1965; ebd., H 78, S. 1–53, hier 14. Siehe S. 154. 38  Werner Hartmann, Vortragsmanuskript vom 5.7.1963; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/​ 76, Bd. 24, Bl. 300–303. 39  BV Leipzig vom 23.1.1962: Gespräch mit Hertz am 22.1.1962; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 192 f.

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noch fast 15 Jahre bis zur Tagung des ZK der SED im Juni 1977 beibehalten«. Man verstand weder in der Akademie noch im Forschungsrat deren Bedeutung. Oft sei ihm gesagt worden, es sei viel zu teuer, man brauche solche Bauelemente wohl nur in der Raumfahrt, »nicht aber in der kommerziellen Elektronik«. Doch »ich predigte jahrelang« in »taube Ohren, erst die öffentliche Diskussion in der BRD über die Mikroelektronik, ihre Vorzüge und Nachteile, Mitte der 1970er-Jahre führte in der DDR« zu einem Umdenken.«40 Der mangelhaften öffentlichen Kommunikation war es geschuldet, dass auch die individuellen Wissensstände voneinander recht episodisch waren. Bei genauerem Hinsehen war Rompe gar nicht so weit weg wie Hartmann geglaubt haben mag. Jedenfalls wird die Untersuchung zeigen, dass Rompe im Grundsächlichen kein Gegner der Mikroelektronik-Entwicklung war. Allerdings war er in seinen Äußerungen (oft) nicht konsistent. In seinem Nachlass findet sich eine umfangreiche Ausarbeitung zur Thematik Grundlagenforschung und Technik.41 Ursprünglich schrieb Rompe im Abschnitt II: »In den ersten 30 Jahren unseres Jahrhunderts vollzog sich eine Entwicklung, die man als die Physikalisierung der Naturwissenschaften von der Seite der theoretischen Fundamente und der Methoden her bezeichnen kann. Diese Physikalisierung hat fortschreitende Tendenz, sie impliziert und ermöglicht – als methodisches Hilfsmittel – die Mathematisierung der Gebiete, für die durch Präzisierung der Begriffe im Sinne – oder analog – der Physik die Grundlagen schafft. In den nächsten Jahrzehnten wird sie voraussichtlich nach Art einer autokatalytisch sich verstärkenden Reaktion zunehmen.« Rompe korrigierte den Passus später vollständig, indem er die metaphysische und prophetische Darstellung zugunsten einer fachlichen Engführung tilgte; nämlich: »In den ersten 30 Jahren unseres Jahrhunderts vollzog sich offenbar der Übergang zu einem neuen, für unsere Zeit kennzeichnenden Stadium der Wissenschaft. Es ändert sich etwas Grundlegendes im Verhältnis von Wissenschaft und Technik; insbesondere im Verhältnis Physik zu den naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen und der Technik.«42 Um 1966 hatte Rompe die vollkommen »neue Technik«, die Technologie, vollumfänglich erkannt, wenn er schrieb, dass »beachtet werden« müsse, »dass die technologischen Wissenschaften einen durchaus eigenständigen wissenschaft­lichen und methodischen Charakter« aufwiesen. Sie seien »eine wohl ausgewogene Komposition aus zweckmäßigsten Zusammenfassungen des Bestandes der einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Fundamentalwissenschaften mit spezifischen Elementen konstruktiv-schöpferischen und technischen Fähigkeiten«. Sie stellten »ein Grenzgebiet zwischen Wissenschaften und Kunst« dar, »so wie man von altersher von Ingenieurkunst, von ärztlicher Kunst gesprochen« habe. »Ohne einen hohen Grad der Beherrschung der wissenschaftlichen Technologie« sei »eine erfolgreiche 40  TSD; Nachlass Hartmann, H 50 f. 41  Vgl. Rompe: Grundlagenforschung und Technik; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 281, S. 32–41. Korrekturfahnen. Schrift von 1966 oder kurz davor. 42  Ebd., S. 33.

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Tätigkeit in der Entwicklung, Konstruktion und Fertigungsvorbereitung nicht denkbar, insbesondere, wenn es um moderne hochmechanisierte oder automatisierte Produktion« gehe. Die Lösung solcher Fragen impliziert eine Fülle von physika­ lischen und physikalisch-chemischen Teilproblemen«, die Neuland darstellen. »Leider« sei »die Aufwendigkeit dieser technologischen wissenschaftlichen Neben- und Hilfsarbeiten ungeheuer groß« und werde »meist unterschätzt«. Sie erforderten »keineswegs Neben- oder Hilfskräfte, sondern den vollen Einsatz in gleicher Höhe und Qualität« bei den Hauptproblemen. »Die Aufwendigkeit« könne »gelegentlich ein Mehrfaches des sogenannten Hauptproblems betragen, was meist nicht beachtet« werde. »Das ist der Grund, warum heute Spitzenleistungen der Technik, wenn sie ökonomisch ertragreich sein sollen, nicht aus einer technischen Rückständigkeit herauswachsen können. Spitzenleistungen der Technik setzen ein voll entfaltetes Spektrum der Technik voraus oder ausgezeichnete internationale Kooperationsmöglichkeiten.«43 Beides aber, und das wusste gerade auch Rompe, hatte die DDR nicht. Aber er benannte, was nötig war: ein neues Denken. Und dieses Wissen war es, das ihn veranlasst haben mochte, Hartmann für die Mikroelektronik zu gewinnen. Rompe hatte ein Gespür für das Neue. Es war sein Funktionärsdasein, das ihm Beschränkungen auferlegte. Nur so ist zu verstehen, dass es einen Moment gab, in dem er empfahl, die Mikroelektronik-Entwicklung zunächst nur zu beobachten. Das konnte Hartmann nicht akzeptieren, er sah, dass man sofort beginnen musste, jetzt oder nie. Er hatte Recht, wenn er Rompes Empfehlung, zunächst Beobachtungsforschung zu betreiben, als »kurzsichtig und grundsätzlich falsch« bezeichnete.44 Um 1960 bestand in internationalen Fachkreisen  – anders als in politischen Handlungsräumen – kein Zweifel, dass das »Zeitalter der integrierten Mikroelektronik« bereits begonnen hatte. Hartmanns Schlussfolgerung mit Blick auf den Weltstand war zielführend, den »Schwerpunkt der zu beginnenden Arbeiten auf die Entwicklung technologischer Verfahren« zu legen. Dies aber war, was den Vorrang der Technologie betraf, in der DDR »geradezu ›revolutionär‹«.45 Laut Hans Becker folgte die Entwicklungsarbeit bei AME resp. AMD dem internationalen Trend der Entwicklung von Fertigungsverfahren für bipolare Si-Festkörperschaltkreise entsprechend der von Texas Instruments (TI) in den USA hergestellten Logikfamilie SN74. Damit waren in Dresden 1967/68 die entwickelten Verfahren so weit gediehen, dass erste Chips hergestellt werden konnten, die zunächst in Kleinserien gefertigt, ab 1970 auch zur Produktion in den VEB Halbleiterwerk Frankfurt / O. übergeleitet worden sind (D172C). Etwa zeitlich parallel wurde der erste Mikroelektronik-Neubau für eine produktionsnahe Verfahrensund Erzeugnis-Entwicklung konzipiert und errichtet. 1972 wurde die Arbeitsstelle Hartmanns durch Staatsauftrag verpflichtet, Entwicklungen für die MOS-Technologie konzentriert zu beginnen. Ziel war vor allem der Nachbau des Taschen43  Ebd., S. 38–40. 44  TSD; Nachlass Hartmann, H 17. 45  Ebd., H 16.

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rechner-Schaltkreises TMS-0101 von TI, einschließlich der Entwicklung des dafür notwendigen MNOS-Fertigungsverfahrens. Laut Becker sprach es für die beachtliche Dresdner Kompetenz, dass die Informationen aus der Untersuchung des Fremdmuster-Chips ziemlich rasch zum Erfolg geführt hätten. Das mag den im Fache nicht Bewanderten zwar despektierlich klingen, ist aber letztlich zutreffend, da ohne eine nahezu vollkommene Kompetenz dies gar nicht möglich gewesen wäre. Tatsächlich funktionierte bereits 1973 der nach-»empfundene« Chip und konnte dann als Typ U820D mit 6 000 integrierten Transistoren vom VEB Kombinat Funkwerk Erfurt (KFWE) für den ersten DDR-Taschenrechner »Minirex« (hier auch eingesetzt die Typen D491 und D492) produziert werden. Noch unter Hartmann wurden, so Becker, 1974 die Entwicklungsarbeiten für die Silicon-Gate-Technologie begonnen. Damit war das Tor aufgestoßen in die Zukunft von PSGT, NSGT und CMOS-Technologie (zu den Abkürzungen siehe Verzeichnis).46 Wir sprechen in der Mikroelektronik hinsichtlich der Grundverfahren der Technologie gewöhnlich von Zyklen. Das hat sich so eingebürgert, wenngleich die Anzahl der Zyklen (historisch gesehen) verschieden angegeben wird. In Sonderheit in den vom MfS bestellten Gutachten ist nur von zwei Zyklen die Rede, dem Zyklus I und dem Zyklus II. Diese Begrifflichkeit ist in der Untersuchung beibehalten worden, da sie thematisch den zentralen Konfliktpunkt um Hartmanns Wirken beschreibt. Vorab sollen die vier Standardzyklen (0, I, II und III) – unter Angabe der damaligen internationalen Verfügbarkeit – kurz erläutert werden. Zyklus 0: Kristallziehanlagen [strenges Embargo]; Trennsägen, Läpp- und Poliermaschinen [Embargo]; Rechnergestützte Entwurfstechnik, IC-Entwurf, CAD-​ Arbeitsplätze [strenges Embargo]; Maskenherstellung, E-Beam-Belichtung, Patterngeneratoren [strenges Embargo]; Maskeninspektions- und Reparaturgeräte [strenges Embargo]. Zyklus I: In ihm wird die Schaltungsstruktur für die beabsichtigten elektrischenund Informationseigenschaften von einer sogenannten Maske über eine optische Abbildung auf eine Siliziumscheibe, den sogenannten Wafer vielfach übertragen (Kernelement des Zyklus ist die Si-Epitaxie-Planartechnologie). Die optische Belichtung (Fotolithografie) über die Maske erfolgt – entwicklungsgeschichtlich – über kurze bis extrem kurze Wellenlängen, also UV-Licht, kurzwelliges UV-Licht mittels Excimerlaser, weiche Röntgenstrahlung über Synchrotonstrahlung, Elektronen- oder Ionenstrahlen. Heute existieren bereits strukturierte Beschichtungsprozesse mittels photoinduzierter Verfahren mit Fremdatomen, also weit jenseits der Beugungsbegrenzung des Lichts. War man 1980 international bereits bei Strukturgrößen von um 3 μm, so 1992 bei 0,5 μm und 2012 bei 0,02 μm. Die sogenannte Integrationsdichte, also die Packungsdichte von elektrischen Funktionen in einem Chip, entwickelte sich im Laufe der Zeit recht streng nach dem Moore’schen Gesetz. Dieses besagt, was oft vergessen wird, dass kein Integrationsniveau einfach übersprungen werden kann. Nach Gordon Moore verdoppelt sich die Zahl der Transistoren pro Chip alle 46  Becker: 100. Geburtstag von Werner Hartmann, S. 198–203.

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18 Monate (Moore war zur Zeit dieser Voraussage Forschungsdirektor bei Fairchild, später Mitbegründer und langjährig Chef von Intel). Parallel zu dieser Entwicklung potenzierten sich die Prozessschritte von etwas über 100 bis auf über 1 000. Das war der Stand bis zum Ende der DDR hin;47 heute ist die Entwicklung um Größen­ ordnungen fortgeschritten. Solche mikroskopischen Strukturen auf dem Wafer herzustellen, erfordert stets ein Höchstmaß an Messtechnik, Reinstraumqualität, Belichtungstechnik, Justiereigenschaften des Komplexes »Maske-Wafer« und nicht zuletzt Materialeigenschaften des Siliziums. Technische und sonstige Kompromisse auf all diesen Feldern gibt es so gut wie nicht. Nach Epitaxie, Fotolithografie und Diffusion sowie der Herstellung von Zwischenverbindungen durch Aufdampfen ist der Zyklus I im Wesentlichen beendet. Wichtige Anlagen und Geräte des Zyklus I sind u. a.: Belacker, Plasmaätzanlagen [strenges Embargo], Sputter-Technik, Implanter (Ionenimplanter), Dotierungstechnik: Diffusionsanlagen, Lithografiekomplex, Hochdruckoxidationsanlagen [alles strenges Embargo] sowie Prozessmesstechnik [bis strenges Embargo]. Der Zyklus I ist das Herz der gesamten Technologie, er ist auch der mit Abstand teuerste und komplizierteste. Zyklus II: Vereinzelung der noch im Waferverbund befindlichen Chips (Scheibensägen), anschließend erfolgt der Einbau der Chips in Gehäuse (Verkapselung) und schließlich die Kontaktierung der Chipanschlüsse (Chipbonder, Drahtbonder). Zumindest die Verschließtechnik war lizenzpflichtig. Zyklus III: Endprüfungen mit Testermesstechnik für fertige Schaltkreise, z. B. Speichertester und In-Circuit-Tester [alles strenges Embargo]. Nicht wenige technologische Schritte wie etwa der der Dotierung sind äußerst vielgestaltig und setzen zudem komplexe Befähigungen der Technologen in materialwissenschaftlicher, technischer, physikalischer, chemischer, messtechnischer und mathematischer Hinsicht voraus. Ob für die Herstellung des Substrates oder der Schaltelemente: Es existieren vielfältige Verfahren mit und ohne Maske sowie dazu gekreuzt entweder über Diffusion oder Ionenimplantation. Dies kann – etwa über die Vakuumdiffusion – wiederum auf verschiedene Weise erfolgen. Das Dotierungsmaterial kann n-leitend (Arsen, Antimon, Phosphor) oder p-leitend (Aluminium, Bor, Indium und Gallium) sein. Die Ionenimplantation besitzt gegenüber der Diffusionstechnik eine Reihe von Vorteilen, insbesondere hinsichtlich der Fertigungsabläufe und der Bauelementeparameter. Zum Primat des Zyklus I Die Sprache der Gutachten über diese Fachangelegenheit war, wie wir sehen werden, die des MfS. Danach habe Hartmann mit dem Primat des Zyklus I, das heißt mit seiner »zur ›Konzeption‹ erhobenen Desorganisation […] von Anfang an die zentralen staatlichen Aufgabenstellungen […] hintertrieben« (siehe unten und 47  Vgl. Hoffmeister, Ernst: Mikroelektronik 2000, in: Siemens Components 27 (1989)2, S. 54–58.

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MfS-Spezial  I).48 Der Primat des Zyklus  I gehorchte jedoch der weltweit herrschenden Technologiephilosophie der Mikroelektronik, aber auch, DDR-spezifisch, den Bedingungen der Knappheit betriebswirtschaftlicher und naturaler Faktoren (Gebäude, Geräte, Materialien, Fachkräfte, Finanzmittel etc.). Das MfS definierte in seinen bestellten Expertisen und Gutachten sowie in den eigenen Sachstandsberichten wie gesagt nur zwei Zyklen. Unter Zyklus I verstand es die Herstellung der Strukturen auf dem Wafer bis hin zur physikalischen Vermessung im Scheibenverbund. Unabhängig von dieser Einordnung beging das MfS einen gewollt schwerwiegenden Fehler, der letztendlich das vernichtende Urteil über Hartmanns Technologie-Konzept erst möglich gemacht hat. Es erklärte den Zyklus I für sekundär hinsichtlich des Zyklus II und sprach folglich von Disproportionen der Entwicklungskapazitäten beider Zyklen. Wenn also Hartmann »von Anfang an wesentlich mehr Entwicklungskapazität für den Zyklus I als für den Zyklus II ansetzte«, dann war dies nicht falsch, wie die MfS-Akteure behaupteten, sondern folgerichtig und dringend geboten.49 Ausgewählte definitorische Fragen der Mikroelektronik-Technologie Beim Feldeffekttransistor wird die Funktion immer nur durch eine Ladung (positiv oder negativ) bestimmt. Der hierfür bestimmte Schichtaufbau lautet: Metall-Oxid-Halbleiter, englisch: Metal-Oxid-Semiconductor (MOS). Hartmanns Beschäftigung mit der »Dünnschichtelektronik galt«, so Becker, »bereits dem Feldeffekttransistor und hatte nutzbare Erkenntnisse für MOS gebracht«. Hartmann wollte jedoch den Bipolar-Weg auf Siliziumbasis weitergehen. Bezüglich MOS war er »zögerlich« gewesen. Erst ein Staatsauftrag, das KFWE hatte den »Auftrag rundheraus« abgelehnt, soll die Wende gebracht haben.50 Zur Rechtfertigung von Erfurt muss allerdings gesagt werden, dass die Ablehnung in erster Linie keine des freien Willens war. Man hatte einfach nicht die Erfahrungsträger und auch nicht die Technik für jene Arbeit, die unter dem Begriff der Fremdmusteranalyse lief. Anwendung fand die MOS-Technologie dann im Taschenrechnerchip U820D. Die Bipolar-Technologie war international orientiert an der TI-Familie (SN  74), »allerdings«, so Becker, »mit eigenen Prozessen und Erzeugnissen«. Es »war einfach der Nachbau des TI-Schaltkreises TMS-0101 vorgesehen, von dem einige wenige Muster zur Verfügung standen«. Technisch wurde der Nachbau wie folgt realisiert: Ableitung des Schaltungskonzeptes vom Layout der einzelnen lithografischen Ebe48 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission »über die Tätigkeit des Leiters der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden, Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Hartmann, bei der Erfüllung zentraler staatlicher Aufgaben« (o. D.); BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, hier 180. 49  BV  Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 190–250, hier 241 f. 50  Becker: 100. Geburtstag von Werner Hartmann, S. 202.

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nen, Verwendung eigener Technologiekenntnisse und westliche Literaturquellen; mechanische und chemische Fremdmusteranalyse sowie Prozess-Experimente. Probleme traten beim Fotorepeater auf, da AME nur bis zu 3 mm-Chips »belichten« konnte. So musste »das ca. 6 mm große Layout sehr radikal in vier Quadranten zerschnitten« werden, »die dann je einzeln mit dem Fotorepeater auf die Si-­Wafer präzise platziert« und »belichtet wurden – und die Sache hat geklappt«.51 ­Roland Köhler beschreibt auf spannende Art, wie er das hinbekommen hat.52 Das MOS-Verfahren von AME basierte auf dem Metall-Nitrid-Oxid-Halbleiterprozess (MNOS). Die Produktion ist anschließend nach Erfurt übergeleitet worden. Mit dem Schaltkreis wurde der erste DDR-Taschenrechner »Minirex« bestückt, gefertigt vom VEB Röhrenwerk Mühlhausen. Noch zur Zeit Hartmanns wurden »Arbeiten zur p-Kanal-Si-Gate-Technologie (PSGT)« begonnen, »bei der Silizium statt des Metalls als Gate-Elektrode eingesetzt wird. Kombiniert mit der n-Kanal-Variante [NSGT] avancierte dann die komplementäre CSGT- (auch CMOS-) Technologie zur Grundlage der modernen Speicherchips und wurde später, etwa ab 1980, auch in Dresden zur allgemeinen Basis-Technologie.«53 Dünnschichttechnik (früher auch Dünnfilmtechnik) Die Beschäftigung mit der Dünnschichttechnik ab 1962 wurde Hartmann später zum Vorwurf gemacht. Sie war inspiriert von amerikanischen Arbeiten.54 Bei dieser Technik werden dünne Schichten mehrlagig auf ein Substrat aufgebracht. Eine besondere Problematik bestand zu seiner Zeit darin, dass die Oberflächenstruktur des Substrates grobkörniger war als die aufgedampften Schichten, deren Eigenschaften dadurch beeinträchtigt wurden. Hartmann ist der Vorwurf gemacht worden, die Entwicklung der Dünnschichttechnik zu einem Zeitpunkt forciert zu haben, als diese international noch in den Anfängen steckte. Ein seltsamer Vorwurf. Selbst Steenbeck äußerte im September 1964 Vorbehalte hinsichtlich des Zeitpunkts, den er für verfrüht hielt.55 Hartmann hatte jedoch grünes Licht vom Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik (MEE) bekommen. Das war um 1963 nicht falsch, denn keiner konnte damals mit Sicherheit sagen, wohin die technologische Entwicklung laufen würde. Die Gutachter kamen 1974 zu dem fragwürdigen Schluss, wonach das »Gebiet der aktiven Dünnfilmelemente« nicht »zulasten des Potenzials für

51  Ebd., S. 202 f. 52  Köhler, Roland: Die Entwicklung des ersten Taschenrechnerschaltkreises, in: Zeitreise durch vier Jahrzehnte; Zentrum für Mikroelektronik Dresden (Hrsg.). Dresden 2001, S. 25, 27 u.  29. Köhler schreibt von sechs Teilchips. 53  Becker: 100. Geburtstag von Werner Hartmann, S. 203. 54  TSD; Nachlass Hartmann, H 56 f. 55  HA XVIII/8/3 und BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 27.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 3, Bl. 1–71, hier 50.

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Festkörperschaltkreise« hätte »erfolgen dürfen«.56 Auch später gab es noch Auf‌fassungen, die der Dünnschichttechnik eine große Zukunft bescheinigten. Aller­dings kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass auf internationalem P ­ arkett gezielte Störmanöver initiiert wurden, schließlich ging es auch darum, Wettbewerbsvorteile zu sichern. Ein Beispiel: Anlässlich seiner Reise nach Boston vom 28. April bis 14. Mai 1969 informierte Heinz Bethge Offizier Ribbecke, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern sich mit dieser Technik befasse und beschlossen habe, 1971 in Marseille wieder zusammenzukommen. Die Gruppe werde von einem vor »ca.  15 Jahren emigrierten« Wissenschaftler geleitet. Der habe ihm, Bethge, die Frage gestellt, warum die DDR sich mit der Technologie der Festkörperschaltkreise befasse, es sei doch viel sinnvoller, diese »Entwicklungsphase in der Bauelementeproduktion zu überspringen und sofort zur Dünnschichttechnik überzugehen«.57 Die Dünnschichttechnik lief zum Zeitpunkt der Kritik Steenbecks im Rahmen der sogenannten Mikro-Modul-Technik (MM-Technik). Zur MM-Technik zählen auch passive Dünnschichtbauelemente. Das MfS behauptete, dass Hartmann in seiner Funktion als Vorsitzender der Kommission »Allgemeine Bauelemente des Forschungsrates« eine »Verunsicherung der Meinungen staatlicher Dienststellen« betrieben habe, da er »diesen Stellen derart widersprechende Auskünfte erteilt« habe, »dass eine Entscheidungsfindung unmöglich« geworden sei. Eine Beratung in der Staatlichen Plankommission (SPK) im Oktober 1960 führte zur ursprünglichen Zielstellung, die Technik bis 1963 zu schaffen. 1965 soll Hartmann »erhebliche Forschungs- und Entwicklungskapazitäten« für die Bearbeitung von Aufgaben zu aktiven Dünnschichtelementen gebunden haben. Das MfS diskriminierte diese Themen als »Akademie-Charakter«.58 Die Gründung der Arbeitsgruppe »Aktive Dünnschichttechnik« war nach dem Hartmann’schen Leitspruch erfolgt: »Wer eine Straße durch ein im Einzelnen nicht bekanntes Gelände baut, sollte auch die Geländestreifen daneben kennen, um den günstigsten Weg zu finden. Das Problem der richtigen Abgrenzung wird immer neu zu lösen sein.« Bei dieser Technik werden passive und aktive Bauelemente »­erzeugt und untersucht, aber eben nicht im Halbleiterkristall Silizium, sondern auf Glassubstraten in dünnen Schichten aus Cadmiumsulfid (CdS), Cadmiumselenid (CdSe) und Tellur (Te). Dabei traten die erwarteten Halbleitereffekte auf, aber die sehr schwankenden Bauelementeparameter und die geringe Stabilität der erzeugten Strukturen führten zu dem Entschluss, diesen Weg nicht weiter zu verfolgen.«59 Natürlich kannte man weiland nicht sicher jenen Weg, der den angestrebten Durchbruch zu liefern verhieß. Und selbst, als man ihn mit der FSK-Technologie einiger56  Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 30. 57  HA XVIII/5 vom 11.9.1969: Information; BStU, MfS, AIM 5691/82, Teil I, 1 Bd., Bl. ­313–316, hier 314 f. 58  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 190–250, hier 244 f.; Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, hier 198. 59  Becker: 100. Geburtstag von Werner Hartmann, S. 203.

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maßen beherrschte, konnte man immer noch nicht sicher sein, ob nicht auf einem anderen gangbaren Weg verheißungsvolle Erkenntnisse und Entwicklungen möglich sein würden. Hans Kleiner schrieb in der URANIA, dass seit zwei Jahrzehnten »die Schaltungstechnik in Bewegung geraten« sei, »erst zögernd, in der letzten Zeit stürmisch immer neue Formen erzeugend: Mikromodule – Dünnfilmbauelemente – Festkörperschaltkreise«.60 Sein letzter Abschnitt »Und das Neueste: Festkörperschaltkreise« wies ins Offene, denn »welche Möglichkeiten die weitere Durchbildung der Festkörperschaltkreistechnik bietet«, sei »noch nicht abzusehen«.61 Zwei Jahre später schrieb an gleicher Stelle Jeanine Rouge ein ausgesprochenes Loblied auf die Dünnschichttechnik.62 Tatsächlich hatte sich die Dünnschichttechnik aufgrund ihrer komplexen Bedeutung weiterentwickelt, sie wurde gelehrt und angewandt. Auf die Bedeutung dünner Schichten für die Anwendung in Technik und Raumforschung wies 1972 Christian Weißmantel (1931–1987) hin, der wie Hartmann auch, jenen Forschungsaspekt für Festkörperschaltungen erwähnte, wonach »dünne Schichten besonders geeignet« sind, »Erscheinungen und Vorgänge an der Oberfläche und an Grenzflächen fester Körper zu studieren, da hier störende Volumeneffekte eine untergeordnete Rolle spielen«.63 Kurzdefinitionen Mikroelektronik: Integrierte Schaltelemente auf einem oder in gemeinsamen Trägern, in verwandter Begrifflichkeit: integrierte Schichttechnik, integrierte Halb­ leiterblocktechnik (Silizium-Epitaxie-Planartechnik) und integrierte Hybridtechnik. (Integrierte) Halbleiterblocktechnik: Der internationale, damals eher westliche Begriff hierfür war TTL-Technik, von Transistor-Transistor-Logik. Hierzu zählt eine ganze Reihe von (auch alternativen) Verfahren wie das Czochralski- und Schwimmtiegelverfahren sowie das Zonenschmelzen. Die grundsätzlichen Schritte sind Epitaxie, Diffusion und Ionenimplantation, aber auch Verfahrensprinzipien wie die des Anlegierens und der Thermokompression sowie der Beam-lead-, Flip-Chipund Spider-Technik. Kern der Technik ist die Herstellung von Schaltelementen mittels Dotierung von Halbleitereinkristallen. Die Anordnung der Schaltelemente erfolgt über Masken (Verfahren der Fotolithografie). Anschließend erfolgt die Kontaktierung der Anschlusspunkte der integrierten Schaltkreise bis hin zur Kapselung. Bipolartechnik (mögliche Verfahren): Collector – Diffusion – Isolation (CDI-​ Verfahren); Basis – Diffusion – Isolation (BDI-Verfahren); Trimask- oder TRIM-​ Verfahren. 60  Kleiner, Hans: Zukunft fordert Elektronik, in: URANIA 28(1965)9, S. 750–757, hier 751. 61  Ebd., S. 755 f. 62  Vgl. Rouge, Jeanine: Dünnfilmtechnik, in: URANIA 29(1966)1, S. 24–27 u. 78 f. 63  Weißmantel, Christian: Anwendung dünner Schichten in Technik und Raumforschung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TH Karl-Marx-Stadt 14(1972)3, S. 351–354.

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Fotolithografie: Schaltkreisentwurf – Maskenoriginal – Justier- und Belichtungseinrichtung. Dotierung: In einem Halbleitermaterial (HL-Material), z. B. Silizium (Si), werden Fremdstoffe eingebracht; n-HL enthält einen Stoff, der Elektronen liefert und somit die elektrischen Eigenschaften des Materials bestimmt; p-HL enthält einen Stoff, der Elektronen aufnimmt und somit den elektrischen Ladungstransport gestattet. Ionenimplantation, wichtige Vorteile: Chemische Ätzung kann entfallen, automatisierbares Verfahren, Reinheitsgrad des Dotierungsmaterials kann weniger hoch sein, Diffusionsprozesse geometrisch sauberer. Dynamische RAM (DRAM): Jede Speicherzelle besteht aus je einem Transistor und Kondensator. Speicherinhalt muss periodisch (zyklisch) aufgeladen werden. Bei sonst gleicher Konfiguration im gleichen Technologieniveau ist die Speicherkapazität vierfach gegenüber den SRAM. Die Aufnahme der Pilotproduktion des 256-Kbit-DRAM erfolgte in der DDR 1989 (in die Massenproduktion erst für 1990, international bereits 1983). Statische RAM (SRAM): Jede Speicherzelle besteht aus sechs Transistoren. Speicherladung bleibt solange erhalten, wie die Speisespannung eingeschaltet ist. Vergleich DRAM  – RAM: Unter sonst gleichen Bedingungen (also gleiche Geometrien der Strukturen und gleiches Technologieniveau) verhalten sich die Speichermengen von DRAM zu RAM im Verhältnis von 4 : 1. Alternative Schreibweisen anhand des 64-Kbit-DRAM, der in der DDR erst 1988 in die Massenproduktion kam (international 1979/80), lauten: 64-Kilo-dynamischer RAM, 64-KDRAM und 64-k-DRAM. RAM bedeutet Random-Acess-Memory, Schreib-Lese-Speicher. Die wichtigsten Übersetzungen: COMOS: complementary metal-oxide-semiconductor (komplementärer Metall-Oxid-Halbleiter), DRAM (dRAM): dynamics random-access-memory (dynamischer Lese-Schreib-Speicher), MOS: metal-oxide-semiconductor (Metall-Oxid-Halbleiter) sowie NSGT (nSGT): n-silicon-gate-technique (n-Silizium-Tore-Technik). Mikroprozessoren: Verfahrensentwicklung PSGT 1974 bis 1977 in Dresden, Prototypenentwicklung U 808 1975 bis 1978 Funkwerk Erfurt, Produktion 1979 (international: Intel 1971, USA). Verfahrensentwicklung NSGT 1976 bis 1979 in Dresden, Prototypenentwicklung U 880 in der DDR bis 1981 (international: Mikro­ prozessor Z 80, USA 1975). Speicher: PSGT U 253, 1-Kbit-DRAM, Produktion DDR 1979 (USA 1972); NSGT U  201, 1-Kbit-SRAM, Produktion DDR 1981 (USA 1972). Bezeichnungen für die sogenannte D-Reihe (wenn angehängtes »C«, dann im Keramikgehäuse), deren Grundformen in Dresden entwickelt wurden (z. B. D100, D200): D172C. D230C in X-Topologie: D230CX. Das waren optimierte Bauelemente auf Anforderung Robotrons, die intern zur Unterscheidung die Zusatzkennzeichnung »X« erhielten. Grundformen wie D100 sind im Halbleiterwerk Frankfurt / O. weiter differenziert worden.

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4.1.2  Diachroner Bericht Prolog: Vorgeschichte Bereits zur Zeit seines Aufenthaltes in der Sowjetunion kamen geheimdienstliche Mitteilungen über Werner Hartmann in die DDR – wie ist unklar. Sie waren meist negativ. Im April 1950 soll er gemeinsam mit dem Geheimen Informator (GI) »Rembrandt« nach Moskau gefahren sein. Bei dieser Gelegenheit will der GI eine antisowjetische Haltung Hartmanns festgestellt haben. Auf die Bitte des GI »Rembrandt« nach gelegentlich weiteren Gesprächen mit ihm, soll Hartmann darauf hingewiesen haben, dass »er nicht die Möglichkeit habe, sich frei zu be­wegen«. Im September 1953 und nochmals im August 1954 wollte sich der weibliche GI »Alexejew« mit Hartmann treffen, doch habe er kein Interesse gezeigt. Der Auskunftsbericht des Staatssicherheitsdienstes, der diese Informationen enthält, stammt vom 13. Juli 1955. Er enthält ferner Auszüge aus 17 Briefen, mehrheitlich die Korrespondenz mit seinem Vater betreffend. Einmal, am 3. Januar 1948, hatte er ihn gewarnt, keine vertraulichen Nachrichten zu schreiben: »Du bereitest mir sehr viel Schwierigkeiten, da Du nicht bedenkst, welchen Weg Deine Briefe gehen.« Der Vater versuchte zu konspirieren, doch zumindest in einem Fall gefiel dies Hartmann auch nicht. Am 5. September 1951 schrieb er ihm: »Mir persönlich gefallen solche Briefe nicht, man muss schreiben wie man denkt. Besonders trifft dieses für unsere Briefe zu, da in denselben sehr schwer Fragen zu stellen sind und sich lange auf dem Weg befinden.« In dem Auskunftsbericht ist ferner von Medikamenten die Rede, die der Vater ihm periodisch schickte. Die Untersuchung hatte ergeben, dass Tabletten des eines Typs von westlichen Geheimdiensten für die Anfertigung von Geheimschriften verwendet« würden.64 Hartmann ist sofort nach Rückkehr aus der Sowjetunion unter operativer Kontrolle gestellt worden. Aus der Zeit des »operativen Finales« gegen ihn um 1974 sind noch weitere Berichte von 1954 überliefert. Zum Beispiel der Bericht des Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) »Dora« vom 8. Oktober, demnach Hartmann ein Demagoge sei, der die Russen belüge »wo er nur kann«.65 Und der IM »Kiewski« will im November erfahren haben, dass Hartmann sich mit »revanchistischem Gedankengut« trage; angeblich soll er geäußert haben, dass die »Ostgrenze Deutschlands« nun »wieder hergestellt werden« müsse »in dem alten Rahmen«. Seine »Einstellung« werde »unterstützt« »von den 15 Millionen Flüchtlingen aus dem Osten«.66 In einem Bericht des GI »Peter« vom 10. November ist überliefert, dass er nicht geglaubt habe, dass »die deutschen Spezialisten bei ihrer Heimkehr« in die DDR die »entsprechenden 64  Auskunftsbericht vom 13.7.1955; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 1–10, hier 3–8. 65  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 147. 66  BV  Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 190–250, hier 200.

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Funktionen erhalten« würden, »da es eine allgemein bekannte Tatsache« sei, »dass alle ausländischen Spezialisten, welche längere Zeit in der Sowjetunion gearbeitet« hätten, »Feinde des Sowjetsystems« seien. Das sei »natürlich Ulbricht und Grotewohl bekannt«, jedenfalls »Freunde des Sowjetsystems können sie nie werden«.67 Anfang Mai 1955 war Werner Hartmann bei Walter Ulbricht zu einem jener vielen Gespräche, die der mit namhaften Wissenschaftlern führte, um sie zum Verbleib in der DDR zu überzeugen. Offenbar gelangte der Gesprächsinhalt direkt zum Staatssicherheitsdienst: »Der Spezialist Hartmann, welcher als Delegierter mit in Moskau war, war heute bei dem Genossen Ulbricht und« habe »dort Folgendes« mitgeteilt: »Gestern wäre sein Vater bei ihm gewesen« und habe gesagt, dass ein US-Offizier bei ihm gewesen sei und mitgeteilt habe, »dass sein Sohn aus Moskau zurückgekehrt« sei. Der Offizier habe den Wunsch geäußert, ihn, also Hartmann, zu sprechen.68 Der Staatssicherheitsdienst reagierte und legte am 8. Mai einen Beobachtungsvorgang an.69 Möglich, dass die Amerikaner für Hartmann Interesse zeigten, da sie »seit Jahren« zu seinem Vater kamen um herauszufinden, was sein Sohn über seinen Moskau-Aufenthalt zu berichten wusste. Der Vater will ihnen jedoch keine Briefe gezeigt haben.70 Am 6. Juli wurde der Operativ-Vorgang (OV) »Tablette« angelegt.71 In der Ankunftsphase der »Spezialisten« schlugen die Wellen hoch: Überprüfun­ gen, Verdächtigungen, Platzierungsrangeleien und eben der Kampf um ihren Verbleib in der DDR. Anfang Juli wusste der Dienst bereits, dass Hartmann im Begriff stand, einen Vertrag mit Manfred von Ardenne zu schließen. Der hatte ihm vorgeschlagen, eine Firma zu gründen, die seine Entwicklungen produzieren sollte. Über die vertraglichen Beziehungen hatte u. a. der GI »Federow« berichtet, auch darüber, dass Hartmann bereits mehrere Angebote aus dem Westen erhalten habe, die um ihn »kämpfen« würden.72 Hartmann war unwohl, daran denken zu müssen, mit dem Nichtakademiker und karrierebeflissenen Ardenne arbeiten zu müssen. Er hatte dies schon vor dem Kriegsende zu vermeiden gewusst. Nun aber hatte es sich – thematisch bedingt – gleichsam von selbst ergeben. Werner Schauer alias GI »Karl Wagner« berichtete am 17. Juni, dass es bereits Auseinandersetzungen zwischen beiden wegen der Namensnennung des gemeinsamen Betriebes gegeben habe. Demnach habe Ardenne vorgeschlagen, den »VEB Vakutronik v. Ardenne – Hartmann« zu nennen. Er habe bereits gegenüber Dritten geäußert, dass er Hartmann zur »Fabrikation von Geräten beauftragt« habe.73 67  Verwaltung (Verw.) Dresden vom 13.7.1955: Auskunftsbericht; ebd., Bd. 6, Bl. 1–10, hier 3. 68  Anlage 46: Abt. VI/2 vom 4.5.1955: Aktennotiz; ebd., Bd. 15, Bl. 1. 69  Vgl. Verw. Dresden, Abt. VI, vom 6.7.1955: Beschluss für das Eröffnen eines OV; ebd., Bd. 1, Bl. 18 f. 70  Vgl. Verw. Dresden: Bericht von »Karl Wagner« vom 27.6.1955; ebd., Bd. 15, Bl. 3. 71  Vgl. Verw. Dresden, Abt. VI, vom 6.7.1955: Beschluss für das Eröffnen eines OV; ebd., Bd. 1, Bl. 16 f. 72  Auskunftsbericht vom 13.7.1955; ebd., Bd. 6, Bl. 1–10, hier 9 f. 73  Verw. Dresden, Abt. VI, vom 17.6.1955: Treff bericht; ebd., Bd. 22, Bl. 1 f., hier  1 sowie Abt. VI vom 17.6.1955: Treff bericht; BStU, MfS, AIM 4966/59, Teil II, 1 Bd., Bl. 14 f., hier 14.

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Diese Vorgehensweise akzeptierte Hartmann nicht. In dem Bericht ist der Vorschlag zur Benennung des Betriebes nicht exakt wiedergegeben worden, richtig muss es heißen: »Fabrikationsgesellschaft Elektronik v. Ardenne – Dr. Hartmann«. Der Begriff »Vakutronik« stammte von Hartmann. Zur gemeinsamen Firmengründung existiert ein Bericht vom Leiter des Referates 1 der Abteilung VI, Horst Ribbecke, vom 15. Juni. Er basiert wesentlich auf der Berichterstattung Schauers. Demnach war das Objekt zu der Zeit noch nicht gänzlich geräumt gewesen von den Vormietern, der Deutschen Handelszentrale und der Dresdener Papierfabrik. Freiwerdende Räume sollten jedoch sofort bezogen werden können. Hartmann besaß auf dem Weißen Hirsch in der Leonhardstraße 20 ein Büro. Er sei als technischer Leiter des Betriebes vorgesehen, Ardenne werde sich um das Amt des Direktors bemühen. Schauer sollte die kaufmännische Leitung erhalten. Hartmann lege, so gegenüber Schauer, »keinen Wert darauf«, dass Ardenne das Direktorenamt bekleide. »Er forderte vielmehr, dass eine klare Trennung zwischen dem Institut Ardenne und der Fabrikationsgesellschaft durchgeführt« werde. Ardenne habe Schauer den Vorschlag unterbreitet, für die Fabrikationsgesellschaft den Namen »VEB ›Tomic‹ v. Ardenne – Hartmann« zu wählen. Die Meinungsfindung sei noch im Gange, ein Vorschlag befinde sich derzeit noch bei Generalmajor Richard Menzel.74 Der erste Spitzel, ein enger Kollege Werner Schauer wurde 1913 in Berlin geboren. Eine Person, die nicht nur im engeren Kontext zu Hartmann von thematischem Interesse ist. Beider Wege kreuzten sich zwar nur kurz, aber intensiv. Die Person Schauer bildet einen exemplarischen Beleg für die Tatsache, dass auch die untere Funktionärselite ein hohes Beharrungsvermögen repräsentierte. Schauer erwarb 1932 den Ingenieurabschluss. Von da an bis 1945 war er bei der Kreisel-Geräte-GmbH Berlin-Zehlendorf als Feinmechaniker und Ingenieur beschäftigt. Als Kriegsteilnehmer geriet er in sowjetische Gefangenschaft und nahm an der Antifa-Zentralschule in Moskau am Programm der Umerziehung teil. Die Sowjetunion verließ er im Januar 1949. Sofort wurde er Referent in der Landesregierung Brandenburg für den Bereich Planung (bis 1950). Anschließend wurde er bis 1951 in der VVB Metall als Industriegruppenleiter eingesetzt. 1951/52 war er in der VVB Optik Jena (für feinmechanische und optische Geräte) und anschließend bis 1955 als Leiter der Außenstelle des Ministeriums des Innern (MdI) in Leipzig beschäftigt. Seine Tätigkeit befasste sich hier »in erster Linie mit Aufträgen der Kasernierten Volkspolizei (KVP) und des Staatssekretariats für Staatssicherheit (SfS) auf elektrotechnischem Gebiet«.75 Zum 1. Juni 1955 wechselte er zum VEB Vakutronik, wo er als stellvertretender Direktor eingesetzt wurde. Der Vorschlag, 74  (1904–1980). Verw. Dresden, Abt. VI, vom 15.6.1955: Fabrikationsgesellschaft Elektronik v. Ardenne – Dr. Hartmann; BStU, MfS, AIM 4966/59, Teil II, 1 Bd., Bl. 10–13, hier 10. 75  Verw. Dresden, Abt. VI, vom 11.6.1955: Bericht; ebd., Teil I, Bl. 14–16, hier 14.

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ihn als GI zu werben,76 erfolgte vierzehn Tage später wegen zu geringer Agenturstärke im VEB Vakutronik.77 1959 wechselte er zur DAW. Zuletzt, von 1970 bis zur Berentung 1976, war er Mitarbeiter der Gruppe Organisation im Büro des Ministerrates der DDR (BMR).78 Die Werbung des GI erfolgte durch Ribbecke, der zu dieser Zeit Referatsleiter in der Abteilung VI war. Sie wurde am 14. Juni 1955 in Leipzig durchgeführt. Bereits hier soll er sich kooperativ gezeigt haben. So teilte er mit, dass er u. a. zu Hartmann und Ardenne guten Kontakt habe. »Er selbst« habe »Hartmann und dessen Ehefrau zu einem Besuch in seine Leipziger Wohnung eingeladen«. Den Decknamen »Karl Wagner« wählte er sich selbst. Es erfolgte sofort eine Auftragserteilung; u. a. sollte er die Verbindung zu den genannten Personen festigen und eine listenmäßige Aufstellung »aller bereits in der Fabrikationsgesellschaft eingestellten Personen« anfertigen.79 Eine Einschätzung seiner inoffiziellen Arbeitsweise vom 9. Januar 1956 ist divergent. Die Treffs fanden zwar regelmäßig statt, auch hatte er »auswertbares Material über die Entwicklung des Betriebes sowie über die mit dem Aufbau des Betriebes beauftragten Personen« geliefert. Doch über die eigenen Schwächen soll er geschwiegen haben. Das »persönliche Vertrauen und die gute Verbindung« zu Hartmann aber hatte »sich in der letzten Zeit verschlechtert«. Offizier Berthold, der diesen Bericht verfasste, meinte, dass es an Schauer gelegen habe, dies abzustellen. Sein Mitarbeiter wollte davon nichts wissen, er hielt die Fehler Schauers »objektiv« für »Schädlingsarbeit«, kam aber damit nicht durch.80 Die Fehler waren beiden Offizieren aus einem Papier vom 3. Januar bekannt. Ein dritter einbezogener Offizier hatte sie dezidiert aufgelistet: eigenwillige Entscheidungen, Verletzung des Sparsamkeitsprinzips, Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit; auch soll er »kein Vertrauen zu den Genossen« gehabt haben, sodass er lieber alles allein erledigte. Dieser Bericht enthält einen Hinweis zu Hartmann: der sei »über das Verhalten des Gen[ossen] Schauer sehr erbost, obwohl er es ihm direkt nicht sagt«. Schauer sei praktisch immun, da er vom MdI komme. Hartmann soll zum Kaderleiter geäußert haben: »Wenn ich Privatbesitzer wäre, hätte ich den Koll. Schauer schon längst fristlos entlassen.« Und weiter: »Die Genossen« der Bezirksparteiorganisation (BPO) hätten »sehr wenig Vertrauen zum« Schauer, »da er, um seine eigene Meinung durchzusetzen, und teils auch um persönliche Vorteile zu erhalten, die Genossen gegenseitig ausspielt, obwohl schon mehrmals aufgefordert, stellt er sich keiner Kritik der Genossen«. Die Belegschaft, so der Offizier, wisse von den Vorbehalten gegen Schauer, was zur »vollständigen Untergrabung der Autorität« 76  Vgl. Verw. Dresden, Abt. VI, vom 14.6.1955: Vorschlag zur Anwerbung eines GI; ebd., Bl. 12 f. 77  Vgl. SfS vom 14.6.1955: Aktenspiegel; ebd., Bl. 4 sowie Suchzettel vom 28.4.1955; ebd., Bl. 8. 78  Vgl. HA XX/1 vom 20.3.1970 u. vom 7.1.1971: Zur Person; BStU, MfS, AKK, Nr. 19242/80, 1 Bd., Bl. 5 u. 36 f.; HA XX/1 vom 20.6.1980: Abverfügung zur Archivierung; ebd., Bl. 43. 79  Verw. Dresden, Abt. VI, vom 14.6.1955: Werbebericht; BStU, MfS, AIM 4966/59, Teil I, 1 Bd., Bl. 44; Verpflichtungserklärung vom 14.6.1955; ebd., Bl. 45. 80  Abt. VI vom 9.1.1956: Einschätzung zu »Karl Wagner«; ebd., Bl. 57.

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Schauers geführt habe. Der Offizier empfahl, Schauer durch das Amt für Kerntechnik (AfK) abzuziehen. Dann »würde sowohl dem AfK als auch der BPO für das konsequente Verhalten in dieser Angelegenheit vom Dr. H. als auch der Belegschaft mehr Achtung und Vertrauen entgegengebracht werden«.81 Die SED entschied, Schauer aus der Schusslinie zu nehmen. Seine charakterlichen Eigenschaften hätten »in seiner weiteren Arbeit als kaufmännischer Leiter des VEB Vakutronik auch dazu« geführt, »dass es zu persönlichen Differenzen und Meinungsverschiedenheiten mit anderen klassenbewussten Genossen des Betriebes sowie auch mit dem Leiter des Betriebes, Professor Dr. Hartmann gekommen sei«. Obgleich Berthold der Auffassung war, dass Schauer weiterhin als GI einsetzbar und ein »guter Genosse« sei,82 musste er ihn notgedrungen abschreiben, nicht wegen interner Vorbehalte, wie es geschönt hieß, sondern wegen seiner Versetzung zum Amt für Technik Berlin.83 Dort wurde er zum Werkleiter der Physikalischen Werkstätten Rahnsdorf bestimmt, einer Schlüsseleinrichtung in der Forschungslandschaft der DDR, die im nachfolgenden Hauptkapitel eine Rolle spielt. Ursprünglich sollte er hier als »Sicherheitsinformator« eingesetzt werden.84 Abgesehen davon wurde er in einem anlassbezogenen Fall in die operative Bearbeitung einer Person, zu der er engen Kontakt pflegte, einbezogen, also gleichsam als GI reaktiviert. Hierfür ist nach Aktenlage zwar kein formaler Beschluss angelegt, doch ist festgehalten worden, dass es beabsichtigt sei, ihn in den Status eines Geheimen Hauptinformators (GHI) zu heben.85 Dies geschah nicht. Nach Beendigung der operativen Bearbeitung der betreffenden Person wurde der GI »Karl Wagner« mit Datum vom 3. Dezember 1959 erneut abverfügt.86 In der Abschlussbeurteilung steht vermerkt, dass der GI 1956 »abgelegt«, anschließend »offiziell getroffen« und am 7. April 1959 zum oben genannten Zweck reaktiviert worden sei. Danach soll er keine Perspektive mehr für den Staatssicherheitsdienst besessen haben.87 In Rahnsdorf ist er wie weiland in Dresden hart kritisiert worden. Es gab erhebliche Konflikte, sodass er auch Rahnsdorf wieder verlassen musste. Schauer war der erste inoffizielle Mitarbeiter, der zu Hartmann hinsichtlich seiner eigentlichen Arbeit systematisch gearbeitet hatte, und nicht »nur« aus der Außensicht wie sein Kraftfahrer, der GI »Zündkerze«. Seine Mitteilungen (Fakten, Vermutungen und Denunziationen) gingen in die spätere operative Beweisführung des MfS gegen Hartmann in den 1970er-Jahren ein. Am 27. Juni 1955 hatte Schauer in seiner Eigenschaft als Stellvertreter Hartmanns Offizier Ribbecke über die Aufbauarbeit des Betriebes berichtet. Der Bericht ist in thematischer Hinsicht bedeutsam, da er einen zu dieser Zeit bereits 81  Abt. VI/2 vom 3.1.1956: Bericht; ebd., Bl. 58–60. 82  Abt. VI vom 1.10.1956: Einschätzung zu »Karl Wagner«; ebd., Bl. 62. 83  Vgl. Abt. VI / L eitung vom 2.10.1956: Abverfügung; ebd., Bl. 63. 84  Vgl. MfS vom 14.12.1956: Beschluss über das Abbrechen der Verbindung; ebd., Bl. 64. 85  Vgl. Abt. VI/4 vom 11.6.1959: Einschätzung zu »Karl Wagner«; ebd., Bl. 76 f. 86  Vgl. Abt. VI vom 3.12.1959: Abverfügung; ebd., Bl. 79. 87  Abt. VI/4 vom 3.12.1959: Abschlussbeurteilung; ebd., Bl. 78.

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überraschend hoch entwickelten Eingriffsbedarf des Staatssicherheitsdienstes in originäre betriebswirtschaftliche Belange erkennen lässt; Zitat: »Der GI hat vom Genossen Generalmajor Menzel den Auftrag erhalten, ein Statut für den Betrieb auszuarbeiten, in dem die Aufgaben und Funktionen der leitenden Personen mit herausgearbeitet werden« sollen. »Hartmann wurde mit der Leitung des Betriebes beauftragt, während der GI als sein Stellvertreter eingesetzt wurde und die Leitung des kaufmännischen Sektors übertragen bekam.« Menzel hatte ferner den GI »im Zusammenhang mit dem Statut« beauftragt, die Stellung Manfred von Ardennes zu beachten. Es war »geplant, dass die Funktion Ardennes so festzusetzen und im Statut zu formulieren ist, dass er zwar in der Leitung des Betriebes mit erscheint, aber keinen entscheidenden Einfluss auf den Betrieb ausüben« könne. Beim MdI sei »man der Meinung, dass die Stellung Ardenne mehr eine beratende Funktion haben soll. Der GI will diese Fragen in den nächsten Tagen mit Ardenne lösen«. Hartmann sei »nach Rücksprache« mit Menzel »mit der Lösung dieser Frage einverstanden« und lege »keinen Wert darauf«, »dass sein Name in der Firmenbezeichnung mit erscheint«. Er arbeite »sehr intensiv am Aufbau des Betriebes« und habe es »bei der Aussprache mit dem GI abgelehnt, an der Tagung am 6. und 7. Juli von Wissenschaftlern in Berlin teilzunehmen. Er äußerte allgemein zu den Tagungen, dass dort sehr viel gesprochen« werde, er »aber seine Zeit besser für den Aufbau des Betriebes ausnutzen« wolle.88 Die Observationsaufgabe zu Hartmann war umfassend, u. a. »erhielt« er »den Auftrag, im Gespräch mit Dr. Hartmann festzustellen, welche Meinung dieser zu der Rede des Genossen Grotewohl in Dresden« habe.89 Schauer suchte Hartmann am 27. Juni 1955 auftragsgemäß in dessen Wohnung auf und lenkte das Gespräch einmal mehr »auf den Besuch von Hartmann bei dessen Vater in Berlin-Zehlendorf«. Hartmann habe ihm versichert, dass er Abwerbeversuchen gegenüber abweisend reagieren werde, würden solche an ihn herangetragen.90 Er war bemüht, eng an Hartmann heranzukommen, zumal er zunächst nicht in Dresden wohnte. Ihm mag es daher sehr zu pass gekommen sein, dass er – vielleicht nicht ganz unfreiwillig – keine Übernachtungsmöglichkeit vom 28. zum 29. Juni gefunden hatte. So bot Hartmann ihm an, in seinem Hause zu übernachten. Das war eine überaus günstige Gelegenheit für den Staatssicherheitsdienst. Und wie es der Zufall wollte, erschien am 29. Juni Ardenne bei Hartmann. Und wann immer sie sich trafen, wurden wichtige Dinge besprochen. In Gegenwart Schauers entspann sich rasch ein Gespräch über die aktuelle Situation in Bezug auf die Betriebsgrün88 Verw. Dresden, Abt. VI, vom 28.6.1955: Treff bericht; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 4–6, hier  4 f. sowie Verw. Dresden, Abt. VI, vom 28.6.1955: Treff bericht; AIM 4966/59, Teil II, 1 Bd., Bl. 16–18, hier 16. 89  Verw. Dresden, Abt. VI, vom 28.6.1955: Treffbericht; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 4–6, hier 5 f. sowie Abt. VI vom 28.6.1955: Treff bericht; BStU, MfS, AIM 4966/59, Teil II, 1 Bd., Bl. 18. 90  Verw. Dresden, Abt. VI / I I, vom 29.6.1955: Bericht zum Treffen mit »Karl Wagner«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 7; Verw. Dresden, Abt. VI, vom 29.6.1955: Treff bericht; BStU, MfS, AIM 4966/59, Teil II, 1 Bd., Bl. 19–21, hier 19.

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dung des VEB Vakutronik. Ardenne soll auf die Frage Hartmanns nach dessen Wunschfunktion geantwortet haben, dass er gemeinsam mit ihm die Funktion des Direktors ausüben wolle. Dies sei übrigens »schon längst entschieden« worden. Ardenne berichtete in diesem Zusammenhang, dass er mit seinen Mitarbeitern eine »Selbstverpflichtung« anlässlich der Tagung der Kulturschaffenden in Dresden mit Otto Grotewohl eingegangen sei. Dies betraf die Entwicklung eines Dosimeters, das er bereits in der Sowjetunion »geschaffen« habe. Die Initiative sei bereits bei Willi Stoph eingereicht. Im Übrigen habe er, so Ardenne, bereits einen Stempel für den Aufdruck auf das Dosimeter fertigen lassen mit der Aufschrift: »VEB Vakutronik v. Ardenne – Hartmann«. Walter Ulbricht soll dies bereits abgesegnet haben. Er habe auf der Kulturtagung circa 20 Minuten mit Otto Grotewohl gesprochen und sei »von der Persönlichkeit des Ministerpräsidenten sehr stark beeindruckt« gewesen.91 Dieser Teil des Berichtes entspricht jenem Bild von Ardenne, das ihn als einen ehrgeizigen und durchsetzungsstarken Mann zeigt, der bestrebt war, die Linien des Handelns vorzugeben. Der Staatssicherheitsdienst fertigte mit Datum vom 5. Juli einen Sachstandsbericht zu Hartmann vor allem auf Grundlage der Berichte Schauers an. Wesentliche Aspekte darin: er sei ein guter Physiker, ein Gegner der Sowjetunion und er bekomme Tabletten vom Vater, die der US-Geheimdienst zur Anfertigung von Geheimtinte benutze. Der Bericht listete seine Westverbindungen auf und legte die Eröffnung eines Operativen Vorgangs (OV) fest. Die Maßnahmen zur operativen Bearbeitung waren bereits äußerst komplex; einige Auszüge: »Der GI ›Karl Wagner‹ ist weiterhin an den Dr. Hartmann anzusetzen. Der GI muss es erreichen, dass er einen sehr guten und freundschaftlichen Kontakt mit dem Dr. H. bekommt, sodass beide nicht nur dienstlich zusammen verkehren.« Schauer erhielt folgende Aufgaben (hier gekürzt), zu klären: »mit welchen Spezialisten des Betriebes ›VEB Vakutronik‹« Hartmann »ein besonders enges Verhältnis« habe und wie er »zu den übrigen Spezialisten und Angehörigen der technischen Intelligenz« stehe; »zu welchen Spezialisten und Wissenschaftlern, die nicht im Betrieb ›VEB Vakutronik‹ beschäftigt sind«, er Verbindung habe; wann, wohin und mit wem er auf Dienstreisen fahre sowie die Anlässe dieser Fahrten; ob er »engere Verbindung zu Frauen in Dresden oder anderen Städten« habe; »welche politischen Diskussionen« er »zu den einzelnen Tagesfragen« führe. Darüber hinaus wurde in einem dritten Hauptpunkt festgelegt, dass »durch die Anwerbung des Spezialisten« erreicht werden solle, »dass innerhalb der SU-Spezialisten, welche im ›VEB Vakutronik‹ arbeiten, eine Agentur« etabliert werden könne. Der hierfür zu werbende GI sollte Fragen beantworten (hier gekürzt) nach dem Verhältnis von Hartmann »zu den Spezialisten im Betrieb«, insbesondere zu welchen von ihnen er »ein besonders enges Verhältnis« habe, sowie zu seiner politischen Einstellung. Weitere fünf Hauptpunkte beinhalteten technische und logistische Aufgaben wie Postkontrolle (privat und dienstlich), die Einleitung von allfälligen Beobachtungen rund um die 91  Ebd., Bl. 19 f.

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Uhr, die Aufklärung seiner Westverbindungen durch Einschaltung von MfS- und staatlichen Stellen, die Aufklärung von operativ interessanten Personen, mit denen Hartmann Verbindung hatte (ggf. sollten sie für Spitzeldienste angeworben werden). Ein neunter Hauptpunkt formulierte folgende Zielstellung: »Ergeben die Ermittlungen, dass negative oder mit dem Feind in Verbindung stehende Personen versuchen, enge Verbindung zu Dr. Hartmann anzuknüpfen bzw. schon eine enge Verbindung haben, so sind diese in operative Bearbeitung zu nehmen. Ziel der Bearbeitung muss die Anwerbung oder Liquidierung der Person sein. Die Bearbeitung übernimmt unter unserer Kontrolle und Anleitung die betreffende Verwaltung oder Dienststelle.« Das »Ziel der operativen Bearbeitung«, so abschließend, habe die »Erbringung des Beweises der Feindtätigkeit des Dr. ­Hartmann« zu sein.92 Ein Ziel, das weit über eine bloße Überprüfung hinausging. Hartmann stellte bald fest, dass die Postzustellung »so lange wie nach Russland« dauere, »sodass man auf die Vermutung« komme, dass es dieselbe Ursache »wie in Russland« habe, »nämlich eine Zensurstelle, die die Briefe liest oder fotografiert. Herrliche Zustände!«93 Am 22. Juli berichtete Schauer einmal mehr über die gemeinsamen Aktivitäten von Hartmann und Ardenne. Das Statut für den VEB Vakutronik war fertiggestellt und lag dem MdI zur Bestätigung vor. Für Ardenne war die Funktion des wissenschaftlichen Beraters der Direktion des Betriebes vorgesehen.94 Am 11. August teilte er seinem Führungsoffizier mit, dass das Statut, eingereicht von Hartmann am 22. Juli an Menzel, immer noch nicht bestätigt sei. Hartmann sei zudem erbost über den schleppenden Verlauf der Festlegung seines Gehaltes. Er habe seit seiner Rückkehr aus der Sowjetunion noch kein Gehalt bekommen. Schauer unterstützte ihn und stellte seinem Führungsoffizier die Frage, ob nicht auf dem Wege des Staatssicherheitsdienstes gegen das unmögliche Verhalten von Wenzel etwas gemacht werden könne. Gegenwärtig fühle sich keine Stelle für Hartmann zuständig. Hartmann und Ardenne hätten überdies beschlossen, »sich an den Forschungsarbeiten über Kernreaktoren in Zukunft zu beteiligen«. Der GI vertrat die Auf‌fassung, dass dieser Sinneswechsel der beiden erst nach der Genfer Konferenz eingetreten sei (Kap. 4.3.1). Er glaubte auch, dass Ardenne Hartmann diesbezüglich beeinflusst habe.95 Offenkundig half seine Intervention, da Hartmann rasch rückwirkend zum 1. März 1955 Gehalt bekam. Auch unterstützte er Hartmanns Bemühungen für eine Reise nach Genf, die bislang in Berlin blockiert worden war. Hartmann habe, so der GI zu seinem Führungsoffizier, von anderen ehemaligen SU-Spezialisten erfahren, dass sie von Mitarbeitern der Staatssicherheit befragt worden seien, ob die Gefahr einer Abwerbung bestehe.96 92  Verw. Dresden, Abt. VI / I I, vom 5.7.1955: Sachstandsbericht; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 8–11. 93  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 151. 94  Vgl. Verw. Dresden, Abt. VI, vom 27.7.1955: Treff bericht; BStU, MfS, AIM 4966/59, Teil II, 1 Bd., Bl. 24 f., hier 24. 95  Verw. Dresden, Abt. VI, vom 12.8.1955: Treff bericht; ebd., Bl. 26 f. 96  Vgl. Verw. Dresden, Abt. VI, vom 26.8.1955: Treff bericht; ebd., Bl. 29–31, hier 29 f.

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Am 6. September berichtete er nach Quellenlage erstmalig denunziatorisch über Hartmann.97 Die offizielle Kontaktaufnahme des MfS mit Hartmann geschah am 9. September im VEB Vakutronik Dresden. Er soll den Dienstausweis genau studiert und sich nach Einschätzung von Unterleutnant Günther Jahn (stellvertretender Referatsleiter in der Abteilung VI) despektierlich über dessen geringen Offiziersgrad gezeigt haben. Jahn hatte ihm, das war Usus, Hinweise über Spionageinteressen des Westens bei Westreisen gegeben. Als während der Unterhaltung Ardenne zu ihm wollte, sei der von Hartmann »nicht eingelassen« worden.98 Hartmann konnte nicht ahnen, dass Jahn ein bedeutender, auch überdurchschnittlich intelligenter Abwehragent des MfS werden sollte, der in allen drei Hauptkapiteln eine bedeutende Rolle spielt. Schauer berichtete am 12. September schriftlich über mehrere Aspekte, so über die obige Aussprache Hartmanns mit dem Staatssicherheitsdienst und dessen Reise zur Physikertagung nach Wiesbaden, die vom Amt für Technik genehmigt worden war. Ferner über ein gemeinsames Gespräch mit Hartmann bei dem Leiter des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik (AKK) Karl Rambusch. Dem seien alle offenen Probleme bezüglich des Aufbaus von Vakutronik vorgelegt worden, er versprach zu helfen. Allerdings soll er sich zu »keiner« einzigen »aufgeworfenen Frage entschieden« haben. Ardenne hatte ebenfalls ein Gespräch mit Rambusch. Auch der habe ihn wie Schauer und Hartmann als Fachmann erlebt; Barwich wird hingegen zu einem völlig anderen Urteil mit erheblicher Tragweite kommen (Kap. 4.3.1). Nach Absprache von Hartmann, Ardenne und Schauer waren für den Produktionsplan 1956 einige Produkte bilanziert worden, u. a zwei magnetische Isotopentrenner mit einem Stückpreis von ca. einer Million DM.99 Auch sei es wieder um die Namensgebung von Vakutronik gegangen.100 Ein Bericht vom 15. September beschrieb u. a. das Verhältnis Hartmanns zum Staatssicherheitsdienst. Demnach soll er ausdrücklich gebeten haben, dass »in Zukunft nur eine bestimmte Person vom SfS den offiziellen Kontakt« zu ihm und Vakutronik halten möge. Die Bitte leitete er auf dem Dienstweg weiter.101 Er hatte anschließend Schauer mitgeteilt, »dass ein Genosse der Staatssicherheit bei ihm« gewesen sei »und sich nach verschiedenen Dingen« erkundigt habe. Man habe ihn gewarnt, dass er »im Westen angesprochen werden« würde. Hartmann will dem Offizier gesagt haben, »dass er das wüsste und man ihn nicht darauf aufmerksam machen« müsse. Auch wünsche er, »dass immer die gleiche Person« zu ihm komme. Es könne ja sonst jeder kommen. Er wolle »in dieser Angelegenheit mit G ­ en[ossen]

97  Vgl. Verw. Dresden, Abt. VI, 15.9.1955: Bericht von »Karl Wagner« am 6.9.1955; ebd., Bl. 45. 98  Verw. Dresden, Abt.  VI/2, vom 14.9.1955: Bericht über Kontaktaufnahme; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 12 f. 99  Verw. Dresden, Abt. VI, vom 13.9.1955: Treff bericht; BStU, MfS, AIM 4966/59, Teil II, 1 Bd., Bl. 39 f. 100  Vgl. Verw. Dresden, Abt. VI, (o. D.): Bericht von »Karl Wagner«; ebd., Bl. 41 f. 101  Verw. Dresden, Abt. VI, vom 15.9.1955: Treff bericht; ebd., Bl. 44.

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Zeiler (ZK) sprechen«.102 Friedrich Zeiler war von 1955 bis 1957 Leiter der Abteilung Technik des ZK der SED und ab 5. November 1955 Sekretär der Parteikommission für Fragen der Kernphysik. Am 11. Oktober 1955 erfolgte die Gründung des VEB Vakutronik. Ende 1959 zählte der Betrieb 1 500 Mitarbeiter, heute heißt er VacuTec Messtechnik GmbH Dresden. Hartmann hatte sich stets überzeugt gezeigt, dass Industriebetriebe »›origi­ nelle‹ Namen benötigen, die sich leicht einprägen und von anderen deutlich unterschieden sind«. Nicht so banal und trocken wie Funkwerk Köpenick sollten sie heißen. »Auch die sozialistische Wirtschaft« brauche »Werbung«. Zur Findung solcher Namen kombinierte und probierte er Worte und Wortteile, auf eine solche Weise entstand aus Vakuum und Elektronik das Kunstwort Vakutronik. Hartmann rückblickend: »Damals brauchte ich niemanden um Genehmigung zur Namensgebung fragen.« Anlässlich der Eingliederung von Vakutronik bei der »Bildung des VEB Messelektronik Dresden verlosch dieser Name leider. Er starb also am 1. Januar 1969.«103 Auch zum Aktifon D VA-J-22, einem Strahlenmessgerät, fand er die Bezeichnung durch Kombinatorik. Das tragbare Gerät war für den qualitativen Nachweis von β- und γ-Strahlen radioaktiver Isotope konzipiert. Es war ästhetisch und funktional ausgezeichnet, versehen mit einer heute nicht mehr gebräuchlich klaren Gerätebeschreibung mit Garantieurkunde, Prüfprotokoll, Schaltplan, technischen Daten, Bedienungsanleitung, Reparatur- und Wartungshinweisen. Alles zusammen fadengeheftet im A-6-Format. Selbst im Urlaub in Kühlungsborn erreichten ihn täglich Anfragen zum Bau- und Betriebsgeschehen; Hartmann: »Es war eine schöne, dynamische Zeit!«104 Am 10. November beschloss der Ministerrat der DDR u. a. die Gründung des ZfK Rossendorf (unter Heinz Barwich), des Instituts für Kernphysik Zeuthen (unter Bernhard Richter) und des VEB Vakutronik (unter Werner Hartmann). Hartmann wurde später mitgeteilt, dass die Dinge, die an diesem Tage im Ministerrat besprochen worden seien, im Wesentlichen im Düsseldorfer Industriekurier zu lesen waren.105 Am 9. Dezember 1961 erhielt er einen Einzelvertrag. Die Nachträge Nummer 1 vom 8. Januar 1962 und Nr. 3 vom 3. August 1965 sollen laut Gutachter des MfS den »Verordnungen über die Aufgaben, Rechte und Pflichten des volkseigenen Produktionsbetriebes vom 9. Februar 1967« entsprochen haben. Festgelegt war, dass die volkseigenen Betriebe und Einrichtungen »nach dem Prinzip der Einzelleitung bei kollektiver Beratung der Grundfragen und umfassender Mitwirkung der Werktätigen geleitet« werden.106 102  Verw. Dresden: Bericht von »Karl Wagner« vom 14.9.1955; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22. Handschriftlich in: Bericht von »Karl Wagner« (o. D.); BStU, MfS, AIM 4966/59, Teil II, 1 Bd., Bl. 38. 103  TSD; Nachlass Hartmann, G 30. 104  Ebd., G 88. 105  Vgl. ebd., G 46. 106  Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, hier 63.

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Zum 24. Januar 1954 verlor Hartmann seinen »ständigen Begleiter« Werner Schauer alias GI »Karl Wagner«. Für den Staatssicherheitsdienst war dies eine Niederlage. Die Beendigung des Arbeitsvertrages zwischen dem VEB Vakutronik und ihm wurde »im gegenseitigen Einvernehmen mit Zustimmung des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik zum 31. Januar 1956 gelöst«.107 Aus dem Sachstandsbericht zum OV »Tablette« vom 1. Februar 1956, angelegt zu Hartmann, folgt, dass er im Rahmen des Aufbaus von Vakutronik überaus positiv beurteilt worden ist. Er sei eine »sehr gute Fachkraft« und verstehe es, den Betrieb »aufzubauen und zu leiten«. Er besitze eine »große Autorität im Betrieb«. Der Hauptgrund zur Eröffnung des Vorgangs lag in etwas anderem, nämlich in der Tatsache des Tablettenempfangs, siehe oben. Der Sachstandsbericht listete Hartmanns engste Verbindungen zu Personen auf.108 Zum 1. März erhielt Hartmann eine Professur an der TH Dresden. Die Ernennungsurkunde wurde am 26. April ausgestellt: ernannt zum Professor mit vollem Lehrauftrag für Kernphysikalische Elektronik an der Fakultät für Kerntechnik der TH Dresden.109 Am 13. März erfolgte die Probevorlesung über das Thema »Vervielfacher als kernphysikalische Messgeräte«. Fragen zur Habilitation im obligatorischen Kolloquium stellten u. a. Klaus Lunze und Hans Frühauf. Die Habilitationsschrift ist als Beitrag in dem von Gustav Hertz herausgegebenen Band über Physikalische Messgeräte abgedruckt.110 Am 1. April erfolgte der offizielle Arbeitsbeginn des VEB Vakutronik.111 An diesem Tag schrieb er seinem Vater, dass die »Entthronung Stalins und seine Belastung mit so viel unerfreulichen Dingen« für die Satellitenstaaten Moskaus »nicht sehr günstig« sei, da sie »jahrelang alles nachgebetet« hätten.112 Hartmann hatte kurz zuvor an der internationalen Atomkonferenz in Moskau teilgenommen. »Mir und uns Deutschen war es ja drüben schon lange klar, dass keine geordneten Rechtsverhältnisse herrschten; das haben wir in unserem eigenen Leben in Suchumi oft genug erfahren.« Die jugoslawische Zeitung Borba, in Moskau erhältlich, bringe über die Ereignisse viel, sie sei »sofort ausverkauft« gewesen; Hartmann: »Mit der UdSSR lernt man nie aus. Hoffentlich ändert sich nun einiges, was viele Deutsche vor den Kopf gestoßen hat.«113 Am 4. Mai besuchten Ulbricht und Stoph Vakutronik.114 107  Dokument, Slg. Lothar Schauer, erhalten am 11.5.2014. 108  Abt. VI/2, vom 1.2.1956: Sachstandsbericht; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 14–17. 109  Vgl. SfH, Harig an Hartmann vom 26.4.1956; ebd., Bd. 22, Bl. 140. 110  TSD; Nachlass Hartmann, G 50; Hertz, Gustav (Hrsg.): Grundlagen und Arbeitsmethoden der Kernphysik. Berlin  1957. Hartmann erinnerte, dass er am 29.5.1956 die Beauftragung zum Professor mit vollem Lehrauftrag erhalten und die erste Vorlesung am 21.9.1956 gehalten hatte: TSD; Nachlass Hartmann, G 8. 111  Vgl. ebd., G 8. 112  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 151. 113  Schreiben vom 1.4.1956; ebd., Bd. 6, Bl. 17. 114  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, G 8.

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Indes ging seine Observation auch ohne den GI »Karl Wagner« weiter. Am 10. April 1956 berichtete sein Kraftfahrer, der GI »Zündkerze«, dass Hartmann es vermeide, wenn er nach Berlin fahre und dabei seinen Vater in Zehlendorf treffe, in Westberlin zu übernachten, da bei seinem Vater »öfters« US-Geheimdienstler auftauchten. Ferner berichtete »Zündkerze«, dass Hartmann im vorigen November ein und nun im Januar wieder zwei »versiegelte« Pakete (von seinem Vater) erhalten habe, »angeblich« seien »wissenschaftliche Bücher« darin.115 Eine eigentümliche Pointe ist, dass der GI »Zündkerze« auch Schauer gefahren hatte.116 Was zumindest in den 1970er- und 1980er-Jahren in der DDR undenkbar war, geschah am 25. April im VEB Vakutronik. Als SED-Genossen auf einer Parteiversammlung des Betriebes, auf der Rambusch, Leiter der AKK, das Referat hielt, Kritik an der Leitungstätigkeit ihres Chefs Hartmann übten, ließ der sich dies nicht gefallen. Bereits »am nächsten Tag« hielten die betreffenden Genossen »ein Anschreiben« in der Hand. »Zugesandt mit der Auf‌forderung«, unverzüglich »zu ihrer Kritik einen schriftlichen Bericht« vorzulegen.117 Am 17. Mai fuhr Hartmann nach Berlin zu einem Gespräch mit Barwich ins AKK Berlin. An dieser Besprechung nahmen weitere Personen teil. Die Begebenheit wäre nicht erwähnenswert, wenn der GI »Zündkerze« nicht zu vermelden gehabt hätte, dass Hartmann bei Barwich zu Hause »zwei versiegelte Pakete (Bücher)« abgeholt habe.118 Das war es, was den Dienst interessierte: Was übergab Barwich ihm? Wenig später ging es nochmals nach Berlin zum Zwecke des Besuches des AKK am 28. und 29. Mai. Hartmann habe, so der GI »Zündkerze«, bei dieser Gelegenheit bei seinem Vater in Zehlendorf übernachtet. Er stellte fest, dass Hartmann vor dem Besuch seines Vaters »einen größeren Betrag an Banknoten bei sich« getragen habe. Und am nächsten Tag – wie in letzter Zeit mehrfach – soll er abgespannt und nervös gewirkt haben. Er habe ihm u. a. erzählt, dass er während seiner Studentenzeit »in einer Jazz-Kapelle« Geld »verdienen musste«. Eine Beobachtung von »Zündkerze« zufolge sei der Wagen Hartmanns völlig verdreckt gewesen und es hätten »am Kühler Schwärme von toten Mücken« geklebt. Hartmann habe an einem Tag den Betrieb bereits um 15.00 Uhr verlassen und sei zur Entspannung »in Richtung Berlin und Bautzen gefahren«.119 Solche Nachrichten signalisierten dem Staats­sicherheitsdienst »Republikfluchtgefahr«. Der verfasste am 26. Juli einen neuerlichen Operativplan. Neben der bereits laufenden Postkontrolle und der Kontrolle der Dienstfahrten wurden nun auch andere Beobachtungsformen einschließlich operativer Kombinationen etwa zu seinem Vater (Animation zur geheimdienstlichen Tätigkeit mit

115  Abt. VI/2 vom 11.4.1956: Aktenvermerk; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 19 f., hier 19. 116  Vgl. Schreiben von Lothar Schauer an den Verf. am 8.6.2014. 117  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 13.05.1966: Sachstandsbericht zum operativen Material »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 14–40, hier 20. 118  Abt. VI/2 vom 25.5.1956: Aktenvermerk; ebd., Bd. 15, Bl. 23 f., hier 23. 119  Abt. VI/2 vom 4.6.1956: Aktenvermerk; ebd., Bl. 25 f.

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anschließender Verhaltenskontrolle)  festgelegt.120 Die Einzelheiten wurden am 1. September fixiert.121 Am 28. August besuchte der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates und Vorsitzende der Kommission für Industrie und Verkehr Fritz Selbmann den VEB Vakutronik. Das geschah bereits im Kontext mit einer kurz zuvor erfolgten Kontrolle des ZK im Betrieb. Selbmann muss Hartmann deutlich kritisiert haben, einer der Vorwürfe war so bedeutsam wie auch absurd zugleich; in der Erinnerung Hartmanns: »Ich schalte zu schnell für die Mitarbeiter. Ich hätte gut gearbeitet. Ich hätte wohl kein Vertrauen zur Partei.«122 Bereits am 16. Oktober erfolgte ein neuerlicher Besuch im Betrieb, diesmal durch Max Steenbeck und Hans Wittbrodt. Der fiel deutlich angenehmer aus, man war unter sich. Kurz zuvor, im September, nahm Hartmann an der Physikertagung in München teil. Der Staatssicherheitsdienst mag es bedauert haben, zurzeit keinen inoffiziellen Mitarbeiter in Augenhöhe Hartmanns besessen zu haben. Immerhin hatte er im GI »Zündkerze« einen fleißigen. Mit dem traf sich der Führungsoffizier am 20. Oktober. Auf der Berichtsagenda standen u. a. die Aktivitäten Hartmanns in Westberlin. Zwei Stunden soll sich Hartmann mit seinem Vater in der Ostberliner HO-Gast­ stätte Lukullus getroffen haben. Der GI sei von Hartmann gebeten worden, sich während dieser Unterhaltung »ausnahmsweise« an einen anderen Tisch zu setzen. »Beide«, so GI »Zündkerze«, seien »mitunter ziemlich erregt« gewesen.123 Bereits in diesem Jahr stellte Hartmann einem seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter die Aufgabe, sich mit der Elektronik von Transistoren zu beschäftigen, diese Sache zu »studieren«. Das sich mit Halbleitertechnik befassende Institut in Teltow befand sich am Beginn entsprechender experimenteller Forschungen, konnte jedoch noch kein Sortiment liefern. International waren seit 1948 bereits Ge-Transistoren auf dem Markt.124 Hartmann wurde von Rambusch zum 1. Januar 1957 zum Werkleiter des VEB Vakutronik berufen. Seine Entscheidungsbefugnis war – mit Blick auf die kommende Praxis der DDR noch einigermaßen – »umfassend«; fixiert war: »Sie haben den VEB Vakutronik nach Maßgabe der Bestimmungen des Statutes der zentralgeleiteten Betriebe der volkseigenen Wirtschaft in der DDR« vom 7. August 1952 »in persönlicher Verantwortung und nach dem Grundsatz der Einzelleitung bei aktiver Mitwirkung aller Beschäftigten zu leiten.« Natürlich geschah auch dies nicht im parteilosen Raum, sondern unter »Wahrung der demokratischen Gesetzlichkeit, den Plan des Betriebes und an die Weisungen des Leiters des Amtes für Kernforschung

120  Vgl. Abt. VI/2 vom 26.7.1956: Operativplan; ebd., Bd. 5, Bl. 1–3. 121  Vgl. Abt. VI/2 vom 1.9.1956: Operativplan; ebd., Bl. 4–7. 122  TSD; Nachlass Hartmann, G 8. 123  Abt. VI/2 vom 26.10.1956: Bericht von »Zündkerze«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 43, Bl. 68 f., hier 68. 124  TSD; Nachlass Hartmann, G 114.

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und Kerntechnik« gebunden.125 Am 31. Januar stellte sich der Parteisekretär der Betriebsparteiorganisation (BPO) des VEB Vakutronik, Günt(h)er Schwanbeck, bei Hartmann vor. Nur drei Monate später schienen die Fronten zwischen der SED und Hartmann verhärtet. Am 25. April äußerte Rambusch zu ihm: »Sie sind zu stark, die anderen sind zu schwach!«126 Am 23. Februar besuchte eine sowjetische Delegation Vakutronik. Für Hartmann war es ein doppeltes Heimspiel: Mit russischen Wissenschaftlerfunktionären zu reden war vergleichsweise erholsam.127 Erste Überlegungen zu einem industriellen Betrieb mit dominantem Forschungsanteil und einigermaßen losgelöst von der starren Zentralverwaltungswirtschaft mit ihren Kennziffern der Produktionsplanerfüllung diskutierte Hartmann nach eigenem Erinnern bereits 1957.128 Das ist belegt mit einem Schreiben Hartmanns an Rambusch vom 18. März 1957: »Als ich die Aufgabe des Aufbaus unseres Werkes übernahm, tat ich dies als Physiker in Übereinstimmung mit hohen Staats- und Parteifunktionären in der Erkenntnis, dass ein derartiger Betrieb nur dann den geeigneten Zuschnitt erhält, wenn er nicht von einem Wirtschaftler geschaffen wird.«129 In jeder Hinsicht war es eine bewegte, eine aufregende Zeit, eine Zeit, in der sich Hoffnungen und Enttäuschungen bei denen, die in der DDR bleiben wollten, regelmäßig noch die Waage hielten. Der Dresdener Klub Just zu dieser Zeit, am 23. März 1957, ist der Dresdener Klub im Lingnerschloss (ehemals die im klassizistischen Stil von 1850 bis 1853 erbaute Villa Stockhausen) in der Bautzener Straße gegründet worden.130 Die Initiative soll vom damaligen Oberbürgermeister Walter Weidauer ausgegangen sein, möglicherweise auf Ermunterung von Ulbricht. Weidauers Initiative ging zunächst an Ardenne, der später dann auch die Eröffnungsrede hielt. Die Entwicklung des Klubs verlief in drei Phasen: Als elitäre Einrichtung bis 1972, als Vereinnahmung seitens des Kulturbundes – unter dem Aspekt des Zusammenschlusses mit dem Klub der Intelligenz und dem Carus-Klub der Ärzteschaft – bis 1991 und als Verein für sinnvolle Freizeitgestaltung seitdem. Die Mitglieder wurden berufen, ihre Zahl war begrenzt und bestand übergreifend aus den Sparten von Wissenschaft und Technik über Theater und Tanz bis hin zu Musik, Bildhauerei, Malerei und Dichtkunst. Der Dresdener 125 Berufungsurkunde für Prof. Dr.-Ing. Werner Hartmann vom 28.1.1957; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22, Bl. 12. 126  TSD; Nachlass Hartmann, G 9. 127  Vgl. ebd., G 70. 128  Vgl. ebd., G 57. 129 Hanisch: Zum Persönlichkeitsbild Hartmanns (o. D.); BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22, Bl. 151–156, hier 155. 130  Vgl. ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 430. Adresse, Schriftzug und Bild enthalten.

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Klub besaß eine ausgeprägte öffentliche Dimension, war Ort von Konferenzen, Beratungen und Empfängen. Es wurden Damennachmittage durchgeführt, auch gründeten sich Wander- und Bridgegruppen.131 Zu den Gründungsideen und -forderungen Ardennes zählten der Speisesaal, das Teezimmer, der Unterhaltungsraum mit Sesselgruppen, das Kaminzimmer mit großen Sofas, der Tanzraum mit Bar, das Bibliotheks- und das Musikzimmer, ferner Räume für Fernsehen, Billard sowie Wintergarten, Milchbar und Eisdiele. Auch ein Türmchen »evtl. mit kleinem astronomischem Fernrohr«, einen Vortragssaal mit Experimentierbühne, eine Sauna und ein Kinderspielzimmer.132 Hartmann war oft im Klub, er nutzte in ihm gar »ab und zu das Musikzimmer« für »Sitzungen des VEB Vakutronik«.133 Doch spätestens Anfang 1963 gelangte Hartmann zu der Auffassung, dass der Klub einzuschlafen und auseinanderzubrechen drohe. Und er prophezeite, dass der Klub in zwei bis drei Jahren »völlig eingeschlafen« sein werde. Ähnlich soll es u. a. sein Freund Kammersänger Theo Adam eingeschätzt haben. Der frühere Direktor der Investbank (IBD) habe gar »direkt von einer Klubkrise« gesprochen und die Ansicht vertreten, dass der Klub »immer mehr in Gruppen« zerfalle. Die Genossen würden sich separieren, sie blieben immer unter sich. Sie hätten somit »zu wenig Kontakt und Einblick in die Meinung« der Parteilosen.134 Der Klub war beliebt für Spitzel. Laut Informationen des IM »Beumann« vom 2. Februar sowie des IM »Woithe« vom 8. Februar 1960 verbrachte Hartmann im Dresdener Klub die meiste Zeit beim Studium westdeutscher Zeitschriften. »Besonders intensiv« lese er Die Welt, die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie die Süddeutsche Zeitung. Am 23. März 1960 berichtete der IM »Günther«, dass Hartmann gesagt haben solle, dass man, »wenn man etwas machen will, die Scheuerfrau fragen« müsse. Im Zusammenhang mit einem Vorschlag, den er an Selbmann gegeben hatte, soll er geäußert haben: »bei uns würde jede Initiative unterdrückt, sodass es besser wäre, den Kopf einzuziehen.«135 Am 13. Juni 1957 schrieb der Staatssicherheitsdienst den Abschlussbericht zum OV »Tablette« aufgrund der Nichtbestätigung des Spionageverdachts. Allerdings wurde der Vorgang noch nicht abgelegt.136 Hartmann führte mit Kollegen eine Dienstreise nach Heidelberg vom 26. September bis mindestens 2. Oktober durch. Chauffiert wurden sie wie stets vom GI »Zündkerze«, der über die Reise am 8. Oktober berichtete. Ein Bericht, der rein 131  Vgl. Historie: 50 Jahre Dresdner Klub e. V., in: https://dresdnerklub.de/historie, aufgefunden unter https://de.wikipedia.org/wiki/Klub_der_Intelligenz; letzter Zugriff: 10.1.2020. 132 Lingnerschloss, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Lingnerschloss vom 8.1.2013, S. 1–3; letzter Zugriff: 8.1.2013. Der Beitrag ist durch Aktualisierungen deutlich verändert worden; letzter Zugriff: 10.1.2020. 133  Abschrift aus einem Bericht zum Treffen mit »Woithe« am 6.11.1959; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 34. 134  Bericht von »Mai« am 28.1.1963; ebd., Bl. 54. 135  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 155; Bericht des IM »Günther«; ebd., Bd. 6, Bl. 39–44, hier 42. 136  Vgl. Abt. VI/2 vom 13.6.1957: Abschlussbericht zum OV »Tablette«; ebd., Bd. 2, Bl. 1 f.

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gar nichts mit dem eigentlichen Zweck der Dienstreise zu tun hatte.137 Es ist auch unklar, wann Hartmann von Heidelberg aus mit »Zündkerze« nach Westberlin gefahren war, um dort an einer Tagung vom 30. September bis 2. Oktober teil­ zunehmen. »Zündkerze« hatte wie gewohnt das Drumherum, also Hartmanns Bewegungscharakteristik zu observieren. An dieser Tagung nahm auch Hans Lippmann teil,138 der bereits zu diesem Zeitpunkt ein kongenialer Partner Hartmanns war. Später stand er oft an seiner Seite, zuletzt hielt er die Trauerrede für ihn im Jahr 1988. Vor seinem Eintritt in die AME war er aus der SED ausgetreten.139 Auf einer Besprechung mit Vertretern des AKK vom 13. November stellte Hartmann mit Nachdruck fest: »Ich bin und bleibe Gegner einer falsch verstandenen Demokratie, die glaubt, Probleme lieber statt von 3 Fachleuten von 30 Laien entscheiden zu können. Diese Auf‌fassung hat Unterstützung von Stoph und Zeiler. Bei dieser falschen sogenannten Demokratie wäre es schwer, Einzelverantwortungen zu übernehmen.«140 Es entsprach seinem »eckigen« Naturell, die Ärgernisse umgehend beim Namen zu nennen, sie nicht zu umschiffen, diplomatisch zu verkleinern oder gar auszusitzen. Entsprechend lehnte es Hartmann später auch ab, in der AME extra ein Kollektiv zu gründen, das sich mit der Typenbezeichnung und den Namen für die Geräte beschäftigen sollte, was nur viel Zeit und Geld kosten würde. Also bestimmte er in der AME einen Mitarbeiter dazu, und zwar den aus Greifswald stammenden Günter Bartels,141 der vom Meteorologischen Observatorium in Kühlungsborn kam.142 Bartels leitete später das Wissenschaftliche Büro für Perspektivplanung und Dokumentation mindestens bis zum Hausverbot Hartmanns.143 Hartmann verstand etwas von der Notwendigkeit von Übungen und Einübungen: Praktika, wertfreie Fachgespräche, das »Institut« der vorläufigen Problemlösung und vor allem das »Schmiedelabor«, sein Kunstwort für problemorientierte Versuche und Fertigungen applikativen Charakters. Das »Schmiedelabor« war auch so etwas wie eine »Erkundungsforschungsstelle«. Die Fragestellungen besaßen den Charak137  Vgl. »Zündkerze« zur Dienstreise Hartmanns, Bericht vom 8.10.1957; ebd., Bd. 15, Bl. 282. 138 Vgl. »Zündkerze« zur Dienstreise Hartmanns und anderen Aspekten, Bericht vom 15.10.1957; ebd., Bl. 283 f. 139  Vgl. Bericht von »Rüdiger« vom 27.1.1966; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 80 f. 140  HA XVIII/8/3 und BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 27.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 3, Bl. 1–71, hier 17; Hanisch (o. D.): Zum Persönlichkeitsbild Hartmanns; ebd., Bd. 2, Bd. 22, Bl. 151–156, hier 154. 141  (1921). Ermittlung nach §§ 97 u. 165 StGB. Studierte sechs Semester Physik an der EMAU Greifswald, zwei Semester an der TU Dresden und zwei Semester an der WPU Rostock. Ab 1948 tätig im Meteorologischen Observatorium Kühlungsborn, 1956 bis 1962 Vakutronik, anschließend AME; vgl. BV  Dresden, Abt.  XVIII/2, vom 16.4.1974: Sachstandsbericht zur Umregistrierung der OPK zur VAO; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2092/76, Bd. 1, Bl. 25–27; Personalbogen vom 8.5.1956, Lebenslauf vom 1.5.1956; ebd., Bl. 86–90. 142  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, G 85. 143  Vgl. Zur Kaderarbeit der AMD, Autor vermutlich Hanisch (o. D., vermutlich 1974); BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 23, Bl. 141–147, hier 142; Hanisch: Auswertung von Archivunterlagen vom 25.6.1975; ebd., Bd. 37, Bl. 112–120.

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ter »grob wie Eisen in einer Schmiede«.144 Der Begriff machte schnell die Runde. Hanisch alias IM »Rüdiger« wird später den Begriff umkehren und negativ besetzen. Spätestens ein Jahr nach der Ernennung als Werkleiter des VEB Vakutronik musste Hartmann registrieren, dass die bekannte Mangelwirtschaft der DDR voll auf seinen Betrieb durchschlug. Am 31. Januar 1958 hieß es einmal mehr, dass »keine schnellen Materiallieferungen« mehr für den Betrieb »erreichbar« sein würden. Hartmann forderte »neue Wege zur Beschleunigung«. Es war Ablenkung, Kalkül und Unfähigkeit zugleich, wenn die SED-Funktionäre vor Ort diese Grundsituation nicht sehen wollten und stattdessen auf Ideologisches fokussierten. Peter Knoll vom AKK versuchte Hartmann die Bildung einer parteifeindlichen Plattform anzulasten. Er, Hartmann, versuche, »der Partei etwas vorzuschreiben«. Postwendend folgten Auseinandersetzungen Hartmanns mit Knoll.145 Knoll hatte nie den Weg des knallharten, ideologisch verengten Parteiarbeiters verlassen. Keiner schien ihn zu akzeptieren. Er war alles andere als beliebt. Folglich war er im September 1962 für einen Posten im Rahmen der RGW-Arbeit im Gespräch. Das entsprach einer Art von gratifizierter Abschiebung. Knoll war zu diesem Zeitpunkt Mitarbeiter im Zentrum für Kernforschung (ZfK), Abteilung »Auswertung und Kontrolle«. Er selbst ließ durchblicken, dass er beabsichtige, in die Sowjetunion »auszuwandern«. Das war in diesem Fall realistisch, stammte doch seine Frau von dort. Er hatte »Mühe«, »sich im ZfK wissenschaftlich zu behaupten«.146 Die Aussagen in den Akten des BStU decken sich mit denen Hartmanns aus dessen »Museum«. Am 6. Februar hatte er Knoll gefragt, was denn eine Plattform eigentlich sei. Der soll erwidert haben: »wenn sich jemand über oder gegen die Partei stellt«. Auf sein Drängen, Beispiele für seine angeblich diktatorische Einzelleitung zu nennen, soll Knoll auf den Parteisekretär der BPO Vakutronik Schwanbeck verwiesen haben. Hartmann verlangte sofortige Klärung und rief Schwanbeck hinzu. Der nannte drei Punkte, die den Definitionsstand zu einer »Plattform« jedoch kaum entsprachen. Etwa die Vorhaltung, wonach Hartmann einen »ungenügenden Einfluss auf die Beseitigung der Spannungen« zwischen zwei Personen aus der Buchhaltung genommen habe. Hartmann »habe darauf hingewiesen, dass diese Punkte mit dem Prinzip der Einzelleitung nichts zu tun« hätten. Knoll und Schwanbeck widersprachen nicht.147 Am 10. Februar teilte Schwanbeck Hartmann mit, dass Selbmann wegen »fraktioneller Tätigkeit« abgesetzt werde.148 Hartmann hatte kein schlechtes Verhältnis zu Selbmann. Im Rahmen einer Belegschaftsversammlung des VEB Vakutronik für die »Arbeitsrichtung 1958« hatte er ausgeführt, dass den SED-Genossen vor Ort seine personalpolitischen Entscheidungen nicht geschmeckt hätten, da diese, 144  TSD; Nachlass Hartmann, G 92. 145  Ebd., G 10 f. 146  HA III/6/S vom 22.9.1962: Bericht von »Karl« am 21.9.1962; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 272–274, hier 273. 147  Vermerk vom 7.2.1958 über ein Gespräch mit Hartmann am 6.2.1958; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 20 f. 148  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, G 10.

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seine »lebendige Arbeit«, wie Hartmann es nannte, die Zustimmung Selbmanns gefunden habe. Diese, seine »lebendige Arbeit« lautete: »Nach Ablauf eines Jahres wird sich zeigen, wer sich bewährt hat und wer nicht. Ich werde einen strengen Maßstab anlegen und dann auch die Möglichkeit haben, Kollegen, die den Anforderungen nicht genügen, einen Arbeitsplatzwechsel anheimzustellen. Ich bin entschlossen, diesen Aktivierungsprozess konsequent durchzuführen!« Hartmann erinnerte daran, dass die DDR ein kleines Land sei, »das in sehr hohem Maße auf sich ganz allein gestellt« sei und infolgedessen auf das größte Kapital, die Arbeitskraft, in besonderer Weise angewiesen sei. Die Vergeudung der Arbeitskraft geschehe »aber in erschreckendem Maße täglich«. Die DDR werde »nicht in der Lage sein, Exportmärkte zu gewinnen«.149 Später, am 21. Februar 1963, wird er in dieser Hinsicht an Erich Apel die Vertrauensfrage stellen. Um die Aufgaben überhaupt lösen zu können, müsste »mindestens ein Teil der Mitarbeiter spezielle Erfahrungen auf bestimmten für uns wichtigen Fachgebieten« mitbringen. Hilfe habe er von staatlichen Stellen, insbesondere vom AKK nie bekommen (»keinerlei Hilfe«). Er habe bislang »sämtliche heute vorhandenen Mitarbeiter direkt oder indirekt selbst« gewonnen. Dies treffe »auch auf die Angehörigen des VEB Vakutronik zu«, die auf eine »weitere Arbeit unter« seiner Leitung »Wert legten«. Dafür aber werde er nun »bestraft«. Formal ging es in diesem Fall zwar »nur« um eine soziale Komponente, des Bestandes des Treueurlaubs für einige Mitarbeiter, die von Vakutronik mit ihm zur AME gegangen waren, doch dies sah er »zu einer Vertrauensfrage in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik« anwachsen.150 Am 13. Februar entschuldigte sich Knoll in Anwesenheit von Schwanbeck wegen seiner gegen Hartmann erhobenen Vorwürfe. Hartmann formulierte ironisch: »Schwanbeck drückt volles Vertrauen zu uns im Namen der Parteileitung aus.« Das von der SED beeinträchtigte Betriebsklima wurde dadurch jedoch nicht besser. Im Handumdrehen flammten Konflikte wieder auf. Am 25. Februar sah sich Hartmann gezwungen zu drohen, dass er seinen »Posten gern und sofort einem Genossen zur Verfügung stellen« werde, wenn dieses Misstrauen fortlebe. Doch Schwanbeck beruhigte ihn wieder.151 Am 3. April wurde der OV »Tablette« durch den Staatssicherheitsdienst endgültig abgelegt, heißt: archiviert.152 Der Abschlussbericht war, wie oben mitgeteilt, bereits vor Monaten geschrieben worden. Dessen ungeachtet berichteten inoffizielle Mitarbeiter weiterhin zu Hartmann. So kolportierte »Zündkerze« am 22. April gegenüber dem Staatssicherheitsdienst Hartmanns tagespolitische Meinungen; der: 149  Hanisch: Zum Persönlichkeitsbild Hartmanns (o. D.); BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22, Bl. 151–156, hier 152. 150  Schreiben von Hartmann an Apel, Vorsitzender der SPK, vom 21.2.1963; ebd., Bd. 24, Bl. 296–298. 151  TSD; Nachlass Hartmann, G 10 f. 152  Vgl. Abt. VI/2 vom 3.4.1958: Beschluss für das Ablegen eines OV; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 3 f.

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»Es sei alles in allem zum Kotzen. Die Zeitungen wären in letzter Zeit voll von Artikeln über Jugendweihe und Probleme der Religion. Man sollte sich lieber über wirtschaftliche Probleme den Kopf zerbrechen, da es hier überhaupt nicht vorwärts gehe. Im Betrieb wäre immer mehr Leerlauf zu verzeichnen.« Und: »Durch das Aufreißen der Probleme der Religion würden viele Leute verärgert und somit würde die Arbeitsfreude beeinträchtigt und Unruhe geschaffen.«153 Der Plattform-Vorhalt grassierte indes unvermindert weiter. Einmal im Raum, war das ideologische Kampfelement der SED-Genossen unaustilgbar. Am 24. April war insistiert worden, dass er »gegen die Partei« eine »Plattform« bilde.154 Die Abteilung VI/2 fertigte am 6. Mai einen Bericht über den VEB Vakutronik an, der »Anzeichen von Sabotage und Schädlingstätigkeit« festzustellen glaubte. Offizier Sattler war der Auffassung, dass die DDR »verhältnismäßig günstige Voraussetzungen für den Aufbau einer Geräteproduktion« besitze. Man habe aber erfahren, dass die Planerfüllung in Vakutronik schlecht sei und die Entwicklung »hochwertiger Geräte« viel zu langsam vonstattengehe. Zudem träten bei den gelieferten Geräten hohe Ausfallquoten auf. Also unternahmen die Berliner Tschekisten eine dreitägige Dienstreise zur BV Dresden. Dort wurden vor allem die vorliegenden Berichte der GI analysiert. Ein Hauptpunkt des Berichtes hierüber zeichnet Gespräche mit Herbert Böhme nach, der seit Oktober 1955 Kaderleiter im VEB Vakutronik Dresden, aber nicht inoffiziell für das MfS tätig war. Auch andere Funktionsträger wurden unter die Lupe genommen.155 Die Hauptursachen der Schwächen im Betrieb lägen, so Sattler, in der langsamen Entwicklung in den Forschungslabors. Hierbei sei die Planabarbeitung sehr mangelhaft. Es falle auf, dass die Gründe für die schlechte Planerfüllung zwar genannt würden, also Materialmängel, die Dienstleistungsmisere und Beschaffungsprobleme von Bauelementen aus der Bundesrepublik, der Mangel an Messgeräten (zum Beispiel fehlende Oszillografen für die Endmessungen an den produzierten Geräten, die folglich nicht ausgeliefert werden konnten), ferner die von Selbmann zentral festgelegten Investvorhaben ohne vorangegangener Marktanalyse (als Beispiel wurde ein Betrieb für die Produktion von Zählrohren mit einer Jahreskapazität von 50 000 Stück genannt) und nicht zuletzt Personal­ defizite.156 Die Summation von Mängeln aber führte gewöhnlich nicht zur Entlastung verantwortlicher Betriebsleiter, im Gegenteil, man warf ihnen Planschluderei vor. Hartmann konnte auf keine Entlastung hoffen, man tat stets so, als wären die Mängel Einzelfälle, zufällige oder temporäre Singularitäten in der DDR-Volkswirtschaft. Das bedeutete nicht, dass der Staatssicherheitsdienst sich nicht für die 153  Bericht des GI »Zündkerze« vom 22.4.1958; ebd., Bd. 43, Bl. 132. 154  TSD; Nachlass Hartmann, G 11. 155  Abt. VI/2 vom 6.5.1958: Überprüfung des VEB Vakutronik auf Sabotage und Schädlingstätigkeit; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 22, Bl. 22–33, hier  22. Zu Böhme: Abt. VI/2, vom 18.6.1956: Ermittlungsbericht; BStU, MfS, BV  Dresden, AP  18/86, Bl. 3–6, hier  4; Schweigeverpflichtung vom 30.10.1985; ebd., Bl. 97. 156 Vgl. Überprüfung des VEB Vakutronik vom 6.5.1958; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22, Bl. 22–33, hier 23–29.

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Abb. 18: Vakutronik-Erzeugnisse für Dubna – Werner Hartmann rechts vorn neben dem Tisch, in der 1. Reihe dahinter als 2. v. l. Gustav Hertz (nach unten blickend mit schwarzem Schlips)

angegebenen Gründe für Defizite und Mängel interessierte. Aber dieses Interesse war angelegt auf das Herausfinden von Personen, die irgendwie gegenüber Direktiven und Plänen möglicherweise verstoßen hatten, also Fragen wie: Wer hatte den Bau des Betriebes für Zählrohre veranlasst und durch wen wurde der Ort festgelegt. Von Anfang September ist ein Bericht von Lotar Ziert alias »Karl« – dem späteren Parteisekretär der Akademie der Wissenschaften (Kap. 4.2) – überliefert, der auch die Lage im VEB Vakutronik zum Inhalt hatte. Ziert sah die »Handlungsweise der Werkleitung« als geeignet an, der DDR »wirtschaftlichen Schaden zuzufügen«. Die Kontrolle durch das AKK werde vernachlässigt, so sein Tenor.157 Vom 30. August bis 23. September nahm Hartmann an der 2. Atomkonferenz in Genf teil und fuhr anschließend zur Tagung über Kernelektronik nach Paris. Er sprach am 25. September mit dem 1. Sekretär der Parteileitung Vakutronik, der den Inhalt des Gesprächs an das Büro der SED-Stadtbezirksleitung Ost (Dresden) weiterleitete. In dem Papier heißt es, dass die Atomkonferenz in Genf und Paris »sehr wertvoll« gewesen sei und dass sich die DDR durchaus »auf dem richtigen 157 Bemerkungen von Leutnant Sattler (o. D.); BStU, MfS, AIM  12153/85, Teil  II, Bd. 1, Bl. 58 f., hier 58.

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Wege« befinde. Dass die Geräte von Vakutronik nicht ausgestellt worden seien, weil das AKK dem »wenig Bedeutung« beigemessen habe, könne Hartmann überhaupt nicht verstehen.158 Obgleich die Berufung Hartmanns als Werkleiter des VEB Vakutronik fast zwei Jahre her war, wurde immer noch an der Struktur der Leitungshierarchie gearbeitet. Am 16. Oktober beschwerten sich Hartmann und sein Stellvertreter bei Rambusch. Sie präzisierten aus vielen vorangegangenen Diskussionen die optimale Verantwortungsstruktur. Dem Werkdirektor sollte die wissenschaftlich-technische Seite (u. a. wissenschaftlich-technische Leitung, Fertigung technischer Geräte sowie die Einstellung der Wissenschaftskader) obliegen, dem Betriebsdirektor hingegen die verwaltungsmäßige Seite (u. a. Aufstellung der Betriebspläne, Erfüllungskontrolle der Produktionsaufgaben, gesellschaftspolitische Entwicklung des Betriebes).159 Am 23. Oktober informierte »Zündkerze« den Staatssicherheitsdienst, dass Hartmann drei Tage – zum Zwecke der Teilnahme an einer Tagung für Gerätestandardisierung – in Berlin weilte, es aber vorzog, bei seiner Schwiegermutter in Westberlin zu übernachten. Er habe »eine Aktentasche mit sich« getragen, »in der sehr wahrscheinlich betriebliche Unterlagen« steckten. Er soll wie so oft gesellschaftspolitisch negativ gestimmt gewesen sein. Er habe geäußert, dass er sich »nicht einmal die Weltausstellung ansehen« dürfe, während der polnische Botschafter in Ostberlin zum Einkaufen in den Westen fahre. Seine »republikflüchtig« gewordenen Bekann­ ten »würden in einem unvorstellbaren Wohlstand leben«. Die Informationen gingen am 4. November zur Berliner Abteilung VI/2.160 Erst fast zwei Jahrzehnte später, aus Informationen von Offizier Lonitz, schöpfte er den Verdacht und dann die Gewissheit, dass sein Fahrer Spitzel war: »Damals wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass Gen[osse] Schlesier so etwas täte.«161 Mit Wirkung vom 31. Oktober wurde Hartmann durch Rambusch »infolge der vorgenommenen Strukturveränderung des VEB Vakutronik« als Werkleiter abberufen162 und zum 1. November zum Werkdirektor des VEB Vakutronik berufen. Hiermit wurde ihm »die wissenschaftliche Leitung des gesamten Betriebes« erteilt, die »auf diesem Gebiet Entscheidungsbefugnis« beinhaltete. Es war vereinbart, dass »bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Hartmann und dem Betriebsdirektor« Rambusch vermittelnd einzugreifen hatte.163 Der GHI »Reinhardt« berichtete am 17. November über den betrieblichen Zustand des VEB Vakutronik. Wie nicht anders zu erwarten, stand Hartmann und 158  Schwanbeck an das Büro der SED-Stadtbezirksleitung Ost vom 25.9.1958; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 43, Bl. 133 f. 159  Vgl. VEB Vakutronik an das AKK vom 16.10.1958; ebd., Bd. 22, Bl. 15 f. 160  Abt. VI/2 an die Abt. VI/2 in Berlin vom 4.11.1958: Bericht über Hartmann; ebd., Bd. 6, Bl. 30. Inklusive: Abt. VI/2 vom 4.6.1956: Aktenvermerk; ebd., Bd. 15, Bl. 25 f., hier 25. 161  TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, JZ 30. 162  Abberufung als Werkleiter des VEB Vakutronik; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22, Bl. 17. 163  Rambusch: Berufung; ebd., Bl. 18. Berufungsurkunde; ebd., Bd. 8, Bl. 39.

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nicht etwa der Betriebsdirektor in der Kritik wegen schlechter Produktionserfüllung. »Natürlich« hatte Hartmann das Profil seines Betriebes in Richtung Forschung und Entwicklung gestaltet. Der GHI, von Innovationsbedingungen keinen Begriff, war der Ansicht, dass Hartmann in seiner Politik »in unverantwortlicher Weise von Professor Rambusch unterstützt« werde. Der nämlich habe mit seiner Auf‌fassung, dass das AKK »großzügiger sein und den Betrieb besser als bisher helfen« müsse, »da der Betrieb ein Forschungsbetrieb sei und aus diesem Grunde niemals rentabel arbeiten könnte, Professor Hartmann die nötigen Argumente gegeben«. Auch wenn Offizier Jahn ein abweichendes Urteil gewann und selbst der GHI »Reinhardt« eher andere Personen im Blick hatte, gab es MfS-Mitarbeiter, die nur auf Hartmann fokussiert schienen, Sattler zum Beispiel: »Viele Gründe« sprächen »für eine bewusste Schädlingsarbeit« Hartmanns.164 Hartmann sah sich Anfang 1959 einmal mehr gezwungen, beim Kaderleiter des VEB Vakutronik, Herbert Böhme, wegen der Nichteinstellung einer Person, die der CDU angehörte, zu intervenieren. Es kam zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf er darlegte, dass auf diese Weise die »Intelligenzler direkt gezwungen werden, nach Westdeutschland zu gehen«: Kein Wunder, »dass so viele gute Kräfte republikflüchtig werden«. Er werde ihn, also Böhme, verantwortlich machen, wenn »das Programm für das Atomkraftwerk nicht erfüllt« werde. Hartmann insistierte, dass Böhme »sich hinter jemandem« verstecke. Der will dies so verstanden haben, dass Hartmann den Staatssicherheitsdienst damit gemeint habe.165 Auf der Leipziger Frühjahrsmesse kam es zu einer Begegnung Hartmanns mit ­Nikita Chruschtschow. Zur Regierungsdelegation unter Ulbricht zählten Erich Apel, Otto Grotewohl und Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann. Am Vormittag des Chruschtschow-Besuchs kamen, so erinnerte sich Hartmann später in seinem »Museum«, »unauffällig-auffällig zahlreiche Herren in Ledermänteln, die sich auf und in der Nähe unserer Ausstellung postierten«. Hartmann: »Ich begrüßte W. U. kurz deutsch und begrüßte anschließend Chruschtschow auf Russisch.« Sie gingen langsam auf den Stand zu. »Plötzlich blieb Chruschtschow stehen, schlug mir auf die Schulter und sagte lächelnd: ›Sie sprechen ein sehr gutes Russisch‹«. Es »ergab sich ein Gespräch von zehn Minuten. Er wollte wissen, woher ich die Sprache so gut beherrsche. Als ich ihm von den zehn Jahren erzählte, bemerkte er: ›Sie sind sicher noch böse auf uns, wir haben die deutschen Spezialisten falsch behandelt!‹ Die Unterhaltung war sehr locker, er interessierte sich für meine privaten Verhältnisse«. Chruschtschow lud ihn daraufhin in die Sowjetunion ein. Dazu kam es jedoch nicht. Hartmann sollte über Intourist seine Reise für 120 Mark pro Tag beantragen. »Damit wurde die Episode ›Einladung durch Chruschtschow‹ abgeschlossen. Über die Ursachen dieser Veränderung« im Frühjahr 1960, »die praktisch vollständige Annullierung der Einladung, habe ich und andere viel spekuliert. Mir erschien es

164  Abt. VI/2 vom 18.11.1958: Bericht von »Reinhardt« am 17.11.1958; ebd., Bd. 22, Bl. 19–21. 165  Abt. VI/2, vom 12.2.1959: Über Hartmann; ebd., Bl. 38.

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am wahrscheinlichsten, dass DDR-Stellen meinen Besuch verhindert haben. Warum sie dies taten, habe ich nie erfahren.«166 Vom 19. April bis 10. Mai 1959 reiste Hartmann nach China. Zum Besuchsprogramm zählte ein Empfang bei Mao Tse-tung am 6. Mai.167 In der Mitte der Ulbricht-Ära kam es zu weiteren Auslandsreisen, die u. a. nach Finnland, Ägypten und Indien führten. Am 13. Juni hatte Hartmann ein »vertrauensvolles Gespräch« mit Erich Apel anlässlich dessen Reise zu seinen Schwiegereltern in Dresden. Der Parteisekretär der BPO Vakutronik, Schwanbeck, soll es abgelehnt haben, »auf Apel zu warten, da er nicht eingeladen worden sei!«.168 Möglicherweise ein Indiz, dass Apel schon zu dieser Zeit »gefallen« war. Über Schwanbeck war sich Hartmann oft nicht sicher: »Insgesamt hat Schwanbeck eine undurchsichtige Rolle gespielt. Natürlich tat er es nur im Auftrag. Wer gab ihm den Auftrag?«169 Knoll maßte sich eines Tages an, Hartmann zu sagen, dass er mit ihm einmal »deutsch reden« müsse. Knoll war zumindest bis zum V. Parteitag Mitglied des ZK der SED. Hartmann fragte, wie er das meine; Knoll: »Er müsse auch mit mir ein ernstes Wort reden: Ich neigte zur Einzelleitung!« Auch stellte er die Frage nach einer »Plattform«, die Hartmann gebildet haben soll. Hartmann: »Ich forderte ihn auf, zu präzisieren und erklärte ihm den Sinn des Briefinhalts [Hartmann hatte an Ulbricht geschrieben – d. Verf.]. Daraufhin habe Knoll seine Aussage zurückgezogen. Anschließend forderte Hartmann »ihn auf, den Betrieb unverzüglich zu verlassen«. Man versuchte, Hartmann zu beruhigen, doch der glaubte nicht, dass Knoll dies nur von sich aus gesagt hatte, und beschwerte sich umgehend schriftlich bei Ulbricht. Die Folge war, dass Kurt Hager Knoll rügte. Später, am 6. Juli, erzählte ihm der für das AKK zuständige MfS-Mitarbeiter Jahn, dass Parteisekretär Schwanbeck »Urheber der Parteifeind-Aktion gegen mich gewesen sei!« Doch »wer nun von allen mich am meisten beschwindelt hat, habe ich natürlich nie erfahren. Es war alles sehr hinterhältig.«170 Völlig quer zu den Attacken von SED und MfS erhielt Hartmann am 7. Oktober den Nationalpreis II. Klasse und gab seine Freude über die »joviale Begrüßung« bei Ulbricht kund. Die Gespräche mit Dieckmann habe er, so Offizier Karasek, positiv hervorgehoben, mit ihm teile er ähnliche »Gedanken und Ansichten«.171 Mitte 1959 begann die Anbahnung des Kaufs eines Vakuum-Schmelzofens in der Bundesrepublik. In der DDR gab es keinen entsprechenden Anbieter. Das Aggregat stand auf der Embargoliste. Bemerkenswert ist, dass die konspirative Beschaffung 166  TSD; Nachlass Hartmann, G 67–69. 167  Vgl. Auswertung von Archivunterlagen von Hanisch zu Reisen Hartmanns nach China, Indien, Ägypten, Österreich, Finnland, hier: zur Reise nach China vom 19.4.–10.5.1959; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 36, Bl. 1–18, hier 5. 168  TSD; Nachlass Hartmann, G 13. 169  Ebd., G 72. 170  Ebd., G 57 f. 171  Abt. VI/2 vom 9.10.1959: Bericht; ebd., Bd. 43, Bl. 150. Johannes Dieckmann (1893–1969).

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Abb. 19: Nikita Chruschtschow und Werner Hartmann auf der Leipziger Messe am Vakutronik-Stand, 1959

des Ofens von Akteuren betrieben wurde, die allesamt Geschäftspartner des späteren Bereiches Kommerzielle Koordinierung (KoKo) waren, wie etwa die Firma Haeraeus in Hanau, Frankfurt / M.172 Hartmann war offiziell im Vorfeld zur Anbahnung einer möglichen Beschaffung involviert.173 Im Oktober reiste Hartmann auf Bitten Rambuschs nach Wien zu einem Vortrag, den das österreichische Büro für Ost-West-Handel unter Leitung Dobretsbergers organisiert hatte. Er und andere sollten über die Entwicklung in den sozialistischen Ländern berichten. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in der Luisenstraße hatte bereits Zustimmung signalisiert. Rambusch empfahl ihm ein Thema seines Faches zu wählen.174 Im Anschluss daran reiste er vom 22. bis 25. Oktober in die ČSSR und besuchte dort u. a. das Institut für Kernphysik.175 Er war in diesem Jahr häufig auf dienstlichen Auslandsreisen. Oft blieben gute Kontakte zurück. Am 3. November schrieb er an Chang Chih Shan und bedankte sich für dessen 172  Vgl. Buthmann: Die Organisationsstruktur zur Beschaffung, S. 279–314. 173  Vgl. Eine Persönliche Niederschrift vom 6.10.1964; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 71. 174  Vgl. Schreiben von Rambusch an Hartmann vom 13.8.1959; ebd., Bd. 36, Bl. 1–18, hier 13 sowie Auswertung von Archivunterlagen von Hanisch zu Reisen Hartmanns nach China, Indien, Ägypten, Österreich, Finnland, hier: Reise nach Wien im Oktober 1959; ebd., Bl. 12. 175  Vgl. ebd., Bl. 13. Die Reisedaten sind in den einzelnen Dokumenten teils gering widersprüchlich.

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Abb. 20: Verleihung des Nationalpreises an Werner Hartmann – hier mit der Werksleitung des VEB Vakutronik, 1959

Brief vom 1. Oktober: »Manchmal überlege ich jetzt, dass ich dies nicht mehr lange mitmachen kann. Fünf Jahre geht es schon so, zum wirklichen Nachdenken bleibt keine Zeit.«176 Auf der am 29. Oktober stattgefundenen Werkleitersitzung von Vakutronik gab ein leitender Mitarbeiter des Betriebes der Planwirtschaft die Schuld an der Misere in der Volkswirtschaft, was Hartmann auch prompt »sehr eifrig« unterstützt haben soll. Auf eben dieser Leitersitzung wurde Hartmann plötzlich ein Zettel hereingereicht, auf dem die Mitteilung vermerkt war, dass just ein Physiker geflohen sei. Der war Oberassistent in einem Jenaer Institut und arbeitete an der Entwicklung des Betatrons. Hartmann soll die Nachricht zynisch kommentiert haben. Kaderleiter Böhme zeigte sich überzeugt, dass Hartmann über diese Information »sichtlich erfreut« gewesen sei.177 Am 6. November berichtete der GI »Zündkerze«, dass Hartmanns Einstellung zur DDR »ständig negativer« werde. In Wien habe Hartmann den Eindruck gehabt, dass dort die Sonne gleich viel heller scheine als beispielsweise in Prag, dort sei alles wie zu Hause: »finster und grau«. Alles in allem sei Hartmann nach solchen Reisen 176  Schreiben von Hartmann an Chang Chih Shan vom 3.11.1959; ebd., Bl. 6. 177  Abt. VI/2 vom 4.11.1959: Aussprache des MfS mit dem Kaderleiter; ebd., Bd. 22, Bl. 76 f.

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»in einem gereizten und zerschmetterten Eindruck anzutreffen«. Seine Sekretärin soll geäußert haben, dass Hartmann am Ende sei, da ihn niemand in seiner Arbeit unterstütze. Er trage sich mit dem Gedanken, sich für eine gewisse Zeit beurlauben zu lassen. Der GI »Zündkerze« berichtete von einer politischen Auseinandersetzung, die Hartmann mit seiner Frau gehabt habe. Er habe beide zu einer »Festveranstaltung zu Ehren des 42. Jahrestages der Oktoberrevolution im Sanatorium der Roten Armee« auf den Weißen Hirsch gefahren. Zu dieser Gelegenheit hatte seine Frau Blumen gekauft, worüber er »sehr verärgert« gewesen sei, da er »nicht mit Blumen durch den Saal gehen« werde: »H. verstaute diese Blumen im Wagen des GI.«178 Das Bild, das die inoffiziellen Mitarbeiter über Hartmann zeichneten, war grundsätzlich konsistent. Im Dresdener Klub »bevorzuge« Hartmann, so der IM »Woithe« am 6. November, die dort ausliegenden westlichen Zeitschriften.179 Es hatte sich angebahnt: Hartmann bat am 9. November Rambusch um eine circa einjährige Entbindung von organisatorischen Aufgaben des Betriebes, um sich auf die Bearbeitung wissenschaftlich-technischer Fragen konzentrieren zu können. Das Freistellungsjahr sollte am 1. März 1960 beginnen.180 Doch erst am 21. August 1961 wurde ihm zugesichert, dass er für den Zeitraum eines Jahres mit Beginn des 1. September 1961 beurlaubt werde.181 Das MfS beantwortete diese Phase des Unmuts von Hartmann über die betrieblichen und gesellschaftlichen Probleme und Umstände mit einem Maßnahmeplan seiner Abteilung VI/2 mit Datum vom 11. November. Aufgrund der erarbeiteten Erkenntnisse zu Hartmann sei nunmehr »eine operative Bearbeitung begründet«. Es bestehe der Verdacht einer »feindlichen Tätigkeit«. Die Bearbeitung sollte in zwei Richtungen geführt werden. Erstens sollte seine »lückenlose Kontrolle von Professor Hartmann und seiner Ehefrau mit dem Ziel der Klärung des Charakters der Verbindungen und der Einstellung zur DDR« statuiert, und zweitens Erkenntnisse zu seinem Einfluss »auf die Festlegung der Entwicklungsrichtung« bei Vakutronik erarbeitet werden. Insbesondere interessierte sich der Staatssicherheitsdienst für Fragen der »Planung, Investition und Zweckmäßigkeit der Produktion«. Neben den üblichen operativen Maßnahmen wie der Postkontrolle sollten mindestens acht inoffizielle Mitarbeiter eingesetzt werden.182 Soweit der Plan, der in der Folge dann auch ausgeführt und in allerlei Richtung ausgeweitet wurde. Anfang November antwortete Generalleutnant Otto Walter183 auf die Bitte des Leiters der Abteilung  VI, Oberstleutnant Eduard Switala, gegen Hartmann 178  Abt. VI/2 vom 7.11.1959: Bericht zum Treffen mit »Zündkerze« am 6.11.1959; ebd., Bd. 6, Bl. 35–37. 179  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 154. 180  Vgl. von Unbekannt kommentiertes Schreiben Hartmanns an Rambusch vom 9.11.1959; ebd., Bd. 22, Bl. 69. 181  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 13.5.1966: Sachstandsbericht zum operativen Material »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 14–40, hier 30 f. 182  Abt. VI/2 vom 11.11.1959: Maßnahmeplan; ebd., Bd. 43, Bl. 164–167, hier 164. 183  (1902–1983). Stellv. Minister des MfS bis 1964.

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ermitteln zu dürfen: »Aus dem Bericht spricht vieles, was nach Sabotage aussieht, doch muss berücksichtigt werden, dass es sehr schwer ist, Wissenschaftlern Sabotage oder Diversion nachzuweisen.« Walter wies an, die »Bearbeitung« Hartmanns »unter strengster Wahrung der Konspiration zu führen«.184 Switala war bereits 1953 in Dessau zur Bearbeitung von sogenannten SU-Spezialisten eingesetzt worden.185 1974 wird Hanisch zusammenfassend zu dieser Zeit sagen, dass Hartmann Führungsmethoden aus der kapitalistischen Wirtschaft angewandt und SED-Genossen Schwierigkeiten gemacht habe sowie zur »alten Intelligenz« zähle. Er habe, so Hanisch, in einem Schreiben an Rambusch vom 24. November 1959 gar versucht, Vakutronik in einen »wissenschaftlichen Industriebetrieb« (WIB) umzuwandeln. Er wolle damit die »starre Struktur der üblichen volkseigenen Betriebe mit festem Planziel in Bezug auf Produktion, Typen, Menge, Wert« aufbrechen, um »Neuentwicklungen in schnellem Tempo herauszubringen«. Die für »›Schraubenfabriken‹ gültige Planungstechnik« müsse »mit allen ihren Konsequenzen für einen WIB modifiziert werden«.186 Zu genau dieser Frage führte Offizier Günther Jahn am 11. Dezember ein Gespräch mit Rambusch. Der habe die Auf‌fassung vertreten, dass Apel im Gegensatz zu Selbmann »ungünstig abschneidet«, da er oft »rasche Zugeständnisse, und zwar auf sehr burschikose Art« mache. Während der Tagung des Wissenschaftlichen Rates am 3. Dezember hatte Apel ostentativ Hartmann den Rücken gestärkt.187 In dem Schreiben vom 24. November188 teilte Hartmann Rambusch dezidiert seine philosophischen Überlegungen zur Umfunktionierung des VEB Vakutronik als WIB mit. Danach zeichne sich ein WIB »durch a) einen sehr hohen Anteil der Entwicklungsabteilungen« und »b) meistens durch ein großes Sortiment von Erzeugnissen jeweils« in »nicht sehr großer Stückzahl aus«. Die Aufgabe eines WIB bestehe darin, »neue Ergebnisse schnell zu erzielen und in kürzester Zeit zur Verfügung zu stellen«. Hartmann sprach das Problem an, wonach die Produktionsprobleme (Kooperation, Fertigungsabläufe, Planerfüllungsvorgaben) die guten Ergebnisse in der Entwicklung von Geräten zunichte machten, im Ergebnis dessen werde das »für die Gesamtwirtschaft positive Ergebnis« deshalb »mit einer Bestrafung des Betriebes honoriert«. »Die für ›Schraubenfabriken‹ gültige Planungstechnik« müsse »mit all ihren Konsequenzen für einen WIB modifiziert werden«. In dieser – das Hartmann-Schreiben kommentiert wiedergegebenen – Darstellung heißt es: »Ab184  1. Stellv. des Ministers an Switala vom 16.11.1959; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 43, Bl. 168. 185  Vgl. Kaderakte Eduard Switala: Carakteristik vom 4.11.1954; BStU, MfS, KS 22167/90, Beiakte, Bl. 9. 186  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 185; BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 190–250, hier 203. 187  Abt. VI/2 vom 11.12.1959: Aussprache mit Rambusch am 11.12.1959; ebd., Bd. 22, Bl. 76 f., hier 76. 188  Erwähnt in: Sachstandsbericht vom 13.5.1966; ebd., Bd. 2, Bl. 14–40, hier 30.

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schließend schreibt Professor H., dass er nicht sicher« sei, »ob den leitenden Organen wirklich bekannt ist, wie viel Zeit z. B. ein Entwicklungsingenieur durch Mitarbeit in Kommissionen, Räten usw. nicht seiner fachlichen Arbeit widmen« könne. »Wenn es möglich wäre, die dadurch entstehenden Kosten zu erfassen, würde sich manches ändern. Der praktisch gangbare Weg einer kollektiven Leitung bei Einzelverantwortung des Leiters ist bis heute noch nicht gefunden worden. Das verlangsamt den Aufbau des Sozialismus infolge daraus entstehender zu niedriger Arbeitsproduktivität und verhindert eine raschere Steigerung des Lebensstandards.« Nachgerade der »Mut zur Eigenverantwortung« sei »nicht allzu häufig anzutreffen«.189 Im Herbst zeichnete sich ab, dass Hartmann im Betrieb keine positive Resonanz für seinen WIB erhalten werde: »Seine Versuche, die leitenden Mitarbeiter des Betriebes dafür zu gewinnen«, seien bislang »gescheitert«. Laut Hartmann werde der »gesamte technische Fortschritt« künftig »von solchen Betrieben« abhängen. Vor allem sollte »zur Erreichung einer maximalen Beweglichkeit des Betriebes« eine »grundsätzliche Änderung« der Planung möglich werden, ohne dass »die prinzipielle Planungsordnung« geändert werden müsse.190 Er habe mehr terminliche und inhaltliche Selbstbestimmung bei der Gestaltung der Staatsplanaufgaben gefordert.191 Der folgende Befund zur DDR-Volkswirtschaft kann klassisch genannt werden, er verlor niemals an Festigkeit. Und zwar aus der Produktion des VEB Vakutronik zur Herstellung des Szintigrafen, eines Gerätes zur automatischen Aufnahme der Strahlungsverteilung, Lokalisierung und Dosimetrie in der Medizin: Hartmann musste entgegen der Erwartungshaltung nach der Leipziger Frühjahrsmesse (LFM) 1957 einräumen, dass »die Elektronik zu diesem Gerät nicht vor Ende 1959 fertig werde und der mechanische Teil völlig in der Luft« hänge. Im November 1959 soll er bereits darauf hingewiesen haben, dass »er vom AKK keinen Partner vermittelt« bekomme »und das TrafoRö [VEB Transformatoren- und Röntgenwerk »Hermann Matern«] außerstande« sei, »die Fertigung zu übernehmen«. Er soll daraufhin gedroht haben, »den Entwicklungsauftrag für 1960 zu streichen«, wenn das AKK nicht endlich reagiere. Völlig falsch verstand jedoch die betriebliche Lage ein Feldwebel des MfS, wenn er »in erster Linie« Vakutronik in der Verantwortung sah, einen entsprechenden Produktionsbetrieb zu finden. Mit diesem »Kunstgriff« attestierte das MfS Hartmann »passives Verhalten«, das er auch hinsichtlich des Strahlenschutzprüfgerätes SPG 3 an den Tag gelegt haben soll. Aus diesem Grund sei letztlich auch die operative Bearbeitung wegen des Verdachts der »Schädlingstätigkeit« aufgenommen worden. Der Forschungs- und Entwicklungsplan für 1957 sah zunächst 129 Entwicklungsthemen vor, wurde aber noch im gleichen Jahr auf 189  Von Unbekannt kommentiertes Schreiben Hartmanns an Rambusch vom 24.11.1959; ebd., Bd. 22, Bl. 86 f., hier 86. 190  Bericht von »Kupfer« vom 20.2.1960 zu einem Schreiben von Hartmann an Rambusch vom 24.9.1959; ebd., Bl. 44 f., hier 44. 191  Vgl. Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier. 187.

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122 reduziert. Diese »Technik« der Reduzierung des Planes war übrigens Usus im Prozess der Planerfüllungsberichterstattung in der DDR! Aber auch »trotz dieser Neuplanung wurde der Plan 1957 nicht erfüllt«. Von 19 Gerätetypen wurden nur neun in die Produktion übergeleitet. Die restlichen, unter denen sich sämtlich die Typen für die Armee befanden, waren nun für 1958/59 in Aussicht gestellt. Die Planerfüllungssituation verschlechterte sich zu 1959 weiter. Das MfS warf Hartmann vor, vor diesem Hintergrund unter »Einschaltung« Apels, »den Betrieb zu spalten« und einen wissenschaftlichen Produktionsbetrieb zu kreieren, »haushaltsfinanziert ohne konkrete Planauflage eines VEB«. Damit habe er eine »möglichst große Freiheit in den Entwicklungsarbeiten und Terminen« erreicht, verbunden mit »möglichst wenig Kontrollfähigkeit und kontrollpflichtigen Aufgaben: Keine Aufdeckung der Missstände in der Entwicklung durch den Produktionssektor, Außerkraftsetzung der Kontrollen durch die Parteiorganisation und den Staatsapparat in konkreten Einzelfragen des Planablaufes.«192 Am 30. Dezember legte der Staatssicherheitsdienst erneut einen Überprüfungsvorgang zu Hartmann, diesmal in der Ermittlungsrichtung Sabotage an; wenig später erhielt der sogenannte Vorlauf-Operativ die Bezeichnung »Kristall«.193 Ein IM-Bericht vom 26. Januar 1960 beleuchtet die generelle Situation, in der sich Hartmann um die Weihnachtszeit 1959 herum befunden haben mag. Der GI »Kupfer« hatte von zwei Schreiben Hartmanns erfahren, die er dem MfS mitteilen zu müssen glaubte. Einmal über einen Vorschlag, der an Apel gegangen sei und das künftige WIB betreffe, zum anderen über eine von ihm gewünschte einjährige Auszeit.194 Es existiert ein weiterer Bericht des GI »Kupfer« zu eben dieser Materie, ebenfalls vom 26. Januar. Hierin wird insistiert, dass Hartmann in seinen Bemühungen seit Ende 1958 zur Trennung des Bereiches Forschung und Entwicklung vom betriebswirtschaftlichen Sektor nur das Ziel verfolgt habe, »von den exakt kontrollfähigen Planaufgaben entbunden zu werden«. Der GI bediente an dieser Stelle einmal mehr all jene Ressentiments gegen Hartmann, die dessen angebliche Unfähigkeit, einen großen Betrieb zu leiten, zum Inhalt hatten. Der GI unterstellte Sabotage, wenn er behauptete, dass Hartmann nun, da er den Betrieb wegen der eingeführten Gewaltenteilung nicht mehr effektiv blockieren könne, eine neue Struktur »aushecke«, dergestalt, dass der gesamte Betrieb haushaltsfinanziert werde in Form eines WIB, oder zweitens, beide Betriebsteile getrennt würden, in einen VEB in Radebeul und jenen Teil in Dresden, der dann nur mit Entwicklungsaufgaben befasst sein würde, entweder als wissenschaftlicher Forschungsbetrieb oder als Institut. Der GI »Kupfer« vermutete, dass Hartmann mit beiden Varianten das gleiche Ziel verfolge: »möglichst große Freiheit in den Entwicklungsarbeiten und Terminen, möglichst wenig kontrollfähige und kontrollpflichtige Aufgaben, keine Aufdeckung der Missstände in der Entwicklung durch den Produktionssektor, Außerkraftsetzung 192  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 13.5.1966: Sachstandsbericht; ebd., Bl. 14–40, hier 28–30. 193  Abt. VI/2 vom 30.12.1959: Beschluss für das Anlegen eines ÜV; ebd., Bd. 1, Bl. 14 f. 194  Vgl. Bericht von »Kupfer« vom 26.1.1960: Zu Hartmann; ebd., Bd. 43, Bl. 173 f.

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der Kontrolle durch die Parteiorganisation und des Staatsappa­rates in konkreten Einzelfragen des Planablaufes und damit verbunden der Arbeitsmethoden, d. h. Aufrechterhaltung seines bisherigen moralischen Druckes auf die Mitarbeiter und weitere Hinausschiebung der Entwicklungstermine nach Belieben«.195 Er erfuhr ferner und berichtete darüber, dass Hartmann beabsichtige, »eine Kommission des ZK in seinen Betrieb zu rufen, um einige grundsätzliche Fragen der Stellung und der Arbeitsweise des Betriebes zu untersuchen und lösen zu helfen«. Genau das fürchteten die lokalen SED-Funktionäre. Gebetsmühlenartig desavouierte der GI die Inspiration Hartmanns, ohne neue Argumente zu finden.196 Den grundsätzlichen Widerspruch zwischen dem Fakt der Einladung des ZK durch Hartmann und des Verdachts, Hartmann wolle ohne Kontrolle arbeiten, thematisierte der Berichterstatter nicht. Am 23. und 24. Februar fand im VEB Vakutronik die von Apel angesetzte Beratung statt. Die Besuchergruppe stand unter Leitung der Wirtschaftskommission des ZK (Kuntsche). Des Weiteren wurden einige Funktionäre vom Zentralamt für Forschung und Technik sowie Vertreter der Werkleitungen des VEB Hochvakuum (HVD) hinzugezogen. Aufgabe war es, alle Behinderungen aufzuzählen und zu diskutieren. Kuntsche informierte, dass Apel auf der 9. Tagung des ZK eine »grundsätzliche Stellungnahme« bringen wolle, wonach zur Meisterung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes »einer Reihe von Betrieben (etwa zehn oder zwölf) eine bevorzugte Stellung eingeräumt werden soll, damit diese ihre Rolle als Wegbereiter des technischen Fortschritts in vollem Umfang gerecht werden können«. Zu diesen Betrieben zählten die VEB Vakutronik, Hochvakuumtechnik und Rechenmaschinen Karl-Marx-Stadt. Sie würden als WIB firmieren. Grundlage bliebe zwar der Betriebsplan, jedoch stehe der »Plan der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten« im Mittelpunkt. Die Konsequenzen auf betriebswirtschaftlicher Ebene seien: größere Lagerbestandshaltung an speziellen Bauteilen, größerer Bestand an halbfertigen Erzeugnissen infolge der Klein- und Kleinstserienproduktion und großzügigere Ausstattung mit Umlaufmitteln. »Die notwendige Kreditierung« würde »über eine gesonderte, neu einzurichtende zentrale Stelle der DNB sowie der DIB erfolgen«. Die Investvorhaben sollten »ebenfalls nicht der strengen gesetzlichen Nomenklatur« gehorchen. Über die Absicht, für die WIB eine übergeordnete Leitung zu errichten, wurde keine Einigung erreicht. Diese – im Sinne Hartmanns erfolgte – Besprechung fand während seiner Abwesenheit statt, da er vom 17. Januar bis 25. Februar in Indien weilte. Offenbar hatte er aber einen Brief geschrieben, indem er – als Hauptfrage – die »Veränderung der Planmethode« gefordert habe. GI »Kupfer« schrieb trotzig: »Alle Anwesenden waren sich darüber einig, dass von einer Lockerung der Plandisziplin im Betrieb nicht die Rede sein kann, sondern

195  Bericht von »Kupfer« vom 26.1.1960; ebd., Bd. 22, Bl. 92–94. 196  Bericht von »Kupfer« vom 2.2.1960; ebd., Bl. 99 f., hier 99.

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dass Mittel und Wege zu suchen sind, um diese noch zu verbessern.«197 In Bezug auf die Terminfestlegung der Besprechung im VEB Vakutronik ein bemerkenswerter Umstand. Andererseits war Apel anwesend, das mag genügt haben. Anschließend reiste Hartmann für vier Tage nach Ägypten.198 Die Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED und der Bereich Maschinenbau der SPK führten am 6. und 7. April eine Konferenz der Elektroindustrie durch. Diskutiert wurde die erkannte Bedeutung der Halbleitertechnik auf der 3. Parteikonferenz (1956), auf dem V. Parteitag (1958) und auf der 5. Tagung des ZK (Mai 1959). »Zur Behandlung wissenschaftlich-technischer Fragen« zum Halbleiterprogramm war »Ende 1959 ein Beirat gebildet« worden, dem »Mitglieder des Forschungsrates, Halbleiterfachleute und Vertreter des Staatsapparates« angehörten. Leiter war Rompe. Vor diesem Zeitpunkt hatte es »noch keine detaillierte Orientierung auf Festkörperschaltkreise« gegeben, »sondern auf die Notwendigkeit der extremen Miniaturisierung der elektronischen Bauelemente«. In einer folgenden Beratung zur Frage der Mikroelektronik am 15. Juli 1960 habe der Sektorenleiter der SPK, Hubertus Bernicke, zum Ausdruck gebracht, »dass die Forschungsarbeiten sofort beginnen müssen«.199 Rompe berichtete am 14. April gegenüber Offizier Maye über eine Aussprache mit Hartmann, die er am 11. April in der noblen HO-Gaststätte »Lukullus«200 mit ihm führte. Dies ist ein Bericht, auf dem der Stellvertreter Mielkes, Generalleutnant Otto Walter, handschriftlich notierte: »Hartmann ist unter Kontrolle zu halten.« Rompe will den Eindruck gewonnen haben, dass Hartmann »nicht offen spricht«. Der von Rompe »entwickelten Perspektive für Hartmann« soll er »begeistert« zugestimmt haben. Offenbar klang hier die Perspektive »Mikroelektronik« zumindest an, wenngleich vielleicht nicht unter diesem Begriff. Hartmann soll »in diesem Zusammenhang« folgende Gedanken entwickelt haben: »neben Vakutronik ein Institut oder eine Arbeitsstelle« zu gründen, »in der neben zehn Wissenschaftlern circa 50 bis 60 Mitarbeiter eine nicht plangebundene Forschungsarbeit auf kernphysikalisch-messtechnischem und elektrotechnischem Gebiet leisten können und laufend 197  Abschrift vom 24.3.1960 eines Berichtes von »Kupfer«; ebd., Bd. 6, Bl. 45–47, hier  45. Deutsche Notenbank (DNB), Deutsche Investitionsbank (DIB): beide von 1948 bis 1968. 198  Vgl. Auswertung von Archivunterlagen von Hanisch zu Reisen Hartmanns nach China, Indien, Ägypten, Österreich, Finnland, hier: Reise nach Indien vom 17.1.–25.2.1960 u. nach Ägypten vom 26.–29.2.1960; ebd., Bd. 36, Bl. 1–18, hier 9 u. 12. 199 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier  8. Bernicke war als Funktionär vergleichsweise exzellent in Fragen der Entwicklung der Elektronik und Mikroelektronik, auch kritisch veranlagt. Siehe auch Buthmann: Die politische Geschichte der TH Ilmenau, Kap. 5.1. 200  »Am 16. November 1948 begann die immerhin mehr als 40-jährige Geschichte der Berliner HO-Gaststätten mit zwei ›Objekten‹ […]. Im erhalten gebliebenen Haus Französische Str. 47, wo das Nobelrestaurant Borchardt residiert hatte, öffnete in denselben Räumen eine Gaststätte, die unter dem Namen Lukullus einen guten Ruf bekam.«. Zit. nach: Arnold, Karl-Heinz: Boorchardt hatte mehr als 50 Jahre Pause. Zur Geschichte der HO-Gaststätten in Berlin von Ende 1948 bis 1990, in: https://berlingeschichtede/bms/bmstxt00/0007prof.htm, S. 36; letzter Zugriff: 10.1.2020.

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Abb. 21: HO-Gaststätte »Lukullus« in Berlin

neue Probleme bearbeiten und herausbringen«. Rompe habe »diesen Vorschlag für positiv« befunden, »da damit den Fähigkeiten Hartmanns entsprochen« werde. Er dachte dabei explizit an die Entwicklung von Mikrobauelementen. Hartmann werde Rompe hierzu eine Ausarbeitung bis Ende April schicken. Rambusch habe sich bereits positiv über die Perspektive Mikrobauelemente ausgesprochen. Rompe erklärte sich gegenüber Maye bereit, das Schreiben von Hartmann zu übergeben.201 Hanisch wird in den 1970er-Jahren anhand der ihm vom MfS übergebenen Materialien feststellen, dass Hartmann bereits im April 1960 von Rompe inspiriert worden sei, sich mit der Mikroelektronik zu befassen.202 Es spricht viel dafür, den 11. April als das Datum des Beginns der Mikroelektronik-Entwicklung in der DDR anzusehen. Noch einmal zurück zu Walters Befehl, Hartmann unter Kontrolle zu halten. Warum der Verdacht bei einer letztlich doch positiven Darstellung des Gesprächsinhaltes von Maye? Nur weil Rompe den Eindruck gehabt hatte, dass Hartmann zu ihm kein Vertrauen habe? Wer konnte schon Vertrauen zu Rompe haben, der in Machtkreisen aus- und einging! Eine wahrscheinlichere Erklärung findet sich bei Ilko-Sascha Kowalczuk. Er zählt Walter zur sogenannten »Häftlingsgruppe«. Er gehörte jener Gruppe an, die besonders lange in Haft war, »erst bei Kriegsende aus 201  Abt. VI/2, Maye, vom 19.4.1960: Bericht; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 43, Bl. 190 f. 202  Vgl. AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 42.

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den Lagern der NS-Diktatur befreit wurde und sich anschließend am kommunistischen Aufbau beteiligte«.203 Anders gesagt: Sie rochen den Feind auch durch das Papier solcher Berichte hindurch. Das Gespräch in der Gaststätte Lukullus sollte nicht nur ein fruchtbringendes im Sinne der Mikroelektronik werden, sondern ein schicksalhaftes für Hartmann.

Exkurs 6: Keiner war geheimnisvoller: Rompe Das MfS legte am 4. Juni 1955 einen Operativ-Vorgang (OV) mit dem Namen »Emigrant« zu Robert Rompe an. Der noch recht unstrukturierte und nicht formstrenge Vorgang enthält eine Anweisung zur Postüberwachung 204 mit Datum 23. Februar 1953. Rompe wohnte zu dieser Zeit in Berlin-Johannisthal.205 Die Blätter  25 und 26 der Akte geben interessante Fragen wieder: »1.  Seit wann kennt er Professor Möglich? 2. Wie steht er mit ihm in Verbindung? 3. Wie ist die Einstellung des Professor Möglich? 4. Wie beurteilt er ihn? 5. Welche Verbindungen hat Möglich zu Wissenschaftlern u. a. Personen in Westberlin bzw. Westdeutschland? 6. In welchem Zusammenhang erzählte Möglich von dem CIC-Agenten Hollstein? 7. Was weiß er von Hollstein (frühere Vergangenheit von H. als was u. wo gearbeitet)?«. Auf einem Blatt befindet sich eine Zeichnung mit der Angabe von Verbindungen wie folgt: Field – Hollstein – Weizel – Möglich – Naas. »Offene Fragen: 1. Wie erhielt Möglich Mitteilung, dass Hollstein Weizel aufgesucht hat? 2. Woher ist bekannt, dass H. im August in Bonn war? 3. Woher ist bekannt, dass H. CIC-Agent ist? 4. Liegt Professor Weizel, Walter u. Hans Hollstein [sic!]. 5. Warum hat Professor Weizel diese Angelegenheit Möglich [siehe S. 86] erzählt.«206 Rompe hatte 1945/46 eine Verbindung zu zwei Offizieren des amerikanischen Geheimdienstes, einer hieß Hans Hollstein, der wiederum hatte Verbindung zu Field. Rompe hatte ferner Verbindung zu einer Trotzkistin an der Jenenser Universität. Sie war aus der SED ausgeschlossen worden.207 Am 7. April 1953 suchte das MfS hausintern, ob im ZK der SED belastendes Material über Rompe bekannt sei, gleichermaßen Informationen über dessen Ehefrau und über deren Mutter. Die Mutter soll in einer Organisation in der Schweiz tätig gewesen

203  Kowalczuk: Stasi konkret, S. 72. 204  Vgl. Labrenz-Weiß, Hanna: Abteilung M. Berlin 2005; Schmole, Angela: Abteilung 26. Telefonkontrolle, Abhörmaßnahmen und Videoüberwachung. Berlin  2006; Kallinich, Joachim / ​ Pasquale, Sylvia de (Hrsg.): Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefon-Kontrolle in der DDR. Heidelberg 2002. 205  Vgl. Abt. VI, Ref. V, vom 23.2.1953: Postüberwachung; BStU, MfS, AOP 17/56, Bd. 1, Bl. 22. 206  Zwei Seiten ohne Kopfangaben; ebd., Bl. 25 f. 207  Vgl. Abt. VI / V vom 5.3.1953: Bericht; ebd., Bl. 32.

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sein, die Verbindung zu Field hatte.208 Eine Belastung Rompes entstand durch Havemann am 11. November 1953. Es war 1945, als Havemann in Westberlin arbeitete. Havemann will zu dieser Zeit »engstens mit unseren Freunden zusammengearbeitet« haben. Das sei »illegal« geschehen. »Es wusste niemand, dass ich in der Partei bin.« Entweder 1945 oder 1946 sei Rompe bei ihm im Institut gewesen und habe drei »amerikanische Genossen« vorgestellt. Sie seien bei der CIC beschäftigt. Havemann soll daraufhin verwundert gefragt haben, ob es auch Genossen bei der CIC gebe. Rompe soll darauf sehr verlegen reagiert haben. Großen Einfluss übe Rompe auf Lange aus, auch Wittbrodt stehe »sehr unter dem Einfluss Rompes«.209 Rompe ist in dieser frühen Phase hart angegangen worden, der Ruf, Agent zu sein, lief ihm voraus – laut einem Brief an Ulbricht: Er sei »ein gefährlicher Westagent«, dem »auch die Affäre Leo Bauer […] nicht das Genick gebrochen« habe. Der Brief an Ulbricht ist extrem denunziatorisch und geht tief in Belange des Privaten hinein. Der Absender muss einen originären Einblick in das Leben von Rompe gehabt haben; er schloss: »Es gäbe noch viel mehr zu berichten, Herr Ulbricht. Diese kleine Probe mag genügen, um ihnen zu zeigen, was die Herren Intellektuellen und Nationalpreisträger wirklich denken, tun und vorbereiten, auch wenn sie nach außen hin als die besten Genossen auftreten. Handeln Sie, ehe es zu spät ist! Das ZK sollte unbedingt einschreiten. Für Frieden, Einheit und Freiheit! Für den Abzug aller Besatzungstruppen! Gegen alle Verräter und Agenten! Kampfgruppe zur Erneuerung Deutschlands.« Aus der Kopfangabe geht hervor, dass Wollweber das Schreiben vorgelegt bekam und möglicherweise am 12. Mai 1954 auch Ulbricht.210 Rompe wurde eine enge Verbindung zu Paul Wandel nachgesagt. Wandel soll »ihm in jeder Weise« geholfen haben. Wandel soll am 17. Juni 1953 zu Matthias Hauke* gesagt haben: »Lass mich bloß mit dem elenden Sozialismus in Frieden, das interessiert mich überhaupt nicht, was daraus wird.« Handschriftlich ist darunter gesetzt worden der Satz: »Wandel war am 1.5. von 16.00 Uhr bis 22.00 Uhr bei Rompe in der Wohnung.« Der Bericht von Hauke* ist ebenfalls hochgradig denunziatorisch.211 Wer eigentlich hielt über Rompe die schützende Hand? Es kann nur der KGB gewesen sein, in dessen Auftrag er Kontakt zum amerikanischen Geheimdienst aufgenommen haben könnte. Wandel war zu diesem Zeitpunkt Sekretär des ZK der SED, Hauke* Verwaltungsdirektor der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW). Befreundet mit Rompe seien Wandel, Wittbrodt und Havemann.212 Vor dem 4. Juni 1955, am 8. Juni 1954 hatte der Staatssicherheitsdienst bereits einen Überprüfungsvorgang (ÜV) zu Rompe angelegt. Zur Last wurden 208  Vgl. Abt. VI, Ref. V, vom 7.4.1953: Ermittlungen im ZK der SED; ebd., Bl. 35. 209  HA V/4, Ref. D, vom 14.12.1953: Auszug aus einem Bericht; ebd., Bl. 37. 210  Schreiben an Ulbricht vom 9.5.1954; ebd., Bl. 47 f. 211  HA V/4/D vom 18.5.1954: Bericht; ebd., Bl. 70 f., hier 71. 212  Vgl. HA V/4/D vom 3.6.1954: Zusammenfassender Bericht zu Rompe; ebd., Bl. 73–75, hier 75.

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ihm Anwerbungsversuche und Verbindung zur Agentin Erika Glaser gelegt.213 Offizier Kairies hatte sofort einen Maßnahmeplan für die politisch-operative Bearbeitung Rompes entworfen, der alle üblichen Elemente (wie den Einbau von Abhörtechnik) umfasste. Gleichzeitig sollte, und das war Usus, die Telefonkontrolle auch über »bestimmte Personen« der DAW ausgedehnt werden, »besonders« war »die Klasse für Physik« hiervon betroffen. Rompe war zu dieser Zeit Leiter des Instituts für Strahlungsquellen und des II. PTI der HU Berlin. Lageskizzen und genaue Grundrisszeichnungen der Etagen seines Wohnhauses in Niederschöneweide wurden angefertigt.214 In der Umregistrierung des ÜV ist als Grund der Weiterbearbeitung unter anderer Registriernummer vermerkt, dass »Rompe großen Einfluss auf bestimmte Industriezweige bzw. in der Akademie der Wissenschaften und dem Staatssekretariat für Hochschulwesen« habe. »Sein Einfluss auf diese Institutionen wirkt sich negativ aus. Er versucht in allen wichtigen Instituten oder Verwaltungsdienststellen Personen unterzubringen, die unter seinem Einfluss stehen und ihm ergeben sind.« Der Vorgang »Emigrant« ist von Switala gegengezeichnet.215 Es liegen kaum Ermittlungsergebnisse über Rompe in der Akte ein. Der Abschlussbericht erfolgte überaus rasch, nämlich am 9. Januar 1956. Verhinderte der KGB Ermittlungen? Auch der Schlussbericht überrascht wegen seiner Kürze. Die zweite nur halb beschriebene Seite weist lediglich drei Sätze auf, die neu waren. Erstens: Durch Hauke* sei bekannt geworden, dass der von der ZPKK erfahren habe, »dass die gegen Rompe vorgebrachten Anschuldigungen untersucht wurden und keine Bedenken« bestünden. Der zweite Satz: »Eine ähnliche Auskunft wurde uns vom Gen[ossen] Beater gegeben.« Der dritte Satz, die Konklusion: »wird« deshalb »vorgeschlagen, den operativen Vorgang ›Emigrant‹ abzulegen und mit Professor Rompe offiziell zusammenzuarbeiten.«216 Es heißt im Beschluss ferner, dass »eine ähnliche Auskunft […] von befreundeter Dienststelle gegeben« worden sei.217 Hartmanns Auftreten war zu jener Zeit keine singuläre Erscheinung. Ein Überblick zur Feindtätigkeit im Bezirk Dresden vom Mai 1960 – unter der Rubrik die hauptsächlichsten Stoßrichtungen der Politisch-ideologischen Diversion (PiD) im Bezirk – vermerkt, dass es Wissenschaftler gebe, die es »kategorisch ablehnen, dass die Parteiorganisation auf das Betriebsgeschehen Einfluss nimmt«. Das Papier nennt allein aus dem Dresdener Raum drei Personen, die in der vorliegenden Untersuchung zu den Protagonisten gehören: Baade, Barwich und eben Hartmann. Die extrem ausgeprägten Eigen-Motive dieser drei Wissenschaftler transformierte der Staatssicherheitsdienst als von außen gesteuerte: Schuld habe die Propagandamaschinerie 213  Vgl. HA V/4/D vom 8.6.1954: Beschluss für das Anlegen eines ÜV; ebd., Bl. 76. 214  Abt. VI/2 vom 4.6.1955: Maßnahmeplan; ebd., Bl. 82–84, hier 84. Allgemeine Angaben; ebd. Bl. 85–89. 215  Abt. VI vom 4.6.1955: Beschluss für das Umregistrieren eines ÜV; ebd., Bl. 92 f. 216  Abt. VI/2 vom 9.1.1956: Schlussbericht; ebd., Bd. 2, Bl. 44 f., hier 45. 217  Abt. VI/2 vom 9.1.1956: Beschluss für das Einstellen eines OV; ebd., Bl. 46.

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der »rechten SPD-Führung« und deren Ostbüros. Immerhin wurde eingeräumt, dass deren Ideen »vor allem auch durch Personen verbreitet« würden, »die in keiner Beziehung zur Partei der Sozialdemokratie« stünden.218 Hartmann hatte am 1. Juli 1960 eine erneute Besprechung bei Ulbricht. Es war gewiss ein ambivalentes Verhältnis, vergleichsweise kann es als gut bezeichnet werden. Zu Honecker dagegen bestand überhaupt kein Verhältnis, Honecker war nie wirklich unter arbeitenden Menschen. Das Gespräch hinterließ bei ihm einen guten Eindruck: Ulbricht sei »ja ein ganz vernünftiger Mann«, resümierte er, »mit dem man sich anständig unterhalten könne«. Ulbricht versprach, dem VEB Vaku­ tronik demnächst einen Besuch abzustatten. Doch Hartmann ließ sich durch solche Begebenheiten und auch Äußerlichkeiten nie täuschen, schon gar nicht korrumpieren. Nahezu zur gleichen Zeit protestierte er, dass ihn die Volkspolizei »die Einreisegenehmigung nach Westberlin« nun »auf vier Wochen begrenzt« habe. Das sei, so Hartmann ironisch, »wieder ein neuer Beweis für das Entgegenbringen des Vertrauens der Intelligenz gegenüber«.219 Es ist erstaunlich, mit welcher Vehemenz die Liberalisierungsidee Hartmanns betreff seines WIB aus untergeordneten »Etagen« der Macht heraus angegriffen worden ist. Jedenfalls kam der Widerstand nicht von Ulbricht und von Apel. Und Günter Mittag war noch nicht an der Macht. So warnte einmal mehr der GI »Kupfer« in einem Bericht vom 8. Juli vor den Vorstellungen Hartmanns, als er erfuhr, dass der auf der 9. Tagung des ZK der SED einen entsprechenden Diskussionsbeitrag halten solle: »Es muss meines Erachtens unbedingt darauf hingewiesen werden, dass man das dort Vorgetragene auf keinen Fall gutheißen« könne. Der GI »Kupfer« zog alle Register, die die Ressentiments gegen Hartmann bedienten. Und er sprach dabei stets im Sinne der SED: »Wir Genossen können nicht zulassen, dass …«. Zwar wisse er nicht, was Hartmann auf der 9. Tagung des ZK alles so sagen werde, nehme aber an, dass er den WIB erläutern und »Hemmnisse, die seiner Arbeit entgegenstehen, aufzählen« werde. Seines Erachtens sei »es völlig verfehlt, ausgerechnet Professor H. dort auftreten zu lassen«.220 Man hatte Angst, auch nur für einen Moment die Hoheit des Sagens zu verlieren. Hartmann hatte dann auf der 9. Tagung zum Hauptthema »Maschinenbau und Metallurgie« gesprochen unter dem Titel: »Durch sozialistische Gemeinschaftsarbeit zum wissenschaftlich-technischen Höchststand im Maschinenbau und in der Metallurgie«.221 Auf der Tagung sprach Rompe zur Frage der Bedeutung und des Stellenwertes der Technologie in der Wissenschaft, eine Rede, die intern auf heftigen Widerspruch zweier Vertreter der Abteilung Wissenschaften im ZK stieß (siehe S. 162). 218  Zur Feindtätigkeit im Bezirk Dresden, Mai 1960; BStU, MfS, SdM, Nr. 1352, Bl. 93–114, hier 100 f. 219  BV Dresden, Ref.  VI, vom 12.7.1960: Bericht zum Treffen mit »Schubert« am 7.7.1960; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 52. 220  Bericht von »Kupfer« am 8.7.1960; ebd., Bd. 22, Bl. 103 f., hier 103. 221  Unbekannter Autor: Zu möglichen Ursachen und / oder Verursachern der gegenwärtigen Situation in der elektronischen Industrie der DDR; ebd., Bd. 47, Bl. 30–32, hier 30.

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Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie

Am 15. Juli fand eine Beratung über Fragen der Mikroelektronik im VEB Vakutronik statt. Teilgenommen hatten hieran bedeutende Kenner der Elektrotechnik / Elektronik wie Siegfried Pfüller, Joachim Auth,222 Matthias Falter und Hartmann selbst, sowie von der SPK Hubertus Bernicke. Während Hartmann und Pfüller Wert auf wissenschaftliche Grundlagen gelegt haben sollen, soll Falter auf die Lieferung von »Grundschaltungen der Fernmeldetechnik und Rechentechnik, die in großen Stückzahlen benötigt« würden, »sowie auf die ersten Arbeitsergebnisse dazu im IHT« orientiert haben. Dies entsprach genau den beiden Lagern, ersteres des der Neuen Technologie und letzteres der alten Technik. Später wird Hanisch Hartmanns Plädoyer für einen WIB »bewusst« als Entscheidung gegen das IHT Falters sehen: wonach er »eine Entscheidung für das IHT (das sofort arbeitsfähig wäre!)« untergraben habe. Hartmann habe »einen Personenkreis für eine Beratung« vorgeschlagen, »dessen Mitglieder aufgrund seiner engen persönlichen Kontakte zu« ihm »für seinen Einsatz sprechen würden«. Er habe »letztlich seinen Betrieb als für dieses Aufgabengebiet prädestiniert« angeboten, »obwohl bei Vakutronik für die Bearbeitung dieser Aufgabe aber auch gar keine Voraussetzungen vorhanden waren«. Hartmann sah dies anders: »Meiner Ansicht nach ist dieses Arbeitsgebiet für einen Wissenschaftlich-industriellen Betrieb, wie ich ihn im Laufe der letzten Jahre in unserem Betrieb (Vakutronik) angestrebt und aufgebaut habe und dessen Grundkonzeption nunmehr durch das 9. Plenum gebilligt wurde, geradezu prädestiniert.« Hanisch unterstrich in seiner Manipulationsschrift jene Wissenschaftler, die Hartmanns Bundesgenossen gewesen sein sollen: Pfüller, Rompe, Rexer, Faulstich und Frühauf. Nicht unterstrichen: Bernicke, Falter, Kortum und Schulze.223 Eine Einteilung, die sachlich nicht haltbar ist. Doch Hanisch wird anderthalb Jahrzehnte später seine angebliche Verschwörung passgerecht konstruieren und nicht einmal davor zurückscheuen, Hartmann einer Fälschung von Dokumenten zu bezichtigen.224 Hanisch hatte im VEB Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik (WBN) Teltow 1956, im IHT (1957/58) und im Kombinat VEB Halbleiterwerk Frankfurt / O. (HWFO) von 1958 bis 1962 gearbeitet. Er behauptete, dass von 1955 bis 1957 »in rascher Folge relativ gute Ergebnisse bei der Entwicklung von Dioden und Transistoren erzielt« worden seien. Auch hier hatte Hanisch ähnlich wie später in der AME / A MD – und noch später an der TU Dresden – nach Feinden gesucht und Feinde gefunden (siehe MfS-Spezial I). Er nannte in dem Bericht namentlich sieben Personen, die »eine merkliche Schwächung des Entwicklungspotenzials im IHT« und damit »auch im HWFO« bewirkt hätten.225

222  Auth, Joachim: Bericht über die Einhaltung der vom Wissenschaftlich-Technischen Rat für die Halbleitertechnik gefassten Beschlüsse; ebd., Bd. 19, Bl. 191–193. 223  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 43 f. 224  Vgl. ebd., Bl. 46. 225  Hanisch: Einige Gedanken zur Aufbauphase der Halbleitertechnik und der Mikroelektronik in der DDR, geschrieben am 17.4.1973; ebd., Bd. 24, Bl. 131–133, hier 131.

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Hartmann gab am 1. August gegenüber Apel seine konkreten Vorschläge zur Bildung des Wissenschaftlich-industriellen Betriebes, wozu an vorderster Stelle die Zusammensetzung der Werkleitung zählte, bekannt. Apel war zu dieser Zeit Leiter der Wirtschaftskommission des Politbüros des ZK der SED. Der Reformvorschlag war simpel und vom Effektivitätsaspekt getragen. Das Problem bisheriger Werkleiter­ sitzungen sei gewesen, so Hartmann, dass beispielsweise ein Abteilungsleiter vor der Werkleitung über wissenschaftliche Fragen zu berichten hatte, die vom großen Kreis der Werkleitung nicht verstanden werden konnten. Zu diesem Kreis gehörten: Werkdirektor, Betriebsdirektor, Hauptbuchhalter, Hauptentwicklungsleiter, Leiter des elektronischen Prüflabors, Technischer Leiter, Produktionsleiter, Leiter der Abteilungen Kader, Arbeit, Planung und Kaufmännischer Bereich, BPO-Sekretäre in Dresden und Radebeul sowie der BGL-Vorsitzende. Es sei demzufolge für den WIB ein gegenüber den »Schraubenfabriken« anderer Modus auch in dieser Zusammensetzung notwendig. Hartmann schlug für die Zusammensetzung der Werkleitung vor: Werkdirektor, Betriebsdirektor, Hauptentwicklungsleiter, Technischer Leiter, Hauptbuchhalter, BPO-Sekretäre und BGL-Vorsitzender. Kern seines Vorschlages war, dass zu den gewerkspezifischen Sitzungen (»erweiterte Werkleitung«) die jeweiligen Funktionsträger, wie etwa der Abteilungsleiter des Entwicklungsbereiches, geladen werden sollten. Je nach Bedarf würden zu diesen Sitzungen der drei Gewerke dann Personen aus anderen Gewerken hinzugezogen werden können; Hartmann: »Durch die von mir vorgeschlagene Regelung« werde »sich das Gesicht der Werkleitung eines WIB entscheidend von dem der Leitung einer ›Schraubenfabrik‹ unterscheiden. Das bisher vorhandene starke Übergewicht der Vertreter der Verwaltungsabteilungen« werde sich »zugunsten einer stärkeren Betonung des Einflusses der maßgebenden Bereiche eines WIB, nämlich Entwicklung und Fertigung, auf ein vernünftiges Maß« beschränken.226 Am 4. August richtete Hartmann ein Schreiben an den Leiter des Sektors Forschung und Technik der SPK; Zitat: »Meiner Meinung nach ist mit Sicherheit damit zu rechnen, dass die Molekularelektronik eine bedeutend größere Umwälzung in der Elektronik hervorrufen wird, als sie bisher mit dem teilweisen Übergang von der Röhre zum Transistor und allen technologischen Folgen verbunden war.« Und weiter: »Da in der DDR die Industrie elektronischer Geräte einen wesentlichen Anteil hat und besonders intelligenzintensiv ist, glaube ich, dass ohne einen sofortigen Beginn von Arbeiten auf dem neuen Gebiet unsere Industrie in naher Zukunft, d. h. etwa in fünf bis zehn Jahren kaum noch wesentliche Exportchancen und Konkurrenzmöglichkeiten haben wird.« Es habe »keinen Sinn, nur einen halben Schritt zu tun. Zusammenfassend bin ich der Meinung, dass in der DDR auf diesem Gebiet sofort und zielstrebig die Arbeit begonnen werden« müsse. In diesem Schreiben nahm er auch auf eine Besprechung in seinem Arbeitszimmer am 15. Juli Bezug, die Schlüsselcharakter besitzt. Es ist die Problematik »Hartmann (neue Technologie) vs. Falter (alte Technik)«. An der Besprechung hatten er, 226  Schreiben von Hartmann an Apel vom 1.8.1960; ebd., Bd. 22, Bl. 105 f.

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Bernicke und Falter teilgenommen. Hartmann: »Die auf der Besprechung von Herrn Professor Falter geäußerte Meinung, dass das von ihm geleitete Institut in Teltow die Elemente der Molekularelektronik beherrscht und er nur darum bittet, feststellen zu lassen, welche elektronischen Baugruppen in welchen Stückzahlen benötigt werden, hat mich überrascht, da ich nach den Unterhaltungen mit Herrn Professor Rompe eine davon sehr abweichende Meinung gewonnen habe. Wenngleich ich mir infolge der schon eingangs erwähnten ungenügenden Kenntnis der Sachlage kein abschließendes Urteil erlauben darf, möchte ich trotzdem meine Zweifel mitteilen. Soweit ich die Lage in der DDR zu übersehen glaube, kann von einem wirklichen ernsthaften Arbeiten auf dem Gebiet der Molekularelektronik keine Rede sein.« Er plädiere dafür, im IHT »eine arbeitsfähige Gruppe für Molekularelektronik zu ergänzen«, da »grundsätzliche Vorarbeiten physikalischer und technologischer Art« seit 1953 gewonnen sein dürften. An anderer Stelle eine solche Gruppe aufzubauen, halte er für nicht zielführend (Zersplitterung). Er sprach sich auch gegen die Ortstrennung Teltow (Forschung) – Markendorf (Fertigung) aus und plädierte – nach dem Vorbild Vakutroniks – einen Wissenschaftlich-industriellen Betrieb aufzubauen. Und beide Institutionen sollten von ein und derselben Person »in wissenschaftlich-technischer Hinsicht geleitet werden«.227 Gutachter Hanisch wird diese Grundsätze später nicht zur Kenntnis nehmen. Im Sommer erklärte sich Hartmann bereit, die Aufgabe der Gründung eines Institutes für die Herstellung von Bauelementen der Mikroelektronik zu übernehmen.228 Während der Werkleitersitzung am 29. September soll Hartmann geäußert haben, dass er den RIAS nicht mehr hören könne, da der Empfang gestört werde. Auch habe er die Parteiverfahren – genauer: die Umstände und Konsequenzen – gegen zwei Mitarbeiter kritisiert.229 Drei Tage zuvor war einer der beiden in einem Parteiverfahren als Mitglied der SED gestrichen worden. Aufgrund dieser und der Tatsache, dass er »gegen die Partei gerichtete Diskussionen« geführt haben soll, hatte er West-Reiseverbot erhalten. So wurde u. a. eine vereinbarte Vortragsreise nach Düsseldorf im Rahmen der DIA-Elektrotechnik storniert. Hartmann hatte versucht, das Verbot rückgängig zu machen, da er nicht einverstanden war mit dem Beschluss der Betriebsparteileitung von Vakutronik.230 Hierzu soll Hartmann gesagt haben: »Was bildet sich die Parteileitung ein.« 1974 wird Hanisch rückblickend einschätzen, dass Hartmann solche Kommentare auch gegenüber seinen Abteilungsleitern in Werkleitungssitzungen äußerte. Es sei »festzustellen, dass im VEB Vakutronik sich 227  Schreiben von Hartmann an Schwarz, Sektor Forschung und Technik, vom 4.8.1960; ebd., Bd. 24, Bl. 235–237, hier 237. 228  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 17. 229  Vgl. Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 187. 230  Abt. VI/2 vom 14.11.1960 an das MfS in Berlin, Abt. VI/2; ebd., Bd. 6, Bl. 51. 1960 als Mitglied der SED gestrichen. Wegen seiner »gegen die Partei gerichteten Diskussionen« seien Westreisen untersagt worden. Hartmann hatte vergeblich interveniert, in: Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 157.

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der größte Teil der Intelligenz der Meinung« Hartmanns anschließe. »Trotz mehrmaliger Aussprachen seitens der Parteileitung mit ihm über solche Fragen ändert er seine Meinung nur kurzzeitig.«231 Der IM »Sommer« wusste am 5. Oktober zu berichten, dass Hartmann die Meinung vertrete, »dass bei tatsächlicher Sperrung von Warenlieferungen aus Westdeutschland die DDR einpacken« könne. Er nannte Vakutronik mit der Position »Armeegeräte«, das Werk Pockau sowie Eisenach (Pkw Wartburg), die einpacken könnten: »Alles ›Gerede‹ staatlicher Stellen, dass wir auf die Lieferungen aus Westdeutschland verzichten können, sei Unsinn.«232 Ein Schreiben eines kommissarischen Sektorenleiters der SPK vom 6. Oktober an Hartmann zeigt, dass die zwischen Rompe und Hartmann wenige Monate zuvor in der Gaststätte »Lukullus« entwickelte Idee mittlerweile an Festigkeit gewonnen hatte. In der DDR, so der Sektorenleiter, müsse »unverzüglich« die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der »Miniaturisierung von elektrischen und elektronischen Bauelementen«, die im Westen »einen derartig sprunghaften Aufschwung genommen« habe, »betrieben werden«. Um dieses Thema rasch zu befördern, werde deshalb am 18. Oktober im Haus der SPK zur Diskussion des Themas »Mikro­ modultechnik und Molekular-Elektronik« eingeladen. Eingeladen war auch Falter, der einen Überblick zu den wichtigsten Aspekten der Molekular-Elektronik gab.233 Hier soll, kolportierte 13 Jahre später das MfS, »Falter auf konkrete Schaltkreise und den Einsatz von Unipolartransistoren in der integrierten Mikroelektronik (d. h. Orientierung auf MOS-Technik!)« orientiert haben. »Damit« seien »von Professor Falter die Hauptentwicklungsrichtungen völlig richtig und vorausschauend charakterisiert« worden.234 Letztlich war es staatlicherseits nur die SPK, die das zähe Ringen um eine moderne Elektronik-Technologie unterstützte. Am 18. Oktober führte deren stellvertretender Leiter der Abteilung Investitionen, Forschung und Technik, Hermann Grosse, eine Beratung durch. In einem Vorbereitungsmaterial vom 2. September heißt es, dass für die elektronische Rechentechnik zunächst Grundschaltungen »in Richtung der Molekularelektronik« zu entwickeln seien, parallel dazu müsse aber auch eine »breite Grundlagenforschung« betrieben werden.235 Virulent mag zu dieser Zeit immer auch die Möglichkeit bestanden haben, dass Hartmann das Institut für Halbleitertechnik (IHT) doch (noch) übernehmen 231  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bl. 147–189, hier  156; Bericht von »Kupfer« vom 24.3.1960; ebd., Bd. 6, Bl. 45–47, hier 45. 232  Bericht von »Sommer«, notiert am 5.10.1960; ebd., Bd. 6, Bl. 49. 233  Vgl. Schreiben der SPK, Abt. Investitionen, Forschung und Technik, an Hartmann, VEB Vakutronik Dresden, vom 6.10.1960; ebd., Bd. 43, Bl. 217 f. 234  Dresden vom 5.4.1974: Spezielle Dokumentation und Auswertung; ebd., Bd. 23, Bl. 2–26, hier 12. Die Arbeit umfasst ferner 94 Anlagen (97 S.). Das Manuskript der Arbeit »wurde durch Verbrennen vernichtet«. 235 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 9 f.

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werde. In einem Antwortschreiben Hartmanns an Apel (der ihm den Vorschlag unterbreitet hatte, die Leitung zu übernehmen) erklärte er, »dass er bereits mit dieser Entwicklung gerechnet habe«, sie decke »sich mit seinen gemeinsamen Bemühungen mit Professor Rompe«.236 Am 18. Oktober erfolgte eine erneute Beratung in der SPK. Obgleich alles darauf hinauszulaufen schien, das IHT zu favorisieren, unterstellte Hanisch später ein abgekartetes Spiel von Rompe und Hartmann: »Professor Rompe erwähnt seinen Auftrag an Professor Hartmann nicht!« Und Hartmann habe »auch nicht zu erkennen« gegeben, »dass er bereits zugesagt« habe, »diese Aufgabe zu übernehmen!« Von Grosse erhielt Bernicke den Auftrag, eine Arbeitsgruppe zu bilden. Rompe soll sofort die Mitglieder benannt haben, Hanisch selektierte später in seiner Manier mit Unterstreichungen und Ausrufezeichen zwei Gruppen; erstens die Hartmann-Gruppe, bestehend aus Herbert Henniger (siehe S. 472 u. 1041), ­Joachim Auth (»Sekretär von Rompe!«), Siegfried Pfüller, Karl Krahl (u. a. Mitglied des Forschungsrats) sowie zweitens die Falter-Gruppe, bestehend aus fünf Personen, darunter Bernicke. Dass Hartmann »wieder nicht zur Mitarbeit aufgefordert« worden sei, sah Hanisch als geheime Verschwörung an: »In der Beratung wurde sichtbar«, dass Bernicke das IHT vorschlug und dass Rompe und Hartmann sich »mit ihrem Vorhaben zurückhielten!«237 Hartmann beschwerte sich am 6. Dezember gegenüber Rambusch, Leiter des AKK, über den Arbeitsplan des Wissenschaftlichen Rates für 1961 (Wissenschaftlicher Rat für die friedliche Anwendung der Atomenergie beim Ministerrat der DDR).238 Er bezog sich hierbei auf das Referat »Festkörperdetektoren«, worin Vorwürfe gegen ihn laut geworden waren. Auch am heutigen Tag finde wieder eine Sitzung im Zentralinstitut für Kernphysik statt; und: »Wenn der Verfasser des Arbeitsplans es für richtiger hält, diese Frage ohne Einschaltung der Gerätekommission, in deren Kompetenz diese Aufgabe eindeutig fällt, bearbeiten zu lassen, nehme ich dies zur Kenntnis, muss dann aber die Frage nach deren Existenzberechtigung stellen. Daher empfehle ich dringend, alle auftretenden Fragen den geeigneten Kommissionen zuzuweisen.« Und weiter: »›Die Gerätekommission hat es in der Vergangenheit versäumt, dieser Aufgabe die entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen.‹ Ich erlaube mir, Ihnen mitzuteilen, dass ich seit Jahren eine Konzeption in dieser Frage besitze, deren Richtigkeit bisher durch die Erfahrungen nur bestätigt wurde. Daher sehe ich mich nicht veranlasst, infolge anonymer laienhafter Äußerungen wie der oben zitierten davon abzusehen. Ich wende mich aber mit Nachdruck gegen einen solchen Dirigismus, der nichts von der Sache versteht. Der Schreiber hätte

236  Kommentar von Hanisch zu einem Schreiben von Hartmann an Apel (o. D.); ebd., Bd. 6, Bl. 169. 237  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 47. 238  Zur Rolle siehe Kap. 4.3.1. Die Zusammensetzung 1963: Vorsitzender Hertz, Stellv. Rompe. Mitglieder: Hartmann, Barwich, Faulstich, Fuchs, Schintlmeister, Schwabe, Alexander, Ardenne, Eckardt, Görlich, Lange, Lanius, Mühlenpfordt und Steenbeck.

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zumindest die Pflicht gehabt, meine Meinung zu erfragen. Sollte es Kollegen geben, die tatsächlich das Gebiet besser als die in der Gerätekommission mitarbeitenden und unmittelbar in Entwicklung und Fertigung tätigen Fachleute übersehen, so ist es meine selbstverständliche Pflicht, diesen meinen Posten als Vorsitzender der Gerätekommission zur Verfügung zu stellen.«239 Am 14. Dezember verfasste Hartmann ein Schreiben, das an Wolfgang Lungers­ hausen ging, der zu dieser Zeit noch Werkleiter im VEB Optima Erfurt war und ab 1961 Hauptdirektor der VVB Datenverarbeitung und Büromaschinen Erfurt werden sollte. 1972 trat er die Nachfolge von Rudolf Heinze als Generaldirektor der VVB BuV an. Mit Lungershausen ist der Fall Hartmanns eng verknüpft. Thema des Schreibens war die Situation der Versorgung der DDR-Volkswirtschaft mit elektronischen Bauelementen. Hartmann sprach hierin von der Sorge angesichts der schleppenden Entwicklung mikroelektronischer Bauelemente. Da kein Fortschritt zu verzeichnen sei, müsse »man zu dem Schluss kommen, dass auf dem Gebiet der nachrichtentechnischen Bauelemente trotz vieler Bemühungen bis heute keine entscheidende Änderung in Entwicklung und Fertigung erzielt worden« sei. »Für das gesamte Feld der Elektronik, die in der DDR stark vertreten und besonders intelligenzintensiv ist, bedeutet dies eine tödliche Gefahr.« In der Welt sei eine hohe Dynamik in der Herstellung neuer Bauelemente sowohl auf konventioneller wie auch auf Festkörperbasis zu registrieren. »Bei dem jetzigen Stand« sei »die Elektronik in der DDR zum Zurückbleiben gezwungen, sie« werde »im Export uninteressant werden und auch die im Inland so äußerst wichtigen Aufgaben der elektronischen Betriebsmess-, Steuer- und Regeltechnik« könnten »nicht optimal im Sinne hoher Betriebssicherheit und Arbeitsproduktivität« gelöst werden. Und weiter: »Schon vor Jahren habe ich in Eingaben darauf hingewiesen, dass die DDR niemals und unter keinen Umständen in der Lage sein kann, elektronische Bauelemente im gleichen Sortiment wie z. B. die Bundesrepublik oder England bereitzustellen.« Mit Hinweis auf die Fertigung von weltmarktfähigen Bauelementen wie Zählrohre, die ausländischen Produkten »gleichwertig und zum Teil überlegen« seien und deren Reklamationsrate bei einem Absatz von 25 000 Stück nur 0,2 Prozent betrage, zeige sich, »dass es bei genügend hohem wissenschaftlich-technischem Stand durchaus möglich« sei, Weltniveau zu erreichen. In der DDR sei es dagegen üblich, extrem kostenintensive Eigenentwicklungen mit äußerst begrenzter Stückzahl an vielen Stellen in der DDR zu entwickeln und zu produzieren. »Ich bin leider gezwungen, festzustellen, dass unter solchen Bedingungen außergewöhnliche Anstrengungen zur Bestimmung des Weltniveaus in der gerätebauenden Industrie ihren Sinn verlieren und nur Geschäftigkeit vortäuschen, ohne einen realen Hintergrund zu haben.« Hartmann bat, dass Lungershausen seinen »ganzen Einfluss geltend« machen möge, »um in aller Kürze entscheidende Änderungen in folgenden drei Hauptpunkten zu

239 Schreiben von Hartmann an Rambusch vom 6.12.1960; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 19, Bl. 195 f.

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erreichen: 1. Abstimmung im sozialistischen Lager. 2. Realistische Überprüfung der wissenschaftlich-technischen Kapazität in der DDR. 3. Einrichtung von Wissenschaftlich-industriellen Betrieben für Bauelemente«. Besonderes Augenmerk lege er auf die WIB, die »mit eigener Planmethodik der Gesamtwirtschaft keinen Schaden« zufügen würden. Er hoffe, »dass die außergewöhnlich dringliche und ernsthafte Lage auch außergewöhnliche Maßnahmen« erwirke.240 Die Pionierphase der Entwicklung der Mikroelektronik (1961 bis 1974) Die am 1. August 1961 gegründete Dresdener Arbeitsstelle für Molekularelektro­ nik (AME) mit nicht einmal zehn Mitarbeitern beschäftigte um 1974 knapp 1 000 Mitarbeiter und war zur Leiteinrichtung auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung elektronischer Bauelemente ernannt worden. Zur ersten Belegschaft zählten u. a. Ralf Kempe, Konrad Iffarth und Günter Bartels.241 Allein Kempe wird Karriere im eigentlichen Sinne machen. Bis 1965 wurde die Arbeitsstelle drei Mal einer anderen staatlichen Stelle zugeordnet. Die zumindest anfänglich fachliche Dysfunktion der Beschäftigten, der geringe finanzielle Fonds (bis Ende 1973 insgesamt nur etwas über 300 Millionen Mark) sowie die stets nicht adäquate technisch-technologische Ausrüstung und Versorgung zeichnen im Hinblick auf das Geleistete ex nunc ein konträr widersprüchliches Bild. Ähnlich widersprüchlich war das Verhältnis der vorzeigbaren Leistungen und hohen staatlichen Auszeichnungen gegenüber der äußerst negativen »Wertschätzung« seitens vieler SED-Funktionäre und vor allem des MfS. Und so kam es, was sich gleichsam unterirdisch wie ein Vulkan vorbereitete, zur Explosion. Am 25. Juni 1974 erhielt Hartmann vom stellvertretenden Generaldirektor der VVB BuV mit Sitz in Berlin am Alexanderplatz und vom Kaderleiter des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik (MEE) eine Vorladung. Er hatte, nach allem was wir wissen, von dem, was ihn erwartete, nichts geahnt. Es traf ihn – und wenig später ebenso seine Mitarbeiter – wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Die beiden Funktionäre eröffneten Hartmann, dass er mit sofortiger Wirkung seiner Funktion als Leiter der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden (AMD) entbunden und beurlaubt sei. Er erhielt darüber hinaus mit sofortiger Wirkung Hausverbot.242 Die formale, schriftlich fixierte Abberufung erhielt er am 11. Juli 1974, verbunden mit einem »Arbeitsangebot« als einfacher wissenschaftlicher Mitarbeiter im VEB Spurenmetalle Freiberg (SMF).243 Seine 240 Hartmann, Werkdirektor VEB Vakutronik Dresden, vom 14.12.1960: Bereitstellung von Bauelementen für die Elektronik«; ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 376, S. 1–3. 241  TSD; Nachlass Hartmann, H 31. Allerdings nicht sofort mit dem Gründungsdatum, siehe zu Bartels unten. 242  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 25.6.1974: Ablösung des Leiters der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 3, Bl. 141 f. 243  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 18.7.1974: Information zur Auswertung des Prozesses; ebd., Bl. 156 f. Mit dem Einstieg der DDR in die Mikroelektronik profilierte sich der VEB Spuren ­metalle

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Abb. 22: Arbeitsstelle für Molekularelektronik

Form des Widerstandes gegen die Allmacht der SED war gebrochen. Selbst aber mag er noch nicht gebrochen gewesen sein, dieses Geschäft besorgte wenig später ein anderer: der »Vernehmer« der HA IX, Oberstleutnant Dr. Werner Lonitz, ein Mann, der in seinem privaten Leben über alle Ethik und Moral erhaben schien, ein Antipode. Doch der Reihe nach: Vom 15. bis 21. Januar 1961 fand der VI. Parteitag der SED statt. Walter Ulbricht sprach zur Bedeutung der Elektronik und gab vor, dass der wissenschaftlich-technische Höchststand in kürzester Zeit erreicht werden müsse. Besondere Bedeutung wies er der »schnellen Entwicklung der Produktion von elektronischen Bauelementen auf höchstem technischem Stand, im vollständigen Sortiment von hoher Qualität, Lebensdauer und Betriebssicherheit« zu.244 Wenig später, auf einer Sitzung des Wissenschaftlichen Rates am 24. Februar, sah sich Hartmann gezwungen zu erklären, dass in fünf Jahren »die Elektronik tot« sein werde, wenn nicht endlich etwas pasFreiberg (SMF) zum Alleinhersteller von Wafer-Scheiben auf Silizium- und Germaniumbasis. Der VEB war am 1.4.1957 gegründet worden. 1989 zählte er 1 768 Beschäftigte. Vorgänger war das 1949 gegründete Forschungsinstitut für Nichteisenmetalle (FNE). Zulieferer war das 40 km weiter nördlich gelegene Chemiewerk Nünchritz. Siehe auch Buthmann, Reinhard: »Den Bürger noch nie so mutig erlebt«. Eine Chronologie der Auseinandersetzungen um das Reinstsiliziumwerk Dresden-​ Gittersee, in: Horch und Guck 12(2003)43, S. 28–38. 244  Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, hier 11.

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sieren werde.245 Überhaupt stritt sich Hartmann im Februar 1961 einmal mehr um Fragen der Einstellungspolitik mit den zuständigen Funktionären. Er zeige sich prinzipiell »nicht einverstanden« damit, dass in der DDR »die Menschen in zwei Klassen eingeteilt« werden würden, nämlich in »Parteigenossen und Parteilose«. Er komme »in seiner fachlichen Arbeit schwer voran, weil ihm vorgeschrieben« werde, »wen er einstellen darf« und wen nicht. Es sei »nicht so, dass man sich bei der Einstellung vom Standpunkt der fachlichen Eignung und Qualifikation leiten« lasse, »sondern es« gehe »in erster Linie darum, die Parteigenossen in führende Funktionen zu bringen, auch wenn sie nicht die dazu notwendige fachliche Qualifikation« besäßen.246 Diese Position, so das MfS, beweise seine »Aversion gegenüber der führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse im gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess«.247 Ein Schreiben von Hartmann vom 13. März zur Entwicklung von Halbleiterdetektoren an die Abteilung Technik der AKK248 beklagte den Stillstand hierin. In der Konsequenz beriet man sich hierüber am 28. März bei Rompe. Teilnahmen Falter, Pfüller, Baumbach, Bernicke und Hartmann. Hartmann notierte, hier in der Wiedergabe von Hanisch: Erstens habe Bernicke nochmals festgestellt, »dass das IHT keine Möglichkeit« besitze, »sich vor 1965 mit neuen Aufgaben zu beschäftigen«. Zweitens soll Falter versucht haben, doch noch den Zuschlag zu bekommen, doch hätten Bernicke und Rompe ihm eine »klare Absage« erteilt. Drittens habe Hartmann »jetzt Beschlüsse« gefordert und darauf hingewiesen, dass er die Aufgabe »nur übernimmt, wenn ein tüchtiger Mitarbeiter« für gebäudetechnische- und Ausrüstungsfragen an seine Seite gestellt werde. In Dresden sei der »wissenschaftlich-technische Anfangspegel« für ein solches Projekt jedenfalls »genau Null«. Ein vierter Punkt betraf den Beschluss zur Gründung der AME.249 Es folgte die schriftliche Beschlussfassung des Vertreters der SPK, Pfüller,250 mit Datum vom 29. März. Der Inhalt, hier auszugsweise: »1. Die Arbeiten auf dem Gebiet der Molekularelektronik werden im IHT eingestellt.« 2. Die AME werde unter Leitung Hartmanns gestellt und dem AKK eingegliedert. 5. Das IHT wird beauflagt, Hartmann »sämtliche Berichte, Protokolle usw.« zu übergeben. Hanisch gab später zu bedenken, dass Pfüller als Alleinunterzeichner des Beschlusses BGL-Vorsitzender gewesen sei, dann zur SPK gegangen und daran anschließend »sofort wieder von

245 Hanisch: Zur Rolle Hartmanns bis zur Gründung (o. D.); ebd., Bd. 22, Bl. 160–164, hier 163. 246  Forschungszentrum, Kader und Sicherheit, vom 24.2.1961; ebd., Bd. 6, Bl. 53. 247  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 190–250, hier 208. 248  Vgl. Schreiben von Hartmann vom 13.3.1961; ebd., Bd. 19, Bl. 203 f. 249  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 47 f.; ebd., Bd. 24, Bl. 238 f. u. 240–242. 250 Hauptamtlicher BGL-Vorsitzender bei Vakutronik; Mitarbeiter der SPK, seit 1961 bei AME, weiland Abt.-Leiter Messtechnik und nebenamtlich als BGL-Vorsitzender; vgl. Dresden, den 5.4.1974: Spezielle Dokumentation und Auswertung; ebd., Bd. 23, Bl. 2–26, hier 3 f.

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Professor Hartmann zu AME geholt wurde!«.251 1965 belastete Hanisch Pfüller, indem er ihm »mangelndes Klassenbewusstsein« unterstellte.252 Der entscheidende Schritt mag am 5. Mai erfolgt sein. An diesem Tag beriet sich Hartmann mit Apel. Der wollte anschließend »in wenigen Tagen« mit Winde (AKK), Bernicke (SPK) und Frühauf noch einmal zusammenkommen, um, nach den Worten Hanischs, »die Molekularelektronik effektiv zu starten«. Am 7. Juni erfolgte eine Beratung im ZK der SED bei Apel (Hartmann-Notiz Nr. 83/61 vom 7. Juni). Anwesend waren auch Rompe und Frühauf. Apel bestimmte, dass die Vorbereitungen abzuschließen seien und Hartmann beim Aufbau des Dresdener Standortes volle »Unterstützung zu geben« sei. Die Gründung der Arbeitsstelle per Beschluss der AKK vom 19. Juli sei laut Hanisch dann »nur noch Formsache« gewesen.253 Nun erst zeigten sich mannigfaltige Widerstände. Ein Mitarbeiter Hartmanns hatte mit Rudi Wekker von der Abteilung Elektronik der SPK am 21. Juni im Flugzeugwerk Dresden über die Raumzuweisung für die künftige AME gesprochen. Der zeigte sich informiert und versprach keine schnell zu erfüllenden Hoffnungen: Es sei »äußerst schwierig«, entsprechende Räumlichkeiten in den Doppelstockbaracken »freizumachen«. Die »Unterbringung der jetzt darin befindlichen Mitarbeiter« sei »kaum lösbar« und könne »nur Zug um Zug im Laufe der nächsten Monate erfolgen«. Den künftigen AME-Mitarbeitern sei jedoch »ausdrücklich versichert« worden, dass »vorerst 150 bis 300 m2 für den Anlauf in einer der Doppelstockbaracken« bereitgestellt würden. »Nach Ablauf mehrerer Monate« würden es dann 800 m2 sein.254 Einen Tag später, am 22. Juni, schrieb Hartmann an Wekker, dass er die gestrige Verabredung bestätige. Hartmann hielt hierin fest, dass für den 29. Juni ein endgültiger Bescheid wie zugesagt erwartet werde (es ging um die Frage, »welche der zentralbeheizten Doppelstockbaracken von uns übernommen« würden). Beide wiesen noch einmal auf die Zusicherung der ganzen Doppelstockbaracke hin, damit die Arbeit endlich beginnen könne.255 Zur Situation auf dem Gerätesektor hatte der Wissenschaftliche Rat für die friedliche Anwendung der Atomenergie kurz vor dem Mauerbau »mit Nachdruck auf die ernsthafte Situation hingewiesen, die eintreten« werde, ja »zum Teil schon eingetreten« sei, »wenn nicht sofort entscheidende Änderungen in der Entwicklung und der Fertigung von Bauelementen für die Elektronik eingeleitet« würden. Der Rat begrüße deshalb die von der SPK »eingeleiteten Maßnahmen« und sei »an deren 251  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 47–49. 252 Vgl. Beurteilung Pfüllers durch »Rüdiger« vom 11.2.1965; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 37–40. 253  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 42–65, hier 51. 254  Aktennotiz von Locke am 22.6.1961 zu einem Gespräch mit Wekker am 21.6.1961; ebd., Bd. 12, Bl. 57. 255  Schreiben der AME, Hartmann und Locke, an die Abt. Elektronik der SPK, Wekker, vom 22.6.1961 zur Zuweisung von Arbeitsräumen; ebd., Bl. 58.

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Realisierung stärkstens interessiert«.256 Hartmann nahm auf der 18. Tagung des Wissenschaftlichen Rates explizit zu dieser Problematik Stellung. »In seiner mündlich gegebenen Einleitung« habe er betont, »dass die Situation auf dem Sektor Bauelemente der Schwachstrom- und Nachrichtentechnik nicht ernst genug eingeschätzt werden« könne. »Für die gesamte Wirtschaft und Industrie können sich kaum wiedergutzumachende Folgen ergeben, wenn nicht von staatlicher Seite her Maßnahmen eingeleitet werden, die die Situationen wesentlich verändern und sicherstellen, dass Bauelemente in geeigneter Qualität und Quantität hergestellt werden.« Die anschließende Diskussion soll »sehr rege« verlaufen sein. Einem systembedingten Reflex entsprach die Forderung, dass der Forschungsrat nun laufend zu kontrollieren und zu beraten habe. Die Festlegungen waren so zwingend zutreffend wie finanziell unrealistisch: Die Bauelementeproduktion sollte »den neuesten Entwicklungen und Erkenntnissen« angepasst werden und »die Entwicklung moderner Halbleiter-Bau­ elemente« sollte »mit allen Mitteln« gefördert werden. Hierzu wurde ein Beschluss des Forschungsrates gefasst unter der Nummer 14/61, worin »mit Nachdruck auf die außerordentlich ernste Situation« hingewiesen worden ist. Im Beschluss 15/61 heißt es dann, dass der Wissenschaftliche Rat sich der Empfehlung der Kommission »Kernenergie« angeschlossen habe, »eine Arbeitsgruppe zu bilden, um das Problem der Geräteentwicklungen in den Instituten zu lösen«.257

Exkurs 7: Zur Arbeitsmethode eines IM: Hanisch Die weitere Darstellung der Entwicklungsgeschichte ist ohne die Analysen und Interpretationen Hanischs nicht möglich. Ohne ihn hätte das MfS nicht jene »Beweislage« schaffen können, die es möglich machte, Hartmann so skandalös zu entfernen wie erfolgt. Er wäre womöglich in den vorzeitigen Ruhestand geschickt worden, wonach es eine Zeit lang – in staatlichen, lokalen Kreisen – auch aussah. Weil Hanisch für die Untersuchung wichtig ist, soll auf seine grundsätzliche Arbeitsweise bereits hier hingewiesen werden (siehe auch MfS-Spezial  I u. II). Methodisch arbeitete Hanisch nach einem denkbar einfachen Prinzip: Alle Aktionen Hartmanns hinsichtlich der Gründung, des Aufbaus und der Arbeitsweise der Arbeitsstelle wertete er als kontraproduktiv, mögliche ausgebliebene oder ihm nicht passende Reaktionen als raffiniert und verlogen. Die absolut für ein solches Mikroelektronikwerk unzumutbare und unzweckmäßige Zuweisung der Baracke 428, über die man eigentlich hätte nur lachen können, kommentierte er – stereotyp – wie folgt: »Die Zuweisung der Baracke 428 (später von Professor Hartmann als völlig ungeeignet bezeichnet!) erfolgte laut Protokoll vom 29. März 1961 in Übereinstimmung mit Professor Hartmann.« Was auch hätte er zum da256  Beschlussvorlage für die 18. Tagung des Wissenschaftlichen Rates am 7.7.1961 zur Situation auf dem Gerätesektor; ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 376, S. 1 f. 257  Ebd., S. 3–5.

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maligen Zeitpunkt anderes erreichen können? Eben genau nur dies! Ein Neubau war völlig illusorisch. Hanisch, Kollege Hartmanns und Physiker, der von ihm die Befürwortung einer Dissertation erhielt, verstieg sich zu einer seiner vielen, krankhaft anmutenden Umkehrungen nachprüfbarer Tatsachen: »Nachdem Professor Hartmann mit bewusstem persönlichem Einsatz erreicht hatte, dass die Arbeiten im IHT eingestellt werden, obwohl dort Konzeptionen und erste Arbeitsergebnisse bereits vorlagen und ein sofortiges Fortsetzen der Arbeiten möglich war und die AME auf sein langfristiges Betreiben hin gegründet wurde, schreibt er in seinem Jahresbericht 1961 vom 20. Januar 1962, dass man sich bei AME mit der Frage: ›Was ist Molekularelektronik?‹ befasst und dass zzt. der Zeitpunkt, an dem experimentelle Aufgaben bearbeitet werden können, noch nicht abgeschätzt werden kann!«258 Solche Umkehrungen stellten in der Regel nicht Abweichungen von der Tatsächlichkeit dar, sondern waren dieser diametral entgegengesetzt. Und um genau das Gegenteil des Tatsächlichen, des Faktischen, zu erfinden, bedurfte es eines klaren Blickes eben auf die wirkliche Welt. Und er wusste jederzeit, was das MfS von ihm erwartete. Hanisch war gedanklich beweglich und erfinderisch. Er sei, heißt es in einer inoffiziellen Einschätzung vom 18. Juli 1976, »in der Lage, eine gegebene Situation rasch einzuschätzen, richtige Schlussfolgerungen zu ziehen, sich anzupassen. Er zeigt eine Umstellungsfähigkeit, Beweglichkeit, verbunden mit einer guten Koordinierungsfähigkeit. Sein Urteilsvermögen ist gesund und gut entwickelt. Er ist in der Lage, kurzfristige, richtige und klare Entscheidungen zu treffen.« Auch zeige er »in Auseinandersetzungen Konsequenz und Kühnheit«. Bei der Zusammenarbeit im Kollektiv helfe »ihm seine gute Menschenkenntnis. Er ist sehr schnell in der Lage, sich über einen Menschen ein Urteil zu bilden, insbesondere, was das Wesentliche der Person betrifft.«259 Seitdem Hanisch Parteisekretär des Betriebes geworden war, baute sich zwischen beiden ein enormes Spannungsfeld mit vielen Facetten auf. Es war beispielsweise üblich, dass Hartmann die Promovenden betreute. Hanisch wollte dies nicht und suchte sich als Betreuer Klaus Lunze. Das Korreferat stammte aber von Hartmann. Die Benotung durch den Korreferenten war schlechter als die von Lunze. Das, so Hanisch, war »die Quittung auf mein ›Ausbrechen‹«.260 Folgend ein Beispiel für den Konstruktivismus Hanischs für das MfS. Am 5. Mai 1961 fand die 17. Tagung des Wissenschaftlichen Rates für die Anwendung der Atomenergie statt. Hier ist u. a. über Halbleitertechnik gesprochen worden (Vortrag von Hardwin Jungclaussen). Laut Beschluss 7/61 hatte sich der Rat »für die Entwicklung und Anwendung von Halbleiterdetektoren für die Kernphysik 258  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 42–65, hier 51. 259  Bericht vom 18.7.1976: Einschätzung; BStU, MfS, BV Dresden, KS III 415/82, Bl. 90–92, hier 91. 260  Späterer Kommentar von Hanisch zur Notiz L 52/67 – Ha / L a vom 12.7.1967: Besprechung bei Steger; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 156.

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und Kerntechnik« ausgesprochen und die Bildung einer Kommission zur Festlegung künftiger Maßnahmen beschlossen. Dieser Kommission gehörten u. a. Rompe, Görlich und Jungclaussen, nicht aber Hartmann an. Da die Anregung jedoch von Hartmann ausgegangen war, der aber selbst nicht mitmachte, was übrigens keinesfalls notwendig war, insistierte Hanisch reflexartig auf »Verzögerungsabsicht«.261 Zum Vorschlag Hartmanns, sich mit Kernstrahlungsdetektoren zu beschäftigen, ist zu verweisen auf das Protokoll der 10. Tagung des Wissenschaftlich-Technischen Rates für die Halbleitertechnik am 26. Oktober 1960, die im Halbleiterwerk Frankfurt / O. stattfand. In der Folge der Hartmann’schen Anregung hatte Jungclaussen hierzu einen Bericht gegeben.262 Der hatte sich dann auch für die Entwicklung von Barriere-Detektoren für die experimentelle Kernphysik ausgesprochen. Hanisch führte dieses Thema bewusst »breit«, was heißt, dass er statt von Detektoren von Halbleitertechnik (synonym für Mikroelektronik) sprach. Von dieser ist jedoch nicht gesprochen worden. Dies belegt auch der Beschluss  7/61.263 Hartmanns Initiative verfolgte allein den Zweck, endlich elektronische Bauelemente für Geräte der Strahlungsmessung geliefert zu bekommen. Die Vorlage zum Vortrag von Jungclaussen vom 25. März 1961 ist überliefert. Aus dem Papier geht klar hervor, dass die Detektoren in klassischer Bauelementeherstellung entwickelt und produziert werden sollten.264 Einen meisterhaften, auch historischen Abriss der Technikentwicklung für die Strahlungsmesstechnik hielt Hartmann im Juni 1961 als Vortrag zur Eröffnung der Sektion 227 der IMECO in Budapest. Die Bedeutung des Einsatzes von Halbleiter-Bauelementen für Detektoren hob er ohne Abstriche hervor.265 Am 1. August ist die AME juristisch gegründet worden. Ihre erste Heimstatt fand sie im besagten Leichtbau  428 in der Karl-Marx-Straße in Dresden-Klotzsche. Es war höchste Zeit, aber noch nicht zu spät, wie es Hartmann im Oktober, dem eigentlichen Arbeitsbeginn der AME, formuliert hatte: »Heute haben wir noch Zeit für die Entwicklung der Molekular-Elektronik. Morgen kann es jedoch zu spät sein.«266 Doch mitten in diese Phase hinein passierte die Grenzschließung. Ein Spitzel berichtete über Hartmann, dass der seit dem 13. August nur noch am Radio 261  Auswertung von Archivunterlagen durch Hanisch vom 3.7.1975; ebd., Bd. 19, Bl. 180–186, hier 181. Die Zusammenfassung der Ergebnisse der 17. Tagung des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie am 5.5.1961; ebd., Bl. 207–216. 262  Vgl. Protokoll der 10. Tagung des Wissenschaftlich-Technischen Rates für die Halbleitertechnik am 26.10.1960 im Halbleiterwerk Frankfurt / O.; ebd., Bl. 187–189, hier 188. 263  Vgl. Die Zusammenfassung der Ergebnisse der 17. Tagung; ebd., Bl. 207–216, hier 207 f. 264  Vgl. Jungclaussen, Hardwin: Vorlage zum Vortrag »Moderne Strahlungsdetektoren auf Festkörperbasis« vom 25.3.1961; ebd., Bl. 217–223. 265  Vgl. Hartmann: Vortrag zur Eröffnung der Sektion 227 der IMECO in Budapest im Juni 1961; ebd., Bl. 226–237. 266  Interview mit Werner Hartmann vom 26.10.1961, in: Sächsische Zeitung Dresden. Kommentiert von Hartmann; TSD; Nachlass Hartmann, H 27.

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hänge und westliche Sender abhöre. Er sei zerbrochen und verzweifelt.267 Hartmann erinnerte sich später, dass nach dem Mauerbau auch in seinem Betrieb, Vakutronik, einige Verhaftungen stattfanden.268 Ein Schreiben Hartmanns vom 8. September beleuchtet den Anfangsprozess des Aufbaus der AME. Er konstatiert eingangs, dass die Bauelementeindustrie der DDR nicht in der Lage sei, »den Bedürfnissen der gerätebauenden Industrie völlig gerecht zu werden«. Insbesondere hob er die künftige Bedeutung der Elektronik, speziell für den Maschinenbau hervor: »Daher ist die Weiterentwicklung auf diesem Gebiet von überragender volkswirtschaftlicher Bedeutung.« Trotz der zu erwartenden Schwierigkeiten sei er bereit, sich der Verantwortung zu stellen; Hartmann: »Um die neue Aufgabe mit genügender Intensität, entsprechend der geschilderten Dringlichkeit vorantreiben zu können, habe ich nach Beratung mit Herrn Dr. Apel, Sekretär des Politbüros des Zentralkomitees der SED, mit Herrn Grosse, Leiter der Abteilung Forschung und Technik der Staatlichen Plankommission, und Herrn Dr. Winde, kommissarischer Leiter des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik, vereinbart, mich ab 1. September 1961 für ein Jahr von den Pflichten des Werkdirektors unseres Betriebes beurlauben zu lassen.« Bertram Winde hatte dem zugestimmt. In der Zeit seiner Beurlaubung blieben jedoch trotzdem sieben administrative Aufgaben in Vakutronik von seiner Zustimmung abhängig, wie: Aufstellung des Forschungs- und Entwicklungsplanes, »Einsatz von Hochschulkadern« und grundsätzliche Strukturmaßnahmen.269 Verwaltungsrechtlich gesehen war Hartmann von Winde für die Dauer eines Jahres von der Funktion des Werkdirektors im VEB Vakutronik beurlaubt worden, bei gleichzeitiger Berufung für die Dauer eines Jahres zum Leiter der AME.270 Am 1. Oktober verließ Hartmann formal Vakutronik. In seinem »Museum« notierte er, dass er von nun an eine neue Aufgabe mit »höherer Bedeutung« aufgenommen habe: die »Entwicklung der Mikroelektronik«.271 Die von ihm gelebte Kultur der Mitarbeiterführung bei Vakutronik wollte er übernehmen. Er sah sein Vakutronik »als ›meinen‹ Betrieb an«: »Hätte er mir gehört, wäre mein Engagement nicht anders gewesen. Zu spät habe ich erfahren, dass ein solcher Einsatz bei uns sich nicht lohnt, ja vielleicht sogar mit großem Misstrauen von manchen außerhalb des Betriebes betrachtet wird, weil damit mein Einfluss auf alle Geschehnisse im Betrieb natürlich groß war und kaum Raum für andere Einflüsse ließ. Damals habe ich noch nicht verstanden, was es bedeutet, wenn gesagt wird, dass die führende Rolle der

267  Vgl. Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 189; BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 190–250, hier 207. 268  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, G 71. 269  Schreiben von Hartmann am 8.9.1961; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 8, Bl. 32 f. 270  Vgl. Schreiben von Winde an Hartmann vom 21.8.1961; ebd., Bl. 31. 271  TSD; Nachlass Hartmann, G 65.

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Partei immer weiter zunimmt und zunehmen muss.«272 Nach seinem Ausscheiden aus Vakutronik wurde das von ihm eingeführte Gästebuch »kaum mehr« weitergeführt: »Auch daran«, so Hartmann später, »erkennt man den verlorengegangenen Sinn für Tradition.«273 Am 2. Oktober erfolgte die offizielle Eröffnung der Arbeitsstelle. Sieben Mitarbeiter und zwei Mitarbeiter des MfS wurden ihm »damals zugeteilt«.274 Mög­licherweise meinte Hartmann mit den zwei MfS-Mitarbeitern jene Männer, die sich von der BV Dresden hin und wieder blicken ließen. Unter den ersten Mitarbeitern befand sich auch Werkstattmeister Hoenow, der bereits unter den Nobelpreisträgern Max Planck und Gustav Hertz, aber auch unter Manfred von Ardenne gearbeitet hatte. Ein solcher Mann war gewöhnlich nicht mit Gold aufzuwiegen in einer Welt der Improvisationen und des Selbstbaus aller möglichen Dinge. Vor allem war es gut, so Hartmann rückschauend, dass man von den kommenden großen Schwierigkeiten nichts gewusst habe: »Es hätte uns alle völlig entmutigt!«275 Wie fragil und auch vorsichtig dieser Neubeginn, dieses »Abenteuer«, wie Hartmann es später bezeichnen wird, der Orientierung auf Mikroelektronik-Technologie war, zeigt anschaulich ein Schreiben an Frühauf vom 5. Oktober. Es ist wie eine Rückversicherung gefasst. Er teilte ihm mit, dass von Anfang an bei Rompe, Apel und Grosse Überlegungen gelaufen seien, die Bearbeitung der Molekularelektronik zu prüfen. Er erwähnte, dass ihn im März 1960 – sehr wahrscheinlich das Lukullus-Gespräch am 11. April – Rompe gefragt habe, ob er bereit sei, diese Aufgabe zu übernehmen. Er habe sich »trotz der abzusehenden sehr großen Schwierigkeiten« nach langer Prüfung einverstanden erklärt: »Damit wird die Molekularelektronik zu einem Schlüssel der gesamten weiteren technischen Entwicklung der DDR.« In dem Schreiben informierte er über die ersten absolvierten und laufenden Schritte des Aufbaus und die Dauer seiner Beurlaubung von der Funktion des Werkdirektors des VEB Vakutronik, nicht zuletzt auch deshalb, um die Arbeit »an zwei dringend gewünschten Lehrbüchern über Strahlenmesstechnik und Elektronik«, was Hanisch später negativ werten wird, »zu Ende führen zu können«.276 Am 26. Oktober gab Hartmann der Sächsischen Zeitung ein Interview zu seiner Vision der Mikroelektronik.277 Auch hier erwähnt er das »Abenteuer«. Hanisch wird später aus diesem Artikel herausklauben: »›So oder ähnlich werden Sie, lieber Leser, diese Zeilen einmal wieder lesen. Ob in fünf oder zehn Jahren, ob noch früher oder erst später, kann ich nicht absehen.‹« Hanisch kommentierte: »Interview kurz nach Gründung der AME! Haltung von Professor Hartmann, der die Zielstellung kannte, möglichst

272  Ebd., G 61. 273  Ebd., G 123. 274  Ebd., H 25. 275 Ebd. 276  Schreiben von Hartmann an Frühauf vom 5.10.1961; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 24, Bl. 252–254. 277  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 27.

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bis 1963 erste Muster herzustellen!«278 Hanisch suggerierte, dass Hartmann es gar nicht gewollt habe, dass sich Erfolge einstellten, und brach seine Zitation des Artikels genau dort ab, wo Hartmann sein Wort für den Erfolg gegeben hatte: »Aber dass sie geschrieben werden, ist sicher. Mit dieser Überzeugung verließ ich gestern die Anfang Oktober gegründete ›Arbeitsstelle für Molekularelektronik‹ in Klotzsche.«279 Bald nach Aufnahme der Arbeit in der AME stellte Hartmann fest, dass alles viel schlimmer war als erwartet, dass die DDR-Bauelementeindustrie völlig unzureichend war. »Selbst einfache Kohlewiderstände« hätten »damals überhaupt noch nicht zur Verfügung« gestanden.280 Von Anfang an klaffte ein Abgrund zwischen der Notwendigkeit, sofort auf den bereits fahrenden Zug der Mikroelektronik-Technologie aufspringen zu müssen, was aber ohne eine – vorauslaufende – hinreichende Grundlagenforschung und angesichts der Tatsache, sofort Bauelemente für Industrie und Forschung produzieren zu müssen, problematisch war. Sehr wird dieser Spagat bei Bruno Leuschner, Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, deutlich, der Hartmann am 31. Oktober schrieb: »Deshalb wird es erforderlich sein, dass gleichzeitig mit der Schaffung der Grundlagen für die Forschung und Entwicklung auf diesem Gebiet auch solche Wege beschritten werden, die in relativ kurzer Zeit zu nutzbaren Ergebnissen für unsere Volkswirtschaft führen.«281 Und weil es eine Pionierarbeit war, waren die Wege zu den erwünschten Zielen auch grundsätzlich offen, mussten  a priori multiple Wege gegangen werden. In dem späteren Gutachten des MfS über die Arbeit Hartmanns wird auf diese elementare Zwangslage nicht eingegangen. Dort wird Leuschner nicht zitiert werden mit der Aussage: »Ich begrüße außerordentlich, dass Sie sich entschlossen haben, sich diesem neuen Forschungs- und Entwicklungsgebiet zu widmen und als Leiter bereits mit dem Aufbau der Arbeitsstelle für Molekularelektronik begonnen haben. Die Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf dem Gebiet der Molekularelektronik ist für unsere gesamte Volkswirtschaft von großer Bedeutung und für die weitere Entwicklung unseres Maschinenbaues dringend notwendig.«282 An diesem Tag bat der Stellvertreter des Leiters der zuständigen Fachabteilung im Volkswirtschaftsrat (VWR) Hartmann um eine erste Konzeption des Aufbaus der Arbeitsstelle bis zum 31. Dezember 1961.283 Der Arbeitsplan war am 23. Dezember fertig und gab für 1962 folgende Struktur- und Arbeitsmaßnahmen vor: Gruppe Dokumentation  I: Studium der Literatur, Auswertung und Vorschläge. 278  Auswertung von Archivunterlagen Hartmanns durch Hanisch; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 37, Bl. 16–19, hier 19. 279  Ein Werk mit großer Zukunft, in: Sächsische Zeitung vom 26.10.1961. 280  TSD; Nachlass Hartmann, H 6. 281  Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, hier 11. 282  Schreiben der Regierung der DDR, Leuschner, an Hartmann vom 31.10.1961; ebd., Bd. 24, Bl. 258 f. 283  Vgl. Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 24.

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Gruppe Theorie F: Grundsätzliche Einarbeitung in Phänomene wie »Grenzwerte elektrophysikalischer Eigenschaften von pn-Übergängen in Halbleitermaterialien«. Gruppe Hochvakuumtechnik  H: Einrichtung des Labors und erste technische Versuche etwa zur Frage »mehrfacher kleinflächiger sperrfreier Kontakte«. Gruppe Strahlen S: Einrichtung des Labors und theoretische Überlegungen. Gruppe Dotierung D: Einrichtung des Labors und theoretische Überlegungen. Gruppe Chemie C: Einrichtung des Labors und theoretische Überlegungen. Gruppe Elektronische Prüfung P: Einrichtung des Labors und Aufbau der Messplätze. Gruppe Messtechnik M: Einrichtung des Labors und Entwicklung von Messeinrichtungen. Gruppe Wissenschaftliche Technologie T: Theoretische Vorüberlegungen und Entwurf von Hilfsvorrichtungen für andere Gruppen der Arbeitsstelle.284 Doch Plan und Realität liefen sofort auseinander. Am 24. November berichtete der IM »Schubert«, dass er wisse, dass Hartmann »absolut keine Lust mehr« habe, »weiter zu arbeiten. Er komme sich vor, wie ein Eichhörnchen, welches man in ein Laufrad gesperrt habe.«285 Zum Jahresende stand immer noch nicht ein halbwegs geeignetes Gebäude zur Verfügung.286 Ob Gebäude, Arbeitsmittel, Materialien oder Personal, auf allen Feldern klafften unübersehbare Differenzen zwischen Anforderungen und Bereitstellungsmöglichkeiten. Die Ressourcen waren überaus knapp und wurden überdies plantechnisch ineffizient zugeteilt. Bei der Personaleinstellung kamen sofort ideologische Forderungen der SED hinzu, die diese äußerst knappe Ressource noch knapper machten. Es fehlte an allem, selbst an Handwerkern und simplen Baumaterialien für die Gebäude. Unterstützung hatte Hartmann – rückblickend – im Rahmen der ­äußerst begrenzten Möglichkeiten lediglich von Erich Apel, Werner Krolikowski und ­Günther Kleiber erhalten.287 Mit dem Bezirksparteichef der SED, Krolikowski, will er ein vergleichbar gutes Verhältnis gehabt haben.288 Die Einstellung des ehemaligen Vakutronik-Mitarbeiters Bartels – der im August 1956 dort begonnen hatte – in die AME geschah im offenen Widerspruch zu Kaderleiter Böhme, der notierte: »Am 12. Januar 1962 versuchte ich Professor Hartmann davon zu überzeugen, dass die Einstellung des Koll. Dr. Bartels in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik mit den kaderpolitischen Gründen nicht in Einklang gebracht werden kann. (Streichung aus der SED, fotografieren an der Grenze in Berlin, Verbot in das Ausland zu fahren und sein politisches Auftreten insgesamt gesehen.) Professor Hartmann bestand jedoch weiterhin auf einer Einstellung von Koll. Dr. Bartels und brachte zum Ausdruck, dass er die politischen Gründe nicht anerkennt.«289 Am 29. Januar versuchte Böhme erneut, die Einstellung Bartels zu verhindern. Hartmann aber blieb hartnäckig und betonte, dass er ihn unbedingt brauche. Auch Böhme blieb hart. 284  Vgl. Arbeitsplan der AME vom 23.12.1961; ebd., Bd. 9, Bl. 33 f. 285  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 157. 286  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 33. 287  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 43. 288  Vgl. ebd., H 28. 289  Kaderabt. vom 25.1.1962; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 1, Bl. 221 f., hier 221.

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Trotz seiner Weigerung stellte Hartmann Bartels zum 1. Februar ein. Damit, so Hanisch später, habe »sich Professor Hartmann einfach über die Entscheidung des zu diesem Zeitpunkt auch für AME verantwortlichen Kaderleiters« hinweggesetzt und habe »damit gegen elementare Regeln der Kaderarbeit« verstoßen. Hartmann attestierte Bartels mit Beurteilung vom 9. März absolut hochwertige Arbeit beim Aufbau der Gruppe I (Information und Dokumentation). Hanisch bewertete diese Begründung 1975 als schlicht skandalös und monierte das Fehlen eines Hinweises auf das parteifeindliche Verhalten Bartels.290 Später wird Hartmann seine Einstellungspolitik resümieren und im Grundsatz trotz einiger Fehlgriffe als richtig bewerten: Insgesamt hatte er von 1961 bis 1974 circa 2 500 Einstellungsgespräche persönlich durchgeführt; Hartmann: »Dadurch habe ich aber erreicht, dass, grob gesprochen, alle Mitarbeiter ›gleichen Geistes, gleicher Art‹ waren.« »Selbstverständlich« habe »es dabei auch Fehlentscheidungen oder Irrtümer« gegeben.291 Nicht unwesentlich zu dieser Zeit waren die Beeinträchtigungen auf dem Gebiet der Reisetätigkeit. Am 20. Januar schrieb Winde (AKK) an Hartmann, dass das Alliierte Reiseamt in Westberlin keine Genehmigungen für Reisen für DDRBürger erteile. Er könne demzufolge Hartmann nicht behilflich sein.292 Winde teilte ihm am 6. April erneut mit, dass seine beantragte USA-Reise nicht genehmigt werde aufgrund der »in der letzten Zeit von den NATO-Staaten gezeigten Haltung gegenüber der DDR und den Schwierigkeiten, die durch das Alliierte Reiseamt bei Einreiseanträgen in NATO-Ländern bereitet werden«. Es könne nur Ausnahmefälle geben, die sich nach dem »zu erwartenden politischen und wissenschaftlichen Nutzen« richteten. Er riet Hartmann, den Antrag auf Mitgliedschaft in der Britischen Kernenergie-Gesellschaft, die ihm angetragen sei, »gegenwärtig zurückzustellen und vorläufig nicht wahrzunehmen«. Ein Nutzen dieser Mitgliedschaft sei für die DDR nicht erkennbar.293 Am 3. März schrieb Hartmann einen Eilbrief an Peter Adolf Thiessen in dessen Eigenschaft als Vorsitzender des Forschungsrates der DDR. Ziel war, für seine Arbeitsstelle Räume mit dem Zentralinstitut für Automatisierung (ZIA) tauschen zu dürfen. Die Anregung dazu hatte er von Thiessen erhalten. Im Gebäude 107 des ZIA belegte der VEB Investprojekt circa 700 m2. Ein Tausch hätte beiden, also AME und Investprojekt Vorteile gebracht. Für AME sei das »Gebäude 107 fast ideal«. Hartmann fragte, »wie zweckmäßig weiter« zu »verfahren« sei.294 Am 9. März teilte Hartmann Thiessen den Stand des Aufbaus der Arbeitsstelle entsprechend seiner Absprache mit ihm vom 28. Februar mit. In der zurzeit von ihm bezogenen Baracke mit 960 m2 würden Arbeiten mit Halbleitern nicht möglich sein, da die »zu 290  Auswertung von Archivunterlagen vom 25.6.1975; ebd., Bd. 37, Bl. 112–120, hier 112 u. 115–117. 291  TSD; Nachlass Hartmann, H 31 u. 32. 292  Vgl. Schreiben von Winde an Hartmann vom 20.1.1962; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 17, Bl. 247. 293  Schreiben von Winde an Hartmann vom 6.4.1962; ebd., Bl. 261. 294  Schreiben von Hartmann an Thiessen vom 3.3.1962; ebd., Bd. 12, Bl. 61 f.

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stellenden Ansprüche an Sauberkeit« bei Weitem »nicht zu erfüllen« seien. Lediglich Anfangsarbeiten seien möglich, doch »spätestens ab 1964« würden dann »geeignete und größere Räume notwendig«. Auch die »Gewinnung von Mitarbeitern« sei »außerordentlich erschwert. Infolge des Fehlens von Wohnungen in Dresden« könnten »nur in Dresden Ansässige eingestellt werden, somit« müsse »auf Fachleute aus anderen Bezirken verzichtet werden. Neben kaderpolitischen Gesichtspunkten verhindern auch manche Kaderleitungen die Einstellung von Mitarbeitern. Ohne direkte Unterstützung zentraler Stellen erscheint ein schneller Aufbau unmöglich.« Das AKK zeige sich »uninteressiert«.295 Im März stellte Hartmann Hans Joachim Hanisch ein. Keine von den wenigen falschen Entscheidungen sollte so folgenschwer für ihn und andere werden. Hanisch will von Hartmann bei seiner Einstellung gesagt bekommen haben, dass AME »eine kleine Forschungsstelle« bleibe, »die sich in erster Linie mit wissenschaftlichen Problemen der Mikroelektronik« befassen werde. Die AME werde »Empfehlungen für die Halbleiterindustrie erarbeiten«, sich also »im Wesentlichen mit der Philosophie der Mikroelektronik« befassen. Hanisch brachte diese Notiz allerdings erst am 6. März 1974 zu Papier.296 Sie ist nicht glaubhaft. Auf der 1. Sitzung des Vorstandes des Forschungsrats am 26. April wurde die Gründung einer Kommission für wissenschaftliche Industriebetriebe (WIB) beschlossen. Damit konnte die Prüfung von Anträgen von Betrieben zur Eignung als WIB beginnen. Hartmann war damit am Ziel eines bedeutenden Zwischenschritts angelangt – nicht zuletzt für die Entwicklung der Mikroelektronik-Technologie.297 Am 3. Mai bedankte sich Hartmann bei Hermann Pöschel vom Büro Apels für dessen Bemühungen um den Raumtausch mit Investprojekt, der am 17. April vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Volkswirtschaftsrates angewiesen worden war. Mit diesem Schritt erhalte man nun im Haus 137 etwa 910 m2 Nutzfläche. Diese reiche aber nicht, nun müsse es zügig um eine Erweiterung gehen. Dabei gebe es mehrere Möglichkeiten, die allerdings Umzüge von Mitarbeitern des ZIA einschlössen. Hartmann nannte Möglichkeiten. Bei Bezug des Hauses 104 werde es dann aber unter Umständen dazu kommen, dass das Haus 107 wieder verlassen werden müsse. Da dies kompliziert sei, bat er Pöschel, vor Ort die Situation zu evaluieren.298 Ein Blick voraus: Die Bemühungen sollten sich alsbald zerschlagen. Der erforderliche Ringtausch 428 – 107 – 104 war zu kompliziert, weil mehrere Dienststellen betroffen waren. Erst am 16. Januar 1963 wird der Abteilungsleiter Technik im Volkswirtschaftsrat »dem Einzug der Arbeitsstelle in das Haus  137« zugestimmt haben. Der Umzug erfolgte im Februar 1963. Die Gutachter des MfS kamen später 295  Schreiben von Hartmann an Thiessen vom 9.3.1962; ebd., Bl. 63 f. 296  Hanisch zur Grundeinstellung Hartmanns; ebd., Bd. 6, Bl. 168. 297  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, G 109 f. 298  Vgl. Schreiben von Hartmann an Pöschel (Büro Apel im ZK der SED) vom 3.5.1962; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 12, Bl. 65 f. Hermann Pöschel (1919–2007), Leiter der Abt. Forschung und technologische Entwicklung des ZK der SED von 1961 bis 1989, 1940–1945 Ingenieur in den Junkers-Flugzeugwerken Dresden.

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unkommentiert zu dem Schluss, »dass in der Anfangsphase der Arbeitsstelle für die Realisierung der staatlichen Zielstellungen ausreichende Arbeitsräume zur Verfügung« gestanden hätten. Bis zum Beginn von Untersuchungen in klimatisierten, staubarmen Labors verging allerdings nach Einschätzung der Gutachter »eine unvertretbar große Zeitspanne von 3¼ Jahren«.299 Eine abenteuerliche Behauptung, da auch diese Räume einem Rohbau ohne Installationen glichen. Der Geheime Mitarbeiter (GM) »Schubert« hatte am 9. April 1962 berichtet, dass Hartmann die Meinung vertrete, dass »die Einrichtung von Labors in der jetzigen Baracke« ohne Zweifel »unverantwortlich« sei, da dann »große Ausgaben erforderlich« würden, »die später dort keine Verwendung mehr« fänden. Er wolle deshalb mit der Einrichtung von Labors noch warten.300 Hartmann hatte also nicht nur nicht Sabotage betrieben, sondern vor Fehlinvestitionen gewarnt. Was er in Dresden erlebte, war republikweit selten anders. Auch nicht bei Alfred Schellenberger in Halle. Schellenberger erinnert in seinem Buch an den mit eigener Kraft und teils eigenen finanziellen Mitteln in vielen Tagen geleisteten Umbau eines aus dem 16. Jahrhundert stammenden Hauses, das alles andere als für ein Laborgebäude geeignet war (ein Gebäude am Domplatz). Er sieht solche Beispiele auch als Beleg dafür, was damals möglich war mit Initiative und Gestaltungskraft, so sich »alle Beteiligten einig waren, dass nur eine große persönliche Kraftanstrengung helfen konnte, den täglichen Kompromiss zwischen eigenen Interessen und staatlichen Nötigungen auf erträglichem Niveau zu überstehen – ein Balanceakt, den viele unserer westdeutschen Freunde nur schwer begreifen konnten und können.« Für die Biotechnologie an der Universität Halle fand sich lediglich ein Fachwerkgebäude aus dem 17. Jahrhundert, eine Etage war mit Ofenheizung ausgestattet. »Was uns allerdings in dem neuen Gemäuer erwartete«, so Schellenberger, »übertraf alle Schwierigkeiten, die uns auf unserem bisherigen Leidensweg begegnet waren.« Es war Winter: morgens wurden von ihnen die Kachelöfen geheizt; die Sanitäranlagen befanden sich in einer unten gelegenen, nicht geheizten Etage, sie waren eingefroren. Die Arbeitsberatungen fanden deshalb in einem Café statt, dort konnte man auch zur Toilette gehen, die aber bald verschlossen wurden. Eines Nachts brach eine Außenwand ein, so konnte man ihnen von außen bei der Arbeit zusehen.301 Hartmann stand vor ähnlichen Problemen. Bei ihm aber kamen zwei besondere Faktoren noch hinzu, die das Problem potenzierten. Zum einen wurden an die Mikroelektronik-Technologie die höchsten technischen Anforderungen gestellt, zum anderen sollte seine Arbeitsstelle praktisch sofort produzieren. Die Kreisdienststelle (KD) Dresden des MfS stellte am 24. Mai an die BV Dresden einen Antrag »auf Genehmigung zur Kontaktaufnahme« mit der AME. Aufgrund ihrer Bedeutung und weil überdies bislang kein Kontakt zu leitenden Kadern 299 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 55–58. 300  »Schubert« vom 9.4.1962 zu Hartmann; ebd., Bd. 43, Bl. 222. 301  Schellenberger: Forschung unter Verdacht, S. 55 u. 62 f.

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bestehe, sei dies geboten. Auch an einer Werbung Hartmanns war die KD interessiert.302 Das Gespräch mit Hartmann wurde bereits am nächsten Tag durchgeführt. Zur Terminabsprache involvierte Hartmann seine Sekretärin. Hartmann, so der MfS-Mitarbeiter, »erkundigte« sich sogleich zu Personen mit der Frage, »ob die ihm bekannten Mitarbeiter Seiler, Sommer, Jahn [!] und Berthold« Mitarbeiter des MfS seien. Offizier Michel notierte hierzu: »was ihm bestätigt werden musste, da diese Mitarbeiter zum direkten Einsatzgebiet der Kernforschung und Kerntechnik« zählten. Man darf annehmen, dass er es gern verschwiegen hätte, doch die direkte Frage Hartmanns ihm dies unmöglich machte. Hartmann sprach Klartext, auch was die Spezifik der Mikroelektronik-Entwicklung in der DDR betraf: Es sei »gerade noch der Zeitpunkt« für die DDR, »um Rückstände gegenüber dem kapitalistischen Ausland« aufzuholen; die »Perspektive« seiner Arbeitsstelle liege »in der Entwicklung zu einem wissenschaftlichen Industriebetrieb (WIB)«. Die Entwicklungsarbeit werde er zusammen mit der Versuchsfertigung machen wollen, eine »getrennte« Vorgehensweise »würde er konsequent ablehnen«, dafür gebe es »genügend negative Beispiele«. Das Arbeitsgebiet werde »die Grundlage für die gesamte Elektronik« bilden. Er stütze sich vorwiegend auf Kenntnisse aus den USA. Die Sowjetunion stelle keine Erkenntnisse zur Verfügung, obgleich sie sie besitze. Zu den Schwierigkeiten beim Aufbau der Arbeitsstelle habe, so Michel, Hartmann ausgeführt, dass die Raumverhältnisse »völlig ungeeignet« seien; es müsse »die Gewähr einer unbedingten Sauberkeit« herrschen; die »Einrichtung von Labors« sei »unmöglich«, er lehne eine solche Arbeitsweise ab, er könne »dies aus volkswirtschaftlichen Gründen nicht vertreten«; die bis zum Einzug in ein geeignetes Haus verbrauchten Investmittel seien verloren; die Einrichtung geeigneter Labors werde »große finanzielle Mittel« verschlingen; er habe bereits viele Gespräche mit zuständigen Stellen (AKK, DAW, ZK der SED) und Personen (Apel, Rompe) geführt. Michel will Hartmann zu erkennen gegeben haben, ihn unterstützen zu wollen. Aus dem Bericht geht hervor, dass Hartmann erkennbar bemüht war, den Kontakt zum MfS zu offizialisieren (wiederholte Einschaltung der Sekretärin).303 Im Juni erfolgte formal der Umzug ins Haus  104, den Hartmann über den Tausch mit dem VEB Elektroprojekt Dresden (EPD) realisiert hatte. Wekker schlug Apel vor, der Dresdener Arbeitsstelle das IHT und / oder den VEB HWFO zu übergeben.304 Ein grundsätzlich zielführender und vernünftiger Vorschlag, der jedoch wegen der fehlenden Mobilität realitätsfern war. Hartmann schrieb an Winde (AKK) am 8. August: »Wie bekannt, fanden Anfang 1960 zwischen den Herren Apel, Grosse, Thiessen, Frühauf und Rompe Konsultationen über die Notwendigkeit statt, in der DDR mit Arbeiten auf dem Gebiet der Molekularelektronik 302  KD Dresden-Stadt an BV Dresden vom 24.5.1962: Antrag auf Genehmigung zur Kontakt­ aufnahme zu einem Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 43, Bl. 223 f. 303  KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 29.5.1962: Kontaktgespräch; ebd., Bl. 225–228. 304  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 18.

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zu beginnen.« Die Herren hatten beschlossen, »mich zu bitten, den Aufbau dieses neuen Gebietes zu übernehmen. Ich halte es für nützlich, auf diesen Zusammenhang besonders hinzuweisen. Nicht ich habe die Molekularelektronik vorgeschlagen.« Hartmann wies in diesem Schreiben auf den Umstand hin, dass seitdem zweieinhalb Jahre vergangen seien und die DDR »weit zurückgeblieben« sei. Der spätere Kommentar von Hanisch kann an Verlogenheit nicht überboten werden: »Bis über diesen Zeitpunkt hinaus verzögerte Professor Hartmann den Bearbeitungsbeginn bei AME durch Umzüge und langwierige Umbauten!«305 Obgleich der Umzug ins Haus 104 längst beschlossen war, wuchsen sich im September die Probleme beim Tausch der Räumlichkeiten zwischen dem VEB Investprojektierung und der AME im ZIA weiter aus; immer noch war der Räumungsplan für das Haus 104 in der Königsbrücker Landstraße umstritten.306 Apel besuchte am 14. September die Arbeitsstelle und gab Hartmann jenen Vertrauensvorschuss, ohne den alles völlig hoffnungslos gewesen wäre: »Ich wünsche nicht, dass man Professor Hartmann mit dauernden Kaderanalysen, Zustimmungserklärungen und dem ganzen sonstigen Pipapo belästigt, sondern ihn und seine Leute arbeiten lässt.«307 Walter Ulbricht hielt auf der 17. Tagung des ZK der SED in Vorbereitung des VI. Parteitags der SED (abgedruckt im Neuen Deutschland vom 14. Oktober) ein Referat, das die Vorstellungen der SED hinsichtlich der Entwicklung der Elektronik unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten rahmte. Hartmann kam später in seiner Denkschrift, siehe unten, darauf zurück.308 In der Phase des Umzugs in das Haus 104 passte Hartmann am 26. Oktober seine Grobplanung den aktuellen Gegebenheiten an: »2.1 Anfang der experimentellen Arbeiten Mitte 1963; 2.2 Beherrschung der grundlegenden Teilverfahren Ende 1964; 2.3 Herstellung einzelner Funktionsblöcke im Labor 1965/1966; 2.4 Beginn der Konzeption einer Versuchsfertigung 1965; 2.5 Beginn einer Fertigung einfacher Funktionsblöcke 1968.«309 Wenige Tage später, am 31. Oktober, erhielt er von Winde (AKK) offiziell seine Abberufung als Werkdirektor des VEB Vakutronik.310 Gleichzeitig mit dieser Abberufung erhielt er die Berufungsurkunde zum Leiter der Arbeitsstelle.311 Wie zum V. Parteitag der SED wurde Hartmann auch zum VI. Parteitag als parteiloser Gast eingeladen, doch sagte er unter Bezugnahme auf die immense Beanspruchung beim Aufbau der AME ab. Sicher war dies taktisch falsch. Apel hatte das zwar verstanden und akzeptiert, doch andere Funktionäre eben nicht. Sie hatten ihm diese Absage übelgenommen. Hartmann: »Zu dieser Erkenntnis kam 305  Hanisch: Rolle Hartmanns bis zur Gründung der AME (o. D.); ebd., Bd. 22, Bl. 160–164. 306  Vgl. Hartmann: Besprechung mit Grosse, Notiz L 103/62 vom 6.9.1962; ebd., Bd. 9, Bl. 7 f. 307  TSD; Nachlass Hartmann, H 36. 308  Vgl. ebd., H 38. 309  Hartmann: Grobplanung zur Entwicklung der AME bis 1970; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 9, Bl. 9–11, hier 9. 310  Vgl. Abberufungsschreiben von Winde vom 31.8.1962; ebd., Bd. 8, Bl. 47. 311  Vgl. Berufungsschreiben von Winde vom 31.8.1962; ebd., Bl. 48.

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ich erst sehr viel später«. Auf dem Parteitag wurde die »maximale Förderung der Mikroelektronik« betont; der Ministerrat ließ einen entsprechenden Beschluss folgen, AME bis Ende 1963 »arbeitsfähig zu machen«.312 Währenddessen beendete der Staatssicherheitsdienst die operative Bearbeitung Hartmanns im Vorlauf-Operativ »Kristall« wegen des Verdachts der »Schädlingstätigkeit«. Der Abschlussbericht erfolgte am 28. November. Der Nachweis einer »Feindtätigkeit« konnte nicht erbracht werden. Allerdings wurde eingeräumt, dass eine »Verbindung zu Feindzentralen« im Bereich des Möglichen liege, jedenfalls seien die Verdachtsmomente »nicht entkräftet« worden. Aus Sicht des MfS sei Hartmanns frühere »Tendenz der Negierung der Mitglieder der SED« nun »nicht mehr zu verzeichnen«.313 In der Phase von Rekrutierungsabsichten sind solche »positiven« Wandlungsbilder allerdings nicht ungewöhnlich. Am 5. Dezember legte der Dienst zu ihm einen sogenannten GI-Vorlauf an. Hierin ging es um die Frage, ob Hartmann als inoffizieller Mitarbeiter geeignet sei und wenn ja, ob er sich werben ließe.314 Folgt man der an sich konsistenten Berichterstattung des MfS zu den offiziellen Kontakten mit Hartmann, seine Sekretärin war weiterhin von ihm als Mittelsperson zwecks Terminabsprache eingebunden, hatte er es versucht, und das entsprach auch ganz und gar seiner Persönlichkeitsstruktur, Themen und Argumentationen zu bestimmen. Ein Gespräch in seinem Büro am 5. Dezember mag dafür stehen: »Der Treff«, so das MfS, »erfolgte nach vorheriger telefonischer Festlegung über seine Sekretärin.« Offenbar war Hartmann daran gelegen, das konspirative Gehabe des MfS im Betrieb zu demaskieren und lud zwei Offiziere in den Dresdener Klub ein, damit sie sich ein Bild von einer Fachdiskussion machen könnten. Sie konstatierten zwar, »dass wir als MfS durch seine Einladung die Möglichkeit« hätten, »direkt anwesend zu sein, wo die Wissenschaftler frei ihre Meinung« äußerten, doch sagten sie ab, da sie es »für richtig« hielten, »nicht offiziell aufzutreten«. Im Gespräch wurden die Verordnungen des Deutschen Amtes für Mess- und Warenprüfung (DAMW) in Bezug auf die Problematik der Verleihung des Gütezeichens Q erörtert. Hartmann tat kund, dass er beabsichtige, diese Problematik Apel vorzutragen. Sie rieten ihm zu. Auch wollen sie ihm zugesichert haben, »ihn« in jeder Hinsicht zu »unterstützen«. Bei diesem Gespräch kam das MfS dann auch zur Sache: Hartmann wurde vorsichtig die Frage gestellt, ob er bereit sei, das MfS bei der Beschaffung von forschungsrelevanten Informationen (Staaten und Firmen, die sich mit der Mikroelektronik befassen würden) aus dem Westen zu unterstützen. Er soll hierzu »sein sofortiges Einverständnis« gegeben haben. Das war eine Falle. Die Offiziere baten, da das »Zusammentreffen auf vertraulicher Basis beruhen« müsse, künftig die Gespräche nicht mehr in der Arbeitsstelle, sondern »außerhalb seiner Arbeitsstelle« zu 312  TSD; Nachlass Hartmann, H 39. 313 KD Dresden-Stadt vom 28.11.1962: Abschlussbericht zum OV »Kristall«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 4 f. 314  Vgl. KD Dresden-Stadt vom 5.12.1962: Beschluss für das Anlegen eines GI-Vorlaufs; ebd., Bd. 1, Bl. 12 f.

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führen. Sie schlugen das Café Hausberg in Pillnitz vor. Hartmann stimmte zu. Als »Anfütterung« übergab das MfS ihm ein zuvor vom Zoll beschlagnahmtes Fachbuch. Die Auswertung des Treffens gelangte in den IM-Vorlauf. Die HV A wurde beauftragt, weitere Fachunterlagen zu beschaffen.315 Hanisch erinnerte zwölf Jahre später eine Episode mit Hartmann von Ende 1962: »Nach meiner Tätigkeit als Werkleitungsmitglied des VEB Halbleiterwerk Frankfurt / O. war es für mich selbstverständlich, dass der Parteisekretär an den Leitungssitzungen teilnimmt. Als ich nach meiner Wahl in AME zur nächsten Leitungssitzung (Beratung der Gruppenleiter bei Professor Hartmann) ging, wurde ich von Professor Hartmann mit den Worten: ›Für sie ist kein Stuhl hier‹ empfangen und praktisch von der Beratung ausgeschlossen.«316 Hanisch will den »Rausschmiss dadurch überspielt« haben, indem er sich »aus einem anderen Zimmer einen Stuhl holte (obwohl noch genügend Plätze frei waren) und wieder zur Beratung ging«. Zwar habe er späterhin Einladungen erhalten, doch die »innere Kontrastellung« blieb bestehen. Der in späterer Zeit aufgenommene regelmäßige Tagesordnungspunkt der Leitungssitzungen »politisch-wirtschaftliche Information«, so Hanisch, »basierte auf meine Forderung als Parteisekretär nach einer ständigen politischen Information in der Leitung«. Hartmann habe diesen Teil jedoch dadurch entschärft, dass er nicht aktiv Stellung nahm.317 Diese Passage erinnert an Thilos Verhalten, als er sich gegen SED-Genossen im Institut aussprach (siehe S. 312).318 Hartmann notierte am 12. Dezember in seinem Arbeitsjournal (Notiz L 163/62) eine zweistündige Diskussion mit Apel: Demnach habe Apel ihn nach Rücksprache mit Ulbricht und Stoph gebeten, das IH Teltow zu übernehmen. Zunächst sollte »völliges Stillschweigen über diesen Wunsch« gewahrt werden. Apel erwartete eine Antwort bis zum Jahresende.319 Der Leiter der BV Dresden des MfS, Oberst Markert, wünschte am Neujahrstag 1963 Hartmann persönlich alles Gute für sich und seinen neuen Betrieb.320 Bereits am nächsten Tag kam es zu einem weiteren Gespräch in der Zeit von 13.00 bis 14.30 Uhr in seinem Dienstzimmer – entgegen der MfS-Planung vom 29. Dezember321 – mit Unterleutnant Michel. Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit gab er ihm die Information, »dass er vor Kurzem darum gebeten« worden sei, »seine Meinung zu äußern zur Übernahme der Funktion des Leiters des Institutes in Teltow 315  KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 6.12.1962: Treff bericht; ebd., Bd. 43, Bl. 229–232. 316  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 181. Der Originalbericht von Hanisch stammt vom 6.3.1974: Rolle Hartmanns als politischer Leiter (Grundeinstellung); ebd., Bd. 6, Bl. 153 f. 317  Ebd., Bl. 154. 318  Vgl. HA III/6/R vom 2.3.1962: Bericht zu Thilo; BStU, MfS, AOP 771/63, 1 Bd., Bl. 34 f. 319  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 42–65, hier 52. 320  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 57. Erwähnt ist, dass ihm eine Gratulation Markerts übergeben worden sei, in: KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 4.1.1963: Bericht über das Gespräch mit Hartmann am 2.1.1963; BStU, MfS, AOP 2554/76, Bd. 43, Bl. 235. 321  Vgl. KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 29.12.1962: Treffvorbereitung; ebd., Bl. 233 f.

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(Halbleitertechnik)«. Er schätze zwar das ihm entgegengebrachte Vertrauen hoch ein, habe sich aber gegen Teltow entschieden. Ihn reize die wissenschaftliche Arbeit mehr, die er in Teltow in diesem Maße nicht leisten könne. Für Teltow schlug er vor, »die Möglichkeit des Einsatzes eines sowjetischen Wissenschaftlers« zu prüfen.322 War dies ein Versuch Hartmanns, eine Art von Luftballon, die Ernsthaftigkeit der Regierung in Sachen seiner Philosophie von Mikroelektronik auszutesten? Jedenfalls zeigt diese Quelle, dass es in der Regierung immer noch erhebliche Zweifel über den einzuschlagenden Weg in der Mikroelektronik gegeben hatte. Besprochen wurde auch der Plan, seine Arbeitsstelle in das Haus 137 zu verlegen.323 Am 4. Januar lehnte Hartmann die Übernahme des IHT schriftlich an Apel ab.324 In der späteren Begutachtung durch Hanisch fällt auf, dass er konsequent vermied, die tieferen Beweggründe, warum beide Wege sich notwendig ausschlossen, zu benennen. Hartmanns Argumente überzeugten Apel und Rompe, und so kam es, wie es auch aus fachlicher Sicht hatte kommen müssen: Falter wurde als Leiter des IHT abgelöst und zu Hartmann nach Dresden »abgeordnet«. Dies bezeichnet einen jener durchaus wenigen Fälle in der DDR, in denen die fachliche Prognose in der Abwägung mit kurzfristigen Erfolgen obsiegte. Dieser »Sieg« der Vernunft trug aber nur schwach durch die kommende schwere Zeit. Allerdings war Falter Dresden keine fremde Stadt, da er hier um 1960 bereits als Hochschullehrer an der TH Dresden tätig gewesen war. Hanisch fand später in diesem Momentum die Gelegenheit zu behaupten, dass Falter für »Hartmann zu einer echten Gefahr zur Entdeckung seiner Verzögerungstaktik« geworden und dann später von ihm »schnellstens wieder aus der AME entfernt« worden sei.325 Durch eine im Sommer 1967 organisierte sogenannte Anschleusung des GM »Theo«326 an die (zweite) Ehefrau Hartmanns »mittels einer operativen Kombination«, erfuhr das MfS, das sich das Ehepaar Hartmann 1963 bei einem Aufenthalt in Westdeutschland mit dem Gedanken getragen habe, dort zu bleiben. Letztlich sollen sie sich aus finanziellen Gründen dagegen entschieden haben.327 Das MfS schmiedete indes zur Einleitung operativer Überprüfungsmaßnahmen zum Zwecke der Festigung des Vertrauens zu Hartmann am 28. Januar einen neuen operativen Plan. U. a. sollten Treffen mit Hartmann im Berghotel in Rathen und im Hotel Astoria unter Einsatz operativer Technik erfolgen, sowie eine Reise nach Westberlin (mit Post- und Telefonkontrolle) organisiert werden.328 Das MfS 322  KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 4.1.1963: Bericht über das Gespräch mit Hartmann am 2.1.1963; ebd., Bl. 235. 323  Vgl. KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 6.12.1962: Treff bericht; ebd., Bl. 236. 324  Vgl. AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 52. 325  Ebd., Bl. 53. 326  Vgl. Zu »Theo« einem DDR-Bürger mit falscher Identität: BV Dresden, Abt. XVIII/4, vom 29.6.1967: Zwischenbericht OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 41–53, hier 46–48. 327  Ebd., Bl. 45. 328  Vgl. KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 28.1.1963: Zur operativen Kontrolle Hartmanns; ebd., Bd. 43, Bl. 238.

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erfuhr am 30. Januar vom GM »Schubert«, dass Hartmann nicht am VI. Parteitag teilgenommen hatte. Der GM aber schützte Hartmann mit seinen Aussagen vor negativen Mutmaßungen des MfS über dessen Nichtteilnahme. Er habe aus Dresden nicht weggekonnt, er habe zu viel Arbeit gehabt. Der Umzug in das Haus 137 war indes beschlossen.329 Der Vollzug wurde im März infolge der Reorganisation des Industriegebietes realisiert.330 Das MfS traf sich mit Hartmann am 14. Februar in dessen Wohnung. Hartmann hatte den Treff außerhalb Dresdens abgelehnt. Damit war der Plan gescheitert, ihn während des Treffs operativ zu beobachten. Auch hatte er seine Frau über das Treffen vorab informiert. Das MfS erkundigt sich nach dem Stand der Fertigstellung seines Buches. Hartmann antwortete, dass er die Drucklegung im laufenden Jahr erwarte. Bei dem Buch handelte es sich um eine Arbeit am Lehrbuch für Kernphysik, herausgegeben von Hertz, es erschien 1963. Das MfS besprach noch einmal die Notwendigkeit der Beschaffung von Materialien aus dem Westen. Hartmann teilte mit, dass er bereits in »seiner früheren Tätigkeit öfters streng vertrauliche Unterlagen durch das MfS zur Auswertung bekommen habe, welche vermutlich aus [dem Westen] stammten«. Worauf das MfS alles achtete: »Nach Schätzung des Mitarbeiters fällt der Boden vor dem Fenster schräg ab in Richtung Süd / West.«331 Einmal mehr bat die zuständige Fachabteilung des Volkswirtschaftsrates (VWR) Hartmann kurzfristig um die Vorbereitung einer Konzeption bis zum 20. März »über Bedeutung, Aufgabenstellung, Entwicklungsetappen und notwendige Maßnahmen« für seine Arbeitsstelle. Am 12. März übergab er die angeforderte »Vorlage ›über die Arbeitsstelle für Molekularelektronik‹«. Hierin ist festgestellt, dass die Arbeitsstelle die Aufgabe habe, »in engster Zusammenarbeit mit anderen auf dem Gebiet der Halbleiterphysik und -technik im weitesten Sinne in der DDR tätigen Institutionen Festkörperkreis-Funktionsblöcke zu entwickeln und eine Versuchsfertigung durchzuführen«.332 Das Papier rekurrierte auf ein Schreiben von Hartmann an Apel (Vorsitzender der SPK), Wekker (Leiter der Abteilung Elektronik im VWR) sowie Russ (Abteilung Elektrotechnik der SPK) vom 12. März. Hartmann wies auf die Spezifik in der DDR hin, die »u. a. dadurch gekennzeichnet« sei, »dass kaum die Möglichkeit« bestehe, »verschiedene Wege eingehend zu untersuchen. Dadurch« sei »eine gewisse ›Bastelei‹ unvermeidbar, die zwangsläufig zu immer wiederkehrenden Störungen in der Fertigung führen« müsse. »Die Gesamtkonzeption« sah »eine Dreiteilung in der DDR vor, die Hartmann folgendermaßen skizzierte: »Zweckgerichtete Vorlaufuntersuchungen AME Dresden, ca. 250 bis 300  Mitarbeiter; Bauelemente-Entwicklung IH Teltow, ca. 800 Mitarbeiter; Bauelemente-Fertigung 329  Vgl. KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 31.1.1963: Bericht zum Treffen mit »Schubert« am 30.1.1963; ebd., Bl. 237 f. 330  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 18. 331  KD Dresden-Stadt, Linie III, vom 25.2.1963: Bericht zu einem Gespräch mit Hartmann vom 25.2.1963; ebd., Bd. 43, Bl. 239–242, hier 239 u. 241. 332 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 23 f.

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Halbleiterwerk Frankfurt / O.«333 Das war der kleinste gemeinsame Nenner, eine entsprechend den Möglichkeiten der DDR optimale Lösung. Die Forderung nach einer Großinvestition nie gekannten Ausmaßes wäre zweifellos in den Papierkorb gelandet. Am 22. März prophezeite Hartmann in einem Brief an die SPK: »Ich persönlich sehe jedenfalls den Tag voraus, wo man wieder einmal feststellt, dass die Entwicklung bei uns um Jahre zurückhinkt. Dabei hatten wir auf unserem Gebiet alle Möglichkeiten, mit der Weltentwicklung gleichzuziehen.«334 Am 1. April wurde die AME dem VWR der DDR unterstellt. Die Herauslösung aus dem AKK war überfällig. Im Mai 1963 konzipierte Hartmann eine Arbeitsgemeinschaft zwischen der AME und dem VEB Carl Zeiss Jena für den »Schablonenkomplex«, doch die Werkleitung von Zeiss lehnte ab. Es entstand ein »Zeitverlust einiger Jahre«.335 Dies bedeutete eine weitere Niederlage für ihn, zumal der Westimport auch gescheitert schien. Die kürzlich abgegebene Planung war damit Makulatur. Laut der Notiz L 41/63 vom 10. September hatte Hartmann, und das stellte Hanisch ein Jahrzehnt später besonders heraus, für den Plan 1964 im VWR »jede Angabe von Terminen für bestimmte Entwicklungsziele« abgelehnt. Dies könne erst dann »erfolgen, wenn eine zumindest ungefähre Vorstellung über den wirklichen Abschluss der Umbauarbeiten« bestehe. Falter soll auf dieser Beratung gesagt haben: »Wenn AME eingerichtet ist, ist das IHT längst in der Lage, FKS herzustellen!«336 Freilich traf dies zu, doch nur insoweit, als dass die DDR dann nicht den Weg der Mikroelektronik-Technologie gegangen wäre. Isoliert von diesen Gegebenheiten wurden unverdrossen die sogenannten Pläne für Neue Technik fortgeschrieben. Etwa für 1964 der SPK (VVS B 5/3 – 607/63) vom 15. September und des VWR (VVS B10/4 – 1219/63) vom 29. Oktober. In beiden ist im Abschnitt »Hauptrichtungen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung der Elektronik« ausgeführt, dass die »Verfahrenstechnologie für Silizium-​ Epitaxie-Schichten« noch 1964 »abzuschließen« sei. Das Ziel, die Herstellung von Funktionsblöcken der Festkörperschaltungstechnik, sollte in Kooperation mit Teltow, Hermsdorf, Frankfurt / O. und Akademieinstituten noch 1965 erreicht werden.337 Offizier Krenkel suchte am 15. Oktober Hartmann in dessen Dienstzimmer auf. Hartmann soll große Sorgen bei der Errichtung der Arbeitsstelle bekundet und angekündigt haben, nach Berlin zu Apel zu fahren. Zurzeit sei das Haus 137 teilweise immer noch nicht geräumt. Man diskutiere viel, reise herum, die Berliner 333  Schreiben von Hartmann an Apel, Wekker und Russ vom 12.3.1963: Über die AME; ebd., Bd. 9, Bl. 12–15, hier 14. 334  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 56. 335  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 18. 336  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 56. 337 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier  25 f.; Beschluss des Forschungsrates zum Perspektivplan Neue Technik 1965–1970; BArch, Abt. Potsdam, DF4/20520.

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seien involviert aber nichts geschehe: »Er selbst brachte einige Male zum Ausdruck, dass er sich laufend um Dinge kümmern muss, die ihn eigentlich gar nichts angehen, die gar nichts mit seinen Forschungsaufgaben zu tun« hätten, »ihn nur die Zeit stehlen« würden. Er habe informiert, dass man in den USA gegenwärtig die Dünnfilmtransistortechnik entwickle. Auch er habe eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit der Maskenaufdampftechnik befassen werde. Er habe jedoch zu bedenken gegeben, dass diese Richtung keinesfalls »der Stein des Weisen sei«. Es werde endlich Zeit, »dass mit den Bauarbeiten in der Arbeitsstelle begonnen« werde, »da man vor Abschluss der Bauarbeiten nicht mit der experimentellen Arbeit beginnen« könne. Die bis dato verabsäumte Zeit könne nicht mehr aufgeholt werden. Er habe »Bedenken, dass man ihn am Ende für die schleppende Entwicklung noch verantwortlich« machen werde. Auch soll er sich »über die Beschlagnahme von Fachzeitschriften«, die er aus der Bundesrepublik regelmäßig erhalte«, beschwert haben. »Über diese Idiotie« sei er »sehr verärgert«. Er habe »zum Ausdruck« gebracht, dass die derzeitige Isolierung unserer Entwicklung auf technischem Gebiet sehr teuer zu stehen kommen« werde.338 Im November beschäftigte sich der Forschungsrat mit der Frage der Mikroelek­ tronik. Referiert wurde u. a. ein Bericht Rompes über die Realisierung von Aufgaben auf dem Gebiet der Halbleitertechnik. Der Bericht basierte auf der Tätigkeit der Kommission »Bauelemente« des Forschungsrates aus demselben Jahr. Demnach lagen »die Hauptursachen für die unbefriedigende Situation« in folgenden Aspekten begründet (hier Auswahl): in der »nicht befriedigenden Kooperation zwischen den Industriezweigen«; in der mangelhaften »Zusammenarbeit zwischen der Kommission ›Bauelemente‹ und der Abt. Elektronik des VWR«; in der »unzureichenden Anzahl von qualifizierten Kadern in den VVB und im Halbleiterwerk Frankfurt / O.« sowie im »Fehlen von wissenschaftlichen Laboratorien im Hauptherstellerwerk«. Zur Diskussion sprachen u. a. Steenbeck, Thiessen, Lange, Weiz, Leibnitz und Markowitsch (1. Stellvertreter des Vorsitzenden des VWR). Alle plädierten für eine verbesserte Leitungstätigkeit im Industriezweig. Das Problem der Produktion von Reinststoffen und der Qualität der Bauelemente wurde besonders angesprochen.339 Wenig später ist unter Vorsitz Thiessens noch einmal über das Thema der »Hauptrichtungen von Wissenschaft und Technik auf dem Gebiet der Elektronik und Aufgaben zu ihrer Durchsetzung« diskutiert worden. Rompe verlangte wegen der zukünftigen Bedeutung der Elektronik »eine allseitige Förderung« und verwies hierbei auf die immensen Schwierigkeiten einzelner Elektronikzweige wie der Messund Heimelektronik sowie der Datenverarbeitung. Die Bedeutung der Entwicklung elektronischer Bauelemente siedelte er hoch an. Zur Diskussion sprachen u. a. Görlich, Leibnitz, Ardenne, Krahl und Wekker. Man zeigte sich einig, Leitinstitute 338  KD Dresden-Stadt vom 16.10.1963: Gespräch am 15.10.1963; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 44, Bl. 1–3, hier 1 f. 339 Protokoll der 10. Sitzung des Vorstandes und Vorstandsrates des FR der DDR am 27. u. 28.11.1963; ArchBBAW, Nachlass Friedrich, Nr. 332, S. 1–13, hier 8 f.

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»für begrenzte Gebiete der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Elektronik« zu bilden. Ardenne legte Wert auf die Entwicklung der Dünnschichttechnik; er untersetzte seine Forderungen konkret, diese betrafen vor allem den Kapazitätsaufbau beim VEB Hochvakuum Dresden. Das Plenum des Forschungsrates beauftragte Rompe und Frühauf, die Ergebnisse der Beratung »zu einer Konzeption zusammenzufassen«, die dann dem VWR für eine Elektronikkonzeption zu übergeben sei.340 Offizier Krenkel suchte am 18. Dezember 1963 abermals Hartmann in der Arbeitsstelle auf. Demnach habe Hartmann von seinem Treffen mit Apel berichtet, der Schritte eingeleitet habe, dass die im Haus 137 immer noch »befindlichen Fremdbetriebe« endlich auszögen. Die ersten experimentellen Versuche könnten erst 1965 beginnen. Die Gruppe, die sich mit der Dünnschichttechnik beschäftige, werde Ende des Jahres mit der Expertise fertig sein.341 Am selben Tag erhielt Apel von Hartmann ein umfangreiches Material für den »Kampf« um die AME. Es bestand aus 112 Schriftstücken (Briefwechsel, Besprechungsnotizen) sowie 74 Schriftstücken über die Räumung des Hauses  137. Das Material sollte zur Gestaltung von Schautafeln verwendet werden, die Hartmann jedoch nie zu Gesicht, aber von Karl Rambusch beschrieben bekam. Der hatte während der 5. Tagung »anhand einer Darstellung auf einer Schautafel« eine »außerordentliche Misere in der AME« feststellen können: »Zu dieser Darstellung braucht man keinen Kommentar zu geben, um Ihre jetzige Situation verstehen zu können.«342 Auch dieser Fakt ist vom MfS-Gutachter Hanisch und seinen Helfern später ignoriert worden. Am 31. Dezember zählte die AME 134  Mitarbeiter.343 Ein Jahrzehnt später wird Hartmann zusammenfassen: »Es ist nochmals zu unterstreichen, dass bis zum Dezember 1963 praktisch keine Unterstützung durch zentrale Organe erfolgte.«344 Und »Zeit«, so Hartmann, »hatten wir nicht, deshalb wurde im Einvernehmen mit Krolikowski der Weg der gleichzeitigen Projektierung und Ausführung gegangen: Trotz des Risikos und der Schwierigkeiten gelang er!«345 Das Verfahren wurde »gleitende Projektierung« genannt. Hartmann berichtete Apel am 17. Januar 1964, dass der Aufbau der AME von den zuständigen staatlichen Stellen »in gröbster Weise vernachlässigt« worden sei, es sei dadurch ein »mehrjähriger, unnötiger Zeitverlust« entstanden.346 Erst jetzt habe er Baufreiheit im Haus 137 erhalten. Nun erst konnte mit dem Einbau der Klima- und der Neutralisationsanlage sowie dem Bau von Garagen »in gleitender 340  Kurzprotokoll 4. Plenartagung des Forschungsrates der DDR am 18.12.1963; ebd., S. 1–10, hier 7 f. 341  KD Dresden-Stadt vom 20.12.1963: Gespräch mit Hartmann am 18.12.1963; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 44, Bl. 4 f., hier 4. 342  TSD; Nachlass Hartmann, H 49. 343  Vgl. ebd., H 45. 344  Ebd., H 48. 345  Ebd., H 47. 346  Dresden, den 5.4.1974: Spezielle Dokumentation und Auswertung; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 23, Bl. 2–26, hier 14.

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Projektierung, ohne Vorbilder für spezifische Räume« begonnen werden.347 Der Leiter der Abteilung Elektronik des VWR soll geäußert haben, »dass der Bau schnell zu Ende gehen« müsse, »damit die Ausrede aufhört, AME könne nicht arbeiten«.348 Am 22. Januar fand eine weitere Beratung im VWR zur Thematik der Entwicklung der Mikroelektronik und Entwicklung der AME als Leitentwicklungsstelle für die Mikroelektronik statt. Hartmann stellte fest, dass von den »19 Besprechungsteilnehmern« nur fünf »effektiv arbeitende« Fachleute gewesen seien, 14 erkannte er als reine Funktionäre.349 Am 3. April war Hartmann bei Apel in Berlin. Der teilte ihm mit, dass »ab sofort« die AME den Status eines Leitinstituts für die Fachrichtung Mikroelektronik erhalte. Konkret bedeutete dies, dass Hartmann für sachbezogene Entscheidungen Mitspracherecht in Belangen Hermsdorfs und Teltows erhielt. In der Praxis aber hatte dies – außer Ärger – kaum eine Bedeutung. Entwicklungswünsche wurden regelmäßig aus Kapazitätsgründen blockiert oder verzögert. Hartmann protestierte erneut gegen die Postkontrolle, da wieder Fachliteratur beschlagnahmt worden war.350 Er hatte sich bereits im vergangenen Dezember bei Offizier Krenkel beschwert. Noch durfte Hartmann in den Westen reisen. Im April besuchte er die Hannover-Messe. Die Ausbeute an Erkenntnissen war marginal. Er erhielt keine Angaben zum Problem des zulässigen Staubgehaltes in der Technologie der Mikroelektronik. Deshalb schlug er vor, extra eine Reise in die Bundesrepublik zwecks clean-room-Recherche zu starten. Es sollten die Unternehmen Leyboldt, Hughes, Heraeus und Intermetall besucht werden.351 Entsprechend bat er am 29. Mai um Genehmigung einer Dienstreise. Hauptziel der Reise sollte die Teilnahme am Internationalen Hochvakuum-Symposium in Frankfurt / M. sein, das Ende Juni stattfinden sollte. Da das Symposion aber verschoben wurde, bat Hartmann umgehend für eine Reisegenehmigung zur Realisation der Firmenbesuche für den Zeitraum vom 21. bis 26. Juni. Er argumentierte, »dass unser Programm zur Entwicklung der integrierten Mikroelektronik im notwendigen Zeitplan nur durchführbar« sei, »wenn für die Erstausrüstung in bestimmtem Umfang auf Importausrüstungen zurückgegriffen« werden könne. »Eine Eigenentwicklung in der DDR würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen.« Wekker, Leiter der Abteilung Elektronik des VWR, war einverstanden.352 347  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 18. 348  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 57. 349  Hanisch: Chronik der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden vom 15.8.1975; ebd., Bd. 39, Bl. 172–252. Die handschriftliche Version in: BStU, MfS, BV Dresden, AIM  4885/90, Teil II, Bd. 5, Bl. 80–186, hier 140. 350  Vgl. Bericht über ein Gespräch des MfS mit Hartmann am 8.4.1964; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 44, Bl. 9 f. 351  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 71 f. 352  Schreiben von Hartmann an Böhme, Leiter der Elektroindustrie im Volkswirtschaftsrat der DDR, vom 29.5.1964; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 25, Bl. 233 f.

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Hanisch gab als amtierender Parteisekretär am 1. Juni eine »Bürovorlage« zur Bewertung der SED-Arbeit in der AME. Es ist festzustellen, dass er zu diesem Zeitpunkt die gesamte Misere in der AME adäquat wiedergegeben hatte! Hanisch: »Es ist zu erwarten, dass bei Beibehaltung des jetzigen Bautempos einige Arbeiten erst Mitte 1965 abgeschlossen werden können. Eine echte Beschleunigung ist nur durch eine wesentliche Erhöhung der Arbeitskräfteanzahl auf der Baustelle und durch Absicherung der erforderlichen Materialien zu erreichen.« Auch sei ein eklatanter Mangel an Personal und Wohnraum vorhanden; die 48-Stunden-Woche sei »eine einsame Insel inmitten von Instituten mit 45-Stunden-Woche«, das sei ein Standortnachteil.353 Auch diese Ausführungen wurden später im Zuge der Erstellung der Gutachten zu Hartmann mit keiner Silbe erwähnt! Aufschlussreich ist auch seine Einschätzung der »Kampfkraft der Parteiorganisation« in der Arbeitsstelle, die er als »äußerst gering« wertete. Von den insgesamt 160 Mitarbeitern waren zu diesem Zeitpunkt lediglich 20 SED-Genossen. Sechs von ihnen zählten zum wissenschaftlichen Personal, das immerhin zwei Drittel der Belegschaft ausmachte. Von den neun wissenschaftlichen Gruppen wurden lediglich zwei von Genossen geleitet. Gegenwärtig »ringe« die Parteileitung »erst einmal um elementare Rechte zur Geltendmachung ihrer Forderungen«.354 Hartmann hatte andere personalpolitische Sorgen, er wird später erinnern, dass die Frage der Fluktuation und die Knappheit »guter« Arbeitskräfte zu den dringendsten Fragen dieser Zeit gehörten.355 Am 9. Juni schrieb Hartmann an die Abteilung Forschung und Technik beim Büro für Industrie und Bauwesen und bat um Klärung seiner Situation betreffs der beabsichtigten Reise nach Frankfurt / M. bis Ende des Monats. Zwar war die Reise offiziell genehmigt worden, doch sollen plötzlich »bürotechnische Schwierigkeiten« bei der Erstellung des Reisepasses aufgetreten sein.356 Wekker mutmaßte, dass Hartmann »vielleicht sogar gegen die DDR arbeitet«, seine Arbeit sei nicht gerade engagiert, vielmehr habe er Interesse an Westreisen, die er nicht in Begleitung von Fachkollegen führen wolle. Er habe ihm 1963 eine Reise nach Westberlin zwar versagt, doch sei sie aufgrund seiner Intervention bei Apel gestattet worden.357 Am 25. Juni hielt das MfS in dem mit Hartmann nicht im Zusammenhang stehenden Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) »Widerstand« fest, dass es künftig notwendig werde, im Rahmen »der Liquidierung eines politisch-operativen Schwerpunktes im VEB Werk für Fernsehelektronik (WF) Berlin« und entsprechenden »Festnahmen im Funkwerk Köpenick«, die »konzentrierte Bearbeitung der sich in

353  Hanisch, Sekretär der BPO der AME, vom 1.6.1964: Bürovorlage zur Einschätzung der Arbeit der Parteiorganisation der AME; ebd., Bd. 10, Bl. 115–120, hier 117 u. 120. 354  Ebd., Bl. 119. 355  TSD; Nachlass Hartmann, H 27 f. 356  Schreiben von Hartmann an die Abt. Forschung und Technik beim Büro für Industrie und Bauwesen vom 9.6.1964; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 25, Bl. 235 f. 357  HA XVIII/2/3 vom 11.6.1964: Aktenvermerk; ebd., Bd. 15, Bl. 69 f.

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der elektronischen Industrie zeigenden Feindtätigkeit« aufzunehmen.358 In diesem ZOV war bereits Major Lonitz involviert, damals Referatsleiter in der HA IX.359 Er wird im Falle Hartmanns zehn Jahre später eine bedeutende Rolle spielen. In dem ZOV wurden u. a. operativ bearbeitet die VEB Keramische Werke Hermsdorf (KWH) und VEB Elektromat Dresden (EMD).360 Er ist Anfang 1972 differenziert abgeschlossen worden, zumeist in Form von Einstellungen aber auch in Form von IM-Werbungen einiger »bearbeiteter« Personen. Einige sind auch in separaten OV weiterbearbeitet worden.361 Der formale Beschluss zur Einstellung des ZOV »Wider­ stand« datiert vom 30. Dezember 1971.362 Auch Krahl und Falter sind in dem ZOV bearbeitet worden. Im Frühsommer fand ein Gespräch im Volkswirtschaftsrat in Berlin statt. Hierzu hatte Hartmann seine Abteilungsleiter mitgenommen und gehofft, den dort zu­ ständigen Leiter überzeugen zu können, AME stärker zu fördern. Hartmann: »Aber es misslang so vollständig, dass wir nach seinem Weggang lachen mussten.« Das Vertrauen, das er einforderte, wollte er ihm nicht schenken. Der Fachabteilungsleiter sagte: »Was Sie alles vortragen, ist ja gut und schön, aber kann ich das alles auch glauben?« Hartmann entgegnete, dass Vertrauen schon sein müsste. Der erwiderte: »Vertrauen würde ich Ihnen, wenn Sie eine Laube bauen würden.«363 Im Juli 1964 ist eine »Grundkonzeption zur Entwicklung der Elektronik im Zeitraum des Perspektivplanes bis 1970 (VVS B 5/3 – 373/64) erarbeitet« und vom Ministerrat »zustimmend zur Kenntnis genommen« worden. In dieser Grundkonzeption ist ausgeführt, dass die integrierte Mikroelektronik auf Basis halbleitender Träger, also Festkörperschaltkreisen, forciert zu entwickeln ist. Demnach sollten ab 1967 die ersten Labormuster hergestellt und 1969 in die Produktion überführt werden. Eine fünfköpfige Untersuchungskommission des MfS gegen Hartmann wird später konstatieren, dass hier bereits eine Planverschiebung von circa zwei Jahren zusätzlich entstanden sei. Die sogenannten »Zweigspezifischen Hinweise bis 1970« der SPK (VVS B 5/3 – 573/64) enthielten bereits die utopische Aufgabe, ab 1967 »auf den vorhandenen Flächen des Halbleiterwerkes Frankfurt / O. die Pilotproduktion für Festkörperschaltkreise aufzunehmen und 1968 eine weitere Kapazität für diese Technik aufzubauen«.364 Hartmann erinnerte später in seinem »Museum«, dass am 9. Juli eine denkwürdige Sitzung des Forschungsrates in der HU Berlin stattgefunden hatte. Es handelt 358  Maßnahmeplan der HA  XVIII vom 25.6.1964; BStU, MfS, AOP  1902/67, Teilvorgang (TV) 7, Bd. 1, Bl. 132–150, hier 132. 359  Vgl. HA XVIII vom 15.5.1964: Bericht über die 1. Sitzung des Einsatzstabes; ebd., Bl. ­90–93, hier 90. 360  Vgl. Maßnahmeplan der HA XVIII vom 25.6.1964; ebd., Bl. 132–150. 361  HA XVIII/8/3 vom 3.1.1972: Abschlussbericht; ebd., Bl. 239–243. 362  Vgl. HA XVIII/8/3 vom 30.12.1971: Beschluss zum Einstellen eines ZOV; ebd., Bl. 244 f. 363  TSD; Nachlass Hartmann, H 62. 364  Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, hier 12 f. u. 27 f.

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sich in der Tat um ein Schlüsselgeschehen. Teilnehmer an der Sitzung waren u. a. Thiessen, Steenbeck, Rompe, Schwabe, Apel, Mittag, Weiz, Wekker und er selbst. Zunächst habe er einen Bericht über den Stand des Aufbaus der AME vorgetragen (VD Nr. FR 19/64). Thiessen, Steenbeck, Rompe, Schwabe und Weiz stellten anschließend einige Fragen und empfahlen den Bericht zur Bestätigung. Auf stand Mittag: »Er begann sofort mit großer Lautstärke« und »warf mir vor, die Verantwortung für die Mikroelektronik nicht erkannt zu haben und wahrzunehmen.« Er, Mittag, habe von Mitarbeitern des ZK erfahren, dass ich mich grundsätzlich weigere, einen Arbeitsplan aufzustellen. Mittag lehnte den Bericht vollständig ab. Er wurde immer lauter. Mich packte die Wut, ich bat ums Wort, soll kreideweiß geworden sein: »Wenn die Mitarbeiter von AME und ihr Leiter nicht so viel Verantwortungsgefühl hätten, wäre bis heute überhaupt nichts entstanden! Ich beantragte eine Kommission des ZK der SED einzusetzen, um meine Arbeit und meine Möglichkeiten an Ort und Stelle in Dresden zu überprüfen.« Mittag beauftragte Rompe eine Kommission zu bilden.365 Im Folgenden sollen zum Vergleich drei Protokolle unterschiedlicher Provenienz stichpunktartig wiedergegeben werden: Erstens die dienstliche Notiz Hartmanns, zweitens seine abgeforderte Vorlage für den Forschungsrat sowie drittens, das offizielle Beschlussprotokoll. Zur Notiz L 33/64 Hartmanns vom 9. Juli, aus dem Wortlaut: Hans Frühauf hatte Hartmanns Vorlage VD Nr. FR  19/64 begrüßt und ausgeführt, dass das Programm sehr fundiert sei, jedoch der Beginn der Laborfertigung für 1967 zu spät ausfalle. Mittag dazu: »In AME ist keine kritische Situation bei Leitung und Kollektiv. Sind sich nicht ihrer Verantwortung bewusst. Darüber hat er Berichte: ›Kennen Sie die Stimmung in Ihrem Institut?‹ – Vorlage soll abgelehnt werden.« Auch Steenbeck begrüßte die Vorlage. Apel monierte fehlende »Abstimmungen mit anderen Institutionen«. Hartmann antwortete auf Frühauf, dass sich die AME anstrengen werde, die von ihm genannten Termine zu unterbieten, er könne aber wegen des »unfertigen Zustands von AME (Gebäude, Mitarbeiter) […] keine Zusage machen«. Und auf Apel antwortete er, dass die Abstimmungen »in den Arbeits­ programmen von AME enthalten« seien. Und zu Mittag gewandt entgegnete er, dass er »befremdet« sei »über die Bemerkung, dass keine Verantwortung von« ihm »und AME übernommen« worden sei und schilderte »Einzelheiten der Gebäudesuche, der Vorarbeiten, des Einsatzes der Mitarbeiter bis heute«. Hartmann weiter: »Wenn wir nicht unsere Verantwortung erkannt hätten, gäbe es heute keine AME. Denn weder das Parteiprogramm noch Ministerratsbeschlüsse, auf die ich mich verlassen habe, haben uns geholfen.« Anschließend bat er Mittag, »seine Aussagen zu präzisieren«. Mittag antwortete, dass »Berichte« vorlägen »über sehr schlechte Leitungstätigkeit. Seit Januar« seien »zehn bis zwölf Projektänderungen erfolgt. Die Bauarbeiter schimpfen über die Leitung.« Hartmann bat daraufhin Mittag, eine »Kommission einzusetzen, die die mangelnde Verantwortungsfreude usw. von« ihm »überprüft«. Er betonte »nochmals Einzelheiten des Einsatzes der Mitarbeiter« und bedauerte, 365  TSD; Nachlass Hartmann, H 62.

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»dass er für den jahrelangen Kampf um Gebäude usw. in dieser Weise beschuldigt wird«. Apel schlug eine erneute Sitzung für Ende September vor.366 Hartmann reflektierte später: Zurückgekehrt nach Dresden habe er der Belegschaft seines Betriebes von seinem Erlebnis mit Mittag berichtet und nichts beschönigt. Er teilte den Kollegen auch mit, dass Apel während der ganzen Sitzung nichts gesagt habe. »Apels Verhalten« bleibe ihm »unverständlich und enttäuschend, ich habe ihn auch nie mehr fragen können, denn etwa anderthalb Jahre später […] erschoss er sich in seinem Dienstzimmer.« Hartmann will gespürt haben, dass das Kollektiv enger zusammenrückte, einige wollten Eingaben an Apel schreiben, doch das wollte er nicht. Mittag habe ihm auch den Vorwurf gemacht, Doppelarbeit zu leisten, da im IHT und HWFO entsprechende Arbeiten liefen. Er habe also eine fachliche Unsicherheit bei denjenigen konstatieren müssen, die Mittag berieten und berichteten, sie seien mit den Fakten nicht vertraut gewesen; Hartmann: »So wurden Entscheidungen höchster Stellen vorbereitet!«367 Noch einmal: Der in jeder Hinsicht starke und bestinformierte Apel schlug sich – vor Mittag – nicht auf die Seite Hartmanns! Die von Hartmann eingereichte und vorgetragene Vorlage lautete: »Bericht über die Ergebnisse der Arbeitsstelle für Molekularelektronik und Darlegung der Konzeption für die weitere Arbeit«.368 Punkt 1: Die AME habe »erst am 1. März 1963 die Rechtsträgerschaft über ein für den Umbau geeignetes Gebäude: Haus 137 im Industriegebiet Klotzsche« erhalten. Bisherige Nutzer beendeten die Räumung erst im Januar. Artfremder Einsatz der wissenschaftlich-technischen Kräfte. Der Ministerratsbeschluss, AME bis zum 31. Dezember 1963 arbeitsfähig zu machen, bewirkte keine Beschleunigung des Aufbaus. Daraufhin intervenierte Apel auf Bitten Hartmanns beim Büro für Industrie- und Bauwesen beim Politbüro des ZK der SED. Erst danach begann die Unterstützung zu wirken: »nach den vorliegenden Schätzungen« könne erwartet werden, dass circa 85 Prozent »der Umbauarbeiten bis zum 30. September 1964 durchgeführt werden können«. Und: »Einzelne Vorhaben werden sich bis Mitte 1965 erstrecken. Zur Schaffung völliger Baufreiheit musste der größte Teil des Inventars und über 70 Prozent der Mitarbeiter ab 13. Januar 1964 ausgelagert werden.« Somit konnten »experimentelle Untersuchungen erst nach Rückkehr der Mitarbeiter und Abschluss der Arbeiten zur apparativen Ausrüstung wieder aufgenommen werden«. Viele Geräte mussten selbst hergestellt werden, da sie kommerziell nicht im Angebot waren. Die AME beschäftigte zu diesem Zeitpunkt 160 Mitarbeiter, 60 davon mit Hochschulausbildung. Zum Punkt 2, Entwicklungstendenzen der Festkörperelektronik und ihre Bearbeitung in der DDR: Hartmann nannte drei Entwicklungsrichtungen (Vervollkommnung entsprechend der bisheri366  Notiz L 33/64 vom 9.7.1964: Bericht vor dem Vorstand des Forschungsrates; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 12, Bl. 21–23. 367  TSD; Nachlass Hartmann, H 63 f. 368  Bericht über die Ergebnisse der AME und Darlegung der Konzeption für die weitere Arbeit, VD-Nr. FR 19/64; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 12, Bl. 21–23, hier 21.

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gen Technologien; Entwicklung neuer Bauelemente unter Einsatz neuer Materialien; Integration von Bauelementen zu mikroelektronischen Funktionsblöcken). Für die integrierte Mikroelektronik sah Hartmann drei Wege: a) Dünnfilmschaltungen, b) Halbleiterblockschaltungen und c) Kombinationstechnik. Mehrere Seiten Ausführung dann über technologische Varianten im Einzelnen, Schaltungsentwürfe, Messtechnik, Technologie und Konstruktion; Chemie, Dotierung, Hochvakuum­ physik.369 Einschätzung des Papiers durch den Verfasser: Die Ausführungen sind fachlich solide, hinreichend und vor allem bis hin in die Struktur von AME ausgebildet. Die positiven Bewertungen von Rompe, Frühauf u. a. waren demnach berechtigt. Mittag hatte von der eigentlichen Materie nichts verstanden. Zum offiziellen Beschlussprotokoll der 2. Sitzung des Vorstandes des Forschungsrates am 9. Juli 1964; die Teilnehmer: Thiessen, Weiz, Steenbeck, Apel, Drefahl, Gießmann, Grosse, Hartke, Kosel, Markowitsch, Mittag, Rudolf Müller, Peschel, Spitzner und Stubbe. U. a. fehlte Hager entschuldigt. Als Gäste nahmen u. a. teil: Kuntsche, Winde, Frühauf, Leibnitz, Nelles, Rapoport, Rompe, Schwabe, ­Hartmann, Wekker und Wyschofsky. Steenbeck hielt beginnend einen »Bericht über die Erarbeitung des Planes Grundlagenforschung und Festlegung der Maßnahmen zur weiteren Ausarbeitung des Planes«. Es folgte Hartmann mit seinem Bericht über AME (siehe oben). Zwei weitere Ausführungen betrafen fachfremde Dinge. In der Diskussion zu Hartmanns Ausführungen sei u. a. mehrheitlich darauf hingewiesen worden, dass der Bericht nicht den neuesten Stand der Erkenntnisse widerspiegele, die Konzeption der weiteren Arbeit der AME nicht den Anforderungen entspreche, dass es keine Beschränkung der Forschung auf die Dünnschichttechnik geben solle, und dass es notwendig sei, verbindliche Terminfestlegungen für den Abschluss der Forschungs- und Entwicklungsthemen zu treffen. Auch solle die Leitung der AME verbessert werden durch klare Aufgabenstellungen, wissenschaftliche Institute sollen einbezogen werden. Das Resultat: Der Bericht Hartmanns wurde nicht bestätigt. Ein neuer Bericht mit Termin zum 30. September 1964 sei auszuarbeiten.370 Gegenstand der 41.  Tagung des Wissenschaftlich-Technischen Rates (WTR) für Halbleitertechnik am 15. Juli war vor allem das sogenannte Elektronikdokument, das im Politbüro »beraten und im Wesentlichen gebilligt« worden war. Es sollte anschließend dem Ministerrat zur Bestätigung vorgelegt werden. Bis März 1965 sollten »die grundsätzlichen Probleme der Perspektive der Halbleitertechnik im Mittelpunkt der Arbeit des WTR für die Halbleitertechnik stehen«. Auf der Tagung wurden fünf Schwerpunkte diskutiert, der dritte betraf das Arbeitsprogramm der AME. Hartmann erläuterte die Arbeitsprogramme »Funktionsblöcke in Halbleiterblocktechnik« und »Aktive Dünnfilmelemente«. Nach »ausführlicher« 369  Vorlage zum Bericht über die Ergebnisse der AME und Darlegung der Konzeption für die weitere Arbeit. Vorgelegt und diskutiert auf der Sitzung des Forschungsrates am 9.7.1964; ebd., Bl. 7–20. 370  Beschlussprotokoll der 2. Sitzung des Vorstandes des Forschungsrates der DDR am 9.7.1964, VD Nr. FR 24/64; ebd., Bl. 79–83.

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Diskussion billigte der Rat beide Arbeitsprogramme »im Wesentlichen«. Hartmann wurde gebeten, mit Bethge und Thiessen »eine enge Zusammenarbeit anzustreben«. Des Weiteren wurde er »für die Koordinierung der Arbeiten auf dem Gebiet der aktiven Dünnfilmelemente verantwortlich« gemacht. Zum fünften Schwerpunkt hatte Rompe ausgeführt, dass es wegen »einer Forderung des Forschungsrates« nun »notwendig« sei, im WTR für die Halbleitertechnik »eine Kommission ›Molekularelektronik‹ zu bilden, die die Tätigkeit der Arbeitsstelle für Molekularelektronik laufend zu prüfen« habe. Der Einladung zur 41. Tagung folgten 23 Personen. Hartmann zählte, dass nur neun von ihnen fachwissenschaftliche Kenntnisse besaßen, zwei von ihnen kamen von der AME: Hartmann und – Hanisch.371 Hanisch war also dabei und hätte demzufolge später als Gutachter die Wahrheit sagen müssen. Der Ministerrat beschloss am 30. Juli 1964 das Elektronikprogramm, worin u. a. festgelegt wurde, dass das Halbleiterwerk (HLW) Frankfurt / O. – unter Einbeziehung der AME – die Technologie der Herstellung von Planar-Epitaxie-Transistoren bis 1966 zu entwickeln habe.372 Der Grundstock dieses Beschlusses, der erst am 10. Juli dem Politbüro übergeben worden war, ist das erste klare und systematisch angelegte Bekenntnis der DDR zur Entwicklung der Mikroelektronik. Es wies jedoch eine ganze Reihe von Glaubensartikeln (Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zur Beseitigung des Rückstandes) und Unsicherheiten in Bezug auf die fachliche Seite des einzuschlagenden Weges auf. Bemerkenswert ist, dass man die Dünnschichttechnik zumindest bis 1970 favorisierte.373 Es fällt auf, dass die Arbeit eine erhebliche definitorische Schwäche besitzt und von den Wissensständen in Dresden offenbar überhaupt wenig nach Berlin durchgedrungen ist. Beteiligt waren VWR, SPK und SFT. Eine Mitteilung der Abteilung XVIII/1 der BV Dresden an die Abteilung V / W TA der HV A vom 10. August zeigt bereits zu dieser frühen Zeit, dass die Abteilung XVIII/1 für Hartmann »keine Bestätigung zur Übergabe vertraulicher technischer-​ wissenschaftlicher Unterlagen, deren Herkunft für ihn ersichtlich« sei, gegeben hatte.374 Das MfS vertraute Hartmann nicht. Überliefert ist eine Notiz (Notiz L – 46/64) Hartmanns vom 1. September. Diese gibt Kunde über ein Gespräch bei Rompe im Physikalisch-Technischen Institut (PTI) in Berlin, das 40  Minuten dauerte. Anwesend waren: Rompe, Hartmann sowie Thiessen und Reichel von der VVB VuB. »Die Tatsache der Teilnahme von 371  Vgl. Protokoll der 41. Tagung des Wissenschaftlich-Technischen Rates für die Halbleitertechnik am 15.7.1964 im VEB Halbleiterwerk Frankfurt / O., Werksteil Stahnsdorf; ebd., Bl. 41–44, Anwesenheitsliste Bl. 45. 372  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 14.10.1964: 3. Kontaktgespräch; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 18–21, hier 18. 373  Vgl. Vorlage für das Politbüro des ZK der SED vom 10.7.1964: Grundkonzeption zur Entwicklung der Elektronik im Zeitraum des Perspektivplanes bis 1970; SAPMO, BArch, DY 30, JIV 2/2A, Vorlage u. Grundsätze, S. 1–6, Bd. 1, S. 1–90, Bd. 2, S. 2–126. 374  BV Dresden, Abt. XVIII/1, an die Abt. V / W TA der HV A vom 10.8.1964: Einschätzung; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 44, Bl. 26 f.

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Thiessen und Reichel war« Hartmann »vorher nicht bekannt« gemacht worden. Das Thema lautete auf Durchsprache einer Disposition entsprechend der im »Beschlussprotokoll der Sitzung des Forschungsrates angegebenen Punkte«. Der Durchgang der Punkte, für diese Untersuchung nicht substanziell neu, soll zügig vonstattengegangen sein. Ein Passus der Notiz erwähnt jene Schwierigkeiten, die Hartmann seit dem 9. Juli monierte. Rompe sah sich deshalb veranlasst, Hartmann zu versichern, dass man »immer noch der Meinung« sei, dass er »der beste Mann, den wir für diese Aufgabe haben«, sei. Und zur letzten Sitzung des Forschungsrates, der Hartmann ferngeblieben war, soll Rompe zu ihm gesagt haben: »Wir haben den Eindruck, Sie betrachteten die Einladung zum Forschungsrat als Schikane. Dabei will der Forschungsrat helfen. Dort sitzen alle maßgeblichen Herren. Wenn man dort Schwierigkeiten vorträgt, erhält man bestimmt Unterstützung. Dass Sie die Vorlage nicht selbst gemacht haben, war eine Taktlosigkeit. Entschuldigen Sie, wenn ich das so klar sage. Es ist eine Ehre, vor dem Forschungsrat zu sprechen, da stellt man alle anderen Arbeiten zurück.«375 Wollte sich der Staatssicherheitsdienst ein komplettes Bild von Hartmann machen oder lag eine sogenannte operative Kombination vor, mit dem Ziel, ihn zu provozieren? Jedenfalls hatte die Parteiorganisation (!) der BV Dresden mit Datum vom 9. Oktober ein Gesprächsprotokoll verfasst, das eine Befragung Hartmanns am 17. September in der AME zu dessen Westdeutschlandreise vom 20. bis 29. Juli 1964 (scheinbar) zum Mittelpunkt hatte. Offizier Krenkel, der offizielle Verbindungsmann zur AME, führte durch das Gespräch. Von der AME nahm u. a. Ralf Kempe teil. Zugegen waren auch je ein Vertreter der Abteilung Elektronik des VWR und des Institutes v. Ardenne. Dass Letzterer teilnahm, deutet immerhin darauf hin, dass die Beschaffungsproblematik (mit) im Mittelpunkt dieser Zusammenkunft gestanden hatte. Denn auch dieses Institut benötigte westliche Technik. Hartmann hatte u. a. die Fa. Leybold, WG Heraeus und Intermetall Freiburg / Breisgau besucht. Er hielt die Ergebnisse für wertvoll in Hinsicht auf Informationen »über Geräte, Anlagen und Verfahren, die in der Entwicklung und Fertigung von inte­ grierter Mikroelektronik Anwendung« fänden. Doch Krenkel brachte »plötzlich« in dieser Runde das »Ansprechen« von Hartmann seitens westlicher Geheimdienste ins Gespräch. Hartmann verneinte, angesprochen worden zu sein, räumte jedoch ein, alles noch einmal durchdenken zu wollen. Tatsächlich lenkte Krenkel das Gespräch dann auf die Flucht von Barwich. Die Antworten mögen erwartungsgemäß ausgefallen sein, so leicht jedenfalls ließ sich Hartmann nicht provozieren. Er sei jedenfalls »enttäuscht« über die Flucht, »das Vertrauen, was vonseiten des Staates den Wissenschaftlern entgegengebracht« werde, sei »nicht gerechtfertigt worden«. Egal welches Motiv das MfS bewogen haben mag, Platz für fachliche Aspekte im Sinne der Artikulation von Nöten gab es in dem zweistündigen Gespräch durchaus. Hartmann sprach die vielen bürokratischen und technischen Hemmnisse an und meinte, dass es »noch reale Möglichkeiten« gebe, »international Schritt zu halten«. 375  Notiz L 46/64 vom 1.9.1964; ebd., Bd. 12, Bl. 32.

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Und er brachte es auf den Punkt, indem er äußerte, dass er auch auf ein fertiges Institut hätte bestehen können, dann aber wären fünf bis sieben Jahre vergangen, der internationale Anschluss wäre dann absolut verpasst worden. Er habe den anderen, den schwierigen Weg gewählt, es selber zu versuchen. Ferner soll er »sein Missfallen über das Verhalten« von »Krolikowski zum Ausdruck« gebracht haben. Ein Brief an ihn vom 21. August sei bislang nicht beantwortet worden, nicht einmal eine Empfangsbestätigung sei eingegangen.376 Aus einer Abhörmaßnahme zu Hartmann am 29. September erfuhr das MfS, dass er Barwichs Frau – ihr Mann war bereits geflüchtet – in seinem Dienstwagen mit nach Berlin zu nehmen beabsichtigte.377 Er hatte einen Termin am nächsten Tag bei Apel in der SPK. Hierzu existiert die Notiz L 57/64 Hartmanns, worin festgehalten wurde, dass Apel den VWR beauftragt hatte, die Schwierigkeiten in Dresden zu untersuchen. Weiz hingegen sollte zusammen mit Hartmann »eine Analyse der Mikroelektronik« anfertigen, »um drastische Maßnahmen (Umprofi­ lierung oder Schließung von Akademieinstituten), Importe und Lizenznahmen vorzubereiten«. Apel soll »nach wie vor volles Vertrauen« zu ihm, Hartmann, geäußert haben: »Ich verstehe diese Genossen nicht; Sie haben doch Vakutronik aufgebaut.« Als letzten Punkt der Gesprächswiedergabe notierte Hartmann, dass die Behandlung im Forschungsrat frühestens im November stattfinden werde.378 Hanisch zitierte später aus den Unterlagen Hartmanns ein Schreiben an Apel vom 21. Dezember, das Bezug nahm auf diese Unterredung beider am 30. September. Hier wiedergegeben in der Hanisch-Zitation: »Nur unter sehr starkem Druck habe ich mich wider besseres Wissen zur Fixierung eines solchen Arbeitsprogramms, das während seines Entstehens [aus] den oben genannten Gründen bereits unreal war, bereitfinden müssen.« Und weiter: »Dabei muss ich darauf hinweisen, dass anscheinend frühere Versäumnisse der Halbleitertechnik«, welche das waren, sind hier von ihm nicht genannt, »eine wesentliche Rolle spielen«. Ferner: »Heute muss ich feststellen, dass meine Bemühungen außerhalb meines eigenen, naturgemäß sehr beschränkten Wirkungsbereiches wenig erfolgreich waren.« Hierzu kommentierte Hanisch: »Innerhalb auch, die AME war noch nicht einmal arbeitsfähig!« Weiter Hartmann in der Zitation Hanischs: »Durch die schleppende Realisierung bereits der dringend notwendig angesehenen Forderungen ist die Erreichung maximalen Zeitgewinns völlig infrage gestellt und es gibt keinerlei Garantien zur Erreichung der in der Perspektivkonzeption der Elektronik gestellten Ziele.« Ferner: »Aus dieser Sorge um die weitere Entwicklung der Elektronik fühle ich mich verpflichtet, Ihnen in naher Zukunft eine Ausarbeitung über das von mir einigermaßen überschätzbare Gebiet vorzulegen [es ist die Denkschrift]. Dabei werde ich auch unter Auswertung der in den Jahren 1962/64 gemachten Erfahrungen überprüfen müssen, ob der mir 376  BV Dresden, Parteiorganisation, vom 9.10.1964: Bericht über eine Zusammenkunft in der AME am 17.9.1964; ebd., Bd. 16, Bl. 193–195. 377  Vgl. Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 158. 378  Notiz L 57/64 vom 30.9.1964; ebd., Bd. 12, Bl. 36.

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noch gelassene, außerordentlich kleine Spielraum an Vertrauen überhaupt zulässt, weiterhin die Verantwortung für die integrierte Mikroelektronik zu übernehmen.« Hanisch kommentierte: »Hartmann stellt erneut die Vertrauensfrage!«379 Hartmann hatte sich für das Gespräch mit Apel am 30. September Stichpunkte zurechtgelegt. Dies waren vor allem die von ihm geahnte Ablösung: »Parteifeind 1958«; die Einheit von IHT und HWFO von Rompe jahrelang ausgelacht sowie »Elektronik an TU«: »nach Auflösung nun Neubeginn in Dresden und auch KarlMarx-Stadt«. Auch notierte er als Stichpunkt eine Anekdote zur Leitung der Mikro­ elektronik in der DDR, nämlich einen Ausspruch von Chruschtschow: »Sieben Kindermädchen und ein Kind!« Hierzu notierte er sich den Fakt, wonach zu einer Besprechung 19  Teilnehmer anwesend waren, darunter aber nur fünf Fachleute, siehe oben. Auch hatte Rompe eine Spezialistengruppe mit zwölf Aufgaben ins Leben gerufen, die bereits nach zwei Sitzungen wieder aufgelöst worden war. Einen weiteren Aspekt bildeten die unrealistischen Pläne, Böhme habe den Plan schlicht erzwungen. Weitere Stichworte beinhalteten die Misere generell und die Feststellung, dass er nach der Rede Mittags praktisch für »vogelfrei« erklärt worden sei. Ferner notierte er die miserablen Dienstleistungs- und Produktionsbedingungen in der DDR, beispielsweise die Nichtbeherrschung der Epitaxie-Technik bei HWFO, fehlende Fotoschablonen, Justiergeräte u. a. m. Schlussendlich notierte er Gründe für seine Vermutung, abgelöst zu werden. Dafür sprächen u. a. Mittags Auftritt im Forschungsrat und die Tatsache, dass Rompe nicht zu Besprechungen nach Dresden komme. Aber er notierte auch, dass seine wahrscheinliche Ablösung seinen Überlegungen entgegenkomme: »ohne Vertrauen und Möglichkeit der Ausübung der Verantwortung keine Verantwortung tragbar«.380 Hartmann erinnerte sich zwanzig Jahre später, dass Apel »freundlich wie immer« gewesen sei; »von keinem« aber sei »die Angelegenheit im Vorstand des Forschungsrates [das Mittag-Ereignis – d. Verf.] erwähnt« worden.381 Wir wissen es nicht, ob Hartmann die vorbereiteten Stichpunkte teilweise oder in Gänze überhaupt vorgebracht hatte, denn durch die Anwesenheit von Weiz und Grosse war eine andere Situation entstanden. Es spricht dafür, dass Apel das drohende Aus geahnt haben mag. Jedenfalls entschied er, das AME-Vorhaben in die Liste der dringenden Vorhaben ab 1. Januar 1965 aufzunehmen. Und genau das war ein Fortschritt. Hartmann: »Es hat uns etwas geholfen.« Es fehlte ja an allem, nicht nur die substanziell unverzichtbaren Dinge wie Geräte und Materialien, sondern nahezu alle kleinen Dinge. Er erinnerte anekdotenhaft: Die Säuberung der Räume nach Bezug erfolgte durch die eigenen Mitarbeiter, die tagelang schrubbten und wischten. Sein Freund Theo Adam habe ihm ein Scheuermittel aus dem Westen mitgebracht, das die Arbeit 379  Hanisch: Chronik der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden vom 15.8.1975; ebd., Bd. 39, Bl. 172–252. Die handschriftliche Version in: BStU, MfS, BV Dresden, AIM  4885/90, Teil II, Bd. 5, Bl. 80–186, hier 163 f. 380  Hartmann: Stichworte zur Besprechung bei Apel am 30.9.1964; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 12, Bl. 37–40. 381  TSD; Nachlass Hartmann, H 68.

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sehr erleichterte. Devisen hätten wir dafür nie bekommen. Er ließ das Scheuermittel von Kurt Schwabe analysieren, der die Chemikalie feststellte, die die Reinigung bewirkte. So hatte man dann den Stoff unbegrenzt zur Verfügung.382 Keimten im September möglicherweise wieder Hoffnungen auf, dass die SED resp. der Staat endlich begriff, worum es bei der Mikroelektronik eigentlich ging, zerstoben sie im Oktober schon wieder. Dieser Monat verlief höchst unbefriedigend für Hartmann. Seine Dienstreise nach München zur Electronica war abgelehnt worden. Im Widerspruch zu der ihm gegebenen Information fuhr ein Teil der vorgesehenen Delegation dennoch nach München. Allerdings befand sich unter ihnen keiner, der für die Entwicklung der Halbleiter-Technologie prädestiniert oder wenigstens ausgebildet gewesen war. Hartmann kommentierte in seinem »Museum«: »Und mit solchen Methoden glaubte man, Anschluss an die Weltentwicklung zu gewinnen und sogar das Weltniveau, was immer man sich unter diesem Begriff vorstellte, selbst mit bestimmen zu können!«383 Viktor Kroitzsch alias »Geos« drückte es am 6. Juli 1976 einmal ironisch aus, als er meinte, dass die DDR wegen fehlender Vergleichsmöglichkeiten mit dem Westen so etwas wie »eine Art Ostweltniveau« habe.384 Werner Krolikowski besuchte am 30. Oktober die AME. Die Intervention Hartmanns am 17. September mag geholfen haben. Er hatte sich für die Inspektion einen ganzen Tag Zeit genommen. Obgleich man seitens der AME-Belegschaft durchaus mit Kritik wegen den Terminverzögerungen gerechnet hatte, kam diese nicht, sondern lediglich an die Adresse des VWR, Abteilung Elektronik. Er soll dies sehr objektiv getan haben. Es sei problematisch, dass die Abteilung »auf die laufenden Hinweise der AME und des VEB Halbleiterwerkes Frankfurt nicht reagierte und die Zulieferbetriebe für die AME bisher keine Aufträge vom VWR erhielten«. Krolikowski sah den »Schwerpunkt« der Defizite im gewährenden und Dienstleistungssektor, jedenfalls kämen nicht die vereinbarten Lieferungen. Hierzu zählten »die Beauflagung des VEB Carl Zeiss zur Herstellung von Mikromasken, […] die Fertigung von technischen Ausrüstungen durch [den] VEB Elektromat in Zusammenarbeit mit dem Institut v. Ardenne [und dem] VEB Hochvakuum und VEB Keramische Werke Hermsdorf.« Krolikowski: »Durch diese unqualifizierte Arbeit und der damit verbundenen Terminverzögerung mit Kettenreaktion sind die im Ministerratsbeschluss (Elektronikprogramm bis 1979) enthaltenen Termine Traumtermine und könnten nicht gehalten werden, da hierzu die technologischen Voraussetzungen für die AME und das HWFO fehlen.«385 Auch von dieser General­ entlastung nahm später das MfS, in Sonderheit Hanisch und seine Gutachterkollegen, keine Notiz. 382  Ebd., H 68–70. Schwabe (1905–1983) war führender Chemiker in der DDR. 383  Ebd., H 76. 384 BV Potsdam vom 6.7.1976: Berichterstattung von »Geos«; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 3, Bl. 109 f., hier 109. 385 BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 4.11.1964: Werbung; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 50–55, hier 51.

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Zum Stand der Mikroelektronik Ende 1964: Am 3. November befragte die HA XVIII/2/3 – konspirativ im Rahmen des ZOV »Widerstand« – den Werkleiter im Halbleiterwerk Frankfurt / O. zur Situation der Halbleiterindustrie der DDR rückblickend bis auf das Jahr 1959 und zu angrenzenden Themen. Er führte aus, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt einen »sehr großen Rückstand« gegeben habe. Dies sei auf eine absolute Unterschätzung des künftigen Stellenwertes der Halbleiterindustrie zurückzuführen. Es erfolgte quasi nur eine labormäßige Herstellung von Bauelementen (Dioden, Gleichrichter, Transistoren). Der Rückstand könne auf fünf bis sechs Jahre taxiert werden. Mit dem V. Parteitag sei dann eine rasche Entwicklung proklamiert worden, die 1958 in ein Entwicklungsprogramm bis 1965 gemündet sei. Hieraus erfolgte der Aufbau des Halbleiterwerkes in Frankfurt / O. Parallel dazu wurde das Institut für Halbleitertechnik (Falter) gegründet, praktisch als Herausgründung aus dem Werk für Bauelemente und Nachrichtentechnik ­Teltow. Ziel war es, circa 20 Millionen Transistoren und zehn Millionen Gleichrichter bis 1965 herzustellen. Vor allem fehlte für den Aufbau des Halbleiterwerkes eine Zulieferindustrie. Somit wurden teure Importe notwendig (Und hier kam es dann im Rahmen des Imports einer Fertigungsstraße der Fa. LUXRAHM zu erheblichen Problemen.)386 In den Plänen Neue Technik der SPK vom 20. November und des VWR vom 9. Dezember 1964 mit den Staatsplan-Aufgabenkomplexen »Mikroelektronik auf Basis isolierender Träger« (Mikromodultechnik bzw. Dünnschichttechnik) sowie »Integrierte Mikroelektronik« auf Basis halbleitender Träger (Festkörperschaltkreise) waren eindeutige Angaben zu Aufgaben auch zur Dünnschichttechnik gegeben worden, beispielsweise unter dem Teilthema »Halbleiter und Halbisolatoren für Verwendung in aktiven Dünnfilmelementen«. Die MfS-Gutachter behaupteten zehn Jahre später, dass das Gebiet der aktiven Dünnfilmelemente zwar »von hohem wissenschaftlichem Interesse« gewesen sei und dass es »produktionswirksame Ergebnisse« bis dato weltweit noch nicht gab, die »Bearbeitung dieses Gebietes« aber »niemals zulasten des Potenzials für Festkörperschaltkreise« habe »erfolgen dürfen«.387 Endlich konnte ein Meilenstein beim Aufbau der Mikroelektronik-Technologie fixiert werden: Der Antrag Hartmanns für den Bau des Epitaxie-Laborgebäudes erfolgte am 23. November mit Brief an den Generaldirektor VVB. Es handelte sich um die sogenannte »Versuchsfertigung« (VF). Am 6. Dezember trug Hartmann in seinen Tischkalender ein: »ab jetzt Besuch bei Dr. Mittag verabreden«.388 Noch im selben Monat musste er konstatieren, dass die AME bislang immer noch nicht in die Liste volkswirtschaftlich dringender Vorhaben eingeordnet worden war.389 »Bis 386  Vgl. HA XVIII/2/3 vom 6.11.1964: Befragung am 3.11.1964; BStU, MfS, AOP 1902/67, TV 7, Bd. 1, Bl. 142–178, hier 142–144 u. 146. 387  Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, hier 29 f. 388  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 58. 389  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 18.

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Abb. 23: Selten einig in der Frage der Entwicklung der DDR-Mikroelektronik: Rudolf Heinze, Heinz Fuhrmann sowie Werner Hartmann und Siegfried Pfüller, beide AMD (v. l. n. r)

Ende 1964 wurde unser Um-/Ausbau nicht in die Liste volkswirtschaftlich dringender Objekte aufgenommen, dies erfolgte erst ab dem 1. Januar 1965.« Überhaupt erfolgte bis Ende 1963 nicht einmal eine Unterstützung durch zentrale Organe.390 Die AME zählte Ende des Jahres nunmehr 210 Mitarbeiter. Am 25. Dezember schrieb Hartmann an einen Westberliner, dass ihm seit August 1961 Reisen in den Westen praktisch verboten seien. Zwar sei er noch im Juli aus dienstlichen Gründen am Rhein gewesen, doch eine Reise im Oktober nach München zu einer Mikroelektronik-Veranstaltung sei »verboten« worden. »Es ist zum Verzweifeln.«391 Am 1. Januar 1965 wurde die AME direkt der VVB BuV unterstellt. Die Ära des Volkswirtschaftsrates (VWR) war zu Ende. Dem feierlichen Akt wohnten u. a. der Parteiorganisator des ZK, Paul Weiss, Generaldirektor Rudolf Heinze und der Direktor für Forschung und Entwicklung Heinz Fuhrmann bei. Heinze, so Hartmann später, sei zwar Gesellschaftswissenschaftler, besitze jedoch »ein erstaunliches Gefühl für technische Dinge«.392 390  TSD; Nachlass Hartmann, H 48. 391  BV Dresden, Abt. XVIII/4, vom 20.3.1968: Zum OV »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 31, Bl. 1. 392  TSD; Nachlass Hartmann, H 80.

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Hartmann hatte sich um die Jahreswende 1964/65 zu einer Denkschrift über die integrierte Mikroelektronik in der DDR entschieden. Er verschickte sie an ausgesuchte Persönlichkeiten. Hierin war auch der Vorschlag enthalten, die Halbleitertechnologie, die bislang an weit verstreuten Orten bearbeitet wurde, unter »eine gemeinsame Leitung« zu bringen. Später musste er konstatieren, dass seine Vorschläge »nicht durchgeführt« worden waren.393 Die dargestellte Lage der Mikroelektronik am Standort der AME in der 53-seitigen Denkschrift vom 4. Januar 1965 ist eine radikale Bestandsaufnahme.394 In ihr beleuchtete er auch volkswirtschaftliche, wissenschaftspolitische und betriebswirtschaftliche Faktoren. Der Anlass der Schrift wurzelte in der – durch mangelnden Sachverstand ver­ antwortlicher Funktionäre in übergeordneten Organen einschließlich der SED sowie Staatsbürokratie beförderten  – Ineffektivität des Aufbaus der AME. Auch 1965 sei, so Hartmann, zu befürchten, dass die AME »mit vielerlei Aufgaben wie Berichten, Zusammenstellungen, Programmen u. Ä. durch verschiedene Institutio­ nen beauflagt« werde, »die einen sehr hohen Aufwand« erforderten »und von der eigentlichen Arbeit zur Erfüllung der Planaufgaben« abhielten, »andererseits nur einen äußerst geringen, meist sogar überhaupt keinen Nutzen für AME und die Mikroelektronik insgesamt« bewirkten. Hartmann schien resigniert zu haben, wenn er schrieb: »Infolge der angespannten Situation auf dem Gebiet der Halbleitertechnik und integrierten Mikroelektronik bin ich nicht mehr in der Lage, weiterhin dafür die Verantwortung zu tragen.« Er ahnte die Folgen: »Denn in nicht sehr ferner Zukunft werden ich und die AME mit vollem Recht nach Ergebnissen gefragt; wenn ich erst dann auf Arbeitsstörungen und verspätete oder fehlende Entscheidungen der Vergangenheit hinweise, wird dies mit vollem Recht niemals als Begründung oder Entschuldigung für die Nichterfüllung unserer Aufgaben anerkannt werden.« Er beklagte die völlig unzureichende Zur-Kenntnisnahme der »vorgelegten Analysen, Berichte, Vorschläge«, hätte man sie gelesen, so Hartmann sinngemäß, hätten sich die mitgebrachten Dokumente von der »Electronica« aus München erübrigt. Er selbst durfte nicht mitreisen. Er nannte zwar keine Personen, betonte aber die Skepsis seitens der Funktionäre deutlich: »Sicher ist es nicht immer sehr einfach, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen der von einem Leiter übernommenen Verantwortung und der ihm zugebilligten und anvertrauten Vollmacht und Selbstständigkeit zu finden. Aber es muss vorhanden sein, denn eines ohne das andere ist ein lebensunfähiges Paradoxon: Verantwortung kann nur getragen werden, wenn auch Vertrauen gewährt wird [siehe hierzu ausführlich Kap. 3.6]. Selbstverständlich rede ich hiermit nicht einer diktatorischen Machtfülle und dem Einzelgängertum eines schlechten Managers das Wort.« Die Berechtigung zur Kritik 393  Ebd., H 78. Auch in dem Konvolut des OV »Molekül« enthalten: Notiz L 1/65 – Ha / L a – vom 4.1.1965: Integrierte Mikroelektronik in der DDR – und über die Arbeitsstelle für Molekularelektronik, Dresden; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 8, Bl. 151–203. 394  Vgl. Notiz L 1/65 – Ha / L a vom 4.1.1965; TSD; Nachlass Hartmann, H 78, S. 1–53. Folgend Denkschrift vom 4.1.1965 genannt sowie BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 39, Bl. 116–145.

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entnehme er dem DDR-Anspruch an seine Bürger, »mitzuarbeiten, mitzuplanen und mitzuregieren«.395 Er gab den Adressaten sodann einen Überblick über die Entwicklung der Mikrominiaturisierung der Elektronik auf insgesamt elf Schreibmaschinenseiten. Wichtig zum Verstehen späterer Vorwürfe durch das MfS ist folgender Passus über die Unentscheidbarkeit eines künftigen, dominanten Weges in der Mikroelektronik: »Heute abzuwägen, welche Domänen der Elektronik die eine oder andere Methode [Halbleiterblockschaltungen oder Dünnfilmschaltungen – d. Verf.] oder auch ihre Hybridvarianten einmal beherrschen werden, ist unmöglich. Die Entwicklung auf diesem Gebiet hat ein solches Tempo erreicht, dass im wahrsten Sinne des Wortes morgen nicht mehr zu gelten braucht, was heute als völlig gesicherte Vorausschau angesehen wird.« Der Trend gehe jedoch in Richtung einer Verwendung Integrierter Schaltungen. Jedenfalls habe sich die Industrie darauf beizeiten mit einer Umstrukturierung vorzubereiten. »Mit dem Aufkommen der integrierten Mikroelektronik« würden »sich alle« Beziehungen »grundlegend« ändern. Viele physikalische Fachrichtungen würden gezwungen, miteinander zu kooperieren. Darüber hinaus würden aus Lehre und Forschung »weitreichende Folgerungen« abzuleiten sein. Bei alldem »ist keine Zeit zu verlieren«.396 Hartmann rekapitulierte die Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR auf vier Schreibmaschinenseiten. Die erste oft gestellte Frage nicht nur in Funktionärs­ kreisen, ob sich auch die DDR mit der Mikroelektronik beschäftigen müsse, beantwortete er mit einem klaren Ja: »kein moderner Industriestaat« könne »auf die vielseitigen Hilfen durch die Elektronik verzichten«. Hartmann beschrieb, was nottat: reger, auch internationaler Informationsaustausch, Grundlagenforschung, spezialisierte und hochleistungsfähige Zulieferindustrie. Nur so könnten »in eigener Verantwortlichkeit Werkstoffe höchster Reinheit, Anlagen und Messgeräte« entwickelt werden. Sodann erörterte er den einzuschlagenden Weg für die DDR und plädierte zur Fortführung und Unterstützung der im VEB Keramische Werke Hermsdorf angewandten Dünnfilm-Hybridtechnik »als erste Form integrierter mikroelektronischer Schaltungen in der DDR«.397 Aufgrund der Unentschiedenheit in der Welt über den möglicherweise einzig richtungsbestimmenden Weg empfahl Hartmann wie bislang eingeführt: »physikalisch-technologischen Arbeiten auf dem Gebiet monokristalliner wie polykristalliner Halbleiter, dünner Schichten von Metallen, Halbleitern und Isolatoren sowie der Integration mit ihrer Hilfe hergestellter aktiver und passiver Bauelemente«.398 Schaut man in die einschlägige wissenschaftliche Literatur der DDR, findet man relativ rasch, dass einige Wissenschaftler wie Walter Heinze, Direktor des Instituts für Elektronik der TU Ilmenau, sich mit der Natur monokristalliner und poly395  Denkschrift vom 4.1.1965; TSD; Nachlass Hartmann, H 78, S. 1–53, hier 2 f. 396  Ebd., S. 12–14. 397  Ebd., S. 16–8. 398  Ebd., S. 19.

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kristalliner Halbleiter beschäftigten.399 Gegen eine »endgültige Konzipierung der zweiten Form der angewandten integrierten Mikroelektronik in der DDR« wandte sich Hartmann in der Denkschrift mehrfach, sodass allein aufgrund dieser Schrift vermutet werden kann, dass er unter Druck gesetzt wurde, sich für nur einen Weg zu entscheiden. Hartmann plädierte dafür, solange offen zu bleiben, bis die Forschungen beendet seien; Hartmann: Wer will denn schon »heute wissen, ob dies konsequente Dünnfilmschaltungen, Halbleiterblockschaltungen, Hybridvarianten oder etwas ganz Neues, heute noch Unbekanntes sein werden? Ich bin der Meinung, dass eine zu starre Bindung der Perspektivplankonzeption an die aus heutiger Sicht erkennbare Entwicklung gefährlich werden und die Bildung eines empfindlichen Reaktionsvermögens behindern kann.« Er plädierte nachdrücklich für die Verschiebung der Planung der Fertigungsmittel, da ein Festhalten am üblichen Planungsgebaren »in untragbarem Maße die Anpassung an neue Entwicklungen auf dem Weltmarkt« verhindere. »Beweglichkeit« werde benötigt. Er zeigte sich überzeugt, »dass nur bei Beschreiten dieses Weges überhaupt eine Aufholung des Rückstandes auf dem Gebiet der integrierten Mikroelektronik in nicht zu langer Zeit durchführbar sein« werde. Hartmann erläuterte die Planartechnologie und stellte fest, »dass erst eine volle Beherrschung der hier kurz angedeuteten Verfahren gestattet, Planarbauelemente, also Planartransistoren und Planardioden zu fertigen. Die führenden ausländischen Firmen« hätten »dieses Stadium vor Jahren« bereits »erreicht«. Jedoch sei »das Erlernen der Planartechnologie ein zeitraubender und kostspieliger Prozess« und deshalb würden »die großen Halbleiterfirmen den Weg der Lizenznahme« beschreiten.400 Er prognostizierte, dass die Entwicklung der ersten Typen von Siliziumplanartransistoren 1965 abgeschlossen werden könne, Subminiaturtransistoren für die Dünnfilmhybridtechnik 1967. Folglich werde man Erfahrungen in der Massenfertigung von Subminiaturtransistoren auf Siliziumbasis frühestens Ende 1968 besitzen. Zur Epitaxietechnik führte er aus, dass diese Technik in der DDR noch nicht entwickelt sei. International seien bereits »große Erfahrungen« in der Massenfertigung von solchen Transistoren gesammelt worden.401 Tatsächlich hatte Hartmann der Epitaxietechnik wenig Raum gewidmet. Das hatte seinen Grund in der eklatant fehlenden Zulieferindustrie. Dies bezeichnete auch den großen Unterschied zur westlichen Welt. So lieferten in den USA circa 300 Firmen allein die feinmechanisch-optischen Komponenten für die Halbleitertechnik. Die Siliziumherstellung, sozusagen das Rohmaterial der Mikroelektronik schlechthin, sollte frühestens erst ab 1970 »in jeder gewünschten geometrischen Form und Dotierung« lieferbar sein. Auch sogenannte Reinstchemikalien waren nicht vorhanden, immerhin stand eine bereits anerkannte Forderung an die chemi399  Vgl. Heinze, Walter: Über den Einfluss und die Entstehung von Kristallstrukturfehlern in Halbleiterbauelementen, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Elektrotechnik Ilmenau, 9(1963)3, S. 327–338. 400  Denkschrift vom 4.1.1965; TSD; Nachlass Hartmann, H 78, S. 1–53, hier 19–21. 401  Ebd., S. 21.

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sche Industrie im Raum, diese ab 1965/66 bereitzustellen. Auch die Liefermöglichkeiten von Vakuumanlagen und Vakuummessgeräten waren völlig unzureichend, zumal deren Qualität und Quantität äußerst mangelhaft waren. Damit sei der Zwang gegeben, so Hartmann, den Weg der unrentablen Eigenentwicklung zu gehen. Die absolut wichtigen Diffusionsanlagen gab es in der DDR-Produktion nicht. Der VEB Elektromat Dresden arbeite an der Entwicklung »von Öfen mit einer Temperaturkonstanz von +/− 1 Grad. Das gleiche Bild herrschte auf den Gebieten Fotoschablonen, feinmechanisch-optische Hilfseinrichtungen und Mikromanipulatoren vor. Hierzu gab es in der DDR »nur geringe Vorarbeiten«. Solche Geräte könnten, so Hartmann, auf keinen Fall in der AME in Eigenproduktion hergestellt werden, sondern müssten von einem in diesen Fragen hochqualifizierten Betrieb wahrgenommen werden, also vom VEB Carl Zeiss Jena. Seit 1963 liefen hierzu Bemühungen. Zwar existierten auf der Arbeitsebene Kontakte, doch die Werkleitung von Zeiss Jena sei nicht bereit zur Entwicklung. Die Ablehnung, so Hartmann, sei volkswirtschaftlich gesehen, »sehr gravierend«. Auch Reinsträume standen nicht zur Verfügung. Immerhin liefen Entwicklungsarbeiten bei VEB Elektromat Dresden.402 Den Ausweg aus dieser Lage sah er nur »durch die weitgehende Spezialisierung einer modernen wissenschaftlich fundierten Industrie«. Die folgenden Worte konnten nicht besser gefunden werden zu einem Umstand, der bis 1989 den Betrieben und Instituten permanent Kopfschmerzen verursachte; Hartmann: »Jeder noch so gut gemeinte Versuch eines Betriebes, sich auf einem ihm artfremden Gebiet der Zulieferungen selbst zu helfen, muss verurteilt werden, da er nur zur Senkung der mittleren Arbeitsproduktivität und damit zu Verlusten für die Volkswirtschaft führen kann.« Es sei »ein Fehler, dass das Institut für Halbleitertechnik (IHT), Teltow, überhaupt jemals begonnen hat, sich mit der Herstellung von Germanium- und Siliziumeinkristallen zu beschäftigen. Diese Aufgabe gehörte schon immer in den Bereich der NE-Metallurgie.« Teltow mit 800 Beschäftigten habe nur »die kleine Zahl von ca. 20 bis 30  Mitarbeitern«, die sich mit der »grundlegend wichtigen Planar-Epitaxie-Technologie« beschäftigten. Es müsse, »falls der Grundsatz der ökonomisch sinnvollen, hochgradigen Spezialisierung der Industrie als Richtschnur« gelte, »illusionslos die Forderungen der Halbleitertechnik und integrierten Mikroelektronik zusammengestellt und geprüft werden«. Zwar seien »mehrfach staatliche Organe und andere Gremien« mit dieser Problematik konfrontiert worden, »eine echte Klärung und Gesundung« sei aber bislang nicht geschehen.403 Hartmann versuchte – übrigens zwölf Monate vor dem Beginn einer neuerlichen operativen Bearbeitung des MfS gegen ihn wegen Verdachtes der Sabotage – diese Passivität der Verantwortlichen und Entscheider zu verstehen: »Aus der Beobachtung dieser unbefriedigenden Abwicklung kann nur der Schluss gezogen werden, dass es fast unüberwindbare Schwierigkeiten hervorruft, diese Aufgaben in der Industrie der DDR zu lösen, ohne gleichzeitig andere für die Volkswirtschaft wichtigere Planziele 402  Ebd., S. 22–26. 403  Ebd., S. 26 f.

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zu vernachlässigen oder zu schädigen. Ich muss aus meiner Sicht eine so eindeutige Formulierung wählen, denn anders bleibt mir das zögernde Vorgehen unverständlich. Die echte und endgültige Bilanzierung der zur Verfügung stehenden Kapazität muss jedoch nunmehr ohne den geringsten Zeitverzug durchgeführt, entschieden und mit aller Härte in die Tat umgesetzt werden. Damit ist die Frage: ›Kann die DDR die integrierte Mikroelektronik innerhalb ihrer eigenen Wirtschaft mit vernünftigem Aufwand und zum notwendigen Termin entwickeln und produzieren?‹ ein für allemal zu beantworten. Bevor dies nicht verbindlich geschehen ist, bleibt jedes Perspektivplanziel der integrierten Mikroelektronik ein Phantom und lässt die Ausarbeitung detailliert terminierter Arbeitsprogramme, die wiederum nur durch viele Forderungstermine ohne reale Erfüllungsmöglichkeiten charakterisiert wären, als überflüssige und unproduktive Beschäftigung erscheinen.«404 Dies sind Forderungen und Schlussfolgerungen, die an Rudolf Bahro erinnern. Doch Hartmann greift weiter, wird prinzipieller, wenn er schrieb, dass seine Ausführungen »unter der Annahme eines in sich geschlossenen, quasiautarken Wirtschaftskörpers der DDR« getroffen seien. Man müsse aber auch den Blick auf die Kooperation der sozialistischen Länder werfen, und da sei es bislang zu einer echten Arbeitsteilung noch nicht gekommen. Zum Import technologischer Ausrüstungen aus dem Westen vertrat er die Position, dass dies nur für den »Start der Zulieferindustrie« in Betracht käme, »von da ab« müsse »eigenverantwortlich« gearbeitet werden.405 Das war weniger ein Ethos denn ein Muss aus den Gesetzen des Faches heraus: zwingend müsse die Technologie selbst beherrscht werden. Hartmann ging sodann auf die Notwendigkeit seiner Wissenschaftlich-industriellen Betriebe (WIB) ein, als eines Ergebnisses aus den Diskussionen mit Apel, die er 1959/60 begonnen und für den VEB Vakutronik erstumgesetzt habe. Solche Spezialbetriebe würden sich seines Erachtens nach »nur unter Beachtung der gesamtvolkswirtschaftlichen Rentabilität anstelle der betrieblichen Rentabilität« rechnen: »Wenn ein bestimmtes Produkt dringend benötigt wird, aber nicht importiert werden könne, sei seine Entwicklung und Fertigung in einem Spezial­ betrieb selbst zu einem höheren als dem Weltmarktpreis immer ökonomischer und insgesamt billiger als der Eigenbau beim Anwender.«406 Er erläuterte die Aufgaben und die Arbeitsweise der AME ausgehend von der Aufgabe der Entwicklung der Halbleiterblocktechnik. Seine Konzeption für den inneren Aufbau der Arbeitsstelle litt und leide weiterhin am Fachkräftemangel. Fachkräfte aus dem Institut für Halbleitertechnik (IHT), VEB Halbleiterwerk Frankfurt / O. und VEB Werk für Fernsehelektronik (WF) Berlin konnten wegen Wohnraummangel in Dresden »kaum gewonnen werden«. Von daher erfolgte der Rückgriff »im Wesentlichen« auf »Absolventen und Assistenten mit einer guten Allgemeinbildung«, da eine moderne Ausbildung in der Mikroelektronik bislang nicht erfolge. Auch galt, was für einen 404  Ebd., S. 28. 405  Ebd., S. 28 f. 406  Ebd., S. 30 f. sowie ebd., G 127–135.

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Industrie-Physiker unzumutbar war, dass die »größte Zahl« seiner Mitarbeiter »noch nie an einer industriellen Entwicklungsaufgabe mitgewirkt!« habe. Eine gewisse Lösung sah er darin, Mitarbeiter zu kurzen bis zu mehreren Wochen dauernden Praktika in relevante Betriebe und Institute zu schicken. Das war in der DDR zumindest zu dieser Zeit recht ungewöhnlich. Hartmann bezeichnete diese Periode als »Erlernen des Handwerks«. Etwa 75 Prozent der personellen Kapazität setzte er zur »Erlernung des Handwerks« ein, also zur Beherrschung der Planartechnologie.407 Ferner ging er auf den Vorwurf ein, zu große Kapazitäten für den Ausbau der Forschung, gebilligt von Apel 1963, verwandt zu haben. Dieser Vorwurf, so Hartmann, sei »völlig unberechtigt, wenn man an die große erst im Entstehen begriffene Bedeutung der Festkörperphysik und -elektronik glaubt und Elektronik grundsätzlich als Schwerpunkt anerkannt bleibt«. Auch dieser Vorwurf ist absurd, die Forschungsbereiche hätten sogar erheblich erweitert werden müssen. Was nötig ist, so Hartmann, sei die Anerkennung des neuen Weges und dafür benötige man auch die »Gelegenheit zu ungestörter Arbeit«. Er wusste, dass die SED nicht umlernen würde. Auf ihn und seinesgleichen wie Thiessen höre man nicht, Thiessen hatte einst gesagt, dass ein wissenschaftliches Institut nach der Arbeitsaufnahme etwa fünf Jahre brauche, bis überhaupt Erfolge kämen.408 Hartmann erinnerte in der Denkschrift, dass im Januar 1963 »auf dem VI. Parteitag der SED auf die maximale Förderung der Molekularelektronik verwiesen worden« ist, worauf der Ministerrat den Beschluss fasste, »AME bis Ende 1963 arbeitsfähig zu machen. Die Abteilung Elektrotechnik der SPK legte daraufhin in der Direktive für 1964 fest, dass ›AME die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten konzentriert mit dem Ziel weiterzuführen habe, ab 1965 die Laborfertigung von Funktionsblöcken der Molekularelektronik aufzunehmen.‹ Außerdem wurden diese Plandirektiven in der Presse veröffentlicht. – Der Leiter von AME hatte vorher, aber leider erfolglos, auf die durch derartige Formulierungen hervorgerufene ungewollte Fehlorientierung aufmerksam gemacht. Denn als diese Beschlüsse im September 1963 gefasst wurden, versuchte der Leiter von AME immer noch ergebnislos, die zum Aufbau von AME notwendige Unterstützung zu gewinnen.«409 Hartmann hatte im Grunde genommen lange Zeit nur einen Kleinbetrieb zur Verfügung. Forschung und Entwicklung in kleinen Einheiten mit beschränkten Faktoreneinsatz zu betreiben, war mehr als nur problematisch. Darauf verweist auch Klaus Brockhoff, zumindest wenn nicht eine Arbeitsteilung zwischen Kleinund Großbetrieben möglich ist.410 Und genau dies war nicht der Fall, Hartmann bekam kaum Unterstützung von anderen Betrieben, und wenn doch, dann stets zeitverzögernd. Statt sich um Forschung und Entwicklung verstärkt kümmern zu können, verbrauchte er unverantwortlich viel Zeit für die Planarbeit. Er sah sich 407  Ebd., S. 34 f. 408  Ebd., S. 35 f. 409  Ebd., S. 37. 410  Brockhoff: Forschung und Entwicklung, S. 62 f.

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genötigt, klarzustellen, dass es nicht jene natürliche Planarbeit sei, die er kritisiere, sondern die leere, statistische und produktionsmengendominierte der SED; »dass es nicht zutrifft und nie zutraf, dass« er sich »weigerte, einen Plan oder ein Arbeitsprogramm aufzustellen. Für jeden naturwissenschaftlich-technisch Tätigen ist dies eine fast automatisch wirksame Selbstverständlichkeit.« Er räumte zwar unterschiedliche Auffassungen »bezüglich der detaillierten Terminierung« des Programms ein, glaubte sich aber verteidigen zu müssen: »Aber, und darüber bin ich selbst sehr froh, ich habe nie die Fähigkeit realistischer Einschätzungen verloren. Sicherlich ist ein nüchterner, illusionslos denkender Partner häufig sehr unbequem und vielleicht sogar lästig. Sicherlich auch wird ein Realist sehr leicht als Pessimist, reaktionär u. a. klassifiziert und er erschwert sich dadurch seine Arbeit und Stellung. Aber meine Erfahrungen haben immer wieder bestätigt, dass letzten Endes doch die den Ge­gebenheiten tatsächlich Rechnung tragende Beurteilung der wirklichen Entwicklung am nächsten kommt.«411 Aber was war die Realität in der DDR? Doch dies: Kaum war das nachgebesserte Arbeitsprogramm durch den Wissenschaftlich-Technischen Rat für die Halbleitertechnik bestätigt, war der Plan wegen Bauverzögerungen (»Abzug von Bauarbeitern infolge Fehlens einer Dringlichkeit, Schwierigkeiten in der Materialbereitstellung« und in »der Gewinnung von Mitarbeitern«) wieder Makulatur. Nach dem Plan hätte der Beginn der Laborfertigung im zweiten Quartal 1967 erfolgen sollen. Diese Zusammenhänge waren, darauf wies Hartmann den Forschungsrat seit Ende September hin, bekannt. In der Zusammenfassung all dieser Dinge warf Hartmann den Funktionären ein Verhalten vor, dass das MfS später einfach auf ihn, ummünzen wird; Hartmann: »Werden Pläne mit detaillierter Terminierung zu einem früheren Zeitpunkt formuliert und in die Plandokumente aufgenommen, so entsteht daraus zwangsläufig, wenn natürlich auch ungewollt, eine Irreführung höherer Dienststellen von Partei und Regierung und infolge der großen Komplexität des Volkswirtschaftsplans und der durch ihn bewirkten Vermaschung aller Industriezweige eine unübersehbare Kettenreaktion von Planfehlern, die sehr gefährliche Auswirkungen haben können.« Er könne nicht anders als vermuten, dass der Rückstand in der Mikroelektronik darin begründet liege, dass die »auf diesem Gebiet verantwortlichen Leiter zu wenig Realismus in der Einschätzung der Situation gelten ließen«. Er jedenfalls sehne sich nach dreieinhalb Jahren vergeblichen Bemühens nach dem Zeitpunkt, »an dem die letzte Festlegung getroffen wird, nach dem nur noch einige Sitzungen des Technischen Rats« höchstens »stattfinden« würden.412 Folgend rekapitulierte Hartmann die Gründungsgeschichte der AME und verwies auf ein Kompendium von Dokumenten, bestehend aus 112 Schriftstücken über Gründung und Aufbau sowie 74 Schriftstücken über die Freimachung des »jetzigen Laborgebäudes«, das auf Anforderung des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro des ZK der SED zusammengestellt worden war. Diese Daten sind oben 411  Denkschrift vom 4.1.1965; TSD; Nachlass Hartmann, H 78, S. 1–53, hier 37 f. 412  Ebd., S. 38–40.

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chronologisch dargestellt, hier nur dies: Nach Aufenthalten in anderen Häusern wurde der AME am 1. März 1963 das Haus 137 der ehemaligen Luftkriegsschule Dresden-Klotzsche zugewiesen. Hartmann definierte dieses Datum als den Beginn der »tatsächlichen« Arbeitsaufnahme. Allerdings habe die AME nicht alle Räume des Hauses nutzen dürfen, da ein Großteil von anderen Institutionen besetzt gewesen sei. Der endgültige Freizug erfolgte am 1. Januar 1964. Das Haus 137 war weiland Offizierskasino und enthielt demzufolge »keinerlei Installationen außer Beleuchtung und an einigen Stellen Zu- und Abwasser«. Umbauten wurden unter Zuhilfenahme des größten Teils der eigenen wissenschaftlich-technischen Kader realisiert. Dies bedeutete »einen sehr hohen Zeitaufwand«. Erst durch Intervention bei Apel erfolgte eine Beschleunigung der Umbauarbeiten und Installationen. Wegen der Umbauarbeiten mussten jedoch »über 70 Prozent der Mitarbeiter« ab dem 13. Januar 1964 »ausgelagert werden«. Experimentelle Untersuchungen konnten demzufolge nur sehr beschränkt weitergeführt werden. Die Notlage war derart manifest, dass eigens hierfür eine sogenannte gleitende Projektierung erfunden wurde. Eine Arbeitsweise, die auf eine dynamische Art und Weise Umbauten, Installationen und Experimentalstufen miteinander – nicht zuletzt personell – zu verzahnen versuchte. Die Mitarbeiter fragten natürlich: »Warum müssen wir einen so großen Anteil an Projektierung, Überwachung, Verhandlungen usw. übernehmen? Unsere Kenntnisse und Aufgaben liegen doch auf ganz anderen Gebieten.« Letztendlich aber hätten sich seine Mitarbeiter den berufsfremden Belastungen »mit Begeisterung und Einsatzbereitschaft« unterworfen. Offenbar ging Hartmann hier indirekt auf den Eklat mit Mittag am 9. Juli 1964 ein, wenn er schrieb: »Es sind keine Menschen, die dafür eine besondere Belobigung erwarten, sie verwahren sich allerdings gegen eine Missachtung ihrer Anstrengungen und haben keinerlei Verständnis dafür, wenn man ihnen Verantwortungslosigkeit vorwirft. Es ist sehr zu bedauern, dass Kritiker keine Gelegenheit genommen haben, sich an Ort und Stelle mit den Bedingungen vertraut zu machen und mit den Mitarbeitern von AME selbst zu sprechen.«413 Sollte Mittag die Denkschrift auf seinen Tisch bekommen haben, und das gilt als sicher, da Hartmann sie ihm schickte, ist auch wahrscheinlich, dass sein Abschuss programmiert war. Denn Hartmanns Wut war wortgeronnen: »Wir sind der Meinung, dass trotz allem vom Zeitpunkt der ersten Besichtigung des Gebäudes Nr. 137 am 1. März 1963 an bis zum heutigen Tage, in 22 Monaten, durch den enthusiastischen Einsatz der Mitarbeiter von AME ein sehr kompliziertes Investitionsobjekt sehr schnell vorangetrieben wurde und hervorragende Leistungen festgestellt werden können. Dabei ist zu beachten, dass bis zum Dezember 1963 die gesamte Tätigkeit ohne Unterstützung durch zentrale Organe durchgeführt werden musste.« Bis Ende 1964 sei AME nicht in die Liste volkswirtschaftlich dringender Vorhaben aufgenommen worden. Erst ab 1. Januar 1965 sei diese Frage »zufriedenstellend geregelt worden. Durch diese Unterlassung ist ein großer zeitlicher Verzug eingetreten: immer wieder wurden Arbeitskräfte des Bauhaupt- und 413  Ebd., S. 41–44.

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Baunebengewerbes abgezogen, in ca. 90  Prozent der Fälle der Beschaffung der Baumaterialien für das Baunebengewerbe mussten und müssen sich Mitarbeiter von AME einschalten, um die auftretenden Forderungen zu realisieren. Da dieses Verfahren zwar operativ, aber ungesetzlich ist, stellte die Investitionsbank einen Antrag auf Bestrafung, der erst nach Verhandlungen mit zentralen Stellen gelöscht wurde.« Übereinstimmung herrsche mit der BPO und der BGL sowie den Abteilungsleitern darin, dass der eigentliche Beginn der experimentellen Arbeiten ab dem 1. Juli 1965 erfolgen könne. Die Personalausstattung per Januar 1965 lag bei 210 Beschäftigten; davon 73 mit Hochschulausbildung, 17 promoviert, zwei habilitiert, 29 Fachschul­ ingenieure, 39 Techniker, Laboranten und Zeichner sowie 23 Facharbeiter. Bis Ende 1965 werde der Personalbestand auf 300 Mitarbeiter anwachsen, dann würde man über 78 Hochschulkräfte, 54 Fachschulkräfte und 68 Laborhilfskräfte verfügen. Hartmann wies nochmals auf den beschränkten Arbeitsmarkt und die mangelhafte Wohnsituation hin.414 Im letzten, den 9. Punkt, resümierte er über seine Stellung als Leiter. Rompe habe ihn im März 1960 gebeten, eine Arbeitsstelle für Molekularelektronik aufzubauen. Nach reiflicher Überlegung habe er zugesagt. Aufgrund der Bedeutung der Mikroelektronik habe er geglaubt, von den zuständigen zentralen Stellen unterstützt zu werden. »Leider wurden meine Erwartungen völlig enttäuscht.« Nochmals umriss er die fehlende Anerkennung und Unterstützung und erwähnte lediglich Apel positiv. Er stelle mit »Erstaunen« fest, dass seit den ersten Erfolgen »seit Mai 1964« seine »Arbeit insgesamt einer außerordentlich scharfen Kritik unterworfen« sei und ihm »direkt und indirekt das Misstrauen ausgesprochen« werde. Was geschah im ersten Quartal 1964, fragt Hartmann und führte drei Begebenheiten auf: 1. Der Forschungsrat verpflichtete am 9. Juli 1964 Rompe als Vorsitzenden des Wissenschaftlich-Technischen Rates für die Halbleitertechnik »eine Kommission zu bilden, ›die die Tätigkeit der AME laufend zu prüfen‹« habe; Hartmann: »Eine solche Kontrolle ist mir bisher von keiner anderen Institution bekannt geworden.« 2. Die Rücknahme seiner Reiseerlaubnis für den Besuch der »Electronica« in München. Unter jenen, die fahren durften, waren keine Mitarbeiter »der für die Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR verantwortlichen Institutionen! Gegen eine solche Behandlung muss ich protestieren. Ich lege nach wie vor größten Wert darauf, von kompetenter Seite Aufklärung zu erfahren. Ich halte es ferner für völlig untragbar und nicht miteinander vereinbar, mir einerseits die Verantwortung für den äußeren Aufbau der AME und für die Durchführung der wissenschaftlich-technischen Arbeiten zu übertragen, andererseits aber die Teilnahme an Fachveranstaltungen zu verbieten. Es handelt sich dabei ausschließlich um eine Vertrauensfrage.«415 Zum Schluss forderte er mit »Nachdruck« dazu auf, dass seine »Stellung und damit« seine »weitere Tätigkeit ohne Verzug eindeutig geklärt« werde: »In dem äußerst geringen, mir zurzeit noch gelassenen Spielraum an Vertrauen sehe ich kaum noch Möglich414  Ebd., S. 44–46. 415  Ebd., S. 49–52.

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keiten, die Verantwortung für das Komplexthema: ›Integrierte Mikroelektronik‹ zu tragen.«416 [Ende der Denkschrift in kommentierten Auszügen] Weiz besuchte noch im Januar 1965 die AME. Er stellte Hartmann die Frage, ob »die Elektronik in der DDR nicht eine zweite Flugzeugindustrie« werde. In den 1950er-Jahren waren einige Milliarden Mark in die Flugzeugwerft investiert worden, so Hartmann, doch nach dem Absturz der ersten Maschine in der Nähe von Weixdorf völlig annulliert worden (Kap. 4.3.2). »Die Frage von Dr. Weiz machte mir«, so Hartmann, »die Schwierigkeiten, die Dr. Apel hatte, die Elektronik adäquat zu unterstützen und aufzubauen, schlagartig deutlich.«417 Aus einer Postkontrolle erfuhr das MfS am 6. Februar 1965, dass Hartmann einem westdeutschen Fachkollegen mitgeteilt habe, dass seine Arbeit »ungeheuer erschwert« sei und er »jeden Tag zwischen Kündigung und neuen Schwung« schwanke, außerdem mache ihn die »tötende Absperrung von der anderen Welt« zu schaffen.418 Obgleich er am 12. Februar die Zustimmung des Generaldirektors VVB zu seinem Vorschlag vom 23. November 1964 für den Bau des Laborgebäudes erhalten hatte,419 besserte sich seine Stimmung nicht. Am 19. Februar unterrichtete Hanisch das MfS, dass Hartmann sich mit dem Gedanken trage, die Leitung abzugeben. Er habe dies Apel und Mittag mitgeteilt.420 Das bezog sich jedoch auf die Denkschrift. Seit der Jahreswende 1964/65 hatte Hartmann alle Daten zur Verfügung, die normalerweise reichen, um dem Leben eine Kehre zu geben. Auch eine Korrespondenz mit seinem Kollegen Kaluza vom 24. März bis 6. Juni 1965 zeigt, dass er nah an einer Kehrtwende gewesen sein muss. Kaluzza war zu dieser Zeit in Bad Liebenstein zur Kur und traf dort mit Günter Mittag, Otfried Steger (weiland Abteilungsleiter der Elektrotechnik im Volkswirtschaftsrat), Hubertus Bernicke, Horst Sindermann »und weiteren Bekannten« zusammen. Man ließ es sich gut gehen in der Oberklasse. Der berühmte Kurort, einst Sommerresidenz der Meininger Herzogsfamilie, war bei der DDR-Obrigkeit beliebt. Die Postkarten, die Kaluza Hartmann schrieb, beantwortete dieser mit Briefen und den darin enthaltenen Bitten, den Leuten zu erzählen, in welcher misslichen Lage sich die AME befinde. Hartmann verkniff sich im Brief am 6. Juni nicht die Ironie: »Ob allerdings die von Ihnen geführten interessanten Diskussionen mit anderen Kurgästen zur Gesundung beitragen, scheint mir nur dann als gesichert, wenn diese auf einem sehr hohen, erdfernen Niveau geführt werden, von dem aus man die vielen kleinen und größeren Schwierigkeiten des täglichen Lebens nicht mehr erkennt.« Kaluzas Biografie war für die mittlere

416  Ebd., S. 53. 417  TSD; Nachlass Hartmann, H 80. 418  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 159. 419  Vgl. Notiz L  29/65: AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; ebd., Bd. 4, Bl. 42–65, hier 59. 420  Vgl. Bericht zum Treffen mit »Rüdiger« vom 19.2.1965; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 35 f., hier 36.

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Führungsebene nicht ungewöhnlich: gezeichnet durch die Brüche in der jüngsten deutschen Geschichte und der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft.421 Wenngleich nicht gänzlich, wie etwa ab 1970, so stand Hartmann doch zu dieser Zeit bereits unter regelmäßiger Beobachtung. Der GM »Schubert« berichtete am 31. März 1965, dass Hartmann sich »seit einiger Zeit montags nach der Vorlesung an der TU« Dresden im Postamt Hellerau »postlagernde Sendungen« abhole. Und von der Sekretärin wisse er, dass Hartmann Briefe, die geöffnet auf seinem Schreibtisch lägen, beim Verlassen des Büros mitnehme und in die Tasche stecke. Post, die er zu Hause schrieb und bislang dem GM zum Einstecken gegeben habe, stecke er »seit einiger Zeit« selbst ein. Zur »Angelegenheit Barwich« könne er, der GM, »keinerlei Hinweise geben«. Auch sei »Steenbeck noch nicht wieder auf der Arbeitsstelle gewesen«. Das MfS beschloss in Auswertung dieses Treffs mehrere operative Maßnahmen zu Hartmann, u. a. die »Einleitung der ›M‹- und ›A‹-Kontrolle« sowie die operative Beobachtung des Postamtes Hellerau.422 Generaldirektor Heinze empfing Hartmann auf dessen Wunsch vom 22. März vier Tage später. Heinze informierte ihn über den Mittelzufluss für die Halbleitertechnik und Mikroelektronik. Bis 1970 sollten demnach 1,2  Milliarden MDN eingeplant gewesen sein, davon 80 Millionen für Importe aus dem Westen. Es habe, so Heinze, »wenig Sinn, nur Forderungen vorzulegen. AME möge versuchen, Erklärungen der Lieferbereitschaft und Pro-forma-Rechnungen zu bekommen«. Hartmann verwies »auf die sehr beschränkten Möglichkeiten« diesbezüglich. Heinze wusste von einem Angebot während der Leipziger Frühjahrsmesse durch eine westdeutsche Firma für Manipulatoren. Hartmann will Heinze so verstanden haben, dass die Versuchsfertigung 1970 beginnen solle. Heinze könne jedoch keine Mitarbeiter für die Projektierung des Laborgebäudes bereitstellen und forderte Hartmann auf, eine Projektierungsgruppe selbst aus seinem Mitarbeiterstamm aufzubauen. Hartmann wies »auf die Unmöglichkeit hin, dafür geeignete Mitarbeiter zu finden«. Auch die Kosten waren limitiert: der maximale Aufwand für das Laborgebäude durfte zehn Millionen MDN nicht übersteigen.423

421 Kaluza wurde 1945 aus der Landesverwaltung Sachsen wegen Verschweigens seiner NSDAPund SA-Mitgliedschaft entlassen. Grosse setzte ihn im Juni 1950 als Technischen Direktor der Vereinigung WMW Chemnitz ein. 1956 ernannte Apel ihn zum Ingenieur und setzte ihn im Sachsenwerk Niedersedlitz »im Sonderauftrag« ein. Er soll zusammen mit Kurt Noack 1952 heftige Kritik an Leuschner und Rau geübt haben; Ende 1956 erfolgte im Auftrag Apels sein Einsatz in der Luftfahrtindustrie und 1957 im Institut für Technologie und Organisation. 1959 wurde er Direktor des Zentralinstituts für Technologie der Elektroindustrie (ZTE), die Abberufung erfolgte Anfang 1964. Am 21.1.1964 kam er auf Weisung Wekkers (VWR) zur AME und wurde Leiter der Anlagenerhaltung. 1973 war er leitender Ingenieur vom Dienst, ab September 1973 wissenschaftl. Mitarbeiter im Bereich Beschaffung und Absatz. vgl. u. a. BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 18, Bl. 88–91. 422  BV Dresden vom 3.4.1965: Bericht von »Schubert« am 31.3.1965; ebd., Bd. 15, Bl. 73–75. 423  Notiz L 37/65 – Ha / L a vom 26.3.1965: Besprechung bei Heinze; ebd., Bd. 22, Bl. 244–246, hier 244.

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Am 1. April nahm der Bereich »Mikroelektronik« der VVB BuV unter Rudolf Reichel seine Tätigkeit auf, die Mitarbeiterzahl sollte 15 Personen umfassen. Statt Konzentration folgte eine weitere Zersplitterung, die immer auch wieder mit Fluktuationen verbunden waren. Vom 17. Mai stammt eine Information, wonach Hartmann seine Denkschrift an Apel, Mittag, Große, Böhme, Wekker, Heinze, Krolikowski, Rompe, Thiessen und Weiz gegeben hatte. Rasch zeigte das MfS Interesse an der Denkschrift und beauftragte entweder direkt oder indirekt, das geht aus den Unterlagen nicht zweifelsfrei hervor, einen Fachmann aus der Arbeitsstelle, eine Einschätzung zu geben. Er referierte sie über weite Strecken adäquat und moderat, monierte aber auch, dass »wie ein roter Faden« Hinweise enthalten seien, die Arbeiten »nicht zu starr und detailliert, sondern beweglicher und großzügiger zu planen. Diese Fragen sollten durchaus beachtet werden. Jedoch lasse die Überbetonung durch den Autor den Verdacht aufkommen, dass er speziell für die von der AME zu lösenden Aufgaben einer straffen Kontrolle über den Plan aus dem Wege zu gehen« anstrebe. Stellenweise sah er einen polemischen Grundzug, wenngleich »zweifellos« manch »erschwerende Bedingungen« zu konstatieren seien. Es handelte sich um den später angesehenen Eberhart Köhler, der just in dem Jahr als Professor an die TH Ilmenau berufen wurde und 1990 deren erster demokratisch gewählter Rektor wurde.424 Nach Erscheinen der Denkschrift setzte eine verschärfte Kontrolle Hartmanns ein. Inoffizielle Mitarbeiter des MfS rückten enger an ihn heran. Der GI »Glaß« berichtete am 31. Mai dem MfS über eine Vorlage Hartmanns für den Volkswirtschaftsrat. Die Ausführungen seien insgesamt, so GI »Glaß«, richtig. »Fehlorientierungen« seien »nicht zu erkennen«. Die Erweiterung und Verstärkung der Lehrtätigkeit auf dem Gebiet Elektronik zur Ausbildung von Studenten sei dringend und unerlässlich. So sollten zum Beispiel an der TU Karl-Marx-Stadt »ab September 1965 die ersten 30 Studenten immatrikuliert« werden. Hierfür würden Investitionen in Höhe von 40 Millionen MDN freigemacht werden, was aber terminlich nicht mit der Forderung nach rascher Ausbildung geeigneter Kader kompatibel sei. »Glaß« kritisierte, dass der VEB Carl Zeiss »kaum andere Forschungstermine in seine Produktion einfließen« lasse.425 Aus dem ZOV »Widerstand« zu Walter Heinze, Krahl und Falter u. a. ist ein Dokument vom 9. Juni überliefert, das Hanisch seinem Führungsoffizier gegeben hatte. Die Thematik betraf die Zusammenarbeit der Keramischen Werke Hermsdorf (KWH) mit der AME zur Thematik »Aktiver Dünnfilmelemente« (Dünnschichttechnik). Die technische Seite des Vertragsabschlusses hierzu lag absolut im Argen. Das Dokument ist ein Schlüsseldokument, es beleuchtet paradigmatisch die Grundsituation der DDR zu dieser Zeit und wirft darüber hinaus ein helles Licht 424  Köhler vom 17.5.1965: Hartmanns Schrift »Integrierte Mikroelektronik in der DDR«; ebd., Bd. 44, Bl. 28–30 (zu Köhler siehe Buthmann: Die politische Geschichte der TH Ilmenau, passim). 425  BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 31.5.1965: Bericht zum Treffen mit »Glaß« am 31.51965; ebd., Bl. 31–34, hier 31 f.

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auf die Situation Hartmanns. Obwohl Hanisch zu der damaligen Zeit genau wusste, in welcher Situation sein Haus, besser: Hartmann stak, wird er circa zehn Jahre später das glatte Gegenteil behaupten, die Sachlagen, die er hier, 1965, referierte, konsequent umgekehrt haben. Demnach sei seitens KWH »ein Vertragsangebot vorgelegt« worden, »das vom AME nicht annehmbar ist, da es eine Reihe von Sanktionen enthält, die im Stadium der reinen Grundlagenforschung nicht übersehbar sind. Laut Angabe von Krahl«, des Technischen Direktors der KWH, »ist es ein Vertrag, ›an dem sich AME totzahlen‹« werde. Und weiter: »Diese Grundeinstellung gegenüber dem Vertragspartner fördert in keiner Weise die Zusammenarbeit. Ein Gegenangebot durch AME liegt seit Wochen im KWH und wird nicht unterschrieben. Vom AME mühsam angebahnte Beziehungen zur Akademie (Institut Professor Rompe)  drohen dadurch wieder einzuschlafen, da AME durch KWH (Krahl) weitere Verhandlungen untersagt worden sind. Es muss eingeschätzt werden, dass seitens KWH kein ehrliches Interesse am Vertragsabschluss besteht, da trotz technischer Klarheit der Abschluss durch juristische Klauseln über Monate verzögert« werde. Die VVB BuV »billigt den Vertragsabschluss von AME (Dr. Reichel) und hat den Justitiar der VVB mit dem Abschluss beauftragt. Beim angesetzten Termin in Leipzig blieb der Vertreter der KWH fern und bestellte den Justitiar der VVB nach Hermsdorf« ein. Der »Vertreter von AME kehrte erfolglos nach Dresden zurück. Der Vertrag wurde wieder nicht abgeschlossen.« Die Situation von AME ist dadurch noch problematischer geworden, da der Vertrag mit KWH »durch Plan­ auf‌lage im Elektronikdokument zur Durchführung« verpflichte. Hanisch sah nur zwei Lösungen: entweder durch sofortigen Vertragsabschluss oder durch Trennung des Grundlagenthemas von KWH und anschließender Finanzierung durch die VVB BuV. Die folgende Einschätzung scheint die Schramm’sche Vertrauenskategorie in Innovationsprozessen zu unterstützen. Demnach war KWH, so Hanisch, an einer Mitarbeit nicht interessiert, »um zu verhindern, dass Mitarbeiter von AME Einblick in den Stand der Dünnschichttechnik erhalten und gegebenenfalls eine Meinung dazu äußern könnten«. Eine zweite Deutungslinie sah Hanisch resp. Vertreter der AME darin, dass KWH selbst bestrebt war, die SI-Epitaxie zu bekommen. Es gebe Hinweise aus dem KWH, die dies nahelegten, nämlich das IHT nach Hermsdorf zu holen. Hanisch: »Parallelentwicklung zu AME in KWH!« Es gebe in KWH bereits Anzeichen von »illegalen Arbeiten«.426 Hartmann notierte am 14. Juni: Für die AME-Versuchsfertigung sei »infolge völlig unzureichender Kapazität der Zulieferindustrie der DDR alle technologischen Ausrüstungen und Messmittel als Import zu planen«. Hanisch monierte, dass die Notiz Hartmanns »trotz ihres äußerst vertraulichen Inhalts«, Hartmann hatte auch Angaben über den geplanten Fertigungsbeginn schriftlich festgehalten, »keinerlei Vertraulichkeitsgrad!« besessen habe. Auch eine spätere Notiz Hartmanns

426  BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 9.6.1965: Bericht von »Rüdiger«; BStU, MfS, AOP 1902/67, TV 5, Bd. 2, Bl. 96 f.

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(L 102/65) vom 18. August 1965 zur »Nichtbeherrschung der Si-Planartechnologie in der DDR« u. a. m., habe »keinen Vertraulichkeitsgrad!« besessen.427 Am 21. Juli fand in Berlin eine Beratung des Forschungsrates der DDR statt, an der Hartmann nicht teilnahm. U. a. stand die Lage auf dem Gebiet der Mikroelektronik zur Debatte. Sie zeigte, dass die DDR zu diesem Zeitpunkt noch ganz der klassischen Linie der Herstellung von Elektronikbauelementen verhaftet war. Bezeichnend hierfür waren die Ausführungen von Hans Frühauf zum Einsatz von Festkörperschaltkreisen. Der soll festgestellt haben, »dass bei dem jetzigen unzureichenden Stand der Siliziumplanartechnik nicht daran zu denken ist, dass in absehbarer Zeit in der DDR eine Großproduktion von Festkörperschaltkreisen aufzubauen ist«. Einen Hinweis auf die AME enthält dieser Bericht zur Sitzung des Forschungsrates nicht.428 Am 23. Juli lud Generaldirektor Heinze Hartmann zur konstituierenden Sitzung des Technisch-Ökonomischen Rates für die Probleme der Mikroelektronik und Halbleitertechnik ein. Gegenstand dieser ersten Sitzung sollte »eine erste Aussprache über die perspektivische Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR sein«.429 Bei diesen und anderen Zusammenkünften und Gesprächen stand zuoberst immer auch die Frage, woher Geräte, Materialien und Dienstleistungen aller Art herzubekommen seien. Karl Nendel,430 verantwortlich für die elektronische Industrie, inspirierte deshalb Hartmann im Sommer zu einer Reise zu Halbleiter-Betrieben in die USA. Hartmann kontaktierte daraufhin sofort seine Bekannten, u. a. zu Fairschild. Mit nur einer Ausnahme erhielt er Besuchs- und Besichtigungstermine. Im Dezember fuhr er unter Leitung des Abteilungsleiters VVB BuV für Beschaffung, Wolfram Zahn alias IM »Rolf«,431 nach Frankfurt / M. zu Schramm. Der Zweck der Reise bestand darin, Ausrüstungen zu beschaffen. In Frankfurt setzte Hartmann sich auch mit dem US-Konsulat zwecks Visums in Verbindung. Er erhielt ein Visum für drei Wochen im Februar 1966. »Zu unserem Erstaunen erhielten 427  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 42–65, hier 60. 428 Vgl. HA XVIII/2/3 vom 27.7.1965: Bericht; BStU, MfS, AOP  1902/67, TV  5, Bd. 2, Bl. 113–121, hier 116; HA XVIII/5/2 vom 28.7.1965: Bericht zur Sitzung des Forschungsrates am 20. u. 21.7.1965; ebd., Bl. 162. 429  VVB BuV, Heinze, an Hartmann vom 23.7.1965; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 37, Bl. 24 f. 430  Nendel war zu dieser Zeit Leiter der Elektronischen Industrie, später Staatssekretär im MEE. 431 Zahn war einer der erfolgreichsten und wichtigsten Beschaffer der DDR. Für die Industrie war bereits Ende der 1960er-Jahre die Beschaffung von Teilen der Mikroelektronik-Technologie etabliert. 1969 forderte Gerhard Ronneberger alias IM »Saale« gegenüber dem MfS, dass »innerhalb der VVB nur noch« Zahn »Kenntnis vom Partner erhält und die Leitung der VVB und des MWT ohne Kenntnis des Partners die Zustimmung zur Verwirklichung des Projektes gibt«. HA XVIII/2/3 vom 24.3.1969: Bericht über den Besuch des Vertreters der Fa. Caramant; BStU, MfS, AIM 10823/91, Teil II, Bd. 1, Bl. 22–38, hier  35. Zahn besaß in der Geschichte der Beschaffung eine exklusive Position, siehe: Buthmann: Die Organisationsstruktur zur Beschaffung, S. 279–314, insbesondere das Organigramm zur Struktur der Beschaffung auf S. 300.

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meine Kollegen das Visum nicht, nur ich allein.« Es ist also zu vermuten, dass die Amerikaner wussten, dass er sauber war (und möglicherweise zur Flucht bereit?). Doch Anfang Februar kam der Stellvertreter Stegers, »um mir mitzuteilen, dass ich nicht fahren würde. Über die Gründe dieser Absage, besser des Verbots durch den neuen Minister, könnte er nichts sagen, er wüsste es nicht.« Dies geschah, obgleich der Auftrag von Nendel ausging. »Nie habe ich Gründe erfahren, niemals wurde ich zur Teilnahme an einer Delegation in die USA aufgefordert.« Hartmann weiter: »Keine andere Institution, gleich welcher Art, in der Welt musste die Mikroelek­ tronik so isoliert entwickeln wie AME!« In den anderen sozialistischen Ländern sei dies nicht so gewesen.432 Robert N. Noyce, der weltweit Erste der modernen Mikroelektronik-Technologie,433 befragte Hartmann am 9. August zum Stand der Dinge und entschuldigte sich für seine verspätete Antwort aufgrund mehrerer dienstlicher Reisen. Er bat ihn mitzuteilen, ob sein Interesse an einem Besuch in den USA noch bestehe.434 Hartmann bejahte und beantragte sofort die Reise. Nendel befürwortete sie gegenüber dem Generaldirektor der VVB BuV sofort.435 Offizier Erich Lehmann von der Abteilung 2/3 der HA XVIII führte zusammen mit Mitarbeitern der BV Dresden am 26. August eine Besprechung zur »Lage und Perspektive der Elektronik« bei Hartmann durch. Das Gespräch sollte die aktuelle Lage der Keramischen Werke Hermsdorf (KWH) beleuchten und auf »die Rolle des Krahl« eingehen, und zwar so, »dass Professor H. eine zielgerichtete Fragestellung zu Krahl« nicht »erkennt«.436 Hartmann schilderte aus seiner Sicht die mangelhafte Leitung des Entwicklungsprozesses, wodurch wiederum das zu beliefernde Hermsdorf litt. Die dann nicht komplett mit modernsten Bauelementen bestückbaren Baueinheiten führten dazu, dass sich die Abnehmerindustrie weigerte, Geräte­ entwicklungen durchzuführen, die sich »nicht amortisieren würden«.437 Eine Besprechung über die Lieferung von technologischen Laborausrüstungen durch die westdeutsche Firma bfi-Elektronik fand am 11. September zur Leipziger 432  TSD; Nachlass Hartmann, H 85–87. 433  (1927–1990). 1957 Mitbegründer von Fairchild Semiconductor. 1968 gründete er zusammen mit Gordon E. Moore die Firma Intel. Noyce stellte 1959 den ersten monolithisch gefertigten Schaltkreis her (Planartechnik, Silizium-Substrat). Unabhängig von ihm entwickelte Jack Kilby (Texas Instruments) integrierte Schaltkreise. 434  Vgl. Schreiben von Noyce an Hartmann vom 9.8.1965; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 44, Bl. 35. 435  Schreiben von Nendel an Heinze vom 14.8.1965: Befürwortung der Reise Hartmanns zu Noyce; ebd., Bl. 36. 436  Krahl wurde mit Wirkung vom 1.1.1967 von der Funktion des Werkdirektors des VEB Halbleiterwerk Frankfurt / O. abberufen. Der Absetzung soll eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen mit Generaldirektor Heinze vorausgegangen sein. Der Nachweis der »Schädlingstätigkeit« gelang nicht, weil es »zu jedem Problem« Meinungsverschiedenheiten der Experten gegeben habe. KD  Frankfurt / O. vom 17.2.1967: Abschlussbericht zum OV »Widerstand«; BStU, MfS, AOP 1902/67, TV 5, Bd. 1, Bl. 186–188. Der TV 5 wurde am 6.3.1967 eingestellt; ebd., Bl. 194 f. 437  HA XVIII/2/3 vom 3.9.1965: Bericht über die Aussprache mit Hartmann; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 44, Bl. 37 f.

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Herbstmesse statt. Gesprächspartner Schramms von bfi im Büro der ZETAP, Pavillon 15a des Messegeländes,438 waren Generaldirektor Heinze und Hartmann sowie ein Mitarbeiter von ZETAP sowie ein Geschäftspartner aus Schweden. Es ging um das technologische Know-how für »die Beherrschung der grundlegenden Verfahren«. Das Verfahren umschloss »sämtliche Prozesse, beginnend mit der Zerteilung der Si-Einkristalle bis zur Endmessung der verkappten Produkte unter Einschluss notwendiger Kontrollmessungen bei jedem Einzelprozess«. Die Anlage sollte nicht zur Produktion eingesetzt werden, Variabilität der Konfiguration war angestrebt. Schramm soll eine Ausbeute von circa 30 Prozent garantiert haben. Er soll sich bereit erklärt haben, selbst »bestimmte Einrichtungen nach Absprache« mit Verantwortlichen »in Betrieb zu nehmen und einzufahren«. Ferner war »gemeinsam beschlossen« worden, von einem »Besuch der AME abzusehen«.439. AME war ab dem 14. September nicht (mehr) berechtigt, »direkt auf brieflichem, telefonischem oder telegrafischem Wege mit der Firma bfi-Elektronik und mit« dem Schweden »in Verbindung zu treten«. Alles ging nun direkt über ZETAP.440 Am 24. September fand der Einzug in das Laborgebäude des ehemaligen Hauses 137 statt, wenngleich es immer noch nicht völlig fertig war. Das Einzugsfest fand im Café Prag statt. Generaldirektor Heinze vergab eine Sonderprämie anlässlich des Abschlusses der Umbauten Ende September in Höhe von 1 000 Mark. Viele Ehrengäste waren zugegen, u. a. Karl Nendel vom MEE. Auftrat der Star-Komödiant der DDR, Eberhard Chors,441 sowie das Tanzorchester Günther Hörig. Hartmann erwähnt dieses Ereignis in seinem »Museum«, weil andere wie Lonitz vom MfS alles völlig anders dargestellt hätten.442 Die Vergabe einer Sonderprämie »für Vorlauf und Aufbau von AME« sah Hanisch als Folge der durch Rompe verhinderten »Kontrolle der Arbeit von AME« begründet, sein trockener Kommentar: »die ›helfende Hand des Forschungsrates‹«.443 Zum wiederholten Male monierte Hanisch – rückblickend zur Zeit seiner analytischen Tätigkeit für das MfS um 1973 – bei einigen betrieblichen Notizen Hartmanns den fehlenden Vertraulichkeitsgrad. So auch zur bedeutenden Notiz L 110/65 vom 22. September. Hierin hatte Hartmann den absoluten Zwang zum Import entsprechender technologischer Anlagen und Messmittel begründet: »Um eine Vergrößerung des Rückstandes gegenüber der Weltentwicklung zu verhindern, müssen die an anderen Stellen außerhalb der DDR gesammelten Erfahrungen genutzt und übernommen werden. Wenn die Elektronik die ihr in der DDR zufallenden Aufgaben erfüllen soll, bleibt kein anderer Weg.« Und: »Infolge der in der DDR nicht 438  Sitz von ZETAP in Berlin, Matternstraße 7. 439  Notiz L 107/65 – Ha / Wi vom 11.9.1965: Besprechung in Leipzig; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22, Bl. 251 f. 440  Mitteilung vom 14.9.1965: Über den Kommunikationsweg mit bfi-Elektronik; ebd., Bl. 253. 441 Chors flüchtete 1977. 442  TSD; Nachlass Hartmann, H 88. 443  AMD, Hanisch, vom 25.9.1974: Durcharbeitung des übergebenen Materials; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 42–65, hier 59.

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vorliegenden Erfahrungen auf dem Gebiet der Si-Planar-Epitaxie-Technologie sowie des Fehlens einer Zulieferindustrie für technologische Einrichtungen ist eine kurzfristige Projektierung eines dem Stande der Technik entsprechenden Laborgebäudes aus eigener Kraft völlig ausgeschlossen.« Diese Technologie werde, so Hartmann, »Grundlage der Arbeit des Vereinigten Industrieunternehmens für technologische Einrichtungen der Elektronik in Dresden bilden«. Zunächst aber werde es »ohne Ankauf des technologischen Projektes mit Know-how« aus dem Westen »nicht möglich« sein, »auf dem Gebiet der modernen Technologie der Mikroelektronik ein weiteres sehr gefährliches Zurückfallen gegenüber der Weltentwicklung zu verhindern«. Hartmanns Kontakte zu bfi Frankfurt / M. und in die USA, also seine Bemühungen um Informationen und Zulieferungen, wertete Hanisch als »›legalisierten‹ Geheimnisverrat«. Eine bemerkenswerte Begriffsschöpfung. Hartmanns Bemühungen, bfi-Elektronik zu erlangen, habe den Projektierungsbeginn um ein Jahr verzögert und darüber hinaus der »Gegenseite« die »absolute Abhängigkeit der DDR« von Westlieferungen signalisiert. Eine völlig verlogene Verdrehung der Tatsachen. Denn er selbst war es, wenn auch nicht allein, der Spionagematerial über das MfS erhielt und – an Hartmann vorbei – in die AME neutralisiert »einschleuste«. Die 24-seitige Hanisch-Kompilation vom September 1974 endete mit der Bemerkung: »Weitere Bearbeitung erscheint erst nach Abstimmungsrunde« mit dem MfS »sinnvoll«.444 Am 25. September fand in der AME ein Tag der offenen Tür statt.445 Hartmann mag an Vakutronik gedacht haben, der von ihm aufgebaute Betrieb feierte just sein zehnjähriges Bestehen. Sein Freund Theo Adam trat auf, ohne Honorar zu verlangen. In seinem »Museum« notierte er: »Doch im Jahre 1975 existierte der Betrieb nicht mehr als selbstständige Institution […] Ich selbst war 1975 als ›Pampel‹ ohne Arbeit im VEB Spurenmetalle bestraft worden. Wofür, habe ich nie ehrlich und klar erfahren.«446 Zu Adams bestand eine feste Freundschaft, die dem MfS nicht entgangen war.447 Zur beabsichtigten Reise Hartmanns in die USA zu Noyce verfasste die HA  XVIII/2 am 16. Oktober einen Bericht. Sie war zwar für die Reise, jedoch unter der Bedingung, dass zwei »Experten aus der Volkswirtschaft der DDR« mitführen. Ziel war, zwei Inoffizielle Mitarbeiter für allfällige Aufgaben mitzuschicken. Hartmann soll gekontert und verlangt haben, dass beide die englische Sprache beherrschen müssten und damit »gleichzeitig als Dolmetscher fungieren« könnten. Er benötige weder Agenten noch Fachleute. Offizier Lehmann mutmaßte, dass es gegenwärtig »wenig erfolgversprechend« sei, »die Reise des Professors H. nach den USA mit operativen Mitteln zu verhindern. Die Ablehnung der Reise unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung einer eventuellen Republikflucht hätte nur Erfolg, wenn in Zukunft Reisen« Hartmanns in den Westen »prinzipiell gesperrt würden. 444  Ebd., Bl. 61–63 u. 65. 445  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 89. 446  Ebd., G 116. 447  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 7. oder 8.7.1966: Bericht; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 125–128, hier 127.

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Das gegenwärtig vorhandene operative Material dürfte für eine derartige massive Begründung kaum ausreichen.«448 Der Staatssicherheitsdienst sammelte weiter Material gegen Hartmann, und das war dürftig: Die Bekanntschaft Barwichs mit Hartmann nach 1945 soll »in der gemeinsamen Tätigkeit in der Sowjetunion« begonnen haben. Inoffiziellen Kenntnissen zufolge würden »beide Personen politisch einen gemeinsamen Standpunkt vertreten«. Telegramme an westdeutsche Empfänger gebe Hartmann »unter falschem Absender« auf. Reisen nach Westberlin seien »im Auftrag des Genossen Dr. Apel« genehmigt worden.449

Exkurs 8: Ein Erinnerungsprotokoll: der Tod Apels Am 3. Dezember 1965 nahm sich Erich Apel das Leben. Das Neue Deutschland brachte Meldung und Nachruf einen Tag später.450 Trauer-Bekundungen, Lebenslauf und Bilder folgten am 5. Dezember.451 Die Trauerfeier fand am 7. Dezember statt.452 In seinem »Museum« schrieb Hartmann: »Ende 1965 erschoss sich Dr. Apel, der sich am meisten« um den WIB »gekümmert hatte. Heute (1981) bezeichnen sich VEB Spurenmetalle und VEB Hochvakuum in ihren Briefköpfen noch immer als WIB, aber sie haben keinerlei Vorteile mehr davon. Nur die Bezeichnung blieb!« Der »VEB Vakutronik war der erste Betrieb, der per Verfügung der SPK mit Datum vom 20. Februar 1961 diese Bezeichnung zuerkannt bekam.«453 Und er hielt fest, dass er »in Apel einen guten Freund« gehabt habe, der »sich aus Überzeugung für die Förderung der Elektronik« eingesetzt habe. Apel habe zu ihm gesagt: »Jetzt ist es mir zum ersten Mal gelungen, in die Plandokumente das Wort Elektronik hineinzubekommen […], es ist sehr kompliziert ohne Mitstreiter!«454 Zu Apels Suizid existieren einige Spekulationen bis hin zum erzwungenen Suizid. Der Verfasser fand außer einem vagen Verdacht in den Quellen des BStU keine belastbaren Spuren. Hermann von Berg legte sich in einem 1986 erschienenen Beitrag für den Spiegel eindeutig fest: »Apel wollte einen neuen Handelsvertrag mit den Russen nicht unterschreiben, die deutsche Ausplünderung ging ihm zu weit. Am Vorabend der Unterzeichnung setzte er mit seinem Selbstmord ein unübersehbares Zeichen des Protestes.« Ferner: »Er eröffnete die Einleitung der geplanten Wirtschaftsreform [NÖSPL – d. Verf.] unerschrocken mit einem Angriff auf die Russen, nannte Stalin, und meinte die ›kollektive 448  HA XVIII/2/3 vom 16.10.1965: Aktenvermerk über eine beabsichtigte Reise Hartmanns nach den USA; ebd., Bd. 44, Bl. 39. 449  HA XVIII/2 vom 16.10.1965: Aktenvermerk; ebd., Bd. 15, Bl. 77. 450  Vgl. Genosse Erich Apel gestorben, in: Neues Deutschland vom 4.12.1965, S. 1. 451  Vgl. Trauer um Erich Apel, in: Neues Deutschland vom 5.12.1965, S. 1 u. 3. 452  Vgl. Genosse Erich Apel gestorben, in: Neues Deutschland vom 4.12.1965, S. 1. 453  TSD; Nachlass Hartmann, G 110. 454  Ebd., G 62.

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Führung‹ der KPdSU, indem er schrieb: ›Das Wertgesetz kann deshalb nicht als eine Art ›Überbleibsel‹ des Kapitalismus betrachtet werden, das letztlich dem Sozialismus wesensfremd wäre und dessen schrittweise Austreibung aus der sozialistischen Ökonomie sozusagen der Kardinalpunkt der ökonomischen Politik sein müsse. Bekanntlich entwickelte J. W. Stalin diese schädliche Auf‌fassung in seiner Arbeit ›Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR‹.«455 Auch Josef Morgenthal, einst stellvertretender Minister des MEE, glaubt »als Zeitzeuge« fest an diesen Grund. Selbst neue, eventuell auftauchende Dokumente könnten seine Überzeugung nicht erschüttern; Morgenthal: »So gelang es einem Dritten, noch unbekannten Wirtschaftsmann aus dem Politbüro der SED, die Fäden zu ziehen, Pfeile zu spitzen, Fallen zu stellen – Günter Mittag. Apel tappte hinein. Seine Möglichkeiten zu widerstehen und diesen Vertrag nicht zu unterzeichnen, schienen ihm erschöpft. Er erschoss sich in seinem Dienstzimmer in der Leipziger Straße, dem heutigen Rohwedder-Haus, am Vormittag des Tages, da der Vertrag unterschrieben werden sollte. Es war der Protestschrei eines Verzweifelten!«456 Ein bemerkenswertes Dokument ist in einem Konvolut von meist Zeitungsartikeln mit volkswirtschaftlichem Schwerpunkt überliefert, das u. a. auch für Oberst Lonitz (siehe Exkurs 11) bestimmt war. Es stammt vom 9. Juni 1986 und trägt die Überschrift: »Im Zusammenhang mit Apels Tod erinnere ich mich an Folgendes«. Es ist nicht erkennbar, wer diesen Bericht geschrieben hat. Der Text ist jedoch als kritische Reflexion auf den erwähnten Artikel von Hermann von Berg im Spiegel zu verstehen, der explizit auf das Motiv des Suizides von Apel eingeht. Der Text: »Im Auftrag des Leiters der Hauptabteilung, Gen[osse] Heinitz, wurden Nöckel und ich beauftragt, die weitere Untersuchung zu führen. Wir trafen im Arbeitszimmer ein, die Leiche war bereits, ich glaube von der jetzigen Abt. 7, weggebracht. Im Zimmer waren nur noch Blut und die Lage des Körpers zu sehen. Unser Auftrag war, alle schriftlichen Aufzeichnungen mitzunehmen. Auch Bücher, in denen Anmerkungen waren, wurden von uns sichergestellt. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir aus diesem Material alle persönlichen Aufzeichnungen, die die ökonomische Politik betrafen oder Bemerkungen hinsichtlich anderer Funktionäre enthielten, soweit wir sie für bedeutsam hielten, herausgeschrieben und, ohne irgendwelche Wertungen vorzunehmen, unseren Vorgesetzten übergeben. Ich kann mich an keine Aufzeichnung erinnern, die sich eindeutig gegen die damalige offizielle Politik unserer Parteiführung richteten. Zumindest konnte von uns eine derartige Einschätzung nicht vorgenommen werden. Hinsichtlich der Funktionäre glaube ich mich zu erinnern, dass er sich über einige lustig machte und ihre Einfältigkeit auf verschiedenen Gebieten in irgendeiner Form glossierte. Man hatte, ohne das genau beurteilen zu können, 455  Morgenthal: Wirtschaftswissenschaftler, Physiker, stellv. Minister des MEE, Banker, Lebenskünstler. Berg, Hermann von: Ein jeder sucht, wie er leben kann«, in: Der Spiegel 40(1986)22, S. 154–165, hier 161–163. 456  Morgenthal: Staat und Revolution, S. 63.

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den Eindruck, dass nur er in der Lage war, die komplizierten und vielfältigen Probleme, die in der Ökonomie zu lösen waren, insbesondere in den Beziehungen zu den Bruderländern, besonders zur SU, richtig einschätzen konnte. Das kam auch in der Formulierung, die häufig bei allen möglichen Fragen, insbesondere bei Problemen der Ökonomie zu lösen waren, zum Ausdruck, in dem er in ironischer Form schrieb: ›Nicht verzagen, Apel fragen‹. Das sollte heißen, alle wissen sie keine Lösung, Apel soll sie finden und Apel findet sie auch. Ich kann nicht mehr genau sagen, ob es einen Abschiedsbrief gab. Wir haben, so glaube ich jedenfalls, etwas Derartiges nie gesehen. Die Westpresse nutzte, ähnlich wie heute, den Tod Apels zu umfangreichen, auf die Diskriminierung der ökonomischen Politik gerichteten Veröffentlichungen aus. Wochenlang gab es Veröffentlichungen über diesen Fall. Ich erinnere mich, dass Apel als ein Mensch dargestellt wurde, der das Beste für die Ökonomie der DDR wollte, aber mit seinen richtigen Gedanken eben nicht durchkam. Diese Artikel waren spekulativ, regelrecht frei erfunden, wobei man die damaligen gegnerischen Argumentationen Apel unterschob. So jedenfalls aus unserer Sicht. Eine große Rolle spielten in der Westpresse die Notizbücher Apels. Ich glaube, es wurde von sechs oder sieben gesprochen, wovon eins oder zwei im Besitz westlicher Medien sein sollten. Wir konnten aber nachweisen durch unsere Arbeit, dass wir alle Notizbücher Apels sichergestellt hatten. Weder wurde sich auf ein bestimmtes Notizbuch bezogen, aus dem man die ganze Hetze gegen die DDR, wie sie damals üblich war, ableitete, dessen Veröffentlichungen und Echtheit immer und immer wieder versprochen wurde, was aber trotzdem nie erfolgte (meines Wissens). Eine Rolle spielten dabei die Argumente, dass sich Apel erschossen hat, weil er sich gegen die Unterschreibung eines Vertrages wehrte, der mit der SU über die Bezahlung militärischer Ausrüstungen abgeschlossen werden sollte. Dabei wurde dargestellt, dass die DDR von der SU [hier endet abrupt die Textpassage auf maximal zweieinhalb Zeilenlänge  – d. Verf.]. Auf jeden Fall müssen alle Unterlagen über Apel in der gesonderten und gesperrten Ablage entweder in der 3 [Abteilung 3 – d. Verf.] oder mit einem gesonderten Vermerk bei Gen[osse] Stolze liegen. Ich erinnere mich, dass wir in der 3 diese Dinge zwei oder drei Jahre aufbewahrten, bis eine entsprechende Entscheidung kam. Für mich war damals aufgrund meiner Erfahrungen bei der Bekämpfung von Sabotage Folgendes interessant, was ich, wenn es nach mir gegangen wäre, auch weiterbearbeitet hätte. In einigen Notizbüchern Apels fand ich die Namen von Saboteuren, die wir vor diesem Ereignis bearbeitet hatten oder die noch in Bearbeitung waren. Außerdem war für mich erstaunlich, dass Apel, obwohl er, ich kann sein Alter nicht mehr genau sagen, sehr jung war, zur Zeit des Faschismus, die letzten Kriegsjahre in Peenemünde in irgendeiner Form an die Entwicklung der V-Waffen mitarbeitete. Es gab einen Hinweis, dass Apel zu den Versuchsstätten für V-Waffen in Peenemünde Zutritt hatte. Dieser Zutritt war nur besonders ausgewählten Leuten möglich. Ich kann mich nicht mehr erinnern, aus welchen Gründen er dort zu tun hatte, ob das beweisbar war und ob an dieser Sache weitergearbeitet wurde.

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Interessant war, dass er Aufzeichnungen über Gespräche mit dem zweifelsfrei als Spion und Saboteur entlarvten Henniger [siehe Kap. 5.1, MfS-Spezial I] in seinem Notizbuch hatte. Henniger vertrat ihm gegenüber Meinungen zur Entwicklung der Elektronik in der DDR, die auf jeden Fall nicht die tatsächlichen Interessen der DDR wiedergaben. Henniger war in dieser Zeit, in der das Gespräch mit Apel stattfand, bereits geworbener Spion (BND oder CIA). Henniger hatte ebenfalls während des Krieges für V-Waffen gearbeitet (Zulieferungen), zumindest kannte er die Probleme. Interessant war, dass Henniger ein angesehener Mann war, den wir auf Druck oberster Stellen hätten entlassen müssen, trotz nachgewiesener Sabotagearbeit auf dem Gebiet der Fernsehelektronik, wenn wir nicht glücklicherweise ein oder zwei Tage vorher durch die Sicherstellung eines Funkgerätes und eines chiffrierten Funkspruches an den BND den zweifelsfreien Beweis der Spionageverbindungen hätten antreten können. Henniger hat riesige Schäden verursacht (von 100 Widerständen in Fernsehgeräten fielen nach kurzer Zeit über 80 Prozent aus usw.). Im Notizbuch Apels gab es auch einen Hinweis auf Gespräche mit dem Leiter des Institutes für Mikroelektronik in Dresden, Professor Hartmann. Aus den Notizen gingen Übereinstimmungen der Auffassungen hervor. Wie später bewiesen wurde, hat Hartmann eine bis zur heutigen Zeit sich auswirkende umfangreiche Sabotagetätigkeit auf dem Gebiet der Mikroelektronik betrieben. Hierzu gibt es auch viel zu sagen. Hartmann wurde nicht verurteilt, aber in Abstimmung mit Gen[osse] Mittig aus seiner Funktion abberufen. Ich glaube, noch Hinweise auf zwei oder drei solcher Personen in Apels Notizen geben zu können. Wenn ich hier näheres sagen müsste, würde ich vorschlagen, die gesamten Unterlagen nochmal anzusehen. Auch unsere Berichte und Aufzeichnungen würden hier notwendig sein. Es gab auch Hinweise auf seine Zusammenarbeit mit einem führenden Genossen, der aber, obwohl er dieselbe Meinung wie er vertrat, wie man damals sagte, noch kurz bevor Apel in Ungnade fiel [sic!], sich in seinen Auf‌fassungen änderte.«457 Dies passt haargenau auf Mittag, gut möglich, dass der Schreiber den Namen hier nicht einsetzen wollte. Trotz aller Rechercheversuche, ist das im Schreiben aufgeführte Material zu und von Apel nicht aufgefunden worden. Zum letzten Gespräch Apels mit Hartmann: Das Gespräch fand am 30. September 1964 auf Ersuchen Hartmanns statt. Überliefert sind Stichpunkte, die sich Hartmann vorab machte. Ziel war es, Apel zu signalisieren, dass er einen Rücktritt erwäge. Grund hierfür sei eine ganze Reihe von Vorbehalten, insbesondere vonseiten Mittags. Seine »Verantwortung« sei zu groß, er könne sie kaum tragen, »da kein Rückhalt. Bis heute decke ich alles; bitte um Ablösung. Nach Reden von Dr. Mittag vogelfrei (Kontrollkommission des WTR!)«.458 457  HA IX / AG BMS vom 9.6.1986: Erinnerungen an Apels Tod; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13128, Bl. 249–252. 458  Hartmann: Stichworte zur Besprechung bei Apel am 30.9.1964; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 12, Bl. 37–40, hier 38.

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Laut Beschluss der 11. Tagung des ZK der SED, die vom 15. bis 18. Dezember stattfand, sollten im Zuge der zweiten Etappe des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) in der elektronischen Industrie alle Kräfte gebündelt werden zur Herstellung von Erzeugnissen, »die für die Meisterung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes in der gesamten Industrie von Bedeutung sind, wie elektronische Mikroschaltungen, Festkörperschaltkreise und bestimmte Anlagen der Datenverarbeitung«.459 Das aber widersprach Apels und Hartmanns Auffassung, zunächst einmal die technologischen Grundlagen hierfür zu schaffen, erst danach sollte an Produktion gedacht werden. Also war der Vorabend der 11. Tagung des ZK ein Anlass für Apel, aufzugeben? Die Reiseunterlagen für Hartmann waren im Dezember fertig. Seinen Antrag vom 18. Dezember für Dallas / Texas, Mountain-View, Pennsylvania und Philadelphia hatte Karl Nendel mit dem Grund: »Studienreise aufgrund vorliegender Einladungen in Werke und Institute der Mikroelektronik und Halbleitertechnik« genehmigt.460 Aus einem operativen Sachstandsbericht vom 18. Dezember, der alle bisherigen Erkenntnisse referierte, geht hervor, dass Hartmann seit 1965 »an der gesellschaftlichen Entwicklung auf politischem Gebiet keinen Anteil gehabt« habe, aber »als befähigter Leiter und Wissenschaftler eingeschätzt« werde, der konsequent und zielstrebig arbeite und ein »ausgeprägtes Selbstbewusstsein und Geltungsbedürfnis« besitze. Politisch aber nur ein »Nur-Wissenschaftler« sei, der die sozialistischen Produktionsverhältnisse »als Hemmnis für die Entwicklung der Wissenschaft« ansehe. Er negiere die Rolle der Massenorganisationen und die »führende Kraft der Partei« nicht nur, sondern hemme ihre Entfaltung. »Positive Kräfte« in der Arbeitsstelle würden sich aus Angst vor Benachteiligung nicht zur sozialistischen Entwicklung bekennen.461 Eine Sentenz dieses Berichtes zeigt, dass der Verfasser, Offizier Hachenberger, einräumen musste, wenngleich verkappt, dass man die »revolutionäre Bedeutung der Festkörperschaltkreistechnik« verkannt und deshalb zu früh »die operative Bearbeitung des H. in einem ÜV wegen Verdacht der Schädlingstätigkeit eingestellt« habe. Man habe geglaubt, dass er 1961 »auf eine unbedeutende Position abgeschoben« worden sei. Der Planverzug von drei bis vier Jahren in der ersten Zeit von AME ist in dem Papier objektiv dargestellt, nämlich bedingt »allein durch dreimaligen Objektwechsel«. Zu dieser realistischen Einschätzung wird später die Gutachterkommission des MfS nicht kommen. Ansonsten finden sich in dem Bericht die altbekannten Verdachtsmomente: Hartmann tue alles, um seine Westreisen allein durchführen zu können. Um dies zu erreichen, schalte er Apel ein. Er hole unter 459 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 13. 460  HA XVIII/2/3 vom 15.1.1966: Bericht von »Rolf« am 14.1.1966; ebd., Bd. 44, Bl. 42 f. 461  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 18.12.1965: 1. Sachstandsbericht zum operativen Material »Tablette«; ebd., Bd. 2, Bl. 6–13.

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Legende postlagernde Briefe im Postamt Dresden-Hellerau ab und führt diese, entgegen seiner Gepflogenheit »bei sich oder« halte »sie unter Verschluss, sobald er sein Arbeitszimmer verlässt«. Es folgt eine bemerkenswerte Notiz, die es nicht als ausgeschlossen erscheinen lässt, dass Apel vor seinem Freitod unter Spionageverdacht bzw. erst durch die Hartmann-Bearbeitung unter Verdacht geriet. Hachenberger: »Unterstützt wird diese Maßnahme durch den Hinweis der HA XVIII/2, den H. als eine persönliche Verbindung des Genossen Dr. Apel und als SU-Spezialist unter dem Gesichtspunkt der Spionage für den amerikanischen Geheimdienst allseitig unter Einsatz der spezifischen Mittel des MfS operativ zu bearbeiten.«462 Man darf bei all diesen kleinen, möglichen oder tatsächlichen Indizien nicht vergessen, dass Apel zumindest einen Erzfeind zu dieser Zeit hatte: Mittag. Bei dem denkwürdigen Zusammenprall von Mittag und Hartmann an jenem 9. Juli 1964 schwieg Apel, obgleich er ranghöher als Mittag war. Am 18. Dezember kreierte das MfS einen Operativplan zum anzulegenden OV »Molekül« in der Bearbeitungsrichtung »Verdacht der Spionage für den amerikanischen Geheimdienst«. Ziel war es, die »Verdachtsmomente zu erhärten«. Kernstück der operativen Kontrollen waren die Maßnahmen »A« und »B« sowohl in der Wohnung als auch im Arbeitszimmer sowie die Maßnahme »M« (Postkontrolle).463 Eine auf dieser Basis erweiterte operative Planung erfolgte Mitte 1966. Intensiviert wurden die IM-Arbeit und die Aufklärung von Hartmann nahestehenden Personen.464 Ein Maßnahmeplan differenzierte und erläuterte die einzelnen Programmpunkte näher. Dieser Plan eröffnete einem bis dahin als GI registrierten inoffiziellen Mitarbeiter des MfS, Hanisch, eine, so weit im Bereich der Industrie(forschung) zu sehen ist, nahezu wohl einmalig schmutzige IM-Karriere. Das MfS wird im Sommer 1966 einschätzen, dass der »die Fähigkeiten und Voraussetzungen bei entsprechender Anleitung« habe, »die Aufgaben« eines GM »zu erfüllen«. Für ihn werde »ein Qualifizierungsplan« erstellt, der die »umfassende Absicherung des Verdächtigten auf der Arbeitsstelle« zu gewährleisten habe.465 Am 20. Dezember wurde der OV »Molekül« formal angelegt.466 Aus einem Auskunftsbericht der Abteilung XVIII/1 der BV Dresden zur operativen Bearbeitung Hartmanns vom 21. Dezember geht hervor, dass man sich wieder an die alten Verdachtsmomente gegen ihn erinnerte. Verwiesen wird einmal mehr auf die operative Bearbeitung Hartmanns von 1955 bis 1958 im OV »Tablette« wegen Verdachts der Spionage für den amerikanischen Geheimdienst und im ÜV »Kristall« von 1962 wegen des Verdachts der »Schädlingstätigkeit«.467 462  Ebd., Bl. 11–13. 463  BV Dresden, Abt. XVIII/1: Operativplan vom 18.12.1965; ebd., Bd. 5, Bl. 8 f. 464  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1: Operativplan vom 10.06.1966; ebd., Bl. 10–12. 465  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 26.8.1966: Maßnahmeplan zum Operativplan des OV »Molekül« vom 10.6.1966; ebd., Bl. 13–15, hier 13. 466  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 20.12.1965: Beschluss für das Anlegen eines OV; ebd., Bd. 1, Bl. 9 f. 467  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 21.12.1965: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 22.

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Vom 21. bis 23. Dezember fuhr Hartmann zu einer Besprechung mit Schramm von bfi-elektronik nach Frankfurt / M. Begleitet wurde er wiederum von Zahn. Der war zu dieser Zeit Direktor für Importe der VVB BuV mit Sitz in Berlin. Das Gespräch kam auf Wunsch der DDR-Seite »ohne vorherige Anmeldung« zustande, initiiert von Hartmann. Ursprünglich wollte man der versprochenen Gesprächsofferte seitens Schramm auf der Leipziger Herbstmesse nachkommen, doch der hatte sich nicht mehr gemeldet. Hartmann hatte notiert: »Herr Schramm hat mit Brief vom 30. September 1965 Herrn [X] gebeten, zur Realisierung des Imports von zwei Geräten (siehe Notiz L 107/65 Pkt. 6) das vorgeschriebene Formular ›Single Transaction Statement by Consignee and Purchaser (Form FC-842)‹ auszufüllen und unterschrieben zurückzusenden. Auf diesen Brief erhielt Herr Schramm keine Antwort. Er hat daher jede weitere Tätigkeit für unsere Belange eingestellt.« Laut Hartmann werde Zahn diese Angelegenheit, das »Verhalten der ZETAP«, klären. Jedenfalls habe die »Einsichtnahme in das Formular« durch ihn »keine diskriminierenden oder schwierigen Fragestellungen erkennen« lassen. Schramm habe demnach »mehrmals und nachdrücklich« erklärt, »dass er den Versuch zur Freigabe der Lieferung eines technologischen Projekts mit Know-how sowohl für das Laborgebäude von AME als auch für eine Schablonenproduktionsanlage nur bei Ausfüllung der genannten Formulare durch unsere zuständigen Institutionen« starten könne. Was die Lieferung von Einzelgeräten betraf, empfahl Schramm, »den Weg über eine westdeutsche oder besser noch über eine ausländische Firma (Schweiz, Österreich, Italien, Schweden o. ä.) als Auftraggeber für ihn« zu gehen. Schramm wolle Hartmann »die neuesten Prospekte von David O. Mann über Geräte zur Herstellung von Fotoschablonen in doppelter Ausfertigung zusenden«. Er werde anstehende Fragen dazu per Briefwechsel beantworten. Gegenüber Generaldirektor Heinze sei Schramm bereit, »schriftliche Garantien über seine Liefertätigkeit zu fixieren«. »Herr Schramm wird bei Herrn Grossmann (Fairchildbüro in Stuttgart) klären, ob ein Besuch der Fairchildfabrik in Agrate in Mailand [Agrate Brianza bei Mailand – d. Verf.]« in Aussicht gestellt werden könne. Verteiler dieser Hartmann-Notiz: Zahn, VVB BuV.468 Indes zerschlugen sich Ende 1965 die Hoffnungen des MfS, Hartmann im Rahmen seiner operativen Bearbeitung zur inoffiziellen Mitarbeit zu verpflichten. Es bestand zu keinem Zeitpunkt hierfür eine reale Hoffnung. Das MfS führte mit Hartmann in der AME zu dessen erneuten Reise nach Frankfurt / M. vom 1. bis 21. Januar 1966 ein Gespräch. Es versuchte ihn zu disziplinieren, er möge vor allem die Gruppe nicht verlassen wie bei der letzten Reise nach Frankfurt / M. Hierüber berichtete Zahn alias GI »Rolf«. Demnach soll »die Reaktion« von Hartmann »sehr heftig« ausgefallen sein, so habe er »ihn bisher noch nicht gesehen«. Er soll sich kaum wieder beruhigt haben.469

468  Notiz (L 125/65 – Ha / L a) vom 21. u. 23.12.1965: Besprechung; ebd., Bd. 15, Bl. 83 f. 469  HA XVIII/2/3 vom 15.1.1966: Tonbandbericht von »Rolf« am 14.1.1966; ebd., Bd. 44, Bl. 42 f.

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Hartmann hatte, so Hanisch am 27. Januar, es wieder »verstanden«, nicht an der geplanten Auswertung der 11. Tagung des ZK der SED, die für alle Werkleiter der VVB BuV bindend vorgesehen war, teilzunehmen. Er sei überlastet, er habe keine Zeit.470 Zum bfi (Frankfurter Büro) fertigte die HA XVIII/2/3 mit Datum vom 1. Fe­ bruar eine Firmeneinschätzung an, die Erkenntnisse von Zahn bündelte. Die Firma mit Einzelprokura einer namhaften amerikanischen Firma arbeite demnach gedeckt: keine Sichtwerbung, »kein Hinweis«, »auffallend bescheiden«, »mehr als ›einfache‹ Einrichtung. Auch im Zimmer von Herrn Schramm keine Gardinen, billiges ›Dutzendbüromöbel‹«. Zahn über Hartmann: er sei »offensichtlich mit großen Illusionen für sein Projekt ›Festkörperschaltkreistechnik‹« gereist. Er mochte geglaubt haben, »dass die etwas rosig und unpolitisch gesehene Darstellung von Schramm zur LHM nach wie vor ohne Abstriche gültig« sei. »Als ihm am ersten Verhandlungstag klar wurde, dass sich diese Hoffnung offensichtlich zerschlägt, war er sehr beeindruckt, ja direkt deprimiert.« In einem Vier-Augen-Gespräch habe er ihm bestätigt, »dass das für ihn (für AME) eine völlig neue Lage schaffe. Nun habe er auch keine Lösungswege mehr, die uns wertvolle Zeit aufholen lassen könnten.«471 Die HA XVIII/2/3 ließ es darauf nicht bewenden, sondern verfasste am 9. Februar einen zehnseitigen Bericht mit Maßnahmeplan über die Reise Hartmanns zu bfi-elektronik. Ihr Urteil tendierte dahingehend, dass sich das »Projekt ›Know-how Festkörperschaltkreise‹ im Zusammenhang mit Projekt Laborgebäude« nun wohl »endgültig zerschlagen« habe. Laut Schramm müsse die DDR »offiziell in Erscheinung treten und dokumentieren, dass sie der Endverbraucher einer solchen Lizenz sei«; ferner müssten diese Anträge »über das US-Handelsministerium (auf vorgeschriebenen Formularen) gehen und von dort genehmigt werden«. Damit scheide ein »fingierter Lizenzerwerb« aus. Es sei völlig klar, dass die DDR von den USA keine Lizenzgenehmigung bekomme, damit sei der Weg über Schramm erledigt. Anders verhalte es sich beim Einzelgerät für das Projekt »Maskentechnik«. Hier gebe es durchaus eine Möglichkeit, obgleich diese Geräte auch auf der Embargoliste stünden. Das MfS diskutierte zwei mögliche Wege, einen offiziellen und einen illegalen, konspirativen. Schramm verstehe angeblich nicht, warum die DDR nicht den offiziellen Weg gehen möchte. »Seiner Meinung nach wären wir zu ängstlich.« Mit Jugoslawien habe dies beispielsweise geklappt. Der inoffizielle Weg sei über einen anderen Auftraggeber, der sei ein sogenannter »Risikoträger«. »Solche Leute lassen sich das natürlich bezahlen.« Schramm finde das zwar nicht gut, könne aber behilflich sein. »Bfi«, so steht es in diesem Bericht, »habe das bereits praktiziert. So sei z. B. eine Belichtungsstation für 35 000 DM (wurde in AME eingesetzt, weiß Herr 470  Bericht zum Treffen mit »Rüdiger« vom 27.1.1966; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 78 f. 471  HA XVIII/2/3 vom 1.2.1966: Bericht von Zahn zur Besprechung mit Schramm; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 87–93. Enthalten auch im Aktenmassiv zu Wolfram Zahn alias »Rolf«: BStU, MfS, AIM 1370/87, Teil II, Bd. 1, Bl. 45–51. In dem Konvolut ist auf 20 S. der gesamte Vorgang dokumentiert.

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Schramm nicht) für ZETAP über die Fa. Frischen, Hannover, geliefert.« Jedenfalls zeigte sich Schramm optimistisch, »über diesen Weg eine komplette Einrichtung zur Herstellung von Masken von der Fa. David W. Mann« realisieren zu können. Die folgenden Seiten des Berichtes zeigen, dass die Verhandlung einem Pokerspiel glich. Die Schlussfolgerungen des MfS: »Die Verbindung über bfi in dieser Frage« werde »abgebrochen. Alle Möglichkeiten, auf diesem Gebiet mit der SU zusammen­ zuarbeiten, sind voll zu nutzen.« Über das kapitalistische Wirtschaftsgebiet sei angestrebt, »so schnell wie möglich die erste Stufe zur Festkörperschaltkreistechnik, nämlich die Planar-Epitaxietechnik in Verbindung mit einer Beherrschung der Maskentechnik sicher in die Hand zu bekommen«. Hierfür seien »alle Wege zu nutzen«, verantwortlich: Wolfram Zahn.472 Die Reise wurde realisiert. Zahn alias GI »Rolf« lieferte hierzu eine Einschätzung. Dessen Bericht und »die eingeleitete Beobachtung« Hartmanns hatten dem MfS ein Engagement gezeigt, wonach Hartmann kein Interesse an der dienstlichen Seite der Reise gezeigt haben soll und sie »nur zum äußeren Anlass für seine Reisen nach Westdeutschland« durchgeführt habe. Sein Verhalten sei passiv gewesen, »teilweise« gar mit »Desinteresse«. In seinem eigenen Bericht, meinte das MfS, habe sich »bestätigt«, dass er »völlig unvorbereitet und interessenlos um seine ureigenen Probleme in Frankfurt / M. verhandelt« habe. Das Hotelzimmer habe er mithilfe von Verwandten organisiert, entgegen seiner ursprünglichen Auskunft gegenüber der DDR-Seite. Bei beiden Rückreisen über Westberlin habe er versucht, Kontakt zum amerikanischen Konsulat aufzunehmen. Bei der zweiten Rückreise habe er hierin »Erfolg« gehabt. Er habe dort »ein längeres Gespräch« geführt und das Visum erhalten. Hartmann habe »auf eine Rückfahrt allein« bestanden. »Er wählte sich am 23. Dezember 1965 im Beisein des GI ›Rolf‹« einen anderen Zug aus. Zahn beobachtete anschließend, dass Hartmann den Zug nicht bestieg. Hartmann soll in Frankfurt / M. telefonisch »mehrere Gespräche« geführt haben, Gespräche, die nicht dienstlicher Natur waren. Das MfS stellte fest, dass Hartmann bei beiden Aufenthalten »durch eine starke Gegenbeobachtung von westlicher Seite abgesichert« worden sei. Bei der ersten Reise zählte das MfS sieben Personen. Hartmann sei »von der Gegenbeobachtung in beiden Fällen bereits am Bahnhof Frankfurt / M. in Empfang genommen« worden.473 Wie sehr allein westliches Prospektmaterial in dieser Anfangszeit half, den eigenen Weg zielstrebiger zu nehmen, belegt eine Notiz Hartmanns, wonach die Arbeit ohne einen bebilderten Katalog von Texas Instruments, den er von seinem Freund Hans Schneider (siehe Exkurs 9) zugeschickt bekam, noch unendlich viel komplizierter geworden wäre.474 472  HA XVIII/2/3 vom 9.2.1966: Bericht über die Dienstreise von Hartmann und Zahn; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 15, Bl. 109–118, hier 118. 473  HA XVIII/2/3 vom 11.2.1966: Bericht über die Dienstreisen von »Rolf« mit Hartmann nach Frankfurt / M. vom 21.–24.12.1965 und 16.–21.1.1966; ebd., Bd. 15, Bl. 119–122, hier 120 f. sowie HA XVIII/8/2, vom 29.6.1970: Bericht über Verdachtsmomente zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 95–101, hier 97. 474  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 122.

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Die Reise zur Internationalen Konferenz über Festkörperschaltkreise in Philadelphia / USA vom 9. bis 11. Februar 1966 rückte näher. Staatlicherseits war die Reise Hartmanns zusammen mit Rudolf Reichel (VVB BuV, ZfK), Peter Fey (Institut für Nachrichtentechnik) und Rolf Hillig (VEB Elektromat Dresden) bereits genehmigt worden. Hartmann und Reichel sollten sogar bis zum 23. Februar bleiben dürfen, da Besuche bei US-Firmen vereinbart waren, u. a. zu Texas Instruments Inc. (P. E. Haggerty) und Fairchild Semiconductor (R. N. Noyce). Insgesamt waren es sieben Firmen. Die Einladungen galten allerdings nur Hartmann. Die Ausreisegenehmigung war vom Minister für Auswärtige Angelegenheiten erteilt worden. Zunächst gab es Schwierigkeiten bei der Einreisegenehmigungsstelle in Westberlin. »Am 1. Februar 1966 fuhren alle vier Teilnehmer nochmals nach Westberlin. Die Einreise hatte dann tatsächlich nur Hartmann erhalten, »nachdem die Herren auf dem amerikanischen Konsulat in nicht angenehmer Weise einzeln befragt und verhört« worden seien. Am 7. Februar fuhren Reichel, Fey und Hillig nochmals nach Westberlin. Doch auch diesmal erhielten sie keine Einreisegenehmigung. Kurz bevor die Frist zur Einreise ablief, ist Nendel gebeten worden »zu entscheiden«, ob Hartmann »unter diesen Umständen allein fahren« dürfe. Der entschied abschlägig. Die Entscheidung wurde Hartmann am 8. Februar übermittelt. Der war zwar »nicht einverstanden«, entschied sich aber, aus welchen Gründen ist nicht ersichtlich, nicht zu intervenieren. Er soll darauf hingewiesen haben, dass seine Reise ursprünglich als Einzelreise geplant und von Nendel bestätigt worden war.475 Dies entsprach den Tatsachen: Nendel hatte dem Reiseantrag von Hartmann am 14. August 1965 zugestimmt.476 Im April erfolgten erste »Messungen am ersten mit provisorischen Mitteln hergestellten pn-Übergang.« Auch wurden das Diffusionslabor und das erste staubfreie Laboratorium der Halbleitertechnik in der DDR fertig. Der Um- und Ausbau war, von unwesentlichen Dingen abgesehen, abgeschlossen. Von nun an war »der komplexen Entwicklung der Technologie« Raum und Zeit gegeben.477 Der faktische Arbeitsbeginn kann etwa für diese Zeit konstatiert werden. Der Abteilungsleiter »E« fasste am 27. April den Stand der Technologie hinsichtlich der Versuchsfertigung zusammen und hielt fest, dass »gemäß einer Grundsatzentscheidung von« Hartmann »in Übereinstimmung mit den Ansichten der VVB und des HWFO als einer der später möglichen Produktionsbetriebe für Festkörperschaltkreise mit den gleichen technologischen Einrichtungen durchzuführen, die auch später in der Massenproduktion Verwendung« finden sollten. Wenn nicht, bestehe die Gefahr, dass sich »noch unbekannte Einflussgrößen einschleichen« könnten. Die ersten Halbleiterblockschaltungen würden voraussichtlich 1973 bis 1975 hergestellt werden

475  Information an Nendel vom 9.2.1966; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 15, Bl. 100 f., hier 100. 476  Vgl. Schreiben von Nendel an Heinze vom 14.8.1965; ebd., Bl. 102. 477  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 19.

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können. Hingewiesen wurde auf die Notwendigkeit weiterer Sonderanfertigungen, etwa von Mehrrohr-Diffusionsöfen.478 Am 2. Mai bat Hartmann den Herausgeber der Physikalischen Blätter Ernst Brüche um die Veröffentlichung einer Würdigung für Gustav Hertz zu dessen 80. Geburtstag.479 Am 13. Mai besuchten Steenbeck und der amtierende Direktor des ZI für Kernforschung Rossendorf, Helmuth Faulstich, die AME.480 Am 20. Mai berichtete Hanisch über seine Auswertearbeit für die HV A. Er hatte von ihr über seinen Führungsoffizier einmal mehr ein Material zur Einschätzung erhalten. Doch das Material von McGRAW-Hill Book Company besaß die AME bereits ganz legal, es stand in der AME-Bibliothek. Es war über das sogenannte Westkontingent der AME »auf normalem Wege« bestellt worden. Von wem, konnte er nicht feststellen. Dieser Sachverhalt wurde später nochmals von seinem Führungsoffizier aufgegriffen, es sollte recherchiert werden, wer die Kosten der Bestellung getragen habe.481 Hartmann erhielt am 6. Juni vom Staatssekretariat für Forschung und Technik (SFT) die Berufung zum Mitglied eines zeitweiligen Gremiums des Forschungsrates der DDR. Das Gremium hatte per Ministerratsbeschluss 72/14/66 die Aufgabe, »eine prognostische Einschätzung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung auf dem Gebiet der elektronischen Bauelemente und der dazu notwendigen Reinststoffe für den Zeitraum bis 1980 zur Vorlage beim Präsidium des Ministerrates zu erarbeiten«. Mit dieser Berufung erhielt Hartmann das Recht, »Mitarbeiter von Instituten und Betrieben zu konsultieren und in entsprechende Unterlagen Einsicht zu nehmen«. Die Berufung war bis zum 15. August 1966 befristet.482 Für diese Aufgabe wurde eine Zentrale Gruppe von 16 Mitgliedern sowie die Arbeitsgruppen »Wissenschaftliche Grundlagen« (neun Mitglieder), »Halbleiterwerkstoffe« (acht Mitglieder), »Technologie« (sieben Mitglieder) und »Bauelementeeinsatz« (16 Mitglieder) zusammengestellt. Zu den Mitgliedern der Zentralen Gruppe zählten Rompe, Generaldirektor Heinze und Fuhrmann (beide VVB BuV), geleitet wurde sie von einem Vertreter des SFT; der AG »Wissenschaftliche Grundlagen« unter Leitung von Auth gehörten u. a. Hartmann, Lösche und Weißmantel an. Zur AG »Technologie«, die von Walter Heinze von der TH Ilmenau geleitet wurde, zählte auch Hillig von Elektromat Dresden. Die Arbeitsgruppe »Bauelementeeinsatz« leitete Faulstich vom ZIK Rossendorf, zu ihr zählte Falter, der nun der Zentralen Applikationsstelle der VVB BuV angehörte, aber auch ein gewisser Dieter Haustein (Kap. 3.4 u. 3.5) von der Hochschule für Ökonomie in Berlin.483 Hartmann hätte 478  Stand und Konsequenzen für die Versuchsfertigung vom 27.4.1966; ebd., Bd. 9, Bl. 115 f. 479  Vgl. Schreiben von Hartmann an Brüche am 2.5.1966; ebd., Bd. 17, Bl. 75. 480  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1 vom 21.5.1966: Bericht von »Rüdiger« am 20.5.1966; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 90–93, hier 90. 481  Ebd., Bl. 90 u. 94. 482  Schreiben von Müller an Hartmann vom 6.6.1966: Berufung; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 37, Bl. 27. 483  Anlage 1 vom 7.6.1966 (Zuordnung unklar); ebd., Bl. 28–33.

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aber notwendig auch Mitglied der »Zentralen Gruppe« und der AG »Technologie« sein müssen. Laut der am 5. Juli stattgefundenen »eingehenden Besichtigung und Konsultation« der AME durch Generaldirektor Heinze und andere Funktionäre sind der AME »grundlegende Hinweise und neue Aufgaben zur perspektivischen Entwicklung und Produktion von mikroelektronischen Bauelementen, speziell auf dem Gebiet der Festkörperschaltkreistechnik«, gegeben worden. Die Arbeitsstelle sollte demnach, so Heinze, »zu einem der führenden Institute auf dem Gebiet der Elektronik in kürzester Zeit entwickelt werden«. Dies war der Ausgangspunkt für das zweite Treffen vor Ort am 26. Juli, bei dem neun Punkte ausführlich diskutiert worden sind, darunter: Grundprobleme der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion; zur »Rolle der Persönlichkeit und Autorität des sozialistischen Leiters bezogen auf die« AME; zur »führenden Rolle der Parteiorganisation« in der AME (übersetzt: wie kommt endlich die SED an die Macht); sowie zu »Problemen und Fragen der Einbeziehung des Leiters« in die ZZ-Arbeit. Hartmann war mit der ZZ-Problematik zwar »grundsätzlich vertraut gemacht« worden, doch gefiel dies nicht allen Entscheidern, denn die AME sollte grundsätzlich »zu einem sozialistischen Institut allseitig entwickelt« werden. Auch sollte sie umgehend »zum Verschluss-Institut (VVS)« deklariert werden. Die zentrale Aufgabenstellung bestand darin, »im zweiten Halbjahr 1967 die ersten Festkörperschaltkreise« zu liefern, und 1968, mit der Laborfertigung zu beginnen. Zur Forcierung der Arbeiten sollten »in den nächsten Wochen fünf qualifizierte Wissenschaftler aus der Halbleitertechnik / Mikroelektronik für eine Zeit von 6 bis 12 Monaten« in sowjetische Institute gehen, davon drei aus der AME. Die Hauptaufgabe bestand darin, »den günstigsten Weg in der Forschung und Entwicklung gemeinsam mit der Sowjetunion zu wählen, um den in der DDR vorhandenen Rückstand kurzfristig aufzuholen«.484 Es heißt auch hier, dass Hartmann mit der ZZ-Problematik »grundsätzlich vertraut gemacht« worden wäre. Bedeutet das aber, dass Heinze ihm klipp und klar gesagt hatte, dass er in den Westen dann nicht mehr reisen dürfe? Hatte er den Mut dazu gehabt? Tatsächlich ging es bei diesem Gespräch bereits um alles oder nichts. Die »einzige Alternative, die es für ihn als Leiter der AME geben« könne, soll ihm »klar aufgezeigt« worden sein. Es ist einem Bericht von Oberstleutnant Alfred Kleine nicht klar entnehmbar, worum es explizit ging. Offenbar wurde eine Erpressung versucht: entweder Hartmann anerkenne die besonderen Verpflichtungen aus der ZZArbeit (zweiseitige, als geheim eingestufte Zusammenarbeit mit der Sowjetunion – d. Verf.), oder es erfolge seine Absetzung als Leiter. Eine solche ZZ-Verpflichtung war in aller Regel mit einem Westreiseverbot verbunden. Jedenfalls soll Hartmann zugesichert haben, dass er sich »über alle die sich aus der zweiseitigen Zusammenarbeit mit der SU ergebenden Probleme, Aufgaben und Konsequenzen, auch die persönlichen […] im Klaren und bereit« sei, »diese anzuerkennen«. Kleine: »Unter 484  Heinze, VVB BuV, vom 1.8.1966 (»Streng vertraulich!«): Besprechungsnotiz über eine Aussprache in der AME, Dresden, am 26.7.1966; ebd., Bd. 20, Bl. 13–16.

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diesen Bedingungen ist eine weitere Ablehnung des […] Hartmann als ZZ-Kader ungerechtfertigt. Seinem Einsatz im Rahmen der zweiseitigen Zusammenarbeit wird deshalb zugestimmt.«485 Kleine war zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Leiter der HA XVIII. Der 26. Juli war somit ein bedeutendes, möglicherweise gar richtungsentscheidendes Datum. Nach MfS-Aufzeichnungen hatte es bereits am 5. Juli ein erstes Gespräch zwischen Steger und Hartmann gegeben. Auch da ging es um die Einbeziehung Hartmanns »in die direkte technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der SU auf dem Gebiet der Mikroelektronik«. Er sei »mit der Inneren Ordnung grundsätzlich vertraut gemacht« worden. Hartmann erbat eine Bedenkzeit von 14 Tagen.486 Seine Verpflichtung erfolgte gemäß der »Inneren Ordnung« am 14. September.487 Die Geltungszeit erstreckte sich bis zum 31. März 1973.488 Am 2. September hielt Willi Stoph eine – später veröffentlichte – Rede vor dem Forschungsrat, in der er betonte, dass die »›kritische Einschätzung ihrer Arbeitsweise zu dem Ergebnis führe, dass die Institute ihre Kapazitäten stärker auf volkswirtschaftliche Schwerpunkte« zu konzentrieren« hätten. Zu den vier kritisierten Instituten zählte auch die AME. Hartmann notierte 1981 in seinem »Museum«: »Auch Stoph wurde also falsch informiert!«489 Wie von Generaldirektor Heinze angedroht, wurde die SED-Arbeit in der AME in den Fokus gerückt. Aus einem Rechenschaftsbericht der Parteileitung der AME unter Parteisekretär Hanisch vom 14. November geht hervor, dass lediglich 46 Genossen in der 383 Personen umfassenden Belegschaft vorhanden waren. Von den 94 Wissenschaftlern waren gar nur acht Genossen (8,5 Prozent). Im gesamten wissenschaftlichen Sektor war der Anteil noch geringer, nämlich 6 Prozent. Von den nunmehr zehn wissenschaftlichen Abteilungen wurden lediglich zwei von Genossen geleitet. Hanischs Vorschlag zur Lösung des Problems lautete, dass die Genossen desto mehr die Losung »Genosse sein – heißt Kämpfer sein« zu beherzigen hätten. Der »unmittelbare Einfluss« in der Arbeit im wissenschaftlich-technischen Sektor sei aufgrund der 6-Prozent-Quote viel zu schwach. Zudem sei die Parteidisziplin gering, da nur 60 Prozent der SED-Mitglieder an den Mitgliederversammlungen teilnähmen.490 Hanisch berichtete über eine Sekretariatssitzung der SED-Bezirksleitung Dresden am 25. November. Teilnehmer waren seitens der Industrie und der Forschung u. a. Hartmann, Theß, Pfüller, Hanisch (alle AME) und Heinze (VVB BuV). 485  HA XVIII/2/3 vom 8.8.1966: Zum Einsatz Hartmanns als ZZ-Kader; ebd., Bd. 44, Bl. 57. 486  Materialausriss (offensichtlich aus einem Sachstandsbericht zum OV »Molekül«, o. D.): Eingegangene Verpflichtungen Hartmanns als ZZ-Kader; ebd., Bd. 20, Bl. 1 f. 487 Vgl. Verpflichtung Hartmanns gemäß »Innerer Ordnung« vom 14.9.1966; Ablichtung zweier Sonderausweise Kategorie I; ebd., Bl. 17. 488  Vgl. Materialausriss (offensichtlich aus einem Sachstandsbericht zum OV »Molekül«, o. D.): Eingegangene Verpflichtungen Hartmanns als ZZ-Kader; ebd., Bl. 1 f. Anlage 57 (o. D.): Verpflichtung Hartmanns als ZZ-Kader; ebd., Bl. 10. 489  TSD; Nachlass Hartmann, H 67. Stoph: Die Bedeutung der Wissenschaft, S. 38–48. 490  Hanisch, Sekretär der BPO: Rechenschaftsbericht am 14.11.1966; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 10, Bl. 121–123.

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Hartmann hätte den Rückstand zur Weltspitze auf nunmehr acht bis zehn Jahre geschätzt. Zur Aufholung sei »eine enge Zusammenarbeit« mit der Sowjetunion unbedingt »notwendig«. Die Zusammenarbeit sei aber durch die Geheimhaltung »noch sehr erschwert«. Heinze habe angekündigt, dass vorgesehen sei, Hartmann sowohl einen wissenschaftlichen als auch einen ökonomischen Stellvertreter an die Seite zu stellen. Namen wurden nicht genannt. Ausführlich wurde die Kaderpolitik Hartmanns kritisiert. Jemand forderte, »wenn schon der Leiter der AME (wie auch in vielen anderen wissenschaftlichen Instituten) nicht Mitglied der Partei« sei, so sei »es aber notwendig, die Positionen ›Ökonomischer Leiter oder Verwaltungsleiter‹, ›Hauptbuchhalter‹ oder ›Leiter der Materialversorgung‹ im Verwaltungssektor durch Genossen zu besetzen!«491 Am 30. November sprach Steger mit Hartmann. Ein wichtiges Thema war die Importproblematik für die Schaltkreisproduktion. Für diese Aufgabe sollte Hillig gewonnen werden.492 Das geht zumindest aus Angaben Hanischs im Rahmen seiner MfS-Gutachtertätigkeit Jahre später hervor. Hierzu Hartmanns Notiz L 80/66: das Gespräch fand im Berliner Arbeitszimmer Stegers statt und dauerte zweieinhalb Stunden. Hauptthema war der Widerspruch zwischen seiner nicht genehmigten Reise nach München (Thematik der Reinsträume)  und der Teilnahme einer 15-köpfigen Delegation von Hochschul- und Akademieinstituten an der Halbleiterkonferenz in Tokio. Gesprochen wurde auch über die »Besetzung leitender wissenschaftlich-technischer Funktionen in der Halbleiterindustrie«. Hartmann soll Steger zum wiederholten Male erklärt haben, dass Leiter von Werken der physikalischen Industrie wissenschaftlich-technische Fachkräfte sein müssten und nicht Ökonomen.493 Hanisch interessierten acht Jahre später diese Aspekte nicht, er suchte nach Belastungen gegen Hartmann, nicht nach Entlastungen. Dies traf auch auf die Frage des Imports von technologischen Ausrüstungen zu. Hartmann hatte notiert: »Herr Minister Steger fragt L [das ist Hartmann] nach seiner Meinung zu den vorge­ sehenen Importen für Festkörperschaltkreisproduktion. Nach Meinung der VVB, deren schriftliche Formulierung L zur Einsicht bekam, kann bei Realisierung dieses Imports ›die Fertigung von Festkörperschaltkreisen bereits 1968 aufgenommen werden‹. L erläutert die in den Notizen L 54/66 und L 55/66 zusammengefasste Stellungnahme von AME zu den genannten Importen und wies darauf hin, dass seiner Meinung nach mit einer Aufnahme der Fertigung 1968 nicht zu rechnen ist, da sehr viele Voraussetzungen wissenschaftlich-technischer Art noch geklärt werden müssen.« Das größte Problem stelle der Westimport dar. Da aber die »AME in diese Verhandlungen nur sporadisch einbezogen« werde, müsse »die VVB die Entschei491  Bericht von »Rüdiger« am 7.12.1966: Sekretariatssitzung der SED-Bezirksleitung Dresden am 25.11.1966; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 141–143. 492  Vgl. Hanisch zum Fortgang der Aufbauleistungen; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 24, Bl. 1. 493  Notiz L 80/66 – Ha / L a – vom 30.11.1966: Besprechung mit Steger; ebd., Bl. 1 f.

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dung treffen«. Steger bat Hartmann, mit Hillig über diese Fragen zu sprechen, da der demnächst nach Berlin fahre.494 Die sowjetische Abwehr spielte im Dezember dem MfS eine Fotokopie eines von ihr abgefangenen Briefes zu, den Hartmann konspiriert von einem Moskauer Hotel aus an eine Münchener Bekannte aufgegeben hatte und in dem er mitteilte, dass er nicht nach München kommen könne, da man »ihm nicht traut«. Er bat deshalb um ein Treffen in Ostberlin oder in Prag. Ergo müsse eine Flucht »des H. bei passender Gelegenheit einkalkuliert werden«. Tatsächlich konspirierte Hartmann auch an andere Adressaten, etwa mit dem »Pseudonym B: (Bensau)« und »als Unterschrift« das Pseudonym AB.495 Hartmann musste, weil es nach wie vor kaum nennenswerte Dienstleistungs- und Produktionseinrichtungen in der DDR gab, die für die neue Technologie hätten liefern können, weiter den Weg des Westimports gehen. Am 11. Januar 1967 »fand in Berlin unter der Leitung des Direktors für Wissenschaft und Technik der VVB BuV und Verantwortlichen des Sonderstabes für Importe«, Fuhrmann, die avisierte Beratung statt. An ihr nahmen acht Personen teil, und zwar je zwei Vertreter des KFWE und des HWFO, Hartmann und ein Vertreter des VEB Elektromat Dresden sowie Zahn (VVB BuV, Leiter der Abteilung TA) und Hillig (Direktor für Forschung und Entwicklung des VEB Elektromat Dresden). Es ging nicht um Importe aller Art, sondern nur um Embargoware, konkret um Importe von Kulicke & Soffa, die am 30. Juni realisiert werden sollten. Man diskutierte zwei Gefahrenstufen: Die erste Etappe beinhaltete den Weg der Importe im Ausland, hier war darauf zu achten, dass die involvierten DDR-Personen nicht gefährdet werden durften. Die zweite Gefahrenstufe in der DDR stand unter dem Aspekt, »dafür zu sorgen, dass niemand erfährt, woher diese Importe gekommen« seien. »Letzteres«, so Hartmann, sei »nahezu unmöglich, da die Geräte durch Prospekte und andere Dinge bekannt« seien. Hierzu ist eine bemerkenswerte Position Hartmanns überliefert, die, wer ihn kannte, nicht überrascht haben mag; Zitat: »Die Beratung nahm einen sachlichen Verlauf, obwohl ich immer wieder anzweifeln muss, dass mit diesen Importen der Republik geholfen wird, was ich auf der Beratung allerdings nicht mehr zum Ausdruck gebracht habe, um nicht als Querulant zu erscheinen und auch keine beweisbaren Gegenargumente dafür habe.« Eine Position, die selbst heute noch nicht von allen Historikern geteilt wird, letztlich aber zutreffend ist. Zutreffend war auch, wenn er darauf hinwies, »dass, wenn die Importe da sind, die Entwicklung des Bauelementes ›Halbleiter‹ noch nicht so weit gediehen ist, dass diese Importe sofort genutzt werden könnten.« Er rechnete damit, dass die Importe ein Vierteljahr herumstehen würden.496

494  Ebd., Bl. 2. 495  Zwischenbericht vom 29.6.1967; ebd., Bd. 2, Bl. 41–53, hier 42. 496 Hartmann: Beratung am 11.1.1967 in Berlin unter Leitung Fuhrmanns; ebd., Bd. 24, Bl. 263 f.

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Tatsächlich sollte dies bei AME und anderswo gar nicht so selten eintreten. Manche Aggregate sowie Materialien und Geräte »lagerten« oft jahrelang in Abstellräumen, auf Fluren oder Höfen. Die Beratungsteilnehmer sind sich auch bewusst gewesen, dass man noch nicht über Wafer verfügte, auch sie mussten importiert werden; Hartmann: »Eine, meiner Meinung nach, sehr fragwürdige Angelegenheit, die jedoch rein von der VVB zu verantworten ist.« Hartmann lieferte ein klares Bild von der desolaten Gesamtsituation, die vom Druck, auf »Teufel komm raus« Festkörperschaltkreise zu produzieren, diktiert war. »Offen war weiterhin auch der Import der Kunststoffe für das Umhüllen der Bauelemente, wobei man nach meiner Meinung etwas leichtfertig sagt: In der Welt wird heute so viel Kunststoff hergestellt, dass es kein Problem sein dürfte, wenn ein westdeutscher Betrieb den Hahn zudreht, den Kunststoff wo anders zu bekommen. Wenn dies allerdings so wäre, dann könnten wir ja auch Kunststoffe von Leuna sofort einsetzen. Ich zweifle nach wie vor die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Importe an.«497 Der sowjetische Geheimdienst teilte dem MfS am 2. März mit, dass Hartmann während seines Sowjetunion-Aufenthaltes angedeutet haben soll, nach seiner »Rückkehr aus der UdSSR überzusiedeln, um in einer wissenschaftlichen Institution in Westdeutschland zu arbeiten«. Im kleineren Kreis soll er die westlichen Lebens­ verhältnisse »verherrlicht« haben.498 Die Zeitschrift URANIA vermeldete im Aprilheft des Jahres 1967, dass im VEB Elektromat Dresden die ersten Diffusionsöfen zur Fertigung von Silizium-Planar-​ Halbleitern fertig gestellt worden seien. Zwei andere Meldungen an gleicher Stelle verkündeten dem Kenner, dass an der Mikroelektronik-Technologie gearbeitet werde. Zum einen über die Erprobung von Technik im VEB Lufttechnische Anlagen Dresden und im Institut für Luft- und Kältetechnik Dresden bezüglich Reinräume und zum anderen über eine Versuchsproduktion von Mikroschaltelementen im VEB Keramische Werke Hermsdorf.499 Am 5. April fixierte die HA XVIII/2/3 »zum Gesamtkomplex Festkörperschaltkreise« folgende Aspekte: »Durch Minister Steger und Generaldirektor Heinze« sei »noch vor dem VII. Parteitag der Einsatz von Professor Hartmann zum Gesamtkomplex Festkörperschaltkreise zu entscheiden«. Hartmann trage als eingesetzter »ZZ-Kader die Hauptverantwortung für die Entwicklung« der FSK. Parallel dazu würden im Halbleiterwerk Frankfurt / O. »Unterlagen des WTA« [der HV A] für Entwicklungsarbeiten benutzt. Eine enge Zusammenarbeit sei unabdingbar. Hierfür müsse Hartmann jedoch die »volle Verantwortung übertragen« bekommen, habe aber bislang »keinen Einblick« in die Unterlagen der WTA. Die WTA würde »einer solchen Entscheidung nicht« zustimmen. Ein Offizier entschied, dass einer »solchen 497 Ebd. 498  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 160; Originaldokument: HA II, OG Moskau, vom 2.3.1967 an die HA XVIII, AG Wirtschaftsbeziehungen: Zu Hartmann; ebd., Bd. 6, Bl. 68–70, hier 69. 499  Vgl. URANIA-Mosaik, in: URANIA 30(1967)4, S. 34 f.

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Entscheidung« der Staatsgremien »prinzipiell nicht widersprochen werden« könne und dass die WTA zu gewährleisten habe, dass bei Einblick in solche Unterlagen »keine Gefährdung von Quellen« eintrete.500 Im April stellten sich erste positive »Ergebnisse an selbstentworfenen integrierten Transistoren« ein.501 Von der VVB BuV ist ein Bericht über eine Informationsreise in die Sowjetunion vom 8. bis 14. April zum Besuch des Ministeriums für Elektronik der UdSSR in Moskau überliefert. Delegationsleiter war Fuhrmann, Direktor für Wissenschaft und Technik der VVB BuV. Mitreisende waren Hartmann, zwei Vertreter des Halbleiterwerkes Frankfurt / O. sowie ein Vertreter von der VVB Datenverarbeitung und Büromaschinen. Ziel der Reise war die Erkundung von Möglichkeiten des Einsatzes sowjetischer FSK in elektronischen Datenverarbeitungsanlagen der DDR. Der Hinweis, dass dies überhaupt denkbar wäre, sei von Alexander I.  Schokin, dem späteren Minister für elektronische Industrie der Sowjetunion, an Steger im März gekommen. Der Wunsch der DDR-Delegation zum Besuch der sowje­tischen Fertigungsstätte für FSK wurde erfüllt. Ihr wurden demnach Schaltkreise in Widerstandstransistorlogik (RTL), Widerstandskapazitätstransistorlogik (RCTL) und Diodentransistorlogik (DTL) gezeigt. Bestellungen unter dem Aspekt einer alsbaldigen Lieferung seien jedoch nur zum Teil entgegengenommen worden. Es wurde festgestellt, dass mit den zur Verfügung stehenden Baureihen »keine Datenverarbeitungsanlage aufzubauen« sei. Frühestmögliche und unter technisch-physika­ lischer Einschränkung mögliche Lieferungen seien erst in ein bis zwei Jahren möglich, optimistische Einschätzung 1968, pessimistische 1969. Im Gegenteil, die Sowjets hatten sich nach Lieferungsmöglichkeiten seitens der DDR erkundigt. Die DDR-Delegation sei mehrmals inoffiziell gefragt worden, »inwieweit die DDR bereit wäre«, für die Sowjetunion »sehr schnell Festkörperschaltkreise im Umfang von einigen 100 Tausend pro Type (Gesamtumfang mehrere Millionen Stück) zu liefern«. Auch an einer »gemeinsame[n] Entwicklung von hochproduktiven Festkörperschaltkreisstraßen« sei man interessiert. Die DDR-Delegation soll »auf das Äußerste überrascht« gewesen sein. Schokin würde sich jedenfalls sehr freuen. Die DDR-Delegation signalisierte Bereitschaft, betonte aber, dass als Voraussetzung dafür »die schnellstmögliche Übergabe entsprechender Technologien noch eventuell benötigter Ausrüstungen«, auch »die Bereitschaft der sowjetischen Seite zur Einarbeitung deutscher Spezialisten in der UdSSR sowie die Unterstützung so­wjetischer Spezialisten bei der Produktionsaufnahme in der DDR« realisiert werden müsse. Jedoch lehnte Abramov es ab, die diesbezüglichen Fragen und Vorschläge der DDR ins Protokoll zu nehmen, da dies »Informationsfragen« seien, die nicht in »einem offiziellen Protokoll zu behandeln« seien. Die Delegation der DDR schätzte ins-

500  HA XVIII/2/3 vom 5.4.1967: Einsatz von Hartmann zum Komplex FSK; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 44, Bl. 87 f. 501  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 19.

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gesamt ein, dass die sowjetische Seite einen noch erheblichen Rückstand habe, gemessen an den USA sei es etwa der Stand 1963 bis 1964.502 Hartmanns Reise nach Moskau kurz vor dem VII. Parteitag der SED war wieder eine Hochzeit des KGB und des MfS: Acht von Hartmann geschriebene Postkarten aus Moskau wurden »im Original sichergestellt und von der befreundeten Dienststelle auf geheimschriftliche Mittel untersucht. Die Untersuchungen verliefen ergebnislos.« In seinem Hotelzimmer wurden die Maßnahmen »A« und »B« installiert. Angeblich sei Hartmann »mit den internsten Forschungsergebnissen auf dem Gebiet der integrierten Schaltungen bekannt gemacht worden.« Es gleicht einem schlechten Treppenwitz, wenn Offizier Bäßler behauptete, dass Hartmann auf der »ZZ-Zusam­menkunft« erfahren habe, dass die Sowjetunion Lieferangebote zu Messtechnik, FKS und Minitransistoren gemacht habe.503 Aus solchen Angeboten wurde regelmäßig nichts. Ein Originalbericht der HA II, Operativgruppe Moskau, vom 3. Mai ist überliefert. Demnach sind die acht Postkarten fotokopiert worden. Im Hotelzimmer Hartmanns hatte der KGB ganzzeitlich operative Technik installiert. Allerdings »verlief« der Einsatz »ergebnislos, da sich ›Platte‹ [Hartmann] ständig allein im Zimmer befand«. Auch das Telefon war angezapft, doch auch das brachte keine Erkenntnisse, da er es nicht benutzte.504 Auch beschatteten die sowjetischen Tschekisten ihn ständig. Nachrichtendienstlich verwertbare Erkenntnisse ergaben sich jedoch nicht; ein Beispiel: »13. April 1967, 9.00 Uhr verließ er das Hotel und geht zum Briefkasten steckt mehrere Karten hinein und fährt anschließend wieder zum Ministerium [für Radioelektronik – d. Verf.], welches er 11.30 Uhr verlässt. Gegen 12.50 Uhr ist er im Hotel ›Ukraina‹. Um 19.15 Uhr verlässt er das Hotel ›Ukraina‹ und geht spazieren bis 19.30 Uhr und kehrt ins Hotel zurück.«505 Ulbricht hatte in seinem Referat auf dem VII. Parteitag der SED im April betont,506 dass die elektronische Industrie »die modernsten Verfahren zur Herstellung mikroelektronischer Schaltungen« beherrschen lerne »und die Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Molekularelektronik intensiv vorangetrieben« würden.507 Am 25. April verfasste das MfS einen sogenannten Anschleusungsplan für den GM »Theo« an die (zweite) Ehefrau Hartmanns. »Theo«, geboren in Hamburg, siedelte 1954 in die DDR über und war zuvor mehrere Jahre als Journalist in Schweden tätig. Hieraus flocht das MfS die Legende: »›Theo‹ wird als zurzeit in Schweden lebender WD-Bürger bei der H. auftreten. Er hat in Schweden eine Wohnung und besitzt in Hamburg, seiner Geburtsstadt, ebenfalls eine Wohnung.« Außerdem

502  VVB BuV vom 6.5.1967: Informationsreise in die UdSSR; ebd., Bd. 44, Bl. 102–107. 503  Zwischenbericht vom 29.6.1967; ebd., Bd. 2, Bl. 41–53, hier 48 f. 504  HA II, OG Moskau, vom 3.5.1967: Kontrollmaßnahmen zu »Platte«; ebd., Bd. 44, Bl. 89 f., hier 89. 505  HA XVIII/2/3 vom 22.6.1967: Übersetzung eines Berichtes; ebd., Bl. 91 f., hier 91. 506  17.–22.4.1967 in Berlin. 507  Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, hier 14.

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»wird« er »sich als freischaffender Journalist vorstellen, der sich mit wirtschaftlichen Problemen des ›Osthandels‹ befasst«.508 Einem Bericht des Direktors für Forschung und Entwicklung des VEB Elektromat vom 27. April ist zu entnehmen, dass Hartmann völlig überzogene Forderungen gestellt haben soll. Demnach habe er für den Reinstraum einen geringeren Lärmpegel, einen höheren Staubfreiheitsgrad sowie eine höhere Temperaturkonstanz gefordert.509 Seine Forderungen an den Grad der Staubfreiheit in solchen »extremen Dimensionen« seien »a priori ungerechtfertigt«. Er sei darauf mehrmals vom Berichterstatter und auch von Fuhrmann, VVB, hingewiesen worden.510 Doch die Forderungen Hartmanns waren eher unter- als übertrieben. Man wollte nicht begreifen, dass die neuartige Technologie anders lief als in der klassischen Elektronik, obgleich selbst bei der Fabrikation von Photokathoden recht früh »höchste Ansprüche an Sauberkeit« gestellt waren, worauf Hartmann 1943 in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Technische Physik aufmerksam gemacht hatte. Hier ging es ähnlich wie in Teilabschnitten der Elektronik-Technologie um komplexe chemisch-physikalische Einflüsse, die die Eigenschaften und Güte der Photokathoden wesentlich beeinflussten.511 Als Hartmann ein Vierteljahrhundert später von der Alchemie spricht, basierte das auf eben diesen Erfahrungen. Hartmann stellte später fest, dass Steger im Juni die Entwicklung der FKS analog TI SN 74 festgelegt habe. AME sollten hierzu Fremdmuster übergeben werden. Steger habe auch deshalb AME quasi als Verschlussobjekt festgelegt. Hartmann war klar, dass damit die »innerbetriebliche Kommunikation stark eingeschränkt« würde, aber auch »keine aktive Teilnahme von AME-Mitarbeitern an ZZ-Arbeit, keine Kontakte« zum VEB HWFO mehr möglich seien.512 Am 23. Juni bemerkte Hartmann um 7.05 Uhr, dass »die Siegelung des rechten Teiles« seines »Bücherschrankes verletzt war; der Faden war aus dem auf der Tür befindlichen Siegel herausgezogen worden«. Hartmann informierte den für AME zuständigen MfS-Offizier.513 Der dürfte den Unwissenden gespielt haben. Durch die Anschleusung des GM »Theo«514 an die Frau Hartmanns erfuhr das MfS, dass sich das Ehepaar 1963 bei einem Aufenthalt in Westdeutschland mit dem Gedanken getragen habe, bei sich bietender Gelegenheit im Westen zu verbleiben.515 Wie kam der Kontakt zur Ehefrau zustande? Die konspirative Konstruktion 508 HA XVIII/2/3 vom 25.4.1967: Zur Heranführung von »Theo«; ebd., Bd. 44, Bl. 83 f., hier 83. 509  Vgl. EMD vom 27.4.1967: Investmaßnahmen für AME; ebd., Bl. 108–12. 510  Unbekannter Autor: Zu möglichen Ursachen und / oder Verursachern der gegenwärtigen Situation in der elektronischen Industrie der DDR; ebd., Bd. 47, Bl. 30–33, hier 31. 511  Vgl. Hartmann, Werner: Über die Herstellung von Photokathoden des Aufbaues [Ag]Cs2 O, Ag-Cs, in: Zeitschrift für Technische Physik 24(1943)5, S. 111–123. 512  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 20. 513  AME vom 23.6.1967: Feststellung einer Siegelverletzung; ebd., Bd. 37, Bl. 159. 514  Zwischenbericht vom 29.6.1967; ebd., Bd. 2, Bl. 41–53, hier 46–48. 515  Vgl. ebd., Bl. 45.

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mittels einer fingierten Panne vor dem Hause Hartmanns beschreibt ein Bericht des MfS vom 9. Juni. Der angeblich schwedische Journalist hantierte an seinem stehengebliebenen Auto, bekam Einlass und Hilfe, später lud er sie ein.516 Nicht lange, und er erfuhr, wonach das MfS trachtete. Wir greifen hier der Geschichte – aus einem seiner Berichte ein halbes Jahr später – vor; GM »Theo«: »Ich erhielt die Aufgabe mich in Leipzig mit« Hartmanns Frau »zu treffen. Aus diesem Grunde schickte ich ihr von Westberlin aus ein Telegramm und bestellte sie für den 3. Februar 1968 abends zum Hermsdorfer Kreuz. Die Aufgabenstellung beinhaltete« u. a., zu »Professor Hartmann weitere Details seiner Verbindungen zu westdeutschen oder anderen Geheimdiensten zu klären und dabei mit der Motivierung vorzugehen, dass diese […] Angaben benötigt« würden, »um ihren [angeblichen – d. Verf.] Wünschen hinsichtlich einer Republikflucht« nachzukommen.517 Bei diesem Treffen teilte »Theo« ihr mit, dass er für sie hinsichtlich einer Flucht leider nichts machen könne, anders als im Falle ihres Mannes, für den sich seine Organisation interessiere. Dreister und einfältiger ging es kaum: »Ich«, also »Theo«, »und die Organisation wüssten, dass Professor Hartmann nach drüben Beziehungen hat. Meine Leute sind daran interessiert zu erfahren, mit wem hat Hartmann Beziehungen, wie funktionieren diese, wer sind diese Leute in Westdeutschland und wie kommt man an sie heran. Das war die Motivierung um sie über Professor H. zu befragen.«518 Hartmanns Frau hatte ihm übrigens erkennbar keine Fakten mitgeteilt, die nicht schon bekannt gewesen wären und öffentlich kursierten. Dazu zählt auch, dass ihr Mann eine »passive Resistenz« gegenüber der DDR lebe. Und auf die Fangfrage von »Theo«, ihr Mann könne ja für das MfS arbeiten: »lachte sie und wehrte entschieden [ab], das sei völlig unmöglich, er würde nie für das Ministerium für Staatssicherheit arbeiten. Das ergebe sich aus seiner gesamten Haltung.«519 Im ersten Halbjahr hatten sich weiterhin »keine Verdachtsmomente im Zusammenhang mit einer feindlichen Tätigkeit des H. ergeben«. Also bereitete das MfS im Sommer umfangreiche operative Maßnahmen wie Durchsuchungen, die Maßnahmen »A« und »B« sowie die Einbeziehung »aller Linien« und den IM-Einsatz hinsichtlich seines Aufenthaltes in der ČSSR u. a. m. vor. Darüber hinaus sollten »sofort aktiv« einbezogen werden in die »Lösung von Fragen der Täterpersönlichkeit des Professor H. sowie zur Erarbeitung von Beweisen« hinsichtlich des Paragrafen 23 StGB« die inoffiziellen Mitarbeiter »Schubert«, »Rüdiger« und »Richter«; auch eine weibliche Person sollte »mit dem Ziel der Heranführung an Professor H. zur Herstellung vertraulicher Beziehungen« ausgewählt und zum Einsatz gebracht werden. Der Einsatz operativer Technik im Wohnhaus Hartmanns war ebenso geplant.520 516  HA XVIII/2/3 vom 9.6.1967: Bericht über die Durchführung des Auftrages in Dresden auf dem »Weißen Hirsch« am 5.6.1967; ebd., Bd. 15, Bl. 142–151. 517  HA XVIII/2/3 vom 9.2.1968: Zum Bericht von »Theo«; ebd., Bl. 168–175, hier 168. 518  Auftrag und Verhaltenslinie für »Theo«; ebd., Bl. 180–182, hier 180. 519  HA XVIII/2 vom 28.8.1968: Bericht vom Treffen im Hotel Unter den Linden am 27.8.1968; ebd., Bl. 183–193, hier 183 f. 520  Zwischenbericht vom 29.6.1967; ebd., Bd. 2, Bl. 41–53, hier 51–53.

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Über ein Gespräch Hartmanns mit Minister Steger am 12. Juli im MEE, um das er gebeten hatte, existiert die Notiz L 52/67. Hartmann erläuterte ihm bei dieser Gelegenheit die AME-Konzeption. Steger habe die Richtigkeit der »Konzeption« unterstrichen. Insbesondere auch, was »die vorrangige Bearbeitung der Technologie« anlangte. Doch Steger habe auch betont, dass die »Schaltkreise dringend benötigt« würden. »Nach Vorlage des AME-Programms Ende August 1967« sollte »eine gemeinsame Aussprache« mit dem Halbleiterwerk in Frankfurt / O. stattfinden. Ferner habe Steger »die fehlende politische Aussage« in seinem Vortrag521 auf der 12. ITE in Berlin kritisiert. Hartmann fragte daraufhin nach, ob er an der bevorstehenden Reise in die Sowjetunion teilnehmen könne. Steger soll dies mit Verweis auf gegebene Umstände verneint haben. Auch habe er die, so wörtlich, »Hierarchie in AME« bemängelt, ihm sei es »unverständlich, dass alle Mitarbeiter die gleiche Meinung vertreten« würden. Er halte es nicht für richtig, dass Hartmann als Doktorvater fungiere, »da in diesem Falle die AME-Mitarbeiter keine Kritik äußern würden«.522 Es kann angenommen werden, dass Steger die Information vom MfS erhalten hatte, dass einer, der sich nicht auf der Linie Hartmanns bewegte, Gefahr lief, nicht promoviert zu werden. Dieser eine war Hanisch. Der erhielt die Notiz am 18. Juli 1973, zumindest partiell, sechs Jahre später. Zu einem Zeitpunkt, zu dem das MfS die Unterlage(n) noch während der Anwesenheit Hartmanns konspirativ beschaffte. Hanisch: »Die Gleichschaltung aller Meinungen der Mitarbeiter nach außen ist ein strenges Arbeitsprinzip von Professor Hartmann, versteckt unter der Hauslosung ›AMD – ein Labor‹.«523 Ernst Brüche schrieb an Hartmann am 11. August: »Es wird ja von Tag zu Tag schwieriger, die alten Beziehungen aufrechtzuerhalten, ohne irgendwo anzustoßen. Ich hatte bereits eine Laudatio für Herrn Gustav Hertz zu schreiben begonnen, habe aber dann doch Abstand genommen, sie in den Physikalischen Blättern zu bringen. Ich weiß ja, dass meine Zeitschrift für manche Stelle in der DDR sehr anstößig erscheint.524 Hans-Joachim Fischer (Kap. 4.2) war bereits 1958 der Auf‌fassung, dass diese Zeitschrift ein »Revolverblatt« sei.525 Weiter Brüche: »Dass Herr Steenbeck den Ball, den ich ihm in Heft 6 bei der Besprechung seiner Ansprache auf dem SED-Parteitag zugeworfen habe, aufgegriffen hat, war für mich eine unerwartete Überraschung. Dass er in seinem Schreiben nicht in üblicher Weise die Physika­ lischen Blätter angeschwärzt hat, sondern mir u. a. sagte, dass die Zeitschrift seines Wissens bisher nicht versucht hatte, die andere Seite zu ›verteufeln‹, war für mich

521  Hartmann, Werner: Mikroelektronik als Schrittmacher der Technik. Auszüge aus dem Festvortrag zur Eröffnung der 12. ITE in Berlin, in: Technische Gemeinschaft (TG), (1967)8, S. 15–18. 522  Notiz L 52/67 vom 12.7.1967; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 12, Bl. 33. 523  Besprechung bei Steger; ebd., Bd. 6, Bl. 156. 524  Das Originalschreiben: Brüche an Hartmann vom 11.8.1967; ebd., Bd. 17, Bl. 76. 525  Bericht von »Elektronicus« vom 1.4.1958: Universität Halle; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 1, Bl. 79 f., hier 79. Der GI »Elektronicus« ist Hans-Joachim Fischer (Kap. 4.2.2).

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eine besondere Anerkennung.526 Sein Brief an mich, der grundsätzliche Fragen anrührt, ist bereits in Satz. Ich hoffe, dass aus der Veröffentlichung eine Diskussion entsteht, die allen nutzt.«527 Hartmanns Reise nach Ungarn vom 30. August bis 15. September stand unter Ermittlungsdruck des MfS, insbesondere mit »Verdacht auf R-Flucht [Republikflucht]«. Die eingesetzten operativen »Werkzeuge« des MfS waren: »eine starke, qualifizierte Beobachterbrigade«, »Ein- und Ausreisefahndungsmittel«, »Kontrolle der gesamten Korrespondenz«, »Einsatz inoffizieller Netze in den verschiedenen Hotels« sowie der »Einsatz der operativen Technik«. Die Zusammenarbeit mit der ungarischen Staatssicherheit wurde als »sehr gut« eingeschätzt. Die Einreise Hartmanns erfolgte am 1. September. Bereits am ersten Tag traf er sich mit der Münchnerin, die in Begleitung angereist war und sich in dasselbe Hotel einlogierte. Die Organisation des Treffens und der Zimmerreservierung geschah von Westdeutschland aus. Hiervon erfuhr das MfS nichts. Hartmann hatte für die Einreisegenehmigung eine Adresse eines ihm bekannten Professors angegeben, eines Kossuth-Preisträgers. Doch zu einem Treffen beider soll es nicht gekommen sein, konstatierte das MfS. Lediglich eine im Hotel für ihn hinterlegte Nachricht sei festgestellt worden. Über den Professor, so das MfS, gebe es ein streng geheimes operatives Material, das gesperrt für die Einsichtnahme war. Dessen Tochter sei aus Ungarn geflüchtet und lebe in den USA. Hartmann wechselte in Ungarn sofort den Ort und fuhr nach Siófok, Balaton. Im Hotel lag für ihn bereits ein Brief aus Dresden bereit, den er unter Pseudonym an sich selbst abgeschickt hatte. Das MfS beobachte weitere Merkwürdigkeiten. So hatte er auch ein Treffen mit einem Rechtsanwalt aus Miesbach bei München. Der ungarische Staatssicherheitsdienst schätzte ein, dass Hartmann »mit den Methoden der Beobachtung vertraut ist und sich stark absichert«. Ein Gespräch vom 13. September, 11.40  Uhr, mag wohl darauf hinweisen, dass eine Flucht zumindest im Kalkül stand: »[Münchnerin]: ›Alles wegschmeißen.‹ H.: ›Ja‹ (sie hantieren mit Papier). [Münchnerin]: ›Diese Ungarnkarte ist meine. Wir können hier beide gucken wie man nach Jugoslawien fährt.‹« Und weiter: »H.: sagt die Zahlen: 11651. [Münchnerin]: ›Die wichtigsten Dinge zuerst‹«.528 Man kann vermuten, dass Hartmann die Flucht abgeblasen hatte, da er der Beobachtung gewahr wurde. Die Abteilung X der BV Dresden gab der HA XVIII, Oberst Mittig, am 1. Dezember einen Bericht über die Observation Hartmanns in Ungarn, speziell über die Dienstreise ihres Mitarbeiters Bäßler nach Budapest. Thema war insbesondere die Auswertung der gewonnenen Erkenntnisse zusammen mit den ungarischen 526  Auswertung von Archivunterlagen zur Einschätzung des wissenschaftlichen Arbeitsvolumens Hartmanns für die Mikroelektronik vom 29.6.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 17, Bl. 40–43, hier 43. 527  Das Originalschreiben: Brüche an Hartmann vom 11.8.1967; ebd., Bl. 76. 528  HA XVIII/2/3 vom 20.9.1967: Ergebnisse der operativen Arbeit in Ungarn; ebd., Bd. 2, Bl. 54–64, hier 54 f. u. 60–64.

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Genossen. Belastendes in der Ermittlungsrichtung »Spionage« konnte jedoch nicht »erarbeitet« werden. »Technische Materialien sowie Fotokopien der Korrespondenz wurden Genossen Bäßler persönlich übergeben.«529 Offenbar suchte das MfS nach einem harten, justitiablen Beleg. In weniger prominenten Fällen und vor allem in den 1950er-Jahren machte es sich nicht so viel Mühe. Die Erkenntnisfortschritte zu Hartmann gingen an den Leiter der HA XVIII, Oberst Mittig.530 Minister Steger griff im Frühjahr 1968 zu einer drastischen Formulierung gegenüber Hartmann, die erstaunt. Der Verblüffung war es wohl geschuldet, dass er nicht zurückfragte mit »inwiefern?«. Steger: »Sie sind ein objektives Hindernis für die Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR.« Das Gespräch fand im Umfeld einer Schulung in Heiligendamm statt und fand seinen Anlass in einer Bitte Hartmanns um eine Aussprache. Dies war nicht die erste ihrer Art, die Hartmann suchte. Er wollte wissen, was er denn falsch mache. Daraufhin fiel der obige Satz. Hartmann soll Steger erwidert haben, dass er dann abgesetzt gehört, er könne »subjektive Mängel, nicht jedoch objektive beseitigen«. Hartmann trage sich, so der berichtende IM »André«, mit Kündigungsgedanken, jedenfalls sei er auf der Suche nach anderen Aufgaben.531 Stegers Satz, der unkommentiert überliefert ist, kann als ein Fingerzeig auf die Beschaffungs- und / oder ZZ-Problematik gedeutet werden. Hartmann war als Nichtgenosse, der beharrlich seine westliche Kultur und Verbindungen pflegte, für die SED und das MfS nicht akzeptabel. An einen SED-Beitritt war ebenso nicht zu denken wie an eine Möglichkeit, ihn als IM zu werben. Somit war er nicht vertrauenswürdig und konnte in die Geheimnisse seiner Fachumgebung (Beschaffungsproblematik) nicht hinreichend eingeweiht werden. Möglicherweise spielte aber auch der aufkommende Primat der Produktion gegenüber der Grundlagen- und Erkundungsforschung eine Rolle. Immerhin wurde eine wirtschaftspolitisch motivierte Novellierung der »Strategischen Konzeption zur beschleunigten Forschung, Entwicklung und Produktion integrierter Halbleiterbauelemente« durchgesetzt. Lag der Konzeption vom 29. März 1968 (VVS B 43–66/68) noch der Primat der Technologie (quasi Zyklus I) zugrunde, so rückte jene vom 29. August (VVS B 43–211/68) nun den Bedarf an Festkörperschalt­ kreisen (FSK) in den Mittelpunkt. Ulbricht stand zu dieser Zeit mehr denn je unter Druck (ČSSR, NÖS-Kritiker, Akademie- und Bildungsreform). Beginnend mit der 3. Parteikonferenz bis zum Referat Ulbrichts zum VII. Parteitag galt der Forschung und Entwicklung ein durchaus noch beachtlicher Stellenwert. Überdies wurde Hartmann mehr und mehr Opfer seiner eigenen Erfolge, er weckte das Bedürfnis

529  Leiter der Abt. X, OSL Damm, an HA XVIII, Oberst Mittig, vom 1.12.1967: Reise des Genossen Bäßler zu Gesprächen mit dem ungarischen Sicherheitsorgan; ebd., Bd. 20, Bl. 106–108, hier 108. 530  Vgl. Abt. X an HA XVIII vom 19.1.1968: Mitteilung über die Lieferung operativer Beweisstücke der ungarischen Staatssicherheit; ebd., Bd. 44, Bl. 138. 531  Abschrift eines IM-Berichtes vom 2.7.1968: Über die Beziehung Hartmanns zu Steger; ebd., Bd. 6, Bl. 171.

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zu verwertbaren und abrechenbaren Ergebnissen. In den Staatsplänen dominierten ab 1969 Entwicklung und Produktion vor Forschung und Entwicklung.532 Im Jahresgeschäftsbericht 1968 vom 5. Februar 1969 ist festgehalten, dass die Grundsteinlegung der »Versuchsfertigung« am 29. April 1968 erfolgte.533 Der wohn­ ten u. a. Minister Steger und Generaldirektor Heinze bei. Hartmann schrieb später in sein »Museum«: »Trotz großen Risikos« erfolgt der Aufbau der Versuchsfertigung (VF) »in gleitender Projektierung«.534 Der GM  »Theo« erhielt für den 3. bis 4. Februar einen weiteren Auftrag zur Frau Hartmanns. Er sollte sie in Leipzig treffen. Ziel war es, nachrichtendienstliche Spuren zu ihrem Mann zu entdecken. »Theo« sollte ihr mitteilen, dass er sie am 3. und 4. Februar »vorläufig das letzte Mal« sehen werde, da er eine »amerikanische Manager­schule besuchen« werde. Auch solle er sie fragen, »ob sie betreffs ihrer geplanten Republikflucht«535 bereits »Verbindungen mit« einem ihr namentlich benannten Freund Hartmanns »aufgenommen« habe. Da das MfS damit rechnete, dass sie sagen werde, dass sie solche Pläne überhaupt nicht hege, soll »Theo« dann sein »Bedauern zum Ausdruck« bringen und andeuten, dass es vielleicht zu einem »späteren Zeitpunkt« passieren könnte. Bei passender Gelegenheit sollte »Theo« gesprächsweise zum Ausdruck bringen, dass »sich mehrere Geheimdienste für profilierte Wissenschaftler der DDR, u. a. auch für Professor Hartmann« interessieren würden.536 Die Verhaltensunterrichtung für »Theo« zeigt eindeutig, dass das MfS regelrecht zur Flucht animierte, um dann bei passender Gelegenheit zugreifen zu können. Eine weitere konspirative Wohnungsdurchsuchung bei Hartmann fand am 6. März, 22.50 Uhr, bis zum 7. März, 01.45 Uhr, statt. Hartmann befand sich vom 3. bis 7. März in Leipzig anlässlich der Frühjahrsmesse. Er wohnte statt im Messequartier bei seinem Freund und Physikerkollegen Justus Mühlenpfordt, dort kam es zu einem Treffen mit einem Westberliner Ingenieur.537 Mühlenpfordt war zu dieser Zeit IM. Die Garten- und Haustür wurde mit Nachschlüsseln geöffnet. Die Schränke und der Schreibtisch, die alle verschlossen waren, wurden »mit Nachschließgeräten geöffnet«. Spionageverdächtige Unterlagen, Mittel oder Gegenstände wurden nicht gefunden. Offenbar hat es bei der Durchsuchung eine Störung gegeben, sodass die Durchsuchung circa 75 Minuten früher beendet werden musste. 532  Vgl. Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 39–52. 533  AMD vom 5.2.1969: Jahresgeschäftsbericht 1968; ebd., Bd. 10, Bl. 186–194, hier 190. 534  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier  21; TSD; Nachlass Hartmann, WH 9. 535  Es ist nicht offensichtlich, ob zu diesem Zeitpunkt – etwa über Abhörtechnik – von einem solchen Plan bereits Kenntnis bestand, oder ob die Frage provokativ-suggestiv formuliert worden war. 536  Ohne Kopfangaben: Auftrag; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 44, Bl. 84 f. 537  Vgl. HA XVIII/2/3 vom 11.3.1968: Abschlussbericht zur Aktion »Wettbewerb«; ebd., Bd. 2, Bl. 65–71, hier 70.

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Die Fotodokumentation konnte nicht beendet werden. Während der Durchsuchung ist vom MfS der Einbau operativer Technik geprüft worden.538 Am 14. März informierte Hanisch das MfS, dass Hartmann resignierende Bemerkungen gegenüber Siegfried Pfüller (siehe unten) gemacht habe, er werde nicht jeder von außen aufgezwungenen Strukturänderung zustimmen.539 Tatsächlich kam es einmal mehr zu erheblichen Strukturänderungsplänen und betriebsorganisatorischen Problemen,540 die nicht von Hartmann ausgingen. Hartmann sei erbost. Er habe der AME eine Struktur gegeben, die sich bewährt habe. Er sei »nicht gewillt«, »irgendwelchen Änderungen zuzustimmen«. Würden Änderungen »erzwungen«, werde er seine Konsequenzen ziehen.541 Im April wurden »erste Ergebnisse an FKS Typ C10« erzielt.542 Hartmann stand einmal mehr vom 7. bis 9. Mai unter verschärfter operativer Beobachtung: Am 7. Mai: »19.30 Uhr wurde die Beobachtung am Kontrollpunkt Schönefeld (Autobahn) begonnen. […] 21.55 Uhr verließ ›Molekül‹ das Restaurant und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben.« Am 8. Mai: »7.00 Uhr wurde die Beobachtung am Hotel ›Berolina‹ fortgesetzt. […] 9.00 Uhr: Auf dem Rückweg zum Hotel sah sich ›Molekül‹ noch mehrmals in Richtung Strausberger Platz um. [ein MfSOffizier glossierte: »kontrolliert sich«] 10.00 Uhr betrat er den Exquisitladen Unter den Linden / Friedrichstraße. Diesen verließ er sogleich wieder und lief langsam zur Ecke Neustädtische Kirchstraße, wobei er sich mehrmals umsah [ein MfSOffizier glossierte: »kontrolliert sich«]. 16.50 Uhr verließ er in Begleitung einer weiblichen Person und einer männlichen Person die Vorhalle. Dann liefen sie zu einem vor dem Hotel abgeparkten gelben Wartburg […] Diesen bestiegen sie und fuhren ab. Die weibliche Person erhält den Decknamen: ›Blume‹, die männliche Person: ›Flieder‹. ›Molekül‹, ›Blume‹ und ›Flieder‹ fuhren zur Deutschen Staatsoper […]«. Am 9. Mai »18.53 Uhr wurde die Beobachtung am Schönefelder Kreuz, Autobahn Richtung Dresden beendet.«543 Nach einer Mitteilung der HA II/5 an die HA XVIII/2/3 vom 24. Mai sei es nunmehr bewiesen, dass »Glasauge« beim Hamburger Dienst des BND tätig (gewesen) sei. Mit »Glasauge« sei Hartmann in den 1950er-Jahren ungewollt in Kontakt geraten. Die Dienststelle soll sich »schwerpunktmäßig mit der Anwerbung von ehemaligen SU-Spezialisten« befasst haben. Die HA II/5 habe »großes Interesse für die Liquidierung des OV ›Molekül‹, weil sie damit in die Lage versetzt werden« 538  Vgl. HA VIII, Abt. II, vom 19.3.1968: Bericht über Wohnungsdurchsuchung; ebd., Bd. 44, Bl. 142–145. 539  Vgl. Abt. X an HA XVIII vom 19.1.1968: Lieferung operativer Beweisstücke; ebd., Bl. 138. 540  Vgl. Bericht von »André« an das MfS vom 15.3.1968: Zu Hartmann; ebd., Bl. 140 f. 541  Bericht von »Rüdiger« am 14.3.1968: Zu Meinungsäußerungen; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 207 f., hier 207. 542  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 20. 543 HA VIII / IU und HA XVIII/2/3 vom 21.5.1968: Beobachtungsbericht; ebd., Bd. 44, Bl. 146–156.

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würde, »offensive Maßnahmen gegen den BND durchzuführen«. Für die Klärung einiger offener Fragen sollte der GM »Theo« eingesetzt werden, hierzu wurden für ihn mehrere Aufgaben skizziert,544 die später auch umgesetzt worden sind. Hartmann schrieb am 13. Juni dem Generaldirektor der VVB BuV, Heinze, eine Beschwerde darüber, dass ihm zum wiederholten Male Postsendungen beschlagnahmt worden seien. Einleitend gab er zu bedenken, dass er in zahlreichen Veröffentlichungen und Nachschlagewerken aufgeführt sei und schon von daher mit Informationen und Material verschiedener Art bedacht werde. Er legte Heinze das »Einziehungsprotokoll (P) A 52748 des Postzollamtes Dresden« bei, aus dem hervorging, dass »Prospekte des bekannten englischen wissenschaftlichen Verlages Academic Press eingezogen« worden waren. Eine Mitarbeiterin des Postzollamtes habe ihm auf seine telefonische Nachfrage hin geantwortet, dass der Empfang solcher Prospekte an eine Privatadresse verboten sei. Hartmann wies Heinze darauf hin, dass die Angabe seiner Dienstadresse den Sicherheitsbestimmungen wohl kaum gerecht werde. Ferner verwies er darauf, dass er Sendungen an seine Adresse eher bekomme, als wenn diese an die Dienstadresse adressiert würden.545 Am 4. Juli informierte er Minister Klaus Gysi, Ministerium für Kultur, über diesen Umstand und bat um Abstellung.546 Die »befreundete« Dienststelle in Moskau hatte auf Anforderung der AG Wirtschaftsbeziehungen der HA XVIII »operative Maßnahmen zur Beobachtung« zu Hartmann eingeleitet. Auch hier wurden positive Resultate nicht erzielt, da Hartmann »weder Gäste empfing noch per Telefon mit jemand sprach«. Der Mitteilung sind u. a. Fotokopien von Karten, die er in Moskau aufgegeben hatte, beigegeben.547 Auch wurde dem Schreiben der Beobachtungsbericht der sowjetischen Tschekisten in Übersetzung beigelegt. In dem Bericht ist Hartmann mit »Gnom« benannt worden. Der Bericht ist umfangreich und bezieht sich auf die Zeit vom 16. Juni, 22.00 Uhr, bis 21. Juni, 15.20 Uhr.548 Hartmann antwortete mit Schreiben vom 5. August auf die Übergabe einer Literaturstudie über Ionenimplantation am 16. Juli, die er vom Direktor für Forschung des VEB Werk für Fernsehelektronik (WF) Berlin erhalten hatte. Hierin stellte er fest, dass zwar partiell an dieser Methode gearbeitet werde, doch »bekanntlich« sei »die heute übliche Diffusionstechnik so billig, dass die Kosten der Scheibenprozesse immer geringer« würden. Damit könne »kein anderes Verfahren konkurrieren. Bei weiterer Verkleinerung der integrierten Schaltkreise« um eine Größenordnung sei »eine ökonomisch vergleichbar attraktive Anwendung der Implantation schon vorstellbar. Infolge der außerordentlich beschränkten Kapazität der DDR sowie der 544  HA XVIII/2/3 vom 24.5.1968: Aktenvermerk; ebd., Bd. 15, Bl. 220 f., hier 220. 545  Schreiben von Hartmann an Heinze vom 13.6.1968 (L Ha / L a-128); ebd., Bd. 44, Bl. 160 f. 546  Vgl. Schreiben von Hartmann an Gysi vom 4.7.1968 (L Ha / L a-142); ebd., Bl. 165 f. 547  HA II, OG Moskau, an die HA XVIII, AG-Wirtschaftsbeziehungen vom 2.8.1968; ebd., Bl. 169. 548  Vgl. Geheimer Auskunftsbericht über die Beobachtung Hartmanns; ebd., Bl. 170–178.

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beträchtlichen finanziellen Vorleistungen« müsse jedoch »nach dem vorhandenen Überblick und den absehbaren Entwicklungen der Zukunft von einer Bearbeitung dieser Thematik bei uns abgesehen werden.«549 Laut GM »Theo« vom 27. August stehe Hartmann »kontra« gegen Ulbricht. Seine allgemeine Haltung sei bekannt, es sei eine »passive Residenz«.550 Nicht einmal in der Übertragung in den Sachstandsbericht ist die Wortfügung korrigiert worden.551 Die Hartmann’sche Gesamttechnologie wurde anhand der Ergebnisse an den FKS vom Typ C30 (D120C) im September bestätigt. Hartmann teilte Steger im Beisein von Heinze und Fuhrmann mit, dass die AME »das Verfahren C in der Tasche« habe, also beherrsche. Steger schlug noch für dieses Jahr vor, ein »Präsent (Briefbeschwerer) für höchste Funktionäre mit Darstellung der erreichten Ergebnisse« herzustellen. Das wurde auch ausgeführt.552 Bauen Sie doch batteriegetriebene Rechenschieber! Die DDR-Volkswirtschaft schrie gewissermaßen nach mikroelektronischen Bauelementen. Laut der Notiz L 32/68 Hartmanns vom 20. September 1968 fand zur Entwicklung des Taschenrechners Minirex eine Besprechung mit Steger in Leipzig, Haus Auensee, anlässlich einer Werkleitertagung statt. Hartmanns Notizen sind von Hanisch folgendermaßen verarbeitet worden: »Herr Minister Steger wünscht Aufbau einer ›Spinnergruppe‹ von 8 bis 15 Mann. ›Wenn Platz nicht ausreicht, bauen wir eine Hütte‹. Aufgaben: unkonventionelle Anwendungen von FKS, z. B. batteriegetriebene Rechenschieber.« Hanisch kommentierte: »Dieser Auf‌forderung kam Professor Hartmann nicht nach!« Die Entwicklung des Taschenrechners ­Minirex sollte noch auf sich warten lassen, sie erfolgte erst »im Ergebnis der Leipziger Frühjahrsmesse 1972, d. h. fast vier Jahre nach den ersten Forderungen von Minister Steger an Professor Hartmann. Die Arbeitsaufnahme wurde von Professor Hartmann, wie auf vielen anderen Gebieten auch, bis zum Erscheinen der Erzeugnisse auf dem internationalen Markt verzögert! Begonnen wurde diese Verzögerung bereits 1965/66 mit der Nichtaufnahme der von der VVB BuV geforderten Entwicklung und Untersuchung von MOS-Transistoren in der AME! Desgleichen verhinderte Professor Hartmann über viele Jahre die Entwicklungsaufnahme der Ionenimplantation!« Die Entwicklung des Taschenrechners startete mit dem »Programm zur Entwicklung und Produktion eines elektronischen Taschenrechners im KFWE« am 10. Mai 1972. Hartmann war Auftragsleiter für die Entwicklung und Überleitung 549  Schreiben von Hartmann an Schiller (WF Berlin) vom 5.8.1968; ebd., Bd. 17, Bl. 164. Schreiben von Schiller an Hartmann vom 16.7.1968; ebd., Bl. 163. 550  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 189. 551  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht vom 15.5.1974; ebd., Bl. 190–250, hier 201. 552  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 21.

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des Rechnerschaltkreises. Da laut Hanisch keine Zeit für einen Eigenentwurf war, erfolgte die Festlegung, eine 1:1-Kopie des TI-Schaltkreises TMS 1802 NC bzw. TMS 0105 NC zu entwickeln.553 Aus einem Bericht des IM »André« vom 24. Oktober zu Hartmann: »Gegenwärtig haucht er einer neuen Richtung in der Halbleiterforschung Atem ein: ›Fehlerwissenschaft‹, die nach seinen Vorstellungen beitragen soll, Licht in den einen oder anderen technologischen Schritt zu bringen, der zwar durchgeführt, aber noch nicht richtig verstanden wird. Dadurch soll die technologische Prognose reproduzierbar werden, was schließlich zu höheren Ausbeutequoten führt.« IM »André« teilte dem MfS einen bemerkenswerten charakterlichen Aspekt Hartmanns mit, indem er als seinen »Hauptvorzug« dessen aktuelle Kenntnisse »über den Stand der wissenschaftlich-fachlichen Arbeiten in AME und in der Welt«, auch das rechtzeitige Erkennen »notwendiger Tendenzen, die er dann« auch »versucht einzuführen«, hervorhob. Die Einführung in die Praxis aber sei dann »häufig« zu zögerlich. »Er möchte am liebsten alles erst richtig ausreifen lassen, bevor er damit an die Öffentlichkeit« geht. IM »André« gab ihm natürlich »in Maßen« Recht, meinte aber sinngemäß, dass die Erfordernisse der Volkswirtschaft eben anders liefen, und denen müsse man einfach gehorchen. Alles was fachlicher Natur sei, so IM »André«, unterschreibe, lese, bestätige und leite er »am liebsten alles selbst«. Betriebswirtschaftliche, ökonomische und verwaltungstechnische Fragen überlasse er lieber anderen. Zur Frage der Personalpolitik hob »André« hervor, dass Hartmann früher »in diesen Dingen die Parteileitung vollkommen übergangen« und die Kaderleitung »vor vollendeten Tatsachen gestellt« habe. Für ihn sei nur die fachliche Eignung entscheidend. Auch seine Leiter habe er hierzu nicht herangezogen. »Kaderqualifikationsmaßnahmen« habe es »in AME nie gegeben«. Erst in jüngster Zeit gebe es Konsultationen mit der Betriebsparteileitung (BPL), aber »auch dabei« gebe »es oft Auseinandersetzungen«. Zwar billigte der IM ihm Leitungsfähigkeit zu, jedoch kämen die Mängel aus »seiner politischen Grundhaltung. Da er mit den Grundsätzen der Politik unserer Regierung und unseres Staates nicht konform« gehe, nehme »er diese Politik mit Geringschätzung auf. Außer seiner fachlichen Tätigkeit vernachlässigt er alle anderen Aspekte, die einen sozialistischen Leiter auszeichnen. Nie, nie hat er in gesellschaftlichen Fragen Initiative gezeigt.« Sein typischer Satz zum Parteisekretär sei: »Wir machen eine Art Arbeitsteilung. Ich regle die fachlichen Belange. Sie sind verantwortlich für die gesellschaftlichen Fragen. Natürlich bin ich bereit mitzuhelfen, aber Sie müssen es nur sagen.«554 Die HA  IX/3 fertigte am 5. November eine strafrechtliche Einschätzung zu Hartmann an, der lagen vor: der umfangreiche Bericht der HA  XVIII/2/3 vom 27. September 1968 samt 68  Anlagen. Der Bericht in Magisterumfang listete 553  »Rüdiger« vom 2.12.1975: Zur Entwicklung des Taschenrechners Minirex; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 5, Bl. 205–209. 554 Auszug aus dem IM-Bericht von »Andre« am 24.10.1968; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 16, Bl. 188–192.

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Abb. 24: Illegaler Technologietransfer: implantierter Hinweis an die Industrie-Spione555

alle vermuteten Geheimdienstkontakte Hartmanns auf und analysierte u. a. seine Reisetätigkeit.556 Die Einschätzung war niederschmetternd für die HA  XVIII/8 und Abteilung XVIII der BV Dresden, die auf ein anderes Urteil gehofft hatten. Demnach würden die »erarbeiteten Verdachtsmomente nicht geeignet« sein, »den Vorgang zu liquidieren« und Hartmann »zu inhaftieren«. Ein Ausriss: »Im Bericht der HA XVIII/2/3 heißt es: ›Im Verlaufe dieser Bearbeitung konnten die bestandenen Verdächtigungen erhärtet und konkretisiert werden.‹ Aus dem vorliegenden operativen Material ergibt sich jedoch in keiner Weise ein erhärteter oder konkreter Verdacht für das Vorliegen einer strafbaren Handlung gemäß Paragraf 97 StGB.« Ähnlich schmetterte die HA IX auch die anderen »Beweise« der HA XVIII ab.557 An jenem 27. September soll berichtet worden sein, dass Hartmann »›Tag und Nacht‹ 555

555  Am Rand der Platine ist in russischer Sprache aufgedruckt: »Wann hört ihr endlich auf zu klauen, eigene (wahre) Entwürfe sind besser.« 556  Vgl. HA XVIII/2/3 vom 27.9.1968: Operative Ergebnisse zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 15, Bl. 222–245. 557  HA IX/3 vom 5.11.1968: Strafrechtliche Einschätzung; ebd., Bl. 308–314, hier 309 u. 314.

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am Radio« sitze und »Kommentare und Nachrichten westlicher Sender« höre.558 Es war die Zeit des Aufstandes in der ČSSR. Am 11. und 27. November besuchte eine sowjetische Delegation die AME. Als sie wieder abfuhr, soll Hartmann »darüber sehr froh« gewesen sein. Er habe »eine Liste erhalten, was sie »alles mitgenommen« hätten.559 Im Dezember gab Hanisch seine Dissertation ab; die letzten Prüfungen sollten demnach bis Mai 1969 absolviert sein. Er bat seinen Führungsoffizier, die Treffs zu reduzieren.560 Am 20. Dezember schloss die DDR mit der Sowjetunion ein Abkommen über die gegenseitig bedingte und abgestimmte Forschung, Entwicklung und Produktion von Geräten und Ausrüstungen für die elektronische Industrie ab. Danach hatte die DDR vor allem optisch-mechanische Ausrüstungen und die Sowjetunion Ergebnisse und Produkte des Zyklus I zu liefern. Carl Zeiss Jena sollte als »Leitorganisation für die Realisierung« der DDR-seitigen Aufgaben fungieren.561 Am 30. Januar 1969 besuchte Mittag mit mehreren Ministern und Parteifunktionären die AME. Während einer Pause soll er zu Hartmann gesagt haben: »›Wir hatten mal einen Streit, aber das ist alles lange vergessen‹. Nach der Besichtigung einiger Laboratorien und der Baustelle für die Versuchsfertigung veranlasste er Günther Kleiber, einen lobenden Eintrag in das Gästebuch zu machen. Es war mein Geburtstag, den 30. Januar.«562 Am darauffolgenden Tag hielt Mittag einen Vortrag in Dresden. Hier war auch Rompe zugegen.563 Allgemein schien jene Konfrontation mit Mittag vergessen gewesen zu sein, die dazu geführt hatte, dass Hartmann eine Kommission erwartete, die laut Beschluss des Forschungsrates Dresden besuchen sollte, jedoch nie wirksam geworden war. Hartmann notierte in seinem »Museum« später, dass die von Rompe zu bildende Kommission nicht entstanden sei. Somit fand die von ihm geforderte Überprüfung durch das ZK der SED »niemals statt«.564 Im Januar zählte die AME circa 500 Mitarbeiter. Hartmann hielt auf der Belegschaftsversammlung am 16. Januar einen Vortrag über die Entwicklung der Mikroelektronik.565 Er ließ das Papier am 23. Januar 558  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 189. 559  Ebd., Bl. 160 f. 560  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII, vom 18.12.1968: Bericht zum Treffen mit »Rüdiger«; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 220. 561  Minister für Elektrotechnik und Elektronik der DDR, Steger, und Minister für elektronische Industrie der UdSSR, Schokin, Abkommen vom 20.12.1968: über die Forschung, Entwicklung und Produktion von Geräten und Ausrüstungen der dritten Genauigkeitsstufe für die elektronische Industrie; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 9, Bl. 3–11. 562  TSD; Nachlass Hartmann, H 63. 563  Vgl. Stichworte aus dem Schlusswort von Dr. Günter Mittag auf der Industriezweigkonferenz Elektronik-Elektrotechnik in Dresden am 31.1.1969; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 283, S. 1 f. 564  TSD; Nachlass Hartmann, H 66. 565  Vgl. Hartmann: Zukünftige Aufgaben von AME, Vortrag auf der Belegschaftsversammlung am 16.1.1969 (Notiz L 1/69 – Ha / L a) vom 3.1.1969; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 8, Bl. 204–252.

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auch Generaldirektor Heinze zukommen. Steger oder jemand aus dem Büro des Generaldirektors glossierte: »Panzerschrank«,566 was heißen sollte, dass das Papier verschlossen gehört. Hartmanns Vortrag war ungewöhnlich ideologisch gehalten. Vor dem Vortragstermin hatte sich die örtliche Hautevolee in der Arbeitsstelle eingefunden: Heinze, der 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Krolikowski und der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Dresden Scheler. Krolikowski schrieb ins Gästebuch: »Im Namen der SED-Bezirksleitung Dresden möchte ich das Kollektiv der AME dazu beglückwünschen, dass es sich zu einem Schrittmacher bei der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution im Dienst des Sozialismus entwickelt hat.«567 Der Direktor für Forschung und Entwicklung des VEB Elektromat Dresden, Rolf Hillig, hielt am 22. Januar auf dem 1. Wissenschaftlichen Symposium der Sektion Elektroniktechnologie und Feingerätetechnik der TU Dresden einen Vortrag unter dem Titel »Perspektiven technologischer Ausrüstungen für die Mikroelektronik«. Im Zentrum seines systematischen Vortrags stand die Frage der entscheidenden Verminderung des gegenwärtig extrem hohen Ausschusses »innerhalb eines Gesamtfertigungsprozesses«. Demnach war empirisch festgestellt worden, dass innerhalb von 85 Prozent der Gesamtfertigungszeit (jene Zeit, in der keine Einwirkung auf das »Werkstück« durch Werkzeuge noch andere Hilfsmittel erfolgte) weniger als 20 Prozent Ausschuss, und innerhalb der restlichen 15  Prozent der Gesamtfertigungszeit mehr als 80  Prozent Ausschuss (Manipulationszeit, also Transport-, Lager-, Justage- und andere Manipulationen) zu verzeichnen war. Hillig erläuterte daraus die Konsequenzen für die Perspektive der technologischen Ausrüstungen aus der gesamtheitlichen Warte. Folglich seien erstens die technologischen Ausrüstungen im Zusammenhang mit der Fertigungsorganisation zu sehen (hier der unbedingt notwendige Aspekt der Fertigungsorganisation über Prozessrechner!), zweitens im Zusammenhang mit der technologischen Organisation (hier etwa die Frage der Clean-Räume), sowie drittens die Frage im Zusammenhang mit der Technologie an sich (hier der Aufwand an technologischen Ausrüstungen und deren Produktionsgüte).568 Auch das nahm die Untersuchungskommission des MfS absichtlich nicht zur Kenntnis. Im Jahresgeschäftsbericht 1969 wird später, am 16. Februar 1970, ausgeführt werden, dass die AME sich auf die »Ausarbeitung der Standardtechnologie, Überleitung des Verfahrens« und »Abnahme und Begutachtung der vom HWFO vorgelegten technologischen Projekte (Verfahren / Ausrüstungen)« konzentrierte. Das große Thema, der Aufbau der Versuchsfertigung (VF) mit technologischen Universal- und Spezialausrüstungen laufe seit 1967 nach »bestätigtem« Führungsnetzplan. Trotz Bauverzögerungen von bis zu acht Wochen bestand die Forderung, den »Nachweis 566  Schreiben von Hartmann an Generaldirektor Heinze vom 23.1.1969; ebd., Bl. 203. 567  Hartmann: Zukünftige Aufgaben; ebd., Bl. 204–252, hier 252. 568  Vgl. Hillig: Perspektiven technologischer Ausrüstungen für die Mikroelektronik; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 9, Bl. 35–46, hier 41 f.

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der Funktionstüchtigkeit der gesamten Einheit ›Versuchsfertigung‹« für »eine Pilotserie des FKS C90 zu erbringen, die im 2. Halbjahr 1970 geplant« sei.569 Im Februar lagen »erste Ergebnisse an FKS Typ C60 (D140C)« vor. Wenig später, im März, besuchte der Stellvertreter des Ministerrates der UdSSR, Kirillin, zusammen mit mehreren Ministern der UdSSR und der DDR die Arbeitsstelle auf Einladung Stegers. Kirillin war Verfechter der Grundlagenforschung. Der Besuch, erinnerte sich Hartmann später, kam einer »sehr hohen Wertschätzung der Arbeiten« der Arbeitsstelle gleich.570 Kirillin: Ulbricht könne stolz sein.571 Tatsächlich erhielten am 1. Mai Mitarbeiter seines Hauses für die Entwicklung von Diffusionsöfen drei Orden »Banner der Arbeit«.572 Am 6. Mai legte die Abteilung Forschung und Entwicklung der VVB BuV die Aufgabenstellung zum Staatsplankomplex Mikroelektronik vor. Hierbei handelte es sich um die »Bereitstellung von Ausrüstungen für die Herstellung von diskreten MOS- und Si-Bauelementen, Schaltkreisen auf Si-Block-Basis und in MOS-Technik« sowie gruppenintegrierter Elemente auf Si-Block-Basis und in MOSTechnik.573 In Vorbereitung einer Reise Hartmanns nach Ungarn vom 30. Mai bis 13. Juni fuhren die Offiziere Bäßler und Seiler bereits am 28. Mai voraus. Sie blieben dort bis zum 13. Juni. Als Adresse gab Hartmann wieder den ungarischen Professor an. Eigentliches Ziel war ein Treffen mit der Münchnerin. Das MfS führte wiederum eine »allseitige Kontrolle« seines Aufenthaltes zur Verhinderung einer möglichen Flucht durch. Auch im Hotelzimmer der Münchnerin installierte das MfS in Zusammenarbeit mit den ungarischen Geheimdienstmitarbeitern die Maßnahmen »A« und »B«. Es soll eine kalte Atmosphäre zwischen beiden geherrscht haben, die Frau soll ihm ein Schriftstück überreicht haben. Sie soll ihn regelrecht überredet haben, nach Westdeutschland zu fliehen. Hartmann soll ihr gesagt haben, dass der 21. August 1968 »die große Chance für die Tschechen« gewesen sei. Eine anschließend durchgeführte Zimmerdurchsuchung erbrachte keine belegbaren Erkenntnisse. Beide sollen sich wieder abgesichert haben, zum Beispiel das Zimmer kontrolliert haben.574 Die Abteilung 26 registrierte am 31. Mai aus dem Hotel Europa in Siófok, dass Hartmann sagte, »dass es ihm friert, wenn er daran denkt, in welcher Wirtschaft er arbeitet, in der westlichen könnte er mehr machen. Eigene Gedanken

569  AMD vom 16.2.1970: Jahresgeschäftsbericht 1969; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 10, Bl. 168–185, hier 170 u. 174. 570  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 21. 571  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, H 160 f. 572  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 21. 573  Abt. Forschung und Entwicklung (F / E) der VVB BuV vom 6.5.1969: Aufgabenstellung des VEB EMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 9, Bl. 35–46, hier 34. 574  HA XVIII/2 vom 17.6.1969: Ergebnisse der operativen Arbeit in Ungarn; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 74–83.

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werden einem systematisch abgewöhnt, der Sozialismus will alles mit Bewusstsein regeln, unsere Wirtschaft wird zu schwerfällig gesteuert.«575 Für den Ungarn-Aufenthalt hatte Hartmann die Legende »RGW-Tagung« genutzt. Die ungarische Staatssicherheit hatte beobachtet, dass Hartmann und die Münchnerin umfassend und intensiv von einem aus Augsburg namentlich bekann­ ten Herrn beschattet (gesichert) worden seien. Am 8. Juni habe sie Hartmann ein zweiseitiges Papier von einer nicht genannten Organisation gezeigt, das er lesen sollte. Hierin sah das MfS ein Indiz für Spionage. Ferner zeigte sie ihm Briefe, die er an sie abgeschickt hatte, und erläuterte, dass sie geöffnet worden seien. »Du hattest hier einen Streifen geklebt und dann ist hier nachgefalzt« worden. Das MfS schätzte ihre diesbezüglichen Kenntnisse »als perfekt« ein. Sie zu ihm: »Du musst das ändern und Dich verquer ausdrücken in den Briefen!« Hartmann daraufhin: »Ja, das ist mir bekannt!« Der ungarische Dienst versuchte vergeblich, an das Hartmann zum Lesen gegebene Papier heranzukommen.576 Im Juni bekam die AMD die Zusage einer längst überfälligen Investition. Minister Steger hatte festgelegt, dass die Arbeitsstelle mit einer EDVA vom Typ IBM 360/40 ausgerüstet werde. Wenig später, im September 1969 erreichte das Team um Hartmann erste erfolgversprechende Ergebnisse zum FKS vom Typ C90 (D172C).577 Am 21. November lieferte Hanisch einen Bericht über die Aufbauarbeiten der Versuchsfertigung (VF). Demnach waren bislang 15 Mitarbeiter für VF benannt worden. Die Arbeitsbedingungen seien »außerordentlich schlecht, sodass von dem leitenden Personal eine Beschwerde an die ABI [Arbeiter- und Bauern-Inspektion] gerichtet« werden musste. Auch zur Problematik der Geheimhaltung teilte er das Übliche mit. Der installierte IBM-Rechner musste von Monteuren der Fa. Siemens zu Servicezwecken auch aufgesucht werden dürfen, das geschah dann auch regelmäßig – und republikweit – so. Sicherheitszonen, Sperrwände, Schleusen und Kontrollen waren die Folge. Mann riss wie immer Witze über diese Vorkehrungen, etwa: »Wozu große und kostspielige Absicherung nach außen, wenn die ausländischen Monteure ihre Informationen aus dem Herzstück« der Arbeitsstelle erhielten.578 Am 18. Dezember schrieb Hartmann Hans Schneider – in der Wiedergabe von Hanisch –, dass wieder »ein Jahr vorbei« sei und er es sehr »bedauere«, dass es wieder »keine Gelegenheit gab«, sich »zu treffen. Trotz aller phantastischen Mondflüge hat sich sonst ja politisch nicht allzu viel ereignet, wenn man von der Amtsübernahme durch Brandt bei Euch absieht. Aber ich hoffe doch, dass zumindest der Abbau der unsinnigen Spannungen zwischen Ost und West eingeleitet werden kann. Für 575  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bl. 147–189, hier 162 sowie IM-Bericht vom 31.5.1969; ebd., Bd. 6, Bl. 77. 576  HA XVIII/8 vom 29.6.1970: Ergebnisse der operativen Arbeit in Ungarn; ebd., Bd. 2, Bl. 88–94, hier 88. 577  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 22. 578  Wortlaut Hanisch. BV Dresden, Abt. XVIII/4, vom 21.11.1969: Bericht zum Treffen mit »Rüdiger«; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 240.

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uns persönlich werden daraus sicherlich keinerlei positive Ergebnisse zu erwarten sein.«579 Im Original heißt es: (1. Satz) »Wieder ist ein Jahr vorbei, und ich bedauere es sehr, dass es keine Gelegenheit gab, uns zu treffen; aber vielleicht wird es nun im nächsten Jahr möglich werden.« (4. Satz): »Für uns persönlich werden daraus sicherlich keinerlei positive Ergebnisse zu erwarten sein, aber vielleicht hat die kommende Generation Nutzen davon.«580 Im Dezember verfügte die Arbeitsstelle über circa 600 Arbeitskräfte. VF war noch nicht fertiggestellt und hatte immer noch nicht den Eintrag in die Dringlichkeitsliste bekommen. Aus diesem Grund schrieben die Mitarbeiter eine Eingabe an Generaldirektor Heinze, die Thematik erschien abstrahiert in der Sächsischen Zeitung.581 Die vom 29. März 1968 stammende »Strategische Konzeption zur beschleunigten Forschung« (VVS B 43–66/68) ist in der Form vom 29. August (VVS B 43–211/68) überarbeitet worden unter dem Titel: »Strategisches Programm zur beschleunigten Forschung, Entwicklung und Produktion integrierter Halbleiterbauelemente in der DDR bis 1975«. Danach sollte 1969 folgender Stand erreicht werden: »– Einsatz der Festkörperschaltkreise (AME-Reihe)  innerhalb der Entwicklungsprogramme Elektronische Vermittlungstechnik, R 400 und wissenschaftlicher Gerätebau. – Fortführung der Forschungs- und Entwicklungsprogramme zur Herstellung gruppenintegrierter Festkörperschaltkreise und MOS-Strukturen in der AME und dem VEB Funkwerk Erfurt. – Aufstellung und Inbetriebnahme einer elektronischen Großdatenverarbeitungsanlage zur automatischen Herstellung der Zwischenverbindungstechnik bei gruppenintegrierten FKS in der AME. – Abschluss der Arbeiten zum Aufbau der Versuchsfertigung für Festkörperschaltkreise in der AME. – Abschluss der Verfahrensentwicklung zur Kontaktierung und Umhüllung von gruppenintegrierten Schaltkreisen (AME, VEB Funkwerk Erfurt, VEB Elektroglas Ilmenau).«582

Man war im Begriff, die Technologie zu verstehen und zu beherrschen. Eine Prozess- resp. Produktionsreife war damit jedoch noch lange nicht erreicht. Auch ist zu erinnern, dass erkennbar war, dass in der Strategischen Konzeption vom August 1968 der Primat der Technologie verschwand zugunsten abrechenbarer Ergebnisse dinghafter Natur! Demnach erhielt die »Staatliche Auflage 1969 zum Plan Wissenschaft und Technik« neben dem Thema des Aufbaus der Versuchsfertigung lediglich noch das Mikrostrukturprogramm II mit den Terminen der Überführungsvorbereitung für den FKS C60 und FKS C90 zum 31. März resp. 31. Dezember. 579  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 169. 580  Schreiben von Hartmann an Schneider vom 18.12.1969; ebd., Bd. 25, Bl. 87 f., hier 88. 581  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 22. 582 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 39.

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Es wurden bereits Auf‌lagen für den Eigenbedarf und den Export bilanziert. Die Materialien der SPK und des MWT enthielten laut Gutachter »übereinstimmend folgende Aufgaben« für die Teilsysteme des »Einheitlichen Systems der Elektronik und des Gerätebaus« (ESEG) in Forschung und Entwicklung: einfache integrierte bipolare und unipolare Schaltkreise für 1970/71 sowie gruppenintegrierte bipolare und unipolare Schaltkreise mittlerer Integration für 1972/73. Der Führungsnetzplan des MEE für den Komplex »Planar-Epitaxie-Technik« enthielt die Aufgaben für 1970/71. Auch hier stand die Entwicklung digitaler Halbleiterblockschaltkreise im Programm.583 Jahr

Integrierte Schaltungen (Eigenbedarf)

Digitale Halbleiterblock­ schaltungen

Integrierte Schaltungen (Export, SW)

Integrierte Schaltungen (Export, NSW)





100 000

1970

500

1971

2 340 000

200 000



2 300 000

1972

6 300 000

300 000



5 600 000

1973

15 100 000

500 000

100 000

13 400 000

1974

24 100 000

1 500 000

600 000

19 000 000

1975

27 600 000

1 700 000

900 000

21 000 000

Tabelle 3: Warenproduktion integrierter Schaltungen584

Die wichtigsten Plankennziffern zeigen das ehrgeizige SED-Programm: Für den Perspektivplan 1971 bis 1975 (Teil Wissenschaft und Technik) des MWT sollte »spätestens ab 1974« die »ökonomische Produktion zu Weltmarktpreisen bei modernen integrierten Schaltkreisen erreicht« werden. Der Planteil Wissenschaft und Technik des Volkswirtschaftsplanes 1971 wies drei Zielstellungen auf: FKS der Grundreihe C20 bis C80: Produktion der sieben Typen im VEB HWFO; Termin: 1971. Drei ökonomische Zielstellungen: 1. Warenproduktion 1971 in Höhe einer Million Stück (Einheitsschaltkreise). Diese sollten mit einer Ausbeuterate von 15 Prozent zur Bedarfsdeckung der sieben Typen realisiert werden. 2. »Entwicklung von Prototypen von Wiederholstrukturen« für gruppenintegrierte Schaltungen ab 1973. Leistungsstand: Laborfertigung; Termin: Ende 1971. 3. Entwicklung zweier Typen »schneller Schaltkreise«. Produktion der Funktionsmuster in der AMD mit Termin im Oktober 1971. Allerdings hatte die VVB BuV wegen der Verzögerung

583  Ebd., Bl. 40–42. 584  Material der SPK: »Integrierte Schaltungen auf halbleitenden Trägern« (VVS B 5/2-482/68); ebd., Bl. 40.

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diese Planziele bereits wieder heruntergesetzt. In ihrer Direktive zur Durchführung des Volkswirtschaftsplanes wurde nun auf 500 000 FKS für 1971 und 2 500 000 für 1972 orientiert. Analog erfolgte die Reduzierung der Produktion schneller Schaltkreise von jeweils 50 000 auf 40 000 bei den beiden Typen. Wegen anhaltender Verzögerungen 1971 wurde die Staatsplanaufgabe für die Warenproduktion der sieben Grundtypen korrigiert. Zum am 16. Dezember 1970 verabschiedeten Volkswirtschaftsplan 1971 wurde ein Austauschblatt kreiert. Danach sollten nur noch 94 000 Stück FKS hergestellt werden, 74 000 Stück im Halbleiterwerk Frankfurt / O. und 20 000 Stück im VEB Kombinat Funkwerk Erfurt (KFWE).585 Der Planteil Wissenschaft und Technik des Volkswirtschaftsplanes 1972 der SPK und des MEE enthielten u. a. folgende Aufgaben: Erhöhung der Ausbeute auf 15 Prozent für 1972; »Vorbereitung der Einführung der Ionenimplantation«; »Bedarfs­deckung an mikroelektronischen Baugruppen der DDR«. In der »Arbeits­ direktive zur Plandurchführung des Volkswirtschaftsplanes 1972« der VVB BuV sind u. a. enthalten die »Weiterentwicklung der Grundtechnologie für TTL-Schaltkreise (Zyklus I)« und »Forschungsarbeiten zur Vorbereitung der Gruppenintegration von bipolaren digitalen Schaltkreisen«. Der Volkswirtschaftsplan 1973, der Staatsplan Wissenschaft und Technik und der der SPK beauf‌lagten die AMD mit der Aufgaben-Nummer ZQ 04.02.011 für bipolare digitale Schaltkreise der Bau­ reihe D20 zu einer Warenproduktion 1973 in Höhe von 10 200 000  Mark. Was den – nicht explizit so genannten – Zyklus II betraf, formulierten die staatlichen Planauf‌lagen des MEE an die VVB BuV u. a. die »Übergabe der technischen ökonomischen Forderungen für die Entwicklung von Keramikmehrschichtgehäusen«, die »Übernahme der Anglastechnik in die Produktion von bipolaren FKS« sowie die »Einführung und Erprobung der Plastumhüllung für TTL-Schaltkreise«. Der Gesamtkomplex beinhaltete auch die speziellen Schaltkreise, u. a. die »Musterbereitstellung Taschenrechner-Schaltkreis (100 Stück)«. Für den FKS der Baureihe D20 erhielt die AMD mit dem Staatsplan Wissenschaft und Technik 1974 die Aufgabe, die Ausbeute auf 25 Prozent zu steigern. Diese und andere Aufgaben wurden im Volkswirtschaftsplan 1974 fortgeschrieben und über staatliche Auf‌lagen und volkswirtschaftliche Berechnungskennziffern des MEE und dem »Führungsnetzplan zum Plan Wissenschaft und Technik« an die VVB BuV untersetzt.586 Die Gutachter des MfS behaupteten später, dass »die Arbeitsfähigkeit jeweils in ausreichendem Maße gewährleistet war, sodass die gestellten Aufgaben termingemäß hätten abgeschlossen werden« können. Sie waren der Auf‌fassung, dass diese Aussage »indirekt« aus den zentralen staatlichen Plänen »abzulesen« gewesen sei. »Objektiv« sei feststehend, dass »1969 mit der Produktion von Festkörperschaltkreisen hätte begonnen werden können«.587

585  Ebd., Bl. 43–46. 586  Ebd., Bl. 47–52. 587  Ebd., Bl. 53 f.

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Laut Hanisch hatte der Werkleiter des VEB Elektromat Dresden am 5. Januar 1970 gegenüber Heinz Fuhrmann, Direktor für Wissenschaft und Forschung (VVB BuV), die Einrichtung des Reinstraumes bestätigt, »obwohl zu diesem Zeitpunkt erst etwa die Hälfte montiert war und für diese Leistung etwa 3½ Monate benötigt wurden. Die zweite Hälfte in zehn Tagen zu montieren«, sei »eine vollkommene Fehleinschätzung oder Fehlorientierung der übergeordneten Organe!« Doch Hanisch behauptete, dass der für die Aufbauleitung verantwortliche Mitarbeiter und auch Hartmann »einer exakten und realen Termineinschätzung« auswichen. Hanisch aber kannte die Probleme, denn er wurde zwei Monate später zum Leiter der Versuchsfertigung (VF) bestimmt.588 Am 9. Januar fasste das Referat 2 der Abteilung 8 der HA XVIII einen neuen Maßnahmeplan für das erste Halbjahr 1970. Hintergrund war, dass die HA  IX die erarbeiteten Erkenntnisse für nicht strafrelevant erachtet hatte. Immerhin aber konstatierte sie »neue Hinweise auf verdächtige Handlungen«. Damit war die weitere operative Arbeit gerechtfertigt. Absoluter Schwerpunkt bildete fortan die umfassende Aufklärung der Westverbindungen Hartmanns, u. a. die Aufklärung zweier Bürger der Bundesrepublik.589 Der damalige Leiter der HA XVIII, Generalmajor Mittig, war involviert. Ein Schlüsseldokument stammt von Hanisch, geschrieben am 19. Januar zum Stand der Versuchsfertigung. Es zeigt einmal mehr, dass die gesamte spätere Strategie, Hartmann die Zeitverzögerungen anzulasten, gelogen war. Hanisch schrieb, dass die »ursprüngliche Konzeption« vorsah, die Versuchsfertigung im 1. Quartal zu starten. Dieser Termin sei ohne Kenntnisnahme der operativen Daten »ein Forderungstermin durch die übergeordneten Organe« gewesen. Es sei bereits 1969 klar gewesen, dass die Terminsetzung nicht realistisch war. Die Aufbauleitung hatte ihrerseits auf den 1. April orientiert. »Auf Anforderung der Stadtbezirksleitung der SED wurde im Dezember (Beschluss der SBL Nr. 91/69) eine Feineinschätzung erarbeitet, die folgenden Terminablauf erbrachte«, hier nur eine Auswahl: 16. Januar: Fertigstellung des Reinstraumes durch Elektromat Dresden; 31. März: Abnahme des Reinstraumes; 1. April: Beginn der Montage beweglicher Teile und Anlagen; 1. Juli: Erprobungsbeginn der Anlage; sowie 1. September: Beginn der Überleitung an die Versuchsfertigung.590 Die Abteilung 26 des MfS zeichnete am 7. Februar während einer Zusammenkunft mehrerer Personen in Hartmanns Wohnung Gespräche auf. Hartmann ließ durchblicken, dass er »jetzt noch nicht sagen« könne, ob er, wenn er eine Westreise

588  Bericht von »Rüdiger« vom 19.1.1970; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM  4885/90, Teil  II, Bd. 1, Bl. 250–254. 589  HA XVIII/8/2 vom 8.1.1970: Maßnahmeplan; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 5, Bl. 45–49, hier 45 u. 47. 590  Bericht von »Rüdiger« vom 19.1.1970; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM  4885/90, Teil  II, Bd. 1, Bl. 250–254, hier 250–252.

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erhielte, nicht mehr zurückkommen werde. Er räumte jedoch ein, dass »es sein« könne, »dass er drüben« bleibe.591 Aus offizieller Quelle erfuhr das MfS am 8. April von Hartmanns Abneigung gegen die Installation eines Kontrollbeauftragten in seinem Betrieb: »Am liebsten würde ich euch wieder nach Hause schicken, aber ich bin ja menschenfreundlich. In Zukunft wünsche ich, dass ihre Besuche mindestens eine Woche vorher bei mir angemeldet werden. Ich darf sie darauf aufmerksam machen, dass kein Mitarbeiter der Arbeitsstelle für sie Zeit hat.« H. wies »ganz kategorisch« darauf hin, »dass er keinen Kontroll- oder Sicherheitsbeauftragten benötige.« Da aber jedes Sich-dagegen-Stemmen sinnlos war, habe er schließlich gesagt: »Dann setzen sie ihn hin, wo sie wollen, ich habe keinen Arbeitsplatz«. Kaderleiter Herbert Böhme habe daraufhin das Gespräch abgebrochen und Hartmann mitgeteilt, dass er den Generaldirektor, der dies angewiesen hatte, über die Weigerung unterrichten werde: »Alles Weitere wird sich dann ergeben.« Zu dieser Zeit hatte der Generaldirektor bereits Fuhrmann beauftragt, sich mit Böhme über die Arbeitskonzeption und den Einsatz eines Kontrollbeauftragten zu beraten.592 Hartmann hatte mit Schreiben vom 24. April mit deutlichen Worten Generaldirektor Heinze darauf hingewiesen, dass die Diskrepanz zwischen den geforderten Sicherheitsbestimmungen und den sich veränderten Arbeitsbedingungen (aufgrund der modernen Technologie)  ständig wachse. Er lehne deshalb »kategorisch jede Verantwortung für etwaige Vorfälle« ab, »die sich aus dieser Diskrepanz zwischen Weisung und Praxis ergeben sollten«. Wer in Zukunft ohne schriftliche Genehmigung komme, werde abgewiesen, wer immer es auch sei.593 Hartmann fuhr vom 28. April bis 3. Mai nach Oberhof in den Urlaub. Eine günstige Gelegenheit für das MfS, in sein Haus konspirativ einzudringen. Dazu wurde ein Plan zum Ausbau (!) der Maßnahme »B« (Abhören mit Mikrofon) fixiert. Die »Ausbaumaßnahmen« sollten am 29. und 30. April stattfinden. Der Plan hierfür enthält die üblichen Vorkehrungen für solche Fälle; im Wortlaut: »Vom Elektriker der BV Dresden wird in der Nacht vom 29. bis 30. April 1970 die Straßenbeleuchtung Klengelstraße – Knoopstraße abgeschaltet. Diese Maßnahme macht sich erforderlich, da vor dem Objekthaus eine Straßenleuchte das konspirative Eindringen behindert.«594 Über die Erfüllung des Auftrags informiert ein Bericht vom 5. Mai. Das Objekt hatten die Tschekisten »über den Gartenzaun« betreten und wieder verlassen.595 591  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 163. 592  Ebd., Bl. 164 f. sowie VVB BuV, Kontrollbeauftragter Böhme, vom 8.4.1970: Einsatz eines Kontrollbeauftragten in der AMD; ebd., Bd. 6, Bl. 78. 593  Schreiben von Hartmann an Heinze vom 24.4.1970 (Notiz: L Ha / Wi-75); ebd., Bd. 45, Bl. 81. 594  BV Dresden, Abt. XVIII/5, vom 28.4.1970: Sicherungsplan für den Ausbau der Maßnahme »B«; ebd., Bd. 44, Bl. 207 f. 595  BV Dresden, Abt. VIII/3, vom 5.5.1970: Durchführung einer konspirativen Maßnahme; ebd., Bl. 209.

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Hartmann bat am 11. Mai den für die Arbeitsstelle bestimmten Vertreter des MfS zu sich auf die Arbeitsstelle. Hier teilte er dem Offizier Beobachtungen einer Nachbarin mit, die exakte Angaben zum Verhalten von Personen machte, die sich um sein Haus während seines Urlaubs zu schaffen machten. Eine andere Nachbarin, aus dem Theater zurückkehrend, habe überdies zwei Autos festgestellt und sich die polizeilichen Kennzeichen notiert. Der MfS-Offizier antwortete daraufhin, dass am 29. April verstärkt Streife gegangen worden sei. Worauf Hartmann gefragt habe, was die denn in seinem Garten zu tun gehabt hätten. Er bat den Offizier, die Nummern zu überprüfen. Der will den Eindruck gehabt haben, dass Hartmann an seiner Version eines Einbruchsversuchs nicht glauben wollte.596 Die Abteilung XVIII/5 der BV Dresden informierte die Abteilung 8 der HA XVIII am 12. Mai von der Absicht Hartmanns, vom 1. bis 23. Juni wieder nach Ungarn fahren zu wollen. In dem Schreiben werden umfangreiche und komplexe Beobachtungsmaßnahmen vorgeschlagen, auch unter direkter Beteiligung zweier Offiziere beider Diensteinheiten.597 Hartmann beschwerte sich zum wiederholten Male in einem Schreiben vom 23. Juni an Heinze über den völlig mangelhaften internationalen Informationsaustausch, auch hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Er schrieb von einer »weitgehenden Isolation«, die »dem intensiven Bemühen« der DDR um »Weltgeltung« in der Elektronik nicht dienlich sei. Er halte sich verpflichtet, seine »Überlegungen« Walter Ulbricht mitzuteilen und forderte Heinze auf, die von ihm bestellten wissenschaftlichen Unterlagen »innerhalb von wenigen Wochen (etwa entsprechend der Postlaufzeit) zu beschaffen. Er erbete »umgehend« Bescheid, welche Stelle die Beschaffung ausführen könne.598 Ein Mitarbeiter des Sekretariats des Generaldirektors berichtete, dass er am 29. Juni ein Schreiben von Hartmann einsah, worin der »sein Missfallen zum Ausdruck« gebracht habe, weil »er nicht zu dem Personenkreis gehört, der uneingeschränkt westliche Literatur an seine Privatanschrift empfangen darf. Er stelle die Vertrauensfrage und wolle an den Staatsratsvorsitzenden eine Eingabe richten.«599 Aus einem resümierenden Sachstandsbericht des MfS vom 29. Juni geht hervor, dass Hartmann »weitgehendste« Kenntnisse »über den technischen Stand« der sowjetischen Mikroelektronik besitze. Er habe »im Verlaufe der letzten Jahre mehrere Verschlussinstitute (strategische Bedeutung) in der Sowjetunion besucht«. Zu den nachrichtendienstlichen Verdächtigungen gegen Hartmann notierte das MfS u. a., dass Hartmann in »einer Reihe von Fällen« in der Vergangenheit konspiriert Briefe 596  Vgl. Bericht eines MfS-Offiziers vom 11.5.1970; ebd., Bl. 213–215. 597  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/5, an die HA XVIII/8 vom 12.5.1970: Maßnahmeplan zur Durchführung operativer Maßnahmen in Ungarn; ebd., Bl. 218 f. 598  Schreiben von Hartmann an Heinze vom 23.6.1970 (Notiz: L Ha / L a-89); ebd., Bd. 45, Bl. 82. 599  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 165. In einer anderen Quelle, leicht variiert: Notat von Peukert vom 1.7.1970: Betreff: AMD, Hartmann; ebd., Bd. 6, Bl. 79.

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Abb. 25: Freundschaft über Grenzen hinweg: Werner Hartmann bei Hans Schneider in Heidelberg, Mai 1984

und Telegramme nicht in Dresden eingeworfen habe, sondern in Meißen und Pillnitz. Hans Schneider, Universitätsdirektor in Heidelberg, sei »ständig bemüht«, Hartmann zur Flucht »zu überreden«.600

Exkurs 9: Studentenrevolte: Freund Schneider Der Spiegel vom 29. Juni 1970 berichtete über Hans Schneider, der »unrühmlich« bei den Studentenunruhen an seiner Universität aufgefallen war, unter dem Titel: »Hochschulen  – Verfassungsbeschwerde«. Demnach sollten (vermutlich am 24. Juni) in Karlsruhe die Verhandlungen zur Verfassungsbeschwerde von 163 Professoren beginnen. »Doch das Duell zwischen den alten Herren und den Junioren der Alma Mater« war »im letzten Moment abgesagt« worden. »Die Bitte um Vertagung mag den Richtern gerade recht gekommen sein, denn sie mussten fürchten, dass ihr stiller Glaspalast Schauplatz eines Spektakels würde.« Nach einem Gerücht, das kursierte, wollten Studenten »den Prozessbevollmächtigten der professoralen Beschwerdeführer, den Heidelberger Staatsrechtslehrer Hans Schneider, bis ins Gerichtsgebäude verfolgen. Der Grund: Schneider hatte den 600  HA XVIII/8/2 vom 29.6.1970: Verdachtsmomente; ebd., Bd. 2, Bl. 95–101, hier 95 u. 99 f.

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Schlagabtausch zwischen Gegnern und Befürwortern alter Professoren-Privilegien schon in der vorletzten Woche eingeleitet. Im Foyer der Juristischen Fakultät zu Heidelberg ohrfeigte der Rechtslehrer eine Studentin. Schneider: ›Sie hat mich ein Dreckschwein genannt‹. Die Kommilitonin dementiert. Ins Handgemenge mit dem provozierten Professor griff schließlich auch eine andere Studentin ein: Beate Simon, die Tochter eines der Verfassungsrichter, die am Mittwoch über die von Schneider begründete Beschwerde entscheiden sollten.«601 Nikolai Wehrs hat sich in seinem Buch Protest der Professoren mit dieser Thematik beschäftigt. Zu Schneider schreibt er, dass der im Sommer 1970 »in eigener Sache« eine »erste umfangreiche Dokumentation über studentische Störungen in Heidelberg« vorgelegt habe. »Schneider hatte am Tag der Demonstration gegen McNamara im Juni 1970 nach eigener Darstellung einer Studentin, die ihn als ›Dreckschwein‹ tituliert hatte, eine Ohrfeige gegeben. Studentische Flugblätter verbreiteten dagegen die Version, der Professor habe die Studentin ohne Anlass brutal zusammengeschlagen. Die studentische ›Basisgruppe Jura‹ organisierte eine ›Aussperraktion‹ unter der Parole ›Schneider liest nie mehr‹. Schneider wurde bei dem Versuch, seinen Hörsaal zu betreten, von Studenten mit Buttersäure bespritzt. Die Dozenten der Juristischen Fakultät sagten daraufhin noch am selben Tag kollektiv alle Lehrveranstaltungen bis zum Semesterende ab.« Hans Schneider und Karl Doehring starteten noch im gleichen Jahr eine Verfassungsbeschwerde gegen das baden-württembergische Landeshochschulgesetz. Beide gehörten dem Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW) an.602 Später, 1970, schrieb Hartmann an Schneider: »Besonders hat mich selbstverständlich die Dokumentation über Eure Erlebnisse mit den Studenten interessiert. Für mich ist dies ja alles ungewöhnlich. Aber Du hast recht, es fehlt den meisten Zivilcourage, dann hätten diese Auswüchse bald ein Ende.«603 Laut Direktive der VVB BuV vom 30. Juni 1970 für den Entwurf des Perspektivplanes zur Entwicklung der Volkswirtschaft 1971 bis 1975 hatte die AMD 1973 HL-Typen FKS und Gruppenintegrierte FKS (mit einem Integrationsgrad von 100) sowie 1974 gruppenintegrierte FKS (mit einem Integrationsgrad von 1000) überzuleiten.604 Im Juli begann der Bau des AMD-Rechnergebäudes.605 601  Hochschulen: Verfassungsbeschwerde – Bestimmte Personen, in: Der Spiegel 24(1970)27, S. 73–75, hier 73 f. 602  Wehrs, Nikolai: Protest der Professoren. Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« in den 1970er-Jahren. Göttingen 2014, S. 301 u. 363. 603 Schreiben von Hartmann an Schneider am 14.10.1970; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 25, Bl. 92. 604 Vgl. Direktive der VVB BuV vom 30.6.1970: Perspektivplan 1971–1975; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 9, Bl. 12–21, hier 14. 605  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 22.

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Offizier Neubert von der Abteilung 5 der HA II hatte am 20. Juli im Auftrag von Generalmajor Grünert sowohl den aktuellen Sachstand als auch die operative Beobachtung Hartmanns in Ungarn analysiert. Er verwies auf Widersprüchlichkeiten, einige Merkmale sprächen für den BND, andere für den amerikanischen Geheimdienst. Er empfahl eine Analyse des gesamten Vorgangsmaterials zu Hartmann durch die HA II.606 Fundamentale Beiträge für die AMD hatte, wie oben geschildert, der VEB Elektromat zu liefern. Die Abrechnung des MfS mit Hartmann wird später suggerieren, dass er allein für die Entwicklung der Mikroelektronik verantwortlich gewesen sei. In der Wissenschaftlich-technischen Konzeption (WTK) des VEB Elektromat vom 7. August war für 1971 bis 1975 u. a. die »Schaffung eines Ausrüstungssystems für die Silizium-Planar-Epitaxie-Technik« geplant.607 Ein Aktenvermerk vom 22. September zu einer Absprache zwischen dem Referat 2 der Abteilung 7 der HA XVIII und der Abteilung 5 der HA II am 31. August über die Sachlage zu Hartmann im Rahmen des OV »Molekül« auf der Grundlage der analytischen Durcharbeitung der Erkenntnisse seitens der Abteilung 5 ergab, dass es weiterhin »keine Beweise« für Spionage gebe, jedoch Hinweise, die eine Bearbeitung in dieser Richtung »unbedingt« rechtfertigten. Die Darbietung der Erkenntnisse seitens der Abteilung 8 der HA XVIII war wiederum dürftig und wurde von der HA II kritisiert. Eine Verbindung Hartmanns zum BND sah die HA II als unwahrscheinlich an, wahrscheinlicher sei eine Verbindung zum US-Geheimdienst. Also wurde eine größere operative Kombination, die Hartmann »zu Handlungen« zwingen sollte, in Angriff genommen.608 Am 6. Oktober überreichte Walter Ulbricht Hartmann den Nationalpreis 2. Klasse für Wissenschaft und Technik. Hartmann schrieb später: »Damit habe ich eine Bestätigung in dieser Form für mein jahrelanges Bemühen und schwere Kämpfe um eine nach neuen Gesichtspunkten geführte physikalische Industrie erhalten.« Er hatte bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit bekommen, »längere Zeit mit Ulbricht und Honecker zu sprechen.«609 Hartmanns Schüler Wolfgang Schlegel erinnert sich, dass Hartmann Vorgesetzten gegenüber stets distanziert auftrat.610 Im Endeffekt bekamen AMD-Mitarbeiter drei Nationalpreise für die »Entwicklung technologischer Ausrüstungen und Verfahren«. Erste Teilschrittkomplexe in 606 Vgl. HA XVIII/8 vom 27.7.1970: Aktenvermerk einer Absprache am 20.7.1970; ebd., Bd. 16, Bl. 245 f. 607  Vgl. EMD vom 7.8.1970: WTK für den Zeitraum 1971–1975; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 9, Bl. 23–27, hier 24 f. 608  HA XVIII/8/2 vom 22.9.1970: Absprache zum OV »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 102–106. 609  Schreiben von Hartmann an Schneider am 14.10.1970; ebd., Bd. 25, Bl. 92. 610  Schlegel: »Das Bild [26] mit Steger und Ulbricht zeigt ihn so, wie er auch an der TU auftrat: Stets aus dem Ei gepellt, distanziert, höf‌l ich, aber immer und unter allen Umständen ansprechbar und dann freundlich und zu Antworten bereit. Dem Fotografen ist zu danken, dass er die Skepsis in Hartmanns Blick beim Gespräch mit Ulbricht und auch das gerade stattfindende ›Einschleimen‹ von Steger festhalten konnte.« Schreiben von Schlegel an den Verf. am 1.3.2004.

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Abb. 26: Bankett zur Verleihung des Nationalpreises an Werner Hartmann (Mitte)  am 6.10.1970, neben ihm Otfried Steger, ihm gegenüber Walter Ulbricht

der Versuchsfertigung wurden noch im Oktober 1970 begonnen.611 Rolf Hillig nahm bei Hartmann am 13. Oktober 1970 die Arbeit auf, der für ihn einen ganzen Tag bereithielt, um ihn für »die entscheidend wichtige Position des Bereichsleiters Versuchsfertigung« einzustimmen.612 Im November fand eine öffentliche Parteiversammlung in der AMD statt. Generaldirektor Heinze würdigte das Entwicklungstempo und forderte zugleich auf, dieses zu erhöhen.613 Die SED-Parteileitung der AMD forderte Hartmann am 12. November auf, für die Parteileitung mehr Mitsprachemöglichkeiten hinsichtlich des Planes einzuräumen: »Die Mitarbeiter können […] ihrer Eigentümerrolle und ihrer Verantwortung für das Ganze nicht gerecht werden. Doch gerade das verlangen sowohl Partei und Regierung als auch die Gewerkschaft!« Völlig mangelhaft sei die politisch-ideologische Arbeit der Leiter. Das zeige allein »ein gravierendes 611  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 22. 612 Hanisch: Auswertung von Archivunterlagen vom 28.6.1975; ebd., Bd. 37, Bl. 69–78, hier 73. 613  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 22.

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Beispiel«, nämlich die »Kranzdelegation« zu Ehren der Oktoberrevolution am 6. und 7. November. Obgleich jeweils 50 Mitarbeiter »delegiert« worden seien, seien am 6. November, »noch während der Arbeitszeit!«, nur 15 Mitarbeiter erschienen. Am 7. waren es gar nur vier Mitarbeiter. Die Parteileitung forderte Hartmann umgehend auf, laufend über die Abstellung der kritisierten Punkte zu berichten.614 Indes untersuchte die Technische Untersuchungsstelle des MfS in Berlin einen Brief, den Hartmann an die Münchnerin in Pullach geschickt hatte. Doch das Untersuchungsergebnis vom 18. Dezember war wieder negativ (wie eine analoge Untersuchung vom 13. Mai 1971).615 Hartmann wird gut zehn Jahre später in seinem »Museum« für Dezember 1970 notieren, dass sich der VEB Werk für Fernsehelektronik (WF) Berlin für die methodische Konzeption seiner Arbeitsstelle interessierte. Beim FKS vom Typ D200C hatten sich indes erste positive Ergebnisse eingestellt.616 Die AMD zählte am Ende des Jahres 734 Beschäftigte.617 Am 27. Januar 1971 teilte Hartmann einem westdeutschen Bekannten mit, dass er verzagt sei, nicht mehr in den Westen reisen zu dürfen. Ich bin »sehr traurig, dass wir uns gar nicht mal treffen und sehen können«, denn »Du bist für mich, u. a. natürlich, die Brücke, die Verbindung zu den 1920er- und 1930er-Jahren in Berlin, an die ich oft zurückdenke«.618 In diesem Jahr publizierte Hartmann einen Aufsatz in der Zeitschrift Feingerätetechnik, der den Hardlinern im MfS wie gerufen kam. Es ist ein groteskes Kapitel über die fachinkompetente Herrschaft von SED und MfS sondergleichen. In einer pseudogutachterlichen Weise ließen sie sich über wissenschaftliche Erkenntnisse aus, dass sich dem Fachmann die Haare gesträubt hätten, hätte er es gelesen. In dem Heft ist in komplexer Weise das Eigentliche der Mikroelektronik-Technologie dargestellt, ein Beitrag, der in der DDR thematisch gesehen seinesgleichen suchte. Nur haben die Gutachter nicht nur miserabel zitiert, sondern auch verlogen kompiliert; etwa zur Röhrentechnik in den 1930er-Jahren: Hartmann hatte geschrieben, dass »das allermeiste« durchaus der »Empirie oder auch Alchimie« entstammte: »In treffender Weise nannte man« das damals »in selbstkritischer Einsicht die ›Physik des gekonnten Drecks‹.« Anders als die diplomierten und promovierten Gutachter des MfS wusste jedermann, der sich mit der Mikroelektronik-Technologie befasste, dass mit dem Wissen um Störeffekte im Halbleitermaterial noch lange nicht auch deren Beherrschung technisch realisierbar war. Und so verstand jeder Wissenschaftler, der Hartmanns Beitrag las, was »Physik des gekonnten Drecks« zu heißen hatte. Das steht auch verständlich genug auf der dritten Seite des Beitrags inmitten eines kurzen Abrisses der Geschichte der Elektronik. Weiter heißt es: »Trotz der großen Erfolge, 614  Parteisekretär der AMD an Hartmann vom 12.11.1970; ebd., Bd. 12, Bl. 46 f. 615  Vgl. Technische Untersuchungsstelle des MfS vom 18.12.1970; ebd., Bd. 38, Bl. 22. 616  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 23. 617  Vgl. AMD vom 5.2.1971: Jahresgeschäftsbericht 1970; ebd., Bd. 10, Bl. 139–156, hier 144. 618  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 180.

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die in einer weltweiten Entwicklungsarbeit an der Silizium-Planar-Technologie erzielt wurden, darf man jedoch nicht die Augen davor verschließen, dass immer noch ein gehöriger Anteil Alchemie mit im Spiel ist. Bei manchen Fertigungsteilschritten verlässt man sich oder besser muss man sich bis heute auf gut funktionierende Rezepte verlassen. Diese schwarze Magie führt dazu, dass auch in stabil eingelaufenen Produktionslinien plötzlich unerwartet hoher Ausschuss auftritt, der manchmal ebenso plötzlich wieder verschwindet, ohne dass es gelang, seine Ursachen einwandfrei zu erkennen. So unwissenschaftlich eine solche Arbeitsweise erscheinen mag, so darf ich doch daran erinnern, dass sie auch anderswo in der Industrie und selbst in der Grundlagenforschung nicht unüblich ist: Stellten sich z. B. die Fundamente des Gebäudes der Physik als unsicher heraus, so suchte man zunächst, sie durch ad-hoc-Annahmen zu untermauern, während in den oberen Stockwerken lustig weitergebaut wurde. Natürlich kann und darf man sich mit diesem Zustand nicht zufriedengeben«. Der Beitrag gibt nicht nur einen gut verstehbaren Abriss durch die jüngere Elektronikentwicklung, sondern legt auch den Finger in zahlreiche wunden Stellen; hier eine Auswahl zu den anstehenden bahnbrechenden künftigen Leistungen: »Die Schlüsselpositionen auf diesem Wege zur Erreichung nah- und mittelfristiger Ziele sind vom Ingenieur und technischen Physiker, nicht vom forschenden Wissenschaftler zu besetzen. Es sind Aufgaben der Technologie und nicht der Grundlagenforschung. Aus diesem Grunde, so meine ich, muss ein gesunder Ausgleich zwischen den Gewichten bestehen, die man heute der reinen Forschung einerseits und der industriellen Entwicklung andererseits zuerkennt. Eine Über­ betonung eines dieser beiden Aspekte wissenschaftlicher Arbeit vor dem anderen zieht schwer korrigierbare, langfristig wirkende Komplikationen nach sich.«619 Hartmanns Denken kam bei Wissenschaftlern an, nicht aber bei den Verwaltungsbürokraten und SED-Ideologen. Hartmann: »Aber die Erfahrung zeigt eindeutig, dass eine an einigen Punkten vielleicht zu aufwendige oder sich später gar als überflüssig herausstellende Kontrolle zunächst insgesamt doch billiger ist, als von vornherein zu wenig zu prüfen, zu messen und zu kontrollieren. Im letzten Fall ist man meist hilflos, wenn unerwartete Schwierigkeiten auftreten; es beginnt eine geistige und technologische Bastelei, die ein Vielfaches an Aufwand und Nerven erfordert. Man muss sich also völlig eindeutig darüber Rechenschaft ablegen, dass nur bei sehr sorgfältiger Kontrolle aller Teilschritte vernünftige Ausbeuten von brauchbaren Endprodukten bei dem, wie ich bereits erwähnte, notwendigerweise erzwungenen Gebrauch von Materialien und Prozessen, die durchaus nicht völlig verstanden und beherrscht werden, erzielbar sind.«620 Die späteren Gutachten im Auftrag des MfS ignorierten diese Philosophie.

619  Hartmann, Werner: Technologie der Mikroelektronik, in: Feingerätetechnik 20(1971)1, S. 3–6, hier 3 f. 620  Ebd., Bl. 5.

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Im Januar wurde in der AMD die Bereichsstruktur eingeführt.621 Das MfS bastelte indes an einem 19-seitigen Maßnahmeplan zur AMD, wobei einmal mehr die Aufklärung der Westverbindungen Hartmanns im Mittelpunkt der operativen Maßnahmen stand. Ein Fortschritt in der Nachweisführung bezüglich des Spionagevorwurfs konnte immer noch nicht erzielt werden. Lediglich »Fragmente spionageverdächtiger Handlungen« wurden »erarbeitet«. Die Aufklärungsmaßnahmen zu seinen Westverbindungen waren exorbitant. Zu ihnen zählte die »lückenlose Kontrolle der Korrespondenz zwischen« Hartmann und der Münchnerin »sowie eine Schriftenfahndung«, die bereits eingeleitet war. Seine Verbindungen sollten permanent registriert und analysiert werden, einschließlich »Handlungsvergleichen« zu mehreren Westpersonen. Die beiden Zeitschriften Bild der Wissenschaft und Physikalische Blätter standen im besonderen Fokus des MfS. Zur analytischen Arbeit verschaffte man sich »über eine Quelle aus Westberlin« die Zeitschriften ab September 1970. Künftig wolle man sie vorrätig haben. Hierzu wurde der IM »­L orenz« beauftragt, beide Zeitschriften zu abonnieren. Das war kaum einem Physiker in der DDR erlaubt! Man benötigte sie vor allem für den allfälligen Austausch von Exemplaren, die Hartmann aus dem Westen von seinem Freund Schneider regelmäßig zugeschickt bekam. So sollte die Nummer 9/70 der Physikalischen Blätter auf Mi­ krate hin untersucht werden. Zu den an Hartmanns Dienstobjekt adressierten Zeitschriften leitete das MfS Postzollfahndung (PZF) ein. Somit sollte die Untersuchung der Originalzeitschriften gewährleistet werden, bevor sie in die Hände Hartmanns gelangten. Sein Briefverkehr sollte hundertprozentig kontrolliert werden. Hierzu zählte u. a., dass der gesamte Dresdener Rentnerverkehr nach Darmstadt für das Jahr 1967 nachträglich erfasst werden musste. Zur »straffen zielstrebigen Arbeit am OV« sollte »täglich ein Lagefilm gefertigt« werden.622 Ausgerechnet das Heft 9/1970 enthielt einen Aufsatz mit der Überschrift »Organisation der Forschung in der Sowjetunion« und ein anderer war der Dresdener Uni-Zeitung 13/1970 entnommen: »Ziele sozialistischer Universitätsausbildung«.623 Zur Untersuchung des Heftes 9/70 von Bild der Wissenschaft: Das Heft sollte zum Zwecke der Untersuchung auf Mikrate vom IM »Richter« von Hartmann ausgeliehen werden. Das Heft vorher abzufangen, war fehlgeschlagen. Laut einer MfS-Notiz wurde vom Führungsoffizier des IM »Richter« festgelegt, ihm nötigenfalls nach der Besorgung das Heft »innerhalb« von zwei Tagen zurückzugeben, »damit der IM nicht gefährdet« werde, sollte Hartmann es plötzlich zurückverlangen. Das MfS hätte gern die Zeitschrift ausgetauscht, doch hatte Hartmann sie »handschriftlich beschriftet«.624 Also meldete der IM »Richter« bei Hartmann – über eine operative 621  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 23. 622  HA XVIII/8/2 vom 7.1.1971: Maßnahmeplan zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 5, Bl. 55–73. 623  Meldungen der Redaktion: Organisation der Forschung in der Sowjetunion, in: Physikalische Blätter 26(1970)9, S. 421 f. sowie Ziele sozialistischer Universitätsausbildung; ebd., S. 423. 624 Handschriftliche Anweisung (o. D.); BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 16, Bl. 267.

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Kombination  – Lese-Bedarf an. Dies geschah, indem er das vom MfS erhaltene Heft 8/70 so auf seinen Schreibtisch platzierte, dass es Hartmann nicht übersehen konnte. Exakt dies gelang, Hartmann soll auf das Heft »gestiert« und gefragt haben, woher er es denn habe. Von einer Dienstreise nach Basel, antwortete der IM. Ihm fehle aber leider das Heft Nr. 9, worin ein interessanter Artikel über Kugelblitze stehe.625 Aus der MfS-Sicht: »Operativ stand im Mittelpunkt aller Maßnahmen die konspirative Beschaffung der Nr. 9 Bild der Wissenschaft 70, von der bekannt war, dass sie durch Professor H. mehrfach als Erhalt bestätigt wurde. Mittels einer operativen Kombination mit dem IM ›Richter‹ gelang es, das Heft Nr. 9 konspirativ zu beschaffen.« Ferner: »Gegenwärtig befindet sich das Heft Nr. 9 bei der Abteilung 32 zur Untersuchung.« Man schätze überdies ein, dass Hartmann »in der Lage« sei, »selbst Mikrate herzustellen (Fotomaskentechnik)«.626 Vordem, am 2. Februar, hatte das MfS einen Sicherungsplan für eine konspirative Arbeitsplatzdurchsuchung in Hartmanns Büro aufgestellt. Hierzu zählte auch die Beobachtung seines Hauses über Nacht während der Durchsuchung am 3. Februar.627 Ein Bericht des Referates 2 der Abteilung 8 der HA XVIII vom 5. Februar über die nächtliche Aktion vom 3. auf den 4. Februar lautete auf: »ohne Vorkommnisse«. Die »Zielstellung«, die Zeitschriften Bild der Wissenschaft und Physikalische Blätter aufzufinden, »verlief negativ«. Neben dokumentierten Hinweisen zu Verbindungen und persönlichen Aufzeichnungen konnte auch »ein DIN A5 Buch mit handschriftlichen Notizen« Hartmanns »über den Ein- und Ausgang genannter Zeitschriften sowie über den Nachweis ausgeliehener Hefte an dritte Personen« dokumentiert werden. »Dieses Buch befand sich in einem versiegelten Schrank.«628 Der Bericht über die konspirative Durchsuchung des Büros von Hartmann am 3. Februar zwischen 22.00 und 1.30 Uhr stammt vom 8. Februar. Demnach war die »Durchsuchungskolonne« vom Sicherheitsbeauftragten »unter Umgehung des Pförtners in das Objekt eingeschleust« worden. Die Schränke wurden entsiegelt und kontrolliert. Dokumente wurden fotografiert. Anschließend wurde alles mit einem Zweitsiegel wieder versiegelt.629 Im Jahresgeschäftsbericht für 1970 vom 5. Februar heißt es, dass die Versuchsfertigung (VF), die gebäude- und anlagengemäß »gleitend projektiert« werden musste, bereits seit 1967 laufe. Typen der Reihe H seien als Pilotserie für die Versuchsfertigung festgelegt, andere Typen der Standardfamilie C dem Halbleiterwerk 625  BV Dresden, Abt. XVIII/4, vom 22.4.1971: Bericht von »Richter« am 22.4.1971; ebd., Bl. 268 f. 626 BV Dresden, Abt. XVIII/5, vom 28.4.1971: Einschätzung zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 273–296, hier 275. 627 Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/5, vom 2.2.1971: Sicherungsplan über die konspirative Arbeitsplatzdurchsuchung in der AMD; ebd., Bd. 45, Bl. 1 f. 628  HA XVIII/8/2 vom 5.2.1971: Konspirative Durchsuchung vom 3. zum 4.2.1971; ebd., Bd. 16, Bl. 258. 629  BV Dresden, Abt. VIII, vom 8.2.1971: Arbeitsplatzdurchsuchung; ebd., Bd. 45, Bl. 6 f., hier 7.

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in Frankfurt / O. überantwortet worden. Die VF wies »nach Abschluss der gleitenden Projektierung eine wesentliche Wertabweichung gegenüber der Konzipierung in der Zielstellung aus, woraus« ein »weit höherer Bau-, Ausrüstungs- und Montagekapazitätsbedarf« folgte. »Die Ursachen dafür« hätten – nicht unerwartet – »in einer Unterschätzung des zur Realisierung der Aufgabe notwendigen Aufwandes, der auf der Auswertung internationaler Fachliteratur basierte«, gelegen. Diesbezügliche Erfahrungen in der DDR, auf die man hätte zurückgreifen können, habe es nicht gegeben. Das Thema werde 1971 als Überhangthema weitergeführt werden müssen. Die Finanzierung bedürfe »noch der Klärung«.630 Im Jahresgeschäftsbericht 1971 hieß es dann, dass der Aufbau der VF zum 31. Dezember 1970 »erledigt« worden sei. Für noch offene Restarbeiten wurde das »Anschlussthema ›Komplettierung der Versuchsfertigung‹ eröffnet«. Dieses Thema aber konnte wiederum nicht wie geplant zum 31. Dezember 1971 abgeschlossen werden, da der VEB Elektromat nicht in der Lage gewesen war, die zugesagten technologischen Ausrüstungen zu liefern. Überdies konnte das Reparaturzentrum der VF »lediglich im Rohbau fertiggestellt werden«. Auch der Innenausbau wurde nur als »Winterbaumaßnahme« vereinbart.631 Am 22. Februar schrieb Hartmann an Klaus Thiessen632 zur Problematik der Ionenimplantation, die er mit Gründen ablehne: »Grundsätzlich« sei es zwar richtig, diese Technologie zu verfolgen. »Allerdings« müsse »diese Folgerung im Gesamtrahmen der dringenden vor der DDR-Halbleiterindustrie stehenden Aufgaben und der vorhandenen Kapazität gesehen werden. Abstriche an der noch nicht ausreichenden Kapazität zur Stabilisierung und Optimierung der zurzeit verwendeten bzw. in die Fertigung überführten Silizium-Epitaxie-Technologie dürfen auf keinen Fall zugelassen werden. Andererseits muss auch die Ionenimplantation mit einer überkritischen Intensität bearbeitet werden. In der Bilanzierung aller Anforderungen und Notwendigkeiten liegt eine schwere Entscheidung für die VVB Bauelemente und Vakuumtechnik.«633 Nichts von diesen Argumenten wird später Hanisch im Rahmen seiner Gutachtertätigkeit für das MfS zur Kenntnis nehmen. Weitere Fortschritte: Im Februar fand die K-5-Verteidigung für FKS der Reihe D1C im VEB Kombinat Halbleiterwerk Frankfurt / O. (HWFO) statt. Indes nahm die importierte Rechenanlage in der AMD den Betrieb auf.634 Die Technische Untersuchungsstelle des MfS in Berlin untersuchte derweil einen Brief, den Hartmann an die Münchnerin in Pullach abgeschickt hatte. Der Bericht über das Ergebnis stammt vom 10. März. Es heißt, dass das Untersuchungsobjekt sich »nicht konspirativ öffnen« ließ, da der Umschlag »außen mit Prenaband verklebt und von innen neben dem Klebefalz nochmals mit einer Zweitverleimung versehen« 630  AMD vom 5.2.1971: Jahresgeschäftsbericht 1970; ebd., Bd. 10, Bl. 139–156, hier 143. 631  AMD vom 9.2.1972: Jahresgeschäftsbericht 1971; ebd., Bl. 123–137, hier 125. 632  (1927). Sohn von Peter A. Thiessen. 633 Schreiben von Hartmann an Thiessen vom 22.2.1971; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 17, Bl. 168 f. 634  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 23.

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war. Jedoch habe man bei »der visuellen und Lumineszenz-Betrachtung sowie bei der mikroskopischen Untersuchung« des Briefes »keine Geheimschriftmerkmale sowie Mikrate festgestellt«. Auch die »durchgeführten chemischen Untersuchungen des Briefbogens erbrachten keinen Nachweis« auf eine »Geheimschrift«.635 Aus einem Schreiben Schneiders vom 22. März: »Es wäre schön, wenn wir uns im Laufe dieses Jahres einmal sprechen könnten. Dein Vortrag über Elektronik hat mir natürlich sehr imponiert, und mein Sohn (16  Jahre)  belehrt sich daran. Er möchte auch in dieses Fach gehen und bastelt mit integrierten Schaltkreisen. In unserer reformierten Universität herrscht äußerlich Ruhe, aber die Verwaltung läuft schleppend, weil 16 Fakultäten und 72 Fachgruppen, jeweils in paritätischen Konferenzen tagend, eine Unmasse von Sitzungen mit sich bringen und schwer zu koordinieren« sind. »Ich hoffe, dass Euch in Dresden eine solche ›Reform‹ erspart bleibt.«636 Hartmann heiratete am 17. April 1971 Renée-Gertrud (siehe Kap. 4.1, »Eine Nachgeschichte«), seine dritte Frau. Im April erfolgte vorfristig die Überleitung des Verfahrens C in die Versuchsfertigung (VF), erste FKS wurden hergestellt.637 Hanisch konterte die Fakten mit Meinungen: Am 20. April soll sich bei ihm der Eindruck verdichtet haben, wonach Hartmann es mit der Entwicklung der VF nicht so ernst nehme. Er habe sie eher als »Labor« konzipiert. Zu Hillig soll Hartmann »mehrmals« gesagt haben, »dass er sich nicht übernehmen« solle »mit der VF«.638 Aber wie sind solche Sätze überhaupt zu verstehen ohne Kontext, ohne lebendige Anschauung? Wie ist diese Aussage Hartmanns zu verstehen, ohne die folgende Erinnerung an Hillig in seinem »Museum«: von Halbleitertechnik »verstand und wusste er nichts«?639 Zu diesem Zeitpunkt war Hanisch als Führungs-IM (FIM) längst der wesentlichste Brückenkopf des MfS in der AMD. Das MfS war über alle Details informiert, natürlich, was die Abbildungstreue gegenüber der Realität anlangte, gewissermaßen »Hanisch-verschoben«. Vom 9. September 1970 bis 24. April 1971 wurden zu dieser engeren Problematik neun meist dreiseitige Berichte geliefert. Am 6. Mai stellte der IM »Richter« fest, dass Hartmann Zweifel an der Kontinuität der Mikroelektronik-Entwicklung in der DDR gekommen seien. Bei dem von Hartmann kommentierten Dokument handelte es sich um den Entwurf der Direktive des ZK der SED zum Fünf‌jahrplan 1971 bis 1975. Dem IM soll er gesagt haben: »Lesen Sie sich das einmal genau durch.« Und: »So explizit wie die Halbleitertechnik hier behandelt worden ist, ist sie noch nie behandelt worden. Da sind Details drin, die da gar nicht reingehören wie z. B. dotieren von Silizium usw.« Und betreffs der Sowjetunion, »da lesen sie genau, was ich ihnen vorhin schon sagte«, ist 635  Technische Untersuchungsstelle des MfS vom 10.3.1971; ebd., Bd. 38, Bl. 2. 636  Schreiben von Schneider an Hartmann vom 22.3.1971; ebd., Bd. 25, Bl. 118 f., hier 119. 637  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 23. 638  Bericht von »Rüdiger« am 20.4.1971; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM  4885/90, Teil  II, Bd. 1, Bl. 334 f., hier 334. 639  TSD; Nachlass Hartmann, H 243 f.

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es nicht »das zweite Schicksal der Luftfahrtindustrie für die Halbleitertechnik«.640 Hartmann erinnerte hiermit an die fragend-warnende Frage von Weiz von 1965, ob »die Mikroelektronik nicht etwa eine zweite Flugzeugindustrie« zu werden drohe. IM »Richter« suggerierte, dass Hartmann eine solche Tendenz wohl unterstütze.641 Aus der Direktive zum VIII. Parteitag der SED vom 15. bis 19. Juni ging die Absicht der DDR hervor, »unter Berücksichtigung der Kooperation mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Ländern […] die proportionale Entwicklung innerhalb der Elektrotechnik und Elektronik zu gewährleisten und ein hohes Niveau in der Bereitstellung von Erzeugnissen der Halbleitertechnik und Mikroelektronik« zu er­reichen. Es hieß also nicht: »in Kooperation mit«, also nicht in dem Sinne, dass mit der Sowjetunion zusammengearbeitet werde, sondern eher im Sinne der Abstimmung, was wer zu machen hatte. Zudem: was bedeutete »proportionale Entwicklung«? Auch hier schwingt das Element der Mittelabwägung mit. Hartmann muss dies erkannt haben. Gleichzeitig aber wurde der Primat der Technologie erkannt: »Die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten sind verstärkt für die Beherrschung der Technologien einzusetzen. Damit sind eine hohe Stabilität der technologischen Prozesse sowie die Erhöhung der Zuverlässigkeit und der Gebrauchswerteigenschaften der Erzeugnisse, insbesondere bei mikroelektronischen Bauelementen zu er­reichen. Vorrangig sind die Forschungsaufgaben zur Herstellung und Bearbeitung von Silizium sowie die Verfahren zur Dotierung und Kontaktierung zu bearbeiten.«642 Die Dresdener Zeitung Freies Wort druckte am 8. Mai eine Würdigung Hartmanns ab unter dem Titel: »Der Weg aus der Leere«. Der Beitrag beachtete insbe­ sondere die Etablierung eines neuen Typs »wissenschaftlich-technischer« Betriebe. Zwar wurde der Begriff und die Eigenart desselben nicht richtig dargestellt, immerhin aber konnte der Leser erfahren, dass infolge der modernen industriellen Komplexität partiell etwas Neues geschaffen werden müsse, um den Beschäftigten von Betrieben, die nicht rentabel seien, weil sie Forschung und Entwicklung betrieben sowie nur in kleinen Stückzahlen produzierten, ihre verdiente Wertschätzung zu geben: »Warum sollten die Arbeiter seines Werkes das Gefühl haben, mit einem Makel belastet zu sein, während durch den Einsatz der von ihnen gebauten Geräte in anderen volkseigenen Betrieben die Rentabilität sprunghaft anstieg?« Auf dem Weg zu seinem WIB lagen viele Steine, »so sehr« sich Hartmann »auch« damals »bemühte, einen Ausweg zu finden«, er fand einfach kein Gehör. Der Interviewer zauberte dann jenen Satz hin, der letztlich den Abdruck erst möglich gemacht haben dürfte: Schließlich habe Hartmann seine Idee der Partei vorgetragen, die habe die Bedeutung erkannt und Ulbricht habe ihn daraufhin eingeladen, diese Idee auf einer 640  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 165. 641  Abt. XVIII/4: Tonbandabschrift vom 6.5.1971; ebd., Bd. 6, Bl. 80 f. 642 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 14 f.

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Sitzung des ZK im Juli 1960 in Berlin vorzutragen.643 Der Bericht glorifizierte auch seinen Aufenthalt in der Sowjetunion. Dieser Teil wurde ein Jahr später im selben Blatt so sehr aufgeblasen, dass nahezu alle Wahrheit unter dem Titel »Der feste Boden unter den Füßen. Wie ein Wissenschaftler zu den wichtigsten Erkenntnissen seines Lebens kam« verschwand; Zitat: »Je öfter Professor Hartmann in die Sowjetunion fliegt, umso mehr verliert zwar eine solche Flugreise an Reiz, umso mehr aber verstärkt sich auch das Gefühl, immer festeren Boden unter den Füßen zu finden.«644 Doch diese Passage kann zwischen den Zeilen gelesen werden: hatte er keinen festen Boden in der DDR unter den Füßen? Der Autor war Horst Schubert, Regisseur beim Fernsehen. Die BV Dresden ermittelte später in der finalen Bearbeitung Hartmanns dessen Personendaten und bat die Berliner Kollegen »auf Linie« um Recherche.645 Die Technische Untersuchungsstelle des MfS hatte laut Bericht vom 13. Mai wieder einen Brief untersucht, den Hartmann an Schneider zur Post gebracht hatte. Die Untersuchungen erbrachten keine Beweise für Geheimmitteilungen.646 Laut Bericht vom 19. Mai waren auch wieder Exemplare von Bild der Wissenschaft auf Mikrate hin untersucht worden. Fünf »Verletzungen der Oberfläche« wurden festgestellt, die 1 bis 2 mm2 groß waren und somit »Form und Abmessungen der Größe von Mikraten« entsprachen. Der Untersuchungsführer räumte zwar ein, »dass diese Stellen als Verstecke für Mikrate dienten«, jedoch könne ein direkter Beweis dafür nicht erbracht werden. Eine chemische Untersuchung konnte nicht realisiert werden, da die Forderung auf »Nichtbeschädigung« der Hefte bestand.647 Laut Hanisch hatten sich die Spannungen zwischen den Mitarbeitern der Versuchsfertigung (VF) und denen des Hauses  137 immer mehr vergrößert. Kern des Zwistes war, dass die Leitung der Auf‌fassung war, dass die eingegangene Verpflichtung zur Produktion von Schaltkreisen »illusorisch« sei. Eine Verpflichtung der VF, anlässlich des VIII. Parteitages der SED insgesamt 150 Scheiben pro Tag zu produzieren, war im Februar 1971 gefasst worden. Diese Verpflichtung liege nach wie vor auf dem Tisch Hartmanns und sei an die Parteiorgane der VVB BuV nicht weitergeleitet worden. In einem zwölfseitigen Bericht Hanischs ist gezeigt, dass Hartmann – etwa auf der Beratung am 25. Mai – jedwedes Argument zu nutzen gewusst haben soll, die Verpflichtung von VF (Hanisch sprach von »unserer Verpflichtung«) nicht zur Entfaltung bringen zu wollen. Etwa mithilfe des Kaderleiters, 643  Schubert, Horst: Der Weg aus der Leere. Porträt über Nationalpreisträger Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Hartmann, in: Beilage Nr. 19 der Tageszeitung Freies Wort vom 8.5.1971. 644  Schubert, Horst: Der feste Boden unter den Füßen. Wie ein Wissenschaftler zu den wichtigsten Erkenntnissen seines Lebens kam, in: Beilage Nr. 26 der Tageszeitung Freies Wort vom 30.6./1.7.1972, S. 2. 645  Ermittlungsergebnis zu Veröffentlichungen der Presse zu Werner Hartmann; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 6 sowie: Abschrift (o. D.): Biografisches zum Manuskript »Der Weg aus der Leere«; ebd., Bl. 8. 646  Vgl. Technische Untersuchungsstelle des MfS vom 13.5.1971; ebd., Bd. 38, Bl. 3. 647  Technische Untersuchungsstelle des MfS vom 19.5.1971; ebd., Bl. 26 f.

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Abb. 27: Spionage mittels Mikrat? Dokumentation der verdächtigen Beschädigungen an der Wissenschaftszeitschrift

der ihm bestätigte, dass auch er daran zweifele, hinreichend Arbeitskräfte für diese zusätzliche Aufgabe rekrutieren zu können. Angeblich soll Hillig während des Besuches eines sowjetischen Ministers der VF Heinze gefragt haben, »ob es bereits eine Anweisung« an Hartmann »gäbe, die 150 Scheiben« zu produzieren. Heinze soll dies bejaht haben, »es gäbe eine schriftliche Anweisung der VVB an Professor Hartmann, diese Auflage der VF auch zu realisieren«.648 Einmal mehr untersuchte die Technische Untersuchungsstelle des MfS laut einem Bericht vom 9. Juni Exemplare der Bild der Wissenschaft und der Physikalischen

648  Bericht zum Treffen mit »Rüdiger« vom 29.5.1971; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 1, Bl. 340–353, hier 340, 342 f. u. 345.

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Blätter auf Mikrate resp. Geheimmitteilungen. Auch diese Untersuchungen verliefen negativ.649 Die Abteilung XVIII/4 der BV Dresden teilte der Postzollfahndung (PZF) der BV Dresden am 29. Juni mit, dass sie am Vortag »aus sicherer inoffizieller Quelle« erfahren habe, dass zu der u. a. »in Fahndung stehenden Zeitschrift Bild der Wissenschaft an den Beschuldigten ein Einziehungs-Entscheid ergangen« sei. Sie bat um genaue Fakten zu diesem Einziehungsbeschluss (wer, welches Heft) und stellte die Forderung, die »eingezogene Zeitschrift« umgehend der »Diensteinheit zuzustellen.« Sollte sich Hartmann indes um eine Herausgabe des Heftes bemühen, sei ihm dies zu gewähren – allerdings mit einer Zeitverzögerung von acht Tagen, die man für operativ-technische Maßnahmen benötige. Künftig sollten die Zeitschriften sofort der Abteilung XVIII/4 zugestellt werden, die Postzollfahndung erhalte sie dann nach Abschluss der Untersuchung zurück, »damit sie den Empfänger erreicht«.650 Erst am 30. Oktober antwortete die Postzollfahndung und teilte dem MfS mit, dass am 23. Juni »mit dem Einziehungsprotokoll B 185844« die Zeitschrift vom Postzollamt (PZA) Dresden »eingezogen« worden sei, weil »sie in der Postzeitungsliste der DDR nicht enthalten« sei und »damit der Einziehung« unterliege. Es handelte sich um die Nummer 5 von 1971. Wurde die Zeitschrift im MfS gelesen? Es liegt nahe, denn die Zeitschrift war – »zur Einsichtnahme bei der Abteilung PZF« – beim Leiter des PZA Dresden »unter« eben diesem »Vorwand ausgeliehen« worden. Die PZF werde die »Sendungen, die aus Heidelberg« kämen, nun »ungeöffnet« lassen, »damit sie Ihnen übergeben werden können«. Allein im Monat Mai wurden zwölf Sendungen an Hartmann »gefunden«. Es könne jedoch »nicht mehr festgestellt werden, ob die o. g. Sendung durch unsere PZF-Kontrolle gegangen« sei, »oder durch die Post direkt dem PZA zugeführt wurde, da der Umschlag bei der Einziehung vom PZA vernichtet« worden sei.651 Die Explosion: Anfang vom Ende Am 28. August 1971 ereignete sich im Haus 137 der AMD eine Knallgasexplosion mit schweren Personen- und Sachschäden. Sie wurde zunächst Peter Hartwig* zu einem Problem, später auch Anlass, Hartmann zu entlassen. Hanisch wird dieses Unglück enorm zuspitzen und überhaupt als geplante Sabotage etwa gegen die – oben mitgeteilte – Parteitagsverpflichtung der AMD auszulegen wissen. Ein willkommener Anlass für das MfS, in der AMD endlich aufzuräumen und der SED die Machtübernahme zu bereiten. Die Frage, ob hier das MfS gar nachgeholfen haben 649  Vgl. Technische Untersuchungsstelle des MfS vom 9.6.1971; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 38, Bl. 93 f. 650 BV Dresden, Abt. XVIII/4, an die Postzollfahndung der Dienststelle Dresden vom 29.6.1971: Maßregeln zur Einziehung von Post Hartmanns; ebd., Bd. 16, Bl. 300 f. 651  Abt. Postzollfahndung, Dienststelle Dresden, vom 30.10.1971; ebd., Bl. 302.

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mag, muss zumindest, auch wenn sie mit keinem einzigen auch noch so kleinen Indiz positiv beantwortet werden kann, gestellt sein, schließlich befand es sich, was die Beweislage gegen Hartmann anlangte, in einer veritablen Notlage. Immerhin existieren Hinweise, dass man möglicherweise die verwendbare Brisanz des Geschehens erkannt haben mag, denn warum blieb der offenbar eigentlich Verantwortliche, [A], ohne Strafe? Hierzu, zum Geschehen und zu den gerichtlichen Folgen selbst: Am 2. November leitete der Staatsanwalt ein Ermittlungsverfahren gegen [A] ein. »[A] hätte lt. OA [Organisationsanweisung  – d. Verf.] Haus  137 Eilt-frei machen müssen!« Am 11. November wurde das Verfahren gegen ihn eröffnet. Irgendwie war sogar Günter Mittag involviert! Hierzu existiert ein Notat von Hartmann zu einem »Briefwechsel mit Dr. Mittag, deswegen OA bisher nicht geändert.« Am 10. April 1972 wurde der Prozess gegen [A] beendet. Er endete mit einem Freispruch. Es war erkennbar von keiner Seite eine »Gerichtskritik an AMD!« geübt worden. Am 23. Juni 1972 erfolgte eine Auswertung durch den Staatsanwalt, der Richterin und des Gutachters in einer Sonder-Leitungssitzung der AMD.652 Zurück zum Geschehen am 28. August 1971: Das MfS attestierte Hartmann, dass er die notwendigen Schutzmaßnahmen ergriffen hatte. Mit der OA vom 1. Januar hatte er die alte vom 1. Juni 1966 ersetzt. Hierin ist festgelegt worden, »dass für den Transport von Wasserstoff Kupferrohr zu verwenden« ist.653 Hartmann, heißt es in einer Verhördisposition des MfS, habe die Entscheidung zur Verlegung des Versuchsstranges T 1 trotz »ausdrücklicher Warnung durch leitende Mitarbeiter der AMD und in vollem Wissen um die große Gefährlichkeit dieses Projektes jedes technisch vertretbare Risiko weit überschritten, das risikobehaftete Objekt nicht besonders abgesichert und durch unvollständige und falsche Abfassung der entsprechenden Organisationsanweisungen der Kontrolle durch Dritte entzogen«. Durch die Explosion sei ein unmittelbarer Sachschaden in Höhe von 250 000 Mark entstanden. Hierzu sei ein Plan erstellt worden, wie der Sachstand »vernehmungsmäßig angepackt werden« könne.654 Die Gutachter stellten später zur Verantwortung Hartmanns fest, dass er »mit seiner Entscheidung / Zustimmung vom 31. März 1964 zur Verlegung des Versuchsstranges T 1 für Wasserstoff in Rasothermglas nach ausdrücklicher Warnung und im vollen Wissen um die große Gefährlichkeit dieses Projektes jedes technisch vertretbare Risiko weit überschritt und damit Menschenleben und Volkseigentum im gesamten Haus 137 in überhohem Maße« gefährdet habe. Die Kontrolle durch

652  Chronologie des Explosionsgeschehens am 28.8.1971, von Hanisch; ebd., Bd. 11, Bl. 37–40. 653  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 190–250, hier 239 f. 654 Vernehmungsdispositionen (o. D.); ebd., Bd. 4, Bl. 24. Nahezu gleichlautend in: AMD vom 19.9.1974: »Kurzfassung von Komplexen, bei denen ein schuldhaftes Verhalten des ehemaligen Leiters der AMD, Professor Hartmann, vorliegt«; ebd., Bl. 31–41, hier 33.

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Dritte habe er verbaut.655 Zum Explosionsgeschehen am 28. August erstellte das MfS eine umfangreiche und genaue Chronologie.656 (1) Ein Gutachten zur Wasserstoffexplosion am 28. August: Eingangs wird die Entscheidung Hartmanns vom 31. März 1964 (Notiz T 15/64) referiert, wonach Kupfer für die Leitung zu verwenden sei »für alle Wasserstoff‌leitungen mit Ausnahme des Stranges T 1« und »Jenaer Rasothermglas für die Wasserstoff‌leitung des Stranges T 1. Strang T 1 wird als Studienobjekt dienen.« Laut MfS (»Untersuchungen und Zeugenaussagen«) habe man damals Hartmann auf die Gefahr einer Explosion hingewiesen, auch durch Studium der Zeitschrift Semiconductor (Juni 1963), wo vor der Gefahr gewarnt und Kupferrohr empfohlen worden war. Auch Hartwig* habe über entsprechendes Wissen verfügt. Das Gasleitungsnetz sei am 1. Oktober 1966 in Betrieb genommen worden. Vorher, am 1. Juni 1966, hatte Hartmann in der Organisationsanweisung OA 33 für Wasserstoff Kupferrohr angeordnet. Diese Ordnung lasse jedoch nicht erkennen, »dass noch ein weiterer in seinen Ausmaßen nicht unerheblicher Leitungsstrang für Wasserstoff in Rasothermglas verlegt wurde und existiert«. Damit gebe die OA 33 »den tatsächlichen Leitungsumfang unrichtig wieder«. Zur Neufassung OA 103 vom 1. Januar 1971: auch diese schrieb Kupferrohr vor. Hartwig* sei mit Erfahrungen seit 1965 davon ausgegangen, dass Bruchgefahr nicht bestehe und habe deshalb Glas befürwortet (Mitteilung T 5/67 vom 11. Juli 1967). Hartmann soll laut Gutachten Belege für diese »Erfahrungen« nicht abgefordert haben. Ihm müsse »absolute Gleichgültigkeit« beschieden werden.657 (2) In einer Beratung am 31. März 1964 (Notiz T 15/64) sollen [U] und [B] gegen Glasrohre gewesen sein, Hartwig* habe sich jedoch für Glas entschieden.658 Der unter ständigem Druck stehende Strang T 1 sei jahrelang kaum benutzt worden und sei daher »in ›Vergessenheit‹ geraten«.659 (3) Ein Gutachten von [V] vom 15. Dezember 1971, das zu Händen des Staatsanwaltes ging. [V] hatte geschrieben, dass der Betriebsleiter gemäß Paragraf 7 der ABAO 31/2 (Feuer- und explosionsgefährdende Betriebsstätten) den Raum 032 im Gebäude 137 nicht der ABAO 31/2 unterliegend eingestuft habe. 280 Kubikmeter Wasserstoff konnten sich im Raum 032 entspannen, aber nur zögerlich durch Ritzen in Türen und Fenstern verflüchtigen. Deshalb »bildete sich im Raum« allmählich eine »Wasserstoff-Luft-Mischung aus, die in Deckennähe oberschwellig war, d. h. über 76 Volumen-Prozent Wasserstoff enthielt«. Durch Öffnen der Tür kam es zu einer Verdünnung der oberen Schicht »bis die obere Ex-Grenze des Wasserstoffs unterschritten war«. Darauf zu vertrauen, dass Wasserstoff (wegen seiner aus-

655  Vgl. Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 178. 656  Vgl. BV  Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 190–250, hier 239 f. 657  Gutachten zum Komplex Wasserstoffexplosion vom 28.8.71; ebd., Bd. 11, Bl. 9–11. 658  Vgl. ebd., Bl. 12. 659  Ebd., Bl. 14.

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gezeichneten Diffusionsneigung) sich einen Weg ins Freie hätte suchen können, könne »nicht als vorausschauende, verantwortungsbewusste Entscheidung gewertet werden«.660 (4) Eine Ergänzung vom 26. November zum Ursachengutachten der Techni­ schen Überwachung der DDR vom 20. Oktober 1971: [Z] habe erklärt, dass es bei Stromunterbrechungen zum Gebäude 137 zu einer Funkenbildung an elektrischen Geräten kommen könne. [Z] hätte bei »pflichtgemäßen Handeln« die Möglichkeit gehabt, den Stromabgang »zum Gebäude 137« rechtzeitig »freischalten« zu können. Dies entlastet Hartwig* wie Hartmann. Und weiter: Es entscheidet der Betriebsleiter entsprechend der Richtlinie für die ABAO 31/2, ob ein Raum als feuer- oder explosionsgefährdet eingestuft wird oder nicht. Jedenfalls »bildet« diese Entscheidung dann »die Grundlage für alle Sicherheitsmaßnahmen bei der Einrichtung, dem Betrieb und der Instandhaltung der Betriebsstätte«. Eine künstliche Be- und Entlüftungsanlage hätte jedenfalls dazu beitragen können, »dass weder die unteren Explosionsgrenzen erreicht, noch die arbeitshygienischen Normative (z. B. toxische Grenzen) überschritten werden«. In dem Raum war zwar eine solche Anlage vorhanden, jedoch nicht in Betrieb gewesen. Der Sachverständige, ein Ingenieur, vertrat die Ansicht, dass das auch nicht erforderlich gewesen sei, »da im Raum 032 weder Gas abgenommen wurde noch Personen sich im Raum aufhielten«.661 (5) Die Kontrollgruppe des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik (MEE) hielt später, am 23. Februar 1973, zum Geschehen fest (man beachte das Datum!): Es gebe bis zum heutigen Tag keine »Bestimmungen mit Gesetzeskraft über die Fortleitung von Wasserstoff«, sondern lediglich Erfahrungen. Der dies schrieb, verfügte »als langjähriger Werkleiter des VEB Technische Gaswerke Berlin« über einschlägige Erfahrungen. Zudem konsultierte er einen leitenden Ingenieur der Gaszentrale des VEB Kombinat NARVA Berlin. Des Weiteren arbeitete an der Expertise ein auswärtiger Ingenieur mit. Das Ergebnis lautete gerafft: Tatsächlich habe ein Mitarbeiter der AMD mit dem leitenden Ingenieur weiland über die Einsetzbarkeit von Glas gesprochen. Die Gasfortleitung in Glasleitungen sei damals von Schott Jena popularisiert worden. Es müsse aber »als unglaubhaft ausgeschlossen werden, dass der Einsatz von Glasrohren ohne Einschränkung und unwidersprochen auch für die Fortleitung von Wasserstoff popularisiert« worden sei. Der leitende Ingenieur will den Hauptmechaniker vor dem Einsatz von Glasrohren gewarnt haben. Die Fortleitung von Wasserstoff gleich über mehrere Räume und dazu noch in der Nachbarschaft von Kupferleitungen sei eine »an Verantwortungslosigkeit grenzende Arbeitsweise« und spotte »jedem ingenieurtechnischen Verständnis«. Da es an gesetzlichen Bestimmungen fehle, sei 1971 die KdT-Richtlinie 038/71 geschaffen 660  Gutachten zum Explosionsgeschehen am 28.8.1971, Sachverständiger an den Staatsanwalt vom 15.12.1971; ebd., Bl. 169–171. 661  TÜ der DDR, Inspektionsbereich Dresden, vom 26.11.1971: Ergänzung zum Ursachen­ gutachten der Technischen Überwachung der DDR – Inspektion Dresden – vom 20.10.1971 zum Schadensfall in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik  – Gebäude  137  – am 28.8.1971; ebd., Bl. 46 f.

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worden (beteiligt waren hier der leitende Ingenieur und zwei weitere Experten). Jedoch spricht auch diese Richtlinie nicht von einem Verbot, sondern verlangt einfach nur »Stahlrohre nahtlos nach TGL 9012, St 35 b«. Der wohl interessanteste Aspekt dieser anderthalb Jahre nach dem Unglück entstandenen Darstellung war die Anfrage an den leitenden Ingenieur, ob dieser sich vorstellen könne, ein Gutachten zu schreiben »für richterliche Entscheidungen«. Er erklärte sich bereit, wenn die beiden anderen Experten mitwirken würden.662 An einer Aufklärung aber war man zu diesem Zeitpunkt nicht mehr interessiert. Es ist anzunehmen, dass diese Entscheidung bereits gegen Hartmann erfolgte. Wo auch immer sich das neu vermählte Ehepaar Hartmann aufhielt, das Horchorgan des MfS, die Abteilung 26, war dabei. Am 19. September 1971 machte es Urlaub in Warnemünde. In einem Gespräch zwischen beiden ging es auch um die »Richtigkeit des Marxismus«. Renée Hartmann soll versucht haben, den Marxismus zu widerlegen. Und ihr Mann sei »derselben Auffassung« gewesen »wie seine Ehefrau«.663 Vom 11. bis 13. Oktober fand ein Festkolloquium anlässlich des zehnjährigen Bestehens der AMD in Form einer wissenschaftlichen Konferenz zur Mikroelektronik statt. Eine geplante zweite Konferenz 1973 wurde von den Staatsorganen – aus Geheimhaltungsgründen – »kurz vor Beginn abgesagt«.664 Generaldirektor Heinze hielt die Rede und lobte ausdrücklich den von Hartmann und seinen Mitarbeitern eingeschlagenen und konsequent begangenen Weg.665 Die Technische Untersuchungsstelle des MfS untersuchte indes wieder Exemplare der Zeitschriften Bild der Wissenschaft (Heft 8 von 1971) und Physikalische Blätter (Heft 5 und 8 von 1971) sowie eine Postkarte auf Mikrate resp. Geheimmitteilungen. Der Bericht vom 28. Oktober verifizierte auch diesmal alle bisherigen Untersuchungen. Beide Zeitschriften wurden Hartmann als Ersatzzeitschriften zugestellt.666 Am 14. Dezember folgte der nächste Untersuchungsbericht. Diesmal waren Bild der Wissenschaft (Heft 10 von 1971) und Physikalische Blätter (Heft 5 von 1971) sowie weitere Postkarten untersucht worden.667 Am 17. November teilte der IM »Richter« seinem Führungsoffizier ein gesellschaftliches Stimmungsbild mit, ein Stimmungsbild zwischen Hoffnung auf eine etwas bessere Zukunft unter Honecker und Frust bezüglich der erlittenen Vergangenheit. »Richter« zitierte Hartmann, der Generaldirektor Heinze etwa mit folgenden Worten wiedergegeben haben soll: »Ja, was wollen die Leute machen, sie können auch nichts machen und Heinze sagte mir eben, dass wir nun erst einmal 662  MEE, Kontrollgruppe, vom 23.2.1973: Bericht über Untersuchungen zum Einsatz von Glasrohren bei der Weiterleitung von Wasserstoff; ebd., Bl. 51–60, hier 51 f., 54 u. 60. 663  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, Bl. 166. 664  Becker: 100. Geburtstag, S. 201 f. 665  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 23. 666  Vgl. Technische Untersuchungsstelle des MfS vom 28.10.1971; ebd., Bd. 38, Bl. 37. 667  Vgl. Technische Untersuchungsstelle des MfS vom 14.12.1971; ebd., Bl. 29 f.

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abwarten müssen, jetzt kommt eine vollkommen neue Regierung und dann werden erst einmal die Gewerkschaftskomitees abgeschafft sowie die gesellschaftlichen Räte abgeschafft. Dann haben wir vielleicht auch eher einmal die Möglichkeit, einmal jemanden zu entlassen, dass wir nicht mehr alles mitschleppen müssen und viele Institutionen und Organisationen, die jetzt da sind, die werden dann endlich einmal arbeiten müssen. In diesem Stiefel sprach er zu mir und kam auf die wirtschaftliche Situation zu sprechen. Er war der Meinung, so kann es nicht weiter gehen, es ist auch kein Wunder, dass wir so weit runtergekommen sind, weil jeder von den Leuten oben seinem eigenen Hobby nachging. Ulbricht hatte Zeiss, Honecker hatte Cottbus, Verner und das ganze Politbüro hatten das Stadtzentrum von Berlin und Kleiber hatte Robotron, und so hat jeder sein Hobby gehabt, jeder hat getan, als ob es seins wäre und hat das Geld vom Ganzen genommen. Es kann ja auch nichts werden.«668 Vom 26. November ist eine Verhandlungskonzeption für ein Gespräch mit dem Präsidenten von Texas-Instruments (TI) überliefert. Von DDR-Seite sollten u. a. der stellvertretende Generaldirektor der VVB BuV, Fuhrmann, Dietrich Kupfer alias IM »Messing«, Anlagenimport der VVB BuV,669 sowie Hartmann von der AMD teilnehmen. Die Gegenseite war ebenso prominent besetzt worden: der Präsident von TI Ron Ritchie und sein Stellvertreter sowie ein noch zu benennender Exportverantwortlicher von TI. Es sollten die ersten Gespräche des TI-Präsidenten in einem sozialistischen Land werden. TI befand sich in der damaligen Zeit in einer deutlichen Absatzflaute und war daran interessiert, neue Absatzmärkte zu schaffen. Man zeigte sich überzeugt, dass es früher oder später eine Lockerung der Embargobestimmungen geben werde. TI wolle »sich vorbauend den Markt der DDR ›sichern‹ und rechtzeitig den Anschluss herstellen«. Diese Strategie stehe in Übereinstimmung mit der Neuen Ostpolitik der Bundesregierung. Die Verhandlungskonzeption der DDR-Seite lautete in den wesentlichen Punkten wie folgt: Man müsse davon ausgehen, dass selbst bei Zusagen die Konzernspitze und die Regierung der USA diese wieder kippen würden. Dessen ungeachtet wolle man ausloten, welche Bezugsmöglichkeiten überhaupt bestünden. »Nachdem die Entwicklung unserer eigenen Fertigung bei bipolaren Schaltkreisen der TTL-Technik in enger Anlehnung an die Konzeption der 74er Reihe von TI erfolgte bzw. erfolgt, bietet auch die Konzeption sowie der Entwicklungsstand selber bei TI auf den Gebieten der MOS-Technik und der Optoelektronik im Vergleich zu anderen Herstellerfirmen im NSW beachtliche Vorteile, woraus sich DDR-seitig ein Interesse zur Ausweitung der Kontakte mit TI« ableite. Man wolle zuhören und reagieren, nicht agieren. Ferner werde man betonen wollen, dass der Ansprechpartner nicht der einzige sei, dass sich ein Vertrag langfristig lohne, ausbaufähig sei, und dass ein Besuch in Dresden möglich und ein Gegenbesuch im Hauptwerk in Dallas wünschenswert sei. Es sollte auch verwiesen werden »auf die Möglichkeiten der Wahrnehmung der Interessen der TI durch die 668  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, Bl. 167 sowie in: BV Dresden, Abt. XVIII/4, vom 17.11.1971: Bericht von »Richter«; ebd., Bd. 6, Bl. 83 f. 669  Später Direktorat Anlagenimport des VEB KME, Sitz: Berlin, Alexanderplatz 6.

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Fa. Günther Forgber, welche die Absatzbemühungen der TI zusätzlich unterstützen könnte«.670 Forgber war ein HV A-Unternehmen des Bereiches KoKo.671 Die Reise fand nicht statt. Hartmann hätte ohnehin nicht mitreisen dürfen. Ende 1971 war ihm auch eine private Reise nach Westberlin wieder abgelehnt worden, die er persönlich bei Minister Steger erbeten hatte. Offenbar am 8. Dezember war ihm mitgeteilt worden, dass Steger entschieden habe, ihm diese aufgrund seiner Einbindung in ZZ-Aufgaben nicht zu gewähren. Hartmann soll wie folgt diese Entscheidung kommentiert haben: »Die DDR müsse die Konsequenzen tragen, die sich aus der Isolierung der Wissenschaftler der DDR ergeben. Die jungen wissenschaftlichen Mitarbeiter seien schon jetzt nicht mehr in der Lage, sich auf internationalen Tagungen mit Wissenschaftlern aus dem Westen auseinanderzusetzen und durch die sich abzeichnende Entspannung würde die Zeit kommen, wo wir keine erfahrenen Kader mehr besitzen, die auf internationalen Veranstaltungen die DDR vertreten können. […] Kein Land, auch nicht die Sowjetrussen, sei in der Lage, für längere Zeit Höchstleistungen zu vollbringen, ohne den Erfahrungsaustausch mit internationalen Wissenschaftlern zu haben.«672 Nahezu wortgleich formulierte 1970 Heinz-Dieter Haustein: »kein Land, auch nicht die große Sowjetunion« könne »Wissen­schaft und Technik autark entwickeln«. Ulbricht soll »kurz zuvor die gegenteilige Behauptung als ›Gesetz des Klassenkampfes‹ verkündet« haben.673 Ein Mitarbeiter Hartmanns berichtete dem MfS, dass der von Misstrauen ihm gegenüber gesprochen habe, »weil andere, ihm bekannte Wissenschaftler, sogar mit ihren Ehefrauen nach dem NSW reisen« dürften. »Seit Bestehen des MEE wäre es« für ihn »nicht mehr möglich gewesen«, Steger lege die Bestimmungen wohl »sehr eng« aus.674 Hanisch berichtete dem MfS am 15. Dezember von erheblichen Problemen bei der Verschließtechnik (Verkappung) der Festkörperschaltkreise (FKS), die gerade in Hochbetrieb produziert wurden. Man müsse per Hand arbeiten, dass Kombinat Mikroelektronik in Erfurt sei aber an einer Lösung dran.675 Am 18. Januar 1972 berichtete Hanisch über den Produktionsstand in der Versuchsfertigung (VF): Wegen der sechsfachen (!) Erhöhung der Planauf‌lagen für VF, von 1971 mit 40 000 FKS zu 1972 mit 250 000 FKS einschließlich der Scheibenproduktion für Erfurt, seien »erhebliche Probleme« entstanden. Von den 1971 »besonders am Jahresende unter erheblichen Kraft- und Kostenaufwand« produzierten 670  Fuhrmann: Verhandlungskonzeption zu einem Gespräch mit dem Präsidenten von TI am 26.11.1971; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 24, Bl. 6–9, hier 8 f. 671  Günther Forgber (1928–2006), IMS »Martin«; vgl. BStU, MfS, AIM 7718/91. Adresskopf: Günther Forgber, Industrie- und Handelsvertretungen, in Berlin, Schlegelstr. 15. 672  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, Bl. 167 f.; Bericht vom 17.12.1971 über einen Besuch bei Hartmann; ebd., Bd. 6, Bl. 85 f. 673  Haustein: Erlebnis Wissenschaft, S. 23. 674  Bericht vom 17.12.1971; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 85 f. 675  Vgl. Bericht von »Rüdiger« am 15.12.1971; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 2, Bl. 14 f., hier 14.

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FKS seien indes »erst einige Tausend vertraglich mit Abnehmerbetrieben gebunden« (!). Die »übrigen« lägen »bei AMD auf Lager«. Die »Lagerzeiten« würden »sich nicht nachteilig auf die Güte und den Gebrauchswert der FKS bemerkbar« machen.676 Steenbeck gratulierte Hartmann am 30. Januar zu dessen Geburtstag und erinnerte: »Ich denke noch oft an die für mich zum Teil sehr aufregenden Augenblicke, wo Sie die ersten entscheidenden Analysen der Ergebnisse meiner Zentrifugenarbeiten machten.«677 Im Jahresgeschäftsbericht Hartmanns für 1971 vom 9. Februar hieß es zur »führungsmäßigen Beherrschung der Überleitung der Entwicklungsergebnisse in die Produktion«, dass seine Arbeitsstelle »als reine Entwicklungsstelle« mit »ihrer wissenschaftlich-technischen Zielstellung nicht von den Erfordernissen des Reproduktionsprozesses ausgehen« könne. Das entsprach exakt der Definition des WIB. Die Beschäftigtenzahl war per 31. Dezember 1971 auf nunmehr 894 gestiegen. Für die Deckung des volkswirtschaftlichen Bedarfes erfolgten keine Angaben, da 1971 für AMD »keine Auf‌lage gegeben war«. Zur Grundfondseffektivität musste der Bericht dementsprechend keine Angaben machen. Die Preise für FKS »wurden der AMD am 30. November 1971 nach erheblicher Verzögerung« rückwirkend zum 1. Januar gewährt. Die Erzeugnisse unterlagen einer staatlichen Preisstützung.678 Das MfS erfuhr aus einer Maßnahme der Postüberwachung vom 18. Februar, dass Hartmann an Schneider geschrieben habe, »dass es außerordentlich ermüdend« sei, »dauernd unter Niveau argumentieren zu müssen und Wanderpredigern Rede und Antwort zu stehen. Es bedarf sehr langer Zeit, großen Gleichmuts und innerer Sicherheit, um dabei einen modus vivendi zu finden, den man vor sich selbst vertreten kann. Allerdings führt dieser Zustand oft zum Einschlafen der schöpferischen Aktivität, notgedrungen.« Und: »Dass wir zu Euch reisten, ist jetzt und in Zukunft, soweit ich die Lage übersehe, völlig ausgeschlossen.« Und zur AMD: »Das beglückendste Gefühl ist es, aus dem Nichts heraus eine sehr große Gemeinschaft geschaffen zu haben, in der ein sehr gutes Klima herrscht (bei uns ist die Fluktuation von Arbeitskräften weit unter dem Durchschnitt innerhalb der Elektronik- und Halbleiterbetriebe und -institute), auch wenn bei einer Größe von 1 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern täglich, stündlich viele Schwierigkeiten und Missverständnisse auftreten.« Und zum Schluss noch der Standardherzenswunsch: »Darf ich noch ein Buch bestellen?«679 Hartmann organisierte für sich und seine Frau Reneé eine Urlaubsreise nach Ungarn für den 22. Mai bis 12. Juni. Hierzu wurde wiederum eine lückenlose

676  Bericht zum Treffen mit »Rüdiger« am 18.1.1972; ebd., Bl. 16. 677  TSD; Nachlass Hartmann, WH 10, S. 1 f., hier 1. 678  AMD vom 9.2.1972: Jahresgeschäftsbericht 1971; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 10, Bl. 123–137, hier 126, 128, 131 u. 134. 679  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 170; BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 190–250, hier 215; Kopie des Schreibens; ebd., Bd. 25, Bl. 144.

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operative Kontrolle unter Einbeziehung zweier MfS-Mitarbeiter vor Ort durch die HA XVIII/8 durchgeführt. Drei Aufgabenpositionen aus dem Standardrepertoire: »Einsatz inoffizieller Kräfte in den verschiedenen Hotels, durchgängiger Einsatz optischer und technischer Hilfsmittel im Hotel ›Europa‹ (Siófok), Einsatz (lückenlos) einer starken mit technischen Hilfsmitteln ausgestatteten Beobachterbrigade«. Hartmann schlug wie ein Hase einmal mehr Haken. Das von Westberlin auf seinen Namen bestellte Zimmer im Hotel »Szabosug« wurde am Tage seiner Ankunft sofort storniert. Er bezog Quartier im Hotel »Sport«. Dadurch entstand in der operativen Beobachtung »eine Lücke«, da »Technik, Optik, Beobachtung und ›M‹-Kontrolle« »nicht voll wirksam« werden konnten. Am 26. Mai fuhr das Ehepaar nach Siófok. Zwei in Budapest aufgegebene Postkarten verwirrten die Beschatter, die Handschriften stammten weder von seiner Frau noch von ihm. »Trotz umfangreicher operativer Maßnahmen konnte ein direkter Beweis« einer geheimdienstlichen Tätigkeit »nicht erbracht werden«. Jedoch will das MfS Hinweise zu »verdächtigen Handlungen« gesammelt haben, die eine geheimdienstliche Tätigkeit nahelegten. Etwa ein konspirierter Kurztreff mit der Ehefrau eines Export-Direktors aus München, bei einem zweiten Zusammentreffen beider soll ein »angeregtes« Gespräch beobachtet worden sein. Ein anderes Treffen Hartmanns mit dem Mann oder der Frau eines Ehepaares aus Westberlin wies in der vom MfS dargestellten Wiedergabe tatsächlich Merkmale auf, die als Indizien einer Fluchtvorbereitung gesehen werden können: Sofort nach dem Treffen habe Hartmann sein Zimmer aufgesucht und eingehend »einige kleine Zettel« betrachtet und »sie anschließend in der Toilette« vernichtet. Das Aufsuchen eines unübersichtlichen mit hohem Gras, Sträuchern und Bäumen verwachsenen Platzes, teils mit Müllablagerungen, für 30 Minuten stellte die ungarische Stasi vor Probleme, weil sie trotz mehrmaliger Durchkämmung des komplizierten Geländes keine konspirativen Verstecke finden konnte. Eine direkte Beobachtung des Geschehens war aufgrund des Charakters des Platzes nicht möglich. Einmal mehr scheint die Vermutung zuzutreffen, dass Hartmann bestens im Bilde über die Technik resp. Arbeitsweise des MfS war. Denn auch bei diesem Ungarn-Aufenthalt übte er eine auffällige »Selbstkontrolle«. Ihm war bekannt, dass es im Hotel Personen gab, die »bestimmte ›Aufgaben‹ zu erfüllen« hätten. So suchte er sein Hotelzimmer auf, schaute sich »aufmerksam alle Gegenstände« an, verließ es wieder, kehrte nach »ca. 20 Min. zurück« und schaute sich wieder alle Gegenstände genau an. Aus diesem Grund sahen die Ungarn von einer konspirativen Durchsuchung des Zimmers ab.680 Die Berliner Abteilung X sandte am 16. August dem Leiter der HA XVIII »persönlich« eine bilanzierende Einschätzung und als Anlage neun Tonbänder, 49  Fotos sowie Fotokopien der von Hartmann aufgegebenen Poststücke.681

680 BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 16.6.1972: Operative Arbeit in Ungarn; ebd., Bd. 2, Bl. 118–128. 681  Abt. X an den Leiter der HA XVIII vom 16.8.1972: Zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 135 f.

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Die Korrespondenz mit Schneider war auch 1972 intensiv, unbedingt wollte Hartmann in den Westen reisen. Am 15. November hatte er ihm mitgeteilt, dass ihm eine Reise nach Westdeutschland oder Westberlin »unerreichbar« bleibe, »auch nach dem Grundvertrag oder sonstigen weiteren Verträgen, die noch kommen mögen«. Hartmann sprach das Problem der betrieblichen Postkontrolle direkt an: die Zeitschriften könne er weiter an die Adresse seiner Arbeitsstelle senden, Privatbriefe aber unbedingt an die Heimadresse Klengelstraße 6, da »alle Briefe« aus dem Ausland in der Arbeitsstelle »von einer speziellen Stelle geöffnet« würden. Doch auch ein Treffen mit Schneider in Ostberlin, Hartmann musste hierzu den Antrag schriftlich einreichen, sollte verhindert werden. Wolfgang Lungershausen gestattete es ihm Anfang Dezember mit Verweis auf seine Funktion als leitender Kader und Geheimnisträger nicht. Da Hartmann nicht gewillt war, den Antrag zurückzuziehen, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung beider. Lungershausen interpretierte Hartmann wie folgt: »Eine ablehnende Antwort auf seinen Antrag sei für ihn Grund, nun endlich zu erkennen, welche Vertrauenshaltung ihm gegenüber in Wirklichkeit an den Tag gelegt« werde. »Er formulierte, nun sei es endlich soweit: ›Ich habe mich immer für die Stärkung der DDR eingesetzt und das sei nun die Quittung.‹«682 Im Originalbericht von Lungershausen heißt es, dass das Gespräch in »einer sehr scharfen Auseinandersetzung« verlief, Hartmann »äußerst impulsiv und aggressiv« aufgetreten sei. Ganz im Widerspruch »zu seiner sonstigen von außerordentlicher Höflichkeit getragenen Tonart«. Dies »sei nun die Quittung« für seinen Einsatz für die DDR. »Die Ablehnung seines Antrages sei für ihn persönlich das prinzipielle Misstrauen gegenüber seiner Person.« Hartmann forderte ein definitives, schrift­ liches Reiseverbot. Lungershausen will ihm gegenüber gesagt haben, dass seine Arbeit »äußerste Anerkennung gefunden« habe. »Bei den Schutzmaßnahmen von Geheimnisträgern« handele »es sich nicht um eine privat gebundene Haltung gegen« ihn, »sondern um eine gesetzliche Schutzmaßnahme gegenüber allen Geheimnisträgern«. Außerdem werde er wegen seines »uneinsichtigen Verhaltens keine administrative Entscheidung treffen«;683 übersetzt: anderenorts werde entschieden werden müssen. Aus der Vielzahl vergeblicher Versuche, Hartmann Fehlleistungen anzuhängen, versprach sich Hanisch von einer temporär hohen Ausfallquote an Festkörperschaltkreisen (FSK) einen durchschlagenden Erfolg. Die Versuchsfertigung (VF) hatte bei der »Einspeisung der Type D230X für die Fertigung« auf ein Versuchslos verzichtet, obgleich drei Monate dafür Zeit gewesen sein soll. Laut Planentwurf war für den Dezember 1972 vorgesehen, mit acht Fertigungslosen die Produktion zu starten. Es ist fraglich, ob diese Zeitspanne inklusive Schablonenherstellung gereicht hätte. Auch ist fraglich, ob Hanisch für seine Analyse alle Daten parat hatte resp. zur Kenntnis nahm. Zudem nahm er seine Beweisführung erst drei Jahre später, 1975, vor. 682  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bl. 147–189, hier 170 f. 683  Lungershausen: Über ein Gespräch mit Hartmann Anfang Dezember 1972; ebd., Bd. 6, Bl. 101–103.

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Ein solches Versuchslos wurde, so Hanisch, »weder in den Feinplan aufgenommen, noch gestartet, obwohl die entsprechende Forderung der [Technischen Kon­ trollorganisation] TKO bestand«, dem Bereich V »bekannt war und die Möglichkeit zeitlich und materiell gegeben war.« Die vom Leiter der VF, Hillig, angegebenen »›Begründungen‹ für die Einspeisungserhöhung und den Start ohne Versuchslos« seien »nicht stichhaltig, da sich auch in der Beratung mit der VVB am 22. August 1972 keine Bedarfserhöhung für die Type D230 ergeben hatte. Die echten Bedarfszahlen sollten danach von Robotron erst bis 30. August 1972 angegeben werden, die Entscheidung wurde aber« vom Bereich  V und von »Hartmann bereits am 25. August 1972 getroffen! Der Start der Fertigungslose sei der TKO »mit dringendem Bedarf begründet« worden. »Damit wurde«, so Hanisch, »die TKO unter Vorspiegelung falscher Tatsachen getäuscht.«684 Hanisch behauptete, dass die Entscheidung von VF »nicht vertretbar« gewesen sei. Sie sei »bei verantwortungsbewusster Handlungsweise des Leiters der VF, der die Forderung der TKO nach einem Versuchslos kannte, und bei konsequenter Durchsetzung dieser Forderung durch den Leiter der AMD!« vermeidbar gewesen. »Im Falle der Type D230X lag eindeutig nachgewiesen ein Entwurfs-, d. h. Schaltungsfehler vor, der Hauptursache für den anormal hohen Ausschuss war. Nach Korrektur des Entwurfsfehlers« seien »sofort sehr gute Ausbeuten von mehr als 20 Prozent erreicht« worden. Hillig habe, so Hanisch, »seit Bekanntwerden des Entwurfsfehlers Ende 1972 bis Anfang 1973 konsequent versucht, den Entwurfsfehler als Hauptursache für den hohen Ausschuss zu verschleiern.« Hillig habe bestätigt, »dass die Vorschläge von ihm stammten und von Professor Hartmann bestätigt wurden (Schuldanteile!)«.685 Zur Produktion des Festkörperschaltkreises Typ D230C(X) ist eine spätere gutachterliche Einschätzung (ohne Datum, vermutlich 1976) überliefert, die von der BV Dresden angefordert worden war. Die Gutachter waren: Dr. Hans Joachim Hanisch, Dipl.-Ing. [B] und Dipl.-Ing. oec. [C]. Erste Untersuchungen zum hohen Schaden (im Millionen-Bereich) datieren vom 8. Mai 1973. Hartmann assistierte – unumgehbar – mit der Schaffung einer Untersuchungsgruppe, nachdem zunächst der Inspektionsbeauftragte der AMD und dann die BV  Dresden entsprechende Untersuchungen veranlasst hatten. Nach mehrmaliger Mahnung soll Hartmann am 21. September 1973 einen »völlig nichtssagenden Bericht zum Stand der Untersuchungen abgegeben« haben. Die BV  Dresden habe dann am 27. September Hartmann einen Fragenkatalog zu inhaltlichen Schwerpunkten gesandt, den er zu beantworten hatte. Die Gutachter waren der Auffassung, dass Hartmann mit seinen Darstellungen die »Einspeisung der überhohen völlig unbegründeten Produktionsmenge der unerprobten Type D230C(X) als notwendige Risikoentscheidung« 684  Hanisch vom 20.5.1975: Zur Entwicklung der integrierten Schaltung D 230 X, Analyse und Stellungnahme zur Niederschrift des Leiters des Bereiches  V vom 24.4.1975; ebd., Bd. 11, Bl. 241–248, hier 245 f. 685  Ebd., Bl. 247 f.

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verteidigt habe »und mit anderen durchaus berechtigten Risikoentscheidungen nachträglich zu vergleichen und zu sanktionieren« suchte. Obgleich gefordert, habe er eine quantitative Schadensbilanz nicht abgeliefert.686 Laut Hartmann habe man im Interesse von Robotron, so schnell wie möglich dessen Bedarf zu decken, auf eine Einspeisung eines Versuchsloses verzichtet.687 Der FKS vom Typ D230C stellt ein Bauelement der Standardbaureihe D2C mit Signalverzögerungszeiten unter 10 Nanosekunden dar. Die Gutachter hielten hierzu fest: »Im Gegensatz zur bisherigen Entwicklung nach Vorbildtypen stellte dieser völlig neue Schaltungsentwurf eine erste echte Eigenentwicklung der AMD mit allen damit auch verbundenen Unsicherheiten dar.« Der Produktionsplan für das zweite Halbjahr 1972 hatte die Einspeisung von acht Losen der Type D230C(X) vorgesehen. Die Mindestausbeute war mit 13  Prozent veranschlagt worden. Die Gutachter referierten einen Bedarf in Höhe von 54 200 Stück für Robotron, Elektronikhandel und sonstige Abnehmer. Der Plan sah 62 500 Stück vor. Acht Lose lieferten theoretisch circa 65 500 Stück bei der geplanten Ausbeute, gerechnet aus acht Lose mal Wafer mal 1 400 Chips mal 0,13 (Prozent). Tatsächlich gab es eine Zustimmung zur sofortigen Einspeisung des Typs in die Produktion statt vorerst in ein Versuchsprogramm vom Staatlichen Leiter der TKO nicht. Die Forderung des TKO-Leiters nach einem Versuchsprogramm sei mit Datum vom 5. Juli 1972 erfolgt, also rechtzeitig vor dem Einspeisetermin September 1972. Hartmann hatte diese Forderung »durch Signum zur Kenntnis genommen«. Der Leiter des Bereiches V hatte unter Berufung auf eine VVB-Festlegung vom 22. August 1972 eine Änderung der Einspeisung von acht auf 18 Lose festgelegt. Die Gutachter schlussfolgerten, dass Hartmann den Vorstoß des Leiters des Bereiches V der Versuchsfertigung nicht hätte quittieren dürfen.688 Trotz Verbots kam es zu einem Treffen von Hartmann mit Schneider im Ermeler­ haus689 am 9. Dezember in Berlin. Das MfS erfuhr es aus einer Abhörmaßnahme vom 5. Dezember.690 Im Dezember zählte die AMD circa 960 Arbeitskräfte. Der 1. Sekretär der Bezirksleitung Dresden, Krolikowski, besuchte einmal mehr die AMD. Der Minister

686  (o. D.): Gutachterliche Einschätzung zum hohen Produktionsausschuss bei dem FKS Typ D 230 C(X); ebd., Bl. 39–44, hier 40 f. 687  Vgl. ebd., Bl. 41–44. 688  Vgl. ebd., Bl. 51–55. 689  Weiland beherbergte das von westlichen Besuchern gern aufgesuchte Haus eine Luxusgaststätte. Es hat eine bewegte Geschichte, etwa die Abrissgeschichte 1967/68 und den Wiederaufbau 1968/69 an anderer Stelle. Zur Zeit des Nationalsozialismus konnte sich das Haus in Grenzen als ein Refugium bürgerlicher Hochkultur halten. Vgl. Vuadens, Getrude: Vom Ermelerhaus zum Weltenhaus. Zürich 1934 sowie Bernhard, Andreas: Das Ermelerhaus – Ein verlorenes kulturhistorisches Museum, in: Generaldirektor des Stadtmuseums Berlin, Reiner Güntzer (Hrsg.): Jahrbuch Stiftung Stadtmuseum Berlin, Bd. VIII 2002. Berlin 2003, S. 125–142. 690  Vgl. Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 172.

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für elektronische Industrie der Sowjetunion, Geroj A.  Kolesnikow, bekundete »Interesse am Kauf des Projektes nach ausführlicher Besichtigung der Versuchsfertigung«.691 Die grundlegenden in der Fachzeitschrift Feingerätetechnik 1971 formulierten Gedanken zur Technologie der Mikroelektronik führte Hartmann nochmals im Heft impuls, einer RFT-Publikation, 1973 aus. Das tat Not, denn es war ihm nicht entgangen, dass die entscheidenden Wirtschaftslenker in Berlin und Dresden nach wie vor wenig begriffen hatten von der modernen Technologie der Mikroelektronik sowie überdies schlecht beraten waren. Auch in diesem Heft heißt es: »Trotz der großen Erfolge«, die sich einstellten, »darf man nicht die Augen davor verschließen, dass immer noch ein gehöriger Anteil ›Alchimie‹ mit im Spiel ist.«692 Das Heft wurde umgehend eingezogen. Mitte Januar begann die konzeptionelle Arbeit des MfS für die Gutachterarbeit im Falle Hartwigs* (OV »Automat«). Die gutachterliche Tätigkeit wurde vom MfS am 6. März »in Absprache mit dem damaligen Leiter der AMD, Professor Hartmann« vereinbart. Der Zeitraum war zunächst auf ein halbes Jahr begrenzt.693 Am 30. März erfolgte die Berichterstattung dazu mit genauem Hergang der Absprachen zum Einsatz der IM »André« und »Rüdiger« als Sachverständige bzw. Gutachter, auch Fach-IM geheißen. Zu umgehen war es nicht für das MfS, Hartmann als AMD-Leiter in die Untersuchungen insofern einzubeziehen, als dass er für Freistellungen vom Dienst seine Zustimmung geben musste. Hartmann war bereits am 16. Januar mit der »Bitte« konfrontiert worden, einen Mitarbeiter von AMD, den IM »André«, für eine Gutachtertätigkeit freizustellen. Hartmann wurde informiert, dass eine Untersuchungsgruppe eingesetzt werde, zu der das MfS auch einen seiner Mitarbeiter bestimmt habe; die Gruppe müsse in der AMD »das Recht« haben, »einschlägige Befragungen zum Sachverhalt« durchführen zu können »und dazu auch schriftliche Stellungnahmen, Gutachten und Dokumentationen anzufordern«. Das war in der DDR gleichsam Norm und Standard in der Arbeit des MfS. Hartmann hatte keine Wahl, er musste zustimmen. Jedoch, so das MfS, »setzte« er »von dieser seiner [sic!] Entscheidung im Beisein der Mitarbeiter den Parteisekretär und den unmittelbaren Vorgesetzten des IM »André« in Kenntnis.« Das war praktisch eine Dekonspiration. Damit war der IM »André« zumindest partiell »verbrannt«, denn für solche Dinge waren DDR-Bürger sensibel. Es heißt im Bericht: »Legendiert wurde ein derartiger Einsatz des IM ›André‹ gegenüber dem Professor Hartmann damit, dass der IM aufgrund seiner Sach- und Fachkenntnis sowie seiner langjährigen Zugehörigkeit zur AMD jedoch auch aufgrund seines derzeitigen Aufgabengebietes in der Lage« sei, »eine solche Tätigkeit für das MfS durchzuführen.« 691  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 24. 692  Hartmann, Werner: Kernstück moderner Elektronik – Festkörper-Schaltkreise, in: Fachblatt »impuls«, konfiszierte Ausgabe, S. 18–31, hier 18. 693  BV Dresden, Abt. XVIII/2, an HA XVIII/8 vom 16.4.1975; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 123 f.

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Abb. 28: Konfisziertes Fachblatt

Der IM »André« musste jedoch wegen dieser Dekonspiration abgezogen werden, er nahm ab dem 19. März eine Tätigkeit in der VVB BuV auf, arbeitete jedoch von hier aus operativ weiter. Also musste das MfS erneut mit Hartmann in Verbindung treten. Das geschah am 6. März, nun war es Hanisch, der »für die Weiterführung der Untersuchungstätigkeit vorgeschlagen und durch« Hartmann »bestätigt« werden

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musste. Für ihn erfolgte die »gleiche Legendierung«. Vom 16. Januar bis 27. Juni führte das MfS mit beiden IM insgesamt 45 Treffs durch.694 Das MfS stellte fest, dass Hartmann seine Freiheitsbeschränkungen den westdeutschen Briefpartnern unverblümt mitteile. Damit, so das MfS, erreiche er bei den Briefpartnern »äußerst negative und reaktionäre Reaktionen«. Da er diesen Reaktionen nicht entgegentrete, müsse geschlussfolgert werden, »dass er sich voll inhaltlich mit derartigen Meinungen identifiziert«. Wie ein Abschied klang sein Schreiben an den ehemaligen Herausgeber der Physikalischen Blätter, Brüche: »hätte mich sehr gefreut, sie im März 1973, anlässlich ihres Aufenthaltes [in Westberlin? – d. Verf.], selbst zu sprechen. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass dies als Folge des Grundvertrages zwischen BRD und DDR mir nicht möglich ist.« Und er schloss: »Ich danke Ihnen für die langjährige Übersendung ihrer hervorragenden Zeitschrift, die einem das Gefühl der Verbundenheit und Kontakt mit der physikalischen Welt erhalten half.«695 Und tatsächlich, die Bekannten im Westen reagierten entsprechend. Erwin W. Müller (USA): »bei Euren diplomatischen Erfolgen, wozu braucht Euer Land eigentlich noch die Mauer, Stacheldraht und ›verbesserte‹ Todesstreifen mit Selbstschüssen? Irgendetwas stimmt doch da nicht mit der Propaganda.«696 Am 2. Februar wurde zwischen den Regierungen der DDR und der Sowjetunion ein Abkommen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elektronischen Technik geschlossen, unterzeichnet von Steger und Schokin. Das Abkommen betraf den Zeitraum von 1973 bis 1977. Beide Seiten kamen im präambelgleichen Artikel 1 überein, »die Vervollkommnung der technologischen Grundprozesse zur Herstellung von digitalen und analogen integrierten Schaltkreisen und die Entwicklung hochproduktiver technologischer Ausrüstungen sowie Mess- und Prüfausrüstungen für die Herstellung dieser integrierten Schaltungen unter der Bedingung der Erreichung des technischen Höchststandes bei gleichzeitiger Durchsetzung einer höchstmöglichen Vereinheitlichung der Prozesse und Ausrüstungen« zu realisieren. Dieser Generalsatz ist vielfältig konkret untersetzt worden, beispielsweise mit den Aufgaben der »Erarbeitung der Konstruktion und der technologischen Prozesse für die Herstellung von Bauelementen für elektronische Armbanduhren« und dergleichen »für wissenschaftliche Taschenrechner«. Bemerkenswert ist, dass die sowjetische Seite dem Vertragspartner zusicherte, digitale integrierte Schaltkreise zu entwickeln und herzustellen sowie die dafür notwendigen Messkomplexe bereitzustellen. Die DDR-Seite erklärte sich bereit, klassische Aufgaben des Zyklus II zu erfüllen. Die Verantwortung zur Durchführung dieser Aufgaben erhielten das MEE und das sowjetische Ministerium für Elektronische Industrie. Das Know-how an 694  BV Dresden vom 30.3.1973: Einsatz von »André« und »Rüdiger« im 1. Quartal 1973 als Fach-IM; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 25 f. Liste der Treffs mit »Rüdiger«; ebd., Bl. 27. 695  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 173. 696 Ebd.

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gesammelten Erfahrungen war als gemeinsames Eigentum beider Länder deklariert (Artikel 8), dessen Verkauf resp. der von Lizenzen lag im »gegenseitigen Einverständnis« beider Länder begründet (Artikel 9).697 Der Generaldirektor der VVB BuV, Wolfgang Lungershausen, bestimmte indes die AMD als Zentrales Leitinstitut für Technologien der VVB BuV.698 Hartmann skizzierte in seinem Referat auf der 2. Betriebskonferenz am 26. März die zukünftigen Aufgaben der AMD, ein Weg der Arbeitsstelle, der sich verändern werde: »Jeder Techniker und Wissenschaftler weiß, dass in der Physik sprunghafte Änderungen des Zustandes nicht möglich sind; früher nannte man dies das Lenz’sche Prinzip: ›die Natur wehrt sich gegen sprunghafte Änderungen‹.«699 Vor allem betonte er die Spezifik »der physikalischen Industrie der Mikroelektronik«: man müsse sich »darüber Rechenschaft ablegen, dass nur bei sehr sorgfältiger, ausgefeilter Kontrolle der technologischen Prozesse ökonomisch vertretbare Ausbeuten an FKS bei dem, wie ich bereits erwähnte, notwendigerweise erzwungenen Gebrauch von Materialien und Prozessen, die durchaus nicht vollständig verstanden und beherrscht werden, erzielbar sind.« Ferner betonte er, dass »Verfahren anzustreben« seien, »die unter unseren Bedingungen, den Bedingungen der DDR-Elektronik, einen ökonomisch gerechtfertigten Kompromiss zwischen Produktivität und Ausbeute darstellen«. Auch erinnerte er an den von ihm gebrauchten Begriff »­ Vehicl«, der bewusst falsch verstanden worden war. Bei der Erprobung der Verfahren erfolgt »der Nachweis« über die technische Qualität der Anlagen »an geeigneten Vehiclen«. Hartmann: »Vehikels sind FKS, die im Allgemeinen vom Anwender verlangt werden und die nach Möglichkeit außerdem als Prototypen für ganze FKS-Familien dienen können.« Oder mit anderen Worten: »Beherrscht man« diese »technologischen Verfahren, so fallen einem die elektronischen Bauelemente fast als Nebenprodukte in den Schoß, sie sind zwangsweise Abfallprodukte einer solchen Arbeitsweise«.700 Die einst »formulierte Aufgabe der Schaffung und Beherrschung einer vielseitig einsetzbaren und einheitlichen, weitgehend standardisierten Technologie« stehe nun »mehr denn je im Mittelpunkt nicht nur in der DDR, sondern darüber hinaus in der Zusammenarbeit mit der UdSSR«. Die Konsequenz lautete: »Wenn AMD die 697  Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elektronischen Technik vom 2.2.1973; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 49, Bl. 62–70, hier 63–70. 698  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 24 f. 699  Redemanuskript Hartmanns zu den zukünftigen Aufgaben der AMD, Referat auf der 2. Betriebskonferenz am 26.3.1973 (Notiz L  8/73 vom 26.3.1973); ebd., Bd. 8, Bl. 124–148, hier 125; ebd., Bd. 40, Bl. 16–42. Als AMD-Dokument (Notiz L 8/73 – Ha / la vom 26.3.1973); ebd., Bl. 78–83. 700 Redemanuskript Hartmanns; ebd., Bd. 8, Bl. 124–148, hier  126, 132 f. u.136 f. Hartmann-Zitat; ebd., Bl. 209 f.

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zentrale Aufgabe der Verfahrensentwicklung für die VVB BuV übernehmen soll, dann muss, so glaube ich, der Anpassung unseres F / E -Planes in dieser Richtung zugestimmt werden.« Trotz »vieler Schwierigkeiten und Probleme verschiedenster Art in der Fertigung von FKS im VEB HWFO« und in der AMD, so Hartmann, sei von den Fachdirektoren der VVB festgestellt worden, dass »die FKS-Fertigungen im VEB HWFO und in AMD für die VVB BuV eine Bank« seien. Alle in der AMD gefertigten Typen der Reihe D2C besäßen das Gütezeichen »1«; die Zuerkennung des Gütezeichens »Q« sei in Vorbereitung. Wie schwer er es gehabt hatte, in den Gesprächen mit verantwortlichen Funktionären mit Logik zu überzeugen, mag folgende Einlassung verdeutlichen, wenn er erklärte, dass ein hohes Ausbeuteziel ökonomisch möglicherweise gar nicht sinnvoll sei. Hartmann: »Leicht kann doch der Fall eintreten, dass bei einer Ausbeute von 25 Prozent und gegebenem Bedarf die Kosten pro FKS bedeutend geringer sind als bei Erarbeitung eines Verfahrens mit 50 Prozent Ausbeute.« Ein anderer Problempunkt, den er ansprach, war das komplizierte Gebilde einer Kooperationsgemeinschaft ohne Weisungsrecht untereinander und unter der Maßgabe, koordinativ, nicht aber leitend verantwortlich gemacht worden zu sein. Bezugnehmend auf die Arbeitsdirektive der VVB BuV bestand folgende aktuelle Verpflichtung: »AMD wird die Aufgabe übertragen, mit Beginn des Jahres 1973 alle für die VVB wesentlichen Verfahrensentwicklungen der Mikroelektronik durchzuführen und den Gesamtkomplex der Verfahrensentwicklung im Industriezweig zu koordinieren.«701 Unter den zentralplanwirtschaftlichen Bedingungen, den Nöten in den naturalen Zuwendungen sowie den Herrschafts­ ansprüchen in der Regel inkompetenter Funktionäre war diese Verpflichtung blanker Idealismus. Das Bild von der »Physik des gewussten, gekonnten Drecks« erwähnte Hartmann abermals in einem Vortrag über »Festkörperschaltkreise als Arbeitsgebiet der physikalischen Industrie« am 29. März auf einem Kolloquium der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Hartmann sandte später ein Belegexemplar des Vortrags auch an Steger.702 Schneider berichtete Hartmann am 9. April, dass er die Physikalischen Blätter »wie folgt abgeschickt« habe: Nr. 1 am 4. Februar 1972, Nr. 9 am 22. September 1972, Nr. 10 am 23. Oktober 1972 und schließlich Nr. 12 am 20. Dezember 1972. »Alle« seien »an die Werksadresse gegangen«. Er teilte ihm mit, dass er die fehlenden Hefte nochmals bestellen und zuschicken werde. Und: »Es fällt mir auf, dass die Physikalischen Blätter immer unerbetene Interessenten finden, während die Publikumszeitschrift Bild der Wissenschaft richtig ankommt.«703 Unter die Abschrift dieser Mitteilung setzte Hanisch eine Radiobotschaft, die ihn als eifrigen Deutschlandfunkhörer entlarvte. Oder durften IM Westradio hören? Hanisch: »Hinweis: Durchsage Deutschlandfunk am Freitag, dem 18. Januar 1974 21.05 Uhr: Grüße 701  Ebd., Bl. 136–146. 702  Belegexemplar des Vortrags mit Anschreiben vom 5.2.1974; ebd., Bl. 267–273. 703  Schreiben von Schneider an Hartmann vom 9.4.1973; ebd., Bd. 16, Bl. 339 f.

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an / von Tante Else von / an Gerti. Musiktitel: Karel Gott – ›Es wird schon weitergehn‹.« Schneider hatte sich in dem Brief für die Genesungswünsche an »Tante Else« bedankt. Gerti war Renée Gertrud Hartmann.704 Vom 19. Juni ist ein Bericht über die operative Kontrolle Hartmanns während seines Ungarnaufenthaltes im Frühsommer tradiert. Gleich vier MfS-Offiziere hatten sich zur Realisation operativer Arbeiten (Maßnahme »B«, Observation, Überwachung durch »IM der ungarischen Sicherheitsorgane«, Ein- und Ausreisefahndung zu »NSW-Verbindungen« Hartmanns) nach Ungarn aufgemacht. Hinweise in der Ermittlungszielrichtung »Flucht« brachten sie nicht mit nach Hause. Allerdings wurde einmal mehr »die ablehnende Haltung« in zahlreichen abgehörten Episoden »des Professor H. und seiner Ehefrau gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR und der marxistisch-leninistischen Ideologie« dokumentiert.705 Das waren keine neuen Erkenntnisse, etwa die Auf‌fassung, »dass man in der DDR den Menschen das Denken abgewöhnen wolle und dass dazu u. a. der sozialistische Wettbewerb diene«. Ihm sei es überdies peinlich, im Hotel als DDR-Bürger identifiziert zu werden. Beide läsen täglich die Westpresse.706 Alles, kreuz und quer wurde untersucht und kontrolliert. Am 27. August legte der Kontrollbeauftragte des Generaldirektors einen Bericht vor. Ziel war eine Bestandsaufnahme zu ungenutzten Investitionen im Betrieb. Die Untersuchungen begannen am 15. August. Die Besichtigung von drei ungenutzten Mikrogatterläppmaschinen wurde durch ihn und einen Kontrollbeauftragten des Leiters707 sowie zwei Mitarbeiter der Hauptmechanik bei AMD durchgeführt. Die Maschinen waren 1968 gekauft und bezahlt worden. Eine Erprobung fand nicht statt. Ähnlich verhielt es sich mit anderen aufgefundenen Maschinen. Einige erfüllten ihre Funktionen nicht. In einem Fall war dem VEB EMD im Februar 1970 mitgeteilt worden, dass die Maschinen ungeeignet seien. Dieser Posten belastete den Grundfonds erheblich (Bruttowert der Maschinen 168 000 Mark). Bei einer Inspektion in der AMD am 22. August gab es durch den Sicherheitsinspektor »den Hinweis, dass er bei einer Objektbegehung an verschiedenen Stellen neuwertige, ungenutzte Grundmittel vorgefunden« habe. Eine Aufzählung dieser Grundmittel zeigte ein buntes Bild, beispielsweise lagerten im Flachbau 312 »zusammen mit vielfältigem Gerümpel« ein »hochwertiger Klimaschrank« und im Flachbau 314 drei Stück Quarzrohr-Reinigungsanlagen. Auch fand man »sehr hohe Lagerbestände an Leuchtstoffröhren und Filtern für Laminarboxen«. Der Kontrollbeauftragte empfahl gegen Hartmann ein »Disziplinarverfahren wegen grober Verletzung seiner Pflichten zu eröffnen«, sowie »den Vorgang durch den Hauptbuchhalter der VVB weiter untersuchen zu lassen, 704  Vgl. Hanisch: Abschrift des Schreibens vom 9.4.1973; ebd., Bd. 22, Bl. 172. 705  HA XVIII/8/3 und BV Dresden, Abt. XVIII, vom 19.6.1973: Bericht zum Urlaubsaufenthalt Hartmanns in Ungarn vom 20.5.–15.6.1973; ebd., Bd. 21, Bl. 65–73, hier 66 f. 706  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 176. 707 Vgl. Anlage vom 5.4.1974: Spezielle Dokumentation und Auswertung; ebd., Bd. 23, Bl. 28–124, hier 118.

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Abb. 29: Angeblich gehortete Grundmittel

um im Ergebnis des Gesamtberichtes das Maß der Bestrafung zu bestimmen«.708 Die VVB erstellte mit Datum vom 15. November 1973 einen Bericht über die Überprüfung der Arbeit mit Grundmitteln in der AMD. Festgestellt wurde das eigentlich DDR-Übliche, was naturgemäß in einem Entwicklungsbetrieb ausgeprägt, und nachgerade unter den Mangelbedingungen der DDR-Volkswirtschaft üblich war.709 In dem Anschreiben Lungershausens zu diesem Bericht ist fixiert worden, wonach er es sich vorbehalte, »die dafür verantwortlichen Mitarbeiter der AM Dresden zur Verantwortung zu ziehen«.710 Die Gutachterarbeit im Falle Hartwigs* geriet mittlerweile in einen exorbitanten Status. Am 2. Oktober registrierte das MfS vom I. bis III. Quartal bereits 91 Treffs mit den beiden involvierten sogenannten Fach-IM »André« und »Rüdiger« (siehe MfS-Spezial I).711

708 Bericht des Kontrollbeauftragten über ungenutzte Grundmittel vom 27.8.1973; ebd., Bd. 10, Bl. 40–42. 709  Vgl. VVB BuV vom 15.11.1973: Bericht über die am 24./25.10. und 7./8.11.1973 durchgeführte Überprüfung der Arbeit mit Grundmitteln in der AMD; ebd., Bl. 43–57. 710  Bericht der VVB BuV vom 26.11.1973; ebd., Bl. 58. 711 Vgl. Einsatz von »André« und »Rüdiger« im 1. Quartal; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM  4885/90, Teil  II, Bd. 2, Bl. 25–27; BV  Dresden vom 2.10.1973: Einsatz von »André« und »Rüdiger« im 2. u. 3. Quartal 1973 als Fach-IM; ebd., Bl. 28.

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Zum Republikfeiertag am 7. Oktober wurden 16  Orden »Banner der Arbeit« an Mitarbeiter der AMD »für Projektierung und Aufbau der Versuchsfertigung« vergeben. Endlich sei, notierte Hartmann in seinem »Museum«, sein »jahrelanges« Bemühen nach Einstellung eines qualifizierten Ökonomischen Direktors und Stellvertreters des Leiters entsprochen worden.712 Die 4. Betriebskonferenz der AMD fand am 29. Oktober statt. Das Referat Hartmanns ist überliefert. Er muss gespürt haben, dass sich weiterhin hartnäckig Defizite im Verstehen der eigentlichen Arbeitsaufgabe der AMD, ein neuartiges Technologieverständnis beherrschen zu lernen, hielten, wenn er ausführte, dass »wir auch dafür sorgen« müssen, dass sich »alle Mitarbeiter die Spezifik oder wie man in etwas anderer Ausdrucksweise sagen könnte, die Philosophie der Mikroelektronik der Halbleitertechnik zu eigen machen«. Und: »Ich kann es auch noch etwas einfacher formulieren. In einem Industrieinstitut der Halbleitertechnik, Mikroelektronik wie es AMD ist, das sich zu einer Leitzentrale entwickeln wird, muss jeder Mitarbeiter und besonders jeder verantwortliche Mitarbeiter ebenso Vorstellungen über die Kostenstruktur haben, wie über bestimmte Eigenheiten eines Transistors oder eines Festkörperschaltkreises. Nur dann, wenn ein gewisses Verständnis, ein gewisses Gefühl für diese beiden technisch-ökonomischen Kategorien vorhanden ist, kann man dann auch ein besseres Verständnis, ein besseres Mitgehen erwarten.« Zwar arbeiteten viele Mitarbeiter verantwortungsbewusst miteinander, man könne aber mit diesem Zustand »noch nicht zufrieden sein«. Hierzu »gehört natürlich auch, den eigenen Mitarbeitern so viel als möglich Bewegungsfreiheit zu geben, denn die Erfahrung lehrt eindeutig, dass geschenktes Vertrauen sehr selten enttäuscht wird. Wer jedoch Vertrauen aufs Spiel setzt und wer billige Polemik als Streitgespräch auf‌fasst, oder wer in Selbstüberschätzung verfällt, der wird sich über Echo und Konsequenzen nicht täuschen dürfen.«713 Auf der Konferenz sprach auch der Parteisekretär des Hauses, Jochen Henning, im Auftrag der SED-Stadtleitung Dresden. Sein Beitrag zählt zu den sattsam bekannten Animationsreden der SED mit Schlafmittelzusatz, die Arbeitsproduktivität etc. zum Wohle der DDR zu erhöhen. Er erwarte vor allem einen größeren »Intensivierungseffekt« bei der forcierten Entwicklung der Silizium-Hybrid-MOS-Technik, der Niedervolt-MOS-Technik und der AL 203-Verschließtechnik. Und, »was ich besonders in den Mittelpunkt stellen möchte, die Betreibung einer sehr aktiven Applikation«. Ritualgemäß schloss Henning: »Wo ein Genosse ist, da ist die Partei, da sind die überzeugendsten Argumente und die wirksamsten Masseninitiativen«.714 Das muss wie eine Ohrfeige gegen Hartmann verstanden worden sein. Eine geheime Botschaft an die Genossen im Betrieb: Haltet durch, eure Stunde wird kommen! 712  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 24. 713  Hartmann: Referat auf der 4. Betriebskonferenz vom 29.10.1973; ebd., Bd. 40, Bl. 42–64, hier 61 f. 714  Henning: Referat auf der 4. Betriebskonferenz vom 29.10.1973; ebd., Bl. 65–73, hier 70 u. 73.

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Der ökonomische Direktor der AMD gab in der Notiz (D 15/73 – Ge / Wi) vom 1. November im Rahmen der Untersuchung der Chip-Einspeisungen und Ausbeuten des Typs D230C im Zyklus I und II in der Versuchsfertigung zu Protokoll, dass 1971 zum Jahresende 7 416 Stück D230 an die Absatzabteilung geliefert worden seien. Eine Ausbeute-Vorgabe habe es nicht gegeben, »da es vorrangig um den Nachweis der Richtigkeit des Aufbaus und der Funktionsfähigkeit der Versuchsfertigung ging«. Die AMD sei im Sommer »erstmalig« und rückwirkend ab dem 1. Januar 1972 mit der Warenproduktion der FKS Typen D200 und D230 beauflagt worden. 2 500 sollten, 2 399 Stück seien abgeliefert worden. Im Plan 1973 standen dann 62 500 Stück D230. Für das 1. Halbjahr 1974 dann 60 000  Stück D230. Ab 2. Halbjahr war eine Produktionsverlagerung nach Frankfurt / O. geplant. Zur Sicherung des Produktionsvorlaufes sollten 1974 in der AMD 336 000 Stück »Verarbeitungschips« bereitgestellt werden. Für 1973 war entsprechend der Staatsplanauf‌lage bis Oktober ein Wert von 15 Prozent und bis 31. Dezember von 20 Prozent (jeweils Gesamtausbeute, also für Zyklus I und II) vorgegeben. Die Ist-Ausbeute des Typs D230 sah für 1971 folgendermaßen aus: 72 Lose; Einspeisung Zyklus I: 440 648; Ausbeute absolut: 68 758; Ausbeute in Prozent: 15,6 Prozent. Einspeisung Zyklus II: 66 871; Ausbeute in Prozent: 18,5 Prozent. Gesamtausbeute: 2,8 Prozent. Die Gesamtausbeuten für 1973 verliefen mit positivem Trend: Januar 5,0 Prozent, Februar 8,0 Prozent, Mai 5,7 Prozent, Juni 8,0 Prozent, Juli 13,5 Prozent und im September 23,0 Prozent.715 In der Akademiezeitschrift spectrum vom November 1973 verteidigte Jürgen Kuczynski ein Technologiebild, das dem Hartmanns auf‌fallend glich. Das Heft wurde durch zwei Briefe eingeleitet, der erste von Gerhard Keil an Kuczynski. Es ist unschwer erkennbar, dass Keil von der Sache wenig verstand und versucht war, die Definition von Karl Marx ins Zentrum zu setzen (nach Keil: »Technologie als planmäßige und je nach dem bezweckten Nutzeffekt, systematische Anwendung der Naturgesetze auf die Produktionsprozesse«) und über die Definition im Wörterbuch der Ökonomie des Sozialismus (»Technologie ist die Wissenschaft von den naturwissenschaftlich-technischen Gesetzmäßigkeiten des Produktionsprozesses«) festzulegen. Zwar genüge dies aufgrund hoher Komplexität heute nicht, woraus wiederum »neuwertige Aufgaben« resultierten, »die mit spezifischen Mitteln und Methoden gelöst werden müssen«. Unschwer ist zu erkennen, dass Keil sich unter der modernen Technologie eine Art Organisationstechnik vorstellte. Keil: »In der Industrie sollten sich die Schwerpunkte der technologischen Grundlagenforschung an Problemen orientieren, die mit der Maßstabsübertragung und Kopplung von Verfahrensstufen sowie der Optimierung von technologischen Lösungswegen verknüpft sind. Auch hier muss das Ziel darin bestehen, allgemeingültige Aussagen aus der Vielfalt problemorientierter Aufgabenstellungen abzuleiten. Die Arbeitsteilung 715  Vgl. AMD, Ökonomischer Direktor, vom 1.11.1973: Untersuchung der Chip-Einspeisungen und Ausbeuten des Typs D 230 C im Zyklus I und II in der Versuchsfertigung; ebd., Bd. 11, Bl. 171–174.

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zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung wird auch im Hinblick auf technologische Erkenntnisse durch den Charakter und die Kapazität der vorhandenen Forschungseinrichtungen bestimmt.«716 Kuczynski antwortete wie üblich diplomatisch, aber in der entscheidenden Definitionsfrage präzise: Er verwies eingehend darauf, dass er seit einigen Jahren über Artikel bemüht sei, »die Rolle der Technologien weit höher zu bewerten, als es heute noch der Fall ist.«717 Zunächst sicherte er sich mit einem Zitat von Hager ab: »Noch immer gibt es verbreitet eine Geringschätzung gegenüber der Technologie.« Anschließend wies er auf einen eminent wichtigen Umstand hin, dass offenbar nur wenige Wissenschaftler das Talent besäßen, technologisch denken zu können: »­Gerade weil es eine Reihe zweifellos tüchtiger Wissenschaftler gibt, die technologisch gar nicht oder minderbegabt sind, ist die Rolle der ›professionellen‹ Technologien ganz besonders groß«.718 Der Kern dieser Explikation findet sich in der Eingangsbemerkung Kuczynskis, die wie ein Friedensschluss auf Zeit daherkommt, aber zugleich deutlich macht, dass er und Keil von ganz unterschiedlichen Dingen sprachen. Kuczynski: »Wenn wir beide lange und intensiv gestritten haben, ob die Technologie eine ›eigene Wissenschaft‹ ist, die spezifische Gesetze zu entdecken hat, oder, wie ich meine, eine schöpferische Tätigkeit anderer Art, die jedoch gründliche und umfassende wissenschaftliche Kenntnisse voraussetzt, so meine ich, wir sollten diesen Streit für einige Zeit« einmal »ruhen lassen.« Kuczynski spitzte zum Schluss seines Briefaufsatzes noch einmal zu, indem er die Gesetzesfrage, die Frage der Allgemeingültigkeit in Fragen der chemischen Technologie, wie sie Keil darstellte, aufs Korn nahm: »Ich meine darum, dass die sechs Gebiete, auf denen Sie allgemeingültige Aussagen von der chemischen Technologie verlangen, von WissenschaftlerTechnologen und Technologen-Wissenschaftlern erbracht werden müssen. Aber wo?«719 Ganz im Sinne Kuczynskis argumentierte auch Hartmann, nicht aber nur theoretisch, sondern als einer, der Technologie als schöpferisches Handwerk sah und selbst den Takt dieser neuartigen »Wissenschaft« zu schwingen befähigt war, geronnen in dem Aufsatz: »Technologie – Aschenputtel der Wissenschaft?«720 Hier schärfte Hartmann einleitend in einer Art Fußnote den Gegensatz zu Akademiemitglied Karl F.  Alexander721 (»Einige Entwicklungsfragen der Physik«, spectrum 8/1973) 716  Schreiben von Keil an Kuczynski vom 13.6.1973, in: spectrum 4(1973)11, S. 2 f. 717 Ebd. 718  Schreiben von Kuczynski an Keil (o. d.); ebd., S. 4 f., hier 4. 719  Ebd., S. 4 f. 720  Hartmann, Werner: Technologie – Aschenputtel der Wissenschaft?; ebd., S. 8–10. 721  (1925–2017). Studium der Physik in Göttingen 1946–1950, ging 1951 nach Ostberlin, Promotion an der HU Berlin, 1959 Habilitation. 1956 (tätig am Institut Miersdorf ), 1970 Direktor des ZI für Elektronenphysik (ZIE). IM »Mohr« der Abt. VI, 1957 von der HV A übernommen. Durch die Flucht Werner Stillers (»Schakal«) trat 1979 für ihn eine »Gefährdungssituation« ein. Allerdings soll Stiller keine persönliche Bekanntschaft mit ihm gehabt haben. Das MfS mutmaßte, dass Stiller ihn über »Freistellungsvarianten« enttarnt haben könnte; vgl. HV A / S WT / X III vom 18.9.1987: Auskunft »Mohr«; BStU, MfS, AGMS 25692/91, Bl. 5–8.

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und betont, »dass man die Existenz einer ›physikalischen Industrie‹ nicht in Abrede stellen« könne. Man könne zwar beobachten, schrieb Hartmann an die Redaktion, dass sich verschiedene Ingenieurswissenschaften von der Physik abnabelten, jedoch gebe es »in den letzten Jahrzehnten Gebiete, für die dies nicht« zutreffe, »deren Arbeitsmethoden durchaus denen der Physik« glichen. Das seien, so Hartmann, »Bereiche, in denen eine derartige Vermaschung und Kopplung verschiedener Zweige der Naturerkenntnis ausschlaggebend« sind, »dass sie nur ein Physiker durch seine Ausbildung und Denkmethodik beherrschen lernt. Ein Beispiel dafür sind die integrierten mikroelektronischen Schaltkreise.«722 Zunächst stellte Hartmann fest, dass der »vollständige naturwissenschaftlich-​ technische Prozess« auch in der Technologie der Mikroelektronik »im Wesentlichen in die bekannten Etappen: Forschung-Entwicklung-Fertigung« zerfalle. »Was aber alle drei Etappen verbindet, ist die ihnen zugrunde liegende Arbeitsweise, und diese kann nur auf wissenschaftlicher Methodik beruhen.« Es gehe nicht um Worte, sondern um Inhalte der Begriffe. Wer so klar  – auch gegen die mittlere Funktionärselite der SED urteilte, zumal als ein in der weiten Öffentlichkeit recht Unbekannter und Parteiloser, der musste fallen! Weiter heißt es im Aufsatz, dass es hierbei um das Verbindende gehe, nicht Wissenschaft hier, Produktion dort. »Wenn im vorstehenden bisher der Begriff ›Technologie‹ nicht explizit erwähnt wurde, so ist er doch in jeder der drei Etappen enthalten und spielt in der Fertigung die dominierende Rolle.«723 Nicht nur nebenbei bemerkt: Sämtliche Zitate bis hierher sind von Hanisch nicht angestrichen worden,724 sehr wohl aber der an das obige Zitat anschließende Passus: Für sein Gebiet, die moderne Mikroelektronik-Technologie, so Hartmann, »wähle ich oft folgende Formulierung: ›Die Aufgabe besteht in der Erarbeitung technologischer Verfahren und Betriebsmittel; bei ihrer Beherrschung fallen einem die elektronischen Bauelemente, die integrierten Festkörperschaltkreise, fast als Nebenprodukte in den Schoß; sie sind zwangsweise Abfallerzeugnisse einer solchen Arbeitsweise.‹« Hanisch glossierte wiederum mit »!?« und unterstrich den folgenden Satzteil besonders fett: »fast als Nebenprodukte in den Schoß«. Hanisch wollte ihn nicht verstehen. Insbesondere wenn Hartmann fortfuhr: »Ich brauche an dieser Stelle nicht besonders zu unterstreichen, dass bildhafte, vielleicht sogar drastische Vereinfachungen von Tatbeständen die tragenden Prinzipien klarer hervortreten lassen, jedoch Feinheiten dabei verloren gehen. So sei es natürlich absurd, von der Klassifizierung komplizierter Festkörperschaltkreise als ›Abfallprodukte‹ weiterreichende Konsequenzen in anderen Bereichen abzuleiten. Mit dieser Aussage soll nur unterstrichen werden, dass nicht die Herstellung der Festkörperschaltkreise selbst die primäre Aufgabe ist und sein darf, sondern eben die Schaffung und Be722  Hartmann, Werner: Technologie – Aschenputtel der Wissenschaft?; spectrum 4(1973)11, S. 8–10. 723  Ebd., S. 8 f. 724  Vgl. Heft mit Anstreichungen Hanischs; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 39, Bl. 64.

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herrschung der Technologie einschließlich ihrer physikalisch-chemischen Grundlagen.« Es ist leicht zu erraten, welche Sequenz Hanisch hier angestrichen und mit einem Fragezeichen glossiert haben mag, nämlich: »dass nicht die Herstellung der Festkörperschaltkreise selbst die primäre Aufgabe ist«.725 Hartmann weiter zum Anteil »der ›Wissenschaft‹«: »Den Hauptverdienst am Gelingen können ingenieurtechnische Klarheit und technologische Perfektion für sich in Anspruch nehmen.« Und was das Personal betraf: »Deshalb müssen, damit die nah- und mittelfristigen Ziele erreicht werden, die Schlüsselpositionen vom Ingenieur und technischen Physiker, nicht vom forschenden Wissenschaftler besetzt werden. Es handelt sich um Aufgaben der technologischen Entwicklung und nicht der Forschung.« Natürlich von Hanisch wieder unterstrichen und mit seiner Fehlersymbolik glossiert. Aber es kam noch dicker; zunächst Hartmann: »In der Entwicklung und Fertigung der Halbleiterindustrie darf man nicht die Augen davor verschließen, dass immer noch ein gehöriger Anteil Alchimie mit im Spiel ist. Bei manchen Fertigungsteilschritten oder -komplexen verlässt man sich, muss man sich bis heute auf gut ansprechende Rezepte verlassen. Diese schwarze Magie führt dazu, dass auch in stabil eingelaufenen Produktionslinien plötzlich unerwartet hoher Ausschuss auftritt, der manchmal ebenso plötzlich wieder verschwindet, ohne dass es gelang, seine Ursachen einwandfrei zu erkennen.«726 Dies war alles nicht neu gesagt, die Gedanken finden sich, wie wir gesehen haben, fast wortgetreu in Hartmanns Artikel in der Feingerätetechnik aus dem Jahre 1971 wieder. »Überführt«, so Hartmann in Hervorhebung, »werden nicht Erzeugnisse, sondern Technologien!« Hanisch unterstrich prompt und setzte ein »?!« an den Rand.727 Und dann kamen natürlich die Vehicle an den Pranger; Hartmann: »Für das Erarbeiten der vielen zur Fertigung erforderlichen technologischen Teilschritte wird in unserer Arbeitsstelle ein sogenanntes Vehicle [Hanisch unterstrich und setzte: »?!«] ausgewählt oder entworfen.«728 Im November 1973 wurde klar, dass sich »nach nur 18 Monaten Arbeit« die in der AMD erarbeitete MNOS-Technologie bestätigt hatte. Lungershausen wies auf der Beratung der Werkdirektoren darauf hin, dass »die Fertigung der bipolaren FKS in AMD« und im HWFO nun »eine sichere Bank« sei. Das Kombinat Robotron drückte seine Zufriedenheit und sein Vertrauen in der Frage der Zuverlässigkeit der FKS der Reihen D1C und D2C aus.729 Von den Gutachtern gelieferte Erkenntnisse zum angeblichen Sabotageverhalten Hartwigs* liegen allein in der IM-Akte Hanischs 166 handgeschriebene Zusammen725  Hartmann: Technologie, S. 9 sowie Heft mit Anstreichungen; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 39, Bl. 64. 726  Hartmann: Technologie, S. 9. 727  Ebd., S. 10. Heft mit Anstreichungen; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 39, Bl. 64. 728  Hartmann: Technologie, S. 10. 729  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 25.

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fassungen in Form von zwei Teilgutachten ein: vom 29. November 1973 das »Teilgutachten zum Komplex ›Kunststoffumhüllung integrierter Schaltkreise‹« und vom 15. Dezember das »Teilgutachten zum Komplex ›Fließreihe Verschließen‹«.730 Doch was die Gutachter auflisteten, ist das ewig Gleiche: die Misere in der DDR-Volkswirtschaft der DDR, nicht aber Staatsverbrechen oder Sabotagehandlungen einzelner Mitarbeiter. Zwischen Weihnachten und Silvester schätzte Offizier Gesang vom Referat 3 der HA XVIII/8 ein, dass es »trotz umfangreicher auf eine Beweisführung ausgerichtete operative Arbeit« während fünfzehn (!) Jahren nicht gelungen sei, Hartmann eine strafrechtlich verwertbare Spionagetätigkeit nachzuweisen. Nachgewiesen aber wurde, jedenfalls glaubten das Gesang und seine Offizierskollegen, »eine gegen die DDR und das sozialistische Lager gerichtete feindliche Einstellung«. Die Kriegstaten der USA in Indochina verdrehe er zu deren Gunsten, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion »auf technisch-ökonomischem Gebiet« lehne er »strikt« ab und verhindere sie gar. Die »Aussagen des inhaftierten Dr. [Hartwig*] und umfangreiche gutachterliche Feststellungen« haben »erkennen« lassen, dass Hartmann die »AMD nicht entsprechend den volkswirtschaftlichen Erfordernissen« leite. Er habe Hartwig* ermöglicht, »jahrelange Sabotagearbeit« zu leisten, da er seinen »Pflichten als staatlicher Leiter auf das Gröblichste« verletzt habe. Aufgrund des gescheiterten Versuchs, einen strafrechtlich verwertbaren Nachweis für Sabotage resp. Spionage zu führen, beschloss das MfS »eine umfassende operative Bearbeitung« Hartmanns unter Einschluss des Einsatzes einer »Gutachtergruppe zur Überprüfung aller in den seit Bestehen der AMD von dem Leiter der AMD durchgeführten Arbeiten hinsichtlich der Verwertbarkeit bzw. Nützlichkeit«. Im Einzelnen wurde u. a. festgelegt: »die Nachweisführung der Sabotage in Form eines Vergleiches« mithilfe der »Rekonstruktion der Handlungen und Maßnahmen«. Dies sollte dergestalt erfolgen, auf der einen Seite »wie der staatliche Wille zur zielstrebigen Entwicklung und Produktion von FKS hätte durchgeführt werden müssen und andererseits, wie Professor H. diesen staatlichen Willen tatsächlich verwirklichte«.731 Das Dokument besitzt Schlüsselcharakter, da hier das terminierte Finale der operativen »Erledigung« des Falles Hartmann befohlen steht: »Die operative Arbeit am OV ist so zu gestalten, dass ein Abschlussbericht zu Professor H. vorgelegt wird, der eine Nachweisführung der Sabotagetätigkeit beinhaltet. Dieser Bericht mit den dazugehörigen Beweismitteln ist der HA IX und der BV Dresden, Abt. IX, zur Einschätzung zu übergeben. Termin für den 1. Bericht: 30. März 1974«.732 Gab Mittag über Mittig dieses Datum vor?

730 Teilgutachten zum Komplex »Kunststoffumhüllung integrierter Schaltkreise« vom 29.11.1973 und Teilgutachten zum Komplex »Fließreihe Verschließen« vom 15.12.1973; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 2, Bl. 29–195. 731  HA XVIII/8/3 vom 27.12.1973: Konzeption für die Untersuchung vorliegender Verdachtsgründe einer Sabotagetätigkeit durch Hartmann; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 137–146, hier 137–140. 732  Ebd., Bl. 146.

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Vom 13. bis 21. Januar 1974 weilte eine sowjetische Delegation in der AMD zu einem breit angelegten Erfahrungsaustausch samt Arbeitsplanabstimmung.733 Hartmann erinnerte sich später, dass Minister Schokin davon gesprochen habe, dass man nach Dresden zur AMD fahren möge, »dort könnte man einiges kennenlernen«.734 Die AMD war auf Erfolgskurs. Doch die DDR geriet immer mehr in Zahlungsnot. Statt die Investitionen kräftig zu steigern, schrumpften sie binnen dreier Jahre um die Hälfte. Reziprok dazu stiegen im gleichen Zeitraum die Prämienmittel um das Doppelte. Jahr

Mitarbeiter (VbE), Ist

Mittel für F / E , Ist [Mark]

Investitionen, Ist [Mark]

Prämienmittel, Ist [Mark]

1965

297

4 105 000

4 488 000

129 000

1966

344

4 977 000

5 238 000

226 000

1967

404

11 594 000

5 465 000

269 000

1968

460

16 750 000

3 527 000

294 000

1969

539

58 893 000

2 725 000

410 000

1970

660

49 424 000

25 042 000

561 000

1971

806

37 203 000

13 849 000

806 000

1972

912

29 051 000

2 111 000

912 000

1973

945

18 324 000

1 497 000

945 000

Tabelle 4: Kennziffern der AME / A MD, 1965 bis 1973735

Der Kontrollbeauftragte der AMD berichtete dem MfS am 22. Januar über den Einziehungs-Entscheid der Zollverwaltung betreffs der Wissenschaftszeitschrift Bild der Wissenschaft. Hartmann: »Das Jahr 1974 fängt gut an, und so etwas in Mitteleuropa.« Und: »Dieses Misstrauen, was einem entgegengebracht wird, ist empörend«. Dem Kontrollbeauftragten will aufgefallen sein, dass er »entgegen seiner sonstigen Gewohnheit sich nicht beherrschte und sein Ausdruck hasserfüllt war.«736 Hanisch berichtete am 6. März, dass Hartmann »zu keinem Zeitpunkt ein persönliches Engagement als politischer Leiter gezeigt« habe. »Alle (ihm aufgezwun­ 733  Vgl. Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bl. 147–189, hier 179. 734  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 23. 735  Vgl. Hauptbuchhalter AMD vom 20.5.1974: Unterlagen Rechnungswesen auf Aufforderung des Sonderbeauftragten des Ministers MEE; ebd., Bd. 39, Bl. 161 f. Die Übersicht der Kennziffern ist vom 7.3.1974. 736  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 147–189, hier 180.

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genen) Aktivitäten ließen stets die innere persönliche Distanz erkennen und zwar (in einer Weise) so, dass sie anderen Mitarbeitern auch erkennbar war. Durch diese persönliche Haltung (des Leiters bestärkt) war die politische Arbeit mit einem großen Kreis der Leiter und Mitarbeiter der AMD von vornherein praktisch zum Scheitern verurteilt, was sich bis heute im politisch-ideologischen Niveau eines großen Teils der Belegschaft von AMD widerspiegelt.« Und: »Aus persönlicher Kenntnis als Parteisekretär und Assistent des Leiters der AMD schätze ich ein, dass Professor Hartmann nicht die Ideologie der Arbeiterklasse unserer Republik teilt und daher auch zu keinem Zeitpunkt aktiv an der Verwirklichung der Beschlüsse von Partei und Regierung gearbeitet hat und somit auch das von ihm geleitete Arbeitskollektiv nicht dazu befähigen konnte.«737 Wolfram Zahn, Direktor für Anlagenimport der VVB BuV, gab am 7. März eine Einschätzung zur Frage der realisierten Ausrüstungsimporte für die AMD rückblickend für 1967/68. So waren seit 1965 »eine Reihe wichtiger Beschlüsse« zur beschleunigten Entwicklung der Mikroelektronik-Technologie gefasst worden, in denen es vor allem darum gegangen sei, »die Großserienfertigung moderner Halbleiterbauelemente im Halbleiterwerk Frankfurt und im Funkwerk Erfurt mit einem modernen, sicher beherrschten technologischen Verfahren (Planar-Epitaxie-Technik) zu schaffen und damit gleichzeitig die entscheidenden Impulse zur Forcierung von Festkörperschaltkreisen in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden zu erhalten. Parallel dazu wurde beschlossen, in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik ein Projekt über den Aufbau einer Versuchsfertigung von Festkörperschaltkreisen zu verwirklichen.« Damit sei auch die Aufgabe gestellt worden, »die modernsten, hochproduktivsten technologischen Spezialausrüstungen zur Herstellung von Halbleitern« in den USA »zu kaufen und damit gleichzeitig ein Maximum an technischem Wissen (Know-how) zu erwerben.« Laut Zahn verkörperten die in diesen beiden Jahren »aus den USA importierten Ausrüstungen und Messautomaten zum damaligen Zeitpunkt« den »Spitzenstand in der Welt«. »Grundsätzlich« seien »bis Ende 1968 alle Voraussetzungen vonseiten der Ausrüstungen und Messtechnik bis zu importierten Spezialmaterialien bei AMD geschaffen« worden«. Hier nur für den Zyklus  I: Läpp- und Poliermaschinen von der USA-Firma Norton, ein Diffusionsofen der USA-Firma Kulicke & Soffa, der nachgebaut worden ist, Quarzreihen und hochreines Dotiergas aus den USA, ein Epitaxie-Reaktor von der englischen Firma Radyne, ein komplexes Gerätesystem aus Japan zur Schablonenund Maskenherstellung (Präzisionszeichen- und Schneidegerät, Reduktionskamera, Komparator, Stepp- und Repeatkamera), eine Justier- und Belichtungseinrichtung sowie ein Wafer-Prober von Kulicke & Soffa. Zudem sei 1968 eine »zwölf Bände umfassende technologische Dokumentation (ICE-Bände) über die Herstellung von Integrated Circuits erworben« worden, »deren Fotokopien auch bei AMD deponiert 737  Ebd., Bl. 210. In Klammern gesetzt aus dem Originalbericht von Hanisch vom 6.3.1974: »Zur Rolle von Prof. Hartmann als politischer Leiter (Grundeinstellung)«; ebd., Bd. 6, Bl. 153 f., hier 153.

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Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie

waren und dem entscheidenden Personenkreis, der die Entwicklung der Festkörperschaltkreise beeinflusste, zur Auswertung zugänglich war«.738 Ob das Beschaffte aber auch eingesetzt wurde, zueinander passte, betriebssicher war und von allen infrage kommenden Mitarbeitern auch bedient werden durfte, das alles und mehr noch steht auf einem anderen Blatt. Auch was Hartmann hiervon exakt wusste, die Anlagen wurden ja mehrheitlich über den VEB Elektromat »frisiert geliefert«, ist nicht überliefert. Das »neue Denken« in der Technologie, das Hartmann lebte, ist letztlich gegen ihn gewendet worden. Hanisch: »Mitarbeiter der AMD, die Kritik an der Arbeitsweise von AMD äußerten bzw. gute und zahlreiche Anregungen für wichtige Arbeiten gaben, die zum Abbau der von Professor H. kreierten ›schwarzen Magie‹ führen mussten, wurden aus der AMD entfernt oder« von ihm »mit völlig falschen untergeordneten Arbeiten demoralisiert.«739 Und das MfS interpretierte Hartmanns Aussage »Wir haben das Glück, an den intellektuellen Abenteuern, die die wissenschaftlich-technische Revolution bietet, teilnehmen zu können« als eine, die angeblich die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus verfälsche.740 Hartmann hatte seine Technologiephilosophie, wie oben geschildert, in der Zeitschrift spectrum öffentlich bekannt gemacht.741 Diese Veröffentlichung, so die fünfköpfige Expertenkommission, stelle »eine wissenschaftliche Rückversicherung dar, solange derartig unwissenschaftliche Darstellungen im wissenschaftlichen Bereich unwidersprochen« blieben.742 Nahezu alles, was Hartmann schrieb, fand Hanischs Missbilligung oder negative »Betonung«; und er wusste sich noch zu steigern: Hartmanns »Darstellung als Alchimie und schwarze Magie ist auch philosophisch nicht vertretbar! Es sollte unbedingt in geeigneter Weise eine philosophisch-fachliche Entgegenhaltung organisiert werden (u. U. als an Professor Hartmann persönlich gerichtetes Schreiben namhafter Wissenschaftler der DDR), damit eine eindeutige Abgrenzung von diesen Auffassungen von Professor Hartmann erfolgt!«743 Steger erhielt ein Belegexemplar des Artikels.744 An dem 227 Seiten umfassenden Untersuchungsbericht über die Tätigkeit des Leiters der AMD, aus der oben mehrfach

738  Bericht des Direktors Anlagenimport der VVB BuV, Zahn, vom 7.3.1974: Einschätzung der Arbeitsmöglichkeiten bei AMD nach den realisierten Ausrüstungsimporten 1967/68; ebd., Bd. 9, Bl. 24–27. 739  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 190–250, hier 249. 740  Vgl. HA XVIII/8/3 und BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 27.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 3, Bl. 1–71, hier 25. 741 Vgl. Hartmann, Werner: Technologie  – Aschenputtel der Wissenschaft?; spectrum 4(1973)11, S. 8–10, hier  9. Zitiert auch in: Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 167. 742  Ebd., Bl. 211. 743  Zu einer Veröffentlichung Hartmanns, Darstellung vom 8.2.1974; ebd., Bd. 8, Bl. 122 f., hier 123. 744  Vgl. Schreiben von Hartmann an Steger vom 24.1.1974; ebd., Bl. 149.

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zitiert wurde, waren fünf diplomierte »Experten« beteiligt: zwei vom MEE, einer aus der SPK sowie zwei aus der AMD (inkl. Hanisch);745 zur Illustration der Inhalt: Untersuchungsbericht Pkt.

Inhalt

S.

Mitglieder der Expertenkommission

2

Inhaltsverzeichnis

3

1

Zur Rolle der Mikroelektronik in der Volkswirtschaft und Darstellung der grundlegenden Aufgaben für die Mikroelektronik

6

2

Die staatlichen Zielstellungen für die Mikroelektronik

17

2.1

Ausarbeitung und Übermittlung der staatlichen Zielstellungen auf diesem Gebiet

17

2.2

Forschungs- und Entwicklungsaufgaben für die Arbeitsstelle für Mole­ kularelektronik Dresden, die in staatlichen Zielstellungen verankert sind

20

3

Bedingungen zur Realisierung der gestellten Ziele und Aufgaben in der AMD

53

3.1

Personelle Besetzung

53

3.2

Bereitstellung von Arbeitsplätzen (Räumlichkeiten)

55

3.3

Finanzielle Aufwendungen

58

3.4

Technologische und verfahrenstechnische Ausrüstungen für die Durchführung von Entwicklungsaufgaben und der Versuchsfertigung

60

3.5

Informationsquellen

61

4

Analyse und erste Bewertung der Arbeitsweise des verantwortlichen Leiters der AMD

62

4.1

Aufgaben, Rechte und Pflichten des Leiters

62

4.2

Zusammenfassende Einschätzung der Handlungen des Leiters der AMD zum Zyklus II

68

4.3

Analyse und Bewertung der Arbeiten am Beispiel einzelner Komplexe des Zyklus II

72

4.3.1

Komplex »Gehäuse«

72

4.3.2

Komplex »Verschließen von Festkörperschaltkreisen«

97

4.3.3

Komplex »Kunststoffumhüllung integrierter Schaltkreise«

131

4.3.4

Komplex »Trennen und Vereinzeln«

148

4.4

Überprüfung und Einschätzung der Arbeit mit Neuerervereinbarungen und Neuerervorschlägen sowie zur Erfindertätigkeit

153

745 Vgl. Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bl. 1–218, hier 3–6, 18 f. u. 166 f.

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Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie

4.4.1

Einschätzung der Arbeit mit Neuerervereinbarungen und Neuerervorschlägen

153

4.4.2

Untersuchungen zur Erfindertätigkeit

158

4.4.3

Darstellung eines eklatanten Beispiels für die Unterdrückung von Initiativen auf dem Gebiet der Neuerer- und Erfindertätigkeit

162

4.4.4

Zur sozialistischen Gemeinschaftsarbeit

169

4.5

Arbeit mit den Grundfonds

170

4.5.1

Gesetzliche Grundlagen

170

4.5.2

Betriebsinterne Festlegungen

171

4.5.3

Einschätzung der Arbeit mit den Grundfonds

172

4.6

Verantwortlichkeit von Professor Hartmann für die Installation einer Glasleitung für Wasserstoff und die in ursächlichem Zusammenhang damit in AMD am 28.08.1971 aufgetretene Knallgasexplosion

175

4.7

Zur Wahrnehmung der Verantwortung bei der Durchführung weiterer entscheidender zentraler staatlicher Aufgaben

179

4.7.1

Zu einigen Aufgaben auf dem Gebiet des Zyklus I

179

4.7.2

Zur Bearbeitung einiger Themen auf dem Gebiet der Dünnschichttechnik

192

4.7.3

Zur Berichterstattung und Abrechnung gegenüber den übergeordneten Organen

200

4.7.4

Zum Umgang mit Prämienmitteln

204

4.7.5

Zur Kaderarbeit durch Professor Hartmann

207

4.7.6

Eklatantes Beispiel der Rückversicherung

215

5

Zusammenfassende Einschätzung der Tätigkeit des Leiters der AMD und deren Auswirkungen auf die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik

223

Die Arbeit Hanischs am Fall Hartwig* ging 1974 weiter. Das MfS registrierte vom 2. Januar bis 15. Februar 21 Treffs allein zu dieser Problematik. An diesen Treffs nahmen acht MfS-Offiziere teil: Schmidtke, Seiler, Lonitz, Döhling, Gesang, Birke, Hanemann und Fischer. Die Treffs erfolgten zum Zwecke der Suche und Auswahl »geeigneter Beweisunterlagen zu den Verbrechen des Dr. [Hartwig*]«, zu »inhaltlichen Fragen zu den zu erstellenden Fachgutachten«, zur »Begutachtung der durch den Beschuldigten gemachten vernehmungsseitigen Aussagen«, zur Suche und Auswahl »geeigneter Zeugen« u. a. m.746

746  BV Dresden, Abt. XVIII/2/12, vom 15.2.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 3, Bl. 2.

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Das MfS stellte am 6. März fest, dass Hartmann ein beständiges Bemühen zeigte, »gesellschaftlich negative Bewerber einzustellen. Im Gegensatz dazu« seien Bewerber mit »außerordentlich guter« Fachausbildung und »entsprechender politischer Haltung« von Hartmann mit »fadenscheinigen Gründen abgelehnt« worden. Es griff zwei Fälle heraus, die diese These bestätigen sollten. Etwa den Fall eines aus dem Fernmeldeamt wegen Nachrichtenübermittlung nach Westdeutschland entlassenen Parteilosen, den er einstellte, sowie den Fall eines SED-Mitgliedes, der trotz Note 1 in allen Hauptfächern die Einstellungsprüfung bei Hartmann nicht bestanden hatte und demzufolge nicht eingestellt worden ist. Der inhaftierte Hartwig* bestätigte später unter Druck »Fakten zur feindlichen Grundeinstellung« Hartmanns. Er habe eine Aversion gegen das Menschenbild des Sozialismus, keine positive Einstellung zum Sozialismus und lasse ein Engagement für diesen nicht erkennen; ließ sich seine Teilnahme an gesellschaftlichen Veranstaltungen nicht vermeiden, »erfolgten« sie stets »nur mit ›saurer Miene‹«. Er höre Westrundfunk und empfange mittels »Ochsenkopf« Westfernsehen; in Leitungssitzungen würden nur notgedrungen, ohne Engagement politische Probleme abgehandelt, sein Standardsatz laute: er habe keine Zeit. Den sozialistischen Wettbewerb »im Rahmen der KDT-Arbeit« lehne er ab, ja, er habe die sozialistische Gemeinschaftsarbeit und auch »progressive Mitarbeiter« und Neuerervorschläge gar unterdrückt.747 Dies ist auch im Sachstandsbericht des MfS vom 15. Mai thematisiert, worin festgestellt worden ist, dass »weder Nachweise über Rechenschaftslegungen der nachgeordneten Leiter zu Problemen der Neuerertätigkeit« sowie »Kontrollen der Neuerertätigkeit« stattgefunden hätten. Ähnlich verhalte es sich mit der Erfindertätigkeit. So soll ein Verbesserungsvorschlag zur »Steigerung der Produktivität und Ausbeute bei der Fertigung von FKS und npn-Planartransistoren« von Hartmann »bewusst« »unterdrückt« worden sein. Die Gutachter stellten gar die These auf, dass diese Arbeit in den Westen zu IBM abgeflossen sei und dort zu einer Patentanmeldung geführt habe.748 Am 14. März bat die Abteilung XVIII/1 der BV Dresden die KD Dresden-Stadt um Mithilfe, ob ehemalige IM und / oder andere Personen des VEB Vakutronik möglicherweise zu einer Zeugenvernehmung bereit seien. Genannt wurden mehrere, die »wertvolle Informationen zur Person des Beschuldigten und seiner Handlungen gegeben« haben sollen.749 Ein ähnliches Ersuchen mit gleicher Zielstellung ging an die Abteilung XV der BV Karl-Marx-Stadt.750 Am 20. März interessiert sich das MfS für jenen Journalisten, der in der Beilage Nr. 26/1972 der Zeitung Freies Wort 751 747  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 182–184. 748  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 190–250, hier 234 u. 236. 749  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 14.3.1974: Überprüfung im VEB Vakutronik; ebd., Bd. 5, Bl. 233. 750 Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 14.3.1974: Überprüfungsmaßnahmen zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 234. 751  Vgl. Schubert: Der feste Boden.

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Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie

den Artikel »Der feste Boden unter den Füßen« über Hartmann geschrieben hatte. Das MfS wollte wissen, ob der Artikel auf Grundlage eines Interviews geschrieben wurde.752 Hartmann gratulierte Steenbeck am 18. März nachträglich zu dessen 70. Geburtstag. Er erinnerte kurz an die Zeit der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre, eine für Steenbeck »beruflich fruchtbare Periode voller anerkannter Leistungen«. Sein letzter Satz im Glückwunschbrief lautete, mit doppeltem Zeilenabstand wie ein Notruf hingenagelt: »Wann besuchen Sie AMD?«753 In Kreisen um Wolfgang Lungershausen ist im Frühjahr offenbar die Frühberentung Hartmanns in Erwägung gezogen worden. Der IM »André« gab diese Information an Offizier Schmidtke am 27. März. Demnach soll Lungershausen diese Idee in einem Gespräch mit dem Instrukteur der Abteilung Wirtschaft der SED-Bezirksleitung Dresden erörtert haben.754 Am 28. März bilanzierte das MfS die Arbeit von Hanisch, der vom 15. Februar an mit den Offizieren Lehmann, Lonitz, Hachenberger, Gesang, Döhling, Seiler, Hanemann, Fischer und Schmidtke 32 Treffs absolvierte. Seine schriftlichen Berichte gingen in die OV »Automat«, »Molekül« und »Entwicklung« ein.755 Nahezu parallel hierzu schrieb die AMD Erfolge. Im April wurden bei der Überleitung des FKS U820D von AMD in das Kombinat Funkwerk Erfurt (KFWE) gute Ergebnisse erzielt. Die Ausbeuteraten im Zyklus  II für bipolare FKS betrugen 60 bis 70 Prozent.756 Am 24. April bat die Abteilung XVIII/1 der BV Dresden die Abteilung IX des Hauses um »Auswertungsvernehmungen zur Tätigkeit« Hartmanns,757 die im Rahmen der Verhöre Hartwigs* angefallen waren. Folgende Fragekomplexe waren von Interesse: 1. zum Persönlichkeitsbild Hartmanns (sechs Punkte), etwa: »Welche Widersprüche (Heuchelei) sind zwischen seinen offiziellen Darlegungen und seinem wirklichen Handeln vorhanden«; 2. zu Handlungen als Leiter (acht Punkte), etwa: »Bei der Auswahl, Zusammensetzung und dem Einsatz der Kader«; 3. zur Verschleie­ rung der Fehler Hartwigs* durch Hartmanns; 4. zu »begünstigenden Bedingungen« bei einer Reihe von Fehlleistungen (acht Punkte), etwa: »Für das unkontrollierte Arbeiten«; 5. zu negativen Handlungen Hartmanns über das bis hierher Erfragte hinaus.758 752 Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 20.3.1974: Überprüfungsmaßnahmen zum OV »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 5, Bl. 235. 753  Schreiben von Hartmann an Steenbeck vom 18.3.1974; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 23, 1 S. 754  Vgl. Bericht von »André«, notiert am 27.3.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 5. 755  Vgl. BV Dresden vom 28.3.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 3, Bl. 50. 756  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26, hier 25. 757  BV Dresden, Abt. XVIII/1, an BV Dresden, Abt. IX, vom 24.4.1974; ebd., Bd. 12, Bl. 97. 758  Anlage zum Schreiben ebd., Bl. 98–100.

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Mit Datum vom 15. Mai verfasste das MfS einen summarischen, 61 Seiten umfassenden Sachstandsbericht. In dieser zwei Jahrzehnte umfassenden Ausarbeitung behauptete das MfS nicht nur, dass Hartmann vom amerikanischen, englischen und westdeutschen Geheimdienst »bearbeitet« worden sei, sondern unterstellte ihm gar »konspirative Zusammenkünfte« mit diesen Diensten. In der langjährigen operativen Bearbeitung sei festgestellt worden, dass Hartmann »eine antikommunistische und feindliche Grundeinstellung gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR« habe. Der Beweis allerdings, dass er die Nichterfüllung der Produktionsziele als gleichsam feindliche Einstellung zielstrebig realisierte, sei aber »noch nicht« erbracht worden. Hartmann fehle »es an jeglichem, den sozialistischen Normen entsprechenden Umgang mit seinen Mitarbeitern«. »Charakteristisch« für ihn sei »sein ausgesprochener Hass gegen die Sowjetunion und deren Bürger«. Er lebte, so muss man diesen Text lesen, in der DDR in einer Art westlicher Scheinwelt (­Medien, Umgang, Orientierung auf Westreisen). Sein Hass auf die DDR werde immer stärker. Seine »antikommunistische Grundeinstellung« tarne er »mittels Täuschung, Verschleierung, politischer Heuchelei und Doppelzüngigkeit geschickt«.759 Damit sein angeblicher Hass auf die Sowjetunion konsistent erschien, formulierte das MfS hinsichtlich seines zehnjährigen Sowjetunionaufenthaltes (laut MfS: »Dienstverpflichtung«): »Entsprechend der äußeren Umstände war er gezwungen, nutzbare Ergebnisse seiner fachlichen Tätigkeit der Sowjetunion zur Verfügung zu stellen, wobei er diese während dieses Zeitraumes ausführte, ohne seine ihm im Faschismus anerzogene politische Grundeinstellung gegenüber der Sowjetunion zu ändern.«760 Am 20. Mai wurde vom MfS ein Maßnahmeplan zur sogenannten »Absicherung des Verdächtigen«, also Hartmann, fertiggestellt. Der Inhalt bestand u. a. in einer konspirativen Arbeitsplatzkontrolle, in der Einleitung der Maßnahmen »A« (Ab­ hören des Telefonverkehrs) und »B« (Abhören mit Mikrofon) im Arbeitszimmer und in der Wohnung. Die Maßnahme »A« wurde auch bei seiner Sekretärin installiert. Zusätzlich wurde eine durchgängige Beobachtung durch den IM »Schubert« realisiert sowie ein Stützpunkt zur »durchgängigen Beobachtung« in der Nähe seines Wohnhauses geschaffen. Des Weiteren erfolgten M- und PZF-Kontrolle sowie eine Pkw-Kontrolle in der AMD. Auch wurden eventuelle Schwierigkeiten bei der Realisierung technischer und anderer Kontrollen bedacht, da Hartmann durch genaue Beobachtung und Kontrolle operative Maßnahmen bereits dekonspiriert und zunichte gemacht habe. Durch seine elektronischen Kenntnisse sei deshalb auch ein Einsatz eines Senders nicht möglich. Zwei Versuche, entsprechende Technik zu installieren, scheiterten bereits. Auch wieder in das Haus Hartmanns zu gelangen, erwies sich als nicht einfach: »Nachts nur durch das Räumen des Nebenhauses möglich«. Eine lückenlose Kontrolle der Post sei auch nicht gegeben, da Hartmann 759  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 190–250, Bl. 191 f. u. 195 f. 760  Ebd., Bl. 197.

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»Sendungen postlagernd« empfange. Mit dem Beginn der hier auszugsweise angedeuteten komplexen Maßnahmen sollte »ein täglicher Lagefilm erarbeitet« werden.761 Der Bericht über die Durchsuchung des Arbeitsplatzes am 24. Mai stammt vom 29. Mai und fand wie geplant in der Zeit von 15.00 bis 18.00 Uhr statt. Ein Ergebnis fehlt.762 Am 20. Mai fasste das MfS aufgrund vor allem der Gutachtertätigkeit Hanischs Schlussfolgerungen aus den Untersuchungen zu Hartwig* zusammen. Man sei sich im Klaren, dass seine »Verbrechen […] zielgerichtet auf die Mikroelektronik als Schlüsselposition für die beschleunigte Entwicklung vieler Zweige unserer Volkswirtschaft ausgerichtet waren«. Das MfS sah in zehn Punkten die Möglichkeiten von Sabotage in der AMD gegeben (hier Auswahl): »1. Unklare und unausgereifte langfristige Zielstellungen für die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der integrierten Mikroelektronik; 2. Eine unmittelbar daraus resultierende ungenügende und nicht rechtzeitige Orientierung der Zulieferindustrie auf langfristige Entwicklungsvorhaben; 4. Ungenügende Kontrolle der Arbeitsergebnisse der AMD im Vergleich mit der Erfüllung zentraler staatlicher Zielstellungen (technisch-ökonomisch); 5. Ungenügende Einflussnahme auf eine der sozialistischen Wirtschaftsführung entsprechende struktur- und Kaderpolitik in der AMD; 8. Völlig ungenügende Herausbildung von sozialistischen Persönlichkeiten und sozialistischen Führungskadern in der AMD; 10. Völlig ungenügende Arbeit der Informations- und Dokumentationsstelle der AMD als Leitinstitut der VVB BuV auf dem Gebiet der integrierten Mikroelektronik.«763

Eine weitere Konzeption für eine konspirative Arbeitsplatzdurchsuchung stammt vom 23. Mai. Geplant für den 24. Mai, wie gehabt umfangreich und komplex in allen üblichen Bestandteilen. Der Termin bot sich kurzfristig an, da Hartmann an einer Arbeitsberatung des Ministers MEE im Kombinat Funkwerk Erfurt (KFWE) teilnehmen sollte. Die Durchsuchung wurde so organisiert, dass ab 16.30 Uhr keine Berufstätigen mehr in der Arbeitsstelle sein durften. Abgedeckt werden sollte die Durchsuchung gegenüber dem ökonomischen Direktor mit dem Vorwand, dass eine »Beratung zu Sicherheitsfragen« stattfinde. »Die Anwesenheit eines solch großen Kreises operativer Mitarbeiter« sei »durch die bisherigen Untersuchungen zum OV ›Automat‹ nicht unnatürlich.«764 Das Büro, wo man »tagen« wollte, lag gegenüber dem Hartmanns. Die Vorsichts- und Begleitmaßnahmen waren exorbitant.

761  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 20.5.1974: Maßnahmeplan für die Absicherung des Verdächtigen; ebd., Bd. 5, Bl. 237–241. 762  Vgl. BV Dresden, Abt. VIII, vom 29.5.1974: Bericht über die konspirative Arbeitsplatzdurchsuchung im Dienstzimmer; ebd., Bd. 45, Bl. 147. 763 BV Dresden vom 20.5.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM  4885/90,  Teil  II, Bd. 3, Bl. 51–55, hier 52 f. 764  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 23.5.1974: Konzeption zur konspirativen Arbeitsplatzdurchsuchung; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 45, Bl. 141–145, hier 142.

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Der Kombinatsdirektor des KFWE erklärte auf der am 24. Mai stattgefundenen Konferenz, dass bislang »keine« so »komplizierte MOS-Überleitung im eigenen Werk« bis zu diesem Datum »so gut abgelaufen« sei »wie die bisherigen Ergebnisse der Überleitung der MNOS-Technologie und des FKS U820D von AMD zu KFWF«.765 War der Sachstandsbericht des MfS vom 15. Mai fachorientierter gehalten, so der 71 Seiten zählende vom 27. Mai eher politisch und polemisch. Man ermittle gegen Hartmann gemäß Paragraf 165 StGB, da er »vorsätzlich unter fortgesetzter Umgehung der ihm als Leiter der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden (AMD) übertragenen Pflichten, durch Missbrauch seiner staatlichen Funktion und Irreführung übergeordneter Organe, die planmäßige Entwicklung des Wissen­ schaftlich-technischen Potenzials der AMD systematisch verhindert und somit erhebliche volkswirtschaftliche Schäden bei der planmäßigen Bereitstellung von Festkörperschaltkreisen« bewirke. Das sei »operativ bewiesen«,766 schrieb das MfS, und führte hierfür abenteuerlich klingende »Erkenntnisse« an. Die Darlegungen und Analysen der Gutachter hätten übereinstimmend gezeigt, dass Hartmann »über Jahre hinweg vorgesetzte Dienststellen und führende Persönlichkeiten von Partei und Regierung« getäuscht habe.767 Einmal mehr beobachtete das MfS in der Zeit vom 24. bis 27. Mai Hartmann; ein Auszug vom 25. Mai: »15.15 Uhr wurde ›Molekül‹, nur mit Hemd und Hose bekleidet, gesehen, und beschäftigte sich innerhalb seines Grundstückes mit Säuberungsarbeiten. […] 22.45 Uhr erlosch das Licht im Wohnhaus von ›Molekül‹.«768 Alle Beobachtungsdaten waren nichtssagend. Das MfS bereitete Ende Mai zum wiederholten Male Fragen zur künftigen Vernehmung Hartmanns vor.769 Der erste »Vorhalt« begann sofort mit einer Lüge: »Als junger, hochtalentierter Wissenschaftler waren Sie dem Faschismus gegenüber ein treu ergebener Mensch.« Die Verhörer bereiteten sich akribisch-naiv auf mögliche Antworten vor, man wollte ja schlagfertig gegen geistig Überlegene reagieren können. Hartmann werde, so eine Disposition auf die Behauptung, dass die DDR alles getan habe für den Anschluss an die Weltspitze, »versuchen, uns klar zu machen, wie positiv er« gehandelt habe. »In seinen Darlegungen wird er viele Schwierigkeiten aufzeigen«. Man werde dann, so das MfS, nochmals nachfragen, »wie diese Unterstützung und das in ihn gesetzte Vertrauen den Tatsachen entsprechend aussah«. Er solle erklären, »wie er als Persönlichkeit und staatlicher Leiter dieses große Vertrauen in der Folgezeit rechtfertigte«.770 765  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 25. 766  HA XVIII/8/3 und BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 27.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 3, Bl. 1–71, hier 1 f. 767  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 190–250, hier 210. 768 Vgl. BV Dresden, Abt. VIII, vom 28.5.1974: Beobachtungsbericht für die Zeit vom 24.–27.5.1974; ebd., Bd. 47, Bl. 131–133. 769  Vgl. Konzeption für Verhör (o. D.); ebd., Bd. 3, Bl. 72–108. 770  Ebd., Bl. 72 u. 74 f.

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Die Beantwortung einer Frage nach seiner politischen Weiterbildung und seinem politischen Engagement dachte sich das MfS folgendermaßen aus: »Ihre Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ich sah in allererster Linie meine wissenschaftliche Tätigkeit.« Und weiter: »Politisch habe ich mich durch Presse und Rundfunk weitergebildet. H. wird ins Eiern kommen. Vorhalt: Herr Professor, Ihre Aussage entspricht wiederum nicht der Wahrheit.« In der Anmaßung des MfS lautete eine Frage nach seinen wissenschaftlichen Leistungen, die er »bitte einmal ganz konkret« darlegen möge. Das MfS erwartete hierauf eine Antwort, die »nur allgemein sein« könne, da er vorgeben werde, gegen den Bürokratismus und die ungeliebte Verwaltungsarbeit ankämpfen zu müssen. Und da zu erwarten sei, dass er so antworten werde, sollte dann folgender »Vorhalt« kommen: »Ende Mai 1956 erklärten Sie in einer Unterhaltung gegenüber dem Hauptbuchhalter«, dass die Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) »nur eine formale Angelegenheit und uns aufgezwungene Sache« sei. »Nehmen Sie dazu Stellung, Herr Professor!«771 Und zum Explosionsgeschehen: »Herr Professor, die von Ihnen gemachten Darlegungen hinsichtlich Ihrer Verantwortung sowie der Ursachen der am 28. August 1971 erfolgten Wasserstoffexplosion entsprechen nicht den Tatsachen. Nach den vorliegenden Untersuchungsergebnissen ist die Ursache der Explosion eindeutig auch auf falsche Entscheidungen Ihrerseits zurückzuführen, die darin bestanden, dass Sie anlässlich einer Beratung am 31. März 1964 festlegten, dass ein Leitungsstrang für den Transport von Wasserstoff in Rasothermglas auszuführen ist. Nehmen Sie dazu Stellung!« Und, sollte es nicht genügen: »Ihnen wird hiermit [ihre dienstliche] Notiz T 15/64 vom 31. März 1964 vorgelegt. Ist Ihnen jetzt Ihre Entscheidung gegenwärtig?« Das MfS erwartete hierauf, dass nun »eine Bestätigung und ausführliche Kommentierung dieses vorgelegten Dokumentes« zwangsweise kommen müsse.772 Im Mittelpunkt dieses nicht ungefährlichen Frage-Antwort-Kinderspiels stand die Organisationsanweisung (OA) Nr. 33 für den Umgang mit technischen Gasen vom 1. Juni 1966 (Neufassung vom 1. Januar 1971, OA 103). Für die Leitung des Wasserstoffs war Kupferrohr vorgesehen. Dieser Teil des »Vernehmungsplanes« ging von der Annahme aus, dass Hartmann zugeben würde, von dem Glasrohrstrang für Wasserstoff gewusst zu haben. In dem Fall, dass er dies nicht zugeben sollte oder behaupten würde, er sei der Ansicht gewesen, dass ein solcher Strang nicht mehr existiere, dachte sich das MfS eine andere Fragenstrategie aus. Dann sei ihm nachzuweisen, »dass er bei der Gerichtsverhandlung gegen« Hartwig* »nicht die Wahrheit dargelegt« habe »und auch nichts« unternommen habe, »um dann den tatsächlichen Schuldigen für dieses Ereignis zur Verantwortung ziehen zu lassen«.773 Es ist aufschlussreich, dass das MfS an eine andere Version der »Wahrheit« zumindest dachte. Anmerkung: Hartmann wurde zur Gerichtsverhandlung nicht geladen. Wäre dies

771  Ebd., Bl. 77 f. 772  Anlage 2: Einleitung zur Vernehmung; ebd., Bd. 11, Bl. 3–8, hier 4. 773  Ebd., Bl. 5–7.

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verlangt oder gestattet worden, wäre die gesamte Verfahrenskonstruktion gegen Hartwig* wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Hanisch stellte in diesem Jahr einen drei-Etappen-Plan zur Nachweisführung der Sabotagearbeit Hartmanns auf: Erstens in der »maximalen Verzögerung des effektiven Arbeitsbeginns zur Entwicklung von Festkörperschaltkreisen«, zweitens in der »maximalen Verzögerung entscheidender Entwicklungsthemen« und »Negierung entscheidender Entwicklungsrichtungen« sowie drittens in der »Aufnahme der Produktion mit unausgereiften Verfahren«.774 Am 4. Juni notierte Offizier Ribbecke – aus einer Beratung bei Heinz Bethge tags zuvor, der an der Internationalen Konferenz über Kristallografie in Tokio vom 24. bis 29. April teilgenommen hatte –, dass »in der DDR für die Beherrschung der notwendigen Vielfalt der Halbleitermaterialien die Grundtechnologien, die entsprechend gebildeten Wissenschaftler und die erforderlichen analysemesstechnischen Ausrüstungen fehlen. Es werde »immer deutlicher sichtbar, dass auf dem Halbleitergebiet ohne Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Technologie keine industriell anwendbare und moderne Verfahrenstechnik produziert werden kann.«775 Allein für die Installierung der Maßnahme »B« für den 8. Juni wurde ein exorbitantes logistisches Netz für die Absicherung geknüpft, zu der zwölf Mitarbeiter, zwei Pkw und vier Handfunksprechgeräte zum Einsatz kommen sollten, dazu u. a. noch stündlich Streifengänge durch das zuständige Volkspolizei-Kommando.776 Im Juni teilte der Kontrollbeauftragte des Amtes für Standardisierung, Mess­ wesen und Warenprüfung (ASMW) mit, dass laut Lungershausen, der auf der AMD-Qualitätskonferenz gesprochen hatte, die »Ursachen für Einbrüche in anderen Werken der Bauelementeindustrie« wohl »in den Schwächen der grundlegenden methodischen Konzeptionen dieser Betriebe« lägen, »die sich von der Konzeption der AMD wesentlich« unterschieden.777 Aus einer Information des Ministeriums für Elektronik und Elektrotechnik (MEE) vom 24. Juni zum Fall Hartwig*, bezogen auf Erkenntnisse des vom 10. bis 21. Juni vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Dresden stattgefundenen Hauptverfahrens, geht hervor, dass er wegen »Geheimnisverrats, Spionage, Sabotage und des versuchten gewaltsamen Grenzdurchbruches« angeklagt worden ist. Hauptvorwurf jedoch: Er habe die Entwicklung der Technologie für die Produktion von Festkörperschaltkreisen um »fünf bis sieben Jahre verzögert«. Und er habe die »vom Leiter der AMD schriftlich übertragenen Aufgaben ständig verletzt und maximal verzögert« [sic!]. Er habe darüber hinaus die staatlichen und wirtschaftsleitenden 774  Rolle Hartmanns in der Mikroelektronik (o. D., vermutlich 1974); ebd., Bd. 23, Bl. 291–315, hier 291. 775  HA XVIII/5 vom 4.6.1974: Entwicklungstendenzen elektronischer Halbleiterbauelemente; BStU, MfS, AIM 5691/82, Teil II, 1 Bd., Bl. 93–96, hier 94; Bericht vom 8.5.1974 zu einer Beratung bei Bethge am 3.5.1974; ebd., Bl. 97–105. 776  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 6.6.1974: Konzeption zum Einbau der Maßnahme »B«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 5, Bl. 306–309. 777  Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 47, Bl. 16–26, hier 26.

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Organe »irregeführt«, Initiativen von Mitarbeitern unterdrückt und insbesondere »progressive Mitarbeiter« deutlich »diskreditiert«. Der ökonomische Schaden durch Vergeudung von Konstruktions- und Musterbaukapazitäten habe 7,5  Millionen Mark betragen. Die Produktionsaufnahme von bipolaren Festkörperschaltkreisen sei um drei Jahre verzögert worden. Der Produktionsausfall in der Fertigung von Festkörperschaltkreisen ist in dem Papier mit 109,5 Millionen Mark beziffert, die außerplanmäßige Inanspruchnahme von NSW-Mittel mit 17,6 Millionen Mark. Das alles sei möglich gewesen, weil Hartmann die Grundsätze für die Leitung solcher Institutionen »ständig gröblichst« verletzt habe.778 Der Doppelschlag: Die Ereignisse vom 24. bis 26. Juni 1974 Die VVB BuV informierte am Montag, dem 24. Juni, um 16.00 Uhr die Betriebslei­ tung der AMD »über die Verhandlung Hartwig*«. Tags darauf, am 25. Juni um 7.00 Uhr, wurden die Parteileitung und die Bereichsleiter davon in Kenntnis gesetzt. Alles verlief »nach einem Ablaufplan«. Die Kollegen der Bereiche wurden um 8.15  Uhr informiert. Die unmittelbaren Reaktionen zu dieser Verhaftung sollen zustimmend aufgenommen worden sein.779 Am 24. Juni erhielt Hartmann die Vorladung, am nächsten Tag nach Berlin zu der VVB BuV zu kommen. Hier wurde ihm vom stellvertretenden Generaldirektor der VVB, also nicht von Lungershausen, und vom Kaderleiter des MEE mitgeteilt, dass er »ab sofort Hausverbot für die AMD« und »sofort« den Dienstausweis und das Petschaft abzugeben habe. Die formale Abberufung erfolgte erst am 11. Juli. Am 25. Juni erfolgte die Verurteilung Hartwigs* zu 15 Jahren Zuchthaus. Da Hartmann »eine allgemein bekannte wissenschaftliche Persönlichkeit im In- und Ausland« war und »umfangreiche private und fachliche Verbindungen in das kapitalistische Ausland« unterhielt, wurde die ZAIG des MfS beauftragt, die »westlichen Massenkommunikationsmittel hinsichtlich allgemeiner Artikel und Mitteilungen« sowohl mit Bezug auf die AMD als auch auf die Ablösung Hartmanns und den Prozess gegen Hartwig* zu beobachten.780 Am 25. Juni fand in der AMD eine Leitungssitzung statt, an der der Direktor für Kader und Bildung der VVB BuV, der ZK-Beauftragter der VVB, Weiß, und ein Vertreter der Bezirksleitung der SED teilnahmen. Auf der Sitzung wurde die Ab­ lösung Hartmanns infolge des Prozesses gegen Hartwig* bekanntgegeben. Die Kernargumentation lautete auf »begünstigende Umstände«, die Hartmann geschaf­ fen haben soll. Als Nachfolger wurde amtierend Ralf Kempe eingesetzt. Mit sofor­ 778  MEE vom 24.6.1974: Information über schwerwiegende Pflichtverletzungen; ebd., Bd. 4, Bl. 66–70. 779  Bericht aus einem Arbeitsbereich der AMD vom 3.7.1974; ebd., Bd. 47, Bl. 15. 780  BV Dresden, Abt. XVIII, an die ZAIG vom 25.6.1974: Auswertung westlicher Massenkommunikationsmittel; ebd., Bd. 5, Bl. 312.

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tiger Wirkung wurde ferner ein Disziplinarausschuss tätig. Weiß äußerte sich in »grundsätzlicher« Form »zum Feind [Hartwig*]«. Auch wurde festgelegt, dass am 26. Juni eine »einheitliche Information über den Prozessverlauf« an die Belegschaft gegeben werde. Der Parteisekretär der AMD, Jochen Henning, regte an, »in Appellform eine Verpflichtungsbewegung zu Ehren des 25. Jahrestages zur Beseitigung des durch die Feindtätigkeit des Hartwig* entstandenen Schadens« zu tätigen. Entbunden von ihrer Funktion wurde zunächst auch die Kaderleiterin der AMD. Selbst im Kreis der Leitungsfunktionäre sollen die Informationen »äußerst beeindruckt aufgenommen« worden sein. Trotz Auf‌forderung sei es zu keiner Diskussion gekommen.781 Just zu dieser Zeit befand sich Hartmann in der VVB BuV. Die Unterrichtung der Belegschaft erfolgte eintönig. Es sprachen Kempe, der Parteisekretär Henning und der Kontrollbeauftragte Schmidt. Das MfS fasste die nachfolgenden Gespräche wie folgt zusammen: Es sei ein »ausgeprägtes Erstaunen« festzustellen gewesen. Teilweise hätte man sich auch schockiert über die Schadenshöhe gezeigt. Einerseits gab es Stimmen, die die Strafe von 15 Jahren als noch zu gering erachteten, andererseits solche, die sowohl den Schadensnachweis als auch die »Rechtlichkeit des Urteils« anzweifelten. Auch habe es »Mitleid wegen des Urteils von 15 Jahren« gegeben. Die Maßnahmen gegen Hartmann und die Kaderleiterin jedoch seien »nicht einleuchtend« gewesen. So habe man gefragt, wann »die Aufhebung der Beurlaubung« von Hartmann erfolge: »das kann Professor H. doch nicht gewusst haben, – soll damit« etwa »die Abbaukonzeption der AMD realisiert werden?« Also hatte man in der AMD bereits Ängste, tatsächlich waren ja zum Beispiel die Investitionen (siehe Tb. 4) erheblich reduziert worden. Henning soll gesagt haben, dass der angerichtete Schaden offenbar nur geschätzt worden sei.782 Noch am 26. Juni wurde Hartmann von Kempe und Hanisch zu Hause aufgesucht. Der soll, berichteten sie anschließend, »um Jahre gealtert« ausgesehen haben. Sie hatten die Aufgabe, dienstliche Unterlagen abzuholen. Hartmann soll wortkarg gewesen sein, »sehr distanziert und völlig unsicher«, er habe »jeden Abschiedsgruß« vermieden.783 Sie stellten ihm für die übergebenen Materialien eine Quittung aus.784 Wiederum einen Tag später wurden vom MfS erneut die Meinungen und Stimmungen in der AMD zusammengefasst; eine Auswahl: Zu Hartwig* habe es »großes Erstaunen und Verwunderung« ob einer »derart langjährigen Schädlingstätigkeit« gegeben. Und zu Hartmann sei auf‌fällig, dass es unterschiedliche Meinungen gebe, »zum Teil Mitleid«, viele sähen »in ihm ein Idol«. Ausgesprochen negative Äußerungen hatte das MfS nicht registrieren können. Von Bedeutung war dem MfS eine Äußerung Hans Lippmanns, wonach »diese Entscheidung« sehr wahrscheinlich von »wesentlich höher gefasst« worden sei, als beim Generaldirektor 781  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 25.6.1974: Maßnahmen in der AMD auf Grundlage der Ablösung Hartmanns; ebd., Bd. 3, Bl. 138–140. 782  Ebd., Bl. 143 f. 783  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 27.6.1974: Maßnahmen in der AMD; ebd., Bl. 145–147, hier 145. 784  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1 f.

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der VVB. »Die Ursache dafür dürfte in seinem Verhalten gegenüber Günter Mittag vor vielen Jahren und einer weiteren Sache vor ein bis zwei Jahren liegen.«785 Lippmann und Hartmann kannten sich gut, sie arbeiteten viele Jahre zusammen, bereits vor der gemeinsamen Zeit in der AME / A MD 1960 etwa im Rahmen der Geräte-Kommission des Wissenschaftlichen Rates zur friedlichen Anwendung der Atomenergie.786 Ursprünglich war die Abberufung Hartmanns erst für die Woche vom 8. Juli geplant gewesen. »Zur Untersuchung« seiner »Kaderarbeit« wurde gewissermaßen ex post eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Abteilungsleiters Kader der VVB BuV installiert, der weitere vier Kaderleiter aus dem Bereich des MEE angehörten. Am 4. Juli wurde eine Gesamtmitgliederversammlung der BPO der AMD durchgeführt, an der u. a. der stellvertretende Generaldirektor der VVB und ein Dresdener Staatsanwalt teilnahmen. Bemerkenswert für das MfS war die Auf‌fassung von Wissenschaftlern der AMD, »dass aufgrund des Nichtvorhandenseins einer direkten Feindverbindung« Hartwigs*, denn von einer solchen hatten sie nichts gehört, es nun Probleme machen könne, das Entwicklungsrisiko richtig einzuschätzen. Man müsse sich demzufolge »nach allen Seiten erst absichern«, »ehe man mit einer bestimmten Forschungs- und Entwicklungsproblematik« beginne, »um nicht am Ende« auch im Gefängnis zu landen.787 Die Arbeitsgruppe des Abteilungsleiters Kader der VVB BuV hatte über die Kaderarbeit Hartmanns erwartungsgemäß nur Negatives erarbeitet: Bei der Einstellung seien »allein fachliche Gesichtspunkte ausschlaggebend« gewesen. »Auf die kaderpolitische Zusammensetzung der Kollektive wurde dabei nicht geachtet. Neueinstellungen wurden allein von Professor Hartmann entschieden.« Es sei nachweisbar, dass SED-Genossen bzw. Personen mit positiver Einstellung zur DDR nicht eingestellt worden seien. Die Kaderunterlagen seien »völlig veraltet« gewesen, teilweise stammten sie von 1949 bis 1950. Sie hätten »nur noch einen geringen Aussagewert«. In einigen Bereichen seien »keine bzw. sehr wenige Genossen vorhanden«, die »führende Rolle« der SED sei »nicht gewährleistet«.788 Am 28. Juni bilanzierte das MfS einmal mehr die Arbeit von Hanisch, der vom 1. April an mit den Offizieren Lonitz, Hachenberger, Gesang, Döhling, Seiler, Fischer und Schmidtke insgesamt 47 Treffs absolviert hatte. Die 47 schriftlichen Berichte gingen in die OV »Automat«, »Molekül« und »Entwicklung« sowie in eine Vorlaufakte Operativ (VAO) ein. Der Inhalt der Berichterstattung bezog sich u. a. auf die »Fertigstellung des Gutachtens zu den Sabotageverbrechen« Hartwigs*, die »Erarbeitung eines Gutachtens zu dem Verdächtigten des OV ›Molekül‹«, die »Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung gegen den Beschuldigten des 785  Information über Maßnahmen in der AMD vom 27.6.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 3, Bl. 148 f. 786  Bericht offenbar von »Rolf Berger« vom 10.3.1960: Stellungnahme; ebd., Bd. 43, Bl. ­183–185, hier 184. 787  Dresden den 8.7.1974: Information zum Stand der Auswertung; ebd., Bd. 3, Bl. 150–152. 788  VVB BuV vom 2.8.1974: Inspektion in der AMD vom 1.–4.7.1974; ebd., Bd. 7, Bl. 293–205.

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OV ›Automat‹ in der Zeit vom 9. bis 21. Juni 1974«, die »konzeptionelle Erarbeitungen zu Fragen der Prozessauswertung, der Ablösung des Verdächtigten des OV ›Molekül‹ als Leiter der AMD und zu künftigen Strukturvorstellungen«, die »Gewährleistung eines lückenlosen Informationsflusses im Verlaufe der Prozessdurchführung und zu den sich daraus ableitenden Folgemaßnahmen«, die »Teilnahme an Vorbereitungs- und Durchführungsmaßnahmen zur operativen Kontrolle des Verdächtigten des OV ›Molekül‹ (Gewährleistung einer lückenlosen Kontrolle des Verdächtigten, konspirative Arbeitsplatzdurchsuchung, Ein- und Ausbau der Maßnahme »B«)«, die »Sammlung, Sichtung und Einschätzung von Materialien (Archiv der AMD, Materialien aus der konspirativen Arbeitsplatzdurchsuchung) zur Vervollständigung und Verdichtung besonders der objektiven Seite des Gutachtens zu dem Verdächtigten des OV ›Molekül‹«, die »Erarbeitung von Grundgedanken zum gutachterlichen Herangehen und Vorgehen bei vorliegenden Verdachtsgründen zur Sabotage; Teilnahme und Mitwirkung im Disziplinarausschuss, welcher in Auswirkung des Prozesses durch die Leitung der VVB berufen wurde.« Nachsatz: Mit dem absonderlichen inoffiziellen Arbeitsvolumen Hanischs traten, das kaum noch kaschierbar war, in der AMD ernsthafte dienstliche Probleme »seines Arbeitsverhältnisses und seiner strukturellen Zuordnung« auf. »Im gegenseitigen Einvernehmen und in Absprache mit dem Leiter der AMD« wurde er dem Bereich Inspektion zugeordnet.789 Am 29. Juni fand an der TU Dresden ein Ehrenkolloquium für Siegfried Hilde­ brand statt. Ein Mitarbeiter der TU hatte Günter Bartels vorab am 23. Mai um Dias für diesen Tag gebeten. Eine scheinbar winzige, banale Angelegenheit. Jedoch entfaltete dies hektische Aktivitäten insbesondere von Hanisch und einigen MfS-­ Offizieren. Man wollte alles sehr genau prüfen und plante überdies eine »intensive Beobachtung des Kolloquiums und exakte Ermittlung der Teilnehmer (In- und Ausland)«.790 Die Veranstaltung fand ihren würdigen Rahmen auf der VIII. Internationale Tagung »Wissenschaftliche Fortschritte der Elektronik-Technologie und Feingerätetechnik«, die vom 25. bis 29. Juni in Dresden stattfand. Die Hildebrand gewidmeten Vorträge wurden veröffentlicht. Hanisch wertete auch dieses Heft aus.791 Hartmann stellte am 6. Juli im Zusammenhang mit seiner Beurlaubung eine Kurzgeschichte der AMD zusammen, sie ist – ohne namentliche Nennung – an den Herrn Minister MEE und den Generaldirektor (VVB BuV) adressiert.792

789  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 28.6.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 3, Bl. 63 f. 790  Hanisch: Information zum Ehrenkolloquium für Hildebrand (o. D.); BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 24, Bl. 42 f. 791  Vgl. BV Dresden vom 24.2.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 4, Bl. 27. 792  Vgl. Hartmann: Kurzgeschichte der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 16–26.

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Eine weitere Auswertung zu den Ereignissen ist vom 9. Juli überliefert: Danach zeigte das MfS sein »Unverständnis« darüber, dass auf der BPO-Versammlung am 4. Juli trotz vorheriger Instruktion die Genossen kaum diskutiert hätten und »erst nach mehrfacher Auf‌forderung« lediglich »oberflächliche Diskussionen« zustande gekommen seien. Wiederum musste das MfS die Kritik eines großen Teils der Wissenschaftler zur Kenntnis nehmen, wonach »jede Forschung und Entwicklung« folglich »ein gewisses Risiko in sich« berge. Hartwig* werde als ein Mensch eingeschätzt, »der das Risiko nicht scheute«. Seine »vollautomatisierte Verschließstrecke« sei »zum damaligen Zeitpunkt einmalig« gewesen«. Sie soll weder in den USA noch in der Bundesrepublik und in Japan auf ihre Art vorhanden gewesen sein. »Wenn er das Projekt in Angriff nimmt, das Risiko auf sich nimmt«, sagte man, sei »das nicht Mut?« Sei »es da noch gerechtfertigt, oder noch vertretbar, dass wir noch mit ›Risiko‹ entwickeln?«793 Mit Terminvorschlag 13. Juli beschloss das MfS den Ausbau der Maßnahme »B« im ehemaligen Arbeitszimmer Hartmanns. Den Zugriff auf Unterlagen sah es nach Absprache mit dem amtierenden Leiter als gesichert an. Der erlaubte den Mitarbeitern des MfS und damit auch Hanisch den Zugriff auf die Unterlagen Hartmanns.794 Am 15. Juli nahm Hartmann seine Tätigkeit als »Sonderbeauftragter des Generaldirektors der VVB« im Siliziumwerk VEB Spurenmetalle Freiberg / Sa. (SMF) auf. Dort wurde er nur subaltern tätig, immerhin aber machte die Aufgabe der Darstellung einer »Korrelation zwischen Basismaterial und elektronischen Bauelementen« zumindest theoretisch Sinn. Am selben Tag führte die Abteilung XVIII/2 der BV Dresden mit dem Leiter der KD Freiberg und einem Offizier der Abteilung 8 der HA  XVIII Instruktionsgespräche zu den Hintergründen der Ablösung und Versetzung Hartmanns.795 Der Leiter der BV Dresden, Generalmajor Markert, schrieb am 17. Juli an den Leiter der BV Karl-Marx-Stadt Gehlert, dass Hartmann »wegen umfangreicher Sabotageverbrechen« seiner Funktion enthoben worden sei und sein »weiterer Einsatz« nun im VEB SMF erfolge. Markert bat, dass »die KD Freiberg in Abstimmung mit der Abteilung XVIII der BV Dresden entsprechende Sicherungsmaßnahmen am neuen Arbeitsplatz« Hartmanns einleite.796 Eine weitere Information des MfS zum Geschehen in der AMD stammt vom 18. Juli. Demnach sei die Abberufung Hartmanns am 11. Juli durch den General­ direktor der VVB BuV erfolgt. Disziplinarmaßnahmen seien gegen den Leiter der wissenschaftlich-technischen Leitstelle, den Bereichsleiter Ökonomie und den Ab793 BV Dresden, Abt. XVIII, vom 9.7.1974: Information über Maßnahmen; ebd., Bd. 3, Bl. 153–155. 794  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 12.7.1974: Konzeption zum Ausbau der Maßnahme »B«; ebd., Bd. 5, Bl. 316–318, hier 316. 795  BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 15.7.1974: Absprachenotiz; ebd., Bl. 319. 796  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 17.7.1974: Kontroll- und Absicherungsmaßnahmen; ebd., Bd. 47, Bl. 34.

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teilungsleiter Patentwesen erfolgt. Die Umsetzung der Kaderleiterin werde zurzeit vorbereitet. Einer der Funktionsträger drohte Suizid an wegen der Drohung entlassen zu werden. Er hatte davon erfahren (das MfS sprach von einem Informationsleck).797 Am 19. Juli führte das MfS mit dem Betriebsdirektor des VEB SMF in dessen Dienstzimmer eine Aussprache zu Hartmann durch. Der Wechsel nach Freiberg war dort mit dem Fall Hartwig* begründet worden. Hartmann werde »als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Betriebsdirektors eingesetzt, verantwortlich für die Verbesserung der Qualität der Si-Scheiben im Zusammenhang mit dem Einbau in Festkörperschaltkreise«. Der Betriebsdirektor wusste, dass Hartmann den Direktor für Forschung und Entwicklung aus der Zeit des Einsatzes in der Sowjetunion persönlich kannte. Der Betriebsdirektor vertrat die Meinung, dass Hartmann »vom alten Schlage« sei und nicht imstande gewesen sei, 1 000 Beschäftige zu leiten.798 Ein Papier des MfS vom 11. November beinhaltet Konsequenzen im Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen Hartwig*. Die Höchststrafe gegen ihn sei wegen »umfassender Bewertung der begünstigenden Umstände in AMD und durch die VVB BuV« nicht realisiert, sondern (nur!) auf 15 Jahre Freiheitsentzug festgelegt worden. »Von den vom Minister« für Elektrotechnik / Elektronik »beauftragten Prozessbeobachtern« waren »am 24. Juni 1974 in Auswertung des Strafverfahrens folgende Maßnahmen vorgeschlagen« worden: »Fristlose Abberufung des Leiters der AMD, Professor Hartmann, von seiner Funktion aufgrund der durch das Gericht zweifelsfrei festgestellten schwerwiegenden Pflichtverletzungen.« Andere Leiter, die die Sabotagehandlungen begünstigt hätten, sollten gleichfalls zur Verantwortung gezogen werden. Und »gegen die Leiter der VVB BuV, die die schwerwiegenden Pflichtverletzungen jahrelang geduldet bzw. begünstigt haben«, sollten »Erziehungsmaßnahmen« eingeleitet werden. Der Vorschlag wurde umgesetzt: »In Realisierung der Prozessauswertung erfolgte die fristlose Abberufung von Professor Hartmann durch den Generaldirektor der VVB, die sofortige Funktionsentbindung der Kaderleiterin der AMD und die Entbindung des Direktors für F / E der VVB, Gen[osse] Fuhrmann, von seiner Funktion.« Zudem wurden zwei Mitarbeiter der AMD entlassen.799 Hartmann fasste am 27. Juli erste Erkenntnisse zur Problematik der Si-Scheiben-Herstellung zusammen. Er stellte zunächst dar, dass die »Herstellung bauelementegerechter Siliziumscheiben und ihre stabile Fertigung über längere Zeiträume« notwendig »mit der Fertigung der Bauelemente selbst sehr verwandt« sei. Dies liege daran, dass die Eigenschaften der Si-Scheiben »nicht ausreichend beschrieben werden« könnten, besonders sei zu beachten, dass sich die physikalischen Parameter mit der »Durchführung des technologischen Prozesses laufend verändern« würden. 797  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII, vom 18.7.1974: Information zur Auswertung des Prozesses; ebd., Bd. 3, Bl. 156 f. 798  Dienststelle Freiberg vom 19.7.1974: Aussprachebericht; ebd., Bd. 47, Bl. 35 f., hier 35. 799 BV Dresden vom 11.11.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM  4885/90, Teil  II, Bd. 3, Bl. 260–262, hier 261.

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Letztlich sei man auf statistische Aussagen angewiesen. Dieser erste einer Präambel gleichkommende Punkt steht weiteren sechs Punkten vor, die die Organisationsstruktur und das Management der Scheibenherstellung betrafen.800 Wenige Tage später, am 31. Juli, folgten u. a. Vorschläge zu einer zu schaffenden Arbeitsgruppe »Si-Qualität«.801 Indessen arbeitete Hanisch am Fall Hartwig* (OV »Automat«) unvermindert weiter. Das MfS registrierte allein im Juli 16 Treffs. An diesen nahmen Lonitz, Seiler, Gesang und Schmidtke teil. Schwerpunkte der Treffgespräche waren u. a. die Analyse von Argumentationen und Meinungsbildungen sowie Sympathiekundgebungen, die »operative Sicherung der Anlaufphase der neuen Leitung«, die »Beschaffung und Auswertung des durch die Abberufung« Hartmanns »zugänglichen Materials, seine Leitungstätigkeit betreffend« sowie die »Beratung und Mitwirkung in Form der Analysierung des vorhandenen Gutachtens zum OV ›Entwicklung‹«. Die gutachterliche Tätigkeit hinsichtlich der Bearbeitung war damit definitiv beendet.802 Am 6. August monierte Hartmann die fehlende Ordnung und Sauberkeit für den Prozess der Herstellung von Si-Scheiben. Er sah den Mangel vor allem auch in der Mentalität der Beschäftigten und forderte entsprechende Schulungen für sie.803 Plötzlich erreichte das ZK der SED ein anonymes Schreiben, es trug das Datum vom 10. August: »Genossen, sehr schlechte Berater habt ihr. Wenn ihr wüsstet was die Berater mit dem Absägen vom Professor angerichtet haben, dann würdet Ihr die rausschmeißen.« Und weiter: »Am Ende seiner Zeit habt Ihr nichts weiter für ihn als einen Tritt in den Hintern. Das im ersten Staat der Werktätigen. Das ist ein böses Beispiel. Die Arbeitsmoral sinkt.« Ferner: »Und alle reden nur hinter vorgehaltener Hand. Soweit sind wir gekommen.«804 Bald lagen drei an das ZK der SED gerichtete anonyme Schreiben vor. Darin wurde u. a. die Ablösung Hartmanns als ungerecht dargestellt. Das MfS begann am 19. August mit der systematischen Fahndung und formuliert erste Schritte. Es empfahl, den »Täterkreis von der Altersgruppe 45 bis 50 Jahre an aufwärts zu suchen«. Die IM-Netze wurden entsprechend instruiert.805 Der IM »Richter« informierte das MfS am 22. August, dass der größere Teil der Belegschaft dazu neige, »Hartmann zu bedauern und ihn zum Märtyrer« stempele. Der Zustand, den der IM »Richter« wiedergab, so das MfS, zeuge von einer hohen

800  VEB SMF, Hartmann, vom 27.7.1974 (Notiz Ha 1/74): Vorstellungen zur Herstellung von Si-Scheiben; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 38 f. 801  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 31.7.1974 (Notiz Ha 2/74): Kriterien der AG »Si-Qualität«; ebd., Bl. 40 f. 802  BV Dresden vom 20.8.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 3, Bl. 125 f. 803  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 6.8.1974 (Notiz Ha 3/74): Sauberkeit und Ordnung; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 50. 804  Schreiben vom 10.8.1974 an das ZK der SED; ebd., Bd. 14, nach Bl. 216. 805  BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 19.8.1974: Maßnahmeplan zur Durchführung von ersten Überprüfungen zur Feststellung anonymer Briefeschreiber; ebd., Bl. 138 f.

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Instabilität des Betriebsfriedens. Man erwarte, dass der Parteisekretär stärker seiner Verantwortung gerecht werde, doch komme von dem viel zu wenig.806 Schneider teilte Hartmann am 26. August zum Problem der Lieferung der Physikalischen Blätter mit, dass einzelne Nummern nach wie vor verschwänden. Er gehe nun dazu über, »jedes Mal die Absendung dieser Zeitschriften mit einer Postkarte oder einem Brief« vorher anzukündigen, »damit wir besser kontrollieren können. Aus der beigefügten Zusammenstellung meiner Sekretärin ist ersichtlich, wann jeweils die Zeitschriften des Jahrgangs 1974 an Dich in Heidelberg zum Versand gekommen sind.«807 Hartmann kritisierte am 1. September den technologischen Prozess zur Her­ stellung von Si-Scheiben und stellte ihn zur Diskussion. Ihm ging es um die genaue Einhaltung aller Teilschritte einschließlich der Fixierung jeder Änderung in den Prozessschritten selbst.808 Kafkaeskes Geschehen um das Haus von Hartmann Am 1. September 1974 hielt die Inoffizielle Mitarbeiterin des MfS »Ines Wagner« eine Geschichte fest, die eher in das Klischee von Schlapphutfilmen passte, denn vom militärischen Apparat des DDR-Geheimdienstes handelte. Demnach hatte sich Ende Mai bei ihr ein junger Mann vorgestellt, der seinen Dienstgrad nannte und seinen Ausweis vorzeigte, und vorgab, ein Haus mit Einliegergeschäft gegenüber beobachten zu wollen. Er bat, für einige Zeit einen »Genossen« in ihrem Wohnzimmer »zu postieren«. Zur Tarnung gegenüber den Nachbarn wurde verabredet, dass der Betreffende »ein Studienkollege« ihres Mannes sei. Dies wurde sowohl einer Nachbarin so gesagt, die ganztägig zu Hause war, als auch der eigenen siebenjährigen Tochter. »Ines Wagner« erklärte aber bald ihren Unmut über die Aktion, da es drei und nicht nur ein Genosse waren und sogar die Tochter feststellte, dass die drei Herren niemals lernten, sondern immer nur auf die Straße schauten. »Ich machte die Genossen darauf aufmerksam, aber es half nichts, obwohl mehrere Lehrbücher und Lehrbriefe griffbereit dastanden.« Einer der »Genossen« habe sogar seine Beobachtungsnotizen liegen lassen. »Ines Wagner« wurde also klar, wem die Beobachtung galt: nicht dem Geschäft, sondern Hartmann. Nach ihrem Urlaub aber »wussten wir gar nicht wie uns geschieht«. Sie und ihr Mann seien von Nachbarn der Spitzeldienste für das MfS bezichtigt worden. Sie seien plötzlich gemieden worden. Besagte Nachbarin meinte nun, dass sie »für dumm verkauft und regelrecht belogen« worden sei, sie wisse »genau, wer« aus der Wohnung heraus beobachtet worden sei. »Man« 806 BV Dresden, Abt. XVIII, vom 27.8.1974: Bericht von »Richter« am 22.8.1974; ebd., Bl. 164–166. 807  Schreiben von Schneider an Hartmann vom 26.8.1974; ebd., Bd. 25, Bl. 154–156, hier 154. 808  Vgl. SMF, Hartmann, vom 1.9.1974 (Notiz Ha 4/74): Technologische Prozesstreue; ebd., Bd. 47, Bl. 51 f.

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habe »ja sogar bei der Familie Hartmann eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Nachts.« Auch sei »einer in der Post gesessen und« habe »die Familie beobachtet«. »Ines Wagner« will bei »diesen Worten« regelrecht »platt« gewesen sein. Nun sei ihr »auch klar, dass einige aus dem Wohnviertel uns kaum noch beachten«. Es sei »auf einmal eine ungewöhnliche Atmosphäre entstanden« und sie seien »auf einmal die Leidtragenden an diesen Beobachtungen« Hartmanns geworden.809 Die Stellungnahme des Leiters des Referats 1 der Abteilung VIII Oertel quittierte sein Vorgesetzter Hachenberger handschriftlich mit: »etwas stimmt hier nicht! IM überprüfen! – wurde wohl damals unter Druck geworben; muss geklärt werden!« Ergänzend noch: »Ergebnis mir vorlegen«.810 Am 25. Mai war die Beobachtung Hartmanns von der »Operativ-Dienststelle« übernommen worden; ein »gedeckter Posten« musste geschaffen werden. Damit fiel die Wahl auf die Wohnung von »Ines Wagner«. Sie galt als zuverlässig und habe keine Bedenken geäußert. Lediglich die Einweihung ihres Ehemannes wollte sie. Ihr Mann aber wusste nicht, dass sie IM war. Der wurde dann konspirativ eingeweiht, in dem er Glauben gemacht wurde, dass der MfS-Offizier ein Volkspolizist sei (Beobachtung eines Lebensmittelladens, Einbruchdelikte). In dem vorbereitenden Gespräch des MfS mit »Ines Wagner« hatte diese schon vermutet, dass es sich um Hartmann handele.811 Sie ist nach ihrer schriftlichen Beschwerde beim MfS wegen Dekonspiration »abgelegt« worden. Ihr Mann legte ebenfalls eine »offizielle Beschwerde über Verhaltensweisen vermutlicher Mitarbeiter des MfS, BV  Dresden« ein. »Ines Wagner« sei von einer Nachbarin dergestalt angesprochen worden, dass man sich vor ihr und ihrer Familie in Acht nehmen müsse, da sie Verbindung zum MfS hätten. Diese Frau wisse überdies, dass das MfS zur Beobachtung Hartmanns in der Post eine zweite Beobachtungsstelle eingerichtet habe. Beide Beobachtungsposten seien die Grundlage dafür gewesen, um »in einer ›Nacht-und-Nebel-Aktion‹ die Wohnung« Hartmanns zu durchsuchen. Zum Leidwesen des MfS kam hinzu, dass der Privathandwerker Hartmanns, der Mann dieser Nachbarin war.812 Aus einem der anonymen Briefe, hier vom 2. September: »Genossen! Wenn man versucht, etwas dazu zu sagen, läuft man gegen eine kalte Mauer. Dabei denken die, die ihn kennen, alle wie ich, er war ein Beispiel von vorbildlichem Arbeitseinsatz, was er anfasste hatte Hand und Fuß. Er hat uns alle mitgerissen, er war Vorbild.« Ferner: »Sogar die Jungen sagen schon: Bloß nicht unermüdlich einsetzen, man sieht an dem Beispiel, wo man hinkommt. Diesen Fall müssen wir hoch bezahlen mit Unlust und Enttäuschung und Unsicherheit. Wer das verantwortet, kann nicht übersehen, was er angerichtet hat. Er müsste gefeuert werden. Über Unrecht kann ich mich sehr ärgern und besonders wenn es bei uns geschieht, denn gerade wir wollten das 809  Mitteilung von »Ines Wagner« vom 1.9.1974; ebd., Bl. 54 f. 810  Handschriftliches Notat von Offizier Hachenberger, in: BV Dresden, Abt. VIII/1, vom 9.9.1974: Stellungnahme zu dem Bericht von »Ines Wagner«; ebd., Bl. 56–58, hier 56. 811  BV Dresden, Abt. VIII/1, vom 9.9.1974: Zum Bericht von »Ines Wagner«; ebd., Bl. 56–58. 812  BV Dresden, Abt. XVIII / L , vom 23.9.1974: Dekonspiration einer operativen Maßnahme; ebd., Bl. 59 f.

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ja aus der Welt schaffen! Und dies ist ein besonderer Fall. […] Oder spielen etwa Recht oder Unrecht keine Rolle? Dann frage ich mich, was der ganze Sozialismus soll! Ihr macht es uns schwer. Überlegen soll man wohl nicht! Mir würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn das alles wieder besser wird.«813 Vom 3. September stammt eine Aufstellung des MfS zu Personen, von denen es annahm, dass jemand aus dieser 31-köpfigen Gruppe die Briefe an das ZK der SED geschrieben habe. Offenbar solche, von denen das MfS annahm, dass sie mit Hartmann sympathisierten, U. a.: Heinz Werner, Abteilungsleiter, »langjähriger guter Mitarbeiter von Professor H.«; Heinz Gerlach, »großer Verehrer von Professor H.«; Dieter Garte, Abteilungsleiter, »großer Verehrer von Professor H.«; Kurt Locke, »der erste und engste Mitarbeiter des Professor H. beim Aufbau der AMD«, aber auch Henning, der Parteisekretär.814 Tags darauf veranlasste die Abteilung XVIII/2 der BV Dresden weitere Maßnahmen zur Aufklärung des anonymen Briefeschreibers. In 150 Kaderakten wurden zu fünf Personen »personifizierte Verdachtsrichtungen herausgearbeitet«. Weitere Maßnahmen wurden veranlasst.815 Am 5. September erläuterte Hartmann nochmals den Zusammenhang zwischen dem HL-Material Silizium und dem Bauelement. Er legte Wert auf »statistisch gesicherte Aussagen über die gegenseitige Beeinflussung der physikalisch-chemischen Parameter und der technologischen Verfahren im Gesamtprozess vom Rohsilizium bis zum fertigen Bauelement zu suchen«. Hartmann plädierte mit Nachdruck dafür, bei Produktionseinbrüchen links und rechts der Verfahrenswege zu schauen, eine Breite in der Fehleranalyse sei notwendig, um den richtigen Weg herauszufinden. Er gab Hinweise zur »eindeutigen analytisch-diagnostischen Charakterisierung des Endprodukts Si-Scheibe« und zur Verbesserung der Ordnung und Sauberkeit hinsichtlich der Prozessgestaltung und -kontrolle.816 Am 9. September legte er ein vernichtendes Urteil über die Qualität der Si-Scheiben-Produktion vor. Demnach seien die Rückweisquoten derart hoch, sodass dies »nur den Schluss auf eine völlig unzureichende Sorgfalt und Disziplin in der Fertigung« zulasse. Hartmann erklärte sich bereit, hier helfend einzugreifen. Er plädierte – analog seines Vorschlages vom 1. September 1974 – nochmals für einen »Fehlerkatalog mit Kennzeichnung der Fehler«, um die Problematik besser kontrollier- und überprüfbar zu gestalten.817 Vom 14. September stammt ein Schreiben von Hanisch, das einem Wahnbild nahekommt. Das Schreiben richtete er »an das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik«, der Originalbrief ging an Offizier Lehmann am 17. September 1974. Darin sah er seine Arbeit als geboten und notwendig an, räumte aber ein: »Die Mitarbeit an der Aufklärung und Beweisführung zu den 813  Schreiben vom 2.9.1974 an das ZK der SED; ebd., Bd. 14, Bl. 216. 814  Namensliste vom 3.9.1974 zu Verdächtigen; ebd., Bl. 162 f. 815  BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 4.9.1974: Maßnahmen zum operativen Material »anonymer Briefeschreiber« in der AMD; ebd., Bl. 140 f., hier 140. 816  VEB SMF, Hartmann, vom 5.9.1974 (Notiz Ha 5/74): Zum Zusammenhang von Halbleitermaterial und Bauelement; ebd., Bd. 47, Bl. 84 f. 817  VEB SMF, Hartmann, vom 9.9.1974 (Notiz Ha 6/74): Qualitätslage; ebd., Bl. 83.

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Verbrechen des Dr. Hartwig* hat mir hinlänglich die Schwere und Kompliziertheit dieser Arbeit gezeigt. Ich bin mir daher voll bewusst, dass eine Vielzahl der in meinen Gedanken enthaltenen oftmals schwerwiegenden Anschuldigungen einer exakten Beweisführung noch nicht standhalten und aufgrund der bisher aufgewendeten Arbeit noch nicht standhalten können.«818 Nicht dass Hanisch Gewissensbisse gehabt hätte, ihm war der Aufwand vielmehr noch zu gering, da er, was Hartmann anlangte, noch weiter greifen müsse als bislang. Er vermute eine Art von Verschwörung: »Die Summe der Vorkommnisse« deute »auf ein gut organisiertes, zzt. noch perfekt funktionierendes System« hin. An der Spitze der Verschwörung sehe er Frühauf, Stanek (DAMW), Rompe und Auth. Und zu Hartmann: »Eine umfangreiche, schon sehr detaillierte Analyse der Handlungen von Professor Hartmann in dieser« Aufbauphase bis 1965 habe ihn »zu der festen Überzeugung« kommen lassen, dass Hartmann »diese Anfangsverzögerung« verursacht habe, »die Grundlage für einen Entwicklungsrückstand von acht bis zehn Jahren wurde und uns von vornherein den Nachentwicklungszwang« gebracht habe. Hartmann habe dies »in vollem Wissen um bessere, schnellere Möglichkeiten in der DDR bewusst herbeigeführt«. Zudem unterstreiche die »jahrelange Duldung und Deckung der Verbrechen des Dr. Hartwig* durch Professor Hartmann« seine »gewonnene feste Überzeugung«. Der Text ist auf den letzten Seiten deutlich fahrig (viele Durchstreichungen, Einfügungen). »Für eine weitere klärende Aussprache wäre ich sehr dankbar.« Das Schreiben existiert zudem in einer leicht geänderten maschinenschriftlichen, verstärkt appellativ geschriebenen Form und endet deutlich anders: »Ich wiederhole hier meine in Berlin anlässlich unserer Auszeichnung dem Minister gegenüber ausgesprochene vorbehaltslose Bereitschaft zur weiteren Mitarbeit an dieser Problematik.«819 Hanisch ist also für seine Dienste gegen Hartmann persönlich von Mielke ausgezeichnet worden. Ein weiteres Indiz, dass die Angelegenheit »Hartmann« wohl Chefsache von Günter Mittag war. Eine handschriftliche, prägnante Zusammenfassung von Hartmann belastenden Faktoren datiert vom 15. September. Basis dieser Dokumentation sind die Vernehmungsprotokolle vom Mai 1974 zu Hartwig* sowie andere dem Autor (vermutlich Hanisch) zugänglich gemachte Materialien von Gerichtsakten bis hin zu Tagebuchaufzeichnungen auch Dritter. Die einzelnen Angaben erfolgten mit Datum und Seitenangabe. Sie tragen systematischen Charakter in der Weise »Art der Belastung – Beweismittel«. Interessant ist ein Hinweis auf den »Einfluss des Verhältnisses des H. zu Dr. Apel auf negative Handlungen des H. dazu: Untersuchungsunterlagen zum Selbstmord des Dr. Apel«.820 Sie sind nicht tradiert. 818  Schreiben von Hanisch an das MfS vom 14.9.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 105–109, hier 105 f. 819  Ebd., Bl. 106, 108 f. u. 114. 820 Ohne Angabe des Autors, Zusammenfassung vom 15.9.1974: Belastungspunkte gegen Hartmann aus dessen Tätigkeit in der AMD; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 13, Bl. 1–13, hier 13.

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Mit Datum vom 19. September gab Hanisch im Auftrag des MfS eine »Kurzfassung von Komplexen, bei denen ein schuldhaftes Verhalten« Hartmanns als gegeben angesehen werden müsse. Im Originalton Hanischs: »Es liegen unverantwortlicher Umgang mit Volkseigentum und eklatante Pflichtverletzungen als verantwortlicher Leiter durch Professor Hartmann vor.«821 Die verkürzte Form der Hanisch-Apologie, wonach Hartmann »einer klaren, gegen die Mikroelektronik der DDR gerichteten Konzeption« gefolgt sei, lautete »in der Reihenfolge: Verzögerung des Entwicklungsbeginns in der DDR und Schaffung des Nachlauf- und Nachentwicklungszwanges bei Schaffung der 1:1-Äquivalenz zu Texas Instruments. Verzögerung und Negierung entscheidender Entwicklungsthemen und -ergebnisse. Verzögerung der eigenen Projektierung der Versuchsfertigung der AMD durch Orientierung auf eine NSW-Projektierung (bfi) bei gleichzeitiger umfassender Offen­barung der DDR-Konzeption und vorhandener Schwierigkeiten. Schaffung des Zwanges zur Projektionsaufnahme (Folge der Verzögerungen und Negierungen) mit unausgereiften Verfahren und Ausrüstungen bei hoher Unwirtschaftlichkeit. Zu beachten sind die jetzt einsetzenden Patentanmeldungen von Texas Instruments in der DDR für exportinteressante FKS-Typen!«822 Am 30. September notierte das MfS, dass der IM »Rüdiger«, also Hanisch, weiter mit operativer Arbeit befasst sein werde; Zitat: »wurde der Einsatz des IMV ›Rüdiger‹ nicht beendet, sondern gegenüber dem staatlichen Leiter der AMD zeitlich verlängert und so legendiert, dass der IMV gutachterliche Untersuchungen zu Folgeschäden zu den Strafrechtsverletzungen des Dr. Hartwig* durchführt. Eine solche Verlängerung der gutachterlichen Tätigkeit« sei bereits »durch den staatlichen Leiter der AMD, Gen[osse] Kempe, befürwortet« worden. Die Zusammenkünfte fänden weiterhin in der AMD statt, ein Transport der Unterlagen würde »erhebliche Gefahrenmomente beinhalten«. Man war sich also des nichtgesetzlichen Tuns dieser »Arbeit im Betrieb« durchaus bewusst! Die Tätigkeit Hanischs im Rahmen der Prozessführung sei in der AMD bekannt, stelle also keine Dekonspiration dar.823 Laut einer Konzeption zur weiteren Bearbeitung des OV »Molekül« vom 15. Oktober soll durch den Abschluss des OV »Automat« nachgewiesen worden sein, dass Hartmann »entscheidende Fehlleistungen in der Leitungstätigkeit« zu verantworten habe. Allerdings fehle sein Eingeständnis. »Trotz intensiver und vielseitiger operativer Maßnahmen« konnte jedoch »ein direkter Beweis dafür nicht erbracht werden«. Man plane deshalb »als eine Version« seine »konspirative Festnahme und Vernehmung.« Das vorhandene Material sollte bei »Durchführung einer solchen Version geschickt genutzt und unter Wahrung der Konspiration vorgehalten werden.« Im Kern lief dies stets darauf hinaus, dem »Angeklagten« im Rahmen einer zu schaffenden (auch räumlichen) Stresssituation ein Schuldanerkenntnis abzupressen als 821  AMD, Hanisch, vom 19.9.1974: Kurzfassung von Komplexen, bei denen ein schuldhaftes Verhalten Hartmanns vorliegt; ebd., Bd. 4, Bl. 31–41, hier 35 sowie ebd., Bd. 23, Bl. 281–290. 822  Ebd., Bd. 4, Bl. 41. 823  BV Dresden vom 30.9.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 3, Bl. 226.

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Gegenleistung für eine in Aussicht gestellte geringere Strafe. Zur Vorbereitung dieser Version zählte u. a. die Analytik des vorhandenen Materials durch die HA XVIII/8 und Abteilung  XVIII der BV Dresden in Richtung der Paragrafen  97, 104 und 165 StGB sowie der »Einsatz von Experten zur Aufbereitung und gutachterlichen Vervollständigung des Materials nach Paragraf 165 StGB zu den Sachverhalten Wasserstoffexplosion, Umgang mit Prämienmitteln, Deckung materieller Schäden, Fehlentscheidungen ›Gatterläppen‹, ›Rundbeizen‹, Behinderung fach- und sachkundiger Informationen.« Das MfS berechnete eine Schadenssumme von 900 000 Mark, für die Hartmann »verantwortlich gemacht werden« könnte.824 Indes legte Hartmann am 8. Oktober einen weiteren Vorschlag zur Verbesserung der Qualitätslage vor. Deutlich monierte er die nicht ausreichende Beachtung des Zusammenhangs von physikalischen Parametern bei der Halbleiter-Herstellung und den künftigen Bauelementen und machte konkrete Vorschläge. Wieder eröffnet er hierzu praktikable organisatorische Vorschläge betriebswirtschaftlicher Art, verlangte aber auch Investitionen.825 Am 18. Oktober wurde eine operative Maßnahme für die Herbeiführung des OV-Abschlusses gegen Hartmann (Entscheidungsfindung) – auch in Hinblick auf seine bevorstehende Berentung – eingeleitet, da die Vermutung bestand, er könne einen Antrag auf Übersiedlung in die BRD stellen. In dieser Konzeption ist – analog der vom 15. Oktober – festgehalten worden, dass ein Ermittlungsverfahren mit Haft faktenmäßig nicht begründet werden könne. Ziel sei es deshalb, Hartmann mittels einer »operativen Kombination« in ein konspiratives Objekt zuzuführen. Dort würde er dazu gebracht werden, sich zu seinen Verbrechen bekennen zu müssen. Das Vorgehen sollte folgendermaßen aussehen: Abstimmung der Grundkonzeption zwischen der HA XVIII/8, HA IX / OfS und der Abteilung XVIII der BV Dresden. Die detaillierte Faktensammlung zum Komplex Hartmann sollte in einem zweiten Schritt mit der HA IX abgestimmt und dann zu einem sogenannten Befragungsplan »zur unmittelbaren Führung des Gespräches« gestaltet werden. Die Planspiele wurden unter der Möglichkeit eines Teilgeständnisses sowie einer Leugnung durchexerziert. Das MfS plante das Verhör zu folgenden Punkten: Nachweis der »feindlichen Grundeinstellung«, Verdacht auf Spionage für den BND und / oder den US-Geheimdienst sowie Verdacht des Vertrauensmissbrauches. Die Verdachtsaspekte hinsichtlich einer möglichen Spionage waren äußerst dünn. Es waren die alten Verbindungen zu Hans Schneider, Erwin Müller (USA) und Heinz Barwich.826 Just an diesem Tag stellte Hartmann den Stand der technologischen Unterlagen im Freiberger Werk dar, eine

824  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 15.10.1974: Konzeption; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 3, Bl. 158–161. 825  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 8.10.1974 (Notiz Ha 8/74): Betriebswirtschaftliche Aspekte im Zusammenhang mit der Beherrschung der Silizium-Herstellung; ebd., Bd. 47, Bl. 86 f. 826  HA XVIII/8, HA IX / OfS, vom 18.10.1974: Grundkonzeption zur Durchführung einer operativen Maßnahme; ebd., Bd. 4, Bl. 71–76. Laut Renée Hartmann in einer Villa in der Bautzener Straße, unweit der BV Dresden. An den Verf. am 18.1.2013.

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Arbeit, die organisatorischen Charakter trug und der Frage nachging, inwieweit die technologischen Schritte überhaupt ordnungsgemäß, kontrolliert und verifizierbar abliefen. Eine Arbeit, die ein Spion und Saboteur niemals machen hätte dürfen,827 da es hier um die Aufdeckung von Unzulänglichkeiten, Fehlern, Versäumnissen und Mängellagen ging. Zwei Tage später unterbreitete er zudem Vorschläge zur Erhöhung der Effektivität der Si-Scheiben-Fertigung.828 Schließlich lieferte er am 23. Oktober nochmals in gleicher Sache Hinweise zu technologischen Verbesserungen ab.829 Und am 15. November folgten Vorschläge zu effektiveren Messverfahren für geometrische Parameter der Si-Scheiben.830 Während Hartmann an Verbesserungen der Si-Scheibenherstellung arbeitete, traf sich Hanisch mit MfS-Mitarbeitern zur Sabotage-Bekämpfung. Am 15. November registrierte die BV Dresden weitere sechs Treffs mit ihm vom 1. Oktober an. Alle zehn gegebenen Berichte bezogen sich auf die Arbeit zu Hartmann.831 Und er lieferte ständig nach, so am 26. November, als ihm bekannt wurde, dass »die bisher aufbewahrten Scheiben der Festkörperschaltkreisserie D230X« tags zuvor »verschrottet« worden sind (sogenannte Sperrlagerausschuss-Scheiben). Hanisch: »Der dabei entstandene volkswirtschaftliche Schaden« betrage hochgerechnet drei Millionen Mark. Das MfS leitete sofort Prüfungen ein.832 Einmal mehr unternahm Hartmann am 19. November Schritte, die Missstände in den technologischen Prozessen insgesamt, also nicht nur in Freiberg, abzustellen. Hierzu schrieb er Lungershausen direkt an. Das Schreiben deklarierte er zunächst als »nur persönlich«. Es ging ihm dabei um erhebliche Missstände in der elektronischen Industrie, »die zum größten Teil bedeutenden volkswirtschaftlichen Schaden« zeitigen würden, »weil elementare Spezifika der physikalischen Industrie der Halbleitertechnik / Mikroelektronik im Sinne der AMD-Konzeption nicht erkannt oder beachtet« worden seien. Er nannte fünf Komplexe, die alles andere als optimal liefen, beispielsweise »im VEB HWFO im Juli 1972 im Zyklus  II« anlässlich der »Fertigung der FKS-Reihe D 1« und »die Schwierigkeiten« im KFWE »1973 in der Fertigung der MOS-FKS«. Er forderte »eine Früherkennung latenter Fehlkonzeptionen« und schlug vor, ihn im Vorfeld der industriellen Konzeptionen zu beauftragen, die jeweiligen Institutionen und Betriebe zu beraten. »Technologie und Technik der physikalischen Industrie« seien »heute zu kompliziert, als dass 827  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 18.10.1974 (Notiz Ha 9/74): Stand der technologischen Unterlagen; ebd., Bd. 47, Bl. 88–90. 828  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 20.10.1974 (Notiz Ha 10/74): Vorschläge zur Erhöhung der Effektivität der Si-Scheiben-Fertigung; ebd., Bl. 91 f. 829  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 23.10.1974 (Notiz Ha 11/74): Vorschläge zur Verbesserung der Si-Scheiben-Fertigung; ebd., Bl. 93. 830  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 15.11.1974 (Notiz Ha 12/74): Vorschläge zur Erhöhung der Effektivität der Si-Scheiben-Fertigung; ebd., Bl. 94. 831  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.11.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 3, Bl. 269. 832  BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 3.12.1974; ebd., Bl. 299.

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man es sich erlauben könnte, erst schwimmen zu lernen, nachdem man bereits in das Wasser gefallen ist.«833 Am 1. Dezember legte Hartmann allgemeine Anforderungen an die Halbleitertechnologie vor. »Die Physik der Halbleiter«, so Hartmann, sei »durch den entscheidenden und großen Einfluss von strukturellen und chemischen Störungen« gekennzeichnet. Er gab für den Fehlervermeidungsprozess hierfür die grundsätzliche Konzeption vor, in dessen Mittelpunkt die konsequente Ausschaltung einer jeden halbleiterphysikalisch möglichen Störung zu liegen habe. Er nannte dies auch die vielen »kleinen« Maßnahmen, die in ihrer Gesamtwirkung erst den Erfolg ausmachten. Auch hob er abermals die Bedeutung der notwendigen Schulung und Erziehung der Arbeitskräfte für die grundlegende Prozessbeherrschung hervor.834 Tags darauf folgten Vorschläge zur Scheibenreinigung nach dem Teilschrittkomplex »Polieren«.835 Am 5. Dezember lieferte er Abfassungen zu Arbeitsvorschriften und Fertigungs- und Prüfungsanweisungen.836 Seine Darstellungen sind Ausweis hoher Kennerschaft von Prozessabläufen betriebswirtschaftlicher und technologischer Natur, die in klarer Diktion analytische Problemerfassungen lieferten. Weitere betriebswirtschaftliche Berechnungen standen in einer Ausarbeitung vom 9. Dezember im Mittelpunkt seiner Vorschläge.837 Indes recherchierte Hanisch, dass Hartmann zwischen 1971 und 1974 lediglich an sechs von 17 Sitzungen der Gruppe Physik des Forschungsrates der DDR teilgenommen habe.838 Das war jedoch zu verifizieren, da man diese Angaben zur Vernehmung Hartmanns benötigte. Also landete der Auftrag bei Fritz Hilbert vom Forschungsrat. Der informierte am 11. Dezember den stellvertretenden Minister des MWT, Herbert Weiz. Die Information war als »zur persönlichen Information« und mit »Streng vertraulich« gestempelt. In ihr heißt es, dass »wegen dauernder Inakti­ vität« Hartmanns und »trotz mehrfacher Aufforderung zur Mitarbeit« ursprünglich vorgesehen war, ihn »1969 nicht wieder zu berufen«. Wegen der »volkswirtschaftlichen Bedeutung« der Arbeitsstelle habe man davon Abstand genommen. Eine Aussprache zur Frage eines aktiveren Mitarbeitens fand 1970 in der AMD statt, an der auch Hilbert teilgenommen hatte. Trotz der Zusage Hartmanns war jedoch nur ein »kurzzeitiger Erfolg« zu verzeichnen. Auch fand ein Gespräch von Hilbert mit 833  Schreiben von Hartmann an Lungershausen vom 19.11.1973; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 10, Bl. 111 f. 834  VEB SMF, Hartmann, vom 1.12.1974 (Notiz Ha 14/74): Allgemeine Anforderungen an Halbleitertechnologien; ebd., Bd. 47, Bl. 95 f. 835  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 2.12.1974 (Notiz Ha  15/74): Scheibenreinigung nach Teilschrittkomplex »Polieren«; ebd., Bl. 97 f. 836  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 5.12.1974 (Notiz Ha 16/74): Abfassung von Arbeitsvorschriften / Fertigungs- und Prüfanweisungen; ebd., Bl. 99–101. 837  Vgl. VEB SMF, Hartmann, vom 9.12.1974 (Notiz Ha  17/74): Herstellung von Mindermengen von Si-Scheiben; ebd., Bl. 102 f. 838  Vgl. Konzeption zur Befragung (vermutlich Ende 1974 bis Anfang 1975); ebd., Bd. 4, Bl. 85–112, hier  109. Gleichlautend in einem Konvolut von Argumenten gegen Hartmann, in: ebd., Bd. 12, Bl. 4.

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Hartmann »mit dem Ziel« statt, »die Mitarbeit der DDR am Interkosmos-Programm dadurch zu unterstützen, dass neue elektronische Bauelemente hoher Funktionstüchtigkeit […] den DDR-Wissenschaftler-Kollektiven« in Berlin für ihr Interkosmos-Programm zur Verfügung gestellt würden. »Derartige Kontakte« würden bereits »im begrenzten Umfange auf Initiative der Interkosmos-Arbeitsgruppe« der Akademie mit Schmelovsky (Kap. 4.2) praktiziert werden.839 Am 16. Dezember erhielt Steenbeck Audienz bei Weiz. Sein Ziel, Hintergründe der Abberufung Hartmanns zu erfahren, er wolle ihm helfen, wenigstens fachlich wieder adäquat arbeiten zu können. An dem dreistündigen Gespräch im Arbeitszimmer von Weiz war auf Wunsch von Weiz auch OibE Horst Fischer beteiligt, der diesen Bericht überlieferte. Das Gespräch dauerte von 16.00 bis 19.15  Uhr. Hartmann hatte sich zuvor an Steenbeck gewandt mit der Bitte um Aufklärung bezüglich seiner Abberufung, »die er nicht verstehe«. Steenbeck soll gegenüber Weiz gesagt haben, dass er Hartmann helfen und prüfen wolle, »ob ihm nicht Unrecht geschehen sei«. Weiz will Steenbeck umfassend über Hartmann informiert haben. Steenbeck soll angeblich derart beeindruckt gewesen sein, dass ihm klar geworden sei, dass Hartmann als Leiter ungeeignet sei und er hoffe, dass er »sein Vergehen durch gute Arbeit als Wissenschaftler (nicht als Leiter) wieder gut« machen dürfe. Bemerkenswert ist, dass Weiz Steenbeck davon abzuhalten versuchte, Hartmann über das Gespräch zu informieren, ihm ein solches Gespräch sogar ausdrücklich verbot. Darauf aber, so Fischer, habe sich Steenbeck nicht eingelassen. Steenbeck soll geäußert haben, dass er »es für seine Pflicht« halte, »dem Hartmann ein paar Wahrheiten zu sagen und ihm in dieser Situation den Weg zu weisen«.840 Weiz wusste natürlich, dass die Lügen, vor Hartmann vorgetragen, zerplatzen würden. Es muss angenommen werden, dass Steenbeck das Redeverbot doch beachtete. Das neue Jahr wird durch drei Grundtöne beherrscht sein: 1. Hartmann wurde zur Passivität verurteilt. Ein Jahr nach seiner Zwangsversetzung nach Freiberg beklagte er sich noch immer, dass ihm keine neue, anspruchsvolle Aufgabe übertragen worden sei.841 Er saß hier, zumindest zeitweise, mit einem Parteifunktionär842 zusammen.843 2. Die SED »eroberte« die AMD. Im Februar konstatierte das MfS, dass infolge der Entfernung Hartmanns nun eine »offenere, parteilichere kämpferische Atmosphäre« zu verzeichnen sei. Auch werde endlich die Durchsetzung der führenden Rolle der Partei sichtbar. 3. Die AMD bewegte sich in ihrer Ausrichtung weg von der Entwicklung hin zur Produktion. Bei drei erfolgreich bilanzierten und referierten Planpositionen fällt auf, dass sie alle nichts mit dem Primat der Technologie (Zyklus 1) zu tun hatten, sondern Dienstleistungsaufgaben für die Sowjetunion 839  Schreiben von Hilbert an Weiz vom 11.12.1974; ebd., Bd. 12, Bl. 74–77, hier 74 f. 840  Information über ein Gespräch von Weiz mit Steenbeck am 16.12.1974; ebd., Bl. 78 f. 841 Vgl. HA XVIII/8/3 vom 17.9.1975 über eine Aussprache mit Hartmann; ebd., Bd. 4, Bl. 182–184, hier 182. 842  Werner Rades, Mitglied der Zentralen Parteileitung. Dienststelle Freiberg vom 30.6.1975: Bericht von »Glomp«; ebd., Bd. 47, Bl. 188. 843  Vgl. Dieckmann: Vernichtung eines Unpolitischen, S. 170.

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Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie

(Uhrenindustrie) sowie Aufgaben hinsichtlich der Fließstraßen im Zyklus 2 und Rechnerschaltkreise betrafen.844 Diese drei Grundtöne sollten auch das folgende Jahr noch bestimmen. Hinter diesen aber kam ein vierter Ton ins Geschehen, der Versuch des MfS nämlich, Hartmann endgültig zu brechen, tief in seiner Seele zu verletzen. Das Regime wird sich in diesem Jahr auf perfide, hässliche und niedrige Weise an ihm rächen. Ihm genügte es nicht, ihn nur entfernt zu haben. Dabei hatte Hartmann von der Gefahr gewusst, würde er einst erfolgreich sein. Er notierte es später in seinem »Museum«: »Dabei hätte es mir klar sein sollen, was mich erwartete. Professor Recknagel sagte mir einst: ›Sie gehen ein großes Risiko ein, wenn auch nur eine Kleinigkeit schief geht, werden Sie gefeuert und andere kommen, um zu ernten.‹«845 Prämien [Mark]

Industrielle Warenproduktion (IWP) [Mark]

Nettogewinn [Mark]







17 000





659 000

13 000





1964

2 729 000

19 000





1965

4 105 000

134 000





1966

4 977 000

176 000





1967

11 594 000

162 000





1968

16 750 000

722 000





1969

58 767 000

608 000





1970

44 094 000

642 000





1971

37 203 000

796 000





1972

29 051 000

837 000

12 122 000

4 743 000

1973

18 324 000

954 000

29 833 000

12 415 000

1974

24 206 000

1 106 000

22 799 000

9 587 000

1975

20 639 000

1 138 000

24 325 000

9 496 000

274 147 000

7 324 000

89 079 000

36 241 000

Jahr

Finanzieller Aufwand [Mark]

1961

32 000

1962

1 017 000

1963

Summe

Tabelle 5: Betriebswirtschaftliche Daten der AME / A MD, 1961 bis 1975846

844  HA XVIII/8/3 vom 19.2.1975: Gegenwärtige Situation in der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 77–79. 845  TSD; Nachlass Hartmann, G 25. 846  AMD, Notiz H  7/76  – Su / L i vom 28.1.1976; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 39, Bl. 145.

Der Visionär oder die Entwicklung der Mikroelektronik

575

Die Abteilung XVIII/1 der BV Dresden informierte den Leiter der HA XVIII – über den Leiter der Abteilung 8 der HA XVIII – am 7. Februar über den Fahndungserfolg betreffs des anonymen Briefeschreibers an das ZK der SED. Danach hätten Speicheluntersuchungen und Schriftenvergleiche eine eindeutige Aussage erbracht. Es war Renée Hartmann, die dies ohne Wissen ihres Mannes tat. Die Nachweisführung ist in einem Gutachten der Abteilung 32 dokumentiert. Erste Einschätzungen der für die Strafverfolgung zuständigen HA IX gingen dahin, dass keine strafbare Handlung vorliege.847 Ein erster Untersuchungsbericht der Technischen Untersuchungsstelle des MfS in Berlin stammte bereits vom 9. Oktober 1974, ein weiterer vom 24. Oktober sowie nach Aktenlage ein letzter vom 12. Mai 1975.848 Zwischen Steenbeck und Weiz fand am 19. Februar ein neuerliches Gespräch über Hartmanns Schicksal statt. Steenbeck hatte das Gespräch gewünscht und dafür plädiert, ihn auf dem Gebiet der Elektronik einzusetzen. Weiz habe entgegnet, dass er die ihm übertragene Aufgabe »nicht ausreichend erfülle«. Nach seiner Information wolle Lungershausen in circa zehn Tagen mit Hartmann über dessen Perspektive reden; Hartmann, so Lungershausen, möge die Aufgabe in Freiberg als »Bewährungssituation betrachten«. Steenbeck soll sein Einverständnis gegeben und mehrmals betont haben, »dass man Hartmann entsprechend seinen Fähigkeiten, aber nicht als Leiter einsetzen« möge. Weiz soll geäußert haben, dass laut Lungershausen in dem Einsatzgebiet Hartmanns bislang eine »Disziplinlosigkeit und Unordnung in einer Weise geherrscht habe, dass man sich über die langsamen Fortschritte dieses Gebietes nicht mehr zu wundern brauche«.849 Entsprechend erfolgte am 25. Februar im VEB SMF eine Aussprache über den Einsatz Hartmanns. Teilnehmer waren der Betriebsdirektor Jochen Albrecht, dem Hartmann direkt unterstand, sowie weitere drei Personen. Das Gespräch fand in Vorbereitung einer sogenannten Kaderaussprache des Generaldirektors der VVB BuV, Lungershausen, mit Hartmann statt. Es wurde festgestellt, dass Hartmann sich diszipliniert verhalten habe, er bemüht gewesen sei, die »ihm übertragenen Aufgaben auf dem Gebiet der Qualitätssicherung, der Verbesserung der technologischen Disziplin zu erfüllen«. Positive Ergebnisse in der Qualitätsentwicklung seien »mit auf seine« Arbeit zurückzuführen. Der Betriebsdirektor habe ihn umfassend unterstützt. Ihm sei sogar die Möglichkeit gegeben worden, in Bibliotheken zu recherchieren (sic!). Hartmann habe »oft Unverständnis dafür« gezeigt, »dass von ihm vorgeschlagene Maßnahmen erst in Zukunft durchgeführt werden können. Er« sei »nicht immer ausreichend informiert, welche Maßnahmen schon im Betrieb vorgesehen« seien. Die Arbeit mit Betrieben (Applikation) sei mangelhaft. Er habe

847  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, an den Leiter der HA XVIII vom 7.2.1975: Zum anonymen Briefeschreiber; ebd., Bd. 14, Bl. 188 f. 848  Vgl. Technische Untersuchungsstelle des MfS vom 9. u. 24.10.1974 sowie 12.5.1975: Untersuchungsberichte; ebd., Bl. 199–202, 209–212 u. 215 f. 849  MR der DDR, Inspektion des MWT, vom 19.2.1975: Information; ebd., Bd. 47, Bl. 184.

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»sich in das Betriebskollektiv eingefügt«.850 Ein halbes Jahr später wird Albrecht im Neuen Deutschland bildlich das darstellen, wofür Hartmann jahrelang kämpfte und verlacht worden ist; Albrecht: »Stellen Sie sich eine Stadt von 100 000 Einwohnern vor, wo alle Häuser aus Ziegeln gebaut sind. Davon dürfte nur einer kaputt sein.« Das entsprach etwa dem erforderlichen Reinheitsgrad bei der Herstellung von Silizium.851 Am 26. Februar sprach Hartmann über seine Lage in Freiberg mit Lungershausen. Der beteuerte die Bedeutung der Qualitätssicherung in den Betrieben der Branche ausdrücklich. Er versprach Hartmann, dessen Anliegen mit den Werk­ direktoren der Halbleitertechnik zu besprechen und ihm in zwei Wochen Bescheid zu geben. Hartmann bat um Unterstützung seitens der Werkdirektoren. Dies geschah übrigens nie! Vor und nach diesem Termin war Hartmann bei Steenbeck zur Besprechung der Lage.852 Die BV Dresden beobachtete Hartmann täglich, sinnloseste Notate entstanden: Er nutze für die Fahrt nach Freiberg die Eisenbahn. – Er arbeite gut. – Er habe eine Honorararbeit für den VEB übernommen, die er nach Feierabend ausführe. – Es habe im Februar eine Aussprache zwischen Lungershausen und ihm stattgefunden. – Er sage, dass ihn die Arbeit nicht ausfülle, er verfüge über größere körperliche und geistige Potenzen.853 Laut einem Bericht des MfS vom 25. März zu den »Fachaufgaben« von Hanisch wurden im ersten Quartal 1975 17 Treffs mit ihm durchgeführt. Seine Aufgabe bestand u. a. in der operativen Untersuchung von Geschehnissen im Rahmen der Einspeisung der FKS-Type D230X (siehe oben). Seine operative Arbeitsleistung war allein im Rahmen des OV »Molekül« auf mittlerweile sechzig, teils überlange Berichte angewachsen. Dies, so die MfS-Einschätzung, habe er »in hoher Qualität erfüllt«.854 Nicht nur weil sich wenig tat in der Frage einer ausfüllenden Berufsaufgabe, die bisherige Tätigkeit für Freiberg war ineffektiv, sondern auch prinzipiell wegen der Frage der Rechtmäßigkeit des Verfahrens gegen ihn, nahm Hartmann mit Schreiben vom 31. März, 10. und 12. April Kontakt zum DDR-Staranwalt Friedrich Karl Kaul auf.855 Während dieser Monate hielt Hartmann zu Steenbeck steten Kontakt. Steenbeck war über das gesamte Geschehen von anderthalb Jahren informiert und partiell, Hartmann helfend, beteiligt.856 850  VEB SMF, Betriebsdirektor, vom 25.2.1975: Ergebnisse einer Aussprache zum bisherigen Einsatz Hartmanns im VEB SMF; ebd., Bl. 182 f. 851  Interview mit Albrecht, in: Neues Deutschland vom 25.10.1975, S. 13. 852  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 2. 853  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 21.3.1975: Information zu Hartmann; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 47, Bl. 185. 854  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 25.3.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 4, Bl. 50. 855  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 2. 856  Vgl. ebd., S. 1–17.

Der Visionär oder die Entwicklung der Mikroelektronik

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Die Abteilung XVIII/1 der BV Dresden erfuhr auf inoffiziellem Wege von der Absicht Hartmanns, im Mai ins Drei-Länder-Eck fahren zu wollen (Karlsbad, Marienbad und Franzensbad). Sie erkundigte sich am 7. April bei der KD Dresden-​Stadt, ob ein Reiseantrag beim Reisebüro bereits vorliege.857 Die KD Dresden-Stadt antwortete am 1. April mit einer Bestätigung. Danach habe Hartmanns Ehefrau eine Reise vom 24. Mai bis 14. Juni 1975 nach Marianske Lazne (Marienbad), Hotel Esplanade, gebucht.858 Reflexartig veranlasste die Abteilung XVIII/1 am 5. Mai die PostKontrolle zu Personen in der Bundesrepublik, u. a. zu Schneider aus Heidelberg.859 Eine Eingabe Hartmanns vom 29. April an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Willi Stoph ging dort einen Tag später unter der Tagebuchnummer 71 ein. Darin drückte er sein Unverständnis darüber aus, derart bestraft worden zu sein: »Seither versuche ich, Zusammenhänge zu finden und zu begreifen. Wenn man jedoch Einzelheiten kaum kennt und in so schwerer Zeit ganz allein gelassen wird, so ist dies ein qualvoller, entsetzlich zermürbender Prozess ohne Ende.«860 Der Eingabe sind ein beruf‌licher Werdegang, eine Kurzgeschichte der Arbeitsstelle vom 2. April861 sowie 32 Schriftstücke in Kopie beigegeben.862 Die Eingabe gelangte ins MfS. Mielkes Stellvertreter Mittig schrieb mit Datum vom 12. Mai eine Stellungnahme, die anschließend Mielke las. Der befahl, wie von Mittig empfohlen zu verfahren; Zitat: »Hartmann ist ein bürgerlicher Wissenschaftler mit einer antikommunistischen und antisowjetischen Grundhaltung. Sein persönlicher Umgangskreis sind ihm Gleichgesinnte, insbesondere solche, die nach 1945 ihren Wohnsitz in der BRD nahmen und nach wie vor zu den reaktionären Kräften zählen. Zur Aufrechterhaltung dieser Verbindungen setzte er sich ständig über die von ihm eingegangenen Verpflichtungen, insbesondere die in der zweiseitigen Zusammenarbeit mit der UdSSR festgelegten Verhaltensnormen, hinweg, wobei er auf eine Konspirierung bedacht war.« Der weitere Inhalt ist nahezu deckungsgleich mit einer Hanisch-Ausarbeitung und jener MfS-Einschätzung, über die nun gute, kämpferische Arbeitseinstellung in der Arbeitsstelle. Mittig schlug abschließend auf Seite 5 der Stellungnahme vor, »dass zur Beantwortung der Eingabe« Hartmanns, »der zuständige Abteilungsleiter des MEE, Gen[ossi]n [A], das von 857  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 7.4.1975: Überprüfungsersuchen; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 5, Bl. 321. 858  Vgl. BV Dresden, KD Dresden-Stadt, vom 16.4.1975: Überprüfungsergebnis; ebd., Bd. 5, Bl. 322. 859  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 5.5.1975: Operative Maßnahmen in der ČSSR; ebd., Bl. 323–325. 860  Schreiben von Hartmann an Stoph vom 29.4.1975; ebd., Bd. 4, Bl. 113 f. 861  Zu dieser Darstellung ist eine Stellungnahme von Hanisch überliefert, die aufgrund der Tatsache, dass lediglich Rephrasen seiner in dieser Arbeit dargestellten Argumente enthalten sind, hier nicht zitiert wird: Hanisch im Auftrag der BV Dresden vom 5.7.1975: Stellungnahme, Einschätzung und Ergänzung der Ausarbeitung von Hartmann vom 2.4.1975: Kurzgeschichte der AMD; ebd., Bd. 39, Bl. 253–264. 862  Vgl. Schreiben an Stoph vom 29.4.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 113 f.; Dokumente der Anlage; ebd., Bd. 4, Bl. 115–160.

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Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie

Professor Hartmann gewünschte Gespräch führt. Die Gen[ossi]n [A] kennt Auswirkungen der Leitungstätigkeit« Hartmanns, »die die Entwicklung der elektronischen Bauelementeindustrie hemmten. Am Gespräch wird als Sachkundiger der Mitarbeiter des MfS, Gen[osse] Oberstleutnant Dr. Lonitz, teilnehmen. Genosse Oberstleutnant Dr. Lonitz leitete den Untersuchungsvorgang gegen den Saboteur Dr. [Hartwig*].«863 Hanisch reklamierte am 2. Mai eine Tendenz bei AMD, wonach »eine schnellstmögliche völlige Rückgängigmachung der im Prozessergebnis erzielten, zum Teil schwer erkämpften Veränderungen« auszumachen gewesen sei. Genossen, die sich »an der Prozessvorbereitung, -durchführung und -auswertung maßgeblich« beteiligt hätten, würden »nach und nach aus ihren Positionen« entfernt, und jene, die im Rahmen der Untersuchungen »zum Teil erheblich belastet wurden oder deren Vergangenheit eine Vielzahl von Unsicherheitsfaktoren erkennen« ließen, seien »in entscheidende Positionen« gebracht worden. Auch der Parteisekretär wurde von Hanisch denunziert: »Nach laufender Behinderung meiner Arbeit als Gutachter in den vergangenen zwei Jahren durch den Parteisekretär erfolgt nach meiner Entlassung aus der gutachterlichen Arbeit keinerlei Positionierung des Parteisekretärs zu meinem weiteren Einsatz.«864 Am 5. Mai erhielt Hartmann vom Büro Kauls einen Termin für den nächsten Tag. Das Gespräch fand statt. Es brachte nichts, alles prallte bei Kaul wie von einer Gummiwand ab.865 Hanisch verfasste am 21. Juni ein Gutachten über »die Unterdrückung und Verzögerung der Entwicklung der Ionenimplantation als entscheidendes Dotierungsverfahren in der Mikroelektronik«.866 Es ist darauf hinzuweisen, dass Hartmann bei (s)einer Hauptvariante, der Diffusion, bleiben musste, weil diese noch nicht ausgereift und die Technologien und Geräte nicht optimal beziehbar waren. Es sei unverantwortlich gewesen, inmitten eines Meeres voller Mangelerscheinungen umzusatteln. Dies hatte Hartmann so ähnlich gesagt: »Mit der Diffusion kann kein anderes Verfahren konkurrieren. Infolge der beschränkten Kapazität der DDR« müsse »nach dem vorhandenen Überblick und den absehbaren Entwicklungen der Zukunft von einer Bearbeitung dieser Thematik bei uns abgesehen werden.« ­Hanisch behauptete jedoch, dass diese Aussage, gemessen an der Literatur, »falsch und desorientierend« sei. Für Hanisch jedenfalls stand fest, dass Hartmann es durch seine Politik verstanden habe, die DDR etwa neun Jahre zurückzuwerfen.867 863  Stellungnahme zur Eingabe Hartmanns vom 12.5.1975; ebd., Bl. 168–172, hier 168 u. 172. 864  Schreiben von Hanisch an das MfS vom 2.5.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 125–128, hier 125 u. 128. 865  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 3. 866  Hanisch: Gutachten zur Rolle von Hartmann als ehemaliger Leiter der AMD bei der Unterdrückung und Verzögerung der Entwicklung der Ionenimplantation; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 17, Bl. 132–137. 867  Ebd., Bl. 135–137.

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Die operative Beobachtung Hartmanns kannte keine Pause. Die von der Abteilung XVIII/1 geplante »Aussprache« mit Hartmann wurde – versehen mit Absicherungshinweisen – der KD Freiberg am 23. Juni mündlich mitgeteilt.868 Die Abteilung XVIII/1 konzipierte mit Datum vom 25. Juni einen Maßnahmeplan zur »operativen Absicherung« Hartmanns für den Zeitraum Juli bis August. Grund hierfür war die Eingabe Hartmanns an Stoph. Dazu plante das MfS, mit Hartmann im Zeitraum vom 25. Juni bis 12. Juli eine Aussprache zu führen, geleitet von einem Vertreter des MEE und »einem leitenden Offizier des MfS in Berlin«. Einmal mehr wurde Hartmann verstärkt kontrolliert. Dazu zählten u. a. die Maßnahme »A« und laufende M-Kontrollen einschließlich »Sonderkastenleerung«. Der IM »Buchholz« erhielt die Aufgabe, Hartmann täglich zu kontrollieren, ob er auch zur Arbeit gehe. Dazu zählte: »Kontaktfestigung durch Pkw-Fahrten und persönliche Gespräche, Feststellung von Reaktionen und Verhaltensweisen, Kontaktversuche zu Professor H., Briefeinwürfen durch H.« Der Leiter des VEB SMF, Albrecht, erhielt die Aufgabe, Dienstreisen Hartmanns zu verhindern bzw. einzuschränken; wenn er aber reisen sollte, dies sofort und konkret mitzuteilen »(wann, wohin, mit wem, Veranlassung, Pkw, Fahrer, Zeitdauer)«. Darüber hinaus habe er alle dienstlichen Obliegenheiten wie Urlaub, Krankheit und Dienstkontakte rechtzeitig zu übermitteln. Auch wünschte sich das MfS nach der Durchführung der Aussprache einen Bericht über dessen Reaktion darauf.869 Eine Ausarbeitung vom 29. Juni beschäftigte sich mit der Frage des wissenschaftlichen Arbeitsvolumens Hartmanns für die Mikroelektronik. Seine Darstellung vorwegnehmend konstatierte der Berichterstatter, dass Hartmann praktisch keine wissenschaftlichen Arbeiten zur Mikroelektronik, dafür aber »umfangreiche Arbeiten als Autor und als Herausgeber von Arbeiten des Gebietes der Kerntechnik und von Festschriften« geleistet habe. Der Stil des Berichtes lässt auf Hanisch schließen. Die Beweise sind schlicht lachhaft, sollen hier aber an zwei Beispielen kurz zitiert werden: Für das Lehrbuch der Kernphysik (2.  Auflage)  hatte »Hartmann allein 235  Seiten sowie eine ›herausgeberähnliche Tätigkeit‹ des gesamten Abschnittes ›Nachweis energiereicher Strahlung‹« übernommen. Kommentar: »Diese zusätzlich belastende Tätigkeit übernimmt Professor Hartmann kurz nach Gründung der AME in deren erster Aufbauphase!« Und bezüglich des Handbuchs der technischen Betriebskontrolle, Band  V: Messverfahren unter Anwendung ionisierender Strahlung, habe Hartmann wieder »in der Phase der beginnenden experimentellen Arbeiten bei AME und in der Phase des Aufbaus der Versuchsfertigung!« eine solche Aufgabe übernommen, und Ende 1965 gar die Herausgeberschaft.870 868  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 8.7.1975: Zur Absicherung des Verdächtigen; ebd., Bd. 5, Bl. 327. 869 BV Dresden, Abt. XVIII, vom 25.6.1975: Maßnahmeplan zum OV »Molekül«; ebd., Bl. 331–333. 870  Ohne Angabe des Verf.: Auswertung von Archivunterlagen zur Einschätzung des wissenschaftlichen Arbeitsvolumens Hartmanns für die Mikroelektronik vom 29.6.1975; ebd., Bd. 17, Bl. 40–43.

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Der Staatssicherheitsdienst in Forschung, Entwicklung und Industrie

Exkurs 10: Eine Festschrift für Hertz Hanisch stellte ferner fest, dass Hartmann mit Beginn der Arbeiten im Mai 1965 für sein Engagement eine Festschrift zu Ehren des 80. Geburtstages von Professor Hertz am 22. Juli 1967 herauszugeben, große Schwierigkeiten hatte, westliche Wissenschaftler zur Mitarbeit zu gewinnen, nicht aber bei DDR-Wissenschaftlern. So zählte er acht Wissenschaftler aus dem Westen auf, die ablehnten. Angeschriebene DDR-Wissenschaftler hätten dagegen »fast ausnahmslos« zugestimmt; Kommentar Hanisch: »Zeitfonds!« Die Wissenschaftler zählte er namentlich auf, u. a. Rompe, Schwabe, Görlich, Mühlenpfordt und Thiessen.871 Mit Ausrufezeichen versehen lobte er hingegen Werner Hartke, der »als Präsident der Akademie die Herausgabe einer Festschrift für lebende Persönlichkeiten am 20. Mai 1965 auf Anfrage von Professor Hartmann hin grundsätzlich« abgelehnt habe. Doch der Text von Hartke an Hartmann liest sich anders: »Ich teile Ihnen dazu mit, dass die Akademie grundsätzlich keine Festschriften für lebende Persönlichkeiten herausgibt und sich auch nicht an solchen Festschriften beteiligt. Infolgedessen vermag ich zu Ihrer Anfrage auch nicht ex officio Stellung zu nehmen.«872 Trotz aller Widrigkeiten entstand eine Festschrift in der Reihe »Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Mathematik, Physik und Technik« als Nr. 1 des Jahrgangs 1967 mit dem Titel »Gustav Hertz: In der Entwicklung der modernen Physik«. Zu den Autoren zählen außer Hartmann: Rompe, Steenbeck, Fuchs, Görlich, Mühlenpfordt, Erwin Müller (USA) und Thiessen.873 Robert Rompe hielt am 29. September 1967 die Eröffnungsrede zum 80. Geburtstag von Hertz im Plenarsaal der Akademie der Wissenschaften. Er bezog sich hierin auch auf die Würdigung im Band der Abhandlungen der DAW, in dem er einen Beitrag zusammen mit Steenbeck unter dem obigen Titel veröffentlicht hatte. Hierin ist die Arbeitsweise des Physikers Hertz gewürdigt, die der in seiner Antrittsrede an der DAW nach Rückkehr aus der Sowjetunion dargelegt habe unter der Überschrift: »die große methodische Bedeutung der Arbeitsweise des Physikers in der modernen Industrie«. Die, so Rompe, an Hertz gerichtet, er in seiner »Tätigkeit in den Forschungsinstituten von Phillips und Siemens kennengelernt und mitgestaltet habe. Man könnte diese etwa so charakterisieren: Auf dem höchsten Stand der Erkenntnis, unter Verwendung der modernsten wissenschaftlichen Forschungsmethoden, unter Ausnutzung durchdachtester Arbeitsteilung und Kooperation, zu vorher geplanten, fest innegehaltenen Terminen, etwas Neues, Konkretes, und auf jeden Fall kritischer Prüfung Standhal871  Ebd., Bl. 42. 872  Schreiben von Hartke an Hartmann vom 20.5.1965; ebd., Bl. 63. 873  Vgl. Autorenkollektiv unter Hartmann, Werner: Gustav Hertz: In der Entwicklung der modernen Physik, in: Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Mathematik, Physik und Technik, Jahrgang 1967, Nr. 1. Berlin 1967.

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tendes zu schaffen.« Rompe weiter: »Sie haben wiederholt auf die Überlegenheit des Arbeitsstiles der modernen Industriephysik hingewiesen, auch auf die damit verbundenen Möglichkeiten, zu einer höheren Qualität der technologischen Voraussetzungen der experimentellen Arbeiten zu kommen im Rahmen angemessenen Aufwandes, Gedanken und Gesichtspunkte, die bei der Entwicklung der Institute der Forschungsgemeinschaft der DAW in den nächsten Jahren eine Rolle zu spielen berufen sein werden.« Rompe zum Charakter von Hertz: »Diese elementare Freude an der Beobachtung, einem Ausgangspunkt jeder Naturforschung, ist zweifellos eine wesentliche Quelle für die Ausdauer des Forschers. Die emotionale Einbeziehung seines ganzen Wesens hilft mit, den Spaß an der Sache nicht zu verlieren, trotz vieler Mühsale und Misserfolge, die nur der kennt, der selbst Forschung betrieben hat.«874 Eine Laudatio, die auch auf Hartmann gepasst hätte, der mit eben diesem Arbeitsstil justament in der DDR gescheitert war. Es hatte aber an jenem Tag noch eine andere Einführung gegeben, nämlich von Steenbeck, der, vielleicht gar konspirativ, also überraschend für die Entscheider im Saal, einen anderen Mann auf die Bühne zitierte, der offiziell gar nicht angekündigt war! Doch zunächst wandte sich Steenbeck an Hertz: »Es ist nicht leicht, vor Ihrem Urteil wissenschaftlich oder menschlich zu bestehen.« Und »vieles von dem, was ich gerne gesagt hätte, was ich aber doch nur mit Kenntnis aus zweiter Hand hätte sagen müssen und was zu sagen ich mich deswegen gerade bei Ihnen scheue, kann sicher besser von einem anderen berichtet werden, dessen Weg enger mit dem Ihren zusammenfiel als der meine, der nun in Ihrer unmittelbaren Nähe verlief. Herr Hartmann wird daher meine Rede fortsetzen, obwohl leider nur mein Name im Programm steht. Lassen Sie mich also schließen mit dem herzlichen Wunsch für ein noch langes, weiteres Zusammenarbeiten und -leben mit Ihnen, dem jungen Senior unserer Physik, ein Wunsch für Sie, für Ihre hochverehrte Frau und in höchst egoistischer Weise auch für uns selbst.«875 Das war Geschichte. Nun, am 16. Dezember 1975, hatte er Hartmann mitgeteilt, dass er versuchen werde, ihn für eine Festveranstaltung zu Ehren des verstorbenen Hertz am 18. Dezember nach Berlin »einladen zu lassen«. Am darauffolgenden Tag musste er ihm mitteilen, dass er eine Teilnahme nicht hatte erreichen können.876 Eine weitere von Hanisch stammende Analyse vom 29. Juni 1975 beschäftigte sich mit den geplanten USA-Reisen Hartmanns. Zur Erinnerung: Am 20. Januar 1962 874  Rompe: Eröffnungsrede am 29.9.1967 zum 80. Geburtstag von Gustav Hertz; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 282, S. 1–5. Siehe auch: Hertz zu seinem 80. Geburtstag, in: Physikalische Blätter, 23(1967)7, S. 294. 875  Steenbeck, Max: Rede im Plenarsaal der DAW am 29.9.1967 aus Anlass des 80. Geburtstages von Gustav Hertz; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 153, S. 1–4, hier 3 f. 876 Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 5.

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hatte Hartmann bei Winde eine Reise nach Boston und zu Erwin Müller nach Pennsylvania beantragt. Winde lehnte sofort beide Reisewünsche ab; endgültig dann noch einmal am 6. April. Im Februar und März unternahm Hartmann eigene Anstrengungen und beantragte ein Visum beim Amerikanischen Konsulat. Hartmann teilte dem Konsulat und dem Alliierten Reiseamt die Absage der DDR-Stellen dann am 14. Mai mit: »Mit großer Enttäuschung musste ich dieser Tage zur Kenntnis nehmen, dass mir das Ausreisevisum zur Teilnahme an der Tagung der American Nuclear Society (ANS) im Juni 1962 in Boston und zur Wahrnehmung der Einladung zu wissenschaftlichen Vorträgen an der Pennsylvania University verweigert wird.« Hanisch kommentierte, dass dieses Schreiben »seine offensichtliche politische Distanzierung« zu den DDR-Stellen den amerikanischen Stellen »deutlich erkennen« ließ. Er habe sich dann »selbstständig« bemüht, Einladungen von amerikanischen Firmen zu erhalten, worauf im Mai und Juni 1965 auch welche eingingen. Dass aber die Initiative zur Reise letztlich von Karl Nendel ausgegangen war, verschwieg er. Hanisch analysierte all diese Briefe, Petitionen und Entscheidungen in Hinblick darauf, Hartmanns angeblich raffinierte Methode zur Erreichung der Dienstreise entlarven zu können. Und er (er)fand wie üblich Aspekte, die sich ihm so darstellten: Also lancierte er die Vermutung, dass Hartmann gar nicht so erwünscht gewesen sein mag in den USA, und dies den zuständigen Stellen nicht mitgeteilt habe. Tatsächlich lag ihm ein Beleg hierfür vor, eine Besuchsverweigerung durch Motorola: Mit Brief vom 27. August 1965 war Hartmann vom »Vizepräsidenten und Generalmanager C. L.  Hogan tatsächlich eine Absage erteilt worden: »›Wir haben eine Werkspolizei, die keine Besucher von Ostdeutschland und aus anderen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang genehmigt. Wir heißen Besucher aus demokratischen Ländern wie Westdeutschland, willkommen und ich persönlich hoffe, dass sich die politische Lage in der Welt so ändern wird, dass wir auch Sie bald bei uns begrüßen können.‹ Von dieser äußerst diskriminierenden Ablehnung machte Professor Hartmann keine Mitteilung an die vorgesetzten Dienststellen, obwohl gerade solche Informationen für die außenhandelsmäßigen Taktiken äußerst wertvoll sind! (Unterlassung wichtiger Informationen!).«877 Hanisch wertete alles aus, auch Archivunterlagen zum Nachweis der Verschwendung von Arbeitszeit und -Kapazitäten. Am 8. Juli kam er zu dem Ergebnis, dass Hartmann allein im Zusammenhang mit der Übernahme der Redaktion am 5. Band des Handbuches der Technischen Betriebskontrolle von 1963 bis 1969 insgesamt 40 Notizen, 350 Briefe verfasst sowie 250 Briefe der Autoren gelesen habe; Hanisch: Die Briefe seien von »seiner Sekretärin in AMD (!) geschrieben« worden »bei sonst akutem Mangel an Schreibkapazitäten für AMD!« Und dies in einer Zeit, da er »viele wichtige Beratungen« in der VVB BuV aus Zeitgründen abgesagt habe.878 In einer Analyse selben Datums zu sieben Westreisen Hartmanns (außer 877  Auswertung von Archivunterlagen vom 29.6.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 17, Bl. 92–98, hier 93 u. 95 f. 878  Auswertung von Archivunterlagen vom 8.7.1975; ebd., Bd. 18, Bl. 174 f.

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BRD und Westberlin) kam Hanisch zu dem Ergebnis, dass das von Hartmann »ausgewiesene Ergebnis seiner Reisen« augenscheinlich »völlig unbedeutend« gewesen sei, dafür »die Anknüpfung und Erneuerung persönlicher Kontakte umso umfangreicher!«.879 Die Kontrolle Hartmanns dauerte unvermindert weiter an. Eine schriftliche Präzision zu seiner sogenannten Absicherung an die KD Dresden-Stadt mit der Bitte um eine »sofortige Sonderkastenleerung« für den Fall, »dass das Objekt ›Molekül‹ im Bezirk Dresden Post« einwerfe, erfolgte am 10. Juli. Am selben Tag wurde auch die Überprüfung sämtlicher Bankkonten Hartmanns angeordnet.880 Und am 14. Juli erfolgte eine Präzisierung über die Durchführung der M-Kontrollen zu 20 Personen aus der Bundesrepublik und den USA.881 Das MfS registrierte am 17. Juli, dass Hartmann auf‌fällig danach dränge, VD- oder VVS-Unterlagen zu bekommen. Hartmann habe sich vor circa zweieinhalb Monaten beschwert, immer »noch keine konkrete Arbeit« bekommen zu haben. Daraufhin habe er vom Direktor des Kombinates Frankfurt / O. den Auftrag erhalten, »sich um die Vertragsforschung zum Werkstoff Silizium zu kümmern«. Ferner solle er bei der Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen diesem Kombinat und der Akademie der Wissenschaften helfen. Die Teilnahme an der zweiten Sitzung habe er abgelehnt, da er keine VD und VVS in die Hand bekomme, die hierfür aber notwendig seien. Ein Vorstoß seinerseits beim Kombinat blieb ohne Antwort, sodass er der zweiten Sitzung fernblieb. Laut MfS zeige dieses Verhalten, dass »er sich bemüht, unbedingt an VD- oder VVS-Unterlagen heranzukommen«.882 Mit Datum vom 15. August ist eine 81-seitige (!) Chronik der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden überliefert, die aus der Feder Hanischs stammt, unterschrieben mit seinem Namen und hinzugesetzt: »Dr.-Ing. Hanisch – Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden – Gutachter im Prozess gegen Dr. [Hartwig*]«.883 In dieser Ausarbeitung sind gegenüber den hier bereits ausführlich dargestellten Erkenntnissen keine anderslautenden Argumente, Lügen und Verrisse enthalten, sodass hier auf eine Darlegung verzichtet wird. Vielleicht nur dies: »Die Ausarbeitung wurde im Zusammenhang mit Erkenntnissen, die im Verlauf der Prozessvorbereitung zum Fall Dr. [Hartwig*] gewonnen wurden, im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR angefertigt.«884

879  Auswertung von Archivunterlagen von Hanisch zu Reisen Hartmanns nach China, Indien, Ägypten, Österreich, Finnland; ebd., Bd. 36, Bl. 1–18, hier 18. 880  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 10.7.1975: Einleitung von Sicherungsmaßnahmen; ebd., Bd. 5, Bl. 328 f. 881  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 14.7.1975: Aktenvermerk; ebd., Bl. 330. 882  Dienststelle Freiberg vom 17.7.1975: Information zu Hartmann; ebd., Bd. 47, Bl. 187. 883  Hanisch: Chronik der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden vom 15.8.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 2554/76, Bd. 39, Bl. 172–252 (die handschriftliche Version in: BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 5, Bl. 80–186). 884  Ebd., Bl. 172.

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Das Gespräch mit Hartmann am 16. September im MEE infolge seiner Eingabe an Stoph soll über fünf Stunden, von 13.00 bis 18.15 Uhr, gedauert haben. Wer daran teilnahm, ist nicht eindeutig überliefert, sicher aber die Vertreterin des MEE, Abteilung Prognose, die in der eigentlichen Problematik völlig unkundig (lediglich gebrieft worden) war, und zwei weitere Herren, der eine war Offizier Lonitz.885 Laut einem MfS-Protokoll von Offizier Herrmann, soll sich Hartmann »als gesellschaftliches Wesen ausgelöscht« gefühlt betrachtet haben. Nachbarn hätten zudem seine »Überwachung« festgestellt. Ferner sei es »ihm unverständlich«, dass er im VEB SMF »keine Arbeitsaufgabe übertragen« bekomme. Er soll betont haben, dass die »langjährigen Verbrechen« des Hartwig* von Niemandem, auch vom MfS nicht, bemerkt worden seien. Er und seine Mitarbeiter seien mit 30 Bannern der Arbeit und fünf Nationalpreisen ausgezeichnet worden. Ihm sei es »unverständlich, wonach die Arbeitsergebnisse der AMD drei Jahre zu spät gekommen« sein sollen. Hartmann soll ferner angezweifelt haben, dass die »Verzögerung der Entwicklung von Ausrüstungen und Technologien zur Herstellung von FKS um fünf bis sieben Jahre durch den Verbrecher [Hartwig*]« erfolgt sein können. Ihm sei, so Herrmann, »erläutert« worden, »mit welchem Aufwand das Bezirksgericht in Dresden zu seinen Feststellungen gelangt« sei. Hartmann soll in dem Gespräch vorgehalten worden sein, dass er trotz Einschreitens der Partei Hartwig* weiterhin als Professor in Vorschlag gebracht habe. Hartmann soll »mehrmals den Versuch« unternommen haben, die vom Gericht festgestellte »mangelnde Leitungstätigkeit« zu leugnen.886 Die hier von Herrmann wiedergegebenen Äußerungen Hartmanns decken sich weitestgehend mit einem Gedächtnisprotokoll Hartmanns. Nicht eingegangen ist Herrmann auf den Protest Hartmanns, ihn nicht – trotz seiner bekundeten Bereitschaft – im Prozess gegen Hartwig* gehört zu haben. Auch nicht auf den Protest, ihm keine Begründung für seine Abberufung gegeben zu haben, im Gegenteil, diese Forderung sei, so Hartmann im Gedächtnisprotokoll, »schroff abgelehnt« worden.887 Eine weitere Niederschrift über das mit Hartmann geführte Gespräch am 16. September liegt mit Datum vom 18. September vor. Demnach habe Hartmann dargelegt, dass es keine Verzögerungen im unterstellten Sinne gegeben habe und die Vorwürfe »Überschriften« ohne Beweise glichen. Außerdem habe er die Diskrepanz zwischen den zahlreichen Auszeichnungen und den Vorwürfen erwähnt. Wesentliche Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung gegen Hartwig* habe Hartmann demnach »in Zweifel« gestellt. Die Offiziere Lonitz und Lehmann, die dieses Protokoll verfertigten, schrieben, dass die vom Gericht gegen Hartwig* vorgebrachten Argumente mehr als stichhaltig gewesen sein sollen. Angeblich habe Hartmann sich überzeugt gezeigt, dass nun »vieles deutlich geworden« sei »und er in keiner Weise 885  Vgl. Gedächtnisprotokoll; TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–11, hier 1; Kurzchronik aller Bemühungen, in: ebd., S. 1–17, hier 3. 886 HA XVIII/8/3 vom 17.9.1975: Aussprache mit Hartmann am 16.9.1975; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 182–184. 887  TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–11.

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mehr an den Feststellungen der gegen [Hartwig*] geführten Untersuchungen« zweifele.888 Da Hartmann mit verschiedenen Vorhaltungen (anonyme hetzerische Briefe an die Parteiführung, Hintergründe zur Wasserstoffexplosion von vor vier Jahren, kriminelle Aktivitäten von AMD-Mitarbeitern) konfrontiert worden ist und es auch sichtbar geworden sein muss, dass die Untersuchungen gegen ihn keineswegs abgeschlossen waren, lenkte er ein, gab sich verständig und sicherte Kooperationsbereitschaft zur Aufklärung zu. Er mag immer noch gehofft haben, dass alles ein Irrtum ist. Diese Kurzzusammenfassung ging zu je einem Exemplar an Generalmajor Mittig, Oberst Kleine und Oberst Pyka. Mittag dürfte laufend über den Stand »Hartmann« unterrichtet gewesen sein. Zum Vergleich der beiden Dokumente: Das erste ist konkreter. Der wesentliche Unterschied beider Aussagenspektren ist, dass sich Hartmann laut Herrmann argumentativ gewehrt hatte und die Vorwürfe gegen Hartwig* infrage stellte. In dem von Lonitz und Lehmann unterschriebenen Bericht hingegen – der hoch in die Führungsetage des MfS ging – zeigt er sich einsichtig, reumütig und nahezu flehentlich. War das Schreiben von Lonitz und Lehmann gar fingiert? Gleichsam eine Erfüllungsadresse an die MfS-Führung? War es genau das, was Mittag wollte? Dafür spricht, dass dieses völlig fertige Schreiben einschließlich Verteilerangaben als »Entwurf« getitelt und so in den Vorgang gekommen ist. An dieser Stelle sei angemerkt, dass es Lonitz verstand, beide, Hartwig* und Hartmann, gegeneinander auszuspielen. Hartwig* hat in einem späteren Zeitzeugengespräch eingestanden, entsprechend ausgesagt zu haben, da er dem ungeheuren Verhördruck letztlich nicht mehr widerstehen konnte.889 Hanisch notierte am 29. September: »Wäre Hartmann gewillt gewesen, so hätte er spätestens 1965 Anstrengungen unternehmen müssen, schnellstens seine ›Entwicklung‹ in die Produktion überzuleiten. Exakt genommen begann er jedoch erst zu diesem Zeitpunkt mit der ›gezielten‹ Entwicklung.«890 Es wäre vermutlich überhaupt nicht zu begreifen, wüssten wir nicht, wie oben dargelegt, dass die SED ein ungenaues Bild von der Mikroelektronik-Technologie besaß und dass selbst anerkannte, gestandene Wissenschaftler diese moderne Technologie nicht verstanden. Das erklärt ein wenig, entschuldigt aber nicht, dass gerade der promovierte Physiker und Kollege Hartmanns, Hanisch, hierin völlig versagte: »Hätte Hartmann die Absicht gehabt, die Mikroelektronik schnell und den Bedürfnissen der Wirtschaft der DDR zu entwickeln, so hätte er auf den, wenn auch noch nicht ausgereiften und teilweise mangelhaften Ergebnissen der Forschung und Entwicklung in Stahnsdorf und Markendorf aufbauen müssen. Stattdessen begann er auf allen Gebieten von vorn.«891 888  HA XVIII/8, HA IX / OfS, vom 18.9.1975: Information über das am 16.9.1975 mit Hartmann geführte Gespräch; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 185–188. 889  Wegen der Bestimmungen des StUG ist die Quelle nicht nennbar. 890  Hanisch vom 28.9.1975: Ein chronologischer Schadensbericht (Titel des Verf.); BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 39, Bl. 149–159, hier 151. 891  Ebd., Bl. 149–154.

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Zu jener Zeit kam es unterschwellig zum Durchbruch in der begrifflichen Frage der Technologie, wobei darauf hinzuweisen ist, dass bezogen auf die DDR bereits um 1955 der Rektor der Hochschule für Elektrotechnik (HfE) Ilmenau, Hans Stamm, die Hartmann’sche Philosophie adäquat vertrat, jedoch in den Folgejahren hiermit scheiterte. Es ist wahrscheinlich, dass beide sich von Dresden her kannten. Es ist hier aus einer Schrift zu zitieren, die spätestens Ende 1977, nach dem sogenannten Mikroelektronikplenum geschrieben worden sein muss. Das Material ist im Nachlass von Ernst August Lauter, der Hauptperson im nachfolgenden Hauptkapitel, aufgefunden worden. Der Verfasser, wahrscheinlich Christian Weißmantel, hob hervor, dass die Physik »in der Vergangenheit Entscheidendes zur Entwicklung technologischer Wissenschaftsdisziplinen und neuer Produktionstechnologien beigetragen« habe. Diese Entwicklungen hätten »zu Massenproduktionen mit neuen Typen von Produktionsprozessen und völlig neuen Produktionsverfahren geführt«.892 Als Anlage zu diesem Papier ist ein Vortrag zur Hauptjahrestagung 1976 der Physikalischen Gesellschaft der DDR von Weißmantel mit dem Titel »Beziehungen zwischen Physik und Technologie« beigegeben. Unter »1. Allgemeines« stellte Weißmantel die Frage des Beitrages durch den Physiker für die Technologie und definierte die Technologie mit dem Ökonomieprofessor Johann Beckmann, der sie als Wissenschaft begriff, »›welche die Verarbeitung der Naturalien oder die Erkenntnis der Handwerke‹« lehre. Beckmann habe die systematische Rolle der Technologie erkannt, »die aus Grundsätzen und zuverlässigen Erfahrungen die Mittel zur Erklärung und Nutzung der Verarbeitungsprozesse schaffen« solle. Des Weiteren vertrat Weißmantel zur Rolle moderner physikalischer Technologien die Auffassung, dass man sich »nicht scheuen solle«, »von einer physikalischen Technologie zu sprechen«. Wegbereiter seien hierin die Optik und die Halbleitertechnik.893 Weißmantel und Hartmann kannten sich gut. Am 19. Dezember rief ein Offizier der BV Dresden Hartmann mit der Bitte an, einen gewissen Dr. Werner Lonitz bei sich zu Hause am 7. Januar, 18.00 Uhr, zu empfangen. Doch um 18.00 Uhr wurde ihm mitgeteilt, dass die Unterredung nicht stattfinden könne, sie müsse verschoben werden.894 Die Verschiebung gehorchte der Methode der Beunruhigung. Das Jahr 1976 sollte in Hartmanns Leben kein gutes werden. Eine der dunkelsten, verlogensten Wolken in Gestalt Lonitz’ machte sich über ihn her. Nicht wenige seiner einstigen Kollegen scheuten Kontakt zu ihm. Aber einige solidarisierten sich mit ihm, zeigten dem Staat, dass sie keine Angst vor möglichen Nachteilen hatten. 892  Rolle und Bedeutung der Technologie (ohne Kopfangaben); ArchBBAW, Nachlass ­L auter, Nr. 388, S. 1–5; zur Stamm’schen Auffassung: Buthmann: Die politische Geschichte der TH Ilmenau, Kap. 5.2. 893 Weißmantel, Christian: Beziehungen zwischen Physik und Technologie (Anlage)  zum Papier zur Rolle und Bedeutung der Technologie; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 388, S. 13–26, hier 13 f., 19 f. u.23 f. 894  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 5 f.

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Abb. 30: Dankschreiben von Werner Hartmann an Dieter Garte, 1976

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Einer von ihnen war Dieter Garte, Abteilungsleiter in der AMD, der ihn hin und wieder besuchte. Erst am 20. April rief Lonitz bei Hartmann an und teilte ihm mit, dass er ihn sprechen möchte. Die Unterredung fand im Pkw im Beisein eines weiteren Offiziers statt. Hartmann will Lonitz gesagt haben, dass ihn die Entlassung ohne Angabe von Gründen in Verzweiflung getrieben habe. Auch habe er in Freiberg keine wirkliche Arbeit bekommen. Darauf antwortete Lonitz: »Ist es vielleicht fehlendes Vertrauen?« Hartmann entgegnete, dass der Generaldirektor »oft sagte, er stünde hinter mir«. Lonitz wies darauf hin, dass er Hinweise besitze, wonach er durchaus Aufgaben bekommen habe, jedoch keine Ergebnisse vorgelegt worden seien. Das traf! Hartmann: »Ich bitte mit Nachdruck, darüber mit dem Informanten in seiner Gegenwart sprechen zu können. Man kann mich doch nicht immer erneut beschuldigen und mir keine Gelegenheit zur Rechtfertigung geben!« Lonitz versprach, ihm für die nächste Woche einen Termin beim Generaldirektor zu organisieren.895 Während der eine, der Mikroelektronik-Pionier Hartmann, in der DDR verbannt war, redete der andere, der SED-Physiker Robert Rompe, quasi dessen »Texte«. Zur Geschichte der Halbleiterelektronik verwies Rompe in diesem Jahr u. a. darauf, »wie außerordentlich anspruchsvoll die moderne Halbleitertechnik und -technologie hinsichtlich ihrer Anforderungen an die Grundlagenforschung ist, andererseits ist die Halbleiterelektronik ein so mächtiger Faktor der Intensivierung aller Gebiete der Naturwissenschaft und Technik und auch der physikalischen Grundlagenforschung selbst«. Ferner: »Die Nahtstelle zwischen Grundlagenforschung und ihrem Wirksamwerden in der materiellen Produktion« liege »im Zuständigkeitsbereich der Technologie. Die wissenschaftlich durchdrungene und von der Wissenschaft beherrschte Technologie« müsse mit der »Summe der Erfahrungen aus der täglichen Produktion eine Einheit bilden«, die »heute die technische Leistungsfähigkeit eines Landes« definiere. »Obwohl die ›anschaulich-praktische‹, besser intuitiv-empirische Methode der Erarbeitung von Technologien [bei Hartmann: Gefühl, Alchemie etc. – d. Verf.] in bestimmten Grenzen durchaus leistungsfähig ist und nicht viel kostet – davon zeugt nicht nur die ›vorwissenschaftliche‹ Geschichte der Technik mit ihren bewundernswerten Denkmälern  –, ist ihr Nachteil nicht schlechthin die mindere Leistungsfähigkeit, sondern die starke Abhängigkeit von speziellen Fähigkeiten, die stärkere Beanspruchung des Menschen, die schlechtere Lehrbarkeit und die schlechtere Elastizität, die Schwierigkeit einer Kooperation verschiedener ›Spezialitäten‹, die das Gelingen des Werkes von ganz bestimmten menschlichen Talenten, Rohstoffen und Faktoren abhängig macht, ohne aufzuzeigen, wie man sich im Falle geänderter Bedingungen helfen« könne.896 All dies hört sich an wie eine Hommage á Hartmann, war aber doch »nur« in Bezug auf dessen Lehrer Gustav Hertz gemünzt, wenn er ausführte, dass »ein enger Kontakt mit den Problemen und 895  Ebd., S. 10. 896 Rompe, Robert: in APK 1(1976)2; ArchBBAW, Nachlass Rompe, Nr. 284, S. 14–21, hier 17 f.

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Sorgen einer Industrieproduktion nur von Wissenschaftlern zu bewältigen« sei, »die in der zweigspezifischen Grundlagenforschung ›in einem Hause‹ tätig« seien. Und das bedeute »aber auch eine innere Einstellung zur Arbeit, die Gustav Hertz als Antwort auf die Frage: ›was ist für einen in der Industrie tätigen Physiker wesentlich?‹ folgendermaßen« beschrieben habe: »Vor allem muss er ein guter Physiker sein. Er soll sich stets der Tatsache bewusst sein, dass das Ziel seiner Arbeit die Lösung technischer Aufgaben ist. Das gilt auch für den in der industriellen Grundlagenforschung Tätigen.« Hartmann erreichten diese Worte nicht mehr. Er war, weil er so dachte, längst entfernt worden. Rompe richtete indes keinen »Schaden« an. Es war ja nur eine Festrede: »Natürlich ist das Nebeneinander wissenschaftlich beherrschter Teile der Technologie mit intuitiv empirisch beherrschten eine Tatsache, mit der man« nun »auch bei modernsten Teilen der Technik, wie Kernenergie oder Halbleitertechnologie rechnen müsse. Wenn dem nicht so wäre, wäre das Wort vom ›Know-how‹ überflüssig.«897 Die 29. Beratung der Gruppe 11 (Physik) des Forschungsrates fand am 13. April in Berlin statt. Anwesend waren u. a. Weißmantel, Rompe, Lösche, Auth und Lauter. An erster Stelle der Tagung wurde über die »weitere Beratung des Materials ›Physikalische Probleme der Technologie‹« diskutiert. Lösche wies in der Diskussion darauf hin, dass »die Technologie kein Esch für sich« sei, sondern »immer von zwei Seiten zu betrachten« ist. Die Technologie sei bereits vor der Wissenschaft dagewesen und andererseits gebe es »Technologien, die erst auf der physikalischen Grundlagenforschung aufgebaut wurden. Das Anliegen der Physiker« müsse »die physikalische Durchdringung der Technologie sein.« Auth wies auf die Schwierigkeit hin, Technologie zu definieren, »sie sollte aber keinesfalls Ersatz für die Kybernetik sein. Wie auch von Herrn Rompe bemerkt« worden sei, erscheine ihm »die Definition von Marx am treffendsten.« Lauter schlug vor, das Material »nicht zu stark zu untergliedern«, da es sonst zu heterogen werde. Rompe empfahl, die Einleitung auf den neusten Stand zu bringen. Die »wichtigsten Aspekte« seien von Breschnew auf dem XXV. Parteitag gesagt worden: die wissenschaftlich-technische Revolution laufe nur im Sozialismus zum Wohle des Volkes und die sei »nötig, damit die hohen Ziele des Kommunismus erreicht« würden.898 Und der Meister in dieser Frage schlechthin, Hartmann, fehlte. Diese Beratung zeigt anschaulich, wie schwer es in der DDR war, reine Wissenschaftsfragen ideologiefrei zu kommunizieren. Am Ende drohte immer alles zu verwässern und auf den »alten« Marx zurückgeführt zu werden. Die avisierte Besprechung Hartmanns bei Generaldirektor Lungershausen fand am 23. April in Berlin statt.899

897  Ebd., S. 19. 898  29. Beratung der Gruppe 11 am 13.4.1976 in Berlin; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 388, S. 1–4, hier 2. 899  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 11.

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Zur Situation auf dem Gebiet der integrierten Mikroelektronik existiert ein Papier vom 25. April, der Verfasser ist unbekannt, allerdings entspricht die Diktion völlig der Hanischs.900 Es handelt sich um einen die DDR-Wissenschafts- und Technologiepolitik glorifizierenden Beitrag, der an das Niveau des Zentralorgans der SED, des Neuen Deutschland, erinnert. Es ist ein Papier, das gnadenlos Hartmann an den Pranger stellte. Ein Schreiben, das seinen »Notschrei« (die Denkschrift) von 1965 völlig auf den Kopf stellte; also Hanisch: »Seit etwa 1960 wurde und wird der Entwicklung der Halbleitertechnik in der DDR von Parteiführung und Regierung große und ständig steigende Bedeutung beigemessen. Nach den großen Investitionsvorhaben VEB Halbleitertechnik Frankfurt / O. und Institut für Halbleitertechnik (IHT) Stahnsdorf 1958 bis 1961 wurde nach Bekanntwerden der ersten Festkörperschaltkreise der Firma Texas Instruments (TI) 1959 und nach ersten orientierenden Arbeiten im IHT bereits 1960 die sofortige Aufnahme von Entwicklungsarbeiten in der DDR beschlossen. Von diesem Zeitpunkt an wurden erhebliche staatliche Mittel für die Entwicklung der integrierten Mikroelektronik bereitgestellt, ausreichend Kader zugeführt, und auch seitens der Parteiorgane wurde jede erdenkliche Unterstützung gewährt. Während im internationalen Maßstab in den Jahren 1965/1966 der umfassende Einsatz von Festkörperschaltkreisen erfolgte, wurden in der DDR in diesen Jahren die experimentellen Entwicklungsarbeiten erst begonnen!« Und weiter: »Die MOS-LSI-Technik unter Einbeziehung der Ionenimplantation und der Elektronenstrahllithografie ist heute allgemeiner Stand der Technik und Grundlage für die Herstellung kostengünstiger hochintegrierter Schaltkreise. In der DDR wird erst seit Anfang 1975 unter extremem Zeitdruck an einer MOS-LSI-Konzeption gearbeitet.« Was dann ausführlich folgte, ist die oben dargestellte Litanei über die jahrelangen »Verbrechen« Hartmanns, die DDR zurückgeworfen zu haben.901 ­Hanisch trieb es regelrecht auf die Spitze: »Die Auswirkungen der […] Handlungen von Professor Hartmann übersteigen in ihrer Bedeutung und in ihrem Ausmaß die im Ergebnis des Prozesses gegen Dr. [Hartwig*] bereits festgestellten erheblichen Pflichtverletzungen von Professor Hartmann noch um ein Vielfaches.«902 Aus einer einstündigen Befragung Hartmanns durch das MfS am 27. April in Dresden zu den »verleumderischen« Briefen seiner Frau an die Parteiführung ging hervor, dass er versucht haben soll, diese Äußerungen abzumildern. Der »Untersuchungsführer« in dieser »Befragung« war Lonitz.903 Tags darauf, am 28. April, erfolgte die nächste Befragung, diesmal dauerte sie vier Stunden. Lonitz verstand es wie sonst niemand im Leben Hartmanns, mit psychologischer Raffinesse einschließlich falscher Versprechungen, ihn, Hartmann, in die Knie zu zwingen. Plötzlich also 900  Vgl. ohne Angabe des Verf.: Zur allgemeinen Situation auf dem Gebiet der integrierten Mikro­elektronik in der DDR vom 25.4.1976; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 17, Bl. 37–39. 901 Ebd. 902  Ebd., Bl. 39. 903  Befragungsprotokoll vom 27.4.1976; ebd., Bd. 4, Bl. 193–196.

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gestand Hartmann etwas, was nicht zu gestehen war: »Ich habe damit eindeutig gegen eine meiner wichtigsten Aufgaben als staatlicher Leiter, das Volkseigentum zu schützen und zu mehren, verstoßen.« Ich, so Hartmann, »bedauere meine Fehlhandlungen zutiefst«. Was hatte er ihm versprochen? Die Frage nach seinen »schwerwiegendsten Fehlhandlungen« soll Hartmann wie folgt beantwortet haben: »Als eine sehr grobe Fehlhandlung meinerseits sehe ich die Entscheidung an, mit der ich ohne die gesetzlich vorgeschriebene und durch den Leiter der TKO geforderte Herstellung von Versuchsmustern sofort eine sehr große Zahl von Siliziumscheiben (circa 1 200) zur Herstellung des Festkörperschaltkreis-Typs D23X in die Produktion einspeisen ließ.« Angeblich eine Million Mark Schaden.904 Wiederum einen Tag später, am 29. April, erfolgte die nach Aktenlage dritte Befragung, sie ging diesmal über anderthalb Stunden. Das Gespräch drehte sich um angebliche Betrugshandlungen von der Art handwerklicher Leistungen auf Grundstücken von AMD-Mitarbeitern. Hier mag gar der Schlüssel gelegen haben, warum Lonitz Hartmann gefügig hat machen können; Zitat Hartmann: »Ich weiß, dass ein solches Tun auch bestimmte strafrechtliche Konsequenzen haben könnte, und bin dem Untersuchungsorgan zu großem Dank verpflichtet, wenn ich mit dieser Aussprache dieses Geschehen als erledigt betrachten könnte.«905 Die Erpressung steht geradezu zwischen den Zeilen. Dieses »Bekenntnis« steht einmal mehr nicht in der Diktion Hartmanns verschriftet, ist also kaum glaubwürdig. Ungeachtet dessen muss gesagt werden, dass es in der DDR wegen der Mangelwirtschaft unterhalb von strafrechtlich relevanten Beschaffungsaktionen, die es natürlich auch gab, eine breite Grauzone von Hilfsmaßnahmen und halblegalen Materialbereitstellungen gab, die zwar nicht rechtens, jedoch notwendig und deshalb geduldet wurden. Und dies geschah bei Weitem nicht nur immer in der Richtung »Betrieb – Privat«, sondern auch vice versa, nachweisbar zur Zeit des Aufbaus der AME. Es ist auffällig, dass der Tenor aller drei Befragungen Reue erkennen lässt, nichts ist mehr von Hartmanns Art zu erkennen, die Dinge beim Namen zu nennen. Wie hat Lonitz das geschafft? Weil er ein Meister der Verstellung war? Gewiss. Aber reichte das? Im Konvolut der »Befragungen« existiert ein zweites Befragungsprotokoll vom 29. April, das sich nicht nur vom Inhalt, sondern auch in der Form von den anderen in Sonderheit jenem vom gleichen Tag abhob: Ist es von Lonitz gar gefälscht worden? Der Kopf des Befragungsprotokolls ist anders gesetzt, so steht statt DPA.-Nr. nun PA.-Nr. Auch ist kein Zeitraum der Befragung angegeben, auch fehlt das gewohnte Unterschriftenbild. Das Thema dieser Befragung war ausgerechnet Hartmanns angebliche Verbindung zu »imperialistischen Geheimdiensten«. Auch hier soll Hartmann zugegeben haben, eine größere Geldzahlung von »Narbe«, mit dem er sich in den 1950er-Jahren (1957) getroffen haben soll, bekommen zu haben: »Obwohl ich mich gegenwärtig nicht erinnern kann, auf welche Weise mir ›Narbe‹ eine entsprechende Geldsumme [für Informationen zum Stand der Kern904  Befragungsprotokoll vom 28.4.1976; ebd., Bl. 197–201, hier 197 f. 905  Befragungsprotokoll vom 29.4.1976; ebd., Bl. 202–204, hier 203.

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technik – d. Verf.] zukommen ließ, glaube ich doch, dass er das in irgendeiner Form getan hat. Möglich wäre es eventuell, dass auf die Konten, die der Verwalter meines Westberliner Hauses unterhält, ein bestimmter Geldbetrag zu meinen Gunsten überwiesen wurde.« Einen späteren Versuch eines »Viktors« will Hartmann jedenfalls abgewiesen haben. Hier ging es um den Fall Barwich, insbesondere um dessen in der DDR verbliebenen, verhafteten Sohn, dem geholfen werden sollte. Und auch hier erfolgte wieder eine Niederschrift, die vollkommen atypisch für Hartmann und dessen Sprachgebrauch war, ein Sprachgebrauch, der ihm so fremd war, dass er ihn nicht einmal hätte erfinden können: »Ich möchte zusammenfassend zu der mir gegebenen Gelegenheit der Durchführung dieses Gespräches erklären: Ich danke aus ganzem Herzen innerer Überzeugung und Befriedigung für die Möglichkeit, dass alle Vorkommnisse, mit denen ich mich äußerst schuldhaft gegenüber unserem Staat, seiner Wirtschaft und unseren Werktätigen verhalten habe, – wodurch beträchtlicher Schaden entstand, – ausführlich erörtert wurden und ich auch die mich innerlich stark belastenden Dinge zur Kenntnis geben konnte, was mir besonders am Herzen lag.« Und weiter: »Ich bitte sehr herzlich um die Möglichkeit, durch intensivste Arbeit für unser Land und seine Wirtschaft einen Beitrag zur Wiedergutmachung der durch mich verursachten Schäden zu leisten. Dafür bin ich zu jedem Einsatz bereit.« Die Gespräche mit dem MfS hätten ihn »tief beeindruckt«; Hartmann: »Ich bin sehr glücklich, dadurch ein neues und vor allem tiefes und umfassendes Vertrauen zu den Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit gewonnen zu haben.«906 Es scheint, dass es nur zwei Möglichkeiten der rationalen Erklärung für diese »Bekenntnisse« gibt: entweder erfand Lonitz sie oder Hartmann unterlag einem psychischen Terror. Wahrscheinlich aber ist, dass beides zutraf. Er geriet in eine existenzielle Bedrohung, das Schicksal seines Kollegen hatte er vor Augen. Das MfS bluffte, um zu vernichten. Hartmann fertigte Gedächtnisprotokolle zu diesen Besprechungen. Ein viertes, dreistündiges Gespräch hatte es demzufolge am 28. Mai in der BV Dresden gegeben. Es gab darüber hinaus zwei weitere Zusammenkünfte, eine in der BV Dresden am 5. August, von 18.00 bis 23.30 Uhr, und eine weitere am 24. November von 19.00 bis 0.30 Uhr in einem konspirativen Objekt (siehe Exkurs 11).907 Über die Ergebnisse der vier Befragungen durch Lonitz verfasste das MfS am 10. Mai einen abschließenden Bericht. Hierin ist das Gespräch vom 29. April möglicherweise protokolltechnisch gedoppelt worden. Demnach fanden die Befragungen in einem konspirativen Objekt des MfS statt, weil das zusammengetragene Material bislang »keinen Nachweis strafrechtlich relevanten Handelns« zugelassen habe.908 Es war also ein illegales Manöver. Tatsächliche Argumente gegen Hartmann gab es 906  Befragungsprotokoll vom 29.4.1976; ebd., Bl. 205–211, hier 207–211. 907  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 11 f. u. 14. 908  HA XVIII/8, HA IX / OfS, vom 10.5.1976: Abschlussbericht über die Befragung; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 4, Bl. 212–220, hier 212.

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nicht. Lonitz log und erpresste um Strafrechtsrelevanz zu erhalten. Alle vorherigen internen Prüfungen der HA IX hatten ein solches Ergebnis geradezu abgewiesen. Hatte Lonitz den Spezialauftrag etwa über Pyka und / oder Mittig bekommen? Plötzlich lautete das Ergebnis positiv, das nun »das viele Jahre zurückliegend erarbeitete operative Material, welches eine Verbindung zum Geheimdienst vermuten, jedoch keinen logischen Handlungsablauf erkennen ließ, Widersprüche enthielt und von den Hinweisen her nicht überprüfbar war, im Wesentlichen bestätigt wurde.« Dennoch wolle man weiter »ungeklärte operativ relevante Hinweise zu Personen und Sachverhalten« erarbeiten. Um dies zu erreichen, werde man dazu übergehen, Hartmann zu korrumpieren: »Diese Zusammenarbeit sollte darauf ausgerichtet sein, ein vertrauensvolles Verhältnis Professor Hartmanns zum MfS zu erreichen, um ihn später, bei gleichzeitiger Auswertung der Ergebnisse operativer Überprüfungen und Kombinationen, auch zu einem vollen Geständnis seiner vermutlich bisher unvollständig dargelegten, gegen die DDR gerichteten Handlungen, zu bewegen.«909 Das Papier ging an den Mielke-Stellvertreter Mittig sowie an die Leiter der BV Dresden, HA XVIII, HA IX sowie an Oberst Dr. Pyka von der HA IX.

Exkurs 11: Lehrbeispiel »Tücke«: Lonitz Werner Lonitz wurde am 23. Januar 1930 in Plauen geboren. Von Beruf Tischler, trat er 1951 der SED bei. Ein Jahr später, am 22. Juli 1952, wurde er beim MfS, KD Plauen der BV Karl-Marx-Stadt, als operativer Mitarbeiter eingestellt. Von 1953 an war er in der HA  IX tätig, ab November 1961 Referatsleiter der HA IX/2/3 und später stellvertretender Abteilungsleiter der HA IX/3. Im Februar 1971 begann er eine Tätigkeit als Offizier für Sonderaufgaben (Beauftragter für Unter­suchungsaufgaben in der Volkswirtschaft) der HA IX.910 Eine »akademische« Ausbildung erhielt er von 1956 bis 1962 an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft (DASR) »Walter Ulbricht«. 1963 bis 1966 erwarb er über ein Zusatzstudium an der HU Berlin den Abschluss als Diplom-Jurist. Im Juni 1971 wurde er zusammen mit zwei Offizieren der Juristischen Hochschule Potsdam mit der Gemeinschaftsarbeit promoviert: »Die strafrechtlichen Anforderungen und die Methodik der Beweisführung bei der Bekämpfung von Sabotageverbrechen gegen die Volkswirtschaft der DDR«. In der Phase der finalen Bearbeitung Hartmanns stand er im Range eines Oberstleutnants.911 Es dürften seine Dresdener »Fälle« gewesen sein, die ihm besonderen Lohn eingebracht hatten, u. a. im Mai 1973 die Verdienstmedaille der NVA in Gold, im März 1975

909  Ebd., Bl. 212, 217 u. 219 f. 910  Vgl. Auskunft, Teil I, vom 17.4.1974; BStU, MfS, KuSch, Nr. 13443/90, Bl. 4 f. 911  Kaderkarteikarte (KKK); BStU, MfS, Bl. 1–4 sowie Formular »Auskunft«; BStU, MfS, HA IX, AG BMS, Bl. 4–8.

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eine Prämie in Höhe von 500 Mark und schließlich zum 7. Oktober 1977 den Kampforden in Gold.912 Die Einschätzungen über ihn zeigen einen Mann, der von seinen Vorgesetzten immer wieder diszipliniert werden musste, der Strafen erhielt, der die Grenzen des Anstandes durchbrach: »unausgeglichener Charakter«, »übertriebenes Selbstbewusstsein und Selbstverherrlichung«, »sehr sensibel«, »unbeherrscht und undiszipliniert«,913 der Rest, besser: das Eigentliche seines Charakters unterliegt dem Datenschutz nach den Bestimmungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG). Spiegelbildlich dagegen wurde er für seine Arbeit in höchsten Tönen gelobt. Er habe »langjährige Spione der verschiedensten Geheimdienste, Schädlinge und andere Verbrechen, die sich gegen die Volkswirtschaft der« DDR »richteten«, entlarvt.914 In der Begründung seines Einsatzes als Beauftragter für Unter­ suchungsaufgaben in der Volkswirtschaft hieß es u. a., dass Lonitz »ein der Partei der Arbeiterklasse treu ergebener Mitarbeiter« sei, »der es versteht, die Beschlüsse der Partei und Staatsführung schöpferisch anzuwenden«.915 Schöpferisch hieß: erfinderisch. Er legte großen Wert auf Äußeres, kleidete sich elegant, was recht ungewöhnlich für MfS-Offiziere war: gestreifter Anzug, dicke, eckige und recht dunkle Hornbrille. Seine Augen auf Fotos zeigen einen harten, einen verächtlichen Blick. Ein Mann, der unbedingt auffiel, einer, mit dem man besser nichts zu tun gehabt haben mochte. Ein Mann auch, der dies wusste und sich zu verstellen, zu spielen verstand. Hartmann, der am Boden lag, vom MfS zu Fall gebracht war, wurde plötzlich, so als nichts geschehen wäre, von einem freundlichen Herrn aufgesucht, der sich bald »sein Freund« zu nennen pflegte. (»Dr. Lonitz betonte mehrfach, dass sich zwischen uns fast eine Freundschaft entwickelt hätte. Ich wäre doch sicher bereit, ihm in seiner Arbeit zu helfen.«916) Elegant, redegewandt, locker auf einer Tischecke sitzend, redete er über Gott und die Welt, aber nur insoweit, wie über diese Dinge die DDR-Zeitungen schrieben, er stellte behutsam Fragen, hörte zu, war freundlich. Er spielte vor allem immer den Leidenden, der eigentlich gern was anderes täte, schon gar nicht anderen ein Leid zuzufügen: »Wir wollen von Ihnen nichts, was Ihre Persönlichkeit antasten würde.« Mehr habe er, so Hartmann, nicht zu seiner Motivik, diese Gespräche mit ihm zu führen, gesagt.917 Es war fad und seicht, was Lonitz sagte, worauf kaum ein Gespräch zustande kam; Hartmann: »Ich sagte etwas, ich sagte aber in Wirklichkeit doch nichts.«918 Er

912  Vgl. ebd., Bl. 8. 913  HA IX / I II vom 17.1.1959: Beurteilung; ebd., Bl. 64–66, hier 65. 914  HA IX vom 19.12.1963: Vorschlag zur Auszeichnung; ebd., Bl. 83–86, hier 85. 915 HA IX vom 5.11.1970: Begründung für Einsatz in anderer Funktion; ebd., Bl. 104 f., hier 104. 916  TSD; Nachlass Hartmann, JZ 33. 917 Ebd. 918  Ebd., E 3.

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wickelte ihn, den man eigentlich nicht einwickeln konnte, regelrecht ein, besser: er klopfte ihn weich für ein finales Gespräch, von dem nur er wusste. Er wurde, was zum Spiel passte, bei den ersten drei Gesprächen vom 27. bis 29. April jedes Mal von einer »sehr elegant gekleideten« jungen Dame begleitet. Hartmann: »Ich diktierte Dr. L. eine Kurzfassung des Besprochenen ins Stenogramm, ich wurde aufgefordert, zu korrigieren, falls ich nicht einverstanden sei; von dieser Möglichkeit machte ich ausgiebig Gebrauch. Zum Abschluss fügte Dr. L. einen kurzen Abschnitt an (›Wissen Sie, Professor, diesen Abschnitt brauchen wir, Genosse X und ich, an unsere Chefs!‹), in dem stand, dass ich mit dieser Form der ›Unterhaltung‹ einverstanden sei, sie für nützlich hielt und mich verpflichtete, niemanden, auch den nächsten Angehörigen, etwas von dem, was in diesen vier Wänden gesprochen worden sei, zu erzählen. Täte ich es doch, könnte dies für mich strafrechtlich Folgen haben.«919 Ein solches Dokument ist in der Akte des OV »Molekül« nicht überliefert. Wir wissen es nur aus den Gedächtnisprotokollen. Lonitz sprach kryptisch. Er verfügte über die Gabe, etwas zu sagen, dass einer seltsamen Interpunktion gehorchte, die einen Glauben machte, alles verstanden zu haben, nur hernach wusste man nicht, was überhaupt gesprochen worden war. Manches erschloss sich gar nicht; Lonitz: »Wir brauchen sonst vier Exemplare [der Gesprächsprotokolle], in Ihrem Fall machen wir nur zwei«. Hartmann: »Was das bedeuten sollte, weiß ich nicht«.920 Lonitz wird, so war sein Plan, aus einer Mücke einen Elefanten machen. Seine Kollegen in der HA  IX hatten alle Versuche der operativen Diensteinheiten, Hartmann der Spionage zu überführen, verworfen. Es gab nicht die geringste, belastbare Spur eines Beweises. Zwei für Hartmann längst vergessene Episoden von 1957, als er urlaubsweise in der Bundesrepublik weilte und sich mit Bekannten und Freunden traf, thematisierte Lonitz. Einer der Bekannten stellte ihm eines Tages einen Mann vor, der durchblicken ließ, dass Hartmann doch in den Westen gehen könne, er wolle sich demnächst noch einmal mit ihm unterhalten. Was dann auch geschah. Hartmann versuchte sich zu erinnern, zu rekonstruieren. Aber es war ja nur eine von zahllosen Begegnungen. Er war sich aber sicher, dass sein Bekannter ihm diesen Mann, von Lonitz »Glasauge« geheißen, weder schriftlich noch mündlich angekündigt habe. Gegenüber Lonitz beteuerte er, dass er weder Aufträge für Berichte noch Geldzahlungen erhalten habe. Was hatte Lonitz zu bieten? Die ihm vorliegenden »Fakten« waren allesamt äußerst dürftig. Also pokerte er, stellte die Behauptung auf, wonach er wisse, dass »Glasauge« ihn zu werben beabsichtige und ihm dafür eine Geldzahlung versprochen habe. Daraufhin will Hartmann geantwortet haben, dass das absurd sei, allein schon wegen der geringen Summe, Lonitz hatte von 5 000 Mark gesprochen. Dafür könne man doch nicht seine Freiheit aufs Spiel setzen, so Hartmann. Und er verwies in

919  Ebd., JZ 30. 920 Ebd.

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diesem Zusammenhang auf die hohe Geldleistung, die er für den Einsatz in der Sowjetunion erhalten habe.921 Folgende Erinnerung Hartmanns bezieht sich auf jenes Gespräch, das er mit Lonitz am 5. August 1976 geführt hatte, bei dem Lonitz bestellte Unterlagen zu Fragen seiner fachlichen Entwicklung, seinen Westverbindungen, der Entwicklung der Elektronik und zu Fragen im Zusammenhang mit seiner aktuellen Tätigkeit in Freiberg bei ihm abholte. Bei diesem Gespräch zeigte Lonitz sein anderes Gesicht, jenes, dass man auf seinen Passbildern sieht; Hartmann: »Dr. Lonitz schlug aus mir nicht ersichtlichen Gründen einen härteren, unfreundlichen, manchmal lauteren Ton an.« Lonitz hatte die Unterlagen durchgeblättert, nicht gelesen, redete von »der angeblichen Freundschaft, die zwischen uns während der bisherigen Gespräche entstanden sei, die nun aber zerstört wurde oder sei.« Hartmann verstand dies nun gar nicht, da nichts vorgefallen war, nachgefragt habe er aber nicht, da ihm dessen Behauptungen »zu albern« vorkamen. Lonitz legte dann los, machte zunächst seine Arbeit bei Vakutronik schlecht, Einwürfe seinerseits konterte Lonitz mit abfälligen Bemerkungen. Er mag Hartmann regelrecht gereizt haben, kannte er doch mit Sicherheit aus den Akten die Achillesverse Hartmanns. Doch er ließ sich nicht provozieren. Er erwähnte Anerkennungen, die Lonitz’ Kritik entgegenstünden, nannte Personen, die von seiner Arbeit überzeugt gewesen seien wie zum Beispiel Apel. Das Argument »Apel«, möglicherweise von Hartmann bewusst gesetzt, saß; Lonitz: »Apel war kein Guter!« Alles was Lonitz zu »Leistungen« Hartmanns ansprach an diesem Tag, machte er verächtlich. Hartmann erkannte: »Es war sein Prinzip, den Verhörten weich zu machen.«922 Dieses Gespräch zur Übergabe von Materialien, bei dem Lonitz nicht in Begleitung war und das auch nicht im konspirativen Objekt stattfand, lief in der Nummerierung Hartmanns nicht als fünftes, ebenso jenes am 28. Mai in der BV Dresden geführtes Gespräch nicht als viertes. Das sogenannte vierte Gespräch fand demnach am 23. November 1976 in Anwesenheit eines Offiziers der BV Dresden statt, und zwar wieder in dem konspirativen Objekt. Lonitz spielte zwischen »gut gelaunt« und »gereizt«. Er habe, so Hartmann, »in unsystematischer Reihenfolge Themen der vorangehenden Verhöre« angeschnitten »und wollte mich wohl aufs Glatteis führen«. Hartmann versuchte Lonitz des Öfteren in dessen Wiedergabe von Gesprächen aus den ersten drei »Verhören« zu korrigieren, wobei der dann aufbrauste und schrie »Professor, wir haben alles auf Tonband«, er könne »gleich wiederholen lassen, was Sie damals sagten!«. Dazu forderte ihn Hartmann auch mehrmals auf, nie aber ließ Lonitz ein Tonband abspielen. Er hatte auch keines entdeckt, auch keine Anzeichen dafür. Hartmann hatte, soweit es ging, alles genau besehen, auch die Unterseite der Tischplatte mit der Hand, »soweit es ohne Schwierigkeiten möglich« war, abgetastet. Allerdings hielt Hartmann es für möglich, dass zumindest vom Nebenraum aus mitgeschnitten wurde. 921  Ebd., E 4–7. 922  Ebd., JZ 34.

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Gerade niedergemacht, »wechselte« Lonitz »plötzlich« seine »Tonart und stellte fest, wie tüchtig und fähig ich wäre, wieviel ich geleistet hätte, welch Vorbild ich für junge Leute gewesen sei usw.«. Aber kaum gesagt, sprach er wieder von Fehlern, die er gemacht haben soll. Wer mache sie nicht, so Hartmann. Aber insgesamt könne die Arbeit doch so schlecht ja auch nicht gewesen sein, sonst hätte es zum Beispiel Nationalpreise nicht geben dürfen. »Kaum« hatte er dies »gesagt«, sprang Lonitz auf »und brüllte: ›Dafür könnte ich Sie erwürgen!‹« Hartmann will bei diesem Wahnsinnsausbruch ganz ruhig geblieben sein und der Leiter der BV Dresden, der bei diesem Gespräch anwesend war, habe ihm gesagt: »Professor, das war keine Drohung!« Das Treffen wurde kühl beendet. Irgendwie stammelte Lonitz, es sei schade, dass die freundschaftlichen Beziehungen zerbrochen seien, er aber dafür gar nichts könne. Hartmann: »Heute glaube ich, dass es zum Programm gehörte, zum Schluss wieder unfreundliche Beziehungen zu installieren, um mich abzuschrecken«.923 Es war die letzte Begegnung mit Lonitz. Die Summe der gesamten Begegnungen war Psychoterror. Ein Terror, den Hartmann erst nach geraumer Zeit versuchte zu dechiffrieren, jedoch unmittelbar situativ darunter erheblich litt. Die, die ihn kannten, erlebten, dass er sich veränderte. Lonitz, der das Fenster der absurden Freundschaft öffnete, war gewiss seine Hoffnung, da alle Versuche der Aufklärung und Rehabilitation bis dahin nahezu antwortlos versandeten. Keiner von den Entscheidern hatte mit ihm geredet. Die Begegnungen mit Lonitz erwiesen sich als Schall und Rauch und hinterließen Angst. Der letzte Kontakt mit dem MfS war am 23. Februar 1977, als der Leiter der BV Dresden ihn anrief und nachfragte, ob er, Hartmann, noch etwas zu Papier gebracht habe. »Warum«, fragte Hartmann später, hatte »das Interesse des MfS an mir so plötzlich aufgehört«. Er spekulierte, dass dies mit den Glückwünschen zu seinem 65. Geburtstag von Honecker und Modrow zusammenhängen könne, aber auch mit Hartwigs* überraschend schneller Entlassung, gemessen an dem verhängten Strafmaß.924 In Wahrheit aber war es ein konzertiertes, böses Spiel der SED und des MfS, ein Spiel, das alles andere als einmalig war. Lonitz war nicht irgendwer in der HA IX. Bereits 1977 war er fest etabliert, hatte etwas zu sagen, war – angefangen bei der Konzeption bis hin zur Abnahme – federführend an der Errichtung des Traditionszimmers der Hauptabteilung beteiligt. Ein Traditionszimmer, das dem heroischen Kampf der HA IX gegen Verräter, Spionage und Sabotage gewidmet war.925 Es zählt zur Wahrheits- und Genauigkeitspflicht jeden Historikers, die Dinge beim Namen zu nennen, wenn alle Quellen ein und dasselbe aussagen: Lonitz war – in Abwandlung eines Sartre-Wortes – »Pfahl im Fleische seiner Opfer«. 923  Ebd., JZ 36 f. 924  Ebd., JZ 38. 925  Vgl. MfS vom 5.5.1977: Entwurf zur Konzeption; BStU, MfS, HA IX, Nr. 23299, Bl. 44–54; MfS vom 9.8.1977: Entwurf zur Konzeption; ebd., Bl. 39–43; MfS vom 13.7.1978: Aktenvermerk; ebd., Bl. 23–25.

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Zur überraschenden Entlassung: Am 6. Mai 1976 teilte Oberst Bormann, Stellvertreter Operativ der BV Dresden, Generalmajor Mittig, Stellvertreter des Ministers, mit, dass er »sowohl mit dem Strafgefangenen Dr. [Hartwig*] als auch seiner Ehefrau seit dem Abschluss der Verfahren gegen beide, mit diesen zusammenarbeite [sic!] und deshalb auch das Persönlichkeitsbild« einschätzen könne.926 Die Verurteilung zu 15 Jahren lag gerade einmal zwei Jahre zurück! Hatte das MfS ein schlechtes Gewissen? Nein, es war von Anfang an Programm. In der Sache ging es Bormann um eine perspektivische Arbeit für Hartwig*, die Vorschläge hierzu fügte er seinem Schreiben an. Bereits nach seiner Verurteilung sei mit ihm »intensiv an operativ-­ interessanten Personen weitergearbeitet« worden. Bormann: »Es kann eingeschätzt werden, dass der Strafgefangene Dr. [Hartwig*] heute volles Vertrauen in die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit setzt und erwartet, dass ihm eine echte Chance der Wiedergutmachung gegeben« werde.927 Zynisch wollte das MfS sein Opfer nun zur Befriedigung eigenen Nutzinteresses verwenden. Man beabsichtigte, ihn in die Bundesrepublik zu Spionagezwecken zu entlassen.928 Mittig ist hierzu eine Stellungnahme der HA XVIII vom 20. Mai überliefert worden. Einschließlich der Untersuchungshaft war er dreieinhalb Jahre aus der Arbeit herausgenommen. Das war bedenklich in Bezug auf das Fachwissen, er werde wohl nicht mehr in relevanten Firmen unterkommen. Auch gebe es kein »Faustpfand«, das »ihm zu einer ehrlichen Zusammenarbeit« mit dem MfS zwingen werde. Was aber auch negativ zu Buche schlug war Folgendes: »Bei einer Strafaussetzung zum jetzigen Zeitpunkt ist zu beachten«, dass er umfangreiche Kenntnisse über Mittel und Methoden des MfS bei der Nachweisführung der Paragrafen 97 und 104 StGB infolge seiner Inhaftierung nach Paragraf 213 StGB erhalten habe. »Die Gesamtheit der Beweismittel wurde von zahlreichen Gutachtern, die auch gegenwärtig noch leitende Funktionen in der Volkswirtschaft der DDR ausüben, erarbeitet.«929 Im zweiten Quartal war Hanischs inoffizielle Arbeit – neben anderen operativen Vorgängen – weiterhin auf den OV »Molekül« gerichtet. Ein bilanzierender Bericht des MfS vom 25. Juni spricht von 174 Berichten, Gutachten und Beweismitteln, die Hanisch allein zu diesem und dem Untersuchungsvorgang (UV) »Wissenschaftler« erarbeitet hatte. Er nahm auch weiterhin an Wohnungs- und Arbeitsplatzdurchsuchungen teil, die von den Abteilungen IX und VIII durchgeführt worden sind.930 »Gutachter« Hanisch versuchte sich am 5. November nicht nur wissenschaftslogisch, sondern geradezu ideologisch-kryptisch, wenn er Hartmann unterstellte, Zitate »zielgerichtet aus dem Zusammenhang herausgenommen« und plagiiert zu haben: Hartmann habe im spectrum Zitate aus einer Festansprache Rompes »und 926  BV Dresden, Stellv. Operativ, an Mittig vom 6.5.1976; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 10828, Bl. 1. 927  Anlage zum Anschreiben vom 6.5.1976; ebd., Bl. 2–4, hier 2. 928  Vgl. ebd., Bl. 3 f. 929  HA XVIII vom 20.5.1976: Stellungnahme; ebd., Bl. 5–7. 930  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 25.6.1976: Aktenvermerk; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 6, Bl. 2.

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unter Berufung [sic!] auf Professor Rompe« entnommen.931 Der folgende Zusammenhang ist für die Charakterisierung der Denkweise Hanischs und damit des MfS von grundlegender Bedeutung, zeigt er doch, dass Inkompetenz mit Deutungsmacht in einem Polizeistaat ein unheilvolles Amalgam eingehen kann: »Das Nebeneinander von wissenschaftlich beherrschten Teilen einer Technologie mit anschaulich empirischen […] ist eine unbestrittene Tatsache, jedoch keinesfalls Begründung dafür, dass ein Verfahren einmal funktioniert und einmal wieder nicht, wie Professor Hartmann seine ›Schwarze Magie‹ interpretierte! Ein auf empirisch gewonnenen Erkenntnissen aufgebautes ›Know-how‹ wird in der Regel sogar verkauft und garantiert eine stabile Produktion. Eine Bestätigung der von Professor Hartmann in seinem Artikel dargelegten Thesen, mit denen er die mangelhafte Stabilität der Produktion ›wissenschaftlich‹ zu begründen oder zu entschuldigen versuchte, erfolgt durch die hier angegebenen Zitate nicht. Allein der Versuch dazu ist durchaus nicht ungefährlich. Dazu sollte unbedingt eine kritische Auseinandersetzung erfolgen, u. U. sogar Professor Rompe veranlasst werden, dazu Stellung zu nehmen, da Professor Hartmann ihm hier eine Auslegung in seinem Sinne unterschiebt, die nicht unwidersprochen bleiben darf. Zu beachten ist dabei aber, dass Professor Rompe in kritischen Situationen Professor Hartmann stets bis an die Grenze der Offenbarung unterstützt hat und nachweislich selbst grundsätzlich anders handelte als er es in offiziellen Reden propagierte.«932 Am 1. Dezember wurde der OV »Molekül« abverfügt. Die Anwendung strafrechtlicher Maßnahmen war »nicht gegeben«. »Nicht gegeben« wurde handschriftlich korrigiert in »nicht durchzuführen!«933 Soweit der formale, geschönte Akt. Hanisch schrieb am 2. Dezember direkt an das MfS in Berlin, jedoch gewissermaßen auf dem »Dienstweg« über die BV  Dresden, einen Situationsbericht zur AMD, die er in einer gegenwärtig »äußerst kritischen Entwicklung« sehe. Der Zweck seines Schreibens kannte jedoch nur ein Ziel: die Person Hillig, sein neuer Hauptfeind. Zur Sache: »Im Ergebnis einer Beratung« Hans Modrows, dem 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED, mit Minister Steger war »eine Überprüfungsgruppe des MEE gebildet« worden, die ab dem 1. Dezember 1976 in der AMD wirksam geworden sei. »Völlig unverständlich« sei es aber, so Hanisch, dass zu dieser Gruppe auch Hillig gehöre, der nach Hartmann »am stärksten belastete«. In der Gruppe spiele er eine »maßgebliche Rolle«. Diese Entwicklung »würde mit Sicherheit allen Bemühungen der positiven Kräfte des Instituts direkt ins Gesicht schlagen. Das kann und darf wohl nicht Ergebnis der vom Minister eingeleiteten Aktivität sein.« Der AMD-Leiter arbeite bereits enger mit Hillig als mit dem Parteisekretär Dietrich Theß zusammen. Wiederholt insistiert Hanisch in diesem Schreiben auf 931  »Rüdiger« vom 5.11.1976: Einschätzung der Ausarbeitungen von Hartmann (Artikel-Analyse); ebd., Bl. 175. 932 Ebd. 933  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 1.12.1976: Beschluss für das Anlegen eines OV; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 1, Bl. 96.

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eine Verbindung »Maurer*  – AEG-Konzern  – Hillig«. Die gegenwärtige Kaderentwicklung laufe auf eine »Restaurierung des alten Zustandes« hinaus. Und er denunzierte einmal mehr Hillig mit dessen »bereits vor Jahren erfolgten Ausspruch: ›Wir müssen alle in die Partei gehen, dann können wir den Laden umkrempeln!‹«. Hanisch schloss: »Ich glaube, dass sich die Entwicklung der Mikroelektronik gegenwärtig in ihrer bisher kritischsten Phase befindet [sic!] und bitte, die in großer Besorgnis gegebenen Hinweise sehr kritisch zu prüfen.«934 Am 30. Januar 1977 ging Hartmann in Rente. Vier Monate später, am 31. Mai, erhielt er von Minister Hans-Joachim Böhme (MHF) die Urkunde zu seiner Emeritierung mit Wirkung zum 1. September. Sein Mitarbeiter Becker schreibt: »Es gehört zu den erfreulichen Ungereimtheiten der totalitären Episode nach 1974, dass sich die Verbannung Hartmanns aus dem Mikroelektronik-Wirkungskreis nicht auf seine akademische Tätigkeit ausgedehnt hat.«935 Für manchen Zeitgenossen mag diese späte Emeritierung ein Rätsel sein, doch diente alles nur der Fassade, war Methode und bildete mit dem eigentlichen Ziel der SED und des MfS, die Machtübernahme in der AMD zu erlangen, keine gemeinsame Schnittmenge. Nur wenige Jahre nach der Entfernung Hartmanns meldete das Halbleiterwerk Frankfurt / O. die Bestätigung seiner Technologie-Philosophie: »Die Mängel bei der Produktion sind zu einem erheblichen Teil auf ein Nichtbeherrschen bzw. auf die Nichteinhaltung der Technologie im Zyklus I (Scheibenbearbeitung) der Produktion von analogen FKS zurückzuführen.« Und jene Mängel, jenseits der eigentlichen Technologieproblematik, entsprachen in voller Weise der DDR-Typik. So wurde das Fehlen von Technologen beklagt, da einige Mitarbeiter nicht als Geheimnisträger aufgrund von aktiver Westverwandtschaft verpflichtbar waren oder dies ablehnten, da sie die Beziehungen nicht aufzugeben bereit waren. Dies hatte »Auswirkungen auf den unmittelbaren Arbeitsprozess, da diesen Personen wichtige Informationen, die sie für ihre Tätigkeit benötigen, nicht zugänglich sind und sie für die Lösung bestimmter Forschungsaufgaben nicht herangezogen werden können. Weder der Haupttechnologe noch ein Abteilungsleiter sind Mitglied der SED.« Eine Konzentration von Beschäftigten, die Westfernsehen sahen und obendrein den Empfang von DDR-Sendern ablehnten, sei »durch Umstrukturierung beseitigt« worden. Verwarnt wurden Mitarbeiter des Direktorats Forschung und Entwicklung, da sie »Schriften des Renegaten Solschenizyn« gelesen hätten.936

934  Schreiben von Hanisch an das MfS vom 2.12.1976: Hinweise zur »äußerst kritischen Entwicklung« in der AMD; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 149 f. u. 152. Das Hillig-Zitat lautet an anderer Stelle bei Hanisch: »Wir müssen alle in die Partei hinein, dann krempeln wir den Laden um.«, in: »Rüdiger« vom 28.6.1975: Auswertung von Archivunterlagen zu den Beziehungen Hartmann-Hillig; ebd., Teil II, Bd. 4, Bl. 211–10, hier 218. 935  Becker: 100. Geburtstag von Werner Hartmann, S. 197. 936  BV Frankfurt / O. vom 18.2.1977: Hemmnisse und Unzulänglichkeiten bei der Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts; BStU, MfS, BV Frankfurt / O., AKG, Nr. 472, Bl. 285–290.

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Die Freilassung von Hartwig* notierte Hartmann am 27. Februar. Auch hielt er die überraschenden und unverständlichen Geburtstagsgratulationen von Honecker und Modrow fest.937 Am 1. März entschuldigte sich Steenbeck schriftlich bei Hartmann, dass er bei seinen Interventionen praktisch nichts erreicht, aber einiges angestoßen habe: »Was herauskommt, weiß ich nicht, und mehr kann ich nicht tun – außer der Versicherung, dass Sie selbstverständlich jederzeit mich aufsuchen, mir schreiben können, ich denke nicht daran, unser persönliches Verhältnis auch noch kaputt machen zu lassen. Es ist wenig, ich weiß.«938 Am 25. März listete das MfS insgesamt 233 Berichte Hanischs zum Fall Hartmut Maurer* auf. Lonitz war federführend mit dieser Spezialarbeit befasst. In die Endfassung des Gutachtens gingen allein 180 Berichte ein, geschrieben zwischen dem 10. Februar und 8. März 1977.939 Eine fürwahr fleißige, wenn nicht gar einmalige inoffizielle Arbeit dessen, der eigentlich als Physiker und Mikroelektroniker für die Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR hätte arbeiten müssen. Am 12. Juli erhielt Hartmann vom Institut für Mikroelektronik Dresden (IMD), der abermals umbenannten Arbeitsstelle, schriftlich die Mitteilung, dass er künftig nicht mehr Zeitschriften aus der Bibliothek des Hauses ausleihen dürfe. Zwei Tage später teilte er diesen Sachverhalt Generaldirektor Lungershausen mit. Am 9. September erinnerte er Lungershausen, dass er auf Antwort warte. Möglicherweise kam Hartmann dann auf dieses Problem bei einem Gespräch mit ihm am 6. Februar 1980 in Berlin zurück.940 Es ist wahrscheinlich, dass er nie wieder Zeitschriften ausleihen durfte. Vermutlich im Herbst ist ein Papier entstanden, das den quasi-definitorischen Kern des unterwanderten Technologiebetriebes941 durch das MfS belegt. Es ist ein Antrag für den Einsatz Hanischs als stellvertretender Institutsdirektor, der nur den Interessen des MfS zu dienen versprach, und letztlich dem IMD-Leiter abge­ rungen oder eben aufgedrückt worden ist. Es ist zu zitieren: »Seit Abschluss des Prozesses gegen Dipl.-Phys. Maurer* arbeitet Genosse Dr. Hanisch auf Ersuchen des Untersuchungsorgans in meinem Auftrag und im Interesse des Gerichts und der Staatsanwaltschaft des Bezirkes in Auswertung der Prozesse an der Analyse und Sichtbarmachung verbrechensbegünstigender Umstände und Bedingungen, an der Ableitung und Einleitung von Maßnahmen zur Beseitigung dieser Bedingungen im Institut sowie an der Problematik genereller vorbeugender schadensverhütender 937  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 15. 938  Schreiben von Steenbeck an Hartmann vom 1.3.1977; ebd., S. 1 S. 939  Vgl. Bericht vom 25.3.1977: Angaben zu den Berichten von »Rüdiger«; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 7, Bl. 129 f. 940  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 15–17. 941  In allgemeiner Form, aber auch für die AMD: Barkleit, Gerhard / Dunsch, Anette: Anfällige Aufsteiger. Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in Betrieben der Hochtechnologie. Dresden 1998.

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Maßnahmen. Diese Arbeiten tragen den Zielsetzungen der 6. Tagung des ZK unserer Partei hinsichtlich der Erhöhung der Effektivität der Forschung und Entwicklung und der Gewährleistung der dazu erforderlichen Ordnung und Sicherheit direkt Rechnung und liegen somit im unmittelbaren Interesse unseres Institutes und des Industriezweiges.« Der Umfang sei so groß, dass der Einsatz Hanischs als Stellvertreter des Institutsdirektors geboten sei. Das Schreiben enthält gelistet die gesamten staatlichen Verdienste Hanischs.942 Hanisch war Verschwörungstheoretiker, und so fand er schlussendlich am 9. September heraus, dass die »Endpunkte aller bisherigen Recherchen« zu Hartwig* und Maurer* über Hartmann »ausnahmslos« zu den »Professoren Ardenne, Thiessen und Hertz« führten. War er berauscht von seinem »Erfolg«? Sein Konstruktivismus war abenteuerlich: Ardenne: »persönlicher enger Kontakt zu Göring!«, »zur Abwehr der Reichswehr (Curtius) sowie zu maßgeblichen Vertretern der Industrie«, wie zum Beispiel Siemens, AEG, Krupp. Als besonders bedeutungsvoll nannte er den Kontakt zu Thiessen (Vorsitzender des Reichsforschungsrates), Gerlach (Vertreter der Kerntechnik im Reichsforschungsrat), Hertz (Siemens), Hollmann (Verbindung zur Kriegsmarine und Dönitz) sowie Houtermans (Kerntechnik). Hanisch: »Noch vor Kriegsende, als der Einmarsch der sowjetischen Armee in Berlin abzusehen war, wurde der so von Ardenne bezeichnete ›Schutzring Ardenne-Thiessen-Hertz‹ gegründet.« Die Zusammenstellung der Wissenschaftler in der Sowjetunion (Sinop, Agudseri) schob er Ardenne zu und nannte die Namen: Steudel, Thiessen, Steenbeck, Hertz, Volmer, Hartmann, Barwich, Schütz, Richter, Born, Rexer, Weiss und Bumm.943 Hanisch verstieg sich zu einer maßlosen, wahnhaften Einschätzung: »Der ›Schutzring Ardenne – Thiessen – Hertz‹ wirkte nun, geprägt durch den noch verstärkten Hass dieser Personen gegen die sozialistische Entwicklung, gegen die Entwicklung von Wissenschaft und Technik in der DDR. Die ausgesprochenen Schutzerklärungen und helfenden Aktivitäten von Thiessen und Steenbeck für Professor Hartmann, die von Rompe exakt praktisch umgesetzt wurden, als die schädigende Tätigkeit von Professor Hartmann auf dem Gebiet der Mikroelektronik durch Aktivitäten des ZK der SED aufgedeckt zu werden drohten, sind ein deutliches Beispiel dafür.« Hanisch führte an dieser Stelle nochmals die »Kaderpolitik« Hartmanns und Barwichs auf, die planmäßig das Ziel verfolgt haben soll, einen »schädigenden Einfluss in Schlüsselpositionen von Wissenschaft und Industrie« herbeizuführen. Solche Beispiele ließen sich »auf fast alle Hochschulen und Universitäten und weitere wichtige Industriepositionen erweitern. Es sei an dieser Stelle nur an den von Professor Hildebrand (TU Dresden, vormals Siemens!) organisierten ›Siebenerkreis‹ erinnert, 942  Schreiben ohne Angabe des Verf. und o. D.; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 159 f., hier 160. 943  Hanisch: Erste zusammenfassende Darstellung der aus der Bearbeitung der OV »Wissenschaftler« und »Automat« resultierenden Erkenntnisse; ebd., Teil  II, Bd. 8, Bl. 399–403, hier 399–401.

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dessen Mitglieder fast ausnahmslos (bis auf den verurteilten Dr. [Hartwig*]) als Professoren berufen wurden oder in entscheidenden Funktionen in Schlüsselpositionen der Industrie eingesetzt wurden.«944 Bei einer Arbeitsplatzdurchsuchung eines Siebenerkreismitglieds fand sich in seinem Kalender ein Eintrag zur Teilnahme am Siebenerkreis: »in Form einer fotografisch gesicherten Kalendereintragung« für den 6. Juni 1970. Hanisch weiter: »Da sich eine solche gegen die DDR gerichtete Arbeitsweise von Professoren, die vormals Angehörige großer Konzerne waren (Professor Hildebrand – Siemens, eng persönlich mit Professor Hartmann befreundet!), durch die Untersuchungen zu den Strafverfahren gegen Dr. [Hartwig*] und [Maurer*] mehrfach bestätigt hat, sollte der Bearbeitung des ›Siebenerkreises‹ mit seiner politisch und wirtschaftlich gegen die DDR gerichteten Zielstellung im Zusammenhang mit der subjektiven Seite zu Schnabel [siehe Kap. 5.1] größte Bedeutung beigemessen werden.«945 Hanisch wies seinen Führungsoffizier auf das Titelblatt der Zeitschrift Feingerätetechnik (Heft 2 von 1967) hin, worauf Hildebrand »im Kreise« jener »Personen« abgebildet ist, die den sogenannten Siebenerkreis darstellen sollten.946 Laut Hanisch gebe es eine unverhohlene Position des Siebenerkreises gegen die Politik der SED, die aktive Maßnahmen einschließe. Und er vergaß nicht zu erwähnen, dass der Siebenerkreis eine »›Vereinsfahne‹ in Form einer Kreuzschleife« gestiftet habe, »auf der die Einladungen zu den Treffen« jeweils eingetragen würden.947 Vom 13. Oktober stammt ein Dankschreiben des Direktors der Sektion  10 (Elektronik-Technologie und Feingerätetechnik) der TU Dresden, Dieter Stündel an Hartmann. Die letzte Vorlesung hatte Hartmann am 5. Juli von 7.30 bis 8.55 Uhr im Südflügel des Schumannbaus in der Helmholtzstraße, Hörsaal 386, gegeben. Sie galt der Elektrophysik. Zu seiner 21 Jahre umfassenden Lehrtätigkeit auf neun Gebieten der Physik und Messtechnik erinnert er später, dass die Vorlesungen »immer sehr gut angekommen und besucht worden« seien. Freude habe er empfunden, aber hauptberuflich habe er dies wegen des Trotts, immer nur nahezu das Gleiche lehren zu müssen, nicht machen wollen. Andererseits wäre, so Hartmann, »mir der Crash von 1974 erspart geblieben«.948 Die Bilanz der Arbeit von Hanisch vom 24. Oktober für den Zeitraum 6. bis 21. Oktober konnte sich einmal mehr sehen lassen, allein zu dem UV »Wissenschaftler« und dem OV »Entwicklung« verfasste er 37 »analytische« Berichte.949 Hanisch klagte am 20. Januar 1978 erneut seinen ihm bereits versprochenen neuen betrieblichen Status ein. Er verlangte: 1. Klärung des dienstlichen Status, Ein944  Ebd., Bl. 403. 945  »Rüdiger« vom 12.9.1977: Gutachten; ebd., Bl. 442. 946  »Rüdiger« vom 23.8.1978: Zu Aussagen zum Siebenerkreis; ebd., Bd. 10, Bl. 79–81, hier 79; Feingerätetechnik 16(1967)2, Titelbild; siehe Abb. 1 in dieser Publikation. 947  »Rüdiger« vom 23.8.1978: Zu den wichtigsten Aussagen zum Siebenerkreis; ebd., Bl. 82 f. 948  TSD; Nachlass Hartmann, G 52 f. 949 Bericht vom 24.10.1977: Berichtsstatistik zu »Rüdiger«; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 9, Bl. 2 f., hier 3.

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satz als stellvertretender Institutsdirektor. 2. Klärung des Gehaltes; ein Sondergehalt in Höhe von 2 000 Mark. 3. Klärung des Arbeitsortes: »Benötigt wird ein Arbeitsraum mit ein bis zwei Arbeitsplätzen für Gutachter (Telefon / A mtsapparat), einem Arbeitsplatz für Schreibarbeiten (Schreibmaschine kann im Rahmen des Vertrages wie bisher gestellt werden), einem großen Aktenschrank, einem siegelbaren Stahlschrank, einer Sitzgruppe für Beratungen (vier bis sechs Plätze).« 4. Klärung von Vergütungsfragen. Im Rahmen des UV »Wissenschaftler« habe er 1976/77 insgesamt 650 Überstunden geleistet. Das entspreche einem Salär von 5 500 Mark. 5. Klärung der Teilnahme an Parteiveranstaltungen bei unterschiedlichen Arbeitsorten [er wurde auch für den VEB EMD eingesetzt – d. Verf.]. Mit gleichem Datum listete er die Schreibarbeiten seiner Frau für die Fälle Hartwig*, Hartmann, AMD-Chronik, Maurer*, Kockel / Brüche und Schnabel auf. Hier kam er auf 2 020 Stunden.950 Am 21. Januar mahnte er zur Eile in dieser Sache.951 Hartmann veröffentlichte in diesem Jahr einen Artikel zur Nanotechnik. Er war damit einer der ersten, der diese Thematik in der DDR aufgriff,952 eine Thematik, die im 21. Jahrhundert zum substanziellen und terminologischen Durchbruch kommen sollte. Allerdings trifft es nicht zu, was gelegentlich behauptet wird, dass Hartmann gleichsam einer der ersten Visionäre dieser Technik war. Bereits der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynmann hatte den Begriff der Nanotechnologie in den 1950er-Jahren verwandt. Wolfgang Schlegel erinnerte sich, »nach 1977 einen Vortrag von Professor Hartmann an der TU Dresden anlässlich des Kolloquiums ›Informationstechnik‹ zum Thema ›Nanoelektronik‹ gehört zu haben.« Er habe auch »nach seiner Degradierung« noch die »Gelegenheit« gehabt, öffentlich zu reden. Der Vortrag im Hörsaal I/90 sei »mit viel Beifall« aufgenommen worden, »der wohl in erster Linie ihm selbst galt«.953 Die Zeitschrift VDI nachrichten verkündete die Ära der Nanoelektronik Ende 2012 im Kontext der Halbleitertechnologie wie folgt: »gemäß dem Moore’schen Gesetz« stehe bei Halbleitern und Mikrosystemen wieder eine neue Strukturgeometrie an: die 450-mm-Technologie. Zu diesem Zeitpunkt war der 300-mm-Wafer Standard. Den Ton gaben die USA an, »altbewährt« und reflexhaft hieß es hierzu von der EU, dass Europa »dabei sein« müsse, »will es nicht den Anschluss an die Hightech-Entwicklung verlieren und einen kritischen Verlust an Know-how riskieren«. Die möglichen Szenarien für einen Anschluss an den Entwicklungsvorsprung der USA klangen zwar plausibel und machbar, doch ein Interesse der führenden europäischen Chiphersteller wie Infineon war nicht zu erkennen.954

950  Schreiben von Hanisch vom 20.1.1978; ebd., Teil I, Bd. 1, Bl. 156 f. 951  Vgl. Schreiben von Hanisch vom 21.1.1978; ebd., Bl. 161 f. 952  Vgl. Hartmann, Werner: Über einige Aspekte der Nanotechnologie, in: Nachrichtentechnik – Elektronik 28(1978)1, S. 5 f. 953  Schlegel an den Verf. am 1.3.2004. 954  Schulz, Werner: Chipfertigung auf 450-mm-Wafern: Europa will dabei sein und setzt auf Nanoelektronik, in: VDI nachrichten vom 7.12.2012, Nr. 49, S. 10.

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Der Institutsdirektor des IMD beantragte am 22. März ein Sondergehalt für den Sonderbeauftragten Hanisch. Der Vorgang zeigt, dass der Institutsdirektor bis in die Standardvokabeln hinein sehr gut über Einzelaspekte der Arbeit von Hanisch Bescheid wusste. In dem Schreiben bat er um Bestätigung eines Sondergehaltes in Höhe von 2 000 Mark.955 Am 10. Juli schilderte Hartmann kurzgefasst sein Schicksal in einem Schreiben an Wassilij S. Jemeljanow. Da er dessen Adresse nicht besaß, sandte er das Schreiben über den sowjetischen Botschafter Pjotr A. Abrassimow.956 Er erhielt weder eine Empfangsbestätigung noch eine Antwort.957 Epilog In einer westdeutschen Zeitung las Werner Hartmann im Sommer 1980 einen Gedichtspruch Theodor Fontanes, den er sich abschrieb, denn er passte zu seinem Leben: »Es kann die Ehre dieser Welt Dir keine Ehre geben, Was dich in Wahrheit hebt und hält, Muss in dir selber leben. Das flücht’ge Lob, des Tages Ruhm Magst du dem Eitlen gönnen; Das aber sei dein Heiligtum: Vor dir bestehen können.«958

Hin und wieder besuchten ihn ehemalige Arbeitskollegen und berichteten ihm die neuesten Ereignisse. Am 16. Januar 1981 erfuhr Hartmann in einem solchen, diesmal langen Gespräch, dass nur noch eine Abteilung nicht von einem Genossen geleitet werde. Und Christian Weißmantel erinnerte ihn anlässlich einer Tagung am 4. März 1981 in Dresden: »wissen Sie noch«, als ich sie fragte, »ob Sie nicht nach Karl-Marx-Stadt an die TH kommen wollten. Hätten wir es nur gemacht, hätten wir es nur gemacht! Ich wollte Sie als den Älteren damals auch nicht so drängen.«959 Am 15. März 1981 resümierte Hartmann, dass, wenn er eine Biografie »schreiben würde«, sie heißen könnte: »Warten auf den Tod? Ein Leben.«960 Den Begriff »Tod« 955  Vgl. Schreiben des Institutsdirektors (IMD) vom 22.3.1978; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 165 f., hier 166. 956  Vgl. Kurzchronik aller Bemühungen, in: TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, S. 1–17, hier 16. 957  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, JZ 39. 958  Ebd., H 5. Der dreistrophige Text firmiert bei Fontane unter Sprüche Nr. 4, in: Fontane, Theodor: Gedichte I, Berlin, Weimar 1989, S. 25. 959  TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, 1981/2 und 1981/7. 960  Ebd., 1981/8.

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wollte er aber nicht biologisch verstanden wissen. Mindestens ein Jahr später fand er einen anderen Titel für geeigneter: »Meine Zukunft ist die Vergangenheit«.961 Das aber war weitaus weniger als es die systemnahen Intellektuellen à la Mittenzwei nach dem Zusammenbruch der DDR 1989, mit ihrer Erfahrung der Kontingenz, erwarten durften – unter der von Lahusen gefundenen Überschrift: »Zurück in die Zukunft«962. Am 5. Oktober 1981 entschloss sich Hartmann in den »Wintermonaten die Geschichte des Beginns der Mikroelektronik in der DDR« zu schreiben.963 Er nannte den Lagerort dieser Geschichte »Museum«. Bis heute, und das ist erstaunlich, wird in der verstreuten fachwissenschaftlichen Literatur von diesem Nachlass nicht wirklich Gebrauch gemacht. Es sind – unabhängig von wenigen unbedeutenden Datierungsfehlern – die verlässlichsten Quellen zur Erforschung der Frühgeschichte der Mikroelektronik überhaupt. Ein Nachlass, der Dank Hartmann der profundeste aller Nachlässe aus jenen Bereichen ist, die in dieser Untersuchung zur Nutzung offenstanden. Ein Nachlass, der das Grunddilemma der bürgerlichen Wissenschaftler und Ingenieure auch ironisch pointiert: »Frei ist nur, wer tut, was sie [die Genossen] denken!«964 Doch seine Ruhe fand Hartmann auch nicht durch diese komplexe Niederschrift. Am 16. Juli 1985 schrieb er an den ehemaligen Generaldirektor der VVB BuV und damaligen Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission (SPK), Rudolf Heinze, dass ihm das »Dasein als lebender Toter, dem man seit 1974 immer wieder das Recht auf Arbeit verweigert« habe, »unerträglich« ist. »Warum musste dies alles so sein? Warum?«965 Sein Nachlass, das »Museum«, ist zur Zeit der Revolution 1989/90 heimlich in die Bundesrepublik in Form von Dresdener Stollen durch Renée Hartmann geschmuggelt worden. Ihre Angst, man könnte auch diese Wahrheit in letzter Minute schreddern, war nicht unbegründet. Auch standen in den Startlöchern längst die »unpolitischen« Nutznießer. Im Werfen von Nebelbomben waren sie geübt. Ihr Tonangeber war beizeiten Karl Nendel. Der hielt am 28. März 1989 als Staatssekretär im MEE – einer, der sowohl die SED-Politik hart und kompromisslos durchboxte als auch eine Schlüsselfigur im illegalen Technologieimport war966 – einen Vortrag vor MfS-Mitarbeitern im Konferenzsaal, Haus  18, des MfS in der Normannenstraße in Berlin. Die Einladung war vom 1. Sekretär einer Parteiorganisation im MfS ausgesprochen worden. Sein Thema handelte vom erreichten Stand »bei der Entwicklung, Produktion und Anwendung der Mikroelektronik im 40. Jahr der Gründung der DDR und« vom »Ausblick auf die weitere Entwicklung dieser bedeutsamen Schlüsseltechnologie in den nächsten Jahren«. Es ist ein Vortrag, der wie ein Prototyp manch künftiger Beiträge zur Geschichte der DDR-Mikroelektronik 961  Ebd., JZ 42. 962  Lahusen: Zukunft am Ende, S. 248. 963  TSD; Nachlass Hartmann, H 5. 964  Ebd., H 2. 965  Schreiben von Hartmann an Heinze vom 16.7.1985; ebd., Biografisches, 1 S. 966  Vgl. Buthmann: Die Organisationsstruktur zur Beschaffung, S. 279–314, insb. S. 300.

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nach der Revolution von 1989 daherkam; Nendel: »Es ist schon so, liebe Genossen, wer einmal sich für einen Weg entschieden hat, muss ihn zu Ende gehen, auch wenn zwischendurch viele Klippen zu überwinden sind.« Er redete über den gnadenlosen Wettkampf imperialistischer Staaten untereinander, über den Krieg gegen die sozialistischen Staaten und handelte Allerweltweisheiten zur Mikroelektronik ab. Erst auf der sechsten Manuskriptseite kam er zur Sache. Er referierte die Entwicklung der DDR-Mikroelektronik und begann tatsächlich diese Geschichte erst mit dem sogenannten Mikroelektronikplenum, der 6. Tagung des ZK der SED vom 23. bis 24. Juni 1977, das eine »klare Strategie vorgegeben« habe. Wiederholt sprach er über die Entwicklung der Mikroelektronik in der BRD, nannte Zahlen und Fakten, beklagte die harte Embargopolitik des Westens und lobte die kluge und weitsichtige Sicht der SED sowie die feste und produktive Zusammenarbeit mit den sozialistischen Staaten.967 Hartmanns Pionierleistungen waren vergessen, seine Auszeichnungen »keinen Pfifferling« mehr »wert« – wie es ihm Lonitz 1976 frech ins Gesicht gesagt hatte.968 4.1.3 Resümee Als sich die Existenz der DDR 1985 ihrem Ende zuneigte, notierte Werner Hartmann, dass die »grenzenüberschreitende Information«, gemeint war die Informationstechnik, für solche Systeme wie die DDR »tödlich« sei und kommentierte: »Leider erlebe ich nicht mehr, wie sich dies alles auswirken wird. Aber es ist mein Trost, dass der Abstieg nicht aufzuhalten sein wird: diese Systeme werden an ihrer Unfruchtbarkeit sterben!«969 Skeptisch, was die Überlebensfähigkeit des Sozialismus betraf, war er schon immer, doch erst Mitte der 1960er-Jahre besaß er hierüber Gewissheit. Und ein Sympathisant des Sozialismus war er nie. Hartmann war stets von einem Unwohlsein begleitet. Die hinsichtlich des Aufbaus von Vakutronik 1955/56 erlebte Aufbruchsstimmung war niemals ungeteilt, sie drohte immer wieder in Ohnmacht abzugleiten. Die SED-politischen, in seinen Betrieb hineinreichenden Imponderabilitäten nagten an seinem erfolgsgewöhnten Optimismus mehr und mehr. Denn er war, wie es Hans Lippmann bezeugt, vor allem ein Tatmensch. Nicht reden, sondern handeln war sein Elixier. Aber er konnte nicht immer schweigen, wenn sein Handeln und die Möglichkeiten dazu in Fesseln gelegt wurden. Er versuchte seine beiden Betriebe, soweit es irgend möglich war, von der SED und dem MfS freizuhalten. Die überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter umgab ihn hierin 967  Parteiorganisation u. -leitung des MfS vom 10.2.1989: Einladung zum Vortrag Karl Nendels am 28.3.1989 zum Thema: Der erreichte Stand bei der Entwicklung, Produktion und Anwendung der Mikroelektronik im 40. Jahr der Gründung der DDR und Ausblick auf die weitere Entwicklung dieser bedeutsamen Schlüsseltechnologie in den nächsten Jahren; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 572, Bl. 21–68, hier 21, 23, 28 f., 33 f., 37 u. 39 f. 968  TSD; Nachlass Hartmann, Biografisches, 1981/27. 969  Ebd., 1985/11. Eintrag vom 5.7.1985.

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wie eine Burgmauer. Die SED blieb auch in der AME / A MD ein Fremdkörper, sie war schwach und lavierte. Der IM »Mai« hatte am 28. Januar 1963 dem MfS berichtet, dass Hartmann das Gespräch mit Kurt Hager in der Arbeitsstelle zur Einstellung des Bezuges westlicher Fachzeitschriften absolut nicht gefallen habe. Die SED-Mitglieder hätten »völlig versagt. Einige wollten auftreten und zur Einstellung des Bezugs von Westzeitschriften etwas sagen, aber keiner ist aufgetreten. Er« habe »sich dann« wieder einmal »den Mund verbrannt. Professor Hager sei ein Demagoge und entsprechend« seien auch »seine Antworten« gewesen.970 Bei Hartmanns Demontage »fanden sich Subjekte«, so Lippmann 1992 zum 80. Geburtstag Hartmanns (den er nicht mehr feiern konnte), »deren Diensteifer sie zum Mitvollzieher eines Schurkenstücks stempelte«. Wir haben gesehen, dass es in der Tat ein Schurkenstück war. Und wenn man völlig frei von Schuld war, wie es Hartmann gewesen ist, und dann wie ein Schwerverbrecher behandelt wurde, ist auch einsichtig, dass er, wie Lippmann sagt, »diese Demütigung nie verwunden« haben konnte; Lippmann: »So und im Kontext der disproportionierten Technikentwicklung im geteilten Deutschland besitzt das Lebenswerk Hartmanns tragische Züge.«971 Obgleich sich Erfolge beim Aufbau der Mikroelektronik-Technologie trotz widrigster Bedingungen und Umstände einstellten, behauptete später der Chefgutachter des MfS auf vielen hundert Seiten Hartmanns negativ-feindliches Schaffen. Schemenhaft wusste er beizeiten von seinem Schicksal: In Gesprächen mit Professoren der TU Dresden äußerten diese einmal, »dass sie eine solche Aufgabe, wie ich sie übernommen hatte, niemals annehmen würden: das Risiko sei viel zu groß.« Man werde, wenn den Funktionären etwas nicht passe, oder wenn man einen Fehler mache, gefeuert. »Ich habe« diese »Herrn ob ihres Kleinmuts etwas verachtet. Aber sie hatten Recht, wie ich ein Jahrzehnt später erfahren musste. Damals, als mir die Kollegen abrieten, eine so gefährliche Aufgabe zu übernehmen, habe ich das Ende mir selbst in schwierigsten Situationen nicht vorstellen können: ich hatte Vertrauen und wurde schmählich enttäuscht.«972 Zwar hatte die SED die Bedeutung der Elektronik resp. Mikroelektronik auf der 3. Parteikonferenz 1958, dem V. Parteitag 1959 und der 5. ZK-Tagung 1959 erkannt, doch besaß sie keinen rechten Begriff vom einzuschlagenden Weg zu deren Realisierung. Ein weiteres wichtiges Datum hinsichtlich der Bedeutung der elektronischen Bauelemente-Industrie wurde mit dem VI. Parteitag 1963 gesetzt. Man benötigte schnellstmöglich Bauelemente für die elektronische Industrie, auch das Militär drängte. Der VII. Parteitag schrieb diese wissenschaftspolitische Linie 1967 konsequent fort. 1967 sollten die ersten Labormuster vorliegen, dann, 1969, sollte die Produktion beginnen. Es kam zu Staatsplanaufgaben. Doch all diese Be970  Chronologischer Faktenbericht vom 4.3.1974; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 2, Bl. 147–189, hier 158. Im Original geringfügige Zitationsabweichung; ebd., Bd. 6, Bl. 54. 971  Lippmann, Hans: Werner Hartmann – ein Physikerschicksal im SED-Staat, in: Physikalische Blätter 48(1992)1, S. 35 f., hier 36. 972  TSD; Nachlass Hartmann, H 71.

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kenntnisse aus den Führungsetagen der SED und staatlichen Organen fruchteten nicht an der Basis. Es fehlte fundamental an allen Voraussetzungen, und das MfS behauptete spätestens ab 1968 immer das Gegenteil: »Durch Untersuchungen wurde beweismäßig dokumentiert und gesichert, dass es der AME objektiv möglich war, die staatliche Zielstellung zu erfüllen.« Die AME habe angeblich »alle nur erdenkliche Unterstützung und Hilfe« erhalten. Frech log es, dass die »personelle Besetzung« in der AME »ständig den objektiven Erfordernissen und Bedingungen« entsprochen habe, dies hinsichtlich Anzahl und Ausbildung. Auch die finanziellen Mittel seien »ausreichend« gewesen. Noch übertroffen wurde diese Lüge hinsichtlich der Ausrüstungen, wenn man deren Funktionalität berücksichtigt: für 1967/68 seien für die Zyklen I und II »moderne, hochproduktive, dem Weltstand entsprechende technologische Spezialausrüstungen einschließlich der speziellen Messtechnik zur Verfügung« gestellt worden.973 Hartmann hielt in seinen Erinnerungen (»­Museum«) fest: »Man bedenke: erst 1977, als die kapitalistische Welt von der Elektronik in der technologischen Form der Mikroelektronik bereits jahrelang betroffen war und dazu öffentliche Diskussionen erlebte, erwachte man in der DDR! Zu spät, zu spät, uneinholbar zu spät!«974 Hartmann blieb der Praxis aus seinem Erfahrungsreichtum geglückter Innovationen in der Zeit bei Siemens und auch noch bei Vakutronik treu, wenngleich die stärker werdenden omnipräsenten Entscheidungsinstanzen von Partei und Regierung diese immer mehr einengte. Wie sehr die Tschekisten des MfS Hartmanns Philosophie bewusst missverstanden, zeigt sich in deren Behauptung, wonach er permanent eine applikativ stimulierte Bauelemente-Entwicklung negiert habe und das obendrein »bei gleichzeitiger« Missachtung des internationalen Trends hinsichtlich sich »langjährig abzeichnender neuer Verfahren«. Exakt das Gegenteil war richtig. Den Festkörperschaltkreis T 10, ein Labormuster von 1967, bewertete das MfS als reinen Spielschaltkreis und somit als eine »eklatante Irreführung der VVB BuV«.975 Das MfS »erarbeitete« gegen Hartmann ab Mitte der 1960er-Jahre zunehmend »belastendes« Material. Die schlüssigsten Erklärungen seines  – nur scheinbar  – plötzlichen Falls zehn Jahre später und noch weit darüber hinaus, mag bei Kollegen und Freunden eher in Zufällen als etwa in allgemeinen oder in lang vorbereiteten »Gründen« gelegen haben. Auch zog wohl niemand eine Summe all seines widerständigen Verhaltens, hatte man vergessen, dass er sich einst des Vorwurfs eines parteifeindlichen Verhaltens zu Zeiten Vakutroniks erwehren musste. Man war doch sichtlich überrascht, als es geschah. Die Untersuchung aber zeigt, dass an seinem Fall systematisch, intensiv, beharrlich und mit exorbitantem Aufwand gearbeitet wurde. Ein Aufwand, der erschreckend hoch war. Und insofern überrascht eigent973  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 190–250, hier 218 f. 974  TSD; Nachlass Hartmann, G 95–99. 975  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 190–250, hier 242.

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lich ein völlig anderes Moment, und zwar jenes der Hermetisierung des Prozesses selbst. Es gelang den involvierten SED-Funktionären und MfS-Mitarbeitern bis zur fried­lichen Revolution alles Geschehen über das Mittel der Desinformation zu vertuschen. Freilich lässt sich Geschichte auch immer anders schreiben, etwa abstrakt, wonach sein Fall das Ergebnis der Trendwende von Ulbricht zu Honecker war. Dass eben Honecker, anders als Ulbricht, auf Konsumtion statt Investition, auf Produktion statt Grundlagenforschung setzte. Will man es so sehen, dann war für Hartmann der 3. Mai 1971, die Machtübernahme Honeckers, das Schicksalsdatum, und die 11. Tagung des ZK der SED im Dezember 1965 zum Volkswirtschaftsplan 1966, auf dem Honecker gegen das NÖS polemisierte, das Menetekel hierfür. Danach hatte die elektronische Industrie die primäre Aufgabe, »die Kräfte und Mittel vor allem auf die vorrangige Entwicklung von Erzeugnissen« zu konzentrieren. Ulbricht sprach noch 1967 auf dem VII.  Parteitag von »modernsten Verfahren zur Herstellung mikroelektronischer Schaltungen«, die beherrscht werden müssen. Die Direktive zum VIII. Parteitag betonte dagegen die Kooperation mit der Sowjetunion zur Versorgung mit mikroelektronischen Erzeugnissen, wenngleich die Beherrschung der Technologie im Sinne der Zyklen I und II einschließlich der Materialwissenschaft (Silizium) völlig im Argen lag. Das strategische DDR-Programm zur Entwicklung der Mikroelektronik vom 29. März 1968, das den Primat der Technologie kannte, wurde exakt fünf Monate später in dieser entscheidenden Frage korrigiert. Andererseits ist Hartmann auch Opfer seiner eigenen Erfolge geworden, er weckte Begehrlichkeiten. Begehrlichkeiten nach Produkten – und nach seinem Stuhl, das war ihm sogar prophezeit worden. Doch geschichtliche Ereignisse folgen zumindest nicht immer logischen und / oder summarischen Gründen. Dass man ihn kalt abservierte, beinahe ins Gefängnis steckte, nicht seinen baldigen Rentenbeginn abwarten wollte, wie es zumindest Wolfgang Lungershausen mit der örtlichen SED-Führung erörterte, deutet auf einen fernen, zielstrebigen Impuls hin, dessen Name Günter Mittag lautet. Psychologisch gesehen, erfolgte der Abschuss Hartmanns bereits 1964 in Berlin, an jenem Tag, wo er es wagte, Mittag vehement zu widersprechen. Das war, historisch gesehen, nur ein Wimpernschlag entfernt von dem Gespräch in der Berliner Gaststätte »Lukullus«, das er dort 1960 mit Robert Rompe zur »Eröffnung« der Mikroelektronik geführt hatte. Dazwischen, 1962, hatte er die größte personelle Fehlentscheidung seines Lebens getroffen, von deren Tragweite er keinen Begriff haben konnte: die Einstellung von Hans Joachim Hanisch alias »Rüdiger«, später sogar Hauptamtlicher IM, dessen schier unglaubliche, nebenberuf‌liche inoffizielle Leistungen auch Gegenstand in »MfS-Spezial-I« sind und selbst erfahrenen MfS-Fachhistorikern den Atem verschlagen dürfte. Ein kleingewachsener Mann, ohne den die Geschichte mit Sicherheit anders verlaufen wäre. Das, was er leistete, hatte und konnte niemand anderes leisten. Keiner der IM in den relevanten Bereichen Hartmanns besaß auch nur annähernd dessen kriminelle Energie. Geschichte schreiben Personen, oft auch unscheinbare. Diese vier Jahre von 1960 bis 1964 waren aber auch Jahre höchster Unsicherheit; jeden Tag hätte das Unternehmen

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»Mikroelektronik« scheitern können. Erst sein »Notschrei«, die Denkschrift, öffnete Ressourcen-Kanäle, wenngleich völlig unzufriedenstellend. Die ultimative Exekution seines Falls mag auf einem jener Jagdabenteuer besprochen worden sein, die Mittag, Mielke und Honecker durchführten. In der Schorfheide bei Berlin wurden keine Protokolle geführt. Dass eine eigenständige Mikroelektronik in der DDR nicht möglich wurde, verdankt sie, personell gesehen, in erster Linie Mittag, der anders als Erich Apel, keinen Begriff von den unabdingbaren Voraussetzungen dieser Technologie besaß. Das war selbst über Ländergrenzen hinaus bekannt: In einem Gespräch auf hoher Regierungsebene äußerte Alexej K. Antonow gegenüber Erich Honecker am 15. Dezember 1986 in der Frage der Entwicklung der Mikroelektronik und in der Wiedergabe Gerhard Schürers, des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission: »Scherzhaft sagte Genosse Antonow: ›Ich schaue immer auf Genossen Mittag, wenn ich davon spreche.«976 Mittag besaß keinen blassen Schimmer von solchen Dingen. Oder wusste man gar, dass er Hartmann auf dem Gewissen hatte? Hartmann notierte nach seiner Entfernung in seinem »Museum«, dass die Idee, die Arbeitsstelle für Molekularelektronik aufzubauen, richtig war, nicht aber die Taktik, die war »falsch, weil ohne Opportunismus und Speichelleckerei« dies nicht geht. »Könnte ich alles nochmals neu beginnen, würde ich sicher die gleichen ›Fehler‹ wieder machen: die Menschen sind anders, als ich meinte, besonders gilt dies in einer autoritären Gesellschaft.«977 Er hatte für sich einen anderen VEB geschaffen, nicht jenen, wo die Ideologie der »Schraubenfabriken« herrschte, sondern einen, der das Korsett der Zentralverwaltungswirtschaft lockerte. In den »Schraubenfabriken« war die Stückzahl Schwerpunkt, nicht jedoch die Qualität plus Stückzahl; Hartmann: »Wie oft erklärte ich an vielen hohen und höchsten Stellen mündlich und schriftlich, die naive Weisheit, dass elektronische Geräte nicht besser als ihre Bauelemente sein können! […] Ich fand freundliche Anhörung, aber keine Unterstützung.« Selbst angedeutete negative Konsequenzen ließen alle bis hinauf ins Politbüro, außer Apel, kalt.978 Als er aus seinem Betrieb entfernt war, brach vieles wie ein Kartenhaus zusammen. Die Tragik war, dass er das äußerst fragile Kartenhaus auch gesehen hatte. Doch es ist ein Unterschied, dies mit minimaler Hoffnung gesehen zu haben oder hernach, als die Hoffnung fort war. Nur so kann man seinen späteren, pointierten Satz verstehen: »Das ganze Gerede von der Mitbestimmung: ›Arbeite mit, plane mit, regiere mit!‹ ist Bluff.« Und weiter: »25 Jahre habe ich benötigt, diese Wertung voll zu begreifen, nun ist es zu spät. Was dieser Staat dadurch an Produktivität verschenkt bzw. nicht nutzen will, ist unglaublich.«979 Tatsächlich aber hatte er nie 976  Schürer, Gerhard: Gedächtnisniederschrift über das Gespräch des Genossen Erich Honecker mit Genossen A. K. Antonow am 15.12.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 5970, Bl. 1–15, hier 1. 977  TSD; Nachlass Hartmann, H 6. 978  Ebd., G 95. 979  Ebd., H 4.

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einen Zweifel daran gehabt. Er hatte für Sprüche wie von Victor Weimer niemals auch nur einen Augenblick Zeit; Weimer schrieb 1957 im Rückblick auf das bewegte Jahr 1956 in der Wochenzeitschrift Weltbühne: »Das Mitdenken der Massen, wie es Lenin nannte, kann man in der Deutschen Demokratischen Republik in seinem ersten, wenn auch oft noch zögernden, weil ungewohntem Stadium miterleben. Hier sind die Regierung und die Partei der Arbeiterklasse auf dem besten verheißungsvollen Weg, weil – so sagte Lenin – das Denken von Millionen das Denken selbst des größten Genies um ein Vielfaches übertrifft.«980 Er hatte, fachlich gesehen, vieles richtig gemacht, zum Beispiel die Personal­ politik, die er nicht aus der Hand gegeben hatte. Er stellte persönlich ein. Die Kaderpolitik aber war das effektivste Machtinstrument der SED und fußte letztlich auf bolschewistischen Grundsätzen. Kowalczuk zitiert in Stasi konkret Stalin auf dem XVII. Parteitag der KPdSU im Januar 1934, wonach sich die Parteiführung vom »genialen Gedanken Lenins leiten« ließ, und »dass die Hauptsache in der Organisationsarbeit die Auswahl der Menschen und die Kontrolle der Durchführung der Beschlüsse« seien.981 Es waren dies, nebenbei gesagt, zwei der drei wichtigsten Arbeitsaufgaben des MfS in der Volkswirtschaft: Personalauswahl und Sicherheitskontrolle; die dritte lautete auf Feindabwehr. Der Physiker Johannes Gatzke aus dem Zentralinstitut für Optik und Spektro­ skopie (ZOS) der Akademie der Wissenschaften hat während seiner 40-jährigen Berufserfahrung, auch als parteiloser Leiter, die Prinzipien der Auswahl der Leitungskader hautnah und dauernd erlebt. Insbesondere seit Beginn der Akademiereform wurde das Personal »immer eindeutiger vor allem nach politischen und erst in zweiter Linie nach fachlichen Gesichtspunkten« für die Leitungsfunktionen ausgesucht: »Es gab auch einige wenige, fachlich profilierte Leiter, die nicht zu dieser ›Nomenklatura‹ gehörten; sie waren aber immer nur geduldet, hatten kaum einen Einfluss auf die Institutspolitik und waren mehr oder weniger isoliert.«982 Ein Urteil, das keinen Deut einer Varianz erträgt, will es nicht sofort falsch werden. Hartmann suchte seine Mitarbeiter meist nicht nur selbst aus, sondern er vertraute ihnen grundsätzlich. Leistung zählte. Außerhalb von direkten Fachgesprächen führte er Sprechstunden durch, in die die Mitarbeiter mit all ihren Fragen und Sorgen kommen konnten. Ein Brauch, der kein sozialistischer war. Werner Krolikowski hatte einmal zu ihm gesagt, dass die Betriebsleiter wegen der Überbürokratisierung keine Zeit für Betriebsangehörige mehr hätten. Hartmann entgegnete, dass es daran allein nicht liege, »vielmehr hat ein Werkleiter ja kaum Interesse an solchen Dingen, er kommt neu in den Betrieb, der ihm nicht gehört, wie lange er auf seinen Posten bleibt, ist ungewiss; also wozu sich mehr als unbedingt nötig zu engagieren.«983 980  Weimer, Victor: Ein Rückblick, in: Die Weltbühne 12(1957)3, S. 65–71, hier 70 f. 981  Kowalczuk: Stasi konkret, S. 47. 982  Gatzke, Johannes: Die Verbindung zwischen dem MfS der DDR und dem ZOS der AdW. Unveröffentlicht gebliebenes Manuskript, dem Verf. zur Zitation überlassen. 983  TSD; Nachlass Hartmann, G 60.

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Gelernt hatte die SED aus der Praxisgeschichte der Mikroelektronik oberhalb der Betriebsführungen nie. Noch im Herbst 1989 zeigte man sich auf einer Parteiaktivtagung zur Mikroelektronik der DDR davon überzeugt, dass die »Systemauseinandersetzung« auf dem Gebiet der Mikroelektronik »eine wachsende Rolle« spiele, zu einem Zeitpunkt also, wo diese Frage längst entschieden war. Auf der Sitzung wurde ein Referat gehalten, das drei Stunden reine Redezeit verschlang, langatmig, abgehoben und hochgradig weltfremd. Nur der Kenner ahnte, was es bedeutete, wenn die nationale Kooperation unter dem Stichpunkt, es gebe nur »eine« Mikroelektronik in der DDR, extra betont wurde. Zwar gab es nur zwei große Kombinate, in denen Mikroelektronik betrieben wurde, den VEB Mikroelektronik Erfurt und den VEB Carl Zeiss Jena (Jena hatte sich die Dresdener Arbeitsstelle einverleibt), doch in der DDR befassten sich mindesten 14  Institute mit spezifischen Fragen der Mikroelektronik.984 Immer noch nicht, seit nunmehr drei Jahrzehnten, war es gelungen, die knappen Kapazitäten zu bündeln. Zu dieser Zeit beherrschte die DDR, legt man strenge Maßstäbe an und eliminiert, dass die Technologie illegal importiert worden war, nicht einmal den 256-Kbit-DRAM. Westeuropa, in der Entwicklung hinter den USA und Japan zurück, plante bereits die Herstellung des 64-Megabit-DRAM im Rahmen des Projekts Jessi (Joint European Submicron Silicon). Erste Prototypen der hierfür notwendigen Strahlungsquellen in der Art der Röntgenstrahlen-Lithografie waren bereits gebaut worden, sogenannte Klein-­ Synchrotrone mit Ringdurchmessern um die fünf Meter. Spätestens diese »Geräte« hätte man nicht mehr heimlich beschaffen können, denn dies war bereits bei den tonnenschweren Diffusionsanlagen höchst schwierig.

4.2  Der Prophet oder die Zerstörung der Raumforschung »Als Römer ›in die Sterne guckte‹, ahnte niemand, dass er einmal dazu mitverhelfen werde, Schiffbrüchigen durch Radiopeilung das Leben zu retten und weitesten Kreisen durch den Rundfunk Bildungsmöglichkeiten zu erschließen.«985

Eine Nachgeschichte Es war ein nachwintermilder, regnerischer Tag. Immer wieder glitten Menschen auf den matschigen Fußwegen aus. Ernst August Lauter sah nicht, wo er hintrat, seine Gedanken fielen ins Leere. Man hatte ihn abserviert, eiskalt. Hatte er dies nicht an984  Vgl. Referat der Kreisleitung der SED der AdW auf der Parteiaktivtagung zur Mikroelektronik am 26.9.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Bdl. 240, Bl. 1–35 u. Anlagen. 985  1928 von Friedrich Lauscher geschrieben, zitiert nach: Böhm, Reinhard / Auer, Ingeborg / ​ Schöner, Wolfgang: Labor über den Wolken. Die Geschichte des Sonnblick-Observatoriums. Wien, Köln, Weimar 2011, S. 70.

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deren gegenüber auch getan? War es die Strafe dafür, nicht Machtmenschen gefolgt zu sein, sondern einzig und allein nur seiner Wissenschaft? Die wissenschaftlichen Dinge standen bei ihm immer ganz oben, der Mensch war ihm kaum mehr als ein Appendix davon. Aber er war alles andere als gefühlslos, er glaubte, sich panzern zu müssen. Sein Ethos der Wissenschaft hat ihn ans Messer des MfS geliefert, dachte er kurz. »Die Wissenschaft«, so sagte er es sich oft mit Ephraem dem Syrer, »ist die verborgene Brücke der Seele, auf der sie zu den verborgenen Dingen hinübergeht. Sie unterwarf das Meer den Seefahrern und das Land den Bauern; sie legte den Schiffen Zügel an und machte sie über das Meer eilen.«986 Das war seine Mission. Lauter folgte diesem Vermächtnis, das seit Jahrhunderten Schönheit ausstrahlt, Sehnsucht und Ziel, auch wenn die meisten Zeitgenossen diesen unsichtbaren Faden seines Handelns nicht sehen wollten oder konnten. Das war auch nicht einfach, denn sein Charakter war nicht einfach, und seine Funktionen waren so vielfältig, dass sie sein Wissenschaftsethos und sein Gespür für den rechten Weg oft verdeckten. In Personalfragen war er unwirsch, seine Schriftsprache war hart, sein Humor »nordisch«. Im Falle eines Wissenschaftlers am Institut für Theoretische Physik der Wilhelm-Pieck-Universität (WPU) Rostock, der für seine Habilitation auf einen Gutachter aus Göttingen beharrte, was ihm vom Staatssekretariat für Hochschulwesen verwehrt wurde, soll Lauter kommentiert haben: »Lassen Sie den Mann doch einfach einfrieren«.987 Lauter besaß neben dem unbedingten, orthodoxen Ideal in der Sache »Wissenschaft« noch eine zweite Kompromisslosigkeit. War sie es, die ihn scheitern ließ? Er musste, wie üblich und unhintergehbar, in einigen seiner hohen Funktionen einen offiziellen Kontakt zum MfS erdulden. Also hatte er, das SED-Parteimitglied, es klipp und klar gesagt, dass er »nie für einen Nachrichtendienst arbeiten« würde, »einschließlich das MfS«, weil »er dies für unvereinbar mit dem Ethos eines Wissenschaftlers« halte. Bereits zu Beginn seiner Karriere, am 21. September 1966, hatte er »in einer Arbeitsbesprechung der ihm unterstellten Arbeitsgruppe im ­Heinrich-​ Hertz-Institut die dringende Empfehlung an alle Mitarbeiter« gegeben, »von persönlichen Gesprächen mit den zuständigen Mitarbeitern des MfS abzusehen«.988 Seine Affronts waren berühmt und gefürchtet. Er glaubte sie gebrauchen zu müssen, um sich und seine Wissenschaft zu schützen. Wer war Lauter, dieser Vollblutwissenschaftler, der, was kaum jemand verstanden haben mochte, 1959 den Antrag auf SED-Mitgliedschaft stellte und später sogar Generalsekretär der Akademie werden sollte? War es noch die aus der Zeit geborene Orientierungssuche, die hierfür verantwortlich war? Es schien zunächst, als ob er 986  Aufgefunden: Werlitz, Jürgen: Der Herr lasse sein Angesicht über Dir leuchten. Augsburg 2008, S. 58. 987  Abt. XX/6 vom 6.4.1966: Treff bericht; BStU, MfS, BV Rostock, AP 2504/76, Bl. 21–25, hier 23. 988  HA XVIII/5 vom 23.7.1971: Auskunftsbericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 29–48, hier 40.

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Abb. 31: Ernst August Lauter

sich mit der SED anfreunden könne, weiland in Bad Doberan. Das MfS sammelte früh Indizien, dass Lauter »Wert darauf« lege, »merken zu lassen, dass er sich nicht scheut, offen Kritik an der Politik der Partei zu üben.« 1968 sympathisierte er mit tschechischen Wissenschaftlern, die sich zur Umgestaltung ihres Landes bekannten. Und er lehnte eine »Beteiligung am Parteilehrjahr oder anderen politisch-ideologischen Schulen«, wie das MfS zu berichten wusste, »hartnäckig« ab. Diese Unterrichtung sei für ihn, der keine physische Überlastungen zu kennen schien, siehe seine Funktionen unten, plötzlich »physische Überbelastung«. Wie so oft in der vom MfS beschriebenen Weise zu bürgerlichen Wissenschaftlern lautete auch in seinem Fall das Urteil, dass er »ein mit Begeisterung und Intensität arbeitender Forscher und Organisator« sei. Er trete »sicher und energisch auf, sein Autoritätsbewusstsein« gehe »bis zur Arroganz«, er sei »ein vitaler und temperamentvoller Mensch«, der auch »unüberlegt und voreilig« reagiere, »insbesondere, wenn er auf Widerstand«

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stoße.989 Das entsprach der Wahrheit. Recht früh ist hierfür ein Beispiel überliefert: Lauter hatte wegen einer fehlerhaften Veröffentlichung in der Ostsee-Zeitung vom 19./20. November 1960 ein Donnerwetter an die Abteilung Agit / Prop der SED-­ Bezirksleitung gesandt. Doch das Schreiben gelangte zu einem gewissen Heinrich Vogel, der ausnahmsweise ein Intellektueller war. Der schrieb zurück: »Ihr temperamentvolles Schreiben bezüglich der Veröffentlichung in der« besagten Zeitung »habe ich erhalten. Da ich Sie kenne, hat es mich nicht schockiert, im Gegensatz zur Redaktion.«990 Vogel war zu jener Zeit neben seiner Dozententätigkeit an der Universität Rostock Sektorenleiter für Wissenschaft und Gesundheitswesen in der SED-Bezirksleitung Rostock. Der früh verstorbene Vogel991 erinnerte sich an eine rege Diskussion in Kühlungs­ born am 28. Januar 1959, als auch die Frage aufkam, wie sich Max Planck zur Religion verhalten hatte. Die Frage konnte aus Zeitgründen nicht ausdiskutiert werden. Deshalb schickte ihm Vogel zwei Tage später einen Sonderdruck einer diesbezüglichen Arbeit von ihm und erinnerte auch in diesem Zusammenhang an seine Arbeit Das Vermächtnis Max Plancks.992 Beide korrespondierten miteinander. Vogel hob sich durchaus positiv von DDR-Philosophen wie etwa Hermann Ley ab. Reinhard Mocek erinnert an eine Auseinandersetzung Vogels mit Ley während der sogenannten Engels-Konferenz 1955.993 Lauter war ein offener, interessierter Mensch. Er war weit mehr, als öffentlich bekannt wurde, nach innen still und geheimnisvoll, nach außen laut und klar. So hatte er auch Verbindung zum Doberaner Ehm Welk994, der berühmt geworden ist mit seinem von der DEFA verfilmten Buch Die Heiden von Kummerow. Zu dessen 75. Geburtstag schrieb Lauter im Namen der Mitarbeiter des Observatoriums u. a.: »Mit ihrem klaren und konsequenten Weltbild, mit ihrer kritischen und unbestechlichen Einschätzung der menschlichen Schwächen und Fehler haben Sie den jüngeren Menschen in unseren Gesprächen nicht nur neue Aspekte gegeben, sondern viele 989  Auskunftsbericht vom 23.7.1971; ebd., Bl. 29–48, hier 34 u. 36. 990  Schreiben von Vogel an Lauter vom 22.11.1960; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 744, 1 S. 991  (1932–1977). Nach dem Studium der Journalistik und des ML an der KMU Leipzig 1955– 1958 Assistent und Oberassistent an der WPU Rostock. Promovierte 1959 an der EMAU Greifswald mit der Arbeit »Die Kritik Max Plancks an den grundlegenden philosophischen Auffassungen des Positivismus«. Habilitation 1966 mit der Arbeit »Zum philosophischen Schaffen Max Borns«. Zur Zeit des Briefwechsels mit Lauter Dozent an der WPU Rostock. Hauptwerk: Zum philosophischen Wirken Max Plancks. Berlin 1961. 992 Schreiben von Vogel an Lauter vom 30.1.1959; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 377, S. 1–10, hier 2; Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe 1957/58, Heft 2. Quellenhinweis: Vogel, Heinrich: Das Vermächtnis Max Plancks. Gedanken zu seinem 100. Geburtstag, in: DZfPh 6(1958)2, S. 296–309. 993  Vgl. Mocek, Reinhard: Marxistische Naturphilosophie in der Diskussion, in: Gerhardt, Volker / R auh, Hans-Christoph (Hrsg.): Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern. Berlin 2001, S. 180–193, hier 188 f. 994  Ehm Welk, Pseudonym: Thomas Trimm (1884–1966). Journalist, Volkshochschulgründer. Gedenkbriefmarkenserie »Bedeutende Persönlichkeiten«. 1964 Professor an der Philosophischen Fakultät der EMAU Greifswald.

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veranlasst, über sich selbst und über ihre Aufgaben nachzudenken.« Er gab seiner Hoffnung Ausdruck, »auch in Zukunft mit Ihnen über ernste und heitere Fragen des Lebens plaudern zu können«.995 Lauter passte nicht in das Akklamationssystem der DDR und war kein Schauspieler. Er war vier Jahre bis zu seiner »multiplen Degradierung« Generalsekretär der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW). Wohl nie zuvor und auch nicht danach hatte ein höherer Funktionär der DDR gleichzeitig so viele, teils bedeutende Funktionen in Ost und West. Es waren – temporäre Fluktuationen, Namensänderungen und Transformationen der Institutionen und Vereinigungen bedacht – kumulativ circa 40. Die meisten dieser Funktionen spielen in der Untersuchung eine Rolle, hier eine Auswahl zur Einstimmung: Direktor des Observatoriums für Ionosphärenforschung des Meteorologischen Dienstes der DDR (OIF), Direktor des Heinrich-Hertz-Instituts (HHI) der DAW, Ordentliches Mitglied der DAW in der Klasse Mathematik, Physik und Technik, Vizepräsident des Nationalkomitees für Geodäsie und Geophysik der DDR (NKGG) bei der DAW, Vorsitzender der NKGG-Fachgruppe für solar-terrestrische Physik, Regionalreporter für das Fachgebiet »Ionosphäre« der Länder der Europäisch-​A siatischen Region für die internationale geophysikalische Kooperation, Repräsentativ-Vertreter der DDR beim Comittee on Space Research (COSPAR) und Vorsitzender der DDR-COSPAR-Kommission, Repräsentativ-Vertreter der DDR für das Internationale Years of the Quiet Sun (IQSY), Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Meteorologischen Dienstes der DDR (MD), Mitglied des COSPAR-Büros in Paris, Mitglied der Unterkommission »Wellenausbreitung« und »Radioastronomie« der Sektion Physik der DAW (resp. Unterkommission »Hohe Atmosphäre«), Mitglied der Unterkommission »Allgemeine Geophysik«, Mitglied der Subkommission »On Whistler Synoptic Observations« der Kommission IV und VIII der Union Radio Scientifique Internationale (URSI), Mitglied der Kommission »On Terrestrial Radio Noise«, Mitglied des Deutschen Landesausschusses der Union für Geodäsie und Geophysik (UGGI), Mitglied des Deutschen Landesausschusses der URSI, Mitglied des Interunions-URSI-CIG-Komitees des International Council of Scientific Union (ICSU), Mitglied des Nationalkomitees der DDR für den ICSU, Mitglied der Arbeitsgruppe II (Coordination of Space Experiments) des COSPAR, Leiter der Arbeitskommission »On Interactions of the neutral and ionized atmosphere« beim COSPAR, Co-Chairman resp. Vorsitzender der COSPAR-Arbeitsgruppe »Interactions of the Ionized and Neutral Gas«, Mitglied der Kommission V (Solar-Terrestrial and Cosmic Terrestrial Relationship) der International Association of Geomagnetism and Aeronomy (IAGA), Mitglied der Kommission VIII der IAGA, Mitglied der Fachbereichskommission »Physik« der Forschungsgemeinschaft der DAW, Stellvertreter des Leiters des Fachbereiches Physik-Nord der Forschungsgemeinschaft für die geophysikalischen und astronomischen Einrichtungen und Institute der DAW, Stellvertreter des Leiters des Fach995  Schreiben von Lauter an Welk vom 28.8.1959; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 752, 1 S.

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bereiches »Physik« für den Geo-Astro-Sektor der Forschungsgemeinschaft der DAW, Vorsitzender der Fachuntergruppe für »Physik der Stratosphäre und der Mesosphäre« des Meteorologischen Dienstes, Mitglied der Fachgruppe »Physik der Atmosphäre« des Meteorologischen Dienstes der DDR, Mitherausgeber der Monografiereihe »Probleme der Kosmischen Physik«, Herausgeber der Zeitschrift für Meteorologie, Mitglied des Beirates beim Herausgeber der Zeitschrift für Geophysik, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates für friedliche Nutzung des Weltraums beim Staatssekretär für Forschung und Technik, Stellvertreter des Vorsitzenden des Koordinierungskomitees für die friedliche Nutzung des Weltraums beim Ministerium für Wissenschaft und Technik (MWT), Ordentliches Mitglied des Forschungsrates der DDR, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates für Raumforschung beim MWT, Vizepräsident und Büromitglied der Kommission der Akademien der Wissenschaften sozialistischer Länder für planetare geophysikalische Forschungen (KAPG), Vorsitzender der IAGA-Arbeitsgruppe »Ion-Neutral-Atmosphere Interactions«, Vorsitzender der Arbeitsgruppe »Dynamik der Hochatmosphäre« der Inter-Union Commission on Solar Terrestrical Physics (IUCSTP) und im Spezial Committee on solar-terrestrical Physics (SCOSTEP), Mitglied der Kommission der International Association of Meteorology and Atmospheric Physics (IAMAP), Mitglied der Arbeitsgruppe des »Joint Committees on Atmosphere Eleotricity«, Mitglied des Nationalkomitees für Astronomie, Mitarbeiter resp. Herausgeber der Zeitschrift Probleme für Kosmische Physik und Gerlands Beiträge zur Geophysik.996 4.2.1 Fachgeschichtliches Im Folgenden werden mehrere Fachdisziplinen unter dem Sammelbegriff »Raumforschung« gebündelt. Der nicht sofort an der Akademie eingeführte Oberbegriff »Geo- und Kosmoswissenschaften«, der diesem Begriff etwa entspricht, ist zwar präziser, soll hier aber vor allem aus historischen Gründen nicht verwandt werden. Die Ausdifferenzierung der Raumforschung ist, wie das Nutzinteresse auch, das sie weckte, hoch. Es ist darauf hinzuweisen, dass einige Teildisziplinen, die hier unter Raumforschung subsummiert oder dieser angegliedert sind, eigenständige Fachdisziplinen sind. Die in dieser Untersuchung angewandte Begriffsbündelung »Raumforschung« ist wesentlich den Aktivitäten und der konkreten Wissenschaftsphilosophie Lauters geschuldet, die noch – denkt man an die Umweltökologie – über diesen ohnehin breiten Rahmen hinausgingen. Lauter dachte ganzheitlich. Im Mittelpunkt seiner vielfältigen Funktionen und Dienstaufgaben sowie fachlichen Interessen standen Astronomie, Astrophysik, Atmosphärenphysik, Geophysik, Geowissenschaften, Geodäsie, Gravitationsphysik, Ionosphärenphysik, Kosmosforschung, Meteorologie und solar-terrestrische Physik sowie Raketentechnik und 996  Vgl. Liste über wissenschaftliche Funktionen Lauters (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 1, S. 1 f.; Liste über wissenschaftliche Funktionen Lauters vom 1.4.1968; ebd., Nr. 1, S. 1 f.

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Raumfahrt. Diese Komplexität blieb trotz aller Einsparungspolitik, Strukturreformen und Zentralisierungsanstrengungen in den Jahren 1968 bis 1975 über diesen Zeitraum hinaus im Wesentlichen erhalten. Der Plan des Forschungsbereiches Geo- und Kosmoswissenschaften der Akademie der Wissenschaften für 1976, der die genannte Komplexität auch wiedergibt, bestand laut Wolfgang Mundt allein in der Hauptforschungsrichtung »Physik der Erde und der Planeten« aus den Teildisziplinen: Struktur und Aufbau des Erdkörpers, Dynamik des Erdkörpers, Magnetfeld des Erdkörpers, geophysikalische und geodätische Observationsaufgaben sowie Antarktisforschung. In der Hauptforschungsrichtung Geologische Wissenschaften waren u. a. Forschungsfelder über mineralische Ressourcen, die Beckendynamik der Nordischen Senke, die Geosynklinalprozesse der Paläozonoiden, die geophysikalische Methodik zur Erdkrustenphysik sowie geophysikalische und geologische Erkundungen und Satellitengeodäsie versammelt.997 Die Forschungsprogramme liefen an mehreren Orten der DDR, vor allem in Berlin, Potsdam-Babelsberg, Kühlungsborn, Leipzig, Jena, Halle und Sonneberg. Die Vielfalt und beständige Derivation von Subdisziplinen, ihre topografische Zerstreuung und die nicht selten fachfremde Administration zeitigten Streit, Herauslösungen von Ressourcen, Mittelkürzungen, Zuweisungen von fachfremden Aufgaben u.v.a.m. Damit kein Zweifel aufkommt: es gab in einigen Teilen dieser Bereiche, die im heutigen Sprachgebrauch Orchideenfächer heißen würden, viel Begeisterung, viel Freude an der Forschung und bedeutende Forschungserträge. Allein der Forschungsstandort Potsdam genießt heute (wieder) Weltruf. Die Forschungslandschaft unter dem Sammelbegriff »Raumforschung« lag nach dem Zweiten Weltkrieg buchstäblich in Trümmern. Der Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums Johann G. Kienle hatte am 5. Dezember 1947 festgestellt, dass das Institut während des Zweiten Weltkrieges beinahe noch hätte arbeiten können, doch sei es infolge eines Luftangriffs in letzter Minute am 14. April 1945 schwer beschädigt worden (Schäden an Gebäuden und Kuppeln). Kurz nach der Besetzung durch sowjetische Streitkräfte hatte ein technisch-wissenschaftliches Kommando die Anlagen besetzt und mit Wiederaufbaumaßnahmen begonnen; Kienle: »Als Erstes wurde der Einsteinturm arbeitsfähig gemacht, dessen instrumentelle innere Einrichtung fast ganz unbeschädigt war, obwohl die halbe Kuppel weggerissen, der Vorraum ausgebrannt, Fenster, Türen und Einbauten durch Luftdruckwirkung zerstört waren.« Bereits Ende Mai aber sei der »Befehl zur Demontage eines großen Teiles der noch brauchbaren Instrumente« aus Moskau eingetroffen. Lediglich auf dem Gebiet der Sonnenphysik sei Arbeitsfähigkeit berücksichtigt worden. »Es wurde ihm daher das Turmteleskop der Einsteinstiftung mit seinen Zusatzeinrichtungen belassen. Weggenommen wurden: Normalastrograf (Himmelskartenrefraktor), 50 cm-​Miethe-Reflektor, 40 cm-Reflektor f 2.5, 17 cm-Prismenkamera, Spektroheliograf Hale-Kempf, Vakuum-Ofenanlage, Messapparate, Hartmann-Photometer, 997  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 19.11.1975: Tonbandbericht von »Gotha« am 18.11.1975; BStU, MfS, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 105 f., hier 105.

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Laboratoriumsgerät und Werkstattmaschinen.« Da zudem andere Gerätschaften ausgeliehen waren und auch verschwanden, sei das Observatorium »instrumentell auf all seinen bisherigen Arbeitsgebieten lahmgelegt mit Ausnahme des eng begrenzten Aufgabenbereichs des Einsteinturmes.« Auch die Bibliothek, die in Deutschland einen hervorragenden Ruf besaß, sei durch »Wegnahme« nahezu verlorengegangen. 1945 habe man hauptsächlich Aufräumungsarbeiten durchgeführt. Die Forschungsinstitute auf dem Telegrafenberg waren zunächst »herrenlos« gewesen, bis sie auf Befehl der SMAD »durch die Provinzialverwaltung der Mark Brandenburg« betreut wurden. Die Übereignung an die DAW erfolgte schließlich mit Befehl Nr. 309 durch den obersten Chef der SMAD am 4. November 1946. Vom wissenschaftlichen Personal waren neben Kienle und Johann Wempe (1906–1980) drei weitere Wissenschaftler vorhanden. Im April 1946 kam Walter R. W. Grotrian (siehe S. 292) aus der US-Haft zurück. Ende 1947 arbeiteten 26 Personen im Objekt, davon waren neun wissenschaftlich tätig.998 Diese Situation gilt pars pro toto. Nahezu auf allen Fachgebieten dieser Untersuchung herrschten Verwüstung, Verarmung infolge Raubs und Beschlagnahme, Unordnung und Gesetzlosigkeit. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Verwaltungs-Abteilung beklagte im August 1948, dass immer wieder Personalakten verschwänden: Es sei »unverständlich, dass immer wieder Vorgänge in den Abteilungen der Akademie auf längere Zeit verschwinden.« – versteckte sich hierhinter die Arbeit der Sicherheitspolizei, deren Strukturen noch nicht etabliert waren? Anlass dieser generellen Klage bildete das aktuelle Einstellungsverfahren für Herbert Daene, dessen Unterlagen spurlos verschwunden waren.999 Einige ausgewählte, auf die thematischen, zeitgeschichtlichen und personellen Schwerpunkte dieser Untersuchung hin zugeschnittene Begriffserklärungen sollen den Einstieg in die insgesamt schwierige Fachmaterie erleichtern helfen. Alle in diesem Hauptkapitel erwähnten Gesellschaften sind in einer Übersicht alphabetisch gelistet. Astronomie Das Fach Astronomie steht paradigmatisch für die Ausdifferenzierung und Veränderlichkeit seines Fachverständnisses. Was heute Geschehenstatsache ist, hat Hans-Jürgen Treder in seinem Plenarvortrag der AdW am 19. Februar 1976 treffend dargelegt, in dem er feststellte, dass in den letzten fünf Jahrzehnten »einige klassische Gegenstände der Astronomie aus den Disziplinen herausgelöst worden« seien. Diese würden teilweise »eigene neue physikalische Disziplinen« bilden »wie die solar-terres998  Kienle: Geschichte des Astrophysikalischen Observatoriums vom 5.12.1947; ArchBBAW, AKL, Nr. 12, S. 1–4. 999 Mathematisch-naturwissenschaftliche Verwaltungs-Abteilung vom 26.8.1948: Umlauf; ArchBBAW, AKL, Nr. 13, S. 1 f.

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Abb. 32: Sternwarte Sonneberg

trische und die planetare Physik«. Diese wiederum würden mit Methoden bearbeitet, die aus der Experimental- und Geophysik stammten. Das »Beobachtungsfenster« auf die zu untersuchenden Phänomene aber erweitere sich entscheidend mithilfe der Raketen- und Raumfahrt-Technik.1000 Astrophysik Die Astrophysik ist ein Kind der Physik des 20. Jahrhunderts. Nach Victor F. Weisskopf ist sie »das physikalische Neulandgebiet der extrem großen Entfernungen im Gegensatz zur Teilchenphysik, dem Neuland der extrem kleinen Abstände«. Zwei wesentliche Erkenntnisbereiche haben diese Wissenschaftsdisziplin gestaltet: die »Kernreaktionen als die Quelle der Sternenergie und zweitens die Entdeckung des sich ausdehnenden Universums«. Und nicht viel unwichtiger: »Die moderne Astrophysik hat einen neuen Aspekt in die Physik gebracht, die historische Perspektive.«1001 Der – wenngleich von Fachkollegen keinesfalls unisono anerkannte – Meister dieser Wissenschaftsdisziplin in der DDR war das wohl einzige Genie, das die DDR besaß: Hans-Jürgen Treder (siehe unten). Er war Partner und Gegenspieler 1000  Treder, Hans-Jürgen: Thesen zum Plenarvortrag am 19.2.1976 zum Thema: Probleme und Problematik der heutigen Astronomie; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 246, S. 1–6, hier 1. 1001  Weisskopf: Physik im 20. Jahrhundert, S. 107 f.

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Lauters zugleich. Er spielte in der Wissenschaftspolitik der DDR eine nicht unbe­ deutende Rolle, seine Person ist kulturgeschichtlich unabdingbarer Bestandteil der DDR-Wissenschaftshistoriografie. Zu Beginn seiner fachlichen Karriere lag ein fulminantes marxistisches Engagement, zum Lebensabend hingegen ein mythischer Ausgang. So mag sich für ihn der Kreis geschlossen haben.1002 Atmosphärenphysik Das wissenschaftliche Interesse an der höheren Atmosphäre ist so jung nicht, es entstand programmatisch 1879 in Rom anlässlich einer meteorologischen Konferenz. Für die Klimaforschung gewann, was die Atmosphärenphysik anlangt, ab den 1980er-Jahren der infrarote Anteil des Strahlungsspektrums enorm an Bedeutung, ein Moment, auf das Lauter bereits in den 1970er-Jahren hinwies, denn: »genau hier spielt sich der Treibhauseffekt ab. Einige Spurengase der Atmosphäre wie CO2 , CH4, aber auch der atmosphärische Wasserdampf, absorbieren die langwellige Ausstrahlung der Erde und senden einen Teil davon als ›atmosphärische Gegenstrahlung‹ wieder zurück.«1003 Die Ionosphäre reicht von der D-Schicht zwischen 70 und 90 km (Spezialgebiet Lauters) über die E-Schicht zwischen 110 und 130 km zur F-Schicht, unterteilt in F1 bis 200 km und F2 von 250 bis 400 km. Der Meister dieser Disziplin war Lauter. Mit Datum vom 2. Juni 1975 liegt ein von Lauter verfasstes »Rohmanuskript« mit dem Titel: »Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Aspekte der Zusammenarbeit [mit] der UdSSR auf dem Gebiet der atmosphärischen Physik« vor. Lauter betonte hierin, dass die DDR und die Sowjetunion eine große Tradition auf dem Gebiet der Atmosphärenphysik verbinde: »Die auch unter personellen Opfern – wir gedenken hier der verunglückten Besatzung des sowjetischen Stratosphären-Ballons ›Sirius‹ – erkauften Ergebnisse über die Hochatmosphäre knüpfen an die frühen Arbeiten und Flüge von Süring in Potsdam an und wurden durch die Erfindung der Radiosonde in der UdSSR durch Moltschanow gekrönt. Die dort entwickelte Radiosondentechnik wurde Ausgangspunkt für die jetzt in der ganzen Welt täglich durchgeführten Sondierungen der Atmosphäre bis 30 km Höhe, die die Basis für Höhenwetterkarten und damit für die Wettervorhersage überhaupt lieferten. Damit wurde in den 1920er- und 1930er-Jahren die sowjetische Aerologie und Synoptik  – ergänzt durch wesentliche Beiträge der Potsdam-Berliner und Leipziger Schule zur Zyklonentheorie  – führend in der Welt und noch die Generationen der 1930er-Jahre – zu denen ich noch in Berlin unter unserem verstorbenen Mitglied Ertel gehörte  – wurden nach sowjetischen Lehrbüchern von Chromow und ­Moltschanow ausgebildet, und die Arbeitstechniken des damaligen 1002  Vgl. Treder, Hans-Jürgen: Über die Unvollendbarkeit der menschlichen Erkenntnis. Vorträge zu philosophischen Problemen der Physik. Eichwalde 1999. 1003  Böhm, Auer, Schöner: Labor über den Wolken, S. 277.

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deutschen Wetterdienstes waren auf sowjetischen Ergebnissen aufgebaut. Dieser Tradition Rechnung tragend, setzte die Sowjetische Militäradministration mit dem SMAD-Befehl 088 die Forschungsarbeiten auf dem heutigen Territorium der DDR frühzeitig wieder in Gang und förderte sie durch sowjetische Experten von Anfang an.« Mithin sei das Zentralinstitut für solar-terrestrische Physik (ZISTP) »durch die Wiederaufnahme der Arbeiten der alten Rostocker Universitätsluftwarte, die 1946 zu einem selbstständigen Observatorium unter dem Strahlungsphysiker Günther Falckenberg ausgebaut wurde, hervorgegangen«.1004 Mit im Zentrum der Schauplätze der Untersuchung steht Lauters Hauptwirkungsstätte, das Observatorium für Ionosphärenforschung (OIF) in Warnemünde. Zu dessen Aufgaben, noch unter dem Namen Observatorium Warnemünde, berichteten bereits 1947 die Physikalischen Blätter.1005 Jetter schrieb 1948 von der einzigartigen Möglichkeit, »zwei Gruppen von physikalischen Messproblemen zu bewältigen, nämlich (1) die direkte Messung der Eigenschaften der Lufthülle in großer Höhe und (2) die Untersuchung extraterrestrischer Erscheinungen ohne Verfälschung oder Störung durch die Atmosphäre.«1006 Geodäsie Geodäsie ist die Wissenschaft von der Vermessung der Konfiguration der Erde, einschließlich aller ihrer denkbaren (dynamisch veränderlichen) Teile. Teilgebiete der Geodäsie sind u. a. die Topografie und Photogrammetrie.1007 Geophysik Geophysik ist ein Teil der Geologie, jener Wissenschaft, die von der Entstehung und Entwicklung der Erde handelt. Als Teil der Geologie besitzt die Geophysik natür­liche Beziehungen zu Spezialgebieten der Geologie wie Geochemie, Geomorphologie, Ozeanografie, Meteorologie, Klimatologie und auch Astronomie. Die Geo­physik als Teilbereich auch der Physik beschäftigt sich mit physikalischen Phänomenen im Erdinnern, der Erdoberfläche und des interplanetaren Raumes, soweit diese die Erde betreffen. Hier ist an solche Phänomene wie die Einwirkungen des 1004 Lauter: Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Aspekte der Zusammenarbeit [mit] der UdSSR auf dem Gebiet der atmosphärischen Physik, vom 2.6.1975; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 126, S. 1–3. 1005  Mitteilung, in: Physikalische Blätter 3(1947)2, S. 55. 1006  Jetter, U.: Höhenforschung mit Raketen, in: Physikalische Blätter 4(1948)3, S. 93–99, hier 93. 1007  Literaturhinweis, DDR-bezogen: Stange, Lothar: Nutzung künstlicher Satelliten für Geodäsie und Navigation, in: Wittbrodt, Hans et al. (Hrsg.): Weltraum und Erde, Bd. 1. Berlin 1975, S. 191–207.

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Mondes auf die Erde zu denken. Teilbereiche der Geophysik sind u. a. die Gravimetrie (Wissenschaft von der Schwerkraft), Geomagnetik (Wissenschaft von den Magnetfeldern der Erde) und Aeronomie (Wissenschaft von der oberen Atmosphäre). Zur Entwicklung der Geophysik wurde in einem Perspektivplan vom Februar 1966 (von der Sektion Geophysik des Wissenschaftlichen Beirates für Mathematik und Naturwissenschaften beim Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschul­ wesen) festgestellt, dass die Fachdisziplin vor dem Zweiten Weltkrieg eine hohe Bedeutung besaß. Auf dem Gebiet der DDR waren tätig: das Institut für Meteorologie und Geophysik der HU Berlin, das Geophysikalische Institut der Karl-MarxUniversität Leipzig und das Institut für Angewandte Geophysik der Bergakademie Freiberg. 1950 kamen von der Bergakademie Freiberg das Institut für Theoretische Physik und Geophysik sowie von der Leipziger Universität 1958 das Institut für Geophysikalische Erkundung und Geologie hinzu. Ferner im Bereich der DAW das Geomagnetische Institut Potsdam (davor Geophysikalisches Institut) mit dem Adolf-Schmidt-Observatorium für Erdmagnetismus in Niemegk sowie das Institut für Erdbebenforschung und Bodendynamik in Jena mit der seismischen Zentralstation (Moxa).1008 Deren Leistungen besaßen in beachtlichen Teilen Weltniveau und kosteten entsprechend. Ionosphärenphysik Es existiert im wissenschaftlichen Nachlass Lauters eine Konzeption von 1975 zu »30 Jahre Physik der Hochatmosphäre in der DDR« in Übersichtsform zu Ehren des Geophysikers Falckenberg. Den Ausgangspunkt der Forschungen sah er im Forschungsprogramm des Rostocker Luftwarte-Observatoriums 1946. Ein Grundimpetus im Forschungsprofil bestand bereits in der Erforschung der allgemeinen Zirkulation. Es folgten erste Arbeiten zur Überwachung der D-Schicht (Tagesund Jahresgänge der Funkwellenabsorption; P- und S-Störungen als Indikator für Partikelabregnung in mittleren Breiten; Entdeckung und Geschichte des Nachwirkungseffektes bis zur Entdeckung des Strahlungsgürtels). 1954 und 1961 folgten die Sonnenfinsternisbeobachtungen und UKW-Ausbreitungsmessungen. Die wissenschaftliche Integration des Observatoriums erfolgte in die Institutionen des Internationalen Geophysikalischen Jahres (IGJ), des IQSY und der KAPG. Expedi­ tionen fanden in der Antarktis, auf Kuba, Sansibar und Spitzbergen statt. Ferner wurden Forschungen zur Synoptic der Mesosphäre, zur Winteranomalie (der Erwärmung der Stratosphäre insbesondere im Winter [vom MfS als Witz abgetan]) und zur stratosphärischen Erwärmung unternommen. Zuletzt wurde eine neue Form der Kooperation im Interkosmos-Programm versucht. Forschungen fanden 1008  Vgl. Sektion Geophysik des Wissenschaftlichen Beirates für Mathematik und Naturwissenschaften beim Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen (SHF); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 222, S. 1–33, hier 4–7.

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ferner zu planetaren Wellen in Tropo- und Stratosphäre, Radarmeteormessungen sowie zum Vergleich von Phasenhöhen- und Raketenmessungen statt. Ein zeitlich letzter Arbeitspunkt erfolgte mit der Erarbeitung von Programmen in Kooperation der sozialistischen Länder im Rahmen der KAPG.1009 Es bleibt zu betonen, dass die Rolle der langfristigen Messreihen zur Überwachung säkularer und anthropogener Variationen in der Atmosphäre wissenschaftlich unter Lauter geradezu gelebt wurde. Kosmosforschung Unter Kosmosforschung verstehen wir gewöhnlich jene Raketen-, Satelliten- und Sondentechniken und -Technologien, die die Voraussetzungen für die unterschiedlichsten Weltraum-Missionen und Nutzanwendungen bilden. Sie vereint, einfach ausgedrückt, Raumfahrttechnik mit Forschungs- und Anwendungsprogrammen aus der Physik des erdnahen und interplanetaren, aber auch interstellaren Raumes. Kosmosforschung ging in der DDR im Forschungsbereich Kosmische Physik der Akademie der Wissenschaften auf. Zur Konstituierung des Bereiches hielt Max Steenbeck am 24. Januar 1969 einen Vortrag.1010 Die Interessen der Kosmosforschung, genauer: die der Interkosmos-Forschung als Programm der DDR in der internationalen Kosmosforschung, richtete die SED gegen die Wissenschaftsphilo­ sophie Lauters aus. Aus diesem Grunde seien hier folgende relevante Gesetze, Weisungen, Richtlinien und Normen genannt, die diesen speziellen Weg der DDR beschreiben. Daran anschließend erfolgt eine kurze Interpretation der Inneren Ordnung, die für das Verstehen dieser Teiluntersuchung von Bedeutung ist. 1) Beschluss des Ministerrates vom 20. Oktober 1966 über die Bestätigung der grundsätzlichen Bestimmungen zur Gewährleistung der Geheimhaltung bei der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder bei der Erforschung und Nutzung des kosmischen Raumes (GVS 93/12/66). Dies ist die sogenannte Innere Ordnung, siehe Erläuterungen unten. 2) Vorläufige Arbeitsordnung für das Koordinierungskomitee und den wissenschaftlichen Beirat für die Erforschung und Nutzung des Weltraumes für friedliche Zwecke (VVS B 105/2-100/66). 3) Beschluss des Ministerrates vom 17. August 1967 »Zur Konzeption für die Mitarbeit der DDR an der Erforschung und Nutzung des Weltraumes für friedliche Zwecke im Rahmen der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder« (VVS 02-5/5/67). 4) Weisung von Herbert Weiz über Abbau internationaler Beziehungen 1967. 1009  Lauter: 30 Jahre Physik der Hochatmosphäre in der DDR (o. D.); Nachlass Lauter, Nr. 138, S. 1 f. 1010  Steenbeck, Max: Warum hat die Erde ein Magnetfeld?, in: Physikalische Blätter 26(1970)4, S. 158–168.

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5) Befehl 2/67 des MfS vom 10. Januar 1967: Sicherung der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder bei der gemeinsamen Erforschung und Nutzung des kosmischen Raumes. Der Befehl ist mit der 1. Durchführungsbestimmung untersetzt. Diese wiederum enthält die für das Verständnis des Untersuchungsgegenstandes wichtige Anlage Nr. 2 zur Inneren Ordnung »für die Zusammenarbeit der sozialistischen Länder auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des Weltraumes für friedliche Zwecke«.1011 Die Interkosmos-Zusammenarbeit erfolgte von nun an »im Wesentlichen auf der Grundlage streng geheimer und geheimer technischer Mittel und Dokumentationen«. Verantwortlich für die Koordinierung der Sicherungsarbeit des MfS war der Leiter der HA XVIII, Oberst Rudi Mittig. Die wichtigsten Aspekte der 1. Durchführungsbestimmung bildeten die Aufgaben zur Gewährleistung der Verhinderung des »unkontrollierten Zutritts Unbefugter« in den Institutionen der Kosmosforschung, einschließlich des ständigen Nachweises und der Kontrolle des Besucherverkehrs; ein grundsätzliches Betreteverbot von Einrichtungen der Kosmosforschung für Personen aus dem westlichen Ausland, realisiert über ein »System von Maßnahmen« der Kontrolle; ein Westreiseverbot für Mitarbeiter der Kosmosforschung, sowie die »operative Kontrolle« von privaten und dienstlichen Reisen in das sozialistische Ausland. Zudem unterlagen die in der Kosmosforschung tätigen Personen der Kadernomenklatur, was bedeutete, dass sie zuvor beim Staatssekretariat für Forschung und Technik »zur Bestätigung« eingereicht werden mussten. Für die »Überprüfung und Bestätigung der von den zuständigen Organen ausgewählten und vorgeschlagenen Kader« war das MfS ›verantwortlich‹«.1012 6) Ordnung zur Sicherung von Staatsgeheimnissen bei der Vorbereitung und Durchführung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit der UdSSR (VVS 138/67). Dazu die 2. Durchführungsbestimmung auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des Kosmischen Raumes (VVS 105/2-22-51/68). 7) Weisung 1/68 des ZISTP vom 16. September 1968 zur Gewährleistung der Sicherheit in den Institutsteilen des HHI-STP, Bereich IV, im Haus L 4 und im Observatorium Neustrelitz (VVS B 404-27/68). 8) Beschluss des Ministerrates vom 20. Januar 1971: »Konzeption für das mit der UdSSR und anderen sozialistischen Partnern im Rahmen Interkosmos abzustimmende Programm der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit im Perspektivplanzeitraum von 1971–1975« (GVS 02-146/7/71). 9) Innere Ordnung für die Leitung der Beteiligung der DDR an der Erforschung und Nutzung des Weltraums für friedliche Zwecke. Ministerratsbeschluss vom 1011  MfS, Mielke, vom 10.1.1967: Befehl 2/67 vom 10.1.1967: Sicherung der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder bei der gemeinsamen Erforschung und Nutzung des kosmischen Raumes; BStU, MfS, DSt., Nr. 100503, S. 1–3; MfS, Stellv. des Ministers, vom 10.1.1967: DB Nr. 1 zum Befehl 2/67; ebd., S. 1–9. Darstellung siehe Buthmann, Reinhard: Die DDR im Weltraum. Kosmosforschung im Licht der MfS-Akten, in: Deutschland Archiv 32(1999)2, S. 223–232. 1012  MfS, Stellv. des Ministers, vom 10.1.1967: DB Nr. 1 zum Befehl 2/67; BStU, MfS, DSt., Nr. 100503, S. 1–9, hier 2–5.

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17. Dezember 1973 (GVS B 2-ZZ-384/73). Es ist die moderne Fassung der Inneren Ordnung von 1966, die das Regime des MfS in Sicherheitsfragen impliziert. Neben der Institutionalisierung des Koordinierungskomitees und seines Beirates (Artikel  I), sind Definitions- und Verfahrensregelungen zum Geheimschutz (Artikel II) verfasst worden, in deren Mittelpunkt die Verfahrensweise bei der Bestimmung, Auswahl und Vergatterung der Geheimnisträger steht. Für das Verständnis der in dieser Teiluntersuchung beschriebenen Bruchsituation ist die Innere Ordnung von 1966 von Belang. Die restriktive »Innere Ordnung Interkosmos« geriet später in die Kritik. Das MfS monierte am 24. Februar 1982 auf Grundlage der Einschätzung von Karl-Heinz ­Marek, dass man immer noch nach jener aus dem Jahre 1976 arbeite; eine neue Fassung sei seit mindestens zwei Jahren bei Ralf Joachim in Arbeit. Die alte, so Marek, würde der modernen eingetretenen Entwicklung nicht mehr entsprechen. Längst sei die Dimension der Interkosmos-Zusammenarbeit aus dem engen Zirkel der Akademie entwachsen, es existierten bilaterale Verträge sowohl auf Regierungsebene als auch mit Fachministerien, diese könnten von der Akademie (Koordinierungskomitee Interkosmos) nicht mehr koordiniert werden. Selbst in der Sowjetunion habe »sich der Begriff IK gewandelt«. Sie behandle die Kooperationen mit Frankreich, Indien und Schweden auch unter IK. Auch das sowjetisch-amerikanische Sojus-Apollo-Projekt laufe unter IK. Allerdings trenne die Sowjetunion IK in zwei Bereiche auf: IK mit sozialistischen Ländern und IK allgemein.1013 Die Innere Ordnung von 1966 Am 29. Juni 1966 sanktionierte der Ministerrat der DDR die sogenannte »Vorläufige Innere Ordnung« für die »Beteiligung der DDR an der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des Weltraumes für friedliche Zwecke«. Hierin wurde die Erarbeitung einer langfristigen Konzeption für die DDR-Beteiligung in der Kosmosforschung verankert. Themen­ relevant ist der 1. Abschnitt, Paragraf  1 (1): »Die Leitung, Koordinierung und Kontrolle der Forschungsarbeiten […] obliegen dem Staatssekretär für Forschung und Technik.« Internationale Absprachen und Verhandlungen »bedürfen der Zustimmung des Staatssekretärs«. Über internationale Abkommen, bestehende wie angestrebte, war der Staatssekretär zu informieren. Der Paragraf 2 bestimmte die Bildung, Zu­sammensetzung, Aufgaben- und Kommunikationsstruktur des Koordinierungskomitees (KoKo) für die Erforschung und Nutzung des Weltraumes. Der quasi interministerielle Term von KoKo zeigt deutlich, dass dies kein Organ der

1013  BV Potsdam vom 26.2.1982: Bericht zum Treffen mit »Peter Ermisch« am 24.2.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, XVIII, Nr. 55, Bd. 2, Bl. 63.

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Wissenschaften war, wenn nach den fünf Ministerien MWT, MdI, MfNV, MfPF und dem MAA an letzter Stelle die DAW aufgezählt wurde.1014 Der Paragraf 3 beschrieb die Gründung eines Beirates zur Beratung des Staatssekretärs und des KoKo. Obgleich hier die wissenschaftliche Seite federführend sein sollte, ist festgelegt, dass die »Themenwahl- und -bestimmung […] auf der Grundlage der nationalen Direktiven und Pläne und der bi- bzw. multilateralen Abkommen« zu erfolgen habe.1015 Der zweite Abschnitt regelte »Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit«. Er zeigt, dass die Regelungen zwar vom Ministerrat erlassen worden sind, die Federführung aber das MfS innehatte. Paragraf 6 regelte die Verantwortlichkeitsstruktur für die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen: (1) Staatssekretär, Leiter des KoKo, Leiter der zuständigen zentralen Staatsorgane. Diese Personen (2) »sind dafür verantwortlich, dass für die Mitarbeit an den geheimen Themen der Erforschung und Nutzung des Weltraumes nur zuverlässige, überprüfte und verpflichtete Spezialisten, wissenschaftliche Mitarbeiter, Verwaltungs- und technische Kräfte sowie Dolmetscher zugelassen werden. Die Bestätigung erfolgt nach Abstimmung mit dem Staatssekretär für Forschung und Technik.«1016 Das MfS ist hier als der faktische Hauptakteur nicht genannt. Der Paragraf 7 (1) legte die Restriktionen zu Dienstreisen fest. Demnach durften die bestätigten Personen laut (2) »nicht in das kapitalistische Ausland, nach Westdeutschland und Westberlin reisen«. Die Abschnitte (2) und (3) regelten Besuchsverbote resp. -erlaubnisse. Die Paragrafen  8, 9 und 10 regelten extrem restriktiv die Arbeit mit Sachangelegenheiten und Unterlagen sowie die Frage der Kommunikation von Sachverhalten, Daten und Messergebnissen sowie die Publika­ tionstätigkeit.1017 Mit dem Beschluss des Ministerrates vom 20. Oktober 1966 erfolgten die »grundlegenden Bestimmungen zur Gewährleistung der Geheimhaltung bei der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder in der Erforschung und Ausnutzung des kosmischen Raumes«. Der Beschluss erstreckte sich (Anlage  1) »über die Bestätigung der grundlegenden Bestimmungen zur Gewährleistung der Geheimhaltung« in der obigen Sprachform und (Anlage 2) über die »Innere Ordnung für die Zusammenarbeit« in der obigen Sprachform. Die Innere Ordnung trat zum 1. November 1966 in Kraft.1018 1014  MR der DDR vom 29.6.1966: Beschluss über die Vorbereitung der Beteiligung der DDR an der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des Weltraumes für friedliche Zwecke; BStU, MfS, SdM, Nr. 2384, Bl. 100–109, hier 101–104. 1015  Ebd., Bl. 104 f. 1016  Ebd., Bl. 105 f. 1017  Ebd., Bl. 106–109. 1018  MR der DDR vom 20.10.1966: Beschluss über die Bestätigung der grundlegenden Bestimmungen zur Gewährleistung der Geheimhaltung bei der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder in der Erforschung und Ausnutzung des kosmischen Raumes und über die Innere Ordnung für die Zusammenarbeit der sozialistischen Länder auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des Weltraumes für friedliche Zwecke; BStU, MfS, SdM, Nr. 2384, inklusive Anlagen Bl. 290–313, hier 290 f.

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Zur Anlage 1 sei hier nur der themenrelevante Punkt 6 zitiert: »Die Übergabe streng geheimer und geheimer technischer Mittel und Dokumentation erfolgt durch die nationalen Koordinierungsorgane über die diplomatische Kurierverbindung der Ministerien für Auswärtige Angelegenheiten der Teilnehmerländer oder durch die Verbindung, die die Teilnehmerländer des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe benutzen. Die technischen Mittel und die Dokumentationen werden von den Botschaften der entsprechenden Teilnehmerländer nach den festgelegten Vorschriften an die nationalen Koordinierungsorgane übergeben.«1019 Der restriktive Text atmet geradezu die Unmöglichkeit freien Forschens, Entwickelns und Kommunizierens. Zur Anlage  2: Im Absatz (2) ist vermerkt, dass die internationalen Verhandlungen durch den Staatssekretär »geführt« würden und sich dies explizit auch auf das Gebiet der »Erforschung der physikalischen Eigenschaften der Ionosphäre, der meteorologischen Forschung für langfristige Wetterprognosen und der Probleme der kosmischen Nachrichtenverbindungen« erstrecke.1020 Eine weitere, extreme Behinderung in Forschungsprozessen stellt der Paragraf 9, Absatz (3) dar: »Eine Änderung der Geheimhaltungsgrade von technischen Mitteln und Dokumentationen darf nur mit schriftlicher Zustimmung des Teilnehmerlandes erfolgen, das die Geheimhaltungsgrade festgelegt hat.« In der Praxis bildete dieser Punkt zahlreiche Konflikte zwischen den Vertretern der Länder und im Endeffekt immer einen Zeitverlust.1021 Zum Beispiel der Paragraf 14 Absatz (2): »Bei der Arbeit mit den streng geheimen (GVS) und geheimen (VVS) technischen Mitteln und Dokumentationen sind die Vertreter der DDR verpflichtet, die Bestimmungen des Aufenthaltslandes für den Umgang mit solchen technischen Mitteln und Dokumentationen zu beachten.« Der Paragraf  15 lautet: »Das Koordinierungskomitee [KoKo] gewährleistet bei Konferenzen, die auf dem Boden der DDR stattfinden, dass die erörterten Fragen geheim gehalten und die streng geheimen (GVS) und geheimen (VVS) technischen Mittel und Dokumentationen während der Konferenz aufbewahrt werden. Das Koordinierungskomitee ist verpflichtet, zu den Konferenzen nur diejenigen Personen einzuladen, die unmittelbare Beziehungen zu den erörterten Fragen haben, auf der Grundlage der Liste der Anmeldungen von den Teilnehmerländern. […] Die ausgegebenen Materialien werden täglich zurückempfangen und entsprechend den Bestimmungen aufbewahrt.« Ferner legte der Paragraf 16, Absatz (1), Punkt 4 fest, dass die Leiter der beteiligten Institutionen zu gewährleisten hatten, »dass keine Veröffentlichungen über Angaben und Arbeitsergebnisse der Erforschung und Nutzung des Weltraumes ohne Genehmigung des Staatssekretärs für Forschung und Technik erfolgen«. Der Paragraf 17 verpflichtete die Leiter der Institutionen in sechs Punkten zur umfassenden Kontrolle der technischen und dokumentarischen Abläufe; so Punkt 1: »dass die Arbeitspläne und -programme nicht ohne Zustim1019  MR der DDR vom 20.10.1966; ebd., Anlage 1, Bl. 292–300, hier 296. 1020  Ebd., Anlage 2, Bl. 301–313, hier 301. 1021  Ebd., Bl. 307.

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mung der jeweiligen Teilnehmerländer und des Staatssekretariats für Forschung und Technik geändert werden«.1022 Meteorologie Das Bewusstsein dafür, dass die Lufthülle nicht leer und gewichtslos ist, verdanken wir Evangelista Torricelli. Meteorologie geht weit über die klassischen Fragen der Temperaturprofile, Bewölkungsgrade oder der Sonnenscheindauer hinaus. Sie ist die Wissenschaft von den komplexesten Naturvorgängen, die für die alten und neuen Kulturen von existenzieller Bedeutung waren und sind. Der große Wunsch herrscht ungebrochen, möglichst präzise Voraussagen des Wetters zu ermöglichen. Heute verfügt die Meteorologie über weltweit vernetzte Bodenstationen und Satellitenbeobachtungssysteme. Der Gegenstand der Naturwissenschaft »Meteorologie« heißt »Physik der Atmosphäre«. Das war Lauters Credo der neueren Meteorologie und Klimatologie: Klimareihen zu erstellen, Zahlenkolonnen aus geografisch weiten Räumen zu bekommen, die Physik der Atmosphäre ernst nehmen: hierin war er Pionier. Heute sprechen wir wegen des Eintrags industriell erzeugter Emissionen in die Atmosphäre von anthropologischer Meteorologie. Eine Sicht auf die Meteorologie, die Lauter bereits in den 1970er-Jahren entwickelte. Siehe hierzu das institutionelle Instrument Global Atmosferic Watch (GAW) mit seiner Aufgabe, Schadstoffe und Aerosole in den GAW-Stationen zu erfassen (eine dieser Stationen befindet sich auf der Zugspitze im Wettersteingebirge). Es sei bereits hier angemerkt, dass solche Visionen und Forschungsimpulse nicht vom Chef des Meteorologischen Dienstes (MD) der DDR, Wolfgang Böhme, kamen, sondern vom Atmosphärenphysiker Lauter. Der Verminderung der Wärmeausstrahlung der Erde ins Weltall durch Treibhausgase wird heute wenig widersprochen. Sie gilt als eine der Ursachen des »anthropogenen Klimawandels«. Strahlungsmessungen1023 waren vordem nur vom akademischen Interesse und von den SED-Funktionären als unbedeutend und nicht förderungswichtig abgetan worden. Die »Wiener Schule« der Meteorologie, vor allem Josef M. Pernter, gilt als Pionier. Es wäre für die Wissenschaftshistoriografie eine Herausforderung, diesbezüglich Lauter zu entdecken. Er gehört m. E. in einem Atemzuge mit Pernter genannt. Wovon beide träumten, ist heute technischer Standard: Die moderne Computerrechentechnik zur Ermittlung und Darstellung von Klimamodellen (moderne Klimatologie).1024 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, was heute völlig vergessen scheint, dass zur Zeit Lauters weltweit ein gegenüber 1022  Ebd., Bl. 309 f. 1023 Literaturhinweis, DDR-bezogen: Etkin, Walentin S.: Strahlungsmessungen zur Fernerkundung aus Raumflugkörpern, in: Wittbrodt, Hans et al. (Hrsg.): Weltraum und Erde, Bd. 1. Berlin 1975, S. 81–96. 1024  Vgl. Böhm, Auer, Schöner: Labor über den Wolken, S. 207.

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Abb. 33: Das »Riesenei« auf dem Turm des Amtes für Meteorologie Rostock in Warnemünde, 1988

heute anderer Trend der Datenwahrnehmung vorherrschte, der zudem auf härteren Messeergebnissen als heute beruhte. Der Begriff »Klimawandel« entstand für eine Periode, die 1982 nach einer circa 30-jährigen Kaltzeit, in der die Gletscher wieder wuchsen (!), begann. Plasmaphysik Plasmaphysik beschäftigt sich mit der Natur der Eigenschaften der Materie im Plasmazustand, jenem Zustand, der durch physikalische Größen wie Ionisierung, Leitfähigkeit, Dichte, Temperatur, Strömungsverhalten u. v. a. m. etwa in Gasen

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beschrieben werden kann. Die Plasmaphysik besitzt substanzielle Beziehungen zur Atomphysik, Quantenphysik, Elektrodynamik und Thermodynamik. Solar-terrestrische Physik Die solar-terrestrische Physik stellt ein Forschungsgebiet dar, das sich gleichermaßen mit Astro- und Geophysik befasst, dies jedoch in Hinsicht der Wechselwirkungen der Sonnenstrahlung mit den Zustandsvariablen der unteren Atmosphäre, der Ionosphäre und der Magnetosphäre (sogenannte solar-terrestrische Erscheinungen resp. Beziehungen). Diese Wechselbeziehungen besitzen elementare Bedeutung für die moderne Meteorologie, und zwar nicht nur hinsichtlich größerer singulärer Ereignisse wie Strahlungsausbrüchen auf der Sonne (Flares), sondern vielmehr als permanente Wetterbeeinflussung.1025 Lediglich fünf Gesellschaften resp. Organe des Untersuchungsgegenstandes sollen hier näher dargestellt werden, sie und andere sind nachfolgend übersichtshalber aufgeführt. Comittee on Space Research (COSPAR) Das COSPAR wurde 1958 auf einem Kongress des International Council of Scientific Union (ICSU) gegründet. Das COSPAR vereint als Dachverband zahlreiche Gliederungen und Projekte, die sich mit Fragen der Weltraumforschung befassen. Sein wesentlicher Schnittpunkt liegt in den nationalen Raumfahrtbehörden. Der erste Kongress fand 1960 in Nizza statt. Die Grundphilosophie des COSPAR besteht im weltweiten Austausch wissenschaftlicher, auf Fragen der Raumfahrt und Kosmosforschung orientierter Daten. Es diskutiert, befördert und fördert zudem Projekte der Grundlagenforschung. Deutsche Geophysikalische Gesellschaft (DGG) 1922 gegründet, umfasst das Fachgebiet dieser Gesellschaft die Physik der Erde in einem umfänglichen Sinne, also von der mechanischen Gestalt der Erde über geologische Fragen aller Art bis hin zu elektrischen, magnetischen und plasmatologischen Phänomen, aber auch von Fragen der Kosmischen Physik wie dem Strahlungshaushalt der Erde. Das Fachgebiet besitzt daher per naturam enge nachbarschaftliche Beziehungen zu einer Vielzahl von anderen Fachgebieten wie der Astronomie, Astro1025  Literaturhinweis: Staude, Jürgen: Sonnenforschung von extraterrestrischen und bodengebundenen Observatorien, in: Wittbrodt, Hans et al. (Hrsg.): Weltraum und Erde, Bd. 3. Berlin 1982, S. 19–31.

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physik, Chemie, Geodäsie, Geologie, Hydrologie und Meteorologie. 1958 fand vor der Wiedervereinigung die letzte gemeinsame Tagung der ost- und westdeutschen Mitglieder in Leipzig statt. In den 1960er-Jahren vollzog sich eine von der SED geforderte Trennung der gemeinsamen Aktivitäten. Ab 1967 war eine Mitarbeit von DDR-Vertretern nicht oder kaum mehr möglich. Die Geophysiker der DDR fanden in dem NKGG ihre zwischenzeitliche Heimat. International Union for Geodesy and Geophysics (IUGG) und ihre Gliederungen Die IUGG wurde 1919 gegründet und ist heute in acht Assoziationen gegliedert. Im thematischen Kontext: IAG (International Association of Geodesy), IAGA (International Association of Geomagnetism and Aeronomy) und IAPSO (International Association for the Physical Sciences of the Oceans). Im Zeitraum der Untersuchung gliederte sich die Union in eine Sektion Geodäsie mit circa 80 Mitgliedsländern und eine Sektion Geophysik mit circa 70 Mitgliedsländern. Ihr genereller Zweck lag und liegt in der Koordination der Forschung zur Physik und Geologie der Erde sowie des erdnahen Weltraums. Von daher ist ihr Fachprofil äußerst komplex. Insbesondere ist sie kooperativ verflochten mit Programmen des ICSU, der International Astronomical Union (IAU) und dem COSPAR. Zur strukturellen Einbindung der ICSU: UNESCO – COSPAR und ICSU auf gleicher Hierarchieebene, von der ICSU mehrere Verzweigungen gleicher Hierarchie u. a. die IUGG, von der IUGG auf gleicher Ebene mehrere Verzweigungen, darunter die IAG. Kommission der Akademien der Wissenschaften sozialistischer Länder für planetare geophysikalische Forschungen (KAPG) Die KAPG wurde 1966 gegründet. Sie entwickelte sich aus regionalen Verbindungen von Geophysikern zu einer multilateralen Kommission. Ihr Vorsitzender war der in der Untersuchung eine Rolle spielende Jurij D. Boulanger (Sowjetunion), als Stellvertreter fungierte u. a. Ernst August Lauter. Mitglied des Büros war Friedrich Rotter. Die Mitglieder der Kommission stellten die Vorsitzenden der Nationalkomitees, zum Beispiel der DDR und Polens. Insgesamt waren sieben Länder beteiligt, die KAPG war in acht Unterkommissionen strukturiert. In den einzelnen Mitgliedsländern war ein ähnlicher Strukturaufbau etabliert (UK 1 bis UK 8 mit themenspezifischer Einteilung). Unterkommissionen waren in Arbeitsgruppen strukturiert.

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Koordinierungskomitee (KoKo) Das KoKo, nicht zu verwechseln mit dem Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo), wurde zur »Koordinierung und Kontrolle der Forschungsaufgaben der DDR auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des Weltraumes für friedliche Zwecke« geschaffen. Das KoKo war verantwortlich für die Zusammenarbeit der am Programm Interkosmos beteiligten Länder. Zwecks Beratung und Vorbereitung entsprechender Experimente wurde dem KoKo ein Beirat zugeordnet. Der Beirat bildete eine Art Prüfinstanz aller Themen und Projekte, konnte aber auch selbstständig eigene Thematiken vorlegen. Nationalkomitee für Geodäsie und Geophysik (NKGG) Das NKGG der DDR bei der DAW zu Berlin wurde am 12. April 1962 auf Beschluss des Präsidiums der DAW gebildet. Präsident wurde Horst Peschel,1026 Vizepräsident Ernst August Lauter. Als Sekretär fungierte Friedrich Rotter. Es war das nationale Organ der Akademie für die Mitarbeit der DDR in den Fachdisziplinen Geodäsie und Geophysik. Folgende Fachgruppen zählten zum NKGG: Geodäsie, Gravimetrie, Erdgezeiten, Geodätische Astronomie, Geomagnetismus und Erdströme, Seismologie und Physik des Erdinnern, Glaziologie, Wissenschaftliche Hydrologie, Physikalische Ozeanografie, Meteorologie und Physik der Atmosphäre, Ionosphäre und kosmische Strahlung, Raumforschung sowie Sonnenaktivität. Darüber hinaus existierten Referate für Publikationen und Expeditionen sowie das Technische Büro. Das NKGG repräsentierte die DDR gegenüber der IUGG, dem Comité International de Géophysique (CIG), dem COSPAR und dem IQSY. Alle diese Gremien zählten zum ICSU. Im Untersuchungszeitraum war die DDR per Beschluss des IUGG-Büros Anfang 1964 selbstständiges Mitglied der IUGG geworden, zuvor, bis Ende 1963 bestand eine gemeinsame Mitgliedschaft mit der Bundesrepublik.1027 Die DDR nahm in diesem Forschungsspektrum circa 50 internationale Funktionen wahr. Das NKGG wurde 1967 in die IUGG vollwertig aufgenommen.

1026  (1909–1989). Präsident der KdT, Direktor des Geodynamischen Instituts Potsdam (GIP), Direktor des Geodätischen Instituts an der TH Dresden sowie daselbst Hochschullehrer und Rektor. Früh soll Peschel eine »Abneigung gegen jegliche Tätigkeit im Staatsapparat« entwickelt haben. Informationen zu Peschel; BStU, MfS, AIM  7783/71, Teil  II, Bd. 1, Bl. 32–40, hier  32 f. Nicht Laien sollten bestimmen (die Regierung), sondern die jeweiligen Fachinstitutionen; Information vom 20.3.1967; ebd., Bl. 38. 1027 Vgl. Zwischenbericht über die Tätigkeit des NKGG für den Zeitraum 1963/64 anlässlich der Sitzung des NKGG am 26.5.1964; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 319, S. 1–13, hier 1 f.

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Themenrelevante Gesellschaften, Organisationen und Institutionen im Überblick Comittee on Space Research (COSPAR) Commission for Atmospheric Sciences (CAS) International Association of Geomagnetism and Aeronomy (IAGA) International Association of Meteorology and Atmospheric Physics (IAMAP) International Astronomical Union (IAU) International Council of Scientific Union (ICSU) International Union for Geodesy and Geophysics (IUGG) Internationale Years of the Quiet Sun (IQSY) Inter-Union Commission on Solar Terrestrical Physics (IUCSTP) Kommission der Akademien der Wissenschaften sozialistischer Länder für planetare geophysikalische Forschungen (KAPG) Meteorologischer Dienst der DDR (MD) Nationalkomitee für Geodäsie und Geophysik der DDR (NKGG) Spezial Committee on solar-terrestrical Physics (SCOSTEP) Union für Geodäsie und Geophysik (UGGI) Union Radio Scientifique Internationale (URSI) Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsforschung (HHI) Als der Leiter des HHI, das in diesem Hauptkapitel als Institution die bedeutendste Rolle spielt,1028 der Hamburger Gustav Leithäuser am 15. Oktober 1946 um Aufnahme seines Hauses in die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW) nachsuchte, ahnte er nicht, dass er den Weg in eine problematische Bindung beschreiten würde. Eine Bindung, die zu bedeutenden institutionellen Verwerfungen im Verlauf der nächsten drei Jahrzehnte führen sollte. Leithäuser leitete das Institut von 1946 bis 1950. Die DAW war kurz zuvor am 1. Juli per SMAD-Befehl Nr. 187 neu gegründet worden. Das HHI war zum Zeitpunkt des Vorstoßes von Leithäuser der Technischen Universität Berlin-Charlottenburg beigeordnet gewesen. Seine Initiative verband er vor allem mit wissenschaftlichen und finanziellen Hoffnungen. Auch vergaß er im Aufnahmegesuch nicht zu erwähnen, dass er unter dem Nazi-Regime wegen seiner »halbarischen Frau« entlassen worden sei. Seine Argumentation zeigt, wie sehr ihm damals ein adäquater Instinkt hinsichtlich des künftigen politischen Kurses in der Ostzone gefehlt haben mochte. So erhoffte er sich für die auf Austausch der Messergebnisse notwendig angewiesene Ionosphärenforschung »eine bessere Ausnutzung der Arbeitsbedingungen«, um somit den »Austausch der Ergebnisse mit anderen Instituten und den entsprechenden Forschern wesentlich« zu erleichtern. Seinem späteren Nachfolger Ernst August Lauter sollte genau dieses Argument zum Verhängnis werden. Leithäusers Antrag 1028  Zur Geschichte des HHI siehe auch: Physikalische Blätter 3(1947)2, S. 54 f.

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wurde stattgegeben und sein Institut zum 1. November 1946 der DAW zugeordnet. Seine Hoffnungen auf hinreichende materielle Unterstützung, vor allem in Bezug auf Gebäudezuweisungen, realisierten sich jedoch nur schleppend und insgesamt völlig unzufriedenstellend. Die Einrichtungen und seine Mitarbeiter blieben räumlich getrennt, politische Ereignisse wie die Währungsreform 1948 und die sowjetische Blockade der westlichen Besatzungszonen der Stadt erschwerten zusätzlich die Arbeitsbedingungen.1029 Zwei Jahre nach dem Beitrittsantrag schlug die DAW der SMAD vor, das Institut aus den westlichen Bindungen zu lösen. Sie beklagte in ihrem Vorschlag die weiterbestehende »nicht gewünschte enge Bindung« zur Technischen Universität in Berlin-Charlottenburg. »Es ist im Gegenteil die unglückliche Situation entstanden«, heißt es in dem über Robert Rompe, dem Leiter der Abteilung Wissenschaften und Hochschulen bei der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVf V), laufenden Schreiben, »dass das Institut in drei Arbeitsbereiche zerlegt« worden ist. Der größere Teil war in der Jebensstrasse, eine Abteilung im Rundfunkhaus (beide Westberlin), ehemals Heereswaffenamt, und eine weitere Abteilung in der Außenstelle Neustrelitz in Mecklenburg untergebracht. Da die DAW die Arbeiten im Rahmen der »wirtschaftlichen Verselbstständigung der Ostzone und Berlins für die vorhandene umfangreiche elektrotechnische Industrie von grundlegender Bedeutung« einschätzte, sah sie Handlungsbedarf und suchte um Hilfe bei der Abteilung Volksbildung der SMAD nach. Es ist »vonseiten der Akademie in Anbetracht der Bedeutung der wissenschaftlichen Aufgaben des Heinrich-Hertz-Instituts eine grundsätzliche Lösung angestrebt« worden mit dem Ziel, »für das Institut geeignete Gebäude aus dem Baukomplex der ehemaligen Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt« freizubekommen.1030 1949 fand sich eine Zwischenlösung in Räumen der Humboldt-Universität zu Berlin, erst Anfang 1950 zog das Institut als erste Forschungseinrichtung nach Berlin-Adlershof, dem künftigen Großstandort der DAW, wo es bis 1991 existierte. Für einige überraschend, entschied sich Leithäuser bereits Mitte 1950 für eine Zweiteilung des Instituts. Er, wie viele seiner Mitarbeiter, verblieben in Westberlin. Dieses Institut gleichen Namens existierte bis 1955. Auch Leithäusers Nachfolger als Leiter des HHI in Berlin-Adlershof von 1951 bis 1961, Otto Hachenberg, verließ 1961 die DDR, nachdem Interventionen der DDR-Staatsführung, ihn davon abzuhalten, erfolglos endeten. Neben den politischen Rahmenbedingungen blieben die materiellen und finanziellen Probleme, die Leithäuser durch den Beitritt zur DAW zu beheben beabsichtigte, weit über das Jahr 1950 bestehen. Anfang 1950 sah sich die Betriebsgewerkschaftsleitung des HHI gezwungen, nachdrücklich das Politbüro der SED um Abhilfe zu bitten. Sie sprach in ihrem Schreiben von »großer Sorge«, 1029  Faksimile in: Günther, Manfred (Hrsg.): Wissenschaftshistorische Adlershofer Splitter, Nr. 2: Das Heinrich-Hertz-Institut in Berlin-Adlershof. Berlin 1997, S. 14 f. u. 30 f. 1030 Schreiben an die SMAD, Abt. Volksbildung, vom 3.9.1948; ArchBBAW, AKL-HHI, Nr. 15, S. 1 f.

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wonach »immer wieder gewisse Schwierigkeiten alle Initiativen […] lähmen«, die auch von der »tatkräftigen Leitung« Leithäusers nicht behoben werden konnten.1031 So führten die Materialbeschaffungsschwierigkeiten dazu, dass »wichtige Hilfsgeräte aus Mangel an so einfachen Dingen wie Messingrohre […] nicht oder erst nach Zeitverzögerungen von sechs Monaten gebaut werden konnten. Spezialröhren für die Ersatzbestückung elektronischer Geräte« waren »ebenfalls erst nach langen Verwaltungswegen zu erhalten gewesen. Untragbare Zeitverluste in der Bearbeitung der Aufgaben waren die Folge.« Auch fehlten in dem bezogenen Haus »Kleinigkeiten, wie Wasserrohre«. Entsprechende »Bemühungen der Akademie um Beschaffung des Materials« seien »bisher fehlgeschlagen und« hätten »weitere Zeitverluste mit sich gebracht. Jetzt kümmern sich die Herren des Instituts um die Beschaffung selbst, die wissenschaftliche Arbeit muss darunter leiden.« Hilfeersuchen beim Ministerium für Planung und beim Magistrat von Groß-Berlin für die »Erteilung einer Dringlichkeitsstufe« wurden abschlägig beantwortet.1032 Zur genaueren Geschichte des HHI siehe Manfred Günther.1033 Weitere wichtige Institutionen: Geodätisches Institut Potsdam (GIP) Geomagnetisches Institut (GI) Potsdam, beide zusammen mit drei anderen ab 1969: ZIPE Institut für Elektronik (IE) resp. Institut für Kosmosforschung (IKF)1034 Observatorium für Ionosphärenforschung (OIF) des ZISTP, Warnemünde Sonnenobservatorium Einsteinturm Potsdam Zentralinstitut für Astrophysik (ZIAP) Zentralinstitut für solar-terrestrische Physik (ZISTP) Zentralinstitut für Physik der Erde (ZIPE) Projekte »PM« Projekt »PM« beinhaltete ein Fourierspektrometer. Die Arbeiten begannen 1971 im Rahmen der Interkosmos-Zusammenarbeit für den Einsatz auf meteorologischen Satelliten, später auch für den Venuseinsatz auf sowjetischen Sonden. Insbesondere das erste Projekt für Belange der Meteorologie, PM-1, litt unter der Geheimhaltung. 1031  Schreiben der BGL an das Politbüro der SED vom 20.2.1950; ArchBBAW, AKL-HHI, Nr. 15, S. 1–4, hier 1 f. 1032  Ebd., S. 2–4. 1033  Günther: Heinrich-Hertz-Institut, passim. 1034  Hein-Weingarten: Institut für Kosmosforschung.

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Die Venusexperimente, PM-V, waren offener.1035 Ein führender Wissenschaftler soll 1972 über das PM geurteilt haben, dass das Gerät »vorwiegend ein Nachbau von US-amerikanischen Geräteteilen« sei.1036 »Raduga« Das Projekt basierte auf dem Beschluss des Ministerrates der DDR vom 28. November 1975 zum Einsatz der Multispektralkamera MKF-6 zur Fernerkundung der Erde. Im Rahmen von »Raduga-1« ist eine selbstständige Arbeitsgruppe unter dem Namen »Fernerkundung der Erde mit aerokosmischen Mitteln« im Rahmen der Interkosmos-Kooperation etabliert worden. Höhepunkt des Projektes war der Einsatz der MKF-6 auf dem Raumschiff »Sojus  22«. Das Projekt bildete einen Schwerpunkt in der Sicherungsarbeit der HA XVIII/5.1037 4.2.2  Diachroner Bericht Prolog: Alte Gepflogenheiten Das Heinrich-Hertz-Institut (HHI) für Schwingungsforschung der DAW stand von Anfang an in einem regen internationalen wissenschaftlichen Datenaustausch. Am 15. Juli 1951 teilte Otto Hachenberg dem Präsidium der DAW über den wissenschaftlichen Referenten der Klasse für Mathematik, Physik und Technik, Georg Otterbein, seinen Vorgänger, mit, dass die Beobachtungsergebnisse des HHI auf dem Gebiet der Ionosphärenforschung mit gewonnenen Daten anderer Institute in meteorologischer, magnetischer und astrophysikalischer Hinsicht verarbeitet und in Monatsberichten zusammengeführt würden. Diese wiederum würden, teils in Form von Austauschen, an auswärtige Institute versandt. »Dies geschieht mit Rücksicht darauf, dass die Ionosphärenforschung nur in internationaler Zusammenarbeit exakt durchgeführt werden« könne. Hachenberg listete 14 Adressen auf, darunter sieben westdeutsche Institutionen. Er bat um eine Genehmigung für den weiteren Versand.1038 Die Beschränkungen der wissenschaftlichen Kommunikationen waren zu dieser frühen Zeit eher fiskalischer denn politisch-ideologisch Natur, wenngleich diese zweite Seite der Restriktionen bereits durchdrang. Das zeigt sehr anschaulich der 1035  Offenbar der Grund dafür, dass sich Hein-Weingarten vor allem auf das PM-V kaprizierte, ebd., S. 226–245. 1036  Bericht vom 27.1.1972; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 4, Bl. 14. 1037  Zum Beispiel: HA XVIII vom 2.12.1975: Sicherungskonzeption zum Projekt »Raduga-1«; BStU, MfS, HA  XVIII/5, Bdl.  440, Bl. 1–4; HA XVIII vom 25.5.1976: Erste Information zu Vorkommnissen bei der Realisierung des Projektes »Raduga-1«; ebd., Bl. 1–4. Zur Geschichte des Projektes siehe auch Hein-Weingarten: Institut für Kosmosforschung, S. 258–282. 1038  Schreiben von Hachenberg an Otterbein vom 15.7.1951 mit Anlage; ArchBBAW, AKLHHI, Nr. 15, S. 1 f.

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Abb. 34: Fachzeitschrift mit Kultcharakter: die Physikalischen Blätter

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Bezug der westdeutschen Physikalischen Blätter durch das HHI. Das Institut stellte am 28. Juli 1952 in einem Schreiben an Otterbein fest, dass es nicht einverstanden sei, dass man den Bezug der Hefte mit der Begründung, sie seien »nicht von besonderem Format«, nicht genehmigt bekomme. Das HHI begründete seinen Einspruch substanziell.1039 Otterbein antwortete am 6. August, dass er diese Entscheidung als wissenschaftlicher Referent aus fiskalischen Gründen habe treffen müssen, und verwies auf das Institut für Optik und Spektroskopie (IOS), das die Hefte bekomme. Man möge sie sich dort ausleihen und bei Bedarf fotokopieren.1040 Ein Schreiben vom 8. August 1955 ist thematisch von besonderer Bedeutung, zeigt es doch die natürliche internationale Integration der Forschungen des HHI in einer Forschungsfrage, die später anders als hier beantwortet und final gegen Ernst August Lauter gerichtet sein wird. Das Schreiben stammt von Karl-Heinz Schmidt1041 vom Büro für gesamtdeutsche und Auslandsbeziehungen der Akademie, gerichtet an das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MAA), Ressort Internationale Organisationen und Tagungen. Das Anliegen beinhaltet eine Bitte der Union Radio Scientifique Internationale (URSI) in Brüssel an das HHI vom 8. August 1955. Schmidt teilte in diesem Schreiben mit, dass die URSI das HHI aufgefordert habe, »an der internationalen Überwachung der radiofrequenten Sonnenstrahlung mitzuarbeiten und in einen Austausch der monatlichen Messungen einzutreten.« Das Präsidium der DAW habe bereits die Genehmigung erteilt und sein Büro beauftragt, die Zustimmung des MAA hierfür einzuholen; Schmidt: »Die Zusammenarbeit mit der URSI und der Austausch der internationalen Messungen« seien »für die Arbeiten des Instituts von großer Wichtigkeit und außerdem sind bei den Messungen unseres Instituts in Bezug auf Genauigkeit und Konstanz über lange Zeiträume solche Fortschritte erzielt worden, dass diese Messungen ohne Weiteres mit den besten bisher veröffentlichten Messreihen vergleichbar sind.«1042 Das MAA antwortete am 23. August und erteilte seine Zustimmung. Noch mehr: es riet, dass sich die DAW die Satzungen und Statuten der URSI beschaffen möge, um zusammen mit dem MAA zu prüfen, ob »eine unmittelbare Mitarbeit von Vertretern« der DDR in der URSI »mit Sitz und Stimme« möglich sei.1043 Schmidt teilte Hachenberg am 27. August die Sachlage mit.1044 Im letzten Wintermonat 1956 war die Leitung des Astrophysikalischen Observatoriums in Potsdam immer noch vakant. Johann G. Kienle verfasste hierzu ein 1039  Vgl. Schreiben des HHI an Otterbein vom 28.7.1952; ArchBBAW, AKL-HHI, Nr. 15/1, S. 1 f. 1040  Vgl. Schreiben von Otterbein an das HHI vom 6.8.1952; ebd., 1 S. 1041  Schmidt war langjähriger Leiter der Auslandsabteilung der DAW. Zu seinem Werdegang: BV Potsdam vom 16.7.1968: Berichterstattung von »Geos« am 5.7.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 1, (FiKo). 1042  Büro für gesamtdeutsche und Auslandsbeziehungen, Schmidt, an das MAA, Internationale Organisationen und Tagungen, vom 8.8.1955: URSI; ArchBBAW, AKL, Nr. 12, 1 S. 1043  MAA, Windrich, an das Büro für gesamtdeutsche und Auslandsbeziehungen, Schmidt, vom 23.8.1955: URSI; ArchBBAW, AKL, Nr. 12, 1 S. 1044  Vgl. Schreiben von Schmidt an Hachenberg vom 27.8.1955; ArchBBAW, AKL, Nr. 12, 1 S.

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Memorandum zur Lage der Astronomie in der DDR. Hierin teilte er mit, dass Berufungsverhandlungen mit Wissenschaftlern aus dem Westen nahezu aussichtslos seien: »Es ist nicht möglich, einen namhaften Forscher aus dem Bereich der west­ lichen Demokratien [!] als Leiter eines Instituts der DAW zu Berlin zu gewinnen.« Die Gründe lägen in der »Ablehnung der ideologischen Grundlagen der DDR« sowie im mangelnden »Vertrauen in die Einhaltung vertraglicher Abmachungen (Geschichte der Einzelverträge). Die privilegierte Stellung, die den Wissenschaftlern in der DDR eingeräumt« werde, sei »für Menschen, denen die Norm wesentlicher ist als die Ausnahme, nur ein sehr bedingter Anreiz.«1045 Zwei von ihm in dieser Hinsicht bewertete, fachlich sehr gute Wissenschaftler hielt er für die Leitung des Observatoriums für nicht sonderlich geeignet, und zwar Cuno Hoffmeister1046 aus Sonneberg und Hermann Lambrecht aus Jena, Sohn des seinerzeit bekannten Kunstmalers Carl Lambrecht. Lediglich Johann Wempe aus Potsdam-Babelsberg hielt er für geeignet, der jedoch wolle dies mit Gründen nicht.1047 Das bestätigte sich nicht. Lauter lud mit Schreiben vom 23. Juni 1959 Werner Krolikowski zu einer Feierstunde zu Ehren des 80. Geburtstages seines Lehrers Günther Falckenberg ein. Krolikowski wünschte vorab Informationen zu Falckenberg, offenbar um sich abzusichern. Lauter gab ihm entsprechende Daten des Direktors der Rostocker Universitätsluftwarte von 1922 bis 1945. Falckenberg schuf grundlegende Arbeiten zur meteorologischen Strahlungsforschung. Er war Experte für infrarote Strahlungsströme in der Atmosphäre und leistete einen hohen Einsatz für die Popularisierung seiner Wissenschaftsdisziplinen. Berühmt geworden ist er durch Einsätze auf seinem Forschungskutter und mit Drachenaufstiegen. Nach 1945 war er federführend beim Aufbau neuer Forschungsstellen, u. a. des Observatoriums Warnemünde, das 1951 nach Kühlungsborn verlegt worden ist, beteiligt. 1952 schied er aus dem Meteorologischen Dienst aus.1048 Obgleich vor dem Mauerbau erhebliche, politisch begründete Restriktionen die Kommunikation und Zusammenarbeit mit westdeutschen Wissenschaftlern erschwerte, war doch an der Akademie immerhin noch Denk- und Wünschbares möglich. Aus einem Schreiben von Wempe, Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, an den Vorstand der Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute der DAW in Berlin-­ Adlershof, geht hervor, dass er eine befristete Übersiedlung eines seiner Wissenschaftler nach Kiel befürworte. Der könne in Kiel am Institut für Theoretische 1045  Kienle: Memorandum zur Lage der Astronomie in der DDR vom 28.2.1956; ebd., S. 1 f. 1046  (1892–1968). Direktor der Sternwarte Sonneberg. Seine weltweit auf ihre Art einmalige Fotoplattensammlung der Sternenwelten steht heute unter Denkmalschutz. Als Hinweis zu seinem Schaffen vgl. Hoffmeister, Cuno: Die photographische Himmelsüberwachung, in: Jenaer Rundschau 6(1961)6, S. 215–218. 1047  Vgl. Kienle: Memorandum zur Lage der Astronomie in der DDR vom 28.2.1956; ArchBBAW, AKL, Nr. 12, S. 1 f. 1048  Vgl. Schreiben von Lauter an Krolikowski vom 23.6.1959; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 641, S. 1 f.

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Physik eine drei- bis vierjährige Assistentenstelle übertragen bekommen. Möglich und sinnvoll wäre es, einen Personalaustausch zu realisieren. Für den Wissenschaftler wäre dies erfreulich, sei doch die »Kieler Schule« führend in der Welt. Sein zeitweiliges Ausscheiden wäre für Potsdam machbar. Er würde in Kiel eine spezielle Ausbildung in Richtung der solaren Radiostrahlung erhalten: »Ich habe keinen Anlass, an der Zusicherung von Herrn Dr. [X] zu zweifeln, dass er nach Ablauf seiner befristeten Anstellung in Kiel nach Potsdam zurückkehren möchte.« Und was den Personalaustausch anlange, habe er bereits einen Kandidaten im Auge und darüber mit Robert Rompe gesprochen. »Die Aussicht, diesen Bewerber zu einer Übersiedlung nach Potsdam zu bewegen, wird meines Erachtens allerdings zu einem gewissen Grade davon abhängen, ob unter den gegenwärtigen Umständen ein freizügiger Austausch von Astronomen unter den beiden deutschen Staaten möglich« sein wird.1049 Ein Dokument aus dem Jahr 1960 ist ein Zeugnis für die Geschichtsvergessenheit des MfS in der Causa Lauter ein Jahrzehnt später. Es handelte sich um eine Konzeption Otto Luckes von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der HU Berlin für die Hauptfachrichtung VIII: »Physik der hohen Atmosphäre«, in der er die allgemeine Bedeutung der Physik der hohen Atmosphäre thematisierte. Sie erlebe, so Lucke, seit dem Internationalen Geophysikalischen Jahr (IGJ) 1957/58 »eine Epoche stürmischer Entwicklung«. Die »weltumspannende komplexe Betrachtungsweise zeitigten zahlreiche, teilweise völlig unerwartete Ergebnisse«. Zum Beispiel die Entdeckung der Strahlungsgürtel sowie neue Messmöglichkeiten mittels Satelliten, etwa direkte Plasmamessungen der hohen Atmosphäre, aber auch indirekte Messungen mittels Satelliten. Lucke vergaß nicht zu erwähnen, dass die »Forschungen in der Physik der hohen Atmosphäre« notwendig »zum großen Teil in internationaler Zusammenarbeit betrieben« werden. Allererst die indirekten Messmethoden bedürften eines »die Erde umspannenden Netzes«, und die direkten Messmethoden hätten eine »enger werdende Zusammenarbeit der Nationen« zur Folge. Und dann kam jener Satz zu Papier, der fundamentale Bedeutung erhalten sollte und der sich wie ein roter Faden durch dieses Hauptkapitel der Untersuchung zieht: »Kein Land kann sich ohne Prestigeverlust den anfallenden Aufgaben verschließen.« Die Plasmaphysik habe enge Beziehungen zur Messtechnik und »insbesondere zur Elektronik«. Hohe Bedeutung habe die Physik der Atmosphäre auch für die Nachrichtentechnik (Einfluss ionisierter Gase, Ausbreitung elektromagnetischer Felder). Die Physik der Atmosphäre, in Sonderheit die Untersuchung der hohen Atmosphäre unterliege »vielfach langen Perioden (Jahresgänge, Sonnenfleckenzyklus)«, demzufolge setze die Analyse »homogene Beobachtungsreihen voraus«. Daraus ergäben sich die Struktur und Aufgabenprofile der Forschungsinstitute, etwa die »permanenten Observatoriumsaufgaben zur Schaffung langperiodischer Beobachtungsreihen und deren Auswertung nach international vereinbarten Gesichtspunkten«. 1049  Wempe: Schreiben an den Vorstand der Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute der DAW; ArchBBAW, AKL, Nr. 12, S. 1 f.

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Forschungen auf dem Gebiet der hohen Atmosphäre würden gegenwärtig zu den attraktivsten der Physik zählen. »Die vorzügliche internationale Organisation der Zusammenarbeit der Nationen und die Erfolge des IGJ« böten »gute Grundlagen für ihre Propagierung. Ihre Bedeutung für die Raumfahrt und für militärische Zwecke« liege »auf der Hand.« Und weiter: »Zahlreiche fähige Wissenschaftler, die eine über die Nationen verteilte Gemeinschaft« bildeten, würden sich für dieses Arbeitsgebiet einsetzen.1050 Wichtiger noch als die IUGG schätzte Lucke die Union Radio-Scientifique Internationale (URSI) und das Comittee on Space Research (COSPAR) ein. Die Aufgabe des COSPAR sei es, »alle Arten von Grundlagenforschungen zu pflegen, die mit künstlichen Satelliten« zusammenhingen. Das COSPAR habe die straffeste Organisation, die besten Symposien, die aktuellsten Themen. Für die DAW sei, so Lucke, die Mitgliedschaft in der URSI wünschenswert: International gesehen werde zwar viel gemessen, aber wenig ausgewertet. Die Beobachtungsdaten wurden zwar in Welt-Daten-Zentren gesammelt, die Zusammenarbeit in der Datenauswertung aber sei mangelhaft. Immerhin könnten »noch mit wenigen Ausnahmen alle indirekten Methoden der Physik der hohen Atmosphäre betrieben werden und die direkten ebenfalls«. Lucke schlug neun vorrangige Aufgaben vor, z. B. Messungen zur Existenz und Variation der Strahlungsgürtel, troposphärische Ausbreitung elektromagnetischer Wellen, Radio­meteorologie sowie Fadingerscheinungen bei Funkwellenausbreitungen. »Bei den theoretischen Arbeiten« seien »keine Voraussetzungen notwendig, die von denen der Plasmaphysik« abwichen. In den großen Ländern, die Raketenstarts durchführten, seien diese Kapazitäten jedoch nicht in dem Umfang vorhanden.1051 Zu dieser frühen Zeit gab Otto Lucke die Marschrichtung in dieser Wissenschaftsdisziplin vor. Die Hauptprobleme und Aufgabenstellungen der DDR seien, so Lucke, in der UKHA (koordinierendes Gremium in Zusammenarbeit mit den Fachgruppen des NKGG) bereits diskutiert worden. Die Forschungsarbeiten würden von einigen DAW-Instituten, zwei Universitätsinstituten, einem Observatorium des MHD (Meteorologisch-Hydrologischer Dienst der DDR) und einem Labor des Rundfunk- und Fernsehtechnischen Zentralamtes der Deutschen Post bearbeitet. Folgende Institute seien oder wären idealerweise zu beteiligen: HHI (hier wurde die Physik des Plasmas der mittleren und hohen Atmosphäre bearbeitet), Geomagnetisches Institut (GI) Potsdam, Arbeitsstelle für kosmische Strahlung in Halle (AKS) und die Sternwarte Sonneberg (StS). Vom MHD waren beteiligt das Observatorium für Ionosphärenforschung (OIF) Kühlungsborn, das RFZ-Labor der Deutschen Post, Kolberg, das Geophysikalische Observatorium Collm der Universität Leipzig (GOC) sowie das Institut für Meteorologie und Geophysik der 1050 Lucke: Konzeption für die Hauptfachrichtung VIII »Physik der hohen Atmosphäre« (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 239, S. 1–15, hier 1–3. 1051  Ebd., S. 4–7. Fading: In der Funktechnik Schwankungen der Empfangsfeldstärke durch Interferenz, etwa bei der Reflexion im Bereich der Ionosphäre.

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HU Berlin in Berlin-Friedrichshagen (IMG). Die Arbeit dieser Institutionen wurde von der Unterkommission »Physik der hohen Atmosphäre« koordiniert.1052 Permanente Observatoriumsaufgaben seien, so Lucke, nicht mit denen der »Dienste« zu verwechseln, diese beträfen nur die wissenschaftlichen Aufgaben, beispielsweise die Überwachung der Intensität der kosmischen Strahlung, die Überwachung der Exosphäre in Höhen über 500 km und der Ionosphäre. Forschungsthemen seien hingegen die komplexe Auswertung, die theoretische Interpretation und die Entwicklung neuer Messmethoden. Lucke nannte hierzu die Institutionen, z. B. das HHI, etwa mit der Aufgabe der Messungen der ionosphärischen Elek­ tronendichteverteilung mittels Ionosonden. Insgesamt sei einzuschätzen, dass die »komplexe Auswertung und die theoretische Interpretation« der Messungen »bedeutend zu intensivieren« sei. Es könne immerhin konstatiert »werden, dass wir in der Erforschung der hohen Atmosphäre im sozialistischen Lager neben der Sowjetunion führend« seien. Im Weltmaßstab gesehen seien Anstrengungen notwendig, um den gegenwärtigen Platz der DDR zu halten.1053 Resümee: Keineswegs war in dieser Zeit die Hand der SED federführend in den ureigenen Bereichen der einzelnen Disziplinen. Die Bedeutung der internationalen Kooperation war weitestgehend unbestritten. Lediglich der Mangel an Gebäuden, Ausrüstungen, Personal und vor allem Finanzmittel diktierte Einschnitte und Begrenzungen. Augenfällig aber war eine erhebliche Diversifikation in Spezialdisziplinen, ein Problem, dass nicht nur ein ökonomisches war, sondern auch erkenntnistheoretische und methodische Fragen aufwarf. Für die DDR wird nach der Grenzschließung vor allem die Frage der begrenzten Mittel für diese scheinbar unbedeutenden Disziplinen in den Mittelpunkt rücken. Diese Phase wird einher­ gehen mit der massiven Abschottung gegenüber der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation und Kooperation. Phase der Orientierung in der Raumforschung (1962 bis 1967) Das Protokoll der Sitzung des Geomagnetischen Instituts (GI) der DAW vom 5. März 1962 belegt die frühe Zurückhaltung in Bezug auf den Einsatz von Raketen für die Raumforschung unterhalb des Satellitenorbits. Demnach hatte es am 20. Februar eine Besprechung über den »Einsatz von Forschungsraketen für meteorologische und geophysikalische Zwecke« gegeben. Es waren fünf Institute, zwei Sternwarten sowie der Meteorologische und Hydrologische Dienst (MHD) der DDR beteiligt. Vom Observatorium für Ionosphärenforschung des MHD in Kühlungsborn waren Ernst August Lauter und Karl-Heinz Schmelovsky anwesend. Festgestellt wurde, dass die »Eigenentwicklung von Forschungsraketen und selbstständig durchgeführte Raketenaufstiege in verschiedener Hinsicht einen sehr großen 1052  Vgl. ebd., S. 7–9. 1053  Ebd., S. 10–14.

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Aufwand« erfordere. Arbeitskräfteaufwand und Finanzen könne die DDR nicht aufbringen. Andere Länder hätten diesbezüglich einen großen Vorsprung. Raketenversuche könnten nur in Betracht gezogen werden, wenn grundsätzlich neue Erkenntnisse erwartet würden, etwa »originelle Ergebnisse«, die andere Länder nicht aufzuweisen hätten. Versuche mit Kleinstraketen für Höhen bis 50  km würden sich wissenschaftlich nicht lohnen. Für den Bereich 50 bis 150 km aber brauche man mittlere Raketen. Allenfalls könne man sich vorstellen, die »Lösung meteorologischer und geophysikalischer Probleme mit Forschungsraketen« in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion anzustrengen: »Es erscheint unter den gegenwärtigen Bedingungen zweckmäßig, bisher betriebene Methoden zu vervollkommnen. In diesem Zusammenhang wurde auf die indirekten Methoden zur Beobachtung der Ionosphäre und auf Ballonaufstiege verwiesen.«1054 An der Beratung nahmen 18 Personen teil, es waren allesamt Fachleute. Zu diesem Protokoll gehören sieben Anlagen, die es zu einem Schlüsseldokument hinsichtlich des Verständnisses der Genese des Faches »Raumforschung« in der DDR macht. Sie versammeln jene führenden Wissenschaftler und Institutionen, die sich weiland der Problematik der Atmosphärenphysik und ihrer Nachbardisziplinen widmeten: Anlage 1: Ein Vorschlag von Gerhard Fanselau für geomagnetische Messungen mithilfe von Raketen vom 5. März 1962. Er hielt das Thema der Untersuchung der Struktur der Ionosphäre während starker geomagnetischer Störungen ohne Zweifel für aktuell und lohnenswert. Die einzusetzenden Forschungsraketen sollten Gipfelhöhen ab 150 km erreichen können. Eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion hielt er für zweckmäßig.1055 Anlage  2: Ein Papier von Friedrich Kortüm vom Geophysikalischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig vom 19. Februar 1962. Er signalisierte lediglich Interesse am Höhenbereich bis 60 km.1056 Anlage  3: Ein Papier vom 24. Februar 1962 des gebürtigen Hamburgers Jens Taubenheim1057 vom HHI. Er bekundete dezidiert Interesse an Untersuchungen der Hochatmosphäre mithilfe von Erdsatelliten sowie Messungen mit Raketen der unteren Ionosphäre zwischen 60 bis 100 km Höhe. Wegen des insgesamt zu hohen Personal- und Kostenaufwandes empfahl er den Einsatz von Erdsatelliten. Große

1054  Protokoll der DAW, GIP, vom 5.3.1962: Einsatz von Forschungsraketen für meteorolo­ gische und geophysikalische Zwecke; ebd., S. 1 f. Sieben Anlagen. 1055  Vgl. Fanselau: Vorschlag für geomagnetische Messungen mit Hilfe von Raketen vom 5.3.1962 (Anlage 1); ebd., S. 1 f. 1056  Vgl. Kortüm: Vorstellungen für Messungen mit Hilfe von Raketen vom 19.2.1962 (Anlage 2); ebd., 1 S. 1057  (1929). Im Wintersemester 1947/48 Beginn des Studiums der Geophysik und Meteorologie in Leipzig. Oktober 1949 Hochschulwechsel zur HU Berlin. 1951 Diplomprüfung in Geophysik. Bis zum 28.2.1954 am Institut für physikalische Hydrographie der DAW in Berlin-Friedrichshagen tätig. Enger Mitarbeiter Lauters.

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Bedeutung maß er den indirekten Messungen an Erdsatelliten am Observatorium Kühlungsborn bei.1058 Anlage 4: Ein von Wolfgang Böhme vom Meteorologischen Dienst vom 26. Februar 1962 stammendes Papier kritisiert meteorologische Messungen mit Kleinst­ raketen. Demnach stehe der Aufwand in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zum erwarteten wissenschaftlichen Nutzen. Er empfahl den Einsatz von Schicht­ ballonflügen in Höhen bis 40 km.1059 Dies ist eine Position, die in Hinblick auf die künftige Wissenschaftspolitik des Faches von Bedeutung sein wird, in Sonderheit was sein Verhältnis zu Lauter angeht. Anlage  5: Ein Papier von Ernst August Lauter vom Observatorium für Iono­ sphärenforschung (OIF) vom 19. Februar 1962. Es verdient besondere Beachtung, da es »Standpunkte des OIF zu einem eventuellen DDR-Kleinstraketenprogramm« in dieser frühen Phase kennzeichnet. Man müsse, so Lauter, zunächst die Frage des Warums klären; ein Zusammengehen mit der Sowjetunion sei anzuraten. Wenn ja, dann müsse man aber die Raketen kaufen und sich selbst nur auf die Entwick­lung der »Instrumente und Messwertübertragung beschränken«. Wenn ein Raketen­programm überhaupt sinnvoll ist, dann nur, wenn es »mit den Problemen der Physik der Atmosphäre gekoppelt« werde. Aber auch nur dann, wenn »dieser Problemkreis für Raketenaufstiege nur im Rahmen international einheitlicher Messprogramme« stattfinde und »wenn Höhen von 120 km mit einer gewissen Sicherheit erreicht« würden. Lauter empfahl hierfür eine Einbindung in das COSPAR. Wichtig sei darüber hinaus, dass neuwertige Messergebnisse erwartet werden können, sonst solle man besser die Hände davonlassen. Sinnvoll erscheine ihm die »Betei­ ligung an den indirekten Messmethoden mit Erdsatelliten, wie die Einrichtung einer zentralen Tracking-Station in der DDR oder ČSSR für Navigationssatelliten oder dem kommenden sowjetischen Programm.« Lauter verwies diesbezüglich auf Erfahrungen Schmelovskys, der »Vorstellungen der Konstruktion solcher Anlagen« habe (kombinierte Empfangsanlagen für Doppler- und Faraday-Fading-Messungen).« Lauter sah fünf wissenschaftliche Gebiete, u. a die genaue Bahnbestimmung der Satelliten, Sammlung von Daten über die Wellenausbreitung im erdnahen Bereich oder die Sammlung von Erfahrungen hinsichtlich moderner Navigationsmöglichkeiten. »Eine solche Anlage« koste »den Bruchteil von Raketenexperimenten«.1060 Es ist dies die einzige Anlage des Papieres, die verdeutlicht, dass Lauter wie kein anderer die moderne Situation der Raumforschung früh begriff und sie gleichzeitig ins ökonomische Kalkül zu stellen in der Lage war.

1058  Vgl. Taubenheim: Vorstellungen für Messungen mit Hilfe von Raketen vom 24.2.1962 (Anlage 3); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 239, 1 S. 1059  Vgl. Böer u. Böhme: Meteorologische Messungen mit Kleinstraketen vom 26.2.1962 (Anlage 4); ebd., S. 1 f. Karl W. Böer flüchtete 1962 in die USA, Pionier der Solartechnologie. 1060  Lauter: Standpunkte des Observatoriums für Ionosphärenforschung zu einem eventuellen DDR-Kleinstraketenprogramm vom 19.2.1962 (Anlage 5); ebd., S. 1 f.

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Anlage 6 vom 27. Februar 1962 stammt vom Physikalisch-Technischen Institut (PTI) der DAW, Außenstelle Hiddensee.1061 Anlage 7: Das Papier von Hermann Lambrecht, Direktor der Universitäts-Sternwarte Jena und des Astrophysikalischen Instituts Jena, vom 15. Februar offenbart geringes Interesse. Man zeigte lediglich am Auffangen mikrometeoritischer Körper im Höhenbereich von 50 bis 120 km Interesse.1062 Diese Zukunftsdiskussion war außenpolitisch gesehen gefährdet. Der Mauerbau hatte einschneidende Wirkungen hinterlassen. Lauter beschwerte sich mit Schreiben vom 12. Dezember bei Rotter, Sekretär des NKGG der DDR, dass das IQSY immer noch nicht im Besitz des DDR-Programmes sei und sie damit »eines der letzten Länder sein könnte«. Er möge doch Sorge dafür tragen, dass William J. Beynon noch in diesem Jahr das Programm erhalte.1063 Lauter plädierte am 28. Juni im Interesse des Fachgebietes »Ionosphäre und Kosmische Strahlung« nachdrücklich an den Präsidenten des NKGG, Horst ­Philipps, für die Entsendung von Taubenheim zur Tagung nach Peru. Ein engerer Kontakt zur internationalen Gemeinschaft müsse hergestellt werden. »Die Physik der Hochatmosphäre ist ohne weltweite Betrachtungen nicht weiterzuentwickeln.« Die DDR müsse die Entsendung mindestens eines Vertreters des NKGG »auch zu internationalen Veranstaltungen sehr spezieller oder zweitrangiger Bedeutung« realisieren. Lauter bat um Befürwortung.1064 Wie sehr 1962 der Begriff »Raumforschung« noch vom Begriff der Weltraumforschung entfernt war, zeigt ein Blick auf das Sitzungsprotokoll der Tagung der Fachgruppe »Raumforschung« vom 14. Juli, die an diesem Tag stattfand. Diese – nicht nur begrifflich gesehen formale – Thematik wurde auf der Sitzung diskutiert, allen war klar, dass die Wende zum »Satellitendienst« längst eingeleitet war und alte Begriffe nicht mehr passfähig seien. Teilnehmer waren die Koryphäen der »alten Raumforschung« Lucke (Atmosphärenphysik, Astronomie), Wempe (Sonnenaktivität), Hoffmeister (Atmosphärische Leuchterscheinungen), Lauter (Ionosphäre und Kosmische Strahlung) sowie Vertreter der Einrichtungen in Niemegk (Institut für Geomagnetismus), Potsdam (Geodätisches Institut), Babelsberg (Sternwarte), Rodewisch (Schulsternwarte) und Kühlungsborn (das OIF). Das Papier unterstrich nachdrücklich die »Pariser Empfehlungen«, wonach die Mitgliedschaft des NKGG in dem COSPAR der ICSU notwendig sei. Die Vorteile lägen vor allem im Informationsbezug zu Nachrichten über den Start und auch Daten der Satelliten, auch könne man dann an dem »bedeutenden ›International Space Science Symposia‹ 1061  Singer: Vorstellungen für Messungen mit Hilfe von Raketen vom 27.2.1962 (Anlage 6); ebd., 1 S. 1062  Vgl. Lambrecht: Vorstellungen für Messungen mit Hilfe von Raketen vom 15.2.1962 (Anlage 7); ebd., 1 S. 1063  Schreiben von Lauter an Rotter vom 12.12.1962; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 349, S. 1 f., hier 1. 1064  NKGG der DDR, GD »Ionosphäre und Kosmische Strahlung«, Lauter, an den Präsidenten des NKGG, Philipps, vom 28.6.1962; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 331, S. 1 f., hier 1.

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teilnehmen«. Daraus folgte der Beschluss 1/62: »Es wird vorgeschlagen, den Antrag auf Aufnahme des NKGG in das COSPAR zu stellen.«1065 Lauter hatte auf der Sitzung die Bezeichnung Raumforschung »als einfache Übersetzung von ›Space Research‹ zur Debatte« gestellt. Wenngleich »›space‹ einen etwas spezielleren Sinn« habe »als das deutsche Wort ›Raum‹«, solle, so Lauter, »die Bezeichnung« doch besser »beibehalten werden, weil nach den Ausführungen« von Wempe »der Begriff ›Weltraum‹ in der Astronomie anders definiert« sei »und für den erdnahen interplanetarischen Raum nicht benutzt werden sollte.«1066 Die Begrifflichkeit auf dem Gebiet der Raumfahrt und Raumforschung befand sich sowohl im Findungs- wie auch Wandlungsprozess; politisch-ideologische Implikationen waren hierin einbegriffen. Die DDR-Zeitschrift Sprachpflege schrieb 1960, dass der Begriff Weltraum »in der kommenden Zeit einer exakten Formulierung bedarf. Seine Abgrenzung gegenüber dem ›Luftraum‹« sei »ein sehr umstrittenes völkerrechtliches und staatsrechtliches Problem«; und: »Der Weltraum wird verkürzt zum ›Raum‹.«1067 Zur Frage der Bestimmung der Elektronenkonzentration oberhalb des F-Maxi­ mums sprach auf der Sitzung Schmelovsky. Er hob die hohe Bedeutung dieser Forschungsrichtung hervor und betonte, dass die DDR auf diesem Gebiet eine, wenn nicht gar die Spitzenstellung innehabe. Dem NKGG werde »dringend« empfohlen, den Bau der Radio-Tracking-Anlage Schmelovskys zu veranlassen.1068 Eine wissenschaftlich-technische Leistung übrigens, mit der er persönlich den Durchbruch erreichte. Auch wurde in der Diskussion »ausdrücklich auf den großen volksbildenden Wert des visuellen Satellitenbeobachtungsdienstes hingewiesen«. Es wurde »vorgeschlagen, das Interesse der freiwilligen Beobachter durch Auswertearbeiten zu steigern«, da man weder von den USA noch von der Sowjetunion Informationen über Ephemeridenprognosen1069 erhalte. Es sei völlig »aussichtslos«, wolle man diese aus den Bahn-Beobachtungsdaten der Satelliten selber berechnen. Breiten Raum nahm auf dieser Sitzung der Satellitendienst ein (u. a. die Errichtung resp. Modernisierung von Beobachtungsstationen). Der Haushaltsplan des Dienstes sah für 1963/64 insgesamt 75 200 Mark vor.1070

1065  NKGG, Protokoll vom 14.7.1962 über die Sitzung der Fachgruppe »Raumforschung« am 4.7.1962; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 333, S. 1–7, hier 1 f. 1066  Ebd., S. 2. 1067  Küstner, Herbert: Sprachliches zum Weltraumflug, in: Sprachpflege 9(1960)5, S. 98–100, hier 98. 1068  NKGG, Protokoll vom 14.7.1962 über die Sitzung der Fachgruppe »Raumforschung« am 4.7.1962; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 333, S. 1–7, hier 2 f. 1069  Auch Ephemeridendienst: Beobachtungsdaten zur Positionsbestimmung natürlicher und künstlicher Himmelskörper resp. Satelliten (auch Satellitendienst). In der Regel tägliche Messdaten zur Bereitstellung der Bahndaten für allfällige Zwecke (heute auch für GPS). 1070  NKGG, Protokoll vom 14.7.1962 über die Sitzung der Fachgruppe »Raumforschung« am 4.7.1962; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 333, S. 1–7, hier 4 f. u. 7.

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Das COSPAR: zwischen Lockruf und Mittelarmut 1962 war die Frage, in welche Forschungen man investieren müsse und solle, und in welche besser nicht, mehr denn je akut. Otto Lucke vom Institut für Meteo­rologie und Geophysik der der HU Berlin fragte Lauter am 9. November, wohin man die Blitzforschung eines Kollegen am besten stecke. Er war der Auffassung, dass das Sache des MHD sei, und stellte Lauter die Frage, ob ein Kollege von ihm »dort einsteigen« könne. Lucke gab zu bedenken, dass man im sowjetischen Institut für Erdmagnetismus, Ionosphäre und Verbreitung von Radiowellen (IZMIRAN) in Troizk bereits mit dem Dopplereffekt messe und »riesige Wolken größerer Elektronenkonzentration« registriere. Der Rat laute deshalb, die Kräfte zu konzentrieren: »Wir müssen alle Kraft zusammennehmen!« Lauter malte ein fettes Ausrufezeichen an den Rand des Schreibens. Robert Rompe war zwar Physiker, doch bei ihm, so Lucke, sei »die Geophysik jetzt anscheinend in Ungnade gefallen, aber er ist ein schwankendes Rohr!« Frau Alla G.  Massewitsch (siehe unten), stellvertretende Vorsitzende des Astronomischen Rates der UdSSR, wundere »sich, dass die DDR nicht Mitglied bei COSPAR sei. Ich habe sogleich flammende Briefe an« Horst Philipps und Johann Wempe »geschrieben, dass ein Antrag zur Aufnahme gestartet wird.« Leider sei wegen Abwesenheit die Frist bis zur »entscheidenden Sitzung des Exekutiv-Komitees« am 15. November nicht genutzt worden. Dann verstarb unglücklicherweise und unerwartet Philipps, was Lucke mit den Worten quittierte: »Hoffentlich werden Sie«, also Lauter, »das Ruder in die Hand nehmen.«1071 Lauter wird es tun – und hätte es besser doch nicht getan. Diese Episode erinnert an das Lukullus-Gespräch zwischen Rompe und Hartmann (siehe S. 404). Lauter übergab am 20. November dem Sekretär des NKGG der DDR, Rotter, seine Stellungnahme zu einer möglichen COSPAR-Mitgliedschaft der DDR. Er stellte fest, dass für die DDR gegenwärtig »nur eine Beteiligung mit passiven Messverfahren infrage« komme. Im Themenspektrum des COSPAR seien, so Lauter, in der DDR vier Einrichtungen mit entsprechenden Forschungsrichtungen befasst, darunter das Observatorium in Kühlungsborn. Diese wissenschaftlichen Arbeiten seien insgesamt so umfangreich, »wie es nur eine Minderzahl der Mitgliedsländer aufzuweisen« habe. »Die Mitgliedschaft in COSPAR ist daher sehr wünschenswert« und entspräche »auch in gewisser Weise unserer nationalen Würde«. Eine Mitgliedschaft habe aber nur dann Sinn, »wenn man bereit« sei, »sich an der rasch entwickelnden internationalen Zusammenarbeit in vollem Maße, d. h. auch durch Beschickung von internationalen Konferenzen, zu beteiligen.« Die Bundesrepublik sei seit Bestehen des COSPAR Mitglied. Die sowjetischen Kollegen hätten der DDR zu diesem Schritt geraten.1072 1071  Schreiben von Lucke an Lauter vom 9.11.1962; ebd., 1 S. 1072  Schreiben von Lauter an den Sekretär des NKGG der DDR, Rotter, vom 20.11.1962: Stellungnahme zu einer möglichen COSPAR-Mitgliedschaft der DDR; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 363, S. 1 f.

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Lucke wandte sich schriftlich am 4. Dezember an Rotter in der Sache der Mitgliedschaft im COSPAR. Er bezog sich hierbei auf den Beschluss der Fachgruppe »Raumforschung« vom 4. Juli, einen Aufnahmeantrag in die Wege zu leiten. Ferner bezog er sich auf Massewitsch. Der nächste Tagungstermin des COSPAR in Warschau im Juni 1963 sei für einen Aufnahmeantrag günstig. Die Beteiligung der DDR werde »in passiven Messverfahren und theoretischen Arbeiten« bestehen. Lucke nannte in dem Schreiben fünf Institutionen, darunter das OIF Kühlungsborn und das Astrophysikalische Observatorium in Potsdam, die mitarbeiteten. Die diesbezügliche DDR-Forschung hielt er für »bedeutender« als jene der Mitgliedsländer Polen und ČSSR.1073 Am 11. Dezember brachte das MfS eine Unterredung mit Horst Fischer vom 5. Dezember 1962 zu Papier, das die strukturellen und fachpolitischen Probleme am Geodätischen Institut Potsdam (GIP)1074 zum Inhalt hatte. Es gab hierzu zahlreiche Stellungnahmen, Sitzungen und Beratungen. Hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes tauchten hier neben Fischer weitere bedeutende Namen auf wie Heinz Stiller, Friedrich Rotter und Alfred Zappe, die weniger durch exzellente Forschungsergebnisse, denn durch Einflussmacht auffielen. Ins Visier der SED war vor allem Karl Reicheneder, Direktor des GIP, geraten, dem seine Funktion, die er seit 1954 innehatte, rundweg abgesprochen wurde. Reicheneder hatte die Aufgabe erhalten, einen Perspektivplan für das Institut bis zum 15. Dezember zu verfassen. Parallel dazu wurde von einem »zusammengekommenen Kreis von Genossen« ein Gegenpapier erarbeitet. Es sollte spätestens im Januar 1963 beraten werden. Über Max Steenbeck wollte man erreichen, dass Reicheneder »vorzeitig emeritiert« werde. Hierzu suchte man nun einen Fachmann, der dies aus fachlichen Erwägungen heraus »exakt« begründen könne. Ähnliche machtpolitische Muskelspiele erfolgten auch gegen Kurt Arnold, Stellvertreter Reicheneders, den man zwingen wollte, »entweder eine Gruppe für theoretische Geodäsie im GIP aufzubauen« – hierfür sollten Nachwuchskräfte herangezogen werden, wodurch sich Arnold selbst überflüssig machen sollte – oder ihm »anzubieten zu gehen«.1075 Es ist also bereits weit vor der Akademiereform ein solch klarer Wille einer politisch inkriminierten Besetzung von Positionen selbst für periphere Disziplinen belegt. Nachfolger Reicheneders aber wurde Horst Peschel, einer der besten seines Faches, sodass von dieser Seite her kein Schaden eingetreten ist. Bereits Mitte 1962 waren im physikalischen Sektor der DAW konzeptionelle Veränderungen gefasst worden, die entscheidende Korrekturen in wissenschaftspolitischer Hinsicht beinhalteten. Wegen der Notwendigkeit der Durchführung von Aufgaben für die Sowjetunion stand eine »völlige Umorientierung und Umorganisierung« des GIP auf der Tagesordnung. Die Sowjetunion warte teilweise bis zu zwölf Jahren auf 1073  Schreiben von Lucke an Rotter vom 4.12.1962; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 333, S. 1 f., hier 1. 1074  Das GIP existierte von 1946 bis 1969 und ging dann in das ZIPE ein. 1075  HA III/6/T vom 11.12.1962: Bericht; BStU, MfS, AIM 3459/70, Teil I, 1 Bd., Bl. 22–24.

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Lieferungen, und Reicheneder sei »fachlich und politisch unfähig, ein Institut zu leiten. Er soll abgelöst werden.«1076 Lauter begründete mit Schreiben vom 1. März 1963 an das Präsidium des NKGG zur Weiterleitung an die Auslandsabteilung der DAW die Notwendigkeit der Teilnahme an der Generalversammlung der URSI in Tokio vom 9. bis 20. September. Die Generalversammlung der URSI habe, so Lauter, maßgebliche Bedeutung für jene Fachdisziplinen, die auf internationale Kooperationen angewiesen seien »für die Organisation einheitlicher wissenschaftlicher Arbeiten und für den Austausch von Ergebnissen auf den Gebieten ›Ionosphärenphysik‹ und ›Radioastronomie‹«. Auf beiden Gebieten leiste »die DDR in internationalem Maßstab bedeutungsvolle Arbeit«. Als »Anerkennung der Arbeit der DDR-Institute« sei er indes »auf Vorschlag der UdSSR zum Regionalreporter für das Gebiet Ionosphäre von den Ländern der Europäisch-Asiatischen Region« berufen worden. In dieser Eigenschaft sei er sodann »als Vertreter dieser Länder in die Konsultativarbeitsgruppe des IQSY-Reporters auf der Sitzung des IQSY-Büros in London (1962) berufen worden.« Des Weiteren würde er zur nächsten Tagung der IQSY in Rom in das URSI-CIG Komitee berufen werden [Comité International de Géophysique (CIG)], »um die Belange der Länder des sozialistischen Lagers in dieser Disziplin zu vertreten«. Diese könne er nur wahrnehmen, »wenn die Möglichkeit einer Beteiligung an den Generalversammlungen der maßgeblichen Unionen gegeben« sei. Lauter muss Kenntnis bekommen haben, dass dies schwierig werden könne, deshalb betonte er, dass die Sicherung der Teilnahme unbedingt gewährleistet werden müsse. Dies habe er dem Generalsekretär der DAW und dem Stellvertreter des Ministers des Innern (MdI), Generalmajor R ­ ichard Wenzel, mitgeteilt; Lauter: »Es würde den wissenschaftlichen Gepflogenheiten widersprechen, wenn ich mich in internationale Ämter (z. B. als Regionalreporter oder URSI-CIG-Komitee) wählen lasse, wenn ich genau voraussehe, dass meine Arbeit nicht wirksam werden kann. Ich darf ferner bemerken, dass ich seit 1954 an allen Generalversammlungen der URSI teilgenommen habe und in der Kommission IV (On Terrestrial Radio Noise) Mitglied der Subkommission (On Whistler Synoptic Observations) und der ›Working Group on Long Wave Propagation and Wave Forms‹ bin und auch in dieser Eigenschaft Funktionen auf der General­versammlung wahrzunehmen habe.« In fünf Punkten umriss Lauter die Gründe, die für eine Teilnahme an der Generalversammlung wünschenswert seien. Er betonte insbesondere die Vertretung der Interessen der sozialistischen Länder. Abschließend unterstrich er die Notwendigkeit, dass auch »ein Vertreter der ›Radioastronomie‹ aus der DDR« an der Tagung teilnehmen solle, da somit eine »Ausstrahlung der erreichten experimentellen und theoretischen Ergebnisse auf die Entwicklung in den Ländern des sozialistischen Lagers gegeben« sei.1077 1076  HA III/6/T vom 5.6.1962: Physikalischer Sektor der Forschungsgemeinschaft; ebd., Bl. 26 f. 1077  Lauter an das Präsidium des NKGG und zur Weiterleitung an die Auslandsabt. der DAW vom 1.3.1963: Begründung der Teilnahme an der Generalversammlung der URSI in Tokio vom 9.–20.9.1963; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 331, S. 1–3.

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Eine Aktennotiz Lauters zu einer Besprechung mit Wladimir W.  Beloussow anlässlich seiner Reise zur Akademie der Wissenschaften der UdSSR am 12. März belegt, dass es unterdessen erhebliche Einreiseschwierigkeiten für Italien gegeben hatte. An der Besprechung nahmen u. a. Jurij D. Boulanger und Rotter teil. Das sowjetische Komitee hatte vier Telegramme wegen der Visaverweigerung für die DDR-Delegation nach Rom gesandt. In seiner Stellungnahme zum Sitz der ICSU in Rom hieß es: »Jedes Teilnehmerland« müsse »ohne Schwierigkeiten den Sitz der ICSU erreichen können«. Der DDR-Protest sollte durch die Sowjetunion überreicht werden. Beloussow hatte die Ansicht vertreten, dass, wenn eine der beiden deutschen Staaten auf der Konferenz fehle, »›Germany‹ nicht vertreten« sei, das heißt, »es gäbe überhaupt kein Stimmrecht für Germany«. Man spekulierte darauf, dass viele Mitgliedsländer eine solche Haltung vertreten würden. Die Einreiseverweigerungen kamen vom Travel-Office (USA). Man wolle aber die Proteste »weniger« an dieses, sondern besser an die jeweiligen Regierungen richten.1078 Bei einer Besprechung Lauters am 13. März mit Nikolai W. Puschkow, sowjetischerseits zuständig für alle im IQSY vertretenen Fachgruppen, ging es um die Visaverweigerung und die »internationale Verbreitung« dieser Tatsache durch die DDR, etwa durch die Mitteilung an die Nationalkomitees der Länder der Region, an Amtsträger und schließlich als Presseinformation. Demnach wollte die sowjetische Delegation es trotzdem noch einmal versuchen, die »Einreise in Italien an Ort und Stelle« zu erreichen. Auch wurden organisatorische Maßnahmen der Absicherung der Informationsflüsse für die DDR-Seite im Fall der Nichtteilnahme und Maßnahmen künftiger Gewährleistung der Teilnahme durch Aktivitäten der Organisationen besprochen. Ein Gespräch Lauters am selben Tag mit Boulanger zur Organisation der Fahrten des Forschungsschiffes »Lomonossow« ergab, dass, wenn die DDR es wolle, die Sowjetunion dies auch einplanen werde. Absprachen mit der DDR habe es über diesbezügliche Forschungsprogramme aber noch nicht gegeben. Lauter und Rotter hätten betont, dass es »kein ozeanografisches Forschungsprogramm der DDR in weltweitem Maßstab geben« könne, »das nicht als Kooperation innerhalb unserer Region durchgeführt werden müsste«. Boulanger habe kritisiert, dass die DDR bislang auf jeder Reise mitfahren wolle, allerdings »a) ohne abgestimmtes Programm und b) auf jeder Reise in jedes Gebiet mit völlig verschiedenen Aufgaben in der Gesamtkonzeption«. Die DDR müsse Konzeptionen ausarbeiten und anschließend mit der sowjetischen Seite beraten.1079 Bodo Tripphahn informierte nach Rücksprache mit Moskau Lauter am 5. April per Telegramm, dass in einer Beratung des sowjetischen Geophysikalischen Komitees festgelegt worden sei, »dass in Zukunft« Tagungen des CIG »nur besucht werden« könnten, »wenn alle Länder die Einreise« zu den Tagungen erhielten.1080 1078  Besprechung Lauters u. a. mit Beloussow, Puschkow und Boulanger am 12. u. 13.3.1963; ebd., S. 1–6, hier 2. 1079  Ebd., S. 3 u. 5. 1080  Telegramm von Tripphahn an Lauter vom 5.4.1963; ebd., 1 S. 1959 war Tripphahn Leiter des Technischen Büros des NK der DDR für das Internationale Geophysikalische Jahr und die Inter-

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Um 1962/63 war die VISA-Vergabepraxis der USA (Travelbord) äußerst restriktiv. Alfred Zappe (Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 7) von der Verwaltung Vermessung und Kartenwesen (VVK) des MdI war für den Kongress der IUGG vom 19. bis 27. August 1963 vorgesehen. Die Anmeldeformulare waren zwar vollständig und korrekt ausgefüllt worden, dennoch kam es zu Nachfragen. Zappe musste in Westberlin vorstellig werden. Man entschied, dass er gemeinsam mit Peschel und Erich Bruns, Direktor des Instituts für Meereskunde der DAW, fahren solle. Sie fuhren dann Anfang Juli nach Westberlin, mussten lange warten, wurden anschließend ins US-Konsulat verwiesen, wieder langes Warten, dann erst erfolgte eine Vorsprache beim Vizekonsul. Dort aber konnte angeblich nur einer der drei empfangen werden. Man entschied sich für Peschel. Bruns und Zappe wurden vertröstet, sie sollten später gelegene Termine erhalten. Bei Zappe dauerte es zehn Tage bis zu einem neuen Termin. Der Vizekonsul soll sich umfangreiche Notizen zum Gespräch gemacht haben. Es seien viele Fragen gestellt worden, etwa zur Mitgliedschaft Zappes in der IUGG sowie zu seiner Tätigkeit und Dienststelle. Die Fragen reichten hinab bis zum Tätigkeitsprofil auf dem Gebiet des Vermessungs- und Kartenwesens, genauer dem Nivellement. Diese nicht exakte Angabe war vorab mit der Leitung des VVK festgelegt worden, da »auf diesem Gebiet am wenigsten vertrauliche Probleme auftreten«. Ferner erfolgten Fragen zu seiner eventuellen Parteizugehörigkeit und ob er aus eigenem Antrieb SED-Genosse geworden sei und ob er in den USA politische Propaganda treiben wolle. Schließlich folgten auch Fragen zum Reiseweg. Zum Zeitpunkt des Berichtes war noch nicht entschieden, ob Zappe die Erlaubnis zur Reise seitens der DDR überhaupt erhalten würde. Ein später hinzugesetzter Vermerk zeigt, dass Zappe spätestens zum 12. August den Pass erhalten hatte.1081 Die Bevorzugung Peschels erfolgte analog der Hartmanns (siehe S. 478). Zappe alias IM »Heinz Ludwig« hatte auch Verbindung zum Spionagefall Gerd Karte* (siehe MfS-Spezial I).1082 Lauter schrieb am 1. Juli an das NKGG. Thematisch ging es ihm um Begründungsaspekte, die auf der Tagung für optische und Radiobeobachtungen von Satelliten in Rodewisch offenkundig geworden waren hinsichtlich der optischen Satellitenbeobachtung. Und zwar erstens zur Bedeutung dieser (messenden) Beobachtungen für die Volksbildung. Er hatte diesen Punkt auf der Tagung für den bedeutsamsten erklärt. Dem Volksbildungsminister möge man »entscheidend auf die Bedeutung der Station« hinweisen. Zweitens zur Mitarbeit der DDR im Ephemeridendienst. Dieser Dienst sei gegenwärtig »völlig unübersehbar« und bestehe »nur aus Leistungen der DDR an die Sowjetunion und auch an die USA«. Dagegen sei die »Versorgung der

nationale Geophysikalische Kooperation in Potsdam. 1966 wurde er als Sekretär des NKGG eingesetzt. 1972 ist er zum Ökonomischen Direktor des Forschungsbereiches der AdW berufen worden. 1081  HA VII/1/A vom 10.8.1963: Vermerk; BStU, MfS, AIM 7783/71, Teil I, Bd. 1, Bl. 49–52. 1082  Vgl. HA VII/1 vom 22.2.1966: Absprache mit der HA II zum Vorgang »Artillerist«; ebd., Bl. 14–16.

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DDR mit entsprechenden Gegendaten, insbesondere vom Kosmoszentrum Moskau« absolut »ungenügend«. Dies reiche nicht für eigene wissenschaftliche Arbeiten.1083 Am 12. Juli fand in Potsdam auf dem Telegrafenberg eine Sitzung der Fachgruppe »Raumforschung« statt. Zwei Themen mit Gewicht wurden besprochen. Zum einen der Ausbau der Radio-Tracking-Station zur Bestimmung der Elektronenkonzen­ tration und zum anderen der Bau der Satelliten-Präzisionskamera »Ilmenau«. Die Einrichtung der Radio-Tracking-Station war durch Präsidiumsbeschluss bereits gesichert. Zur Bedeutung der Satellitenkamera wurde richtig ausgeführt, dass die »Erforschung des Schwerefeldes der Erde mithilfe von präzisen Satelliten-Beobachtungen« im internationalen Rahmen eine »erstrangige« Aufgabe darstelle. Die genauen »Beobachtungen der Satelliten in den Ländern des sozialistischen Lagers würden bedeutende Beiträge zur Kenntnis des Schwerefeldes liefern. Auch hierbei werden im Vergleich mit den konventionellen Methoden ganz bedeutende Mittel eingespart.« Ferner: »Ohne eine Anzahl derartiger Satellitenkameras hat die multilaterale Zusammenarbeit der sozialistischen Länder bei der optischen Satelliten­beobachtung auf die Dauer nur einen geringen wissenschaftlichen Wert.« Einmal gebaut, sei die »Ilmenau« der amerikanischen Baker-Nunn-Kamera »ebenbürtig«. Allein der Verkauf von zehn solcher Kameras sei bereits ökonomisch gerechtfertigt.1084 Wie übertrieben-sensibel selbst die internationale Zusammenarbeit mit sozialis­ tischen Ländern gehandhabt wurde, zeigt das Protokoll über die 4. Tagung der Satellitenbeobachter der DDR in Eilenburg am 3. Oktober. Hierzu ist eine Notiz Rotters überliefert: »Herrn Professor Dr. Lauter z. K. Ich weiß nicht, ob es sinnvoll war, dieses Protokoll auch nach Pulkowo zu schicken. Ggf. müssten wir darüber auf der nächsten Präsidiumssitzung sprechen. Beste Grüße Rotter.« Pulkowo war kein Ort in den USA, sondern lag in der Sowjetunion. Inhalt waren technische Parameter zu einem Drucktheodoliten und Daten zum Ephemeridendienst. Der Verteilerschlüssel zeigt sieben inländische Stellen sowie Pulkowo.1085 Lauter nahm am Symposium über die Ergebnisse des internationalen geophy­ sikalischen Jahres in Los Angeles vom 12. bis 16. August und an zwei weiteren größeren Tagungen der Generalversammlung der Union für Geodäsie und Geophysik (UGGI) in Berkeley vom 19. bis 31. August sowie an der XIV. Generalversammlung der Internationalen Wissenschaftlichen Radiounion (URSI) in Tokio vom 6. bis 20. September teil. Über die Teilnahme Lauters an der XIV. Generalversammlung, explizit zur Fachtagung der Kommission III: On Ionospheric Radio (OIF), liegt ein Teilbericht von ihm vor. Lauter war unvermutet aufgefordert worden, Ergebnisse über die Forschungen der DDR zur unteren Ionosphäre mitzuteilen. Er sei »völlig unvorbereitet« gewesen, habe aber zugesagt und gleich zwei Vorträge gehalten (zur 1083  Schreiben von Lauter an das NKGG am 1.7.1963; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 333, S. 1–3. 1084  Protokoll der Fachgruppensitzung »Raumforschung« am 12.7.1963; ebd., S. 1–9, hier 3 f. 1085  Protokoll der 4. Tagung der Satellitenbeobachter der DDR in Eilenburg am 3.10.1963; ebd., S. 1–7, hier 4 u. 6.

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D-Region, seinem Steckenpferd, und zur stratospheric properties). Ferner war er aufgefordert worden, eine »besondere Resolution über synoptische Beobachtungsprogramme der tiefen Ionosphäre auszuarbeiten«. Das Ergebnis war überraschend, da sich in der Diskussion herausstellte, »dass die in der DDR betriebenen Arbeiten auf diesem Gebiet international mit an der Spitze« lagen.1086 Lauter resümierte in dem Bericht noch andere, vergangene und künftige Aspekte. So bedauerte er, »dass die DAW sich nicht entschließen konnte, zumindest einen weiteren Vertreter der URSI-Fachgebiete an der Tagung [in] Tokio teilnehmen zu lassen«. Ein weiterer Vertreter des HHI wäre für die »Kombination zur Radioastronomie sehr wünschenswert gewesen«. Lauter jedenfalls war es absolut unmöglich, »noch an einer dritten Kommission mitzuarbeiten«. Ferner fand eine Aussprache mit den sowjetischen Vertretern »über die Arbeit der Ionosphären- und Raumforschung in der Europäisch-Asiatischen Region statt«. Es hatte sich gezeigt, »dass wiederum keine offiziellen Kontakte der Vertreter der sozialistischen Länder auf der Generalversammlung stattfanden und sich bei Gesprächen mit sowjetischen Kollegen herausstellte, dass in der UdSSR keine besonders gute Zusammenarbeit wichtiger Einrichtungen auf dem Gebiet der Ionosphären- und der Raumforschung zu bestehen scheint«. Lauter wies darauf hin, dass zur nächsten Regionalkonferenz in Prag die mangelhafte Zusammenarbeit der sozialistischen Länder unbedingt zur Sprache gebracht werden müsse, es also »wünschenswert«, sei, »wenn seitens der Vertreter der UdSSR bis dahin Klarheit geschaffen« werde in der Frage der »Information und Mitarbeit an der sowjetischen Raumforschung«. Es wäre gut, wenn »eine ähnliche Regelung« getroffen würde, »wie es seitens der USA in den westlichen Ländern« gegeben sei. Die Vertreter der Sowjetunion hätten bereits signalisiert, dass sie eine straffere Zusammenarbeit wünschten. Lauter kritisierte ferner die viel zu späte Genehmigung für die Reise, sodass »seitens der DAW eine ungenügende Vorbereitung und Information« erfolgt sei, mit allen negativen Konsequenzen für den Besuch der Tagung. Der westdeutsche Botschafter hatte ein Essen gegeben. Lauter habe jedoch wegen der Praxis der US-Behörden (vorenthaltenes Visum) aus Protest diese Einladung zum Essen nicht wahrgenommen. Der westdeutsche Delegationsleiter habe seine Note dann beim Essen verlesen. Daraufhin hatte Lauter innerhalb von nur vier Stunden »seitens des amerikanischen Konsulats« sein »Durchreisevisa über Alaska erhalten«.1087 Otto Lucke vom Institut für Meteorologie und Geophysik der HU Berlin teilte Lauter am 23. September schriftlich mit, dass die DAW Mitglied des COSPAR geworden sei. Es gehe jetzt darum, die Konsequenzen daraus abzuleiten. Ein Komitee innerhalb des NKGG müsse aus Mitgliedern bestehen, die »wertvolle Beiträge zu den wissenschaftlichen Zielen des COSPAR« zu leisten in der Lage seien. Jene Grundlagenforschungen sollten gefördert werden, »die mithilfe von Raketen und von Flugkörpern mit Raketenantrieb ausgeführt werden können«. Der älteste Zweig 1086  Bericht von Lauter vom 30.9.1963; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 331, S. 1–11, hier 7 f. 1087  Ebd., S. 9–11.

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solcher Arbeiten sei in der DDR der Satellitenbeobachtungsdienst. Neue Kenntnisse werde »die im Bau befindliche Radio-Tracking-Station des NKGG liefern«. Lucke schlug folgende Wissenschaftler aus relevanten Institutionen vor: Astrophysi­ kalisches Observatorium Potsdam (Wempe, Jäger), Geomagnetisches Institut Potsdam (Fanselau, Wagner), HHI (Wallis, Taubenheim), Observatorium für Ionosphärenforschung Kühlungsborn (Lauter, Schmelovsky), Arbeitsstelle für kosmische Strahlung in Halle (Messerschmidt) sowie Institut für Meteorologie und Geophysik der HU Berlin (Lucke).1088 Lauter antwortete am 27. September und stellte die Frage, ob es sich um ein Rundschreiben oder um ein an ihn gerichtetes Schreiben handele; ihm gehe es hierbei um die Vollmacht für die Anfrage. Er sei der Ansicht, dass die DDR entsprechend der Entwicklung bei der IAGA, der URSI und der IAMAP »die Mitarbeit an COSPAR-Aufgaben innerhalb der bestehenden Fachgruppen« wahrnehmen solle. Abschließend hob Lauter hervor, dass unbedingt gesichert werden müsse, dass »eine Konzentration und nicht eine Zersplitterung der geophysikalischen Arbeit« gewährleistet werde.1089 Das NKGG arbeitete nach einem Statut, »das im Einvernehmen mit dem Generalsekretär der DAW auf der Sitzung des NKGG vom 23. Januar 1963 bestätigt« worden war. »Die Weiterentwicklung des Systems der Planung der naturwissenschaftlichen Forschung in der DDR« machte es »notwendig«, auch die Tätigkeit des NKGG in dieses zu integrieren. Die Änderungen lauteten übersetzt, dass Charakter und Umfang der DDR-Beteiligung nunmehr vom Eigeninteresse der DDR bestimmt werde, Steuerungsinstrument sei aber letztlich der finanzielle Rahmen. Bei all dem sei die »Einheit der Planung der naturwissenschaftlichen Forschung« zu gewährleisten. Die Wahrnehmungspflichten durch das NKGG könnten auf Weisung des Generalsekretärs der DAW erlöschen. Hatte Lauter möglicherweise deshalb später die Position des Generalsekretärs übernommen? Auch die Regelung aller Fragen der internationalen Kooperation werde das NKGG »in Übereinstimmung mit dem Generalsekretär der DAW« durchführen. Dazu zählten u. a. die Nominierung von Wissenschaftlern für Funktionen in den betreffenden Gremien, die internationale Kontaktpflege, die Delegierung von Wissenschaftlern zu den internationalen Tagungen, die Vorbereitung und Durchführung internationaler und nationaler Fachtagungen sowie die Publikationstätigkeit. Das Papier gab explizit Aufgaben und Methoden der Realisation an internationalen Forschungs- und Messprogrammen vor. Auch hier übte der Generalsekretär der DAW eine bedeutende Macht aus.1090 Ein wenig schien es, als ob eine internationale Positionierung der DDR auf dem Gebiet der Raumforschung wenigsten in engen Grenzen gelingen sollte. Robert 1088  Schreiben von Lucke, Institut für Meteorologie und Geophysik der HU Berlin, an Lauter vom 23.9.1963; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 363, S. 1 f. 1089  Schreiben von Lauter an Lucke, Institut für Meteorologie und Geophysik der HU Berlin, vom 27.9.1963; ebd., S. 1 f. 1090  Aufgaben, Rechte und Pflichten des NKGG (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 322, S. 1–8.

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Havemann sprach am 5. Dezember aus, was in allen Disziplinen gefordert wurde: »Man müsse den internationalen Charakter der Wissenschaft wahren«.1091 Am 26. Mai 1964 fand eine Sitzung des NKGG statt, auf der auch die eigene Geschichte referiert worden ist. Im Mittelpunkt aber stand ein Zwischenbericht zur Tätigkeit des NKGG von 1963 bis 1964 als zweiter Entwurf. Die DDR-Beteiligung in den Hauptdisziplinen dieses Komitees erfolgte auf Grundlage des Ministerratsbeschlusses vom 27. Juni 1963. Als besondere Erfolge im Berichtszeitraum wurden u. a. genannt: – Aktivitäten im Jahr der ruhigen Sonne 1964/65 (IQSY): »Verbesserung der Kenntnis der allgemeinen Zirkulation der Atmosphäre« zum Zwecke der »Verbesserung der Unterlagen für die Wettervorhersage zum Nutzen vieler Zweige der Wirtschaft«. Hier erwartete man auch neue Erkenntnisse in der Ozon- und Strahlungsforschung. Ferner Arbeiten zur Ionosphärenforschung und kosmischen Strahlung; Zitat: »Diese Messungen bringen neben Ergebnissen für die Hochatmosphäre entscheidende Unterlagen für den Betrieb von Funklinien im Weltnachrichtenverkehr, für die Planung und Errichtung von Rundfunksendern und für den Betrieb von Funknavigationssystemen. DDR-Institute betreuen auf diesem Gebiet internationale Messnetze, die sich von Nord- über Mittel- nach Südeuropa erstrecken. Von besonderer Bedeutung war die Einrichtung einer Station an der schwedischen Universität Uppsala.«1092 – Zur Raumforschung: Bis zur Aufnahme der DDR in das COSPAR im Jahre 1963 seien »vornehmlich optische Satellitenbeobachtungen betrieben« worden, »wobei eng mit der Sowjetunion« kooperiert worden sei. Neu waren die im Berichtszeitraum hinzugekommenen »erdgebundenen Beobachtungen von Satelliten« für das IQSY-Programm. Dazu zählte der Aufbau einer Empfangsanlage für Satelliten am OIF Kühlungsborn. Der große Rückstand der DDR auf dem Gebiet der Raumforschung konnte damit »weit aufgeholt werden«. In summa würden die abgerechneten Leistungen belegen, »dass die DDR als ein hochentwickelter Kulturstaat wichtige internationale Aufgaben erfolgreich fördert und alle Anstrengungen unternimmt, um die naturwissenschaftliche Forschung in nationalem und internationalem Maßstab entscheidend zu unterstützen«.1093 Lauter berichtete auf Sitzungen der Arbeitsgruppe  B der Regionalkonferenz in Moskau, dass mit Beendigung des IQSY die in der »Arbeitsgruppe B beteiligten Disziplinen im Rahmen multilateraler Abkommen der Akademien der Wissenschaften der Regionsländer weiter durchgeführt« werden sollten. Dieses Ansinnen sei von Puschkow (Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates »Sonne-Erde« der 1091  Information vom 9.12.1963 zur Veranstaltung am 5.12.1963 im Chemischen Institut der HU Berlin; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 422–430, hier 425. 1092  Zwischenbericht über die Tätigkeit des NKGG für den Zeitraum 1963/64 anlässlich der Sitzung des NKGG am 26.5.1964; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 319, S. 1–13, hier 2–5. 1093  Ebd., S. 6–12.

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AdW der UdSSR, IZMIRAN) gekommen und sei von den polnischen und ungarischen Fachkollegen nachdrücklich unterstützt worden, »nachdem das sowjetische Komitee« zunächst versucht gewesen sei, »diesen Punkt noch ungelöst zu lassen«. Offenbar war der sowjetische Regionalreporter für den Bereich »Geomagnetismus, Ionosphäre, Sonnenaktivität, Kosmische Strahlung und Atmosphärische Leuchterscheinungen« äußerst inaktiv, da Lauter von einem »nichtarbeitenden Regionalreporter« sprach.1094 Zur Begründung der Mittelerweiterung für die nächsten beiden Jahre im Rahmen der zusätzlichen internationalen Verpflichtungen des IQSY- und des ­COSPAR-​ Programms führte Lauter gegenüber Rotter am 30. Juli aus, dass für die DDR eine Reihe neuer Aufgaben hinzukomme, »die ohne eine Erweiterung der Finanzmittel des NKGG nicht durchgeführt werden« könnten. Dies sei »aber für die wissenschaftliche Entwicklung in der DDR und für die Geltung der Wissenschaft der DDR im internationalen Maßstab von großer Bedeutung«. Lauter nannte folgende Projekte: 1. Der Ausbau der Messnetze für die Hochatmosphärenphysik in sozialistischen und neutralen Ländern. Hierzu zählten vier Netze. 2. Der Aufbau internationaler Analysenzentralen in der DDR für die IQSY-Arbeit. 3. Die Herausgabe von Veröffentlichungen. 4. Die Durchführung von Kleinexpeditionen und die Vorbereitung für die Einrichtung einer Tropenstation. 5. Die Erhöhung der Mittel am COSPAR-Programm: »Da die DDR wegen der Leistungen dieser Station [­R adio-Tracking-Station – d. Verf.] Mitglied des COSPAR geworden« sei, erwüchsen daraus »auch besondere Kosten«.1095 Am Geomagnetischen Institut (GI) Potsdam existierten zu dieser Zeit fünf wissenschaftliche Arbeitsgruppen: (1) »Abhängigkeit geomagnetischer Variationen von der Sonne«, Leiter: Fanselow; (2)  »Physik der hohen Atmosphäre« (Ionosphäre), Leiter: Wagner; (3) »Geomagnetische Landvermessung«, Leiter: Kautzleben; (4)  »Paläo­magnetismus, Leiter: Stiller; (5)  »Gesteinsphysik«, Leiter: Fröhlich.1096 Ruben (auch Kap. 5.2) war Parteisekretär.1097 Fünf dieser sechs Personen spielen in dieser Untersuchung eine zum Teil besondere Rolle. Otto Lucke, weit entfernt sich mit der SED und ihren Funktionären aufreiben zu wollen, und zu ihnen mag er auch Lauter gerechnet haben, gab auf, da die Raumforschung von der SED in ihrer Bedeutung überhaupt nicht (mehr) erkannt werde. Außerdem existierten aktuell zahlreiche Kompetenz- und Verständnisschwierigkeiten zu Fragen der Entwicklung des Fachs. Lucke legte verärgert die Leitung der Fachgruppe »Raumforschung« nieder. Lauter bedauerte dies in einem Schreiben 1094  Lauter: Bericht über die Sitzungen der Arbeitsgruppe B auf der Regionalkonferenz in Moskau 1964 (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 343, S. 1 f., hier 1. 1095  Schreiben von Lauter an Rotter vom 30.7.1964: Begründung für Mittelerweiterung 1965 und 1966 zu Verpflichtungen für die IQSY- und COSPAR-Programme; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 333, S. 1–4. 1096  BV Potsdam, Abt.  XVIII/4, vermutlich vom 8.9.1964: Strukturübersicht; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 259/84, Bd. 1, Bl. 16 f. 1097  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/4: Treff bericht vom 8.9.1964; ebd., Bl. 10–14, hier 10.

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an ihn vom 23. September: »Da Sie ferner in einem Brief an mich angedeutet hatten, dass Sie nicht mehr im NKGG mitarbeiten werden, bitte ich Sie um Mitteilung, ob Sie glauben, damit auch Ihre Arbeit als Alternative Repräsentative der DDR für das COSPAR niedergelegt zu haben.« Er würde dies bedauern, wenn dem so wäre. Es gebe in Zukunft weiteren Beratungsbedarf hinsichtlich der »weiteren Entwicklung der Raumforschung in der DDR und Teilnahme an der COSPAR-Tagung in Argentinien«. Das Schreiben verrät, dass Lauter nicht glücklich war über den Schritt Luckes.1098 Lucke musste also präziser werden und antwortete am 28. September, dass ihm die Mitarbeit in der Fachgruppe »Raumforschung« »mehr Arbeit und Ärger bereitet« habe, als er »gegenüber« seiner »hiesigen Tätigkeit verantworten« könne. Er nannte den Zeitaufwand als Hauptgrund, andere Personen, mit denen er gesprochen habe, würden diese Aufgabe aus eben diesem Grunde nicht übernehmen: »So bleibt wohl nichts übrig, als die Fachgruppe zu zerschlagen.« Es sei eine hauptamtliche Tätigkeit. Es sieht aber eher danach aus, dass eine Verstimmung im Verhältnis zu Lauter der Grund für den Rückzug gewesen war, denn: »Ich meine, bei Ihrer häufigen Kritik an der Arbeit der Fachgruppe haben Sie ihre Schwierigkeiten zu oberflächlich eingeschätzt. Außerdem meinte ich, mit der Niederlegung der Leitung Ihren persönlichen Wünschen entgegen zu kommen. – Meine Arbeit habe ich nicht im Interesse meines Instituts noch des Geomagnetischen Instituts ausgeführt – im Gegenteil! Innerhalb des NKGG ist das wohl ein ziemlich seltener Fall!« Und dann nannte er den zentralen Punkt: »Über die Fragen der Entwicklung der Raum­forschung wollten Sie schon vor einem halben Jahr mit mir sprechen. Nach mehreren Ansätzen hatte ich den Eindruck, dass Sie den Mantel des geheimnisvoll Wichtigen nicht lüften wollten.«1099 Ein stellenweise pikantes Schreiben Luckes an Lauter vom 9. November beschreibt Hintergründe seines Rücktritts. Das Präsidium des NKGG hatte auf seiner Sitzung am 23. September sein Ausscheiden aus dem NKGG und »als Repräsentant des COSPAR« als Tatsache deklariert – nach Lucke auch im Widerspruch zum Brief an Lauter, der fünf Tage später geschrieben wurde (siehe oben). Es wäre korrekt gewesen, so Lucke, wenn sein Ausscheiden vom Präsidenten der DAW mitgeteilt worden wäre, denn dieser habe ihn schließlich auch berufen. »Wenn aber Ihr Brief unabhängig vom Protokoll abgefasst wurde, weiß ich nicht, wie ich Ihre kollegiale Einstellung beurteilen soll und bitte daher um eine Erklärung zu dem Standpunkt des Präsidiums.« Lucke schien verärgert gewesen zu sein, er traute offenbar Lauter nicht und bemerkte: »Soweit mir bekannt ist, haben Sie noch nie einen Absolventen von Berlin, Leipzig oder Freiberg in Ihrem Observatorium eingestellt, obwohl Sie gelegentlich zu mir davon gesprochen haben. Anscheinend streben Sie eine Art von Autarkie an?«1100 Lauter antwortete am 12. November, dass er selbst auf der 1098  Schreiben von Lauter an Lucke vom 23.9.1964; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 333, 1 S. 1099  Schreiben von Lucke an Lauter vom 28.9.1964; ebd., S. 1 f. 1100  Schreiben von Lucke an Lauter vom 9.11.1964; ebd., 1 S.

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Präsidiumssitzung am 5. November in Leipzig »die Formulierung über« Luckes »Ausscheiden im Protokoll beim Präsidium des NKGG persönlich moniert« habe. Der Präsident habe beteuert, dass »die Betonung auf dem Wort ›beabsichtigt‹« gelegen habe, dass also noch keine Entlastung Luckes aus seinen Funktionen erfolgt sei. Lauter will das Präsidium gebeten haben, Lucke die weitere Mitgliedschaft im NKGG zu gestatten, auch ohne Funktionen. Er habe den Präsidenten gebeten, Lucke anzurufen, auch habe er ihm gegenüber den Wunsch geäußert, dass Lucke stellvertretender COSPAR-Beauftragter bleibe. Auf die »Autarkie-Frage« ging Lauter mit keinem Wort ein.1101 Aus einem Protokoll zur ersten Zusammenkunft der Fachgruppe Physik am 4. Dezember, an der u. a. Wolfgang Böhme und Lauter teilnahmen, geht hervor, dass in die Vielfältigkeit der Forschungslinien Struktur hineingebracht werden sollte. Für die wichtigsten Institutionen wurde das jeweilige Kerngeschäft skizziert.1102 Dies gehorchte bereits einer Reduzierung der Tätigkeiten. Lauter hielt in diesem Jahr einen Beitrag für den Berliner Rundfunk unter dem Manuskripttitel »Die Mitarbeit der DDR an Programmen der ›Internationalen Jahre der ruhigen Sonne 1964/65‹« (IQSY). Eingangs schilderte er den Auftrieb, den die Fachrichtung Hochatmosphärenphysik wegen des Einsatzes von Raketen und Satelliten genommen habe und stellte dann explizit das Programm der IQSY dar, das »einen weiteren beträchtlichen Schritt in der Naturerkenntnis des Menschen bedeuten« werde.1103 Karl-Heinz Neumann alias IM »Harald« berichtete am 23. Dezember über die letzte Sitzung des NKGG, auf der Lauter in der Frage des DDR-Netzes zur Beobachtung von Satelliten keine Mittel der Akademie mehr habe zur Verfügung stellen wollen und gemeint haben soll: »Die Russen sollen gefälligst bezahlen, wenn sie etwas haben wollen. Wir sind nicht die dummen Jungen für andere.«1104 Aus dem Perspektivplan vom 2. Februar 1965 für das Observatorium für Ionosphärenforschung (OIF) für 1966 bis 1970 ist zu entnehmen, dass die traditionell bestehende international geachtete Stellung der Ionosphärenforschung der DDR gerade noch »gewahrt werden« konnte. Dabei habe die »moderne Entwicklung der direkten Messmethoden mit Raketen und Satelliten« diese Bedeutung noch erhöht. Ausdruck sei die Mitgliedschaft der DDR in den wissenschaftlichen Organisationen ICSU, IUGG, IAGA, COSPAR und IQSY. Man sei in 13  verschiedenen Formen wissenschaftlich und organisatorisch tätig: »Eine Reihe jetzt weltweit durchgeführter Beobachtungsprogramme« gehe »auf Anregungen und Ergebnisse von Wissenschaftlern« des OIF zurück. »In den sozialistischen Staaten« 1101  Schreiben von Lauter an Lucke vom 12.11.1964; ebd., 1 S. 1102  Vgl. Fachabt. Forschung der Fachgruppe Physik vom 21.12.1964; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 281, S. 1–5, hier 3 f. 1103  Lauter: Die Mitarbeit der DDR an Programmen der »Internationalen Jahre der ruhigen Sonne 1964/65«; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 90, S. 1–5. 1104  Bericht vom 11.1.1965; BStU, MfS, AIM 8215/70, Teil II, Bd. 1, Bl. 26.

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liege »die Federführung für eine Reihe von Spezialdisziplinen in Händen unserer Wissenschaftler.«1105 Rompe zog Anfang 1965 eine partielle Umstrukturierung im HHI in Betracht, das »Unternehmen sollte« jedoch »sehr geheim gehalten werden«.1106 Solche Vorboten von »Eruptionen« vernahm man in der Fachschaft zwar nicht, sie zeigten sich jedoch nach dem Stechlin-Prinzip (Fontanes Stechlin: Mythos der Verbindung des Stechlin mit der ganzen Welt) an anderen Stellen: In einem Bericht zur Sitzung des NKGG 1965 war bereits angedeutet worden, dass die bisherige Förderung der Forschungsdisziplinen nicht mehr erwartet werden könne. Im Beschluss 2/65 wurde festgeschrieben, dass sowohl das Staatssekretariat für Forschung und Technik als auch Rompe der Auffassung seien, dass »zukünftig der bisherige Weg nicht« mehr »in allen Punkten gangbar« sein werde. »Obwohl das Komitee in seiner Gesamtheit wichtige Argumente für ein Beibehalten des bisherigen Arbeitsprinzips erbrachte, muss es auf die von außerhalb vorgebrachten Wünsche eingehen« können. »Es darf dabei der operative Arbeitsstil nicht verlassen werden und nichts erfolgen, was der weiteren Aktivierung der internationalen Zusammenarbeit entgegensteht. Es müssen geeignete Wege gefunden werden, um sowohl das Prinzip einer einheitlichen Planung und Durchführung wissenschaftlicher Arbeiten in der DDR zu wahren, als auch die notwendige Verbindung zu den Internationalen Wissenschaftlichen Unionen und Institutionen weiter zu festigen. Dabei müssen die bisher durch das NKGG übernommenen operativen Aufgaben unbedingt fortgeführt werden.«1107 Tatsächlich begann, kaum dass die DDR international Fuß gefasst hatte, das mühsam erkämpfte Forschungsgeflecht brüchig zu werden. Auf der NKGG-Sitzung am 25. Februar wurde die Auflösung der Fachgruppe »Raumforschung« beschlossen. Der Anlass hierzu war gewissermaßen durch den Rücktritt Luckes gegeben. Ein Papier von Lauter zeigt erstens die bedeutenden Aufgaben im Leistungsspektrum der Arbeitsgruppe und zweitens künftige Konsequenzen auf. Als »sehr erfolgreich« wertete er die Forschungen zur Satellitengeodäsie, »die, durch den Auftrag des NKGG gefördert, zum Bau einer großen Spezial-Satellitenkamera von hohem internationalem Niveau« geführt habe, ferner Arbeiten zum Radio-Tracking, zur Real-Time-Telemetry und zum Studium des Plasmas der äußeren Ionosphäre sowie Leistungen im Bereich der Satellitenbeobachtung. Dabei fielen die erstgenannten Aufgaben ergebnisseitig in die Gebiete der Geodäsie und Ionosphärenphysik, die letztere hingegen war im Kern eine Datenzulieferung für sowjetische und amerikanische Satellitenbeobachtungsnetze. Diese Aufgabe war besonders für den Bereich der Schul- und Volkssternwarten bedeutsam. In der Diskussion über den Nutzen dieser Richtungen hätten »sich alle zuständigen Fachgruppenvorsitzenden und 1105  OIF Kühlungsborn vom 2.2.1965: Perspektivplan des OIF für 1966–1970; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 291, S. 1–12, hier 1. 1106  HA XVIII/5/2 vom 12.2.1965: Bericht zum Treffen mit »Elektronicus« am 12.2.1965; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 2, Bl. 154 f., hier 154. 1107  Bericht über die Tätigkeit des NKGG für 1965; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 320, S. 1 f., hier 2.

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Wissenschaftler« am 19. November 1964 darauf verständigt, die erstgenannten Aufgabenfelder in die zuständigen Fachgruppen »zurückzugeben«, die Fachgruppe »Raumforschung« hingegen aber »als solche aufzulösen und die Mitglieder in die zuständigen Fachgruppen zu berufen, mit Ausnahme einer Expertengruppe für die Abwicklung der Aufgaben aus der multilateralen Zusammenarbeit, die unmittelbar – wie beim IHD – dem Präsidenten unterstellt sein sollte«. Schließlich sollten die Aufgaben der Satellitenbeobachtung (Amateur-Stationen) nicht grundsätzlich eingeschränkt werden, die dafür bislang aber aufgewandten finanziellen Mittel verringert werden. Die kostspielige instrumentelle Weiterentwicklung solle ganz wegfallen. Die Mittel für die Nachrichtenverbindungen sollten eingeschränkt werden. Lauter lapidar: »Das ist der Stand«. Er schlug vor, den Überlegungen zuzustimmen und Lucke aus seiner Funktion zu entlassen, »nicht ohne ihm Dank« zu sagen für seine erfolgreiche Arbeit. Lauter wünsche, dass Lucke als sein Vertreter beim COSPAR bestätigt werde. »Ich hoffe, dass dies mit den Statuten unseres Komitees vereinbar sein möge.«1108 Im März bat Karl-Heinz Schmidt von der Auslandsabteilung der DAW Lauter um eine Stellungnahme zur Mitgliedschaft der DDR in der URSI. Der antwortete am 3. Mai. Aufgrund der zu erwartenden Reorganisationen in der URSI und in anderen Unionen sowie wegen des unpassenden Momentes eines Aufnahmeantrages für 1966 (die Tagung fand in München statt) plädierte Lauter für einen Zeitpunkt nach 1966. Nach München »glaube« er »nicht an übermäßig große Schwierigkeiten bei der Aufnahme der DDR«. Man solle vorher sondieren und auch in München mit einer Beobachterdelegation vertreten sein.1109 Dem Jahresarbeits- und Perspektivplan 1965 bis 1970 des Meteorologischen Dienstes nach, wurden dessen Dienstaufgaben im Bereich der Forschung von acht Institutionen realisiert, u. a. vom OIF Warnemünde. Dieses hatte sich »auf die Bearbeitung von Aufgaben« zu konzentrieren, »die die Physik der Hochatmosphäre im Bereich der unteren Ionosphäre und der Exosphäre« betrafen. Die Aufgabe des OIF bestand darin, »permanent die Vorgänge in diesen Höhenbereichen auch unter Berücksichtigung der praktischen Probleme, die sich daraus für die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen ergeben«, zu beobachten und zu bearbeiten.1110 Auch 1965 erfolgte die Planung im NKGG auf Grundlage des Ministerratsbeschlusses vom 27. Juni 1963 in Übereinstimmung mit dem SFT. Die exakt untersetzte Planung wurde von den zuständigen Fachgruppen des NKGG vollzogen. Ein Papier beschreibt detailliert die einzelnen Planungsschritte, die Organisation und Information, also die Technik und Kommunikation der Planung. Vorarbeiten wurden untersetzt in Einzelplänen wie den für die Fachgruppe »Ionosphäre und 1108  Bericht zur Auf‌lösung der Fachgruppe »Raumforschung« auf der NKGG-Sitzung am 25.2.1965; ebd., S. 1–3. 1109  Schreiben von Lauter an Schmidt vom 3.5.1965; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 242, S. 1 f. 1110  Ausriss aus dem Jahresarbeitsplan und Perspektivplan 1965–1970 des Meteorologischen Dienstes (MD) der DDR für 1965 (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 282, S. 1 f., hier 2.

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Kosmische Strahlung« als Forschungsvorhaben NKGG 1965 mit der Nomen­ klatur-Nr. IQSY V/01. Der Plan enthielt konkrete Angaben zum Thema Radio-Tracking aus wissenschaftlicher und volkswirtschaftlicher Sicht in der Verantwortung Schmelovskys und zum Finanzbedarf in Höhe von 40 200 Mark.1111 Der Plan enthielt keine politischen Implikationen. Er ist so gestrickt, wie es Wissenschaftler mögen: als Werkzeug und grobe Richtschnur. Lucke sandte Lauter mit Schreiben vom 28. Mai ein Papier mit dem Titel »Hauptziele und Hauptaufgaben der Forschungsrichtung Physik der hohen Atmosphäre innerhalb der DDR« zu, das auf Basis »zahlreichen Diskussionen« entstanden und vorab auch an Rompe geschickt worden war. Der Verteiler weist 14 Personen auf (u. a. Schmelovsky, Fanselau, Messerschmidt, Mollwo, Taubenheim, Wagner, Schmidt und Böhme).1112 Einleitend ist in dem Papier die veränderte Situation seit der Raketen- und Satellitenära dargestellt. Seither sei die Stellung der Physik der hohen Atmosphäre und des interplanetaren Raumes »sprunghaft« gestiegen und es böten sich neue wissenschaftlich-technische Nutzungen an. Mehrere Institute der DDR hätten »auf dem Gebiet der indirekten bodengebundenen Messverfahren« ohnehin traditionell einen guten Ruf. Hinzu komme, dass die moderne Entwicklung der direkten Messmethoden nunmehr »die internationale Bedeutung der Arbeiten der in der UKHA vertretenen wissenschaftlichen Einrichtungen noch« erhöhen werde. Aufgrund anerkannter Leistungen sei es auch leicht, Mitgliedschaften in den wissenschaftlichen Organisationen der ICSU wie IUGG, COSPAR und IQSY-Komitee zu erlangen. Zur allgemeinen wissenschaftlichen Aufgabenstellung führte er aus: »Die Physik der hohen Atmosphäre mit ihrem weit ausgedehnten Plasma verschiedensten Ionisierungsgrades und variabler Dichteverhältnisse im magnetischen Dipolfeld der Erde bietet zahlreiche Probleme, deren Lösung wiederum für die allgemeine Physik, vor allem für die Plasmaphysik wichtig sind. Im Gegensatz zur Physik können aber kaum Experimente mit planmäßiger Variation der verschiedenen Parameter durchgeführt werden. Vielmehr muss man die komplexen Vorgänge der Natur möglichst vollständig beobachten und die erhaltenen Daten mit statistischen Verfahren analysieren und an Hand theoretischer Modelle zu interpretieren versuchen. Die Erarbeitung geeigneter Beobachtungsverfahren liefert häufig neue Impulse für die Messtechnik, vor allem für die moderne Elektronik und die Probleme der Messung sehr kleiner Felder. Die Interpretation der Messdaten liefert volkswirtschaftlich wertvolle Erkenntnisse für die Nachrichtenübertragung, Dynamik der unteren Atmosphäre und ähnliche Probleme.«1113

1111  Vgl. Richtlinien für die Planung von Forschungsvorhaben im Rahmen des NKGG für das Jahr 1965 (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 334, S. 1–5. 1112  Vgl. Schreiben von Lucke an Lauter vom 28.5.1965; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 240, 1 S. 1113 Zugehöriges Papier zum Schreiben von Lucke an Lauter vom 28.5.1965: Hauptziele und Hauptaufgaben der Forschungsrichtung Physik der hohen Atmosphäre innerhalb der DDR; ­A rchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 242, S. 1–11, hier 1.

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Im Rahmen der UKHA wurden folgende Aufgaben durchgeführt: Forschungen zur Physik des Plasmas der Hochatmosphäre (Struktur, Energieumsetzungen, Dynamik der Prozesse u. a.); »Observatoriumsaufgaben zur kontinuierlichen Überwachung der Vorgänge in der Hochatmosphäre und im erdnahen interplanetaren Raum (meist im Rahmen internationaler Verpflichtungen)« sowie »praktische Aufgaben für die Funkberatung sowie »Anwendung, Erprobung und Entwicklung moderner elektronischer Verfahren zur Hochfrequenztechnik«, auch mittels EDV. Zu den sieben auf diesem Gebiet tätigen Institutionen zählte vor allem das HHI, das mit vier Aufgaben befasst war: dem Studium und der Überwachung der Struktur der Ionosphäre, der ionosphärischen Absorption elektromagnetischer Wellen im Kurzwellenbereich, der »Anwendung und Weiterentwicklung moderner elektronischer Mess-, Auswertungs- und Datenverarbeitungstechniken in der Ionosphärenforschung« sowie der »ständigen Nutzung der Forschungsergebnisse für die nationale Aufgabe wissenschaftlich begründeter kurz- und langfristiger Prognosen und Beratungen für Betrieb und Errichtung von Funkstrecken, Teilnahme am URSI-Gramm-Dienst«.1114 Am OIF waren u. a. folgende Hauptaufgaben verankert: das Studium und die Überwachung der Vorgänge in der unteren Ionosphäre und der Mesosphäre (50 bis 100 km Höhe), dto. der Vorgänge im Bereich der Exosphäre sowie die Analyse extraterrestrischer Einflüsse, die Anleitung von internationalen Messnetzen (Schweden, ČSSR, Bulgarien, Ungarn) auf den Gebieten des Funkstörpegels und der Langwellenausbreitung, der Praxisbezug auf den Feldern der Langfristwetterprognose, Unterlagenerschaffung für den Hyperschallflug, dto. für die Lang- und Längstwellenausbreitung, die Prüfung von technischen Möglichkeiten für die Nutzung von Nachrichtenübermittlung mit Wetter-, Nachrichten- und Forschungssatelliten, die Teilnahme am internationalen Funkwarndienst (URSIGRAMM-Dienst) sowie die Anwendung moderner elektronischer Verfahren für die aeronomische Messtechnik. Beide Institutionen, das HHI und das OIF, hatten zudem, wie andere Observatorien auch, permanente Observatoriumsaufgaben zu lösen. Das HHI sammelte resp. lieferte beispielsweise kontinuierliche Messungen von Daten grundlegender Kenngrößen der Elektronendichteverteilung in der Ionosphäre und das OIF Messungen der Gesamtionisation und Struktur des Plasmas der D-Region sowie Drift- und Turbulenzmessungen.1115 Die speziellen Aufgaben für den Zeitraum bis 1970 beinhalteten für das HHI u. a. folgende Aufgaben: die rechnergestützte Auswertung der Ionosphären-Impuls­ lotungsmessungen hinsichtlich der räumlichen Struktur der mittleren und oberen Ionosphäre, die physikalische Interpretation der Ionosphärenstruktur, die »experimentelle Erforschung und Interpretation der raum-zeitlichen, dynamischen und Störungsvorgänge in der Ionosphäre in internationaler Zusammenarbeit«, sowie für das OIF u. a. die Untersuchungen zur Struktur, Dynamik und zum Energie1114  Ebd., S. 2–4. 1115  Vgl. ebd., S. 2–8.

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austausch in der Mesosphäre, die Untersuchungen zu extraterrestrischen Erscheinungen, die »Fortführung und Erweiterung der Messungen und der Messtechnik in der Raum-Forschungs-Satelliten-Station sowie die Auswertung der Datenerhebung zum Phänomen der Wellenausbreitung in der D-Schicht«.1116 Ein weiteres Schreiben von Lucke an Lauter thematisierte die Arbeit im COSPAR in Vorbereitung einer Reise nach Moskau im Juni. Es handelt sich hierbei um ein Papier, das bereits die Zeichen einer ganzen Reihe zukünftiger Konflikte trägt, die nicht nur dieses Fachgebiet, sondern generell die Forschung in der DDR kennzeichnen sollten. Die Grundkontur dieser Konflikte war hier bereits reif. Dass es Meinungsverschiedenheiten in Fragen der wissenschaftlichen Strategie zwischen Lucke und Lauter gegeben hatte, in die naturgemäß auch das Staatssekretariat für Forschung und Technik (SFT) einbezogen war, ist völlig normal, wenn zwei Forschungsphilosophien möglichst harmonisch vereint werden müssen. Nicht gleichsam naturbedingt aber waren politische Präferenzen, die die Logik des Fachs von außen störten. Lucke zeigte sich gegenüber Lauter durchaus optimistisch, dass hinsichtlich der Moskau-Reise wohl alles unter Dach und Fach sei, »obwohl Herr Weiz wohl gewisse Bedenken gegen die Raumforschung« hege, die auch vereinzelt aus den betreffenden Instituten komme. So gebe es »noch immer gewisse Animositäten« gegen diese Ausrichtung im HHI. Dort sollten entsprechend einer Direktive des SFT die Themen der Nachrichtentechnik »ZZ-Themen werden«. Allen war klar, dass Themen, die diesen Status nicht erhielten, »zukünftig wohl wenig Mittel« bekämen. War es Hoffnung oder Befürchtung, wenn Lucke schrieb: »Auch die Raumforschung wird vermutlich zu ZZ-Themen erklärt werden.« Wenn ja, bedeute dies zwar mehr Mittel, dann jedoch unter dem Status einer eher geheimen Forschung, wenn nicht, dann gehe es wohl in Richtung einer Nischenforschung. Lucke informierte ferner, dass er für die Entwicklung der Raumforschung circa 10 bis 15 »gut ausgebildete Geophysiker« benötige. Das SHF habe signalisiert, dass man »grundsätzlich« Studenten für diese Fachrichtung zulassen werde.1117 Ein Protokoll über die Sitzung des Wissenschaftlichen Rates des Bereiches für terrestrische, solare und kosmische Plasmaphysik sowie Funkwellenausbreitung des HHI am 2. Juli beinhaltete hauptsächlich die Diskussion zur Neustrukturierung des Hauses. Anwesend waren acht Mitglieder: Ludwig Mollwo,1118 der Leiter des HHI, sowie Lucke, Lauter, Jäger, Wempe, Daene, Wallis und Taubenheim. Mollwo führte aus, »dass der auslösende Faktor dieser Neustrukturierung das (nicht näher bekanntgegebene) sogenannte ›Elektronik-Dokument‹ [folgend vom 10. Juli 1964: Grundkonzeption zur Entwicklung der Elektronik im Zeitraum des Perspektiv­planes bis 1970 (wurde zum Beschluss des Politbüros des ZK der SED erhoben) – d. Verf.] 1116  Ebd., S. 8–10. 1117  Schreiben von Lucke an Lauter vom 29.5.1965; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 223, S. 1 f. Die Zweiseitige Zusammenarbeit (ZZ) mit der Sowjetunion unterlag verschärfter Geheimhaltung. 1118  (1907). Studium der Elektrotechnik an den TH in Hannover und München. 1935–1946 Physikalisch-Technische Reichsanstalt (PTR) in Berlin. 1936 Promotion. 1946–1952 in der Sowjetunion. Ab 1952 am HHI, dort, 1960, habilitiert.

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gewesen« sei, »und dass schließlich nach längeren Diskussionen in der Forschungsgemeinschaft an ihn der Auftrag zur Abfassung eines Struktur-Vorschlages erteilt wurde«.1119 Noch grünes Licht für internationale Kooperation Am 9. August plädierte Karl-Heinz Schmidt von der Auslandsabteilung der DAW in einem Schreiben an die Abteilung Internationale Organisationen des MfAA ausdrücklich, Lauter die Gelegenheit zu Reisen im Rahmen des COSPAR, konkret zu Tagungen des Programmkomitees, zu geben. Es sei dem wirkungsvollen Auftreten der DDR-Delegation in Argentinien zur COSPAR-Tagung zu verdanken, dass Lauter in das Programmkomitee für das COSPAR-Symposium im Mai 1966 in Wien gewählt worden war: »Wenn wir jetzt aber Herrn Professor Dr. Lauter nicht in die Lage versetzen, die Mitarbeit im Programmkomitee persönlich und nicht auf dem Korrespondenzwege zu gestalten, kann nicht erwartet werden, dass COSPAR sich auch künftig entschließt, DDR-Wissenschaftler für wichtige Aufgaben in Anspruch zu nehmen.«1120 Der Sektionsleiter der Abteilung Internationale Organisationen des MfAA informierte am 21. August Schmidt in der Frage der Berufung Lauters innerhalb des ISCU-Systems. Sein hierfür zuständiger Bereichsleiter habe entschieden, dass Lauter die Berufung annehmen dürfe, »zumal damit erstmalig ein DDR-Wissenschaftler in eine solche Funktion« komme. Dies würde auch die »Position der DDR in das COSPAR festigen«. Eine Zusage, dass Lauter Anfang 1966 das Travel-Office in Westberlin nutzen dürfe, könne gegenwärtig »nicht gegeben werden«. Er erhalte aber seitens des MfAA »jede mögliche Unterstützung«.1121 Ein Thesenpapier zur Tagung des Meteorologischen Dienstes (MD) der DDR am 12. und 13. Oktober zeigt die wissenschaftlich fundierte Sicht auf künftige Aufgaben des MD. Der Verfasser ist sehr wahrscheinlich Lauter, da Wolfgang Böhme keinesfalls so dachte und argumentierte. In dem Papier wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die modernen Aufgaben der Meteorologie eine »enge internationale Kooperation« voraussetzen. Verwiesen wurde auf die UNO, die sich bereits 1961 »mit der durch die Entwicklung der technischen Möglichkeiten entstandenen Situation« befasst habe, »und zu einer Entwicklung weltweiter meteorologischer Projekte für Forschung und Praxis auch im Zusammenhang mit der ›Internationalen Kooperation zur friedlichen Nutzung des Weltraums‹« führen werde. Die ins Auge gefassten Projekte waren: (1) WMO: Entwicklung eines Welt-Wetter-Systems; 1119  Sitzungsprotokoll des WR des Bereiches für terrestrische, solare und kosmische Plasmaphysik sowie Funkwellenausbreitung des HHI am 2.7.1965; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 309, S. 1 f. 1120  Schreiben von Schmidt an die Abt. Internationale Organisationen im MfAA vom 9.8.1965; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 242, 1 S. 1121  Schreiben der Abt. Internationale Organisationen an Schmidt vom 21.8.1965: Berufung Lauters; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 28, 1 S.

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(2) WMO: Plan der Schwerpunkte der meteorologischen Forschung; (3) IUGG: Komitee für Atmosphärische Wissenschaften: Vorstellungen zur Schaffung eines Programms, das auf die Beobachtung, das Verständnis und die Vorhersage der Allgemeinen Zirkulation der Troposphäre und der unteren Stratosphäre gerichtet ist; (4) IUGG, Spezialkomitee für das IQSY: Empfehlungen zur Fortsetzung und Ergänzung wesentlicher Teile des meteorologischen IQSY-Programmes. Diese Programme zielten, so der Verfasser des Papieres, »in der Hauptsache auf ein besseres Verständnis der Allgemeinen Zirkulation der Atmosphäre und ihrer Variationen ab«. Dieses Verständnis sei der »Schlüssel für die Lösung einer Reihe erstrangiger praktischer Fragen«. Und auch die »Grundlage für die volkswirtschaftlich so bedeutsame Vergrößerung des Vorhersagezeitraumes und für weitere Verbesserungen der Vorhersagen sowie für die Abschätzung der Möglichkeiten der Wetter- und Klimabeeinflussung«. Voraussetzung hierfür, sich diesen Themenblöcken wissenschaftlich widmen zu können, bildete die »Profilierung der Forschung auf dem Gebiet der Physik der freien Atmosphäre, der Hochatmosphäre«.1122 An dieser Stelle sind einige Ausführungen zu Wolfgang Böhme notwendig, da er im Laufe der Problematik »Lauter« eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Böhme wurde 1926 in Dresden geboren. 1947 kam er zum Meteorologischen Hauptobservatorium Potsdam. Von 1948 bis 1953 studierte er Meteorologie an der HU Berlin. 1958 wurde er promoviert und ging zum MHD, wo er 1962 Abteilungsleiter »Forschung« wurde. Böhme wurde zum 1. Januar 1967 Direktor des MHD. In dem Jahr wurde er auch Leiter der Arbeitsgruppe 4 des COSPAR und verpflichtete sich am 29. März zur inoffiziellen Mitarbeit für das MfS. Er wählte sich den Decknamen »Hans«.1123 Darüber hinaus war er Auswerter der HV A, Sektor Wissenschaft und Technik (SWT).1124 Der Abschlussbericht zu seiner IM-Tätigkeit stammt vom 6. November 1987. Hierin heißt es, dass seine Werbung im Rahmen der Entwicklung des Interkosmos-Programms erfolgt sei. Er sei »aktiv« in die Bearbeitung operativer Vorgänge einbezogen worden und als Experten-IM tätig gewesen. Böhme sei derzeit praktisch nur noch nebenamtlich in der alten Berufsaufgabe tätig, sodass die IM-Tätigkeit beendet werden und eine Umregistrierung als GMS erfolgen könne.1125 Er war einer der wichtigsten IM, die gegen Lauter arbeiteten. Die Aktenlage ist umfassend. Er war nahezu paranoid skeptisch. Er berichtete gemessen an seiner hohen Position vergleichsweise auf niederem Niveau, was ihn umso gefährlicher machte.1126 1122  Thesen zur Zentralen Tagung des MD am 12. u. 13.10.1965; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 280, S. 1–5. 1123  Vgl. Verpflichtung vom 29.3.1967; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil I, 1 Bd., Bl. 16 sowie HA XVIII/5/3 vom 31.3.1967: Werbung; ebd., Bl. 11–14. 1124 Vgl. HV A / S WT / A bt.  V vom 12.5.1986: Antrag auf Wiederholungs-Bestätigung für SWT; ebd., Bl. 131. 1125  Vgl. HA XVIII/5 vom 6.11.1987: Abschlussbericht; ebd., Bl. 134. 1126  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 26.6.1973: Bericht von »Hans« vom 21.6.1973; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 203–207.

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Analog der Richtlinien für die Planung von Forschungsvorhaben im Rahmen des NKGG für 1965 ist ein Arbeitspapier für 1966 überliefert, das den Eingangsstempel des OIF Kühlungsborn vom 13. Dezember 1965 trägt. Es zeigt unter dem Titel »Überblick über Entwicklungstendenzen der Meteorologie im Weltmaßstab« eindrucksvoll, in welch einer für den Fachmann begeisternden Zeit Lauter lebte: »It is apparent that meteorology is on the threshold of a fantastic metamorphosis.« Und: »Meteorology is moving into a phase where vastly greater, vastly improved services can be provided, services of incalculable value to human welfare and world economy.« Der unbekannte Autor erläuterte in diesem Papier anschließend einige Thesen anhand der Resultate der 6. COSPAR-Konferenz in Mar del Plata, auf der »sich der Einfluss der technischen Revolution in mannigfaltiger Weise« widergespiegelt habe.1127 Das alles aber entsprach jenem Ausdruck der Moderne, von dem die SED-Funktionäre und MfS-Offiziere keinen Begriff hatten. Für sie mag Meteorologie eine Sache von Barometern, Windmessern und Thermometern gewesen sein. Das völlig Neue, die Vernetzung aller konventionellen mit den neuesten technischen Mitteln und die komplexe Datenverarbeitung aller Messergebnisse, konnten sie nicht denken. Der Autor, sehr wahrscheinlich Lauter, versuchte, einige Tendenzen in der Beobachtungstechnik darzustellen: Einsatz von meteorologischen Satelliten und zwar in der Einheit numerischer Datenerhebung und Vorhersage in Verbindung mit synoptischen Karten (Bildern). Gleichzeitig aber gewannen auch der Einsatz von Raketen zur Untersuchung der Stratosphäre und Mesosphäre und parallel dazu der Ausbau der Bodenbeobachtungstationen und -Netze an Bedeutung. Der Autor verwies auf den Aufruf der UNO im Jahre 1961, wonach es im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts notwendig sei, sich den Fragen der internationalen Kooperation zur friedlichen Nutzung des Weltraums unbedingt stellen zu müssen (»Entwicklung weltweiter Projekte«). Und es steht hier bereits jener Satz, den Lauter bereits im Begriff stand mit Leben zu erfüllen und der ihm letztlich zum Verhängnis werden sollte: »Die andere Seite ist die Entwicklung von Forschungsprogrammen, die die nunmehr gegebenen Möglichkeiten ausschöpfen.« Hierzu gebe es bereits Vorstellungen und Entwürfe, »in der Hauptsache« würden sie »auf die Beschreibung und das Verständnis der globalen Zirkulation der Atmosphäre (möglichst einschließlich der Mesosphäre) und ihrer Variationen« abzielen. Dieses Forschungsfeld bedeute Grundlagenforschung und sei »für die Zukunft« von »eminenter praktische Bedeutung. Das Verständnis der allgemeinen Zirkulation dürfte ein wesentliches Hilfsmittel für die Lösung des Problems der Langfristvorhersage sein und wird als unabdingbare Voraussetzung für die großräumige Beeinflussung des Wetters angesehen«. Der Autor wies darauf hin, dass dieses Forschungsprofil auch für den Luftverkehr in großen Höhen von Bedeutung ist.1128

1127  Ohne Kopfangaben (zwischen Juni und 13.12.1965): Überblick über Entwicklungstendenzen der Meteorologie im Weltmaßstab; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 283, S. 1–12, hier 1. 1128  Ebd., S. 11 f.

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Zur »Perspektivplanaufstellung« der naturwissenschaftlichen Forschung: Man ersieht allein anhand der Formularbögen den lästigen Formalismus, der keine Lebendigkeit zuließ, schon gar nicht Offenheit. Letztlich entzogen sich die Wissenschaftler diesen bürokratischen Formalismen, indem sie wie gewohnt die Ziele fixierten, da die naturalen Zuweisungen meist vage oder teilweise unsicher waren. Immerhin aber verdeutlichen diese Perspektivpläne, dass die Konzeptionen noch international gedacht wurden und werden durften. Eine fixierte Forschungsaufgabe des Geodätischen Instituts Potsdam (GIP) für 1966 bis 1970 war beispielsweise die »großräumige Koordinaten- und Azimutbestimmung mit Hochzielen, insbesondere Satelliten«. Doch die Angaben hierzu waren, was nicht anders zu erwarten war, dürftig und, was die Haushaltsmittel und den Personaleinsatz anlangte, besonders lückenhaft. Unter »Wissenschaftliche Zielstellung« war hier die Aufgabe der Entwicklung und Fertigung eines leistungsfähigen Satellitenteleskops vom Typ »Ilmenau« beim VEB Carl Zeiss Jena eingetragen und beschrieben worden. Und in der Rubrik »Volkswirtschaftliche Nutzungsmöglichkeit« war eingesetzt worden: »großräumige Kontrolle des europäischen geodätischen Festpunktfeldes als Grundlage für das Vermessungs- und Kartenwesen.« Die Autoren sahen dies als einen »Beitrag zur Schaffung eines Weltkoordinatennetzes«. Über den Gesamtzeitrahmen hinweg bis 1970 sollten 270 000 MDN zur Verfügung gestellt werden.1129 Ein anderer, späterer Perspektivplan des HHI von 1966, ebenfalls für das Zieljahr 1970 verfasst, betraf Forschungsaufgaben auf dem Gebiet der Plasmaphysik, »der Exosphäre und der Ausbreitung elektromagnetischer Wellen von Satelliten im Rahmen der Mitarbeit und der Aufgaben der DDR als Mitglied im Raumforschungskomitee des ICSU (COSPAR)«. Hierzu zählten die laufenden »Programme zum Radio-Tracking spezieller geophysikalischer Satelliten« und die »Mitwirkung als Meldestation für den Austausch von Messdaten im nationalen und internationalen Rahmen«. Unter volkswirtschaftliche Nutzungsmöglichkeiten wurde u. a. die »Mitarbeit am Wettersatelliten-Programm« vermerkt. Die Kosten von 1966 bis 1970 wurden mit 110 000 MDN veranschlagt.1130 Im Dezember 1965 bat Lauter Lucke, ein Gutachten über die Arbeiten Schmelovskys zu verfassen. Er antwortete ihm zustimmend am 5. Januar 1966 und betonte, dass Schmelovsky »einer unserer besten Wissenschaftler« sei, der »jede Förderung« verdiene.1131 In der westlichen Wissenschaft wäre Schmelovsky sehr wahrscheinlich berühmt geworden. In der DDR wurde er, einst ihr jüngster Professor, aufgerieben. Doch diese Quelle ist noch aus einem anderen Grunde bedeutend, da es hier einmal mehr um die Definitionsfrage »Raumforschung« ging. In der Antwort Luckes wird deutlich, dass die Frage der »Raumforschung« immer noch unentschieden war: »Ich 1129  Perspektivplanaufstellung der naturwissenschaftlichen Forschung des GIP 1966–1970 (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 330, S. 1 f. 1130  Perspektivplanaufstellung der naturwissenschaftlichen Forschung des HHI 1966–1970 (o. D.); ebd., S. 1–4. 1131  Schreiben von Lucke an Lauter vom 5.1.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 223, S. 1 f., hier 1.

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übersehe den Rahmen nicht ganz, in dem Herr Schmelovsky später wirken kann. Ich vermute, dass die von Ihnen angedeutete Einrichtung des Departement-Systems in der Physik in Rostock die besondere Pflege der Ausbildung, insbesondere der postgradualen, für die Raumforschung möglich machen soll.« Und weiter: »Die Raumforschung könnte sehr gut in Rostock konzentriert werden.«1132 Zu dieser Zeit aber träumte die SED längst von einer eigenen Raumfahrt, also Weltraumforschung, und Schmelovsky hatte offenbar selbst Ambitionen in dieser Richtung. Lucke aber, obgleich dem alten Kanon des Faches verpflichtet, dachte bereits in der Perspektive der künftigen Entwicklung: »Die Raumforschung, auch in dem Maße wie wir sie in der DDR betreiben können, ist immer noch umfassender als die Physik der natürlichen Plasmen, wobei der Plasmazustand doch erst in der F-Schicht richtig wirksam wird. Insofern scheint mir die Bezeichnung von Schmelovskys Dozentur für Physik der natürlichen Plasmen zu eng zu sein. Er wird dadurch ganz auf methodische Probleme gedrängt.« Lucke vertrat in Sonderheit die Meinung, dass Lauters Idee des Departement-Systems an den Universitäten Schule machen könnte.1133 Das OIF beklagte im Januar den – bezüglich der Perspektivaufgaben – akuten Mangel an Ausrüstungen und Gebäuden: die dem Hause »gestellten Aufgaben als wissenschaftlich-technisches Zentrum der Raumforschung in der DDR und als Leitinstitut für die sozialistischen Länder auf dem Gebiet der Physik der Hochatmosphäre« seien »nicht zu erfüllen ohne eine räumliche Erweiterung. Der gesamte Messbetrieb einschließlich der im weiteren Ausbau befindlichen Raumforschungsstation war zusammen mit der Werkstatt, den Arbeitsräumen von sechs Wissenschaftlern, Teilen der Auswertung und den Unterkunftsräumen für Beobachter und mehrere Wissenschaftler in einer ehemaligen Ausflugsgaststätte untergebracht.« Der Verfasser des Textes monierte statische Überbelastung, schwere Schäden am Schornstein und daher mangelhafte Heizung der Räume sowie mehr als grenzwertige Elektro- und Sanitärinstallationen. Die Durchführung physikalischer Messungen in einem solchen Gebäude war beeinträchtigt. Die Messgeräte waren eng zueinander aufgestellt, was zu Verfälschungen der Messungen führte, auch gab es mechanische Instabilitäten infolge der Tatsache, dass der Nachbarraum des Messraumes eine Werkstatt war!1134 In der zeitgeschichtlichen Forschung und Erinnerungsarbeit zur Geschichte der Volkswirtschaft der DDR ist immer wieder auch ein Merkmal skizziert, das als Innovationsschwäche, wenn nicht gar als Innovationsunvermögen (Kap. 3.4.2) benannt wird. Im Kern geht es hierbei um die Tatsache, dass Entwicklungslösungen selbst mit evidenter Nutzcharakteristik aus Kapazitäts- oder anderen Gründen nicht umgesetzt worden sind. Als Stimulans, Korrektiv und Impulsgeber fehlte schlicht der Markt. Hierzu ein Beispiel, mit dem Lauter konfrontiert worden war: Der 1132 Ebd. 1133  Ebd., S. 1 f. 1134  Schreiben an die Leitung des MD der DDR vom 12.1.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 284, S. 1 f.

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Direktor des Instituts für Theoretische Physik und Geophysik der Bergakademie Freiberg, Wolfgang Buchheim,1135 hatte sich am 25. Januar mit einer Bitte an Lauter gewandt, ein sogenanntes Vertikal-Feinstklinometer final weiterzuentwickeln. Das Gerät diente der Registrierung der Erdgezeiten mithilfe elektronischer Fernübertragung. Hierüber hatten beide bereits zur NKGG-Sitzung am 15. Dezember 1965 miteinander gesprochen. Buchheim erläuterte, dass die »praktische Bedeutung dieser neuen Messtechnik« darin bestehe, dass diese »Klinometer in Bohrlöcher oder enge Schächte innerhalb der Talsperren usw. eingebaut werden« könnten. Der Nutzen für die Früherkennung von tektonischen und anderen Spannungen leuchte unmittelbar ein. Man habe sich bereits seit Herbst 1964 geraumer Zeit vergeblich bemüht, die Weiterentwicklung und den Bau einer Kleinserie in den DAW-Werkstätten zu platzieren. Doch die Forschungsgemeinschaft habe trotz positiver Signale aus der DAW die Finanzierung abgelehnt. Rompe habe, so Buchheim in dem Schreiben, »unter allerdings irrigen Voraussetzungen hierzu Stellung genommen«. Dessen Darlegung gehe »vollständig an der tatsächlichen Situation vorbei, wenn er schreibt: ›Diese Art von Arbeiten werden jedoch in erster Linie von Industrieinstituten bzw. -betrieben mit entsprechender Entwicklungskapazität durchgeführt. Aufgabe der Akademieeinrichtungen kann es nicht sein, sich auf die Produktion von Materialien und Geräten zu orientieren.‹« Leider, so Buchheim, sei es trotz zehnjährigen Bemühens nicht zum Bau eines Kleinserienbetriebes gekommen.1136 Rompes Schreiben an Buchheim datiert vom 2. Juni 1965.1137 Er war zu dieser Zeit Stellvertreter des Vorsitzenden für den Fachbereich Physik Nord. Hier schien Rompe etwas zu tun, was Weitblick vermissen ließ, jedoch ist die ganze Wahrheit eine andere: er musste erbarmungslos Prioritäten setzen. Die Kapazitäten der DDR waren an allen Ecken und Kanten einfach zu gering. Buchheim wies Lauter nachdrücklich darauf hin, dass das Vertikalpendelklinometer nicht nur für die Messung von rezenten Krustenbewegungen interessant sei, sondern beispielsweise auch für die Ingenieurgeophysik (Talsperrenbau). Es sei also »gezielte Grundlagenforschung« mit absehbaren Nutzungsmöglichkeiten. Ein volkswirtschaftlich-ökonomischer Nutzen sei erkennbar. Die Sowjetunion hingegen sei, so insistierte Buchheim, an der Sache interessiert. Buchheim legte diesem Schreiben fünf Gutachten und andere Papiere bei. Er hoffe wegen Lauters neu gewonnenen Einflusses bei der DAW in Sachen Geophysik, dass der den toten Punkt in der Sache zu überwinden in der 1135  Schüler von Werner Heisenberg, Max Born, Friedrich Hund und Gustav Hertz, langjährig mit Carl Friedrich von Weizsäcker befreundet; zu dessen Würdigung: Walzer, Uwe: Professor Wolfgang Buchheim, der Gründer der geophysikalischen Station Berggießhübel: Sein Werk und das Fortwirken seiner Gedanken. Vortrag auf dem Ehrenkolloquium zum 100. Geburtstag von Wolfgang Buchheim (1909–1995) am Institut für Geophysik der TU Bergakademie Freiberg im Rahmen der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft, in: www.geo.uni-jena.de/igwmedia/Fachbereiche/ Walzer/Präsentationen/buchheim_oo.pdf.; letzter Zugriff: 10.1.2020. 1136  Schreiben von Buchheim an Lauter vom 25.1.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 268, S. 1–3, hier 1. 1137  Vgl. Schreiben von Rompe an Buchheim vom 2.6.1965; ebd., S. 1 f.

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Lage sei.1138 Tatsächlich war und ist diese fachwissenschaftliche Thematik von hoher volkswirtschaftlicher, aber auch gesellschaftlicher Bedeutung.1139 Lauter legte mit Schreiben an Schmidt von der Auslandsabteilung der DAW vom 1. Februar u. a. Fakten zu »grundsätzlichen Fragen der multilateralen Zusammenarbeit der Akademien auf dem Gebiet der optischen Satellitenbeobachtung und in Erledigung der Vorgänge über die Überführung einer Satellitenkamera nach Sofia« dar. Das Schreiben zeigt seine Souveränität aber auch Eigenschaften, die ihn für höchste Ämter prädestinierten: klare, anweisende Sprache, bürokratisch gewandt, jedenfalls in diesem Fall, im Interesse der DDR-Sicherheitsdoktrin argumentierend: »Eine völlig unklare Situation scheint mir ferner bei der geplanten Veranstaltung der Satellitentagung im Herbst dieses Jahres in der DDR vorzuliegen. Obgleich es sich offensichtlich um eine Tagung der multilateralen Zusammenarbeit der Akademien der sozialistischen Länder handelt, ist die Einladung von Beobachtern aus einer Reihe von westlichen Ländern ohne Vorbehalt vorgesehen. Ich vertrete die Ansicht, dass die Arbeitsgruppe für multilaterale Zusammenarbeit damit ihren Charakter verliert und mehr zu einer COSPAR-Arbeitsgruppe wird. Ich habe einstweilen Herrn [A], dem Organisator dieser Tagung, untersagt, die Einladung an die nichtsozialistischen Länder herauszugeben. Gegebenenfalls könnte diese Einladung durch Frau Professor Massewitsch selbst ausgesprochen werden.«1140 Für die Einleitung des Berufungsverfahrens für Schmelovsky schrieb Lauter am 15. Februar an den Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock. Schmelovsky war zu diesem Zeitpunkt Abteilungsleiter für Probleme der Physik der Exosphäre. Er hatte sich »gleich nach den ersten Satellitenstarts der Physik der äußeren Atmosphäre« zugewandt. U. a. hatte er als erster »die hohen Plasmatemperaturen im Höhenbereich 500–1000 km während des Sonnenfleckenmaximums« nachgewiesen. Die Folgen für ihn kamen prompt und waren alles andere als typisch für die DDR. U. a. wurde er zum ordentlichen Mitglied der Arbeitsgruppen I (Radio-Tracking) und IV (Atmosphäre Composition) des ICSU-Spezialkomitees für Raumforschung gewählt. Sidney A.  Bowholl soll ihm bereits 1964 eine Gastprofessur an der Universität Illinois angetragen haben. Darüber hinaus, so Lauter, besitze Schmelovsky ein gerätebautechnisches Geschick. So habe er in Eigenentwicklung ein Tracking-Filter zur »Frequenznachführung bei der Doppler-Verschiebung der Satelliten-Signalfrequenzen« gebaut. Er verfüge also 1138  Schreiben von Buchheim an Lauter vom 25.1.1966; ebd., S. 1–3, hier 2 f. Zur Materie der rezenten Krustenbewegung, ihrer Bedeutung und Beachtung vgl. Jubitz, Karl-Bernhard: Rezente Krustenbewegungen, in: URANIA 31(1968)1, S. 44 f. 1139  Noch heute sind die eigentlichen Mechanismen der mitteltiefen Beben (bis 300 km Tiefe) nicht endgültig geklärt. Heute favorisiert man das Silikatmaterial Lawsonit, das in den oberen Bereichen der Subduktionszonen entsteht und mit den Lithosphärenplatten abwärts transportiert wird. Hierbei kommt es unter Zunahme des Druckes zu chemischen Umwandlungen, die beträchtliche Änderungen in den Volumina zeitigen. Die Plastizität des Lawsonit erfährt dabei eine Reduzierung, es kommt in der Folge zu Erdbeben. 1140  Schreiben von Lauter an Schmidt vom 1.2.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 242, S. 1–3, hier 2.

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über eine Doppelbegabung und halte zudem seit Jahren Vorlesungen an der Universität. Er empfahl ihn nachdrücklich für eine Professur, etwa für »Kosmische Physik«.1141 Ein Rückblick: Selbstverständlich waren Bau und Betrieb der Satelliten-Tracking-​ Anlage keine Selbstläufer. Also ging Lauter vorsichtig vor, ihm ging es zunächst nur darum zu prüfen, inwieweit mit geringem Kosteneinsatz die Anlage mit der von Schmelovsky entwickelten Neuerung der Frequenznachführung gebaut werden könne oder nicht. Immerhin, so hatte er es am 6. Juni 1963 formuliert, hätten die Messungen mit der Experimentalanlage zu »so raschen Fortschritten« geführt, »dass in kurzer Zeit sogar eine für das Routinebeobachtungsprogramm voll verwendungsfähige Tracking-Anlage [für Satelliten des Typs Transit – d. Verf.] geschaffen wurde«, die dann noch vor Beginn des IQSY-Programms »für einfache Dopplermessungen in Kombination mit Faradayfadingregistrierungen eingesetzt werden« konnte.1142 Zwar wurde in dieser Zeit die Raumforschung als solche – außerhalb kapazi­ tiver Ressourcenfragen – noch weitestgehend von Fachleuten bestimmt, doch rein formal  – also zustimmungstechnisch  – lag sie in den Händen des Stellvertreters des Staatssekretärs für Forschung und Technik (SFT) Fritz Hilbert. Eine dieser Fragen, die die Wissenschaftler stets nicht selbst entscheiden konnten, war die der Reisegenehmigung. Lauter bat Hilbert am 4. März 1966 wohlwollend zu prüfen, ob im Herbst ein Wissenschaftler zu einer fünf Wochen währenden Sommerschule in Toulouse mit etwa 30 Teilnehmern zu Raumforschungsthemen entsandt werden könne. Er halte es zwar »nicht für unumgänglich notwendig, dass wir dieser Einladung folgen« sollten, doch möchte er daran erinnern, dass dies wissenschaftspolitisch durchaus geboten sei; nicht zuletzt auch deshalb, weil Frankreich einen eigenen Weg in der Raumforschung – jenseits der Blockbildungen – gehe. Lauter: »Ich nehme an, dass Sie von der Sicht des SFT die Entscheidung über die Zweckmäßigkeit der Entsendung eines DDR-Wissenschaftlers – wir würden evtl. Dr. Schmelovsky benennen – besser fällen können.« Lauter insistierte zugleich, dass auch im Falle einer Absage »die Beantwortung der Einladung« bis Mitte März eingehalten werden müsse.1143 Das war insgesamt geschickt argumentiert, entstand doch auf diese Weise ein Druck auf Hilbert, möglichst positiv zu bescheiden. Fachliche Gründe allein hätten kaum Chancen gehabt. Wir wissen nicht, ob die Bitte positiv beschieden worden ist, jedoch hat es späterhin mindestens eine Reise nach Toulouse zu einer Raumfahrt-Tagung gegeben. Zu dieser aber reisten kaderpolitisch zuverlässige Mitarbeiter, nämlich Heinz Kautzleben (ZIPE), Ralf Joachim (IE) und Volker Kempe (ZKI). Schmelovsky war kein IM. Zusätzlich war das wissenschaftliche Auftreten der

1141  Schreiben von Lauter an den Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock vom 15.2.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 226, S. 1–3. 1142  Schreiben von Lauter an die Fachabt. Forschung des MHD vom 6.6.1963; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 273, 1 S. 1143  Schreiben von Lauter an Hilbert vom 4.3.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 363, 1 S.

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DDR-Wissenschaftler limitiert. Kautzleben sollte einen Vortrag über erste Erfahrungen in Auswertung der MKF-6-Aufnahmen halten.1144 Über den Tagungsbesuch existiert ein Sofortbericht von Kautzleben vom 12. März 1978. An der Tagung hatten circa 440 Teilnehmer aus 34 Ländern teilgenommen, das Raumfahrtzentrum Frankreichs in Toulouse konnte besichtigt werden. Die DDR hielt einen der 80  Beiträge: »First results of the experiment ›Raduga‹ für photographic remote sensing« (mindestens drei der Autoren waren inoffizielle Mitarbeiter: Kautzleben, Joachim und Marek). Das System MKF 6/MSP 4 wurde wie in der DDR üblich überschwänglich gelobt und man sah sich nahezu einzigartig: es werde »auch in nächster Zeit in keinem anderen Land« ein vergleichbares Gerät geben. »Der Vortrag hierzu und zu den damit erreichbaren Ergebnissen« hätten einen »großen Eindruck hinterlassen«.1145 Zurück zur Chronologie der Ereignisse: 1966 gehörten der NKGG-Fachgruppe »Ionosphäre und Kosmische Strahlung« 18 Wissenschaftler an. Ihr Vorsitzender war Lauter, Taubenheim war sein Stellvertreter und als Sekretär fungierte Robert Knuth alias IM »Stratosphäre«1146. Mitarbeiter waren u. a. Schmelovsky, Messerschmidt und Lucke. Allein Schmelovsky hatte nunmehr vier Mitgliedschaften in IAGA und dem COSPAR inne, fünf weitere Personen je eine Mitgliedschaft, Lauter jedoch mehr als alle zusammen. Die Arbeit der Gruppe war fachintensiv und wies ein imposantes Forschungs- und Tagungsprogramm auf. Die DDR-Mitglieder nahmen an 14 in- und ausländischen Tagungen vom Mai 1963 bis Oktober 1965 teil.1147 Das war der SED ein Dorn im Auge. Vehement versuchte sie, diese Tendenz zur Aufnahme in internationale Funktionen zu begrenzen. Auf der Sitzung der NKGG-Fachgruppe »Ionosphäre und Kosmische Strahlung« am 5. April 1966 in Berlin-Adlershof wurde dementsprechend eine »neue Vorlage des Präsidiums« der DAW »über die Aufgaben, Rechte und Pflichten des NKGG« auf den Weg gebracht. Im Protokoll vom 28. April ist vermerkt worden, »dass jeder Kollege, der in ein internationales Gremium gewählt« werde, »sich in dieser Funktion durch die zuständigen Organe des NKGG und der DAW bestätigen lassen« müsse.1148 Damit war die sicherheitspolitische Selektion gesichert. War ein junger Wissenschaftler »nur« fachlich gut, reichte dies für eine Karriere meist nicht aus. Herausragende Wissenschaftler wie Schmelovsky schafften es hin und wieder, aber so gut wie nie ohne Blessuren. Lauter informierte mit einem dienstlichen Schreiben an die DAW-Spitze vom 29. April über diesen Fall. Er erhoffte sich eine Unterstützung. Das Schreiben lief über Hans Frühauf und Robert Rompe. 1144  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 22.2.1978: Bericht von »Laser« am 21.2.1978; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2059/80, Teil II, 1 Bd., Bl. 185. 1145 Kautzleben, Heinz: Sofortbericht über den Tagungsbesuch vom 6.–10.3.1978; ebd., Bl. 196–200, hier 197. 1146  Zu Knuth: BStU, MfS, AIM 8365/87 u. MfS, HA XVIII, AP 45767/92. 1147  Vgl. Tätigkeitsbericht der NKGG-Fachgruppe »Ionosphäre und Kosmische Strahlung« für die Jahre 1963 bis 1965 vom 19.4.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 335, S. 1–5. 1148  Protokoll vom 28.4.1966 zur Sitzung der NKGG-Fachgruppe »Ionosphäre und Kosmische Strahlung« am 5.4.1966 in Berlin-Adlershof; ebd., S. 1–5, hier 2.

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Lauter hatte zuvor mit dem Leiter des HHI, Mollwo, und anderen gesprochen. Mithin waren also hochrangige, erste Männer der DDR-Wissenschaften involviert. Der Tenor des Schreibens lautete dahingehend, dass der betreffende Wissenschaftler zwar fachlich gut sei, sich aber als ein »starker Individualist entwickelt« habe, was auf Kritik stoße. Angeblich, so Lauters Intention, soll es laut Aussage seines Institutsdirektors (der dem MfS nahestand) für ihn »keine fachlichen und kaderpolitischen Voraussetzungen« mehr gegeben haben. Sein Spezialgebiet war die Technik parametrischer Verstärker. Ein Gebiet, das man schwerlich als nicht geeignet »für Zwecke der Raumforschung bzw. der kosmischen Nachrichtenverbindung« einschätzen kann.1149 Zum weiteren Verlauf siehe unten. Lauter teilte Hilbert am 17. Juni mit, dass er »entsprechend den früheren Absprachen auf der IX. Vollversammlung des COSPAR vom sowjetischen Delegationsleiter und Vizepräsidenten des COSPAR, Anatoli A. Blagonrarow, für die Mitgliedschaft im Büro des COSPAR vorgeschlagen und von der Vollversammlung bestätigt worden« sei. Er nehme diese Mitteilung zum Anlass, Hilbert darauf hinzuweisen, »dass die zuständigen sowjetischen Kollegen auf der Tagung in Wien sehr ernsthaft auf einen baldigen Entscheid über die Mitarbeit der DDR am sowjetischen Raumforschungsprogramm gedrängt haben. Ich darf Sie informieren, dass die Volksrepublik Polen ihre Vorschläge bereits abgegeben hat, und dass in der ČSSR die Vorbereitungen für diese Mitarbeit ebenfalls weit gediehen sind. Es scheint mir wichtig, den sowjetischen Kollegen baldmöglichst einen Bescheid zukommen zu lassen, auch wenn dieser im Wesentlichen negativ ausfallen sollte.«1150 Dies ist ein Schlüsseldokument, zeigt es doch zu diesem Zeitpunkt bereits die lavierende und in summa destruktive Politik der SED, die in Wirklichkeit auf Abgrenzung bedacht war. Internationale Zusammenarbeit war ihr suspekt. Es ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, dass beide Länder, die ČSSR und Polen, zwölf Jahre später mit Vladimir Remek (Salut 6, 2. bis 10. März 1978) und Miroslaw Hermaszewski (Salut 6, 27. Juni bis 5. Juli 1978) noch vor Sigmund Jähn (Salut 6, 28. August bis 3. September 1978) die ersten Inter-Kosmonauten der Sowjetunion stellen durften. Lauter bat am 17. Juni die Abteilung Wissenschaften des ZK der SED, den Rückzug der DDR von Antarktisexpeditionen zu überdenken. Die Basis bildete der vom SFT und Rompe der Akademieleitung »dringlichst« gegebene Hinweis, »dass wissenschaftliche Auslandsvorhaben der DDR nur noch dann von Interesse seien, wenn ein praktischer Nutzen« nachgewiesen werden könne. Lauter entgegnete, dass die seit 1959 beschickten Antarktisexpeditionen reiche wissenschaftliche Ernte eingebracht hätten, etwa im internationalen Rahmen zu den Geophysikalischen Jahren 1149  Schreiben von Lauter an Flemming vom 29.4.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 258, S. 1 f. 1150  Schreiben von Lauter an Hilbert vom 17.6.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 363, 1 S; Dank an Böhme zur Wahl: Schreiben von Lauter an den Direktor des MD vom 6.6.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 284, S. 1; Dank an Huth zur Wahl: Schreiben von Lauter an Huth vom 6.6.1966: Zur Wahl Lauters zum Mitglied des COSPAR-Büros; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 32, S. 1 f.

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und den Jahren der Ruhigen Sonne. »Diese neuen Auf‌fassungen«, so Lauter, hätten nun dazu geführt, »dass die gesamte Arbeit des Nationalkomitees« für Geodäsie und Geophysik »neu überdacht« werden müsse, »wobei zeitweise sogar die Struktur des Komitees gefährdet« scheine. Das Komitee habe sich nunmehr den Auf‌fassungen gebeugt und »sämtliche Auslandsvorhaben einstweilen zurückgestellt«. Und: »Eingestellt wurde in völliger Übereinstimmung mit der Sowjetunion auch die Beteiligung an Messfahrten mit sowjetischen Forschungsschiffen.« Lauter verwies auf »eine ganze Reihe von Angeboten zur Mitarbeit an wissenschaftlichen Projekten« der Sowjetunion.1151 Die Verknappung der Mittel bekam vor dem Hintergrund der anstehenden teuren Interkosmosbeteiligung der DDR eine pikante Note. Lauter gab im Juni ein Interview zur Frage der »Bedeutung des Einsatzes von Raketen und Satelliten als Messträger«. Er führte aus, dass sich die Mitarbeit der DDR auf physikalische Vorgänge in der Hochatmosphäre und im erdnahen interplanetaren Raum beziehe, Gebiete, die von Belang seien beim Langstreckenflugverkehr, Weltfunkverkehr und generell bei Satelliteneinsätzen zu mannigfaltigen Zwecken. Bereits vor der Raketen- und Satellitenära habe die DDR mit bodengebundenen Messungen eine vielfältige Forschungspalette vorzuweisen gehabt; Lauter: »Damit war schon früher eine laufende Überwachung der aus dem interplanetaren Raum und von der Sonne aus in die obere Atmosphäre eindringenden Einflüsse möglich«. Die multiplen Messmethoden hätten aber nicht an Bedeutung verloren, sondern nachgerade gewonnen. Er betonte die Zusammenarbeit der DDR-Institute »mit benachbarten Ländern für einzelne geophysikalische Disziplinen«, die permanent über die Bodenstationen erfolgen würden. Daraus entsprängen ansehnliche Beiträge. Speziell über das OIF führte er aus, dass am Observatorium insbesondere die funktechnische Entwicklung zur Informationsverarbeitung vorangetrieben werde: »Wir werden ein Hauptaugenmerk darauf richten, die Vergleiche zwischen den direkten Messmethoden mit Raketen und unseren bodengebundenen Methoden weiter durchzuführen und werden dies insbesondere im Rahmen unserer Forschungsrichtungen zur Physik der Hochatmosphäre tun.« Und: »Die internationale Mitarbeit wird sich in allen geophysikalischen Disziplinen von der Meteorologie über die Ionos­phärenforschung bis zur Satelliten-Geodäsie weiter stark entwickeln.«1152 Lauter hob die internationale Zusammenarbeit hervor und kein Wort erinnerte daran, dass er ein Vertreter eines sozialistischen Staates war. Am 15. Juli hatte er in gewohnt sachlich-nüchternem Stil um Reisebestätigung zur Sitzung des COSPAR-Büros am 18. Oktober in Paris nachgesucht. In dem Schreiben an Hilbert ging er implizit auf einen an ihn gerichteten Vorwurf nach unabgestimmter Publikation ein, ein Interview, das er dem Neuen Deutschland gegeben hatte. Lauter: »Ich darf Ihnen ausdrücklich versichern, dass die Grundzüge dieses Interviews unmittelbar nach 1151  Schreiben von Lauter an Döring vom 17.6.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 244, S. 1 f. 1152  Lauter: Bedeutung des Einsatzes von Raketen und Satelliten als Messträger, Juni 1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 107, S. 1–3.

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der COSPAR-Tagung in Wien festgelegt wurden und die Mitteilungen nur Ergebnisse aus den von uns vorgelegten DDR-Landesberichten 1965/66 enthielten.« Die Tagung fand vom 9. bis 18. Mai statt.1153 Für das MfS wird später feststehen, dass Lauter bewusst Informationen geheim zu haltender Art dem Westen lieferte. Die Restriktionen gegen die an sich unpolitischen Naturwissenschaften nahmen allmählich zu. Ein Mittel der SED zur Regulierung der Kommunikation mit dem Westen bestand darin, die haushalterischen Instanzen zu zentralisieren und zu bürokratisieren sowie die finanziellen Mittel zu begrenzen und zu kanalisieren. Das Instrument, Entscheidungswege zu verlängern durch bürokratische Entund Bescheiderstellen gehörte ebenso dazu. Lauter teilte am 26. Juli Generalmajor Heinz Huth, der in diesem Jahr zum stellvertretenden Minister des Innern der DDR ernannt worden war, mit, dass es nach der Neustrukturierung des NKGG »in Zukunft nicht mehr möglich« sein werde, »Mitarbeiter aus dem Bereich des Meteorologischen Dienstes zu Symposien und Informations- und Arbeitsreisen, die einer internationalen Problemstellung unterliegen, auf Kosten des NKGG zu entsenden«. Die Mittel kämen von nun an von der zuständigen Haushaltsorganisation. Er wies Huth darauf hin, dass die Gesamtzahl der Teilnehmer an internationalen Kongressen vom SFT genehmigt werde. Der Devisenbetrag sei nicht mehr bei der DAW verfügbar. Er bat Huth, dass er alles tun möge, dass der Meteorologische Dienst und auch das Vermessungswesen entsprechend der in der Vergangenheit geleisteten wesentlichen Beiträge auch weiterhin an Tagungen werden teilnehmen können.1154 Ein Schreiben Lauters an Gerhard Fanselau vom 8. August zeigt, wie problema­ tisch Lauters Kommunikationsstil gewesen sein mag. Gegenstand des Schreibens war die Westreiseproblematik. Fanselau hatte im Protokoll über die Sitzung der Unterkommission »Allgemeine Geophysik« vermerkt, »dass«, laut Wiedergabe Lauters, »durch die gegenwärtigen Reisebestimmungen die schnelle und umfassende Information über außerhalb der DDR laufende wichtige Forschungsarbeiten wesentlich beeinträchtigt« werde. Lauter hatte dies nie anders für seine Belange formuliert, doch jemand anderes, gleich in welcher Position, durfte dies nicht. So auch in dem Fall dieses Wissenschaftlers, der in Augenhöhe mit ihm stand; Lauter: »Ich habe in der Aussprache mit Ihnen persönlich bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass auf dem Gebiet der Geophysik eine sehr umfangreiche Reisetätigkeit seitens der Forschungsgemeinschaft und seitens des NKGG betrieben wird.« Und weiter: »Sie selbst, sehr verehrter Herr Kollege, können das an Ihren Reisevorhaben ausführlich überprüfen.«1155 Das Antwortschreiben Fanselaus (im Nachlass nicht enthalten), dürfte deutlich gewesen sein. Wohl mit Unterstützung Kautzlebens muss Fanselau Belege beigebracht haben, die Lauter milder gestimmt haben mochten. Er bat um 1153  Schreiben von Lauter an Hilbert vom 15.7.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 363, 1 S. 1154  Schreiben von Lauter an Huth vom 26.7.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 335, S. 1 f. 1155  Schreiben von Lauter an Fanselau vom 8.8.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 261, S. 1 f.

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weitere konkrete Unterlegungen. Der Schlusssatz mag anzeigen, dass Fanselau den richtigen Ton getroffen haben mag; Lauter: »Ich möchte Ihnen auch von meiner Sicht aus sagen, dass ich die persönlichen Formulierungen sehr gern zur Kenntnis genommen habe und Sie hierbei ebenso bitte, mir weiterhin Ihre Hilfe bei der Lösung der mir obliegenden Aufgaben zu gewähren.«1156 Der Leiter der HA XVIII, Rudi Mittig, bat mit Schreiben vom 23. August die Abteilung XVIII der BV Potsdam hinsichtlich der Teilnahme von Viktor Kroitzsch alias IM »Geos« an der URSI-Tagung vom 5. bis 15. September in München um Amtshilfe für die Abteilung 5 der HA XVIII zur Kontrolle von Lauter: »Zu welchen Personen aus Westdeutschland oder anderen kapitalistischen Ländern besteht Verbindung? Welche Hinweise auf die Mitarbeit der DDR in der Raumforschung werden bekannt gegeben? Verhalten in politischen Fragen?«1157 Lauter war Leiter der neun Personen umfassenden DDR-Delegation. Kroitzsch berichtete, dass Lauter bekanntgegeben habe, dass sich die DDR nicht am (gesamtdeutschen) Landesbericht Westdeutschlands beteiligen werde, entsprechend habe er die Delegaten instruiert. Laut Kroitzsch habe aber dieser Landesbericht »im weiten Umfang Arbeiten« enthalten, »die in unserer Republik ausgeführt worden« seien. Im Gespräch mit dem westdeutschen Sekretär der URSI habe er erfahren, dass die westdeutsche Seite sehr erstaunt gewesen sei, dass sich die DDR nicht beteilige. Kroitzsch insistierte, dass Lauter nur zum Scheine die Nichtbeteiligung proklamiert habe, de facto aber Materia­lien geliefert habe. Kroitzsch berichtete auch zu den Namensschildern, die die Delegaten trugen: »Diese Teilnehmerschilder sind immer recht interessant, weil uns ja in diesem Fall sehr viel daran lag, getrennt von der westdeutschen Delegation oder von den eingeladenen Delegationen zu erscheinen. Im Teilnehmerverzeichnis war das ordnungsgemäß getrennt. Wir waren ja alle als Gäste des Präsidenten eingeladen worden, durch den Präsidenten selbst bzw. den Generalsekretär. Wir standen unter einer Rubrik, die als Gäste des Präsidenten geführt war. Der Veranstalter – der westdeutsche Landesausschuss also  – hat dabei einen sehr geschickten Trick gemacht. Er hat für die Gäste, die er selbst berechtigt ist einzuladen – also die westdeutschen Gäste – und für die Gäste des Präsidenten die gleiche Kennfarbe gewählt, sodass wir von der Kennfarbe her nicht zu unterscheiden waren von den Gästen, die der westdeutsche Landesausschuss eingeladen hat, also von den westdeutschen Teilnehmern selbst.« Ferner habe er die internationale Autoabkürzung »D« für die Landeskennung verwandt. Lauter habe dieses Schildchen nicht getragen. Auch habe er im Falle von Einladungen kein Verbot ausgesprochen, sich außerhalb Münchens zu bewegen. Er bat lediglich um Information in solchen Fällen.1158

1156  Schreiben von Lauter an Fanselau vom 17.8.1966; ebd., 1 S. 1157 HA VIII/5/3 an die BV Potsdam, Abt.  XVIII, vom 23.8.1966: URSI-Tagung vom 5.–15.9.1966; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 50 f., hier 51. 1158 BV Potsdam, Abt.  XVIII/2, vom 10.10.1966: URSI-Tagung vom 5.–15.9.1966; ebd., Bl. 52–68, hier 54–58.

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Der Bericht fiel mit 17 Seiten umfangreich aus, zumal Kroitzsch noch einen fünfseitigen Ergänzungsbericht ablieferte. Das MfS stellte fest, dass Lauter beschattet worden sei. Auch sei »in seinem Postfach ein Telegramm gefunden« worden. »Der Inhalt lautete etwa sinngemäß, ›Sind mit Analyse … (es folgte eine Zahlenkolonne) einverstanden‹«. Lauter habe gemeint, dass das Schreiben vom Verfassungsschutz stamme, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Er soll die Annahme des Telegramms »angeblich« verweigert haben.1159 Die HA II schätzte ein, dass diese Methode so bisher noch nicht beobachtet worden sei. Lauter habe möglicherweise eine Abdeckungsvariante gewählt oder nur partiell berichtet.1160 Am 20. September erteilte der Generalsekretär der DAW, Günther Rienäcker, Lauter einen Rüffel. Es ging um die Verfassung einer Direktive für die beabsichtigte Teilnahme an einer COSPAR-Tagung in Paris, die Lauter in gewohnt fachlicher Selbstbestimmung geschrieben hatte. Rienäcker: »In den Materialien des COSPAR und des ICSU werden Sie als Vertreter der DDR in COSPAR-Angelegenheiten geführt, womit auch diesen internationalen Gremien klar sein dürfte, dass Sie Ihre Erklärungen in Abstimmung und in Übereinstimmung mit Organen der DDR abgeben. Ohne Zweifel besteht gerade hierin der Wert der Funktion nationaler Vertreter. Die Notwendigkeit, für die Teilnahme in internationalen Gremien Direktiven zu erteilen, ist sachlich begründet und in entsprechenden staatlichen Weisungen eindeutig und unabdingbar festgelegt. Gerade weil von Ihnen eine hohe Funktion in einem internationalen Gremium ausgeübt wird, ist eine Konzeption und Abstimmung Ihres Auftretens erforderlich. Ich selbst würde in einer ähnlichen Situation darin keine Bevormundung, sondern eine wesentliche Hilfe sehen und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen als Staatsbürger und Genosse mit selbstverständlicher Disziplin nachkommen. Es ist dabei unwesentlich, ob die Ausarbeitung Direktive, Aufgabenstellung oder Konzeption genannt wird.« Der gesamte Text ist eine einzige politische Belehrung. Es folgten noch Hinweise zum politischen Term der Direktiven, der zwingend vorgeschrieben war. Ferner der Hinweis, dass es üblich sei, hochrangigen Wissenschaftlern (»Bei Persönlichkeiten mit sehr hohem fachlichen Überblick und auch sehr hoher politischer Erfahrung wählen wir normalerweise den Weg, dass die betreffenden Persönlichkeiten selbst eine fachliche und politische Konzeption erarbeiten, die dann abgestimmt und entweder ergänzt oder ohne Ergänzung bestätigt wird.«) die Direktiven selbst schreiben zu lassen, den anderen würden sie geschrieben werden. Rienäckers »Stellung als Generalsekretär« der DAW »und meine aus Paragraf 27 des Statuts der DAW herrührenden Rechte und Pflichten gestatten mir, unsere Vertreter in internationalen Gremien durch Direktiven zu verpflichten.« Lauter aber habe lediglich eine Aufgabenstellung eingereicht, die den Anforderungen absolut nicht genüge. Die im Schreiben Lauters

1159  Ohne Kopfteil, am Ende des Berichtes: An HA II vom 25.2.1967, unleserliche Paraphe, Text maschinenschriftlich; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 6 f., hier 6. 1160  Vgl. HA XVIII/5/1 vom 29.3.1967: Aktennotiz; ebd., Bl. 8.

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vom 5. September gegebene »negative Einschätzung verantwortlicher Mitarbeiter« des MfAA könne er »nicht billigen«. Er bitte um Neueinreichung des Papiers.1161 Am 18. November fand eine Besprechung zwischen Vertretern der Deutschen Astronautischen Gesellschaft (DAG) und Lauter statt. Seitens der DAG waren Johannes Hoppe und Herbert Pfaffe anwesend. Das Grundthema bestand in der ungenügenden wissenschaftlichen Tätigkeit der DAG, die damals 120 Mitglieder zählte. »Es wurde einmütig festgestellt, dass die gegenwärtigen Aufgaben der Gesellschaft außerordentlich unbefriedigend sind und nicht einer Gesellschaft entsprechen, die der Akademie angeschlossen ist.« Gegenwärtig befasse sie sich, so die Teilnehmer uni sono, hauptsächlich in Zusammenarbeit mit der URANIA mit populärwissenschaftlichen Aufgaben. Das sei zwar in Ordnung, reiche aber nicht hin. Die DAG sei angehalten, eine »Informationssammlung über Raumflugprojekte systematisch durchzuführen«. – Dabei stand sie so völlig schlecht auch nicht da, denn mit dem Typenbuch der Raumflugkörper 1957–1964, das 1964 erschien, war ein informatives Werk sogar öffentlich greifbar. Auch der zweite Band, die Jahre 1964 bis 1966 umfassend, stand kurz vor der Drucklegung. Die Materialbasis für diese beiden Bücher war immens, die publizierten Daten enorm, später gab es ein solch objektives Werk für die Raumfahrtinteressierten nie mehr. Eine zweite Forderung der versammelten Runde bezog sich auf Informationssammlungen für die Industrie. Künftig wird Lauter von einer »Vorwärtsinformation« sprechen, die nötig sei für geophysikalische und geodätische Experimente und darüber hinaus für innovative Ideen der Industrie. Ein Begriff, der wenig später vom MfS heftig beargwöhnt werden sollte. – Die Informationssammlung wollte man universell angehen, beispielsweise über die Sammlung technischer Informationen zum Energieversorgungsproblem für Raketen und Satelliten. Genannt wurde das Thema der Brennstoffzellen für Raumflugkörper.1162 Lauter machte im Dezember deutlich, dass er eine reine, technische Inanspruchnahme etwa für Satellitendienste seines OIF nicht billige. Es ging in der Sache um ein Unterstützungsersuchen für die Errichtung einer Wettersatellitenempfangsanlage. In einem Schreiben vom 7. Dezember teilte er dem Leiter der Fachabteilung Forschung des Meteorologischen Dienstes mit, dass er mit seinem Hause hierfür nicht infrage komme, da »diese Arbeiten nicht in den Bereich der unmittelbaren Aufgaben des Observatoriums Kühlungsborn fallen« würden, »sondern – wie auch bisher schon praktiziert – durch eine am OIF als Vorbereitung des DDR-Raumforschungsprogramms bestehende Arbeitsgruppe unter Herrn Professor Schmelovsky durchgeführt worden sind«. Da aber Schmelovsky aus dem Meteorologischen Dienst Anfang 1967 ausscheiden werde, sehe er »keine Möglichkeiten«, die gewünschten Aufgaben nun ganz zu übernehmen. Lauter empfahl, sich an das SFT zu wenden. 1161  Schreiben von Rienäcker an Lauter vom 20.9.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 242, S. 1–3. 1162  Vgl. Aktennotiz vom 6.12.1966 über eine Besprechung von Vertretern der DAG und Lauter am 18.11.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 395, 1 S.

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Überdies müsse darüber nachgedacht werden, inwiefern – durch das Ausscheiden Schmelovskys bedingt – »einige Forschungsthemen an künftige Einrichtungen im Bereich der solar-terrestrischen Physik bei der DAW zu überführen bzw. mit dort bestehenden Themen« verknüpft werden könnten.1163 Ihm ging es um die Stärkung des Forschungsstandortes Kühlungsborn. Die globale datenerfassende Observation auch aus dem Orbit heraus nahm in jener Zeit schlagartig zu. Hauptgebiete entstammten den nachrichtentechnischen, geodätischen und meteorologischen Disziplinen. Alfred Zappe informierte am 29. Dezember über den Aufbau eines geodätischen Weltsystems auf Basis von Satel­ liten. Anlass hierzu gab der Start des amerikanischen Satelliten PAGEOS (Passive Geodetic Satellite). Es handelte sich hierbei um einen im Durchmesser von 30 Meter aus Mylar gefertigten Ballonsatelliten, der am 24. Juni gestartet worden war und bis 1975 mit bloßem Auge von der Erde aus gesehen werden konnte. Das komplette Satellitenweltnetz ist 1973 fertiggestellt worden. Zappe wusste zu berichten, dass das System aus 41 Stationen bestand, »die über die ganze Erde verteilt« waren. Die Amerikaner hätten mit den betreffenden Ländern Vereinbarungen zur Installation getroffen, die Stationen lagen in Wüstengebieten, auf unbewohnten Inseln, in der Antarktis und der Arktis etc. Zwölf Spezialtrupps waren zur Beobachtung eingesetzt, davon acht des Cost Geodätic Service und vier des Army Map Service. Ein Trupp bestehe aus vier bis acht Mann, die jeweils 6 bis 18 Monate an einer Station tätig seien. In drei bis vier Jahren werde man mit der Beobachtung fertig sein. Ziel sei, so entnahm Zappe dies der Zeitschrift Photogrammetric Engineering, die Schaffung eines einheitlichen Koordinierungssystems für die gesamte Erde. Zappe verwies darauf, dass das System mit dem Gebiet der Sowjetunion eine große geografische Lücke aufweise. Vonseiten westlicher Forscher hoffe man, diese über die IUGG schließen zu können. Und zur Rolle der DDR kam er zu einem Urteil, das in wenigen Jahren zum Kardinalvorwurf gegen Lauters internationale Kooperation reifen sollte: »Bei unseren Wissenschaftlern ist es scheinbar sehr schwer, eine konsequente Einstellung in dieser Frage zu beziehen. Man muss einschätzen, dass immer wieder der Versuch gemacht wird, die Zusammenarbeit bei solchen weltumspannenden Arbeiten zwischen den sozialistischen Ländern und den kapitalistischen Ländern über Potsdam zu fördern und zusammen zu bringen. Die Entscheidung für die eine oder andere Seite fällt doch zurzeit noch sehr schwer.«1164 1967 geriet das Heinrich-Hertz-Institut (HHI) in einen Umbruch. Hermann Klare erwähnte in einem Schreiben vom 23. Februar 1967 an Staatssekretär Herbert Weiz ein Kollegiumsgespräch am Vortag, an dem Weiz und auch dessen Stellvertreter Hilbert teilgenommen hatten. Eine Sitzung, auf der die Neuordnung »auf dem Gebiet der Astronomie beraten und verabschiedet worden« war. Mit diesem 1163  Schreiben von Lauter an Peters vom 7.12.1966; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 283, S. 1 f. 1164  Information von »Heinz Ludwig« vom 29.12.1966; BStU, MfS, AIM  7783/71, Teil  II, Bd. 1, Bl. 9 f.

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Schreiben bat Klare nun um die Zustimmung zur Bildung des HHI für solarterres­trische Physik und des Instituts für Sternphysik. Beide Maßnahmen entsprächen dem aktuellen Gebot der Konzentration.1165 Demnach sollte das HHI aus den bisherigen Arbeitsgruppen für Schwingungsforschung einbezüglich der Radio-Astronomie sowie der Abteilung Sonnenphysik des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam gebildet werden. Die Abteilung Festkörperphysik und die Arbeitsgruppen Plasma des HHI würden in das PTI eingegliedert werden. Das neue Institut hieß von nun Heinrich-Hertz-Institut für solar-terrestrische Physik. Die Gesamtleitung erhielt Lauter. Direktoren waren Ludwig Mollwo und Johannes Hoppe1166. Der Bereich Radio-Astronomie wurde von Herbert Daene, der Bereich Aeronomische Messelektronik von Karl-Heinz Schmelovsky, der Bereich Physik der hohen Atmosphäre und der Ionosphäre von Lauter, sowie die Abteilung Sonnenphysik und interplanetare Materie (Observatorium Einstein-Turm) von Friedrich W. Jäger geleitet. Das Institut für Sternphysik am Hauptstandort Potsdam entstand durch Zusammenlegung des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam (ohne die Sonnen- und Kometenphysik) mit der Sternwarte Sonneberg (zugehörig zum ZIAP der DAW) unter Johann Wempe (Stellvertreter waren Gerhard Ruben für den Bereich Potsdam und Gerhard Jackisch für den Bereich Sonneberg).1167 Indes vollzog sich im Januar die erste deutliche Abriegelung des OIF Warne­münde von der Öffentlichkeit. Mit Schreiben vom 21. Januar bestimmte der Direktor des Meteorologischen Dienstes, Böhme, dass für die Besichtigung der Dienststelle die Genehmigungspflicht »in jedem Einzelfall« durch ihn selbst erfolge. Die Anträge auf Besichtigung waren »mindestens« vier Wochen vor dem gewünschten Besuchstermin einzureichen.1168 Das war die Zeitspanne, die das MfS zur Recherche benötigte. Das wusste natürlich keiner explizit. Aus einer Notiz zu einer Besprechung am 15. März geht hervor, dass bezüglich des HHI ein »Bestätigungsschreiben für die Strukturveränderung im HHI« vom SFT vorlag.1169 In diesem Monat begann die erste Amtszeit Lauters als Leiter des HHI, sie währte bis April 1970. Der Vorschlag zur Neustrukturierung des HHI umfasste die Bereiche Festkörper-Elektronik, Technik (elektronische Geräte), Plasmaphysik und Wellenaus1165  Schreiben von Klare an Weiz vom 23.2.1967; ArchBBAW, HHI, Nr. 15, S. 1; Anhang: Zur Sitzung des Kollegiums beim Vorsitzenden der FG am 22.2.1967: Vorschlag zur Neuordnung der Arbeit auf dem Gebiet der Astronomie; ebd., S. 1–3. 1166  Zur Sitzung des Kollegiums; ebd., S. 1–3, hier 2 f. Zu Hoppe (1907–1987). Er besuchte 1921–1930 das humanistische Gymnasium in Neiße. Studierte Astronomie, Meteorologie, Physik und Mathematik. Promotion 1936. Wissenschaftliche Anstellungen im Bereich der Astronomie und Meteorologie zumeist in Jena und Berlin. Ab Oktober 1946 Spezialist in der Sowjetunion, zurück 1952. Präsident der DAG. Quellenhinweis: Kreisverwaltung Jena vom 23.8.1955: Ermittlungsbericht; BStU, MfS, BV Gera, AP 1271/65, Bl. 5 f. 1167 Vgl. Zur Sitzung des Kollegiums ArchBBAW, HHI, Nr. 15, S. 1–3. Die Bezeichnung wechselte bereits 1968: ZISTP. 1168  Dienstanweisung Nr. 2/63 des Direktors des MD vom 21.1.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 284, 1 S. 1169  Notiz einer Besprechung am 15.3.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 259, S. 1 u. 3.

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breitung. Die Elektronik erhielt einen bestimmenden Platz im Gesamtgefüge des Hauses, zumal elektronische Aufgaben auch in den Bereichen Plasmaphysik und vor allem Wellenausbreitung bearbeitet wurden. Von dem vom Strukturvorschlag betroffenen Personal arbeiteten in den mit Elektronik direkt befassten Bereichen Festkörper-Elektronik und Technik 21 Wissenschaftler sowie zusammen mit Ingenieuren, Assistenten und Technikern 46 Mitarbeiter. Der Bereich Technik (außer der Akustik) bestand aus drei Arbeitsgruppen und dem Einzelkämpfer Hermann Meinel. Die Personalstärke zusammen mit den Bereichen Plasmaphysik und Wellenausbreitung betrug 43 Wissenschaftler, zusammen mit Ingenieuren, Assistenten und Technikern 100 Mitarbeiter. Die Elektronenphysik als auch die angewandte Elek­ tronik erhielten einen deutlich höheren, nämlich selbstständigen Bedeutungsrahmen. Festzustellen ist, dass Hans-Joachim Fischer die Arbeitsgruppe Elektronische Geräte leitete, die nicht im HHI untergebracht war, sondern außerhalb, nämlich im Haus Kristalloptik. Das war typisch für Fischers militärnahe Betätigungen.1170

Exkurs 12: Geigen und Grundlagenforschung: Meinel Das Problem »Meinel« zeigt in mikroskopischer Schärfe den grundsätzlichen defizitären Charakter der Wissenschaftspolitik der DDR, ein Defizit, das mit der bevorstehenden Akademiereform noch an Ausprägung gewinnen sollte. Für die SED-Funktionäre stellte Hermann Meinels Fachgebiet in Zeiten äußerster Geldknappheit einen Luxus dar. Er bearbeitete ein scheinbar unbedeutendes Thema am HHI: Die Knotenlinien auf Geigen. Zunächst war es, physikalisch betrachtet, ein Problem, das an einem Institut mit der Tradition der Schwingungsforschung zu Recht angesiedelt war. Allerdings befand sich zu dieser Zeit die Schwingungsforschung wegen der Umprofilierung auf Elektronik und Raumforschung auf dem absteigenden Ast ihrer Entwicklung. Aber Meinel wollte seine Forschungen – nicht zuletzt altersbedingt – beenden und nicht kurz vor Toresschluss abbrechen. Meinel hatte am 4. Februar ein Schreiben an Institutsdirektor Mollwo verfasst, mit Durchschlag an Lauter. Es ist eine eindringliche Bitte, ihm diese letzte Aufgabe in seinem Arbeitsleben nicht wegzunehmen. Er schrieb: »Nach Zerschlagung meiner experimentellen Geigenforschung in Markneukirchen stand ich vorerst vor dem Nichts«. Trotz erheblichen Mangels an Unterstützung hatte Meinel in der Vergangenheit Forschungsfortschritte erreicht. Seine physikalischen Ergebnisse wurden handwerklich umgesetzt und ließen Geigen anerkannt hoher Klang­ qualität entstehen, die von internationalen Spitzenvirtuosen begehrt waren. 1966 sah er sich mit seinen Forschungsexperimenten zu den Knotenlinien an der Weltspitze. Eine Arbeit, die vor ihm seit 250 Jahren stagnierte. Was noch übrig blieb 1170  Vgl. Vorschlag zur Neustrukturierung des HHI; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 309, S. 1–4.

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zu tun, war die schlussendliche Publikation aller aktuellen Forschungsergebnisse in sechs Arbeiten, die er in den ihm verbleibenden zwei Jahren Berufstätigkeit noch zu leisten gedachte, und zwar: »Über Schnittpunkte von Knotenlinien auf Platten«, »Über Knotenlinien auf Geigen«, »Über die physikalischen Grundlagen der neuen Geigenbauweise«, »Quartette der neuen Streichinstrumenten-Bauweise in ihren physikalisch-musikalischen Eigenschaften« und »Weitgehende Lösung des Bratschenproblems«, »Physikalische Grundlagen von Geigen hervorragender Klangqualität mit gepressten Decken und Böden«.1171 Doch die Logik seines Faches konnte nicht von Köpfen verstanden werden, die in größeren Dimensionen, großen Zahlen und politischen Schlagworten mit hoher Umschlagsquote dachten. Ein übrigens inhärent mit der fehlenden Achtung gegenüber der Grundlagenforschung einhergehendes Problem der SED. Etwa wenn Meinel Mollwo zu überzeugen versuchte, dass es Sinn mache, alte Klanginstrumente physikalisch-handwerklich wieder zum Spielen zu bringen: »Vom Ergebnis der zugesagten Beratung im Ministerium für Kultur«, so Meinel, »hängt es ab, ob ein Angriff auf das klassische Streichquartett erfolgt, d. h., ob Konstruktion und Bau zweier seit der Zeit Bachs vergessener Streichinstrumente auf neuzeitlicher wissenschaftlich-technischer Grundlage durchgeführt wird. Der Zeitaufwand dafür wäre unter Benützung des Woltersdorfer Labors und meiner Erfahrungen gering und betrüge nur mehrere Wochen. Ohne finanzielle Belastung des HHI.« Er verwies aber auch auf einen sozialen Aspekt, der in Zeiten knapper Staatskassen gewöhnlich wegzubrechen droht: »Beseitigt wird« mit der Zerschlagung seiner Forschungsmöglichkeiten »außerdem die menschlich geradezu grausam empfundene Zerstörung des wenigstens noch einigermaßen positiven Abschlusses einer Lebensaufgabe, und die längst nicht einmal vollständig genannten hohen finanziellen persönlichen Opfer, Belastung bis ans Lebensende, werden wenigstens teilweise sinnvoll.«1172 Ein Satz, der stellvertretend für viele ähnliche Fälle bürgerlicher Wissenschaftler stand, für eine Zeit, die unter Ulbricht begann und unter Honecker ihre Vollendung finden sollte. Doch das Beispiel Meinel zeigt nicht nur das »Ausforsten« der Akademielandschaft, dieses »Wegroden« von scheinbar unbedeutenden Kulturpflanzen zugunsten volkswirtschaftlicher Großaufgaben, sondern auch den »anderen« Charakter Lauters. Der nämlich antwortete Meinel am 30. Mai 1967 kalt und sprach einleitend »von den sachlichen und unsachlichen Stellungnahmen«, die er zur »Kenntnis genommen« habe. Er, Lauter, erkläre eindringlich und nochmals, dass nach der »Umprofilierung« des HHI das Institut nicht mehr zuständig sei für Fragen des Geigenbaus, dass Meinels Arbeiten »nur in der von mir vorgesehenen Weise abgeschlossen werden können«; dass er sich »disziplinarische Maßnahmen vorbehalte, falls« er »von Vorgängen und Verhandlungen Kenntnis erhalte, die« 1171  Schreiben von Meinel an Mollwo vom 4.2.1967 mit Durchschlag an Lauter; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 258, S. 1–3, hier 1 f. 1172  Ebd., S. 2.

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ihm »nicht angezeigt« seien. Und Lauter legte noch nach: »Ich bitte Sie, unter Hinweis auf die Wahrung der Würde, die Ihnen als Angestellten eines Akademieinstitutes obliegt, in Ihrem Schreiben Selbstüberschätzung und Polemik zu vermeiden. Ich habe Verständnis dafür, dass Sie große Sorge darum haben, die von Ihnen entwickelten Vorstellungen nicht durchführen zu können. Ich bitte Sie aber zu berücksichtigen, dass Sie und Ihre Arbeiten der DAW in den letzten Jahren erhebliche Kosten verursacht haben, und dass die von Ihnen angestrebte 1-Mann-Forschung mit unseren Vorstellungen über moderne Weiterentwicklung wissenschaftlicher Arbeiten nicht mehr in Übereinstimmung sind.« Er möge doch versuchen, außerhalb der Akademie eine Arbeitsstelle zu finden, wenngleich er sich »nicht sicher« sei, dass sein »Appell an« seine »Einsicht von Erfolg« gekrönt sein könnte.1173 Wer war Meinel? Meinel war eine ausgewiesene Koryphäe, wenngleich er biografisch gesehen seinen kreativsten Lebensabschnitt bereits hinter sich hatte – ein Phänomen allerdings, das nahezu allen großen Wissenschaftlern und Tüftlern eigen ist. Meinel wurde 1904 in Markneukirchen geboren, 1928 schloss er die Meisterprüfung als Saiteninstrumentenbauer ab. Sein Studium von 1929 bis 1935 führte ihn nach Leipzig, Greifswald und Karlsruhe, wo er Physik, Mathematik, Chemie und Musikwissenschaften studierte. Promoviert wurde er am 28. Mai 1937 zum Dr. phil. Ab 1935 war er Mitarbeiter am HHI für Schwingungsforschung in Berlin. Nach dem Krieg war er von 1945 bis 1950 selbstständiger Handwerksmeister für Musikinstrumentenbau in Markneukirchen. Auf seine Initiative hin wurde 1951 das Forschungsinstitut für Musikinstrumentenbau in Zwota gegründet, das er bis 1962 leitete. Von 1963 an war er wieder im HHI in Berlin-Adlershof tätig. 1957 wurde er als Verdienter Techniker des Volkes ausgezeichnet. Ruhm erlangte er jedoch 1936, als er eine wissenschaftliche Preisaufgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin löste. Die Aufgabe von 1934, ausgelobt auf der Leibniz-Sitzung für das Jahr 1936, lautete: Feststellung der physikalischen Bestimmungsgrößen für die Klangfarbe von Saiteninstrumenten durch Versuche. Einer der ersten Gratulanten war Werner Heisenberg, der bedeutendste Physiker nach Newton, Planck und Einstein. »Eine der großen wissenschaftlichen Leistungen von Meinel«, so sein Biograf Peter Költzsch, war die Entwicklung der sogenannten Optimumskurve als Charakteristikum.1174 Und eine seiner letzten Publikationen ist Produkt seines Vortrags auf dem 7. ICA-Kongress in Budapest 1971, zwei Jahre nach seiner Berentung, mit dem Titel: »Über Schwingungen von Geigenkörpern bei Eigenfrequenzen«, ein Thema, das sich mit der Ermittlung der Knotenlinien auf dem Geigenkörper befasste. Meinel war der Überzeugung, 1173  Schreiben von Lauter an Meinel vom 30.5.1967; ebd., S. 1 f. 1174  Kötzsch, Peter: Antonio Bagatella und Hermann Meinel – zwei Geigenbauer und Akademiepreisträger: Padua 1782/Berlin 1936, in: Ziegenhals, Gunter (Hrsg.): Zeitgeschichte der Musikalischen Akustik. Zwota  2011, S. 7–11. Költzsch konnte neun Preisträger auf dem Gebiet Akustik ausfindig machen. Von Abbé Jean de Hautefeuille (1647–1724) bis zu Hermann Meinel (1904–1977). Költzsch referiert hierin auch die Quellen der drei nachfolgenden Anmerkungen.

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dass hier die Grundlagenforschung erst beginne: »In Grundlagen- und Zweckforschung zeigt sich allein daraus ein Aufgabengebiet, das, erst angefangen nur von einem geeigneten Team, in jahrelanger Arbeit einigermaßen zu bewältigen ist.«1175 Meinel starb 1977 in Woltersdorf bei Berlin. Den Nachruf verfasste im Juni 1977 bezeichnenderweise kein DDR-Wissenschaftler, sondern Lothar ­Cremer von der Technischen Universität Berlin. Seine Leser erfuhren, dass Meinel bis zuletzt forschte und Geigen baute, »bis eine lange und tödlich endende Krankheit, die er mit großer Tapferkeit erlitt, seiner Kreativität ein Ende setzte.« Cremer war sich sicher, dass, wer auch »immer diesen Weg in Zukunft beschreiten wird«, er »seine Untersuchungen auf Meinels Pionierarbeiten gründen« müsse.1176 Meinels Motto war ein ästhetisches und entstammte der Tonholzforschung: »Viva fui in silvis, dum vixi tacui, mortua dulce cano!«1177 Die DDR hatte nie erkannt, welch pekuniärer, kultureller und humanistischer Reichtum in solch kleinen, scheinbar unbedeutenden Grundlagenforschungen steckte. Ein Fragment eines Papieres aus dem Nachlass (Konvolut 1967) Lauters, das dem Fachbereich Physik Nord zuzurechnen ist, kreist um ein Phänomen, das wir heute Evaluierung nennen und das weiland zumindest teilweise mit dem Begriff »Konzentrationsmaßnahmen« partiell identisch war. Opfer solcher Maßnahmen waren allererst die Meinels, also im Forschungstarget Lauters zum Beispiel die Fachkoryphäen Wilhelm Messerschmidt und Günter Wallis. Bei diesen Wissenschaftlern erwartete die SED demzufolge auch »Schwierigkeiten bei der Durchführung von Konzen­trationsmaßnahmen«. Jedenfalls sollten »Entscheidungen über Veränderungen grundsätzlicher Art« auf sorgfältige Weise erfolgen. Hierzu wurden »vor Inkrafttreten der betreffenden Weisungen einheitliche Auffassungen« hergestellt zusammen mit dem ZK der SED, den örtlichen Parteiorganen und dem Staatssekretariat für Forschung und Technik (SFT) sowie wenn erforderlich dem Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen (SHF).1178 Dieser personale Aspekt ist auch Inhalt eines mit zahllosen Korrekturen übersäten 1. Entwurfes (Rohdiktat für eine »Hauptversammlung« vermutlich von Lauter, zumindest sind die Korrekturen handschriftlich von Lauter) über »Ergebnisse und Erfahrungen bei der Neuordnung der Forschungskapazität in den astrophysikalischen und geophysikalischen Bereichen«. In diesem Papier sind eingangs zwei wichtige Aspekte erwähnt, erstens 1175  Meinel, Hermann: Über Schwingungen von Eigenfrequenzen, in: Proceedings Seventh International Congress on Acoustics (ICA), Vortrags-Nr. 19, Panel S4. Budapest 1971, S. 565–568, hier 568. 1176  Cremer Lothar: Hermann Meinel. Nachruf, in: Catgut Acoustical Society Newsletter No. 28, November 1977, S. 11 f. 1177  Übersetzung: Ehemals lebte ich in Wäldern und schwieg, gestorben singe ich lieblich. Spruch auf der Zarge einer alten Geige, aufgefunden in: Meinel, Hermann: Aufgaben und Ergebnisse der Tonholzforschung, in: Holz (1948),5, S. 67–69, hier 67. 1178  Aus einem Leitungspapier zum Gegenstandsbereich Physik-Nord, ohne Kopfangaben; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 259, S. 1 f.

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der notwendig internationale Aspekt der betreffenden Forschungsrichtungen und zweitens die Tatsache, dass »die DDR relativ viele – wenn auch kleine – Forschungsrichtungen in den geo- und astrophysikalischen Disziplinen« unterhielt, »die international zum Teil einen ausgezeichneten Stand erreicht« hatten. Lauter wies auch hier auf »die wissenschaftlich zukunftweisende« Charakteristik der Disziplinen hin. Zur Wissenschaftsorganisation ist ausgeführt: »Auf dem geophysikalischen Sektor gaben sich die wichtigsten Institute im vergangenen Jahr in Absprache mit der Leitung der Forschungsgemeinschaft neue Institutsordnungen, die die Neuprofilierung auf Hauptarbeitsrichtungen widerspiegeln. An allen diesen Instituten bestehen jetzt Abteilungen mit mehr oder minder selbstständiger Verantwortung für Spezialdisziplinen der Hauptarbeitsrichtung des Instituts.« Für den Bereich der solar-terrestrischen Physik würden künftig Strukturanpassungen vorzunehmen sein. Offenbar waren sie zu diesem Zeitpunkt nur in der Konzeptionsphase, etwa die Integration des Einsteinturms. Und zum personellen Aspekt hieß es: »Solche Umstrukturierungen sind – insbesondere wenn sie in eine traditionsgebundene Institutsarbeit einbrechen – für den einzelnen jüngeren Wissenschaftler und auch für den älteren Fachkollegen nicht immer ohne Härten, und es bedarf oft langer und beharrlicher Aussprachen, um von allen Seiten her das notwendige Verständnis für die einzelnen Maßnahmen zu erhalten.«1179 Zum Ressort Zappes, dessen Berichte in der Regel sachlich-präzise waren, so auch am 23. Februar die Informationen über das Geomagnetische Institut der DAW in Potsdam und Niemegk. Dessen Direktor Fanselau sei mehrere Jahre »bemüht« gewesen, die Kooperation mit den Nachbarländern der DDR zu erreichen. Ziel war es, »eine Gesamtvermessung von Mitteleuropa zu erreichen und nach Möglichkeit eine Karte dieses Gebietes herzustellen«. Mit Polen, der ČSSR, Bulgarien und Rumänien waren bereits entsprechende Beratungen durchgeführt worden. Man stehe nun vor der Überführung in Arbeitsforen multilateraler Problemkommissionen. Zappe berichtete über entsprechende Fachverbindungen zu bayerischen Stellen. Die Kommission des MdI, des MNV und der DAW hatte demnach eine Vereinbarung hinsichtlich der allfälligen gemeinsamen Veröffentlichungen unter der Bedingung zugestimmt, dass alle Beteiligten zustimmten und seitens der DDR nur »eine Karte im Maßstab 1:1,5 Millionen und kleiner veröffentlicht werde. Zappe erklärte dem MfS u. a. die Rolle der involvierten westdeutschen Stellen, insbesondere der Deutschen Geodätischen Kommission, an deren 1950 erfolgten Gründung auch Peschel beteiligt gewesen war. Diese Kommission sei zuständig für Gesamtdeutschland und stehe unter Einfluss des »Bonner Innenministeriums« und des Verteidigungsministeriums und sei bestrebt, auch namhafte Mitglieder aus anderen Ländern wie der DDR, Schweiz und Österreich aufzunehmen. Zappe: »Wir halten es nicht für richtig, dass Wissenschaftler aus der DDR sich an den Arbeiten und Beratungen dieser Kommission weiterhin beteiligen.« Dies sei bereits 1961 bis 1962 mit Walter 1179  Ergebnisse und Erfahrungen bei der Neuordnung der Forschungskapazität in den astround geophysikalischen Bereichen (o. D.); ebd., S. 1–6.

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Zill in Dresden »erörtert worden, als bekannt wurde, dass Bestrebungen vorhanden sind, weitere Wissenschaftler aus der DDR zu Mitgliedern zu machen. Obwohl Professor Zill seiner Zeit allen unseren Bedenken zustimmte und eine genaue Prüfung eines etwaigen Antrages versprach«, sei »er inzwischen Mitglied dieser Kommission geworden.«1180 Dieser Bericht zeigt deutlich Zappes Einfluss auf die Argumentation des MfS gegen internationale Kooperation. Dies ist nicht gering zu schätzen, da das MfS hierin ja der argumentativen Einübung bedurfte. Also sprach Zappe über Peschels Kooperationsphilosophie mit dem Westen, geronnen zu einem neunseitigen Bericht vom 20. März. Hierin ist auch Peschels Bemühen festgehalten, früh in den 1950er-Jahren internationale Verbindungen zu knüpfen, einschließlich der »Idee für die Bildung eines gesamtdeutschen Organs oder einer gesellschaftlichen Organisation« für das Vermessungswesen. Zappe berichtete von zahlreichen Anstrengungen Peschels, die Fachgenossen international zusammenzukriegen, Verbindungen zu knüpfen und Tagungen für solche Zwecke auszunutzen und zu kreieren. Er informierte über die Informations- und Austauschwege und über deren Ausbau und Effektivierung. Eine solche klassenbewusste Haltung liebten das MfS und die SED. Doch Zappe lehnte ein Angebot für den Dienst im Staatsapparat ab. Einer Bitte des damaligen Staatssekretärs im MdI, Johannes Warnke, die Leitung des Vermessungswesens im Staatssekretariat zu übernehmen, habe er »rundweg abgelehnt«.1181 Einer der Staatsbediensteten, die sich mit den Aufgaben der internationalen Kooperation abzumühen hatten, war U. Bräutigam von der Abteilung Internationale Organisationen des MfAA. Vermutlich von 1967 stammt sein »Entwurf einer Konzeption für die Durchsetzung der selbstständigen Mitgliedschaft der DAW in der Internationalen Union für Geodäsie und Geophysik (IUGG)«, der Lauter, Peschel und Rotter zur Kenntnisnahme gegeben worden war. Demnach hatte die DAW zur XI. Generalversammlung der IUGG 1957 bereits einen Antrag auf Aufnahme als Mitglied entsprechend Paragraf 4 des Statuts gestellt. Die Antwort fiel jedoch negativ aus: »The XIth GENERAL ASSEMBLY – Considering that it is the desire of the German Academies of Science to adhere as a common group to the I.U.G.G. under the name of ›Germany‹, AGREED to accept the common adherence in Category 8 – RECOMMENDS that interested academies work out such arrangements as to permit the implementation of the above resolution and report to the UNION.« Die SED befand sich in der Klemme, einerseits trachtete sie nach internationaler Anerkennung, die auch immer die Integration in Gremien vieler Art notwendig zur Folge hatte, andererseits war sie bemüht, zumindest die unkontrollierte fachliche Kommunikation limitiert zu kanalisieren. Im Rückblick: Die Bemühungen der DDR waren zunächst wegen der Haltung der Bundesrepublik ohne Erfolg geblie1180  Information von »Heinz Ludwig« vom 23.2.1967; BStU, MfS, AIM  7783/71, Teil  II, Bd. 1, Bl. 27–29. 1181  Information von »Heinz Ludwig« vom 20.3.1967: Einschätzung zu Peschel; ebd., Bl. 32–40, hier 33–37.

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ben. 1960 wurde für die Aufnahmesitzung in Helsinki immerhin erreicht, dass jede Delegation eine halbe Stimme erhielt. 1962 stellte die DDR deshalb einen Antrag auf »Anerkennung der selbstständigen Ausübung der Mitgliedschaft der DAW als nationales Mitglied für die DDR«. 1963 ist in Berkeley der Antrag zwar behandelt, jedoch nicht entschieden worden. Die Generalversammlung beschloss daraufhin eine »Abstimmung auf dem Korrespondenzwege mit einfacher Stimmenmehrheit«. Erst 1966 erreichte die DDR »mit knapper einfacher Stimmmehrheit« das Votum für ihren Antrag durch das Büro. Die endgültige Entscheidung aber sollte im Council getroffen werden, wo eine 2/3-Mehrheit erforderlich war.1182 In seinem Papier referierte Bräutigam die Chancen für eine Aufnahme der DDR. 61 stimmberechtigte Länder gehörten der IUGG an, acht waren sozialistische. Gegenwärtig sei es unmöglich zu kalkulieren, welche anderen Länder, mit denen zum Teil gute wissenschaftliche Fachkontakte stattfänden, für den Antrag der DDR stimmen würden. Hinzu komme, dass die USA ihre Entscheidung wohl abhängig machen werde von der Haltung der Sowjetunion in der Taiwan-Frage (Taiwan stellte ebenfalls den Aufnahmeantrag). Für die DDR aber sprächen »die sehr erheblichen wissenschaftlichen Aktivitäten des NKGG in den letzten drei Jahren, die persön­lichen Verbindungen zu zahlreichen Geophysikern und Geodäten im westlichen Ausland und die ausgezeichnete Vorbereitung der Landesberichte und Referate der DDR für die Tagungen der der IUGG angeschlossenen Assoziationen«. In summa aber sei es »sehr ungewiss« und es müsse ein »Misserfolg« ins Kalkül gezogen werden.1183 Bräutigam resümierte fünf Maßnahmen, die einer Aufnahme förderlich seien. Alle beinhalteten Aktivitäten, verbündete Wissenschaftler und Institutionen entsprechend zu aktivieren. Sodann wurde für den Fall der Niederlage das anschließende Auftreten der DDR simuliert. Sollte auf der 1. Councilsitzung der Negativbescheid den alten Status von 1957 wieder aktivieren, wonach beide deutsche Staaten »eine gemeinsame Repräsentation Deutschlands ermöglichen«, dann würde die DDR ihr »tiefes Bedauern« mitteilen und die Schweiz umgehend verlassen. Im Falle der Absetzung des Antrages von der Tagungsordnung gäbe es zwei Wege. 1. Die alte Regelung des Büros (siehe oben) bliebe weiter in Anwendung. Das sei »als Maximum unserer Zugeständnisse anzusehen«. 2. Die Mitgliedschaft beider deutscher Staaten würde »weiterhin als eine gemeinsame Vertretung im Sinne der Beschlüsse von 1957 angesehen«. Dies würde nicht hingenommen werden. Ferner erörterte er Varianten möglicher Entscheidungen mit Empfehlungscharakter, »die in irgendeiner Form nicht die gleichberechtigte und selbstständige Mitgliedschaft der DAW zum Inhalt« haben könnten, etwa in der Frage der Länderbezeichnung, der zustehenden Stimme im Council, der Einstufung in eine niedrigere Kategorie der Mitgliedschaft oder einer engeren innerdeutschen Bindung zwischen den Wissenschaftlern. Hierzu 1182  Bräutigam: Entwurf einer Konzeption für die Durchsetzung der selbstständigen Mitgliedschaft der DAW in der IUGG, (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 243, S. 1–6, hier 1. 1183  Ebd., S. 1 f.

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wolle man eine rigoros ablehnende Haltung einnehmen. Die Hauptdelegation sollte bestehen aus Peschel (Präsident des NKGG, Leiter der Delegation), Rotter (Sekretär des NKGG), Stiller (Direktor des Instituts für Geodynamik, Jena, Parteisekretär der DDR-Delegation)« sowie Bräutigam als Sekretär der Hauptdelegation.1184 Die Bemühungen wird namentlich das MfS zurückfahren. Ein überaus zorniges Schreiben setzte Lauter am 13. März an Hans Lautenschläger, den Leiter der Kaderabteilung der Forschungsgemeinschaft der natur­ wissenschaftlich-technischen und medizinischen Institute der DAW im Falle ­Schmelovskys auf. Dieses Schreiben zeigt, dass Lauter grundsätzlich ohne Rücksicht auf Ansehen und Position der betreffenden Person hart zu reagieren sich kaum Schranken auferlegte. Im Falle der Förderung Schmelovskys verknüpfte er dessen Werdegang mit beruflichen Konsequenzen seinerseits. In der Anlage übersandte er mit diesem Schreiben die Abschlussbeurteilung für Schmelovsky. Hierzu muss man wissen, dass Schmelovsky (noch) nicht Mitglied der SED und recht unkonventionell im Umgang mit Mitarbeitern war. Seine Haare lagen – nach den Erinnerungen des Verfassers – wild, er versetzte gelegentlich Gegenstände, verlor hin und wieder den Schirm oder die Tasche, schien in anderen Welten zu leben und kannte nur eines: arbeiten. Darin war er wie Lauter. Solche Personen, die kostbar wie Diamanten sind, wollte die SED nie wirklich. Sie waren ihr verdächtig, da sie souverän waren. Also hatte Lauter seine Mühe gehabt, Funktionären wie eben Lautenschläger zu erklären, dass sein Zögling ein hervorragender Wissenschaftler sei, dem eine große Karriere bevorstehe. Aus dem mit Lautenschläger vorangegangenen Gespräch ergäben sich, so Lauter, nunmehr Konsequenzen, dergestalt: »1. im Hinblick auf die Tatsache, ob ich Herrn Professor Schmelovsky wirklich empfehlen kann, diese Stellung bei der Akademie einzunehmen, da mir die nötige Vertrauensbasis bei Ihnen zu fehlen scheint und 2. habe ich auch aus den von Ihnen benutzten Formulierungen ent­ nehmen müssen, dass mir selbst nicht das nötige Vertrauen entgegengebracht« wurde. Er könne jedenfalls keinen anderen als Schmelovsky für die Funktion des Leiters vorschlagen, weder von der fachlichen Leistungsfähigkeit noch »vom Standpunkt meines Vertrauens her«. Ohne Zweifel besäße Schmelovsky an einer Universität eine sehr große Perspektive. Er selbst habe ihn aber auf eine Akademie­laufbahn vorbereitet »und werde daran auch bis zu einer Rücksprache mit Ihnen nichts ändern«. »Ich werde es mir jedoch ausbitten müssen, dass der von Ihnen gebrauchte Ausdruck des ›Aufzwingens‹ der Übernahme von Herrn Professor Schmelovsky zurückgenommen wird.« Er jedenfalls ziehe aus dem Gespräch die Konsequenz, »einstweilen nicht in den Verband der Forschungsgemeinschaft überzutreten. Ich werde Herrn Professor Rompe bitten, eingeleitete Absprachen mit dem Minister des Innern rückgängig zu machen. Ich denke, dass die vorgelegte Interimslösung für das Heinrich-Hertz-Institut solange aufrechterhalten werden sollte, wie es zur Bewältigung der vorliegenden staatlichen Aufgaben notwendig ist. Man sollte dann zum gegebenen Zeitpunkt entscheiden, ob die notwendige Vertrauensbasis mit 1184  Ebd., S. 2–5.

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mir seitens der Forschungsgemeinschaft wirklich gegeben« sei.1185 Lauter konnte nicht diplomatisch argumentieren, er wurde ungehalten, wenn sich Ideologie in die Wissenschaft einmengte. Am 19. April teilte Lauter dem Direktor des MD, Böhme, mit, dass Klare, Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft, in Abstimmung mit anderen staatlichen Stellen Schmelovsky mit Wirkung vom 1. Februar zum Bereichsleiter am HHI berufen habe. Mit der Konsequenz, dass fortan die Forschungen zur äußeren Iono­ sphäre und Arbeiten an der Satellitenbodenstation nicht mehr federführend vom MD durchgeführt würden, sondern in die Hände des HHI übergingen. Im gleichen Zuge – nicht zuletzt wegen der erhöhten Kooperation mit der Sowjetunion – sei für die Arbeiten auf dem Gebiet der Aeronomie eine Arbeitsgruppe geschaffen und unter Leitung von Robert Knuth gestellt worden.1186 Aus einer Notiz über eine Besprechung am 17. Mai an der u. a. Rompe, Lanius und Lauter teilnahmen, geht hervor, dass Rompe informiert hatte, dass in Folge des VII.  Parteitages der SED 1968 »von der Forschungsgemeinschaft« eine Industriekonferenz geplant sei. Hierfür seien die Beziehungen etwa zum Werk für Fernsehelektronik (WF) analog jenen zum VEB Carl Zeiss Jena auszuwerten. 150 Mitarbeiter sollen teilnehmen, vorbereitende Treffen waren vorgesehen. Erwähnenswert ist hierbei die leidige Raumfrage, die aus der Spaltung des HHI aufgrund der Interkosmos-Arbeiten (umgangssprachlich IK-Arbeit) herrührte: Rompe habe mitgeteilt, »dass eine schriftliche Mitteilung vom Vorsitzenden über ein Gespräch mit Herrn Staatssekretär Dr. Weiz vorliegt, in der gefordert wird, das Gebäude L 4 der AWF [Akademiewerkstätten für Forschungsbedarf] für die Unterbringung der im HHI zu bearbeitenden Sonderaufgaben freizumachen. In Durchführung dieser Maßnahme erteilte Herr Professor Rompe dem anwesenden stellvertretenden Direktor der AWF, Herrn Beyer, die Auf‌lage, die Räumung des Gebäudes L 4 und des Technikums innerhalb von drei Monaten durchzuführen. Für die sofortige Unterbringung der ersten Arbeitsgruppe sind bis 1. Juni 1967 sechs Achsen im Obergeschoss des Gebäudes L 4 zur Verfügung zu stellen.« Lauter würde hierzu dem Parteisekretär und der Leitung der AWF nähere Ausführungen geben können.1187 Zum Komplex L 4: Die räumliche Konzentration von Interkosmos-Arbeiten entsprang dem Abkommen von 1965 zur Zusammenarbeit der sozialistischen Länder bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums. Auch »Sonderobjekt« L 4 genannt: »Seine Gestaltung als geschlossenes Objekt diente sowohl der Konzentration des Forschungs- und Entwicklungspotenzials als auch der Sicherung des notwendigen Geheimnisschutzes.«1188 1185  Schreiben von Lauter an Lautenschläger vom 13.3.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 258, S. 1 f. 1186  Vgl. Schreiben von Lauter an den Direktor des MD vom 19.4.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 284, S. 1 f., hier 1. 1187  Notiz einer Besprechung am 17.5.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 259, S. 1–3, hier 1 f. 1188  MfS vom 24.11.1969: Komplex L 4; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13721, Bl. 72 f.

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Lauter teilte mit Schreiben vom 30. Mai Schmidt von der Auslandsabteilung der DAW mit, dass er dem Abbruch der Zusammenarbeit mit Indien auf dem Gebiet der Ionosphärenforschung zustimme. Schmidt hatte es ihm am 3. Mai mitgeteilt und mit Devisenmangel begründet. Lauter blieb letztlich nichts anderes übrig, zwischen den Zeilen kann man jedoch feststellen, dass er es gern anders gesehen hätte.1189 Am 27. Juni schrieb der Institutsvorstand des Meteorologischen Institutes der Universität München, Fritz Möller, dass auf der kommenden Generalversammlung der IUGG in der Schweiz im Oktober die selbstständige Zugehörigkeit der DDR zur Abstimmung anstehe. Möller wies hierin eingangs auf den Widersinn hin, sich im wissenschaftlichen Verkehr untereinander freundschaftlich zu begegnen, andererseits aber »auf internationaler Ebene« sich »Steine in den Weg« zu legen. Lauter hatte offenbar argumentiert, dass dann die Steine wegblieben. Möller stellte an Lauter die »Gegenfrage: ›Würde sich der gegenseitige Verkehr zwischen unseren Wissenschaftlern erleichtern, wenn sich die Bundesrepublik bei der Abstimmung über die selbstständige Zugehörigkeit der DDR der Stimme enthielte?‹« Er erinnerte daran, dass er immer noch auf seine Antwort warte, die Frage also hier wiederhole. Für seine Haltung bei der Stimmabgabe werde seine Antwort wichtig sein. Möller verwies auf zahlreiche Kontakte zwischen Wissenschaftlern, die ihm »immer wieder die Hoffnung« gäben, dass sich »wenigstens in unserer Wissenschaft die Beziehungen normalisieren« mögen.1190 Schmidt empfahl Lauter mit Schreiben vom 10. Juli folgendermaßen zu antworten: würde die BRD-Seite den Aufnahmeantrag der DDR unterstützen, brächte dies der Klimaverbesserung »einen entscheidenden Beitrag« näher. Eine Stimmenthaltung würde zumindest den Status quo der gegenseitigen Beziehungen aufrechterhalten, wobei allerdings fraglich wäre, wie die anderen westlichen Länder dann reagierten. Schließlich: »Würde die westdeutsche Delegation gegen unseren Antrag stimmen, dürfte der vollständige Abbruch jeder wissenschaftlichen Beziehung die logische Konsequenz sein.« Er nutzte dieses Schreiben an Lauter für die Bemerkung, durch die er sein »Befremden über die in der Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Physik des Erdkörpers auf Seite 49 enthaltenen Formulierungen« ausdrückte. Da stehe, »dass die IUGG Gesamtdeutschland in der IUGG vertreten würde«; Schmidt: »Sie wissen, dass diese Behauptung nicht den Tatsachen entspricht.«1191 Lauter antwortete Möller am 17. August. Er wies darauf hin, dass er bereits positiv geantwortet habe. Überdies sei er der Überzeugung, »dass sich die wissenschaftlichen Beziehungen auf unserem Fachgebiet zwischen den Kollegen in der Bundesrepublik und der DDR genauso normalisieren lassen, wie zwischen Wissen1189 Vgl. Schreiben von Lauter an Schmidt vom 30.5.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 242, 1 S. 1190  Schreiben von Möller an Lauter vom 27.6.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 243, S. 1 f. 1191  Schreiben von Schmidt an Lauter vom 10.7.1967; ebd., 1 S.

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schaftlern der DDR und anderer sozialistischer und kapitalistischer Staaten, wenn dazu die Voraussetzungen der gegenseitigen Respektierung auf der internationalen Ebene gegeben« sein werden. Lauter antwortete gemäß Vorgabe von Schmidt: Bei einem Veto der Bundesrepublik käme es zu einem »vollständigen Abbruch jeder wissenschaftlichen Beziehung auf unserem Fachgebiet«.1192 Von Lauter stammt ein Papier aus dem Sommer 1967 an Herrmann vom MWT, darin ist vermerkt, dass er im Auftrag des amtierenden Generalsekretärs der DAW, Rompe, ein »gründliches Gespräch« mit Weiz geführt habe. Er teile ihm »im Einverständnis und im Auftrage« Rompes »in Beantwortung Ihres [Herrmanns] Briefes über die IUGG-Delegation Folgendes mit:« Der wissenschaftliche Teil der Direktive sei »völlig ungenügend«, er habe das Präsidium des NKGG »in aller Schärfe auf die Mängel der Begründung für die Delegation hingewiesen«. Er überreiche also hiermit ordnungsgemäß eine Neufassung des wissenschaftlichen Teils der Direktive. Der Hauptstreitpunkt, ein zähes Ringen um die Gesamtzahl der teilnehmenden Wissenschaftler, war bereits vorausgegangen und  – in abstrakter Form – Gegenstand des Schreibens an Herrmann gewesen. Lauter schlug nunmehr vor, wenigstens 25 Mitglieder für die Teilnahme zu delegieren, sei auch das nicht möglich, möge »das Limit bei 20 Mann unbedingt bestehen bleiben«; sonst: »würde ich mich gezwungen sehen, dem Nationalkomitee zu empfehlen, auch Mitarbeiter der in meinem Schreiben angegebenen staatlichen Dienste zu streichen. Eine solche Maßnahme wäre sicher nicht ohne ernste Folgen für die Nutzung der modernsten internationalen Erkenntnisse für die oben angegebenen Dienste, deren wirtschaftliche Bedeutung keiner näheren Erläuterung bedarf«. Er hoffe, dass Herrmann sich seiner Argumentation anschließen könne.1193 Der Ton wurde zwischen den beteiligten Machtgruppen stetig härter. Reiseschwierigkeiten zur Teilnahme des NKGG an einer Tagung in der Schweiz führten am 30. September zu einem Rücktrittsgesuch Lauters als Vizepräsident des NKGG. Er plädierte für eine Neubildung des Präsidiums.1194 Der als vertraulich eingestufte Bericht Lauters über die Teilnahme an der XIV. Generalversammlung der IUGG in St. Gallen, Schweiz, vom 11. Oktober ging auch an »Jahn (MfS)«. Die Tagung fand vom 25. September bis 7. Oktober statt. Lauter erwähnte zunächst den Auftrag von Weiz, sich »außerhalb seiner Funktion als internationaler Vertreter insbesondere um die Arbeit der offiziellen DDR-Delegation« zu kümmern, ebenso um das Aufnahmeverfahren der DDR in die IUGG. Dies war Hauptgegenstand des Berichtes. Vor der Sitzung mit dem Tagungsordnungspunkt der Aufnahme der DDR hatte Lauter demnach Vorgespräche u. a. mit dem Chefdelegierten der Bundesrepublik und dem Präsidenten der IUGG, Joseph Kaplan, geführt. Während der Vertreter der Bundesrepublik durchblicken ließ, sich der 1192  Schreiben von Lauter an Möller vom 17.8.1967; ebd., S. 1 f. 1193  Schreiben von Lauter an Herrmann, MWT, Sommer 1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 323, S. 1 f. 1194  Vgl. Schreiben von Lauter an Peschel am 30.6.1967; ebd., 1 S.

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Stimme zu enthalten, sprach sich der Vertreter der USA für die Aufnahme der DDR aus. Aus dem Bericht wird nicht ganz klar, inwiefern zur Voraussetzung der Aufnahme der DDR eine Statusänderung der DAW notwendig gewesen sei: »Bei der Abstimmung hatte das Büro dafür Sorge getragen, dass die Statusänderungen der DAW als erster Punkt auf der Tagungsordnung über der Abstimmung stand.« Von den sozialistischen Ländern nahmen überraschend die beiden Vertreter Bulgariens und Ungarns nicht teil, beide waren »ältere Akademiemitglieder ihrer Länder«. Das Abstimmungsergebnis bezeichnete Lauter in dem Papier als sensationell: 19 Stimmen für die Statusänderung, elf Stimmenthaltungen und sieben Nein-Stimmen. Die Nein-Stimmen vermutete Lauter, seien von NATO-Staaten gekommen. Die westdeutschen Delegationsteilnehmer hätten sich anschließend reserviert gezeigt, jedoch versachlichte sich die Atmosphäre im Verlauf der Tagung rasch.1195 Verärgerung soll aber im Außenministerium der Bundesrepublik geherrscht haben, da man, so der Historiker Jens Niederhut, keine Mittel fand, die eigenen Wissenschaftler auf Nein zu instruieren, was auch an der »brüchig« gewordenen »Allianz aus Wissenschaft und Politik« ab Mitte der 1960er-Jahre gelegen habe.1196 Zu solchen Reisen setzte das MfS stets IM ein. Speziell auf Lauter war Böhme vom Meteorologischen Dienst angesetzt. Der frischgebackene IM »Hans« erhielt für diese Reisen stets umfangreiche Aufgaben. U. a. hatte er festzustellen, ob aus der DDR geflohene Personen an der Tagung teilnähmen, wer von den westlichen Wissenschaftlern Kontakte anzuknüpfen sich anschicke, auf die Einhaltung der Direktive zu achten sowie namentlich drei DDR-Delegaten zu beobachten (Auftreten, Einhaltung des Geheimnisschutzes, Kontaktanbahnungen). Der Auftragskatalog umfasste drei allgemeine Komplexe, ein Dutzend konkrete Aufgaben sowie diverse Verhaltenshinweise.1197 Solche Komplexaufträge zur allumfassenden Beobachtung des Geschehens und der Personen zu Tagungen waren von nun an Usus.1198 Am 12. Oktober berichtete auch Zappe über die XIV. Generalversammlung der IUGG. Sein Bericht war tagebuchartig gehalten und wie gewohnt detailliert. Besonderes Augenmerk hatte er, instruiert vom MfS, auf Personen gelegt, die im Verdacht der Republikflucht standen und auf Personen, die geflüchtet waren. So 1195  Lauter: Bericht über die Teilnahme an der XIV. Generalversammlung der IUGG in der Schweiz als Vertreter des COSPAR vom 11.10.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 377, hier 1–5, hier 1–3. 1196  Niederhut, Jens: Wissenschaftsaustausch im Kalten Krieg. Die ostdeutschen Naturwissenschaftler und der Westen. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 187. 1197  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 13.9.1967: Auftrag für »Hans«; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil I, 1 Bd., Bl. 56–59. 1198  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 20.4.1968: Auftrag für »Hans« zur Teilnahme an der XI. Plenartagung des COSPAR vom 6.–25.5.1968 in Tokio; ebd., Bl. 60–63; HA XVIII/5 vom 3.10.1968: Auftrag für »Hans« zur Teilnahme an der COSPAR-Arbeitsgruppe IV vom 9.–15.10.1968 in London; ebd., Bl. 66–68; HA XVIII/5 vom 12.1.1970: Auftrag für »Hans« zur Teilnahme am Symposium on Atmospheric Waves vom 19.–23.1.1970 in Toronto; ebd., Bl. 69–71; HA XVIII/5 vom 13.5.1970: Auftrag für »Hans« zur Teilnahme an der Plenartagung des COSPAR vom 20.–29.5.1970 in Leningrad; ebd., Bl. 72–74.

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zum Beispiel zu einem ehemaligen Mitarbeiter von Carl Zeiss Jena. Der arbeitete nach seiner Flucht nunmehr in München auf dem Gebiet der Fotogrammetrie. Vom Inhalt eines Gespräches zwischen Peschel und Boulanger hatte er »leider« nichts erfahren können, immerhin aber soll es um Fragen der Besetzung von Führungspositionen gegangen sein. Am 4. Oktober ist es zu einem Gespräch mit dem Chef des geflüchteten ehemaligen Mitarbeiters von Zeiss gekommen. Es drehte sich um die Frage der erzwungenen Austritte von DDR-Bürgern aus westdeutschen Gesellschaften, speziell der Geodätischen Kommission. Zappes Gesprächspartner wollte diesbezüglich wissen, ob nach dem Austritt Peschels mit weiteren Austritten zu rechnen sei. Zappe will geantwortet haben, dass, wenn er Mitglied wäre, er ihm dies hätte sagen können. Er will diese Maßnahmen als »persönliche Angelegenheit« deklariert haben: »Ich könne jetzt nicht sagen, was sich da ändert und was sich da tut.« Zappe will angedeutet haben, dass er hinter seiner Regierung stehe wie wohl sein Gesprächspartner auch. Wenn sich etwas ändern möge, dann doch wohl nur, wenn beide Seiten es verstünden, ihre Regierungen zu entsprechenden Verhandlungen zu bewegen. Sein Gesprächspartner: »Wir sollten versuchen, auf den persönlichen Kontakten aufzubauen, unser Verhältnis weiter zu entwickeln. Meine Antwort darauf war: Persönlich? Das erleben Sie ja hier, dass wir durchaus miteinander sprechen können und trotzdem ändert sich im ganzen Verhältnis der beiden Staaten nichts, solange wir es nicht fertigbringen, dass unsere Regierungen miteinander in Gespräche kommen.«1199 Ein Papier des Büros der wissenschaftlichen Fachbereiche Physik vom 23. Oktober charakterisiert das politische Problem jener Zeit, größere Volumina der Wissenschaftshaushalte der Industrie »zuzuführen« (Industriebindung). Das Papier ist veranlasst worden aufgrund eines Briefes des Vorsitzenden des Ministerrates an den Vorsitzenden der Forschungsgemeinschaft vom 22. Juni. Es ging hierbei um die Wahrung der volkswirtschaftlichen Interessen von Staat und Partei, nicht jedoch um die originären Belange der Grundlagenforschung. Die beschlossene Konzeption für 1968 sah schließlich vor, »dass etwa 95 Prozent der Kapazität der Fachbereiche Physik auf die vom VII. Parteitag festgelegten Schwerpunkte konzentriert« würden. Und dann steht hier der seltsam anmutende Satz: »Dabei ist der Anteil der Erkundungsforschung, d. h. solche Arbeiten fundamentaler Bedeutung zur Erkenntnis neuer naturwissenschaftlicher Grundlagen mit etwa 13  Prozent gerechtfertigt.« Der Satz zeugt von der aktuellen Not für die Forschungslandschaft. Die Verteilung der Kapazitäten war wie folgt festgelegt: Datenverarbeitung mit 35,9 Prozent, Werkstoffe mit 9,9 Prozent, Atomenergie mit 11,4 Prozent, Verfahrenstechnik mit 12,8 Prozent, Geo-Astro mit 8,5 Prozent, Erkundungsforschung mit 13,2 Prozent und Lebensvorgänge mit 2,9 Prozent. In summa 94,6 Prozent. Der Rest war nicht den Schwerpunkten des VII. Parteitages zuordnungsfähig. Hingewiesen wurde auf

1199  HA VII/1 vom 23.11.1967: Bericht von »Heinz Ludwig« am 12.10.1967; BStU, MfS, AIM 7783/71, Teil II, Bd. 1, Bl. 68–79.

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künftige Profilierungsmaßnahmen im Institut für Optik und Spektroskopie (IOS). Das Institut sollte in Abstimmung mit Carl Zeiss Jena »zu einer Einrichtung zur Bearbeitung moderner Probleme der Informationsprozesse, Optik und Spektroskopie umgestaltet werden, wobei bestimmte zurzeit noch laufende Aufgaben wie Asphären-Herstellung, Ausarbeitung von Laserstrahlung, biologische Optik, Farbstoffe auf die Zweckmäßigkeit ihrer Weiterführung überprüft« würden. Das Profil der Akademiewerkstätten für Forschungsbedarf (AWF) sei bereits so ausgerichtet, dass das leidige Problem des Eigenbaus von wissenschaftlichen Geräten »gänzlich neu« und für die Forschungsgemeinschaft (FG) »objektiver zu lösen« sein werde. Ferner habe man in der Forschungsgemeinschaft »begonnen, Problemkommissionen für die volkswirtschaftlich wichtigsten Schwerpunktaufgaben wie Datenverarbeitung, Halbleiterphysik, Plasmaphysik, Quantenelektronik, Metallphysik (in Vorbereitung) zu bilden«. Hingewiesen wurde auch auf den Umstand, »dass die praktizierten Verbindungen der Institute zur Industrie sehr viel enger« seien, »als es die Summe der abgeschlossenen Verträge« ausweise. Dies treffe zum Beispiel auf das PTI und dem IOS zu. Einheitliche Regelungen in der Behandlung und Darstellung solcher Verträge seien, weil instituts- und profilabhängig, schwierig, so der Tenor. Man werde sich aber auf der geplanten Industriekonferenz des Fachbereiches Physik Nord mit der Bezirksleitung der SED bemühen, »grundsätzlich« zu »neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen DAW und Industrie zu kommen«. Die Auflistung der offenen Probleme bei der geplanten Verflechtung von Forschung und Industrie aber zeigte die Brisanz des Themas. Zum Beispiel in der Frage, wer zu entscheiden hatte, »was zum wissenschaftlichen Vorlauf gehört« und was nicht. Es heißt hier: »Bisher konnte man die Feststellung treffen, dass die Industrie den Begriff ›Wissenschaftlicher Vorlauf‹ genügend weit versteht, wenn große Teile desselben aus dem Haushalt der DAW oder aus anderen zentralen Mitteln bestritten werden. Andererseits wird aber der Begriff wissenschaftlicher Vorlauf auf ein für die künftige Entwicklung der Volkswirtschaft unzulässliches Minimum eingeschränkt, wenn er aus eigenen finanziellen Mitteln des Industriezweiges erbracht werden soll.« Ein anderes Problem stellte die Frage der juristischen Zuständigkeit dar, so »noch kein Industriezweig den Auftrag für die betreffende Produktion erhalten« habe. Dann könne etwa das MWT einspringen und zunächst die DAW oder andere Einrichtungen beauftragen, »bis die Notwendigkeit der Schaffung eines eigenen Industriezweiges sich ergeben« habe. All dies war mit der Frage des rechten, rechtzeitigen, also gesicherten Beginns der Grundlagenforschung verknüpft.1200 Lauter sandte am 18. Dezember an die Auslandsabteilung der DAW ein Protokoll der »Bürositzung der Kommission der Akademien sozialistischer Länder für multilaterale planetare geophysikalische Forschungen« (KAPG). Die Sitzung fand vom

1200  Büro der wissenschaftlichen Fachbereiche Physik vom 23.10.1967: Bemerkungen über den Stand der Auswertung des Briefes des Vorsitzenden des MR an den Vorsitzenden der FG am 22.6.1967; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 259, S. 1–8.

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12. bis 15. Dezember in Sofia in der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften statt. Lauter wies in dem Schreiben auf insgesamt vier Punkte hin, die im Protokoll »nicht ohne Weiteres« erkennbar waren. Thematisch ist der dritte Punkt relevant, der Lauters Haltung zur Interkosmos-Problematik deutlich macht: »Ich habe mich vorliegenden Anträgen widersetzt, die auf staatlicher Ebene ablaufende Arbeit des Interkosmos-Komitees mit der multilateralen Zusammenarbeit der Akademien auf dem Gebiet der solar-terrestrischen Physik zu vermengen. Bevor die Kommission von solchen Plänen sowjetischer Wissenschaftler, die nicht unmittelbar in der Interkosmos-Arbeit stehen, Kenntnis nimmt, wird das Büro der KAPG die zuständigen Unterkommissionsvorsitzenden nochmals auf der nächsten Bürositzung am 17. März hören. Insbesondere wird von diesen Vorschlägen die Satelliten-­Geodäsie betroffen bzw. auch die multilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der optischen Beobachtungen von Satelliten und zum anderen die Fragen des solar-terrestrischen Dienstes sowie der kommenden Jahre der aktiven Sonne. Ich habe mich dafür ausgesprochen, dass über diese Punkte nur dann gesprochen werden sollte, wenn vom sowjetischen Interkosmos-Komitee eine entsprechende Anfrage über Zusammenarbeit vorliegt. Der Vorsitzende der KAPG, Boulanger, wird die nötigen Vorbesprechungen mit dem Vorsitzenden des sowjetischen Interkosmos-Komitees dazu führen. (Dazu werde ich das zuständige Koordinierungskomitee bei unserem Ministerium für Wissenschaft und Technik informieren.)«1201 Ein Papier des Beirats »Raumforschung« vom MWT listete für 1966 und 1967 die Mitgliedschaften von DDR-Wissenschaftlern in internationalen wissenschaftlichen Organisationen auf, die mit Fragen der Raumforschung im weitesten Sinne befasst waren. Demnach waren in 36  Positionen 18  Personen tätig: Lauter (7), Schmelovsky (5), Fanselau (3), Arnold, Böhme, Hoppe, Lucke, Sprenger und Wagner (je 2) sowie Daene, Glöde, Jäger, Kautzleben, Künzel, Schmidt, Taubenheim, Täumer und Wiese (je 1).1202 Am 29. Februar 1968 hatte Stiller alias IM »Martin« dem MfS in der Konspirativen Wohnung (KW) »Erlkönig« von jener prognostischen Kommission der DAW berichtet, die unter Leitung Rompes stand. Der hatte alle Mitglieder auf Geheimhaltung schriftlich verpflichtet. Die Aufgaben der Kommission bezogen sich auf den wissenschaftlichen Gerätebau, Spezialtransistoren, Langzeitgalvanometer sowie Seismografen. Für diese Arbeiten waren Beschaffungen »auf Umwegen aus dem kapitalistischen Ausland« notwendig. Rompe arbeite hierzu mit Mstislaw W. Keldysch von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR »eng zusammen«. Der Geo-Astro-Sektor solle zentralisiert werden. Dies geschehe geplant unter Lauter. Stiller sprach sich nicht gegen die Zentralisierung aus, warnte aber davor, Lauter 1201  Schreiben von Lauter an Hillmann, Abt. für auswärtige und internationale Angelegenheiten der AdW; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 344, S. 1–3. 1202 Vgl. MWT, Beirat Raumforschung: Mitgliedschaften von DDR-Wissenschaftlern in internationalen wissenschaftlichen Organisationen für die Jahre 1966/67; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 389, S. 1–3.

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zu viel Macht zu geben, da dessen »subjektiv gefärbte Ansichten« diese noch befördern werde.1203 Stiller wurde von nun an regelrecht als Feindbastion gegen Lauter aufgebaut. Das MfS »verortet« sich mit inoffiziellen Mitarbeitern Am 10. April 1968 erfuhr das MfS, dass Lauter zum 1. Mai mit dem Nationalpreis ausgezeichnet werden sollte. Das bot die Gelegenheit zu prüfen, ob ein Einspruch möglich sei. Und man fand fast immer etwas, was nicht in das Bild eines sozialistischen Wissenschaftlers passte. Etwa ein Bild von Otto Hachenberg, das Lauter in der Außenstelle Juliusruh auf Rügen aufgehangen hatte. Hachenberg, einst Direktor des HHI, verließ 1961 die DDR.1204 In dem MfS-Bericht steht auch vermerkt, dass zehn Personen des HHI ständig aufzuklären seien, u. a. Ludwig Mollwo und Gerhard Zimmermann, ebenso die fachlichen Verbindungen des HHI zur Sternwarte Bonn.1205 Noch im April beauftragte die Abteilung 5 der HA XVIII das Referat  1, die IM »Sperling« und »Marianne« im Rahmen des operativen Materials »Bonn« konzertiert zu Fragen der bestehenden Verbindungen zwischen Mitarbeitern des HHI und der Sternwarte Bonn, an der Hachenberg beschäftigt war, einzusetzen.1206 Zusätzlich wurde auch Lotar Ziert alias GI »Karl« (siehe u. a. Kap. 3.3.2, Exkurs 1) eingesetzt.1207 Indes machte die SED Nägel mit Köpfen und tauschte führende Köpfe in der Administration von Instituten aus. Viktor Kroitzsch berichtete am 20. Juni über die Struktur- und Personalveränderungen am Geodätischen Institut Potsdam (GIP). Stiller hatte am 14. Juni vor der Parteigruppe bekanntgegeben, dass der designierte Leiter Kautzleben sei. Peschel sei ohnehin nur eine Übergangslösung gewesen. Unverhohlen äußerte Kroitzsch, dass mit der Einsetzung Kautzlebens »gleichzeitig eine Umbesetzung des ganzen Institutes« erfolgen werde. Damit hätten »wir« – also die Partei! – »jetzt die Möglichkeit, Abteilungsleiter abzusetzen bzw. neu zu berufen, Abteilungen aufzulösen und andere zu bilden«. Und weiter: »Diese Möglichkeit will ich nutzen, um [zwei namentlich genannte Wissenschaftler – d. Verf.] umsetzen zu lassen, da beide fachlich nicht vertretbar sind [das Gegenteil war der Fall – d. Verf.]. 1203  BV Gera, KD Jena, AG XVIII / I nst., vom 19.3.1968: Bericht zum Treffen mit »Martin« am 29.2.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 80 f., hier 80. 1204 Mielke hatte von dem »Abwerbungsversuch« erfahren und informierte Ulbricht, Hager und Apel. Apel sprach mit Hager und teilte Mielke mit, dass Hager »die Angelegenheit persönlich in die Hand« nehmen wolle. Das hatte jedoch keinen Erfolg. MfS vom 4.7.1961: Einzelinformation Nr. 353/61 über Versuche der Abwerbung des Leiters des HHI, Prof. Hachenberg; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 440, Bl. 1 f. 1205  Vgl. MfS vom 11.4.1968: Bericht zum Treffen mit »Sperling« am 10.4.1968; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13717, Bl. 1 f., (o. Pag.). 1206  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 8.4.1968: Einsatz von »Sperling« und »Marianne«; ebd., Bl. 1. 1207  Vgl. MfS vom 2.5.1968: Bericht zum Treffen mit »Karl« am 2.5.1968; ebd., Bl. 1.

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Weiterhin kann ich aus der Zusammenarbeit mit dem MfS entnehmen, dass auch dort ein Interesse daran besteht.«1208 Der HFIM Hans-Dieter Schön alias »Böttger« hielt im Monatsbericht für Juli 1968 fest, dass am 25. Juli eine Plenartagung der DAW stattfand, »auf der der neue Akademiepräsident und der Generalsekretär gewählt« und auch »die Akademiereform proklamiert« worden seien. Die Neustrukturierung des »Geo-Astro-Sektors« sei jedoch noch nicht »formuliert« worden. Die Information hatte »Böttger« vom GI »Seidel« bezogen. »Die wissenschaftliche Konzeption zur Neustruktur«, so der GI »Norbert«, solle bis zum 15. August der DAW-Leitung vorgelegt werden. Der GI »Norbert« hatte in Sachen Raumforschung eine Mitteilung zu machen, deren Konsequenz noch keiner ahnen konnte. Demnach sei die DDR »mit ihren Forschungsergebnissen in Moskau gut angekommen. Die sowjetischen Wissenschaftler« seien »erstaunt, mit wie wenig Mittel und in welch kurzer Zeit dies in der DDR möglich« gewesen wäre. »Man will die DDR in einem noch größeren Maß in die Raumforschung mit einbeziehen.« Das aber hänge von ihr selbst ab.1209 Im August 1968 fand auf der Wiener Hofburg die erste UNO-Konferenz über die Erforschung und friedliche Nutzung des Weltraumes statt, an der 2 000 Wissenschaftler aus 70 Ländern teilnahmen. Lauter sah in diesem Datum den Beginn der zweiten Etappe der Weltraumforschung, die von der friedlichen Nutzung der Ergebnisse getragen sein werde.1210 Im Oktober glaubte der GI »Norbert« über Lauter zu wissen, dass der regelrecht fertig sei mit der Parteileitung seines Institutes, die »Art und Weise der Behandlung« sei für ihn »nicht hinnehmbar«. Auch der für Sicherheitsfragen zuständige Günther Bliesener (Kap. 5.2, MfS-Spezial II, FG 3) sei negativ aufgefallen. Man habe sich zwar daran gewöhnt, doch weiterhin maße er sich »Enormes« an, »was zur weiteren Abneigung gegenüber der Person Bliesener« geführt habe. Ähnlich soll sich Lauter über Parteisekretär Ziert ausgelassen haben, der sich im »HHI unmöglich benommen« habe. »Er kam völlig unvorbereitet und wollte nach 30 Minuten eine Einschätzung der Lage im HHI geben. Man unterbrach Ziert in seiner Rede und gab ihm zu verstehen, dass man mit Behauptungen und Unsachlichkeiten nichts ändern könne. Einige Anschuldigungen gegenüber Professor Lauter wurden konkret zurückgewiesen.« Der GI »Marianne« berichtete über Ziert ähnlich: der spiele »immer mehr eine diktatorische Rolle«. Sein »Arbeitsstil« schaffe »große Spannung, Unzufriedenheit und schlechte Arbeitsatmosphäre«. Er sei »in der letzten Woche im September im HHI« gewesen und »wollte die Parteileitung des HHI überzeugen,

1208  BV Potsdam vom 25.6.1968: Bericht von »Geos« am 20.6.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 1, (FiKo). Enthalten auch in: BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2059/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 102 f. 1209  HFIM »Böttger« vom 26.7.1968: Monatsbericht Juli 1968; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 93–97, hier 93 f. 1210  Vgl. Mitteilung; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 790, 1 S.

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dass Lauter unmöglich« sei. »Die Genossen« hätten sich jedoch »gegen eine solche Haltung gestellt«, seine Belege seien »falsch und schadenfeinig [sic!]«.1211 Zur Neustrukturierung des GIP berichtete Kroitzsch aus der Warte der SED vom 14. Oktober. Ausgangspunkt war die neue Wissenschaftskonzeption (WK). Aus ihr ergebe sich die Notwendigkeit, 25 Prozent der bestehenden Aufgaben des Institutes zu verändern. Es würden lediglich vier Abteilungen fortbestehen, der Rest müsse in einer Arbeitsgruppe zusammengefasst werden. Die Abteilungen waren: Observatoriumsprogramme, Satellitenbeobachtung, Digitalisierung und Automatisierung sowie Rezente Erdkrusten (ein neu hinzukommendes Thema). Für die dritte Abteilung sei Hans-Joachim Fischer, für die vierte Heinz Kautzleben vorgesehen. An diesem 14. Oktober gab Kroitzsch dem MfS auch einen umfangreichen Bericht zu Bedeutung, Art, Aufgabe, Struktur, Programm und Status der Mitgliedschaft der DDR in der URSI. Bislang sei die DDR mit dem Status eines Gastes vom westdeutschen Landesverband mit Materialien und Informationen versorgt worden; Kroitzsch: Die URSI sei »ausgesprochen international«, in ihr sei »die USA aufgrund ihres großen Anteils und ihrer gut entwickelten Grundlagenforschung« tonangebend.1212 Der GI »Norbert« berichtete im November über den wissenschaftlichen Beirat für Kosmische Physik beim Ministerium für Wissenschaft und Technik (MWT). Lauter war Vorsitzender, sein erster Stellvertreter war Knuth. Als Sekretär war Kempe ins Gespräch gebracht worden. Zu den neun Mitgliedern zählten – die in der Untersuchung bedeutenden – Daene, Schmelovsky, Wagner, Oberstleutnant Wolf vom MdI, Böhme und Buschinski. Das IOS würde »bis zu 90 Prozent seiner Gelder vom VEB Carl Zeiss Jena bekommen«, das habe Paul Görlich im MWT gesagt.1213 Später, am 15. August 1989, habe das ZOS kein Geld gehabt, um die Löhne und Gehälter auszuzahlen. Angeblich habe man das bei Carl Zeiss vergessen, also habe man sich Geld vom Institut für Kybernetik geborgt. Einen Kredit aber wolle man nicht aufnehmen.1214 Zur von Artur Lösche erstellten Konzeption »Prognose Physik« vom 7. November 1968: Im Rahmen der Bedeutung der Wissenschaften erinnerte er an erster Stelle an die »Hauptaufgabe im Weltmaßstab« und erwähnte u. a. die »Erschließung neuer Erkenntnisse«, die »Anwendung zur Verbesserung der Ernährung«, die »Schaffung neuer Energiequellen« sowie die »Verbesserung des Zusammenlebens der Völker«. Er wies darauf hin, dass »der materielle und ideelle Aufwand in fast allen Teilgebieten so groß geworden« sei, »dass heute weder ein Institut noch ein Staat alle Teile der Physik gleichmäßig mit maximaler Effektivität fördern« könne, woraus die

1211  HFIM »Böttger« vom 24.10.1968: Monatsbericht Oktober 1968; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 117–122. 1212  BV Potsdam: Bericht von »Geos« am 14.10.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 1, FiKo, Bl. 60–71. 1213  HFIM »Böttger« vom 23.11.1968: Monatsbericht November 1968; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 128–135, hier 129 u. 131. 1214  Vgl. HFIM »Böttger«: Monatsbericht August 1969; ebd., Bl. 234–239, hier 236 f.

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Konsequenz erwachse, sich auf strukturbestimmende Teilgebiete zu konzentrieren. Dies könne jedoch nur gelingen, wenn parallel zum Aufbau von Großforschungszentren die theoretische physikalische Physik »ausgebaut« werde. »Jedes Teilgebiet der Physik«, so Lösche, mache »in seiner Entwicklung mehrere Stadien durch: Am Anfang überwiegt die Erkundungsforschung (Grundlagenforschung), dann beginnt die angewandte Forschung, und diese geht in die industrielle Entwicklung über.« Die Gesamtzeit dieser drei Phasen sei disziplinär unterschiedlich, allgemein gehe sie immer rascher vor sich. Auch der Aufwand sei unterschiedlich, »für ein ›abgearbeitetes‹ Gebiet« könne »man etwa mit einem Verhältnis von Erkundungsforschung« zu »angewandter Forschung« und zur »Entwicklung« von 1 : 10 : 100 ausgehen. Der technische Höchststand in der Physik werde heute an der »Raketentechnik und interplanetaren Forschung, Erzeugung von Energie durch Kernumwandlung« sowie »Erzeugung und Verbesserung neuer Werkstoffe« gemessen.1215 Die vom MfS zusammengetragenen Anhaltspunkte einer möglichen Spionage von Lauter waren extrem schwach und firmierten unter der »Logik« des Verdachts der Informationsgewinnung für westliche Geheimdienste, die möglicherweise ein Interesse an seiner Person entwickelt hätten. Ein Generalsekretär der DAW mit zahlreichen Funktionen in internationalen Organisationen und Gremien, ohne dass er Interesse seitens der Nachrichtendienste geweckt hätte, ist freilich ein Unding. So kam es von nicht Ungefähr, dass der sogenannte härteste Fakt einer nachrichtendienstlichen Tätigkeit einem Zufall entstammte (zu solchen Zufällen siehe Kap. 5.1, MfS-Spezial I). Auf einer Dienstfahrt ließ Lauter plötzlich seinen Wagen halten und fotografierte im Beisein seines Kraftfahrers »auf dem abgelegenen Bahnhof Ruschhof / Strecke Wittstock – Neustrelitz am 11. Januar 1969 in der Nähe eines Militärübungsplatzes einen Militärtransportzug mit sowjetischen Radaranlagen«.1216 Konnte einer wie Lauter, der »seine« Radar-Empfangstechnik zufällig zu Gesicht bekam, da widerstehen? Bei seiner Spontanität kaum. Vier Jahre später, im Februar 1973, wurde dem MfS durch einen IM bekannt, dass Lauter bei einer Fahrt »nach Schwerin im Raum Neuruppin die Hauptstraße« verlassen »und die Fahrt auf Nebenwegen« fortgesetzt haben soll. Umfangreiche Befragungen und Überprüfungen ergaben jedoch, dass keine belastbaren Hinweise dahingehend eingingen, wonach sein Interesse militärischen Dingen gegolten haben mag.1217 Doch was war im Januar genau geschehen? Die Abteilung XIX der BV Schwerin informierte die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin, Abteilung  VII, am 21. Januar, dass »im Zusammenhang mit dem Transport von Militärzügen im Streckenbereich Wittstock-Neustrelitz« in den Mittagsstunden am 11. Januar ein schwarzer PkW vom Typ Tatra 603 »in Erscheinung« getreten sei. Schwerin bat um 1215  Lösche, Artur: Entwurf einer Konzeption für die »Prognose Physik« vom 7.11.1968; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 387, S. 1–7, hier 1–4. 1216  HA XVIII/5 vom 23.7.1971: Auskunftsbericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. ­29–48, hier 38. 1217  HA XVIII/5/3 vom 28.3.1973: Sachstandsbericht; ebd., Bd. 2, Bl. 69–101, hier 97 f.

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Aufklärung, wem dieses Fahrzeug gehöre1218 und bekam die folgende Information von dem GM »Agronom« am 20. Januar, der bei der Beobachtung, wie er aussagte, von seiner Frau unterstützt wurde. Demnach hätten Beifahrer und Fahrer des Tatra bereits um 9.35 Uhr »die Züge« fotografiert. Auf dem Bahnhof standen ein Militärtransportzug, beladen mit Panzern, und ein Nahgüterzug, der einige Wagen mit einer sowjetischen Einheit transportierte. Der Überweg soll gesperrt gewesen sein. Nachdem der Panzerzug abgefahren war, konnte der andere Zug vorgezogen werden, womit der Übergang wieder frei wurde. Der Tatra sei dann mit hoher Geschwindigkeit davongefahren, während der Beifahrer »sich in den Wald in Richtung Dranse« bewegt haben soll.1219 Die Berliner Tschekisten klärten erst am 9. April den »Vorfall« auf: Für den 12. Januar war ein Führungskader-Lehrgang in Binz geplant, an dem Lauter teilzunehmen hatte. »Voraussichtlich« sei er abends am 10. oder früh am folgenden Tag von Berlin nach Kühlungsborn gefahren. Dass Lauter »ab und zu einmal quer durch den Wald (Waldwege und abgelegene Landwege) fahren ließ«, sei bekannt und erfolge aus Gründen der Erholung.1220 Am 29. April unternahm die HA  XVIII/5/1 eine Dienstfahrt zur Außenstelle Wittenberge der Abteilung XIX der BV  Schwerin, um einen Lokaltermin am Bahnhof Dranse wahrzunehmen. Gemeinsam mit dem besagten IM fuhren die Offiziere von Wittenberge bis Wittstock, anschließend über Berlinchen, Sevekow nach Buschhof, jenem Ort, wo die Befragung des IM und seiner Frau stattfand. Man fuhr auch Waldwege ab.1221 Am 27. Januar 1969 fand in Potsdam die Konstituierung des Forschungsbereiches (FoB) Kosmische Physik sowie der Potsdamer Zentralinstitute statt. Hierzu berichteten einige inoffizielle Mitarbeiter, u. a. Stiller. Auch untergeordnete Strukturfragen wurden erörtert, so die ungelöste Situation des Instituts für Geodynamik in Jena. Die Vertragsforschung mit dem VEB Carl Zeiss Jena war indes »noch nicht spruchreif«.1222 Die Akademiereform lief nun auf Hochtouren. In spezifischer Weise aber traf es jene Institute, die im Zusammenhang mit dem Komplex der Raumforschung standen. Hier bündelten sich Maßnahmen und Probleme wie Zentralisationszwänge, Ausgliederungen, Personalaustausche und -Selektionen, Einführung von erhöhten Sicherheitsbestimmungen, Legitimationszwänge und Kooperationsprobleme. Unter den Instituten traf es das HHI noch einmal besonders hart. Die Strukturveränderungen brachen schließlich mittenhinein in laufende Forschungen und Datenerhebungsprozesse, die nicht wie in Schraubenfabriken einfach auch mal hätten unterbrochen werden können. Hinzu kam das bekannte Phänomen, dass der Rückfluss von Daten zu eigenen Raumforschungsexperimenten seitens 1218  BV Schwerin, Abt. XIX, an die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin, Abt. VII, vom 21.1.1969: Eine Kfz-Feststellung; ebd., Bd. 3, Bl. 14. 1219  IM-Bericht vom 20.1.1969; ebd., Bl. 15. 1220  Abschrift vom 9.4.1969: Aktennotiz; ebd., Bl. 16. 1221  Vgl. HA XVIII/5/1 vom 5.5.1969: Aktenvermerk; ebd., Bl. 39. 1222  BV Gera, KD Jena, vom 3.2.1969: Bericht zum Treffen mit »Martin« am 31.1.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 93–95.

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Abb. 35: Topografie des Irrsinns

der Sowjetunion mangelhaft war. Bei Spaltungsprozessen oder Neugründungen von Instituten entstand immer wieder das Problem, dass sich Theorieabteilungen nicht so einfach aus dem Boden stampfen ließen. Ein Problem, dass auch mit fehlendem Wettbewerb, zu geringer Elastizität des »Marktes« und vor allem mit dem Fakt engster personaler Ressourcen verknüpft war. Während – ceteris paribus – das (umgesetzte) ingenieurtechnische Personal praktisch sofort wieder wirksam werden konnte, benötigten insbesondere spezifisch orientierte theoretische Disziplinen erheblich viel mehr Einarbeitungszeit, auch mussten sie oft erst Erfahrungen sammeln. Die Unterschätzung der »langsamen« Grundlagenforschung als Basiswissenschaft ist nicht nur ein speziell sozialistisches Phänomen (Grundlagen bekommt man nicht ohne Gründlichkeit!), war aber in der DDR besonders stark ausgeprägt. Auch war in spezifischer Weise der Kooperationsbedarf hoch. Die Daten mussten weltweit möglichst realtime ausgetauscht werden. Dazu gesellte sich auf kontraproduktiver Weise der hypertrophe Grad des Geheimnisschutzes, da beispielsweise Messdaten

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der Atmosphäre nicht nur ökonomisch, sondern auch militärisch von Interesse waren. Zum Beispiel kann zum Zwecke von Frühwarnsystemen über Schräglotungen zwischen zwei weit auseinander liegenden Punkten die durch Raketen hervorgerufene Ionisierung gemessen werden. Nach der Bildung des Zentralinstituts für Physik der Erde (ZIPE), so berichtete Kroitzsch am 14. Januar 1969 dem MfS, habe »in der zweiten Runde« die Berufung der Bereichsdirektoren im Mittelpunkt gestanden, danach die der Abteilungsleiter. Auch die Entscheidung, wer in die Satellitengeodäsie komme und wer nicht, werde demnächst fallen. Jedenfalls seien sich die Genossen »darin einig« gewesen. Wenn er hier von »wir« sprach, war die SED gemeint, in Sonderheit jedoch er selber sowie Kautzleben und Stiller. Wichtig sei der Partei, dass Arnold, der vom MfS unter maßgeblicher Hilfe von Kroitzsch operativ bearbeitet wurde, »nicht in diese Gruppe soll«. Kroitzsch »habe in dieser Frage ein böses Gefühl«, da Lauter in Arnold den »geeigneten Fachmann schlechthin« sehe. Kautzleben soll es jedoch geschafft haben, sich gegen Lauter durchzusetzen. Gerade in der Reformzeit stand wie immer in solchen Zeiten die Aufgabe an, der SED Spitzenleistungen zu melden. »Wir«, so Kroitzsch, »hatten einige Dinge vorgeschlagen, die Lauter aber ablehnte«. Lauter wies dagegen auf die Arbeiten Arnolds hin, die Spitzenleistungen darstellen würden. Kroitzsch befürchtete, dass Lauter Arnold auf dem Leibniz-Tag vortragen lassen werde, sodass der dann im Akademiemaßstab aufgewertet werde. Es ginge dann schlecht, ihn nicht in die Gruppe Satellitengeodäsie zu nehmen. Ist er nicht in der Gruppe, könne es dennoch geschehen, dass Arnold zu Tagungen fahre, da er der anerkannte Wissenschaftler auf diesem Gebiet sei. Kroitzsch: »Ich nehme an, dass« Arnold »todsicher damit rechnet, dass er die Satellitengeodäsie übernehmen wird. Er muss also ganz schön erschrecken, wenn« er gewahr wird, dass er es nicht wird »und gleich zu Lauter laufen.«1223 Am 28. Januar berichtete Kroitzsch über intensive, eine Woche währende Gespräche in Binz über die Bildung des FoB Kosmische Physik. Es bestanden zunächst »erhebliche Schwierigkeiten«, die die Bildung des FoB gefährdeten. Andere Forschungsbereiche, die gebildet werden sollten, seien aufgrund mangelhafter wissenschaftlicher Konzeptionen zunächst auch nicht »genehmigt« worden. Die Schwierigkeiten seien aber für den eigenen Bereich überwunden worden. Steenbeck hatte auf der Präsidiumssitzung der DAW am 23. Januar die Bildungsurkunde unterschrieben. Kroitzsch mutmaßte, dass Lauter hieran großen Anteil gehabt habe, die Schwierigkeiten zu überwinden. Er rechne es ihm hoch an. Lauter aber werde nun Schwierigkeiten bekommen, da er sich gegen führende Leute durchgesetzt habe. Jedenfalls seien zur Bildung des Fachbereiches am 24. Januar keine Vertreter der DAW und des MWT gekommen. Also kein Hofmann, kein Frey, kein Hörnig und kein Klare, mittlerweile Präsident der DAW. Das sei unverständlich, da es der erste Fachbereich war, der gegründet worden sei, übrigens unter Ausschluss der Medien. 1223 BV Potsdam: Berichterstattung von »Geos« am 14.1.1969; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 1, FiKo, Bl. 120.

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Allerdings seien »Vertreter der anderen zu gründenden FoB und Vertreter des Rates des Bezirkes, der Stadt und der Partei« anwesend gewesen, auch der zentrale Kaderleiter der DAW. Man rechne mit einem Zuwachs von circa 100 Wissenschaftlern. Auch ein großes Rechenzentrum sei in Aussicht gestellt worden.1224 Das für die damaligen DDR-Verhältnisse umfangreiche Investprogramm in Höhe von 24 Millionen Mark, davon entfielen circa 15 Millionen Mark auf den geplanten Neubau der Zentrale, musste laut Kroitzsch innerhalb von nur 24 Stunden eingereicht werden, anderenfalls wäre das Programm nicht mehr in den Perspek­ tivplan bis 1975 hineingekommen. Der Abteilungsleiter für Grundfonds- und Investitionen der DAW hätte dann den Plan aus dem Programm streichen müssen. Dies berichtete Kroitzsch dem MfS am 24. Februar. Er sprach an dieser Stelle von einer »zusammengeschusterten Begründung«, die erhebliche Gefahren in sich berge; Kroitzsch: »Ich möchte diesen Gedanken nicht zuende denken, wenn ich mir vorstelle, dass alle Investitionsvorhaben so schnell, oberflächlich und unwissenschaftlich durchgeführt bzw. begründet« würden. »Ähnlich« verhalte es sich mit der Bilanzierung der Forschungskapazitäten und des Personals, man stecke mitten in der Profilierung der Konzepte und müsse bereits harte Daten vermelden.1225 Diese Daten sprechen insgesamt dafür, dass es Lauter gelungen war, Peripheriedisziplinen, jedenfalls in den Augen der SED und anderer Forschungsdisziplinen, zu stabilisieren. Am 2. Juni berichtete der Abteilungsleiter Satellitengeodäsie des ZIPE, Manfred Klotz* alias IM »Annekathrin«, umfassend über die vom 11. bis 24. Mai in Prag stattgefundene XII. Plenartagung des COSPAR, in Sonderheit über die Sitzungen der Working groups. In der Working group I hatte erwartungsgemäß der IM statt Arnold teilgenommen. Sie befasste sich mit Satellitengeodäsie, speziell mit Fragen der Satellitenbeobachtung. Führend in dieser Gruppe waren die USA und Frankreich. Allgemein äußerte Klotz* zum COSPAR, dass es bislang »für uns eine Quelle der Information« war, künftig jedoch soll »unsere Forschung« in der DDR »auf ökonomisch effektive Aufgaben« konzentriert werden.1226 Zur Einführung in die Working group I habe ihm Lauter gesagt, dass er »als Vertreter von Dr. Arnold auftreten soll«. Erst später, nach der Veranstaltung habe Lauter dies korrigiert und dem französischen Präsidenten des COSPAR, Kovalevsky, mitgeteilt, dass Arnold ausscheide. Die amerikanische Seite soll daraufhin laut Lauter kritisch reagiert haben. Lauter habe ihm aber hierüber nichts Genaues gesagt.1227 Vom 10. Juni stammt ein zweiter Bericht, der vermutlich auch von Klotz* gelieferter worden war. Demnach hatten circa 600 Wissenschaftler aus 28 Staaten teilgenommen. Delegationsleiter der 12-köpfigen DDR-Delegation war Lauter. Die USA seien mit 105 Teilnehmern am stärksten vertreten gewesen, gefolgt von der Bundesrepublik mit 65. Aus der 1224  BV Potsdam: Berichterstattung von »Geos« am 28.1.1969; ebd., FiKo, Bl. 122. 1225  BV Potsdam: Berichterstattung von »Geos« am 24.2.1969; ebd., FiKo, Bl. 126. 1226  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 2.6.1969 (I); BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 22 f., hier 23. 1227  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 2.6.1969 (II); ebd., Bl. 24.

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Sowjetunion seien 45 Personen angereist. Es sei aufgefallen, dass sich Karl M. Rawer (siehe auch unten) »in der Regel neben DDR-Teilnehmer setzte (das waren Knuth, Wagner und Bischoff) und das Gespräch suchte«.1228 Solche Feststellungen registrierte das MfS unter dem Verdacht einer »Abschöpfungstätigkeit«. Ein anderer westdeutscher Wissenschaftler soll sich u. a. an Schmelovsky »herangemacht« haben. Der ehemalige DDR-Wissenschaftler Hans Volland, der bis 1958 im HHI tätig war, sei auch anwesend gewesen, er arbeite derzeit bei Bonn. Er pflege, so der IM, aktive »Rückverbindungen« zum HHI. Er sei zu einem Studienaufenthalt im Goddard Space Flight Center gewesen und soll sich nach Taubenheim und Knuth erkundigt haben. Manfred Klotz* glaubte sagen zu müssen, dass es »ersichtlich« geworden sei, »dass die Amerikaner bemüht« seien, »nahezu alle Länder in das Beobachtungssystem ihrer Satelliten einzubeziehen«. Diese Äußerung sollte künftig zum Stereotyp der Verdächtigungen gegen Lauter werden. Zur Geheimhaltungspflicht wusste er zu berichten, dass die ČSSR-Vertreter ausscheren würden, da sie »enge Verbindungen« mit dem Westen unterhielten. Bei der Besichtigung des Observatoriums Ondřejov (ČSSR) sei offenkundig geworden, dass die ČSSR-Kollegen enge Verbindungen zu Wissenschaftlern Frankreichs, Hollands und Italiens hätten. Valniček habe wiederholt betont, »dass er die Geheimhaltungs­ bestimmungen für die Interkosmos-Zusammenarbeit nicht anerkennt und er sich nicht daran gebunden« fühle. Er betonte, »dass die Zusammenarbeit mit Frankreich für die ČSSR effektiver« sei »als die Zusammenarbeit innerhalb des Interkosmos«. Eine Gruppe von ČSSR-Wissenschaftler habe gar den Beschluss gefasst, »eine Weltliste für sämtliche Satellitenbeobachtungsstationen mit genauer Angabe der Koordinaten zu führen«. Die Amerikaner hätten ihnen bereitwillig Codes, etwa zur Abfrage des Satelliten Explorer 37, übergeben. Die Direktive, »sich nach Möglichkeit aus dem Büro« des COSPAR in Paris »zurückzuziehen«, habe Lauter schleifen lassen.1229 Valniček stand bereits kurz zuvor im Mittelpunkt einer Erstinformation des MfS vom 4. Juni über die Verletzung der Geheimhaltungsbestimmungen im Rahmen der Interkosmos-Kooperation. Er lasse sich nicht davon abbringen, Daten des Satelliten Kosmos 261 mit französischen Wissenschaftlern auszuwerten.1230 Die URSI-Tagung in Lindau Das MfS registrierte am 19. Juni Reglementierungsversuche des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, Herbert Weiz, gegenüber Lauter. Der Staatssekretär im MWT, Klaus Stubenrauch, hatte am 18. Juni Lauter und anderen Personen eine Reise nach Lindau / Harz zur URSI-Tagung versagt. Das Reiseverbot ging auf die 1228  HA XVIII/5/AG vom 10.6.1969: 12. Plenartagung des COSPAR; ebd., Bl. 7–12, hier 8. 1229  Ebd., Bl. 9–12. 1230  Vgl. MfS vom 4.6.1969: Erstinformation über die Verletzung von Geheimhaltungsbestimmungen; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1697, Bl. 1–3.

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Begründung zurück, dass Lauter »entgegen erteilter staatlicher Weisung diese Reise bei Dr. Weiz nicht zur Bestätigung eingereicht« habe und dass »über den Beitritt der DDR zur URSI durch den Ministerrat der DDR noch kein entsprechender Beschluss gefasst« worden sei.1231 Lauter gelang es dennoch, teilzunehmen. Dort habe er in Aussicht gestellt, an der Problematik der Messungen der Winteranomalie (siehe unten) »mitzuarbeiten«.1232 Ein weiteres Dokument vom 19. Juni zur Sache zeigt das gesamte Dilemma wissenschaftlichen Handels in der steten Spannung zwischen fachadäquatem und politisch korrektem Handeln. Danach hatte Stubenrauch am 18. Juni das MfS um eine Aussprache gebeten. Er legte dem MfS eine von Lauter dem MWT eingereichte »Direktive zur Teilnahme an einer Sitzung der leitenden Mitarbeiter des URSI-­ Nationalkomitees der Europäischen Region in Lindau / Harz (Westdeutschland)« vor, die am 24. und 25. Juni tagen sollte. Der Inhalt der Direktive, so Stubenrauch, entspreche einer bereits von Rompe »geäußerten Auf‌fassung«, wonach diese »eine Form der internationalen wissenschaftlichen Arbeit demonstriere, die den nationalen und außenpolitischen Interessen der DDR kaum« diene. »Diese internationalistische, fast mit einer konvergenztheoretischen Auf‌fassung zu vergleichende Haltung, müsste Anlass sein, diese Reise zu untersagen.« Stubenrauch legte dar, dass demgegenüber Interesse bestehe, »eine gleichberechtigte Mitgliedschaft der DDR in der URSI anzustreben und dass dieses Interesse öffentlich in der Sitzung des ›Koordinierungskomitees zur Gewährleistung der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder auf dem Gebiet der Raumfahrt‹« am 14. Juni durch Fritz Hilbert, Stellvertreter des Ministers des MWT und Vorsitzender des Koordinierungskomitees, »begründet« worden sei, der »damit« auch »die bevorstehende Reise faktisch bestätigt« habe. Stubenrauch habe deshalb festgelegt, dass die Direktive Lauters vom MWT neu formuliert werde mit folgenden drei Auf‌lagen: (1) Da die Sowjetunion »nicht an dieser Sitzung teilnimmt, sind Vereinbarungen und Festlegungen im Sinne der europäischen Region nicht möglich, und Professor Lauter ist nicht berechtigt, auch im Namen der UdSSR aufzutreten.« (2) »Die DDR wird deshalb gegenüber den beabsichtigten europäischen Aufgaben keine Zustimmung erteilen, da noch keine staatsrechtliche Entscheidung dazu vorliegt.« (3) »Zur Behandlung der europäischen Probleme kann Professor Lauter den Status eines Beobachters einnehmen.« Der Delegation werde Karl-Heinz Bischoff angehören. Das MfS notierte: »Diese durch Dr. Stubenrauch veranlasste Regelung entspricht im Hinblick auf die personelle Zusammensetzung der Delegation auch den operativen Interessen des MfS.« Stubenreich werde »geeignete Gelegenheiten nutzen, um durch entsprechende Maßnahmen systematisch eine Veränderung im ›internationalen Status‹ von Professor Lauter durchzusetzen.« Bischoff alias IM »Weiß«, ab 1974 Abteilungsleiter und Stellvertreter des Leiters des Bereiches V des Instituts für Elektronik (IE), Zimmermann, galt als 1231  HA XVIII/5 vom 19.6.1969 zu Lauter; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 42. 1232  HFIM »Böttger« vom 26.11.1969: Monatsbericht November 1969; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 272–275, hier 272.

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belesen auf dem Gebiet der Ionosphärenforschung. Er soll sich auf dem Gebiet der Fernerkundung »eine echte Perspektive« erarbeitet haben.1233 Das entsprach den Tatsachen. Sein Bereich wurde konzeptioneller Vorreiter der Fernerkundung zur Detektion des maritimen Chlorophylls. Die offenbar erste, oben erwähnte Hilbert’sche Direktive des MWT aber trug diesen Forderungen bereits Rechnung, sie reklamierte für die DDR lediglich den Beobachterstatus und betonte, dass konstruktive Beratungen über ein Mitwirken bei der Erforschung der hohen Atmosphärenschichten mit bodengebundenen Mitteln bei Abwesenheit der Sowjetunion nicht erfolgen würden. Die Delegaten hätten in Hinblick auf den Aufnahmeantrag der DDR in die URSI positiv zu wirken und dabei die »Problematik […] von der Existenz des souveränen deutschen sozialistischen Staates«, der DDR also, »auszugehen« und den »offiziellen Standpunkt der Außenpolitik der DDR zu vertreten«.1234 Ein Blick auf die von Lauter geschriebene Direktive vom 6. Juni zeigt vor allem, dass er das Ziel anstrebte, »ein einheitliches Beobachtungs- und Kooperationsprogramm auf dem Gebiet der Physik der Hochatmosphäre im europäischen Raum vorzubereiten und der Generalversammlung vorzulegen«. Ihr ist zu entnehmen, dass die Beitrittsmöglichkeit der DDR technisch-organisationell in seinen Augen bereits weit fortgeschritten war, weiter als dies die entsprechenden späteren staatlichen Dokumente nahelegen; Zitat Lauter: »Die Deutsche Akademie der Wissenschaften hat die offizielle Mitgliedschaft für die DDR bei der URSI beantragt. Gemäß mündlicher Mitteilung vom Präsidenten der URSI, Professor Dr. Silver, USA, an Professor Dr. Lauter, ist der Aufnahmeantrag der DDR vor dem Präsidium der URSI positiv behandelt worden. Die Einladung der DDR erfolgt – und darauf hat der englische Veranstalter […] Professor Dr. Lauter ausdrücklich hingewiesen – unter dem Aspekt der Vorbereitung der ordentlichen Mitgliedschaft auf der nächsten Generalversammlung in Toronto.« Da Lauter die Bedenken und Gegnerschaft seitens der SED genau kannte, argumentiert er Restriktionen und mögliche Folgen einer Nichtteilnahme sofort in das Papier hinein: »Eine Nichtteilnahme von DDR-Vertretern würde dokumentieren – auch das hat der englische Vertreter zu verstehen gegeben –, dass die DDR-Wissenschaftler sich nicht im Interesse der Internationalen 1233  Bericht eines IM vom 23.3.1976; BStU, MfS, AIM 1341/86, Teil I, 1 Bd., Bl. 160 f. Zu Bischoff (1935–1981): Studium an der Bergakademie Freiberg 1954–1959, am HHI 1959–1972. Aspekte aus seiner IM-Akte, Teil I (der Teil II in zwei Bde. mit 253 u. 115 Bl. wurde 1986 vernichtet): Im Zusammenhang mit der 1970 erfolgten Werbung Bischoffs notierte das MfS, dass Lauter vor Jahren schon »ein Verbot« aussprach, »mit Mitarbeitern des MfS ohne sein Wissen zu sprechen«. Zumindest bis Oktober 1969 war Bischoff Mitglied der westdeutschen Geophysikalischen Gesellschaft. HA XVIII/5/AG vom 24.3.1970: Bericht über die durchgeführte Werbung; ebd., Bl. 14–17, hier  16; HA XVIII/5 vom 27.10.1969: Bericht; ebd., Bl. 79–81, hier  79; Abschlussbericht vom 29.1.1986; ebd., Bl. 14 u. 179. 1234 MWT (o. D.), Nr. 36.04.9.1.0, durchgestrichen die Nr. 26.04.8.1.1: Direktive für die Teilnahme einer DDR-Delegation an dem Europäischen Regionaltreffen über Ionosphären-Untersuchungen der Internationalen Wissenschaftlichen Radio-Union, URSI, am 24.u.  25.6.1969 in Lindau / Harz; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 46 f.

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Radio-Union betätigen würden. Unser Nichterscheinen hätte zweifellos zur Folge, dass der Alleinvertretungsanspruch des westdeutschen Nationalkomitees verstärkt wieder auf‌leben würde und die vom Präsidium der URSI bereits gutgeheißene Aufnahme in Ottawa im Herbst 1969 erschweren würde.« Bei Nichterscheinen von Lauter werde Professor Bengt Hultqvist »die Interessen der wissenschaftlichen Arbeit der DDR wahrnehmen«. Lauter fixierte ferner, dass ihm »der zuständige sowjetische Vertreter Professor Dr. Puschkow« autorisiert habe, »die ihm bekannten Gesamtinteressen der sozialistischen Länder zu vertreten«. Dies habe er dem englischen Vertreter signalisiert. Die DDR-Vertreter würden, so Lauter, »die in der multi­lateralen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder auf diesem Gebiet festgelegten Aspekte ebenso beachten und dafür Sorge tragen, dass alle Fragen der direkten Zusammenarbeit mit der Sowjetunion (Interkosmos-Programm) weder von ihrer noch von tschechoslowakischer Seite [die ČSSR-Seite war als Teilnehmer gemeldet] zur Sprache kommen.« Gegenstand der Besprechung waren bodengebundene radio-elektrische Messmethoden zur Erforschung der hohen Atmosphärenschichten, »ein Gebiet, auf dem die DDR-Observatorien die Weltspitze mitbestimmen«.1235 Die DDR-Mitarbeit sollte sich auf den Gebieten der »Phänomene der Winteranomalie«1236, der »Effekte hochenergetischer Partikel in der Hochatmosphäre«, »der Netzarbeit der Ionossondenstationen (Internationales Observatoriums-Programm)«, der Erforschung der D-Schicht und schlussendlich in der »Mitarbeit an der internationalen Standardatmosphäre« erstrecken. Aspekte der Raumfahrt, etwa der Vergleich »bodengebundener und direkter Messmethoden«, sollten demnach »von den DDR-Vertretern nicht behandelt« werden. »Ihre Entwicklung im übrigen europäischen Raum« werde »jedoch sorgfältig registriert«. Für sich selbst sah Lauter in der Direktive vor, »die Bestrebungen der Wissenschaft in Westeuropa zu studieren, Wissenschaftsgebiete in europäischen Kooperationen zusammenzuschließen. Die Tendenzen, eine solche Kooperation gegenüber dem amerikanischen Potenzial attraktiv zu gestalten,« sollten sorgfältig studiert werden.1237 Überliefert ist ein Bericht Lauters über die Teilnahme an der Tagung in Lindau / ​ Harz. Demnach waren 60 Spezialisten der Ionosphären- und Raumforschung anwesend. Die DDR habe »die Mitgliedschaft in die URSI« zunächst »erst beantragt, die Aufnahme« sei dann »auf der Generalversammlung der URSI in Ottawa vorgesehen«. Der »Board of Officers« habe den »Antrag bereits positiv entschieden«. Demzufolge habe es für die DDR-Vertreter »auch keinen Sonderstatus« bei der Teilnahme an der Diskussion gegeben. Die Sowjetunion habe dem englischen Vertreter signalisiert, dass Lauter »im Falle seiner Anwesenheit« die Positionen der sozialistischen Länder »mitvertreten« werde »und für die notwendigen Informa1235  Lauter vom 6.6.1969: Direktive für die Teilnahme an der Sitzung der leitenden Mitarbeiter der URSI-Nationalkomitees der Europäischen Region in Lindau / Harz (BRD); ebd., Bl. 48–50. 1236  1937 von Edward Victor Appleton entdeckt. Die Absorptionsfähigkeit ist oberhalb von 35 Grad geografischer Breite an meist vielen Wintertagen deutlich höher als dies sonst der Fall ist. 1237  Lauter vom 6.6.1969; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 48–52, hier 50.

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tionen der sowjetischen« Seite »Sorge tragen möge«. Die Notwendigkeit solcher Zusammenkünfte sei u. a. deshalb erforderlich, weil es in der »Physik der Hochatmosphäre eine Reihe echter regionaler wissenschaftlicher Probleme« gebe, »die nur durch Abstimmung der Nationalkomitees in kooperativer Arbeit gelöst werden können«. Offenbar waren die Schwierigkeiten in Westeuropa enorm. Die Teilnahme an Raketen- und Satellitenexperimenten mache »es kleinen oder neuaufgebauten Wissenschaftlerteams fast unmöglich«, in solche Programme wegen des Genehmigungsverfahrens »hineinzukommen«. Das war exakt das Problem, das Lauter für sich und seine Fachkollegen sah. Aber auch Folgendes schlug bei ihnen ähnlich zu Buche: »Durch den Druck der an der Raumforschung engagierten Industrie« kämen »fast nur Großprojekte […] zum Zuge«. Auch habe sich »gezeigt, dass die ›Europa-Rakete‹ für geophysikalische Experimente nicht geeignet« sei. Das MfS strich von dem 16-seitigen Papier zwei Passagen an. Jene, die beinhaltete, dass ohne Berücksichtigung der Forschungen zur Physik der Hochatmosphäre »die Gefahr« bestehe, »dass die Radio-Wissenschaften in Europa sich« verlagerten, »die Fundamentalforschung ohne Anwendung« bliebe, mit der »Endkonsequenz, dass es nicht genügend Geld für die Forschungen gebe«. Die europäische Situation gegenüber den USA zeige sich zersplittert und sei von »mangelhafter Kooperation«. Junge Wissenschaftler gingen deshalb in die USA. Daher »müsse künftig gelten: Einstellung der Konkurrenz und Aufnahme der Kooperation, Entwicklung zukunftsträchtiger Projekte und deren Lösung in Arbeitsteilung«. Ein Aspekt übrigens, die die Gutachter-IM später begierig aufnahmen und gegen Lauter umzukehren verstanden. Zum zweiten Aspekt: Die Stellungnahme Lauters, wonach »die URSI-Nationalkomitees […] sich dafür einsetzen« sollten, »dass einige Projekte als geschlossene wissenschaftliche Problematik mit den vorhandenen bodengebundenen Ausrüstungen als Beobachtungs- und Bearbeitungsprogramme für Europa aufgenommen werden sollten«, habe zu »harter Diskussion« geführt, die aber »erst zum Kern aller gemachten Ausführungen« geführt habe. Aus der kontroversen Diskussion hätten sich schließlich zwei mögliche Gangarten herausgeschält, einmal in der Richtung der kooperativen Nutzung der vorhandenen Anlagen, und zum anderen in jene, die die kooperative Nutzung erst in zu installierenden neuen Ausrüstungen und Projekten sah. Die letztere Variante entsprach, so Lauter, nicht den Interessen der DDR, anders die erstgenannte, die auf Basis der DDR-Spitzenstellung eine Lösung der wissenschaftlichen Fragestellungen versprach. Lauter zitierte sich selbst mit der Feststellung, dass seine Empfehlung, »allgemein erkannte aber ungelöste Probleme der Atmosphäre über dem europäischen Kontinent durch gemeinsame Experimente mit verschiedenen Methoden in Angriff zu nehmen« auf breiten Konsens gestoßen sei. In summa: es bestehe Konsens darin, dass »die Forschungseinrichtungen der meisten Länder« viel »zu individuell und zu klein« seien, »um ohne gemeinsame Projekte weiterbestehen zu können (Ausnahme Frankreich, Westdeutschland)«.1238 1238  Lauter (o. D.): Bericht über die Teilnahme an der Tagung der URSI-Nationalkomitees der Europäischen Länder in Lindau / Harz (BRD); ebd., Bl. 53–68, hier 53, 55 u. 58–60.

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Mitte 1969 fand ein Gespräch zwischen Fritz Hilbert vom MWT und drei Vertretern des HHI, Schmelovsky, Kempe und Hans-Joachim Fischer, statt. Festzu­stellen ist, dass Hilbert auf eine Kooperation mit Institutionen der Elektronikentwicklung, beispielsweise mit der AME Dresden von Hartmann, insistierte und die Frage stellte: »wem nützen diese Forschungen des Interkosmosabkommens und wie stellt ihr euch die Prognose und die spätere Perspektive des Institutes vor«. Aus der Sicht des MWT, so Hilbert, betrachte man L 4 »als Keimzelle für eine recht moderne Elektronik in der DDR«. In Zukunft sollten »Aufgaben mit unmittelbar industriellem Nutzeffekt von der Grundlagenseite her bearbeitet werden«. Die drei hätten Hilbert darauf aufmerksam gemacht, dass die Bindung an die Geophysik des ZISTP zu Einschränkungen führen werde. Diese kaum erkennbare Nuance widersprach jedoch ihrer Vergatterung durch Lauter und der ihm gegenüber abgegebenen Beteuerung Fischers: Lauter habe »Kempe noch vor der Sitzung instruiert, dass seitens der Teilnehmer keine separatistischen Tendenzen vertreten werden sollten – hier Elektronik, dort Geophysik. Wir haben uns auch streng nach dieser Direktive gehalten.«1239 Diese Ansicht Hilberts vertrat vordem auch Buschinski, bis 1967 Vertreter des SFT, nun MWT, der »in vielen Fragen die gleiche Auf‌fassung wie Lauter« gehabt hatte, also auf Grundlagenforschung und auf Ergebnisse im Sinne der Hartmann’schen »Abfallprodukte«1240 gesetzt habe.1241 Analog hieß es im März: Buschinski vertrete »jetzt schon die gleiche Meinung wie Lauter. Es müssen einzelne konkrete Fakten dazu gesammelt werden.«1242 So weit zu sehen ist, setzte sich binnen nur weniger Monate eine Kleingruppe um Hans-Joachim Fischer gegenüber Lauter, Buschinski und Hilbert durch. Das ist bemerkenswert, da sich beide Gruppen in einem Machtungleichgewicht gegenüberstanden. Zwar war der Kampf beileibe noch nicht entschieden, doch mithilfe des MfS sollte dieser für die Kleingruppe siegreich verlaufen. Wer aber war der Weichensteller im Hintergrund? Honecker? Oder »nur« das faszinierende Wort »Interkosmos-Programm«? Lauter, Buschinski und Hilbert besaßen die Macht, mit der sie etwa Fischer hätten sofort ausgrenzen oder versetzen können. Das aber taten sie nicht. War es auf einer KGB-MfS-Schiene geschehen? Traf es zu, dass es vonseiten der sowjetische Kosmosforschung Interventionen gegen Lauter gab, wonach Informationsabflüsse durch ihn an amerikanische Stellen möglich seien; Zitat: »Es ist festzustellen, dass die sowjetische Seite gegenüber Professor Lauter zunehmende Zurückhaltung zeigt, was sich u. a. in seit längerer Zeit unternommenen erfolglosen Bemühungen Professor Lauters zeigt, Einladungen in die UdSSR zu erhalten.«1243 1239  Bericht von »Bernhard« am 12.6.1969: Besprechung bei Hilbert im MWT am 9.6.1969; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 3, Bl. 228–230. 1240  Einer der zentralen Vorwürfe des MfS gegen die Technologiephilosophie Hartmanns, siehe Kap. 4.1.2. 1241  HFIM »Böttger« vom 24.2.1969: Monatsbericht Februar 1969; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 161–165, hier 161. 1242  HFIM »Böttger« vom 24.3.1969: Monatsbericht März 1969; ebd., Bl. 183–185, hier 183. 1243  MfS vom 5.1.1974: Zu Lauter; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 163–173, hier 171.

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Der Stimmen gab es mehrere, die von Arbeitsgesprächen aus Moskau zurückkamen und den Wunsch der Sowjetunion nach einem noch größeren Beitrag der DDR signalisierten: »Man will die DDR in einem noch größeren Maß in die Raumforschung mit einbeziehen«, was aber »von der Bereitschaft der DDR« abhänge.1244 Oder war es »nur« die vorauseilende Pflichterfüllung Fischers, des, wie er in der Branche genannt worden war, west-östlichen Iwans in der Raumforschung,1245 oder die Feststellung, über eine sowjetorientierte Profilierung rasch(er) Karriere machen zu können? Denn Fischer war gewiss Karrierist. Er war kein Begeisterter und schon gar nicht Begeisternder der Raumfahrt oder Kosmosforschung. Hein-Weingarten hat in ihrem Buch Fischers Kosmosforschungsinstitut als Paradigma für erfolgreiche sozialistische Zusammenarbeit beschrieben. Sie behauptet mehrmals, dass es durch die Interkosmosofferte der Sowjetunion der DDR ermöglicht wurde, auf dem Gebiet der Weltraumgerätetechnik einen weltweit anerkannten Stand in der Forschung und Entwicklung zu erreichen.1246 Es ist eine Verkehrung des tatsächlichen Geschehens: zunächst in der Sphäre des Geschehens selbst, also der Fischers gegen die Lauters, und dann später ex post durch Hein-Weingartens Übernahme der entsprechenden Argumentationsfiguren. Was speziell diese Glorifizierung des umstrittensten Instituts der AdW betrifft, bleibt die Frage, ob die Hoffnung Martin Sabrows, wonach die »Bemühungen um eine politisch gesteuerte Verhinderung historischer Arbeit und Unterdrückung gewonnener Erkenntnis« in der »Fachkultur« der Bundesrepublik »mit ihrem System der selbstgesteuerten Forschungsförderung, der akademischen Forschungsfreiheit und der innerfachlichen Selbstbeobachtung gegenwärtig eher geringe Durchsetzungschancen« habe, an Festigkeit gewinnt.1247 Es war kein transparenter Weg in der Kehre der Raumforschungspolitik der DDR. Und so wird uns im weiteren Fortgang der Untersuchung die Frage beschäftigen, wer sie zur Dienstleistungsfunktion für die sowjetische Raumforschung eigentlich initiiert hatte. Die MfS-Akten belegen die gleichsam hartnäckige Systematik in dieser »undatierten« Kehrtwende in der Ausrichtungsstrategie der Raumforschung jedenfalls nahezu widerspruchsfrei. Nur der Initiator, der Auftraggeber fehlt bislang. Hans Pfau alias IM »Pavel«,1248 prononcierter SED-Genosse, berichtete dem MfS im Geiste Hans-Joachim Fischers und seines Führungsoffiziers, dass Lauter aus dem HHI eine »Kaderschmiede für die Volkswirtschaft der DDR« machen wolle: »Mei-

1244  HFIM »Böttger« vom 26.7.1968: Monatsbericht Juli 1968; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 93–97, hier 94. 1245  Vgl. Hoffmann, Horst: Die Deutschen im Weltraum. Berlin 1998, Abschnitt der »west-östliche Iwan«, S. 187–190. 1246  Vgl. Hein-Weingarten: Institut für Kosmosforschung, zum Beispiel S. 180, 245 f. u. 283. 1247  Sabrow, Martin: Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart. Göttingen 2014, S. 20. 1248  Vgl. Verpflichtung vom 11.3.1970; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil I, Bd. 1, Bl. 24.

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ner Einschätzung nach besteht der Sinn dieser Kaderschmiede darin, einen Status hervorzurufen, mit dem es möglich ist, sich um die Belange […] anderer Bereiche der Wirtschaft der DDR, insbesondere auch der Industrie, einzumischen und möglicherweise auch Informationen abzuziehen.«1249 Das war freilich ein kryptisches Argument, denn im Kern widersprach das sogar den veröffentlichten Slogans des Neuen Deutschland und anderer Parteistimmen. Fassen wir zusammen: Weder die drei Delegaten bei Hilbert noch Pfau besaßen die Vollmacht, die Kapazitäten für das traditionelle Profil des HHI zugunsten der »Elektronik« zurückzufahren. Bewiesene Fachleute wie Hans Weise und Claus Elstner, beide Abteilungsleiter im ZIPE, die auf fachliche Vernunft setzten, zählte das MfS dagegen fortan »zu den Inspiratoren und Wortführern« jener Wissenschaftler, die sich »gegen die geplanten Veränderungen am Institut« stemmten. Doch die hatten schlicht Recht, wenn sie »besonders stark die Tradition der geodätischen Forschung in Potsdam« hervorhoben und sagten, dass es keine Notwendigkeit zur Umprofilierung gebe: »Jetzt würden viele Wissensgebiete beseitigt und auf der Strecke bleiben, weil sie nicht in den Rahmen der Politik passten, nämlich unmittelbar volkswirtschaftlichen Nutzen zu bringen.« Diese Wissenschaften würden auch »zum kulturellen Niveau eines Staates« zählen.1250 Äußerungen, die in den offiziellen Berichten gewöhnlich fehlten. Die Umstrukturierungen schienen einem Trieb, einem blinden Zweck, zu folgen. »Zugpferde« wie Christian-Ullrich Wagner sollten weg, doch der war immer noch Abteilungsleiter für geodätische Normale.1251 Sein Parteiausschluss war bereits erfolgt.1252 Er war praktisch unersetzbar. Im Juni schien festzustehen, dass er die Arbeitsgruppe Längen- und Winkelnormale der Abteilung Geodätische Grundlagen bekommen werde.1253 Die Fachkoryphäe besaß ja auch Rückhalt, insbesondere bei Lauter. Im November beschloss das MfS die Intensivierung der operativen Bearbeitung gegen ihn und ermittelte in Richtung der Paragrafen 172, 245 und 246.1254 Weise verspürte sehr wohl den Gegenwind, der immer heftiger wurde. Im Zusammenhang mit seinem Parteiaustritt hatte er festgestellt, »dass er kein Fall Karte* und Koitzsch sei« (siehe Kap. 5.1, MfS-Spezial I). Er habe andere Motive, sich gegen die SED aufzulehnen. Die Akademiereformen beurteile er »samt und sonders als Unsinn und übereiferte Aktion«. Nun »würden Einrichtungen zerschlagen, die historisch gewachsen seien«. Der inoffizielle Mitarbeiter, der dies 1249 HA XVIII/5 vom 8.4.1971: Bericht von »Pavel« am 2.4.1971; ebd., Teil  II, Bd. 1, Bl. ­168–171, hier 169. 1250 BV Potsdam, Abt.  XVIII, vom 2.2.1969: OibE-Bericht; BStU, MfS, BV  Potsdam, AOP 697/72, 1 Bd., Bl. 107. 1251  BV Potsdam vom 2.5.1969: Bericht von »Geos« am 30.4.1969: Über die Arbeiten der Abt., die Einordnung im Weltstand, Sinn und Nutzen dieser Arbeiten sowie über Personen des GIP; ebd., Bl. 109–112. 1252  Vgl. BV Potsdam vom 10.4.1969: Bericht von »Geos« am 1.4.1969; ebd., Bl. 108. 1253  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 4.6.1969: Information; ebd., Bl. 115. 1254  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 11.11.1969: Operativplan zum Material »Teilkreis«; ebd., Bl. 134–140.

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berichtete, schlussfolgerte: »Auf alle Fälle wird er sich in Zukunft in die ›fachliche Einsiedelei‹ zurückflüchten und sich einreden, dass das politische Geschehen um ihn einen Bogen macht.«1255 Die Frage, worum es den Fachwissenschaftlern eigentlich bei ihren Wider­ reden gegen die SED gegangen ist, ist, so weit zu sehen ist, eine der am leichtesten zu beantwortenden: nahezu stets für die Sache selbst; ein Beispiel im Vorgriff: Kautzleben alias IM »Laser« hatte dem MfS am 10. Juni 1970 mitgeteilt, dass er von der DDR-Außenhandelsgesellschaft Intermed erfahren habe, dass diese an die Fa. Dr. Johannes Heidenhain in Traunreit auch weiterhin Teilkreisprüfmaschinen verkaufen wolle. »Auf der Suche nach devisenbringenden Aufträgen trat ›Intermed‹ an Fa. Heidenhain heran, die Möglichkeit zu prüfen, weiterhin am Geodätischen Institut prüfen zu lassen.« Heidenhain habe bereits eine Zusage gemacht. Weises Institut möge doch bitte bei der Devisenerwirtschaftung mithelfen. Weise war im Schreiben der westdeutschen Firma als geeigneter Gutachter empfohlen worden. Kautzleben werde, so Offizier Brederlow in seinem Bericht, das »Angebot abschlägig beantworten«. Kautzleben soll vermutet haben, dass Weise selbst der Initiator dieser Offerte gewesen sei. Also wurde diese Information MfS-intern auch in Richtung der für Intermed zuständigen Dienstabteilung gebracht.1256 Tatsächlich griff Kautzleben ein und veranlasste die Rücksendung der zu prüfenden Teilkreise an die Fa. Heidenhain. Er begründete dies mit Verweis auf Umstrukturierungen im Institut. Die Fa. Heidenhain hatte daraufhin ihr »Unverständnis« erklärt, »da das Außenhandelsunternehmen DIA-Feinmechanik Optik der DDR« ja »mit der Bitte um weitere Messung« an sie herangetreten sei.1257 Hier ist also das institutionalisierte Vertrauen in eine staatliche Stelle (»Intermed«) und gegenüber Weise grob – durch verdeckten Einspruch Dritter – verletzt worden. Dies stellt nicht nur einen Beleg für die These vielfältiger, konfligierender Interessen in der DDR dar, sondern auch für jene, wonach eine der DDR angeborene Ineffektivität, die »kleine« Nutzeffekte oft politisch-ideologischen Zwecken oder Zielen Einzelner opferte, vorherrschend war. Es wurde eine Deviseneinnahmequelle der DDR durch zwei, drei Personen auf mittlerer Leitungsebene und einen MfS-Offiziers stillgelegt. Bereits am 2. Oktober 1969 war das MfS auf Lauter fixiert und setzte ihn nun auch durch Eberhardt Hollax unter Kontrolle. Der erhielt per schriftlichen Auftrag die Order, anlässlich seiner Teilnahme am XX. IAF-Kongress in Argentinien u. a. festzustellen, ob unter den westlichen Wissenschaftlern »Lauter und dessen Aufgabenbereich bekannt« seien und ob Verbindungen zu ihm bestünden.1258

1255  BV Potsdam: Bericht von »Hans Torna«, April 1970; ebd., Bl. 154–158. 1256  BV Potsdam, Abt. XVIII / AG I, vom 10.6.1970: Information; ebd., Bl. 195 f. 1257  BV Potsdam, Abt.  XVIII / AG I, vom 4.5.1970: Bericht von »Laser« am 4.5.1970; ebd., Bl. 197. 1258  MfS vom 2.10.1969: Auftrag zur Teilnahme am XX. IAF-Kongress in Argentinien 1969; BStU, MfS, AIM 11978/86, Teil II, Bd. 1, Bl. 42–45, hier 44.

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Er erhielt in der Folge mehrere solcher Reisebegleitungs-Aufträge zu Lauter,1259 etwa zum XXI. IAF-Kongress in Konstanz vom 5. bis 10. Oktober des nächsten Jahres. Da bedeutete ihm ein westdeutscher Wissenschaftler, dass er noch nie »so viel Verfassungsschutz wie hier […] auf einen Haufen gesehen« habe.1260 Ob dies auch ironisiert gemeint war, wissen wir nicht. Es ist aber wahrscheinlich, dass er in Hollax einen Spitzel vermutete, da der im Kern kein »Raumfahrtler« war. Am 14. Oktober 1969 gab Manfred Klotz* einen Bericht zur Situation im ZIPE. Die Abteilung »Geodätische Grundlagen«, worin die Arbeitsgruppe Satellitengeodäsie (SG) involviert war, war mit der Gründung des ZIPE etabliert worden. Es gab jedoch Schwierigkeiten, die Arbeitsgruppe den Sicherheitsstandards gemäß umzustrukturieren. Eine Frage stand besonders im Zentrum, und zwar die nach dem Verbleib des eminent wichtigen Teilgebietes »Theorie«. In ihr arbeitete der als politisch für unzuverlässig eingestufter Mitarbeiter Arnold (siehe oben). Der theoretische Kopf der Gruppe soll »mit allen Mitteln« versucht haben, in der SG zu verbleiben.1261 Arnold durfte nicht reisen. Also trug Klotz* ohne Mandat Arnolds auf der XII. Plenartagung, working group I, des COSPAR in Prag Ergebnisse vor, die nach dessen Theorie aufbereitet worden waren.1262 Ein Fall geistigen Diebstahls? Im Rahmen der Sitzung der Kommission der Akademien für wissenschaftliche Untersuchungen mithilfe künstlicher Erdsatelliten (KAPE) vom 2. und 3. Dezember im Krimobservatorium wurde die Geheimhaltungspraxis der DDR kritisiert, da das vom ZIPE aufgenommene Interkosmos-Programm, »welches vorwiegend nationale Aufgaben« zu lösen hatte, als VVS eingestuft worden sei, weil »Angaben über das Schwerefeld und andere kartografische Werte« darin vorkämen. In der Praxis des Wissenschaftsvollzuges bedeutete dies mindestens die Drosselung des Datenaustauschs. Das sah auch Klotz* so: Die Sowjetunion »und sicherlich auch andere sozialistische Staaten teilen diese Meinung nicht. Bei ihnen ist das nicht VVS. Wir hatten und haben dadurch große Schwierigkeiten in der Berichterstattung, Ausrichtung und Formulierung der Aufgabenstellung usw. Es wäre unbedingt notwendig, in dieser Frage eine gemeinsame Auf‌fassung herauszuarbeiten.«1263 Die KAPE, bislang in der KAPG integriert, wurde aus dem Verband der Akademien herausgelöst und Interkosmos zugeordnet. Sie unterstand der Gruppe Kosmische 1259  Zum Beispiel: HA XVIII/5/3 vom 30.1.1970: Bericht zum Treffen mit »Dresden« am 10.12.1969; ebd., Bl. 59–62; MfS vom 30.9.1970: Auftrag zur Teilnahme am XXI. IAF-Kongress in Konstanz 1970; ebd., Bl. 110–114; MfS vom 29.4.1971: Auftrag zur Teilnahme am 3. Internationalen Kongress für Raumfahrttechnik in Rom 1971; ebd., Bl. 178–180. 1260  HA XVIII/5 vom 27.10.1970: Bericht von »Dresden« am 23.10.1970; ebd., Bl. 117–128, hier 128. 1261 BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 14.10.1969; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 42 f., hier 42. 1262  Vgl. ebd., Bl. 43. 1263  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 15.12.1969; ebd., Bl. 45–49, hier  49. Zur Bedeutung der Kartografie: Pápay, Gyula: Zur Kartographiegeschichtsschreibung in der DDR, in: Wilhelm-Pieck-Universität Rostock (Hrsg.): Disziplinorientierte wissenschaftshistorische Arbeiten in der DDR. Rostocker Wissenschaftshistorische Manuskripte, Heft 15. Rostock 1988, S. 56–59.

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Physik des Interkosmos und bestand ihrerseits aus zwei Kommissionen, der Kommission für Satellitengeodäsie und der Kommission für die Untersuchung der Hochatmosphäre.1264 Klotz* berichtete umfassend und hemmungslos zu sachlichen und personellen Fragen des ZIPE. Von Juni 1969 bis Dezember 1973 lieferte er mindestens 151 Einzelberichte.1265 Dann ging er fort. Im abschließenden Gespräch am 2. September 1974 erklärte er sich bereit, auch an seiner neuen Wirkungsstätte für das MfS zu arbeiten. Die dienstlichen Aufgaben im Institut sollte Marek übernehmen, ebenso seine Funktionen in Interkosmos und KAPG.1266 Die Kontinuität in der Zusammenarbeit mit dem MfS war gesichert. Karl-Heinz Marek schloss 1962 sein Studium am Moskauer Geodätischen Institut mit dem Diplom für Vermessungswesen ab, anschließend war er am Geodäti­ schen Institut Potsdam (GIP) resp. ZIPE beschäftigt. 1972 wurde er an der TU Dresden promoviert.1267 Für das MfS berichtete er von 1974 bis 1980. Er berichtete detailliert zu persönlichen, politischen, dienstlichen und fachlichen Angelegenheiten. Oft erfolgte dies belastend für die Betroffenen. Allein sein Bericht über einen AG-Leiter der Satellitengeodäsie vom 31. Oktober 1974 habe gereicht, dessen Karriere empfindlich zu beeinflussen.1268 Aus einem seiner typischen Aufträge: »1. Berichterstattung zur Tagung in Weimar (allgemeine Einschätzung). 2. Berichterstattung zur Person [V] (USA). 3. Berichterstattung zur Person [W] (BRD). 4. Berichterstattung zur Person [X] (BRD). 5. Berichterstattung zur Person [Y] (BRD).« Neue »Auftragserteilung: 1. Ermittlungsführung zu [Z] (Konfession, in welche Kirche geht er); 2. Weitere Beobachtung des Dr. Karte* (Aktivitäten im Rahmen der KdT – allgemeines Verhalten).«1269 Um die Politik der Astronautischen Gesellschaft von innen her im Sinne der SED zu verändern, wurde er vom MfS am 17. April 1975 beauftragt, Mitglied der Gesellschaft zu werden.1270 Die dienstlich-fachlichen Aufträge folgten den komplexen Verflechtungen des Fachs: Berichte zu allen Interkosmos-Projekten seines Hauses, zu vielfältigen Dienstreisen wie etwa zu Tagungen der IUGG und zur Arbeit ihrer Assoziierungen wie der IAGA. Zur Erhöhung der Konspiration war Anfang 1976 das Losungswort »Jordan, ›Handbuch der Geodäsie‹« vereinbart worden.1271 1264  Vgl. Bericht von »Annekathrin« am 15.12.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 45–49, hier 47. 1265  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 20.8.1971: Bericht von »Annekathrin«; ebd., Bl. 165. 1266  Vgl. BV Potsdam: Treff bericht vom 2.9.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 48. 1267  Vgl. Kurzbiographie vom 15.12.1981; BStU, MfS, AP 47376/92, 1 Bd., Bl. 16–20. 1268  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 31.10.1974: Information; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 256/84, Bd. 1, Bl. 17 f. 1269  BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 12.11.1976: Bericht zum Treffen mit »Peter Ermisch«; ebd., Bl. 144. 1270 Vgl. BV Potsdam, Abt.  XVIII / Inst., vom 22.4.1975: Bericht zum Treffen mit »Peter Ermisch«; ebd., Bl. 37. 1271  BV Potsdam vom 23.1.1976: Aktennotiz; ebd., Bl. 87.

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Erwin Schult alias GI »Dagmar«1272 berichtete dem MfS am 24. Februar 1970, dass es in einem Gespräch Lauters mit Weiz um die künftige Besetzung des Direktors des ZISTP (HHI) gegangen sei. Lauter habe Hans Wittbrodt vorgeschlagen, Weiz soll einverstanden gewesen sein.1273 Dies sollte dann auch so geschehen, Anfang März wurde diese Personalie intern bekanntgegeben.1274 Hierzu existiert u. a. ein Bericht von Pfau vom 16. April.1275 Die Amtszeit Lauters endete im März.1276 Schult berichtete, anders als Pfau, aus der höheren Ebene des Institutes jene Dinge, die sich um Lauter drehten. So gab er dem MfS am 22. April zur Kenntnis, dass der im ZISTP eine Arbeitsgruppe Interkosmos bilden wolle. Dieser Arbeitsgruppe sollten außer ihm Wittbrodt, Ullrich, Schmelovsky, Kempe, Lorenz und Bliesener angehören. Letzterer ist mit einem Fragezeichen versehen.1277 Ihn nicht zu inte­ grieren war aussichtslos. Er galt seinen Kollegen, was er auch war, als MfS-Mann. Siegfried Ullrich soll indes angemerkt haben, so Dieter Oertel alias GI »Dietrich« am 1. April gegenüber seinem HFIM »Böttger«, »dass die Arbeiten im Rahmen Interkosmos nicht der Nagel der Welt« seien »und dass der Bereich L 4 am schlechtesten in Leitungsfragen« sei. Letzteres eskaliere in wüsten Auseinandersetzungen von Verantwortungsträgern. Spätestens von nun an war das Leitungsamt Ullrichs infrage gestellt: »Als Nachfolger für ihn in seiner Funktion als Abteilungsleiter wurde Zimmermann bestätigt.«1278

1272  Vgl. Verpflichtungserklärung vom 6.4.1967; BStU, MfS, AIM  11940/85, Teil  I, 1  Bd., Bl. 13. Zum Zeitpunkt der Werbung war der Ökonom Leiter der Abt. Finanzrevision und Kontrolle. Eine Zeit lang war er Parteisekretär. 1970 wurde er vom MfS gerügt, weil er sich gegenüber Zimmermann in der Sache »Lauter« deutlich dekonspiriert hatte, aber auch, weil er Bliesener kritisierte. Es ist bemerkenswert, dass er auf diese Dekonspiration hin nicht vom MfS abgeschrieben worden ist, sondern intensiv weiterarbeiten durfte. Erst Ende 1975, nach der Lauter-Ära, erfuhr er deutliche Kritik: »Besonders nach dem Einsatz in der Kommission ›Beamter‹ zeigte sich sehr deutlich, dass er für die fachliche Problematik seines Bereiches nur noch wenig Interesse hat.« Es konnte ermittelt werden, dass »ein großer Teil der fachlichen Arbeit des GI nur auf Manipulationen beruht, die oft bis an die Grenze des Kriminellen« gingen. Der Abschlussbericht datiert vom 30.8.1985. HA XVIII/5/1 vom 17.4.1967: Werbungsbericht; ebd., Bl. 15 f.; HA XVIII/5/3 vom 12.11.1970: Aktenvermerk; ebd., Bl. 142; Der Bericht von »Pavel« vom 23.10.1970; ebd., Bl. 147 f.; MfS vom 20.10.1971: Einschätzung zu »Dagmar«; ebd., Bl. 148 f.; Beschluss zur Archivierung vom 31.8.1985; ebd., Bl. 256. 1273  Vgl. HA XVIII/5 vom 26.2.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 24.2.1970; ebd., Teil II, Bd. 1, Bl. 24 f., hier 24. 1274 Vgl. HA XVIII/5 vom 11.3.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 10.3.1970; ebd., Bl. 26 f., hier 26 sowie HA XVIII/5 vom 20.3.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 20.3.1970; ebd., Bl. 28. 1275  Vgl. HA XVIII/5/1 vom 16.4.1970: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 15.4.1970; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 6–16. 1276  Vgl. Günther: Das Heinrich-Hertz-Institut, S. 38. 1277  Vgl. HA XVIII/5 vom 23.4.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 22.4.1970; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 43–45, hier 44. 1278  HFIM »Böttger« vom 2.4.1970: Bericht zum Treffen mit »Dietrich« am 1.4.1970; BStU, MfS, AIM 4448/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 27 f., hier 27; HFIM »Böttger« vom 24.4.1970: Monatsbericht April 1970; BStU, MfS, TA 549/85, Bl. 312–315.

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Pfau alias »Pavel« berichtete im April, dass es »bekannt« sei, dass die Sowjetunion von Lauters »Orientierung« nicht erfreut sei. Er sei antisowjetisch eingestellt und habe sich auf einer internationalen Tagung in Berlin ungebührlich verhalten, da er im gleichen Tone wie die ČSSR-Wissenschaftler über die Ereignisse in ihrem Land gesprochen und ihnen ostentativ zum Sieg ihrer Eishockeymannschaft über die Sowjetunion gratuliert habe.1279 Auf einer Dienstbesprechung am 23. April soll Lauter den vom Institut aus­ gearbeiteten Wissenschaftsplan als Grundlage der weiteren Arbeit erklärt haben. Der ehrenamtliche Parteisekretär Zimmermann habe dann auf der Parteiversammlung des Instituts am 4. Mai erklärt, dass der vom Beirat des MWT nicht bestätigt worden sei. Es sei erkennbar, dass »man gegen Lauter eine breite Front« aufziehe. Zimmerman habe offenbart, dass sich Buschinski vom MWT mit der Partei­leitung in Verbindung gesetzt habe und in »Umgehung« Lauters eine andere Linie verfolge. Und zwar: »1.  Mithilfe beim Raumforschungsprogramm der UdSSR. 2. Schaffung eines wissenschaftlichen Vorlaufs für die kosmische Meteorologie und der kosmischen Nachrichtentechnik. 3. Vorlauf für die Elektronik der DDR und der Systemlösungen. 4. Messtechnik.« Die Parteileitung arbeite an einem neuen Strukturvorschlag für das HHI.1280 Trotz harter Struktureinschnitte war die fachliche Programmatik des HHI immer noch recht breit und vielfältig, sie bestand vor allem aus Raumforschungsaktivitäten, kosmischer Meteorologie, kosmischer Nachrichtentechnik, Elektronikvorlaufforschung und Messtechnik.1281 Doch die Tendenz der Einschnitte und Politisierung des Hauses ging unvermindert weiter. 1971, nach einem Besuch von Stoph, wurde gar von »zwei Fronten« im Institut gesprochen, der geophysikalischen und der Interkosmos-technischen Front.1282 Auch nach der Institutsspaltung in ZISTP (HHI) und L 4 resp. IE waren die Wogen längst nicht geglättet; inoffizielle Mitarbeiter sprachen  – je nach Hauszugehörigkeit  – von einer Verketzerung des jeweils anderen Hauses.1283 »Zwischen dem Bereich L 4 und Lauter« bestehe »eine enorme Spannung«.1284 Am Symposium der solar-terrestrischen Physik des COSPAR 1970 in Leningrad (kurz: STP-Symposium), nahmen u. a. Knuth, Pfau, Schmelovsky und Wagner teil. 1279  Vgl. HA XVIII/5/1 vom 16.4.1970: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 15.4.1970; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 6–16, hier 12 f. 1280  HFIM »Böttger« vom 25.5.1970: Monatsbericht Mai 1970; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 2, Bl. 6–8, hier 6; HA XVIII/5 vom 14.5.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 13.5.1970; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 30 f., hier 30. 1281  Vgl. HFIM »Böttger« vom 24.9.1970: Monatsbericht September 1970; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 2, Bl. 34–37, hier 34. 1282  Bericht von »Bernhard« am 16.2.1971; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 4, Bl. 11–13, hier 11 f. 1283  Vgl. HA XVIII/5 vom 10.6.1975: Bericht von »Bernhard« am 15.5.1975; ebd., Bl. 123–131, hier 128. 1284  HFIM »Böttger« vom 20.12.1968: Monatsbericht Dezember 1968; BStU, MfS, TA 549/85, Bl. 138–146, hier 144.

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Es kam jedoch nicht dazu, dass die Ergebnisse zu den DDR-seitigen Experimenten mit Interkosmos 1 vorgetragen wurden. Schmelovsky geriet darüber so in Wut, dass er – in der Wiedergabe Pfaus – gesagt haben soll: »Bei uns klappt weiter nichts als die Geheimhaltung«.1285 Im Juni-Monatsbericht des HFIM »Böttger« hieß es, dass es während der ­COSPAR-Vorbesprechung in Warschau zu einer großen »Auseinandersetzung zwischen Lauter und den anderen Vertretern der sozialistischen Staaten« gekommen sei. Den Konflikt habe Lauter verursacht. »In einer mehr als abstoßenden Art« habe er den Vertretern dargelegt, »dass ihre Ansichten über Kosmosforschung nicht richtig« seien, sie hätten auch keine Erfolge vorzuweisen. »Er griff die sowjetischen Delegierten an, da sie zum Beispiel einen Majak-Sender« hätten, der »bei Weitem nicht mehr den Anforderungen« entspreche.1286 Der im HHI gebaute Majak-Sender für Interkosmos 3 wurde übrigens von der Sowjetunion kurzfristig abgesagt, mit der Begründung, dass sie »selbst einen Sender« hätten.1287 »Gegenüber den Delegierten der DDR« habe Lauter »zum Ausdruck« gebracht: »was bringt uns eine Satellitenbeobachtung, von der Erde die Beobachtung genügt«.1288 Das kann jedoch Lauter so nicht gesagt haben, denn es widerspräche sowohl der Vernunft als auch allen seinen diesbezüglichen Aussagen im Hinblick auf die moderne Meteorologie. Im Bericht von Schult an »Böttger« am 12. Juni ist diese Problematik präziser und umfassender dargelegt. Demnach hatte Lauter »den sowjetischen Vertretern in einer unfeinen Art gesagt, dass nur der Majak-Sender der DDR etwas wert« sei. »Daraufhin« habe »es eine Aussprache zwischen Lauter und einigen Mitgliedern der DDR-Delegation« gegeben, beispielsweise mit »Zimmermann, Schmelovsky und Ullrich. Diese Aussprache« habe »die ganze Nacht« gedauert. »Dabei kam heraus, dass Lauter nicht gewillt ist, das Institut vernünftig in die Zusammenarbeit einzubauen. Er vertrat die Ansicht, wir wollen unsere Sachen machen, aber nicht der SU helfen. Schmelovsky soll ganz entschieden gegen diese Meinung aufgetreten sein.«1289 Soweit die Interpretation Schults. Was ist das eigentlich für eine Art von Wissenschaftspolitik, wenn sie von MfS-Offizieren beeinflusst und von überzeugten IM-Tschekisten maßgeblich umgesetzt, wenn nicht gar initiiert worden ist? Es gab nicht wenige Gespräche, in denen Lauter nur mit IM in Schlüsselpositionen verhandelte. In aller Regel waren sie ziel­gerichtet instruiert und präpariert – und hielten sich daran! Davon zeugen die Treffberichte zuhauf. Insbesondere im neuen Zentrum der Interkosmos-Zusammen1285  HA XVIII/5/1 vom 1.6.1970: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 29.5.1970; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 28–40, hier 33. 1286  HFIM »Böttger« vom 24.6.1970: Monatsbericht Juni 1970; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 2, Bl. 9–12, hier 11 f. 1287  HFIM »Böttger« vom 25.5.1970: Monatsbericht Mai 1970; ebd., Bl. 6–8, hier 8. 1288  HFIM »Böttger« vom 24.6.1970: Monatsbericht Juni 1970; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 2, Bl. 9–12, hier 11 f. 1289  HA XVIII/5 vom 12.6.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 12.6.1970; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 57 f., hier 57.

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arbeit, dem Institut für Elektronik (IE) unter Hans-Joachim Fischer, wurden die Leiter der ersten und zweiten Ebene, viele von ihnen waren IM in Schlüsselpositionen, auf Kurs gebracht oder mussten auf Kurs gehalten werden. Die Fremdsteuerung sollte noch klarer werden. So etwa 1975 zur Durchsetzung des Fernerkundungsprogramms. Da wurde Ralf Joachim alias GMS »Klaus Stephan« am 25. Juni vergattert, »mit seiner Position darauf Einfluss« zu »nehmen, dass verbindliche Festlegungen und notwendige Konsequenzen getroffen werden. Eine Abstimmung mit anderen IM in Schlüsselpositionen muss erfolgen.«1290 Doch für wen wurde diese Politik gemacht? Nicht, wie wir bis hierher festgestellt haben, für das MWT. Hans-Joachim Fischer wird im Juni 1976 von der »Bitte der sowjetischen Seite« sprechen und mitteilen, dass er gebeten worden sei, »Pfau zur Ausarbeitung« eines entsprechenden Planes heranzuziehen.1291 Zwei IM mit starkem sowjetischen Hintergrund. Zur Konferenz der Mitgliedsländer für die Interkosmos-Zusammenarbeit in Wrocław im Juni 1970 berichtete u. a. Oertel dem Mitarbeiter des MfS, »Böttger«, am 2. Juli. Auf der Konferenz war der Perspektivplan bis 1975 projektbezogen besprochen worden. Die sieben Arbeitsgruppen waren: Hochatmosphäre, Magneto­ sphäre, solar-terrestrische Physik, kosmische Strahlung, feste Materie sowie optische Satellitenbeobachtungen und kosmischer Gerätebau.1292 Die HA XVIII/5 konstatierte im Sommer, dass es unter den Kosmoswissenschaftlern der DDR »unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Auf‌fassungen« über den einzuschlagenden Weg in der Interkosmos-Zusammenarbeit gebe. Es seien vor allem zwei Linien erkennbar. »Eine Gruppe älterer und leitender Wissenschaftler« betone »die geophysikalischen Arbeiten, die sie besonders auf die Erforschung der unteren Ionosphäre (D-Schicht)« bezögen, sowie eine Gruppe jüngerer Wissenschaftler, die »sich darauf stützen, dass die UdSSR eine stärkere Mitarbeit der DDR am Interkosmos-Programm insbesondere auf dem Gebiet der gerätetechnischen und elektronischen Ausstattung kosmischer Projekte erwartet.« »Prominentester Vertreter« der ersten Richtung sei Lauter, während jüngere wie Schmelovsky ein breiteres Forschungsspektrum wünschten, »eine Kombination von geophysikalisch und elektronisch orientierten Experimenten«.1293 Während die älteren Wissenschaftler profiliert waren und bei Weitem nicht im Solde des MfS als IM standen, waren es auf der anderen Seite einige jüngere wie Pfau, die nahezu alle IM und meist (noch) ohne erkennbare Leistungen waren, sowie vor allem indirekt Beteiligte aus der Ver1290  HA XVIII/5/3 vom 8.7.1975: Bericht zum Treffen mit »Klaus Stephan« am 25.6.1975 zur Gründung einer Arbeitsgruppe »Fernerkundung« in Baku; BStU, MfS, A 371/86, Bd. 1, Bl. 88 f., hier 89. 1291  HA XVIII/5 vom 26.10.1976: Bericht zum Treffen mit »Klaus Stephan« am 1.7.1976 zur Leiterberatung zum Projekt »Raduga« in Moskau vom 21.–25.6.1976; ebd., Bl. 139–142, hier 141. 1292 Vgl. Bericht von »Dietrich« am 2.7.1970; BStU, MfS, AIM  4448/85, Teil  II, Bd. 1, Bl. 44–47. 1293  HA XVIII/5 vom 27.8.1970: Erkenntnisse des MfS zur Interkosmos-Problematik; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 12–19, hier 12. Wortgleich in: HA XVIII/5 vom 27.8.1970: Ohne Titel; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13721, Bl. 2–9, hier 2.

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waltung oder gar Peripherie der eigentlich zuständigen Wissenschaftsabteilungen. Allein Schmelovsky bildete hier eine signifikante Ausnahme. Das MfS behauptete, dass »unter maßgeblichem Einfluss« Lauters in das COSPAR »im wachsenden Maße« DDR-Wissenschaftler einbezogen worden seien, eine Entwicklung, die der »Grundsatzentscheidung« von Weiz, widerspreche. Unter diesen Wissenschaftlern befänden sich zehn, die am Interkosmos-Programm mitarbeiten würden.1294 Das war nicht gestattet. Hier ist jener zentrale Konflikt zwischen der Forderung nach hohem Geheimnisschutz und der Tatsache angesiedelt, wonach Fachmänner wie Lauter eben Fachmänner wie Wagner zu installieren suchten. Und die waren meist nicht IM, also galten sie dem MfS für nicht vertrauenswürdig. Eine Situation, die auch für Hartmann im ersten Hauptkapitel so zutraf. Die Grundsatzentscheidung von Weiz implizierte, dass außer Lauter und Böhme vom Meteorologischen Dienst alle anderen aus COSPAR zurückzuziehen waren! Das MfS behauptete, dass die Argumente Lauters für das COSPAR-Engagement »einer Überprüfung zum Teil nicht standhalten«. Es behauptete in arteigener Logik, dass die Mitgliedschaft im COSPAR nicht den Erfordernissen der Volkswirtschaft gerecht werde. Diese Einschätzung fundierte es mit Auf‌fassungen inoffizieller Mitarbeiter, wonach »aus der Mitarbeit im COSPAR keine bzw. fast keine Informationen für die angeführten Gebiete Nachrichtentechnik, Gerätebau und Elektronik gewonnen« worden seien. Die »guten Ergebnisse auf dem Gebiet der Raumforschung in der DDR« würden »eindeutig nicht auf der Mitarbeit im COSPAR beruhen, sondern Resultate der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Interkosmos darstellen«.1295 Eine Argumentation, die gegen die intentio recta in jeder Hinsicht verstieß. Argumente Lauters, die er vorbringe und die auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen für die DDR orientierten, bezeichnete das MfS als »verfeinerte Form des Betruges«. Das MfS sprach in diesem Papier gar davon, dass Lauter »nicht nur größere Ergebnisse vortäuscht, sondern auch die Sanktionierung der Fortführung von Arbeiten mit angeblicher Interkosmos-Bedeutung, die diese Bedeutung nicht besitzen«, weiterführe. Neben der Mitarbeit im COSPAR waren 16  Wissenschaftler in 39  Funktionen in internationalen Organisationen, die sich mit Raumforschung befassten, tätig, etwa in der URSI und der IUGG. Lauter soll sich zudem Anordnungen wie der befohlene Austritt aus zwei Unterkommissionen »der gemischten Kommission für solar-terrestrische Physik 1968 in Brüssel« widersetzt haben; er habe das Argument vorgebracht, dass damit »eine Lücke in den Verbindungen zu den sozialistischen Ländern auftreten würde«. Angeblich will das MfS Hinweise gefunden haben, wonach »insbesondere« die USA und die BRD »starkes Interesse« gehabt hätten, eine »Zusammenarbeit mit der DDR in Bereichen der Raumforschung« zu entwickeln, die DDR-Wissenschaftler dabei »abzuschöpfen«, »Einfluss auf die Gestaltung des

1294  Vgl., ebd. 13. 1295  Ebd., Bl. 13 f.

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Forschungsprogrammes in der DDR in einer Richtung zu nehmen, die nicht mit dem Interkosmos-Programm übereinstimmt«.1296 Eine direkte Kooperation zwischen den westlichen Ländern und den sozialistischen Staaten lehnte das MfS rigoros ab. Lauter hatte auf der Tagung der URSINationalkomitees der europäischen Länder 1969 in Lindau empfohlen, »die koordinierte Untersuchung einer als Winteranomalie bezeichneten Erscheinung in der Ionosphäre« durchzuführen, die Koordination hierfür sollte das Max-Planck-Institut für Aeronomie in Lindau übernehmen. Der Leiter des Institutes, Walter Dieminger, arbeite mit der NASA zusammen, hieß es im MfS. Der Vorschlag von 1969 sei längst in die Praxis umgesetzt worden. Das HHI beteilige sich an den Arbeiten. Weitere Aspekte der Zusammenarbeit, die liefen, zog das MfS in Misskredit und bezichtigte Lauter in Bezug einer von ihm sanktionierten Zusammenarbeit mit den USA am Projekt ATS 4 der irreführenden Lüge.1297 Natürlich hatte Lauter seine um 1970 vorhandene Macht und Kompetenz dazu ausgenutzt, eine Konzeption für die Gestaltung der Auslandsbeziehungen des HHI zu kreieren. So entstand im März die Idee, »künftig an der von der URSI geleiteten europäischen Kooperation verstärkt mitzuwirken, da dies große Bedeutung für die den Weltstand mitbestimmende Stellung« des HHI bedeute. »Wissenschaftler« würfen »in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob es tatsächlich notwendig und gerechtfertigt« sei, »dass die DDR neben Japan auf der Erde das Land mit dem größten bodengebundenen Mess­ programm« sei. »Die von westlicher Seite initiierten Messprogramme« würden einen »erheblichen finanziellen und Arbeitsaufwand« erfordern, »ohne zu praktisch verwertbaren Ergebnissen« zu führen. »Progressive Wissenschaftler vertreten deshalb die Auf‌fassung, die aufwendigen Bodenprogramme einzuschränken und sich stärker auf aktive Experimente mit kosmischen Objekten im Rahmen der Interkosmos-Zusammenarbeit zu orientieren«. Gegenwärtig sei nur etwa ein Drittel der Kapazität des HHI für das Interkosmos-Programm tätig.1298 Das MfS behauptete abschließend, dass Lauter argumentiere, dass im Mittelpunkt seiner Arbeiten im Rahmen des HHI und darüber hinaus das Interkosmos-Programm stehe, dass er »tatsächlich aber die Kräfte ungenügend auf die Interkosmos-Aufgaben konzentriert«. Nicht fehlen durfte die Verunglimpfung: »Die Quellen verweisen in diesem Zusammenhang auf eine Reihe abfälliger Bemerkungen Professor Lauters über die SU und ihre kosmische Forschung«.1299 Pfau erhielt »einen Teil« der geheimen Vorlage des MWT für den Ministerrat zum Zwecke der Analyse, inwiefern hierin unlautere Absichten Lauters steckten. Es ist jener Teil, der sich mit den wissenschaftlich-technischen Ergebnissen der bisherigen Zusammenarbeit im Rahmen von Interkosmos befasste. Sein Auswerte­ 1296  Ebd., Bl. 14 f. 1297  Ebd., Bl. 16 f. u. 18. Mitwirkung am USA-Projekt ATS 4: Applications Technology Satellit, gestartet am 10.8.1968. 1298  Ebd., Bl. 17. 1299  Ebd., Bl. 18.

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bericht lag am 6. August 1970 vor. Es ist, insbesondere bezüglich des Datums, ein Schlüsseldokument in der diachronen Darstellung des Gesamtgeschehens. Demnach zählten nach Pfaus Interpretation die »Observatoriums-Programme zur solaren Radioastronomie und Polarisationsmessungen« keinesfalls »zum Programm des Interkosmos.« In Wrocław (Polen) sei ja »betont« worden, »dass alle bodengebundenen Programme im nationalen Rahmen ablaufen sollen und dass kein Missbrauch des Namens Interkosmos geduldet werden« könne, »um bodengebundene Anlagen zu modernisieren«. Es sei »allerdings eingeräumt« worden, »dass bodengebundene Programme zur Unterstützung und Absicherung der aktiven Experimente, die unter dem Namen Interkosmos laufen, gebraucht« würden. Auch dem sowjetischen Thema »Prognose des Sonnenwetters«, das mithilfe von DDR-Daten unterstützt werden sollte, konnte Pfau nichts wissenschaftlich Vorteilhaftes für Interkosmos entnehmen. Und zum Programm Absorptionsmessungen glaubte er betonen zu müssen, dass diese Aufgabe Tradition in Kühlungsborn sei. Deren wissenschaftlicher Wert sei »höchst fragwürdig«. Zwanzig Jahre betreibe das OIF Kühlungsborn bereits diese Messungen, hierin begründe sich der angebliche Weltruhm des Hauses. Tatsächlich heißt es in der Vorlage, dass es »kein anderes Land auf der Welt gebe, dass diese Messungen solange und auf so vielen Frequenzen« durchgeführt habe. Die Daten, so Pfau, würden jedoch nur »in sehr geringem Umfang ausgewertet«, und »ohne Anforderung« in den Westen geliefert (z. B. nach Lindau). Das Programm habe nichts mit Interkosmos zu tun.1300 Um es kurz zu sagen: das, was Pfau mitteilen zu müssen glaubte, war Gefälligkeitsrhetorik für das MfS. Sachlich waren alle Argumente haltlos. Lediglich die Satellitenbodenstation Neustrelitz, so Pfau, arbeite partiell zu Interkosmos-Aufgaben, nämlich im Rahmen des Netzes aller Bodenstationen für Interkosmos.1301 Offizier Günter Büttner fasste zusammen, dass außer einem Thema alle aufgeführten Arbeiten »keine Themen aus der Interkosmos-Forschung« seien. Es liege damit »eine Desinformation« Lauters »an die Partei und Staatsführung« vor. Es handele sich um eine »Hobbyforschung« hinsichtlich seines angestrebten »Weltruhms«. Büttner legte sicherheitshalber fest: »Bestätigung der Richtigkeit dieser Informationen durch einen anderen IM« sowie eine »Prüfung im MWT, welches Grundlagenmaterial zur Anfertigung« dieser Vorlage vorgelegen habe. Und zu einem Bericht Knuths, der in dieser Akte nicht einliegt, vermerkte Büttner, dass in ihm »ebenfalls die Tendenz vorhanden« sei, »die Untersuchung der D-Schicht zu forcieren und eine Zusammenarbeit mit westlichen Instituten anzustreben. Erweiterung der Bodenprogramme und Integration der Bodenstation in das westliche Beobachtungsnetz mit der Methode von Berus und Dieminger.«1302

1300  HA XVIII/5 vom 6.8.1970: Auswertungsbericht von »Pavel«; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 88–91, hier 88 f. 1301  Vgl. ebd., Bl. 90 f. 1302  HA XVIII/5/3 vom 11.8.1970: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 6.8.1970; ebd., Bl. 86 f.

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Der Druck zur Interkosmos-Zusammenarbeit wuchs indes rapide. Am 21. August informierte Schult seinen HFIM »Böttger«, dass am 4. September »im Institut auf der Ebene der Institutsleitung eine Aussprache zur Interkosmos-Arbeit« stattfinden werde.1303 Eine achtseitige Einschätzung vom 27. August in der Frage der Stellung von Wissenschaftlern zur Interkosmos-Zusammenarbeit ist aus der IMAkte Stillers tradiert. Reziprok dazu wuchsen die Restriktionen. Am 1. September bat Lauter nachdrücklich in einem Schreiben an Weiz um die Ausstellung eines Diplomatenpasses: »Ich verweise in diesem Zusammenhang darauf, dass dies den Gepflogenheiten aller sozialistischen Länder entspricht und auch die früheren Generalsekretäre der DAW im Besitze solcher Pässe waren.«1304 Am 3. September hatte es laut Schult bei Lauter eine Beratung zu einem Ministerratsbeschluss gegeben. Teilnahmen ferner Schmelovsky, Ullrich, Bliesener, Wagner, Wittbrodt sowie ein Vertreter des Meteorologischen Dienstes und Buschinski vom MWT. Lauter habe erklärt, dass es darum gehe, die Arbeit proportional zwischen den Interkosmosund den übrigen Anteilen zu entwickeln, etwa für die URSI-Arbeiten.1305 Er berichtete auch von einer Besprechung bei Stoph, dem er signalisiert habe, dass ab 1980 mit einer vierzehntägigen Wettervorhersage durchaus gerechnet werden könne. Die These Lauters von der Notwendigkeit einer proportionalen Entwicklung, so Schult, hätten alle durchschaut als eine Maxime gegen »eine zu enge Bindung an Interkosmos«. Er wisse jedoch von einem namhaften Wissenschaftler, dass Lauter als einer der größten Experten auf dem Gebiet der Hochatmosphäre gelte, der am OIF reiches Beobachtungsmaterial gesammelt habe. Dort herrsche immer »noch ein starker Lauterkult«.1306 Oertel berichtete am 10. September dem MfS, dass Lauter in Fragen der Akademiereform von Parteisekretär Horst Klemm kritisiert worden sei. In der Sache sei es um eine Auszeichnung Schmelovskys gegangen, die Lauter so organisiert hatte, dass sie an der Parteileitung vorbeiging und diese dann vor vollendeter Tatsache stand.1307 Aus einem aktuellen Strukturvorschlag für das ZISTP ging nach Information von HFIM »Böttger« im Monatsbericht für September 1970 hervor, dass eine Arbeitsgruppe unter Lauter arbeite, in der all jene »Kräfte, welche bisher operativ bearbeitet werden mussten, und welche politisch negativ eingeschätzt werden«, versammelt seien.1308 1303  Vgl. HA XVIII/5 vom 21.8.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 21.8.1970; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 85–87, hier 85. 1304  Schreiben von Lauter an Weiz vom 1.9.1970; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 43. 1305 Vgl. HA XVIII/5: Bericht von »Dagmar« über Beratung am 3.9.1970; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 105–117, hier 105; vgl. auch HA XVIII/5 vom 3.9.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 3.9.1970; ebd., Bl. 88–91, hier 89 sowie HA XVIII/5 vom 10.10.1970: Bericht von »Dagmar« am 10.9.1970; ebd., Bl. 128–132. 1306  HA XVIII/5: Bericht von »Dagmar« über Beratung am 3.9.1970; ebd., Bl. 106–108. 1307  Vgl. Bericht von »Dietrich« am 10.9.1970; BStU, MfS, AIM 4448/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 61 f. 1308  HFIM »Böttger« vom 24.9.1970: Monatsbericht September 1970; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 2, Bl. 34–37, hier 35.

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Am 22. September berichtete Viktor Kroitzsch umfassend zu Lauter,1309 einen Auftrag hierzu hatte er unter dem Titel »Fehlentscheidungen des Generalsekretärs der DAW, Lauter«, am 4. August erhalten.1310 Der IM, so sein Führungsoffizier in dem Bericht, hatte diese Aufgabe erhalten, weil er bereits entsprechende Einzelinformationen zu Lauter geliefert hatte. Demnach habe Lauter »die Arbeit der DAW durch« seinen »Leitungsstil und« seine »Weisungen«, der zudem noch Akademiepräsident Klare wegen dessen Erkrankung vertrete, »behindert, verwirrt und zunichte gemacht«. Allerdings, die Beispiele, die Kroitzsch anführte, trugen diese Behauptung keinesfalls, entweder waren es organisatorische Maßnahmen, die höheren Orts verantwortet wurden, oder Modalitäten des Handelns im durchaus Gebotenen und Erlaubten, vermengt mit einer Charakteristik Lauters, die zwar stellenweise negativ war, aber definitiv nicht seine Fähigkeit bezüglich des Amtes infrage stellen konnten. Dazu war Kroitzsch auch zu weit entfernt von Lauter. Seine Belege und Vorhaltungen waren: die bereits oben ausgeführte Problematik der Meldung resp. Nichtmeldung von Spitzenleistungen; eine Brüskierung des Leiters des FoB Chemie im Rahmen organisatorischen Handelns zur Akademiereform, deren Quelle noch nicht einmal Lauter gewesen sein muss; die Umzugsproblematik des Wissenschaftlichen Sekretariats des Forschungsbereiches Kosmische Physik sowie eine Denunziation Stillers, des stellvertretenden Generalsekretärs der DAW, gegen Lauter. Der Führungsoffizier, der die Berichterstattung entgegennahm und verschriftlichte, räumte ein, dass »Lauter zumindest stark beteiligt« gewesen sei bei den oben angeführten Punkten.1311 Doch das Urteil von Kroitzsch, vom FIM »Gerlach« verschriftlicht, ist vernichtend: »Wie dieser Mann eigentlich in diese Funktion gekommen ist, die er auch nach Meinung anderer Wissenschaftler nicht ausfüllen kann, ist schwer erklärlich. Offensichtlich spielt hier sein Ruf eine Rolle, dass er mit Brachialgewalt manche Probleme schnell löst.« Er erwähnte abschließend Lauters Vorgehen hinsichtlich seiner Amtsübernahme als Generalsekretär der DAW, die er mit Verzicht auf das Amt als Direktor des HHI realisierte. Die entsprechende Bitte zur Entbindung als Direktor enthält einen Passus, den »Gerlach« wie folgt festhielt: »Die Interkosmos-Forschung soll direkt durch den Beauftragten des Präsidenten, also durch Lauter, geleitet werden«. Kroitzsch dazu: »Der Witz ist nur, dass das ganze Institut an der Interkosmos-Forschung arbeitet (mit Ausnahme kleiner Gruppen, die demnächst auch dazugehören werden).« Für ihn war allein die angebliche Raffinesse Lauters interessant, mit dem eingesetzten Wittbrodt als Direktor des ZISTP eine Art Strohmann installiert zu haben: Lauter habe »somit die Kreisleitung und Akademieleitung schlechthin betrogen, da er noch immer der wirkliche Direktor des Institutes« sei.

1309  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Geos« am 22.9.1970; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 1, FiKo, Bl. 280–285. 1310  Vgl. BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Geos« am 4.8.1970; ebd., FiKo, Bl. 275. 1311  BV Potsdam: Bericht von »Geos« am 22.9.1970; ebd., FiKo, Bl. 280–285, hier 280–284.

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Lauter sei eben ein »geschickter Taktiker. Das sind mit Gründe dafür, warum er sich in diese Position hineinschmuggeln konnte und nicht entlarvt wird.«1312 Am 25. September berichtete Schult, »dass alle Schlüsselstellungen im Institut von Mitarbeitern besetzt« worden seien, die »eine aktive Mitarbeit an der IK-Arbeit fördern«. Er nannte u. a Wittbrodt, Zimmermann, Schmelovsky, Kempe und sich selbst. Das aber stimmte so nicht, zumindest Wittbrodt und Zimmermann blieben souverän. Schult warnte dennoch: »Lauter will jedoch vom Institut eine weltweite internationale Zusammenarbeit erreichen, dazu baut er eine Gruppe im Institut auf«. Es gehe »vor allem um Verbindungen aller Bereiche in das KA [kapitalistische Ausland]«. Diese Mitarbeiter hätten die Möglichkeit, in alle Bereiche der IK-Forschung hineinzuschauen; und: »fast alle Mitarbeiter des Institutes« würden »sich vor der Person Lauter verneigen«.1313 Klotz* berichtete am 30. September vom Beginn des weltweiten Beobachtungsprogrammes ISAGEX, zunächst als Probelauf. Die Ephemeriden erhielt derzeit Ondřejov (ČSSR) von den USA, Frankreich und Großbritannien. Ondřejov gab sie dann aufbereitet anderen sozialistischen Staaten wie der DDR, Rumänien und Ungarn weiter. Er berichtete, dass die Ephemeriden seit drei Wochen nicht mehr einträfen. Sie seien aber von Ondřejov abgeschickt worden. Er wies darauf hin, dass es sich um Computerstreifen mit Zahlenkolonnen handele, »die als Spionagematerial angesehen werden könnten«. Er bat das MfS, dass es »eventuell beim Zoll nachforschen« möge, »ob derartige Sendungen dort zurückgehalten« worden seien.1314 Jahre später, am 22. Januar 1974, wird der IM berichten, dass die DDR sich zurzeit nicht mehr daran beteilige.1315 Die Kooperation war vom MfS zunichte gemacht worden. Im Herbst forcierte das MfS die Platzierung Pfaus alias »Pavel« in das Arbeitsumfeld Lauters, sein Führungsoffizier Büttner notierte: »Einführung des IM in den westlich orientierten Personenkreis um Professor Lauter zur Aufklärung und Sichtbarmachung der konkreten Ziele der Politik von Lauter.« Dieser Auftrag sei bislang bereits »gut realisiert« worden. Es sei aber noch nicht gelungen, ihn in »den engeren Delegationskreis zur COSPAR-Tagung zu nominieren«.1316 Am 8. Oktober kam dann Pfau mit seinem Bericht zu Lauter richtig ins Spiel, er kannte keine Skrupel, war willfährig und kleinlich. Er hatte sich telefonisch zu einem Besuch bei Lauter angemeldet, bekam aber erst am 3. Oktober einen Termin; Pfau: »Der Besuch wurde im Auftrag durchgeführt. Ziel sollte sein zu erreichen, über das Problem Infrarotspektrometer eine Reise zur 14. COSPAR-Tagung 1971 in Seattle USA zu bekommen.« Da Pfau etwas zu früh ankam, konnte er feststellen, 1312  Ebd., Bl. 285. 1313  HA XVIII/5 vom 28.9.1970: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 25.9.1970; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 103 f. 1314  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 30.9.1970; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 121. 1315  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 22.1.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 27–31, hier 29. 1316  HA XVIII/5/3 vom 29.10.1970: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 8.10.1970; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 103–108, hier 103.

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dass Parteisekretär Ziert gerade bei Lauter war, dem er etwas zu Madrid diktiert habe; Pfau: »Den genauen Wortlaut konnte ich nicht verstehen, da ich im Nachbarzimmer wartete.« Pfau kam mit zwei Anliegen. Erstens sollte er herausfinden, welche Meinung Lauter zur Entwicklung des Infrarotspektrometers (Projekt PM) habe, da Gefahr bestehe, dass »die Sowjets« das Interesse am Gerät verloren haben könnten, nachdem es gebaut sei. Ähnlich, so Pfau, sei es ja mit dem einheitlichen Telemetriesystem gelaufen. Doch Lauter wiegelte ab, inländische Nutzer gebe es allemal. Pfau berichtete sodann von analogen Arbeiten der Leningrader Kontradjew-Gruppe, um »festzustellen, dass ihn«, also Lauter, »Einzelheiten über das Gerät keineswegs interessierten, obwohl er seinerzeit im Mai 1970 mich speziell auf die Zusammenarbeit mit [Kirill J.] Kondratjew aufmerksam gemacht hatte«. Die Zusammenarbeit der Leningrader mit den Amerikanern führe nicht dazu, so angeblich Lauter, dass sie damit »um vieles schneller das Infrarotspektrometer haben könnten« als die DDR.1317 Es sind Sätze und Gesprächsfetzen, die, denkt man nicht in der geheimpolizeilichen Logik, recht belanglos waren, doch die Gefahr, etwas Unüberlegtes zu sagen, war so klein nicht. Pfau schien an seine Grenzen gekommen zu sein, hatte ihn Lauter durchschaut? Pfau: »In diesem Zusammenhang gelang es mir nicht, das Hauptziel des Besuches unterzubringen.«1318 Das war die Reise zur COSPAR-Tagung. Doch Pfau wurde anders fündig. Lauter hatte ihm mitgeteilt, dass »in Madrid die Meteorologie ganz groß herausgekommen sei« und er das Infrarotprojekt »schon vollkommen an das GRAP-Programm, besprochen in Madrid, angebunden hätte«. Das GRAP-Programm war ein global angelegtes Forschungsprogramm »unter der Schirmherrschaft des COSPAR«. Pfau lenkte sofort auf die Schiene einer Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik zur wissenschaftlichen Auswertung der Daten, worauf Lauter Bischoff ins Spiel brachte, der »sehr gute Beziehungen zu Raschke hätte, die man doch ausnutzen sollte«. Lauter kenne Möller, Raschkes Chef, gut und empfahl Pfau, »ein paar Wochen zu Möller zu fahren«. (Ehrhard Raschke war 1956 aus der DDR geflüchtet und studierte vordem zwei Semester zusammen mit Bischoff in Freiberg.) Er, Pfau, sei »doch ein zuverlässiger Mann«. Offenbar fing sich Lauter und äußerte: »in erster Linie ist es Aufgabe von euch jungen Leuten in der Sowjetunion Erfahrungen zu sammeln und wissenschaftlich zu profitieren.1319 Auch diese Sequenz deutet darauf hin, dass Lauter kein Vertrauen zu Pfau hatte. Doch plötzlich soll Lauter »sein Programm zur Interkosmos-Arbeit« entwickelt haben, »das sich von dem mir langjährig bekannten nicht« unterschied. »Wir machen Interkosmos, so seine Worte, erstens nur unter der Bedingung, dass unsere hervorragende Stellung in der internationalen Wissenschaft, die wir uns früher erarbeitet haben, nicht eingebüßt wird.« Pfaus Versuch, Lauter auf eine Abänderung dieser Strategie hin zur 1317  Abschrift eines Berichtes von »Pavel« vom 8.10.1970; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 44–48, hier 44 f. 1318  Ebd., Bl. 45. 1319 HA XVIII/5/AG vom 2.10.1968: Bericht über Kontaktaufnahme; BStU, MfS, AIM 1341/86, Teil I, 1 Bd., Bl. 47–53, hier 49 f.

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aktiveren Interkosmos-Kooperation, »sprich Bau von Messgeräten«, zu bewegen, was dann zulasten dieser internationalen Stellung führen werde, habe ihn »wenig begeistert«. Prüfte er Pfau? »Zweitens machen wir Interkosmos«, so Lauter fortfahrend, »um Zugriff zur sowjetischen Technik zu erlangen und Anteil haben zu können an den progressiven Forschungen der Sowjetwissenschaft. Drittens soll unser Hauptaugenmerk in der Interkosmos-Arbeit ausschließlich auf Raketen gerichtet sein, auf Satelliten werden wir weiter etwas mitmachen, aber das kann niemals unsere Hauptaufgabe sein.« Raketen (für meteorologische und geophysikalische Messaufgaben – d. Verf.) würden wir, so Lauter sinngemäß, eines Tages selbst starten können, niemals aber Raketen mit Satelliten. Pfau wertete diese letzte Aussage dahingehend, dass Lauter vermeiden wollte, »dass die DDR große politische Erfolge« erringe, die unweigerlich mit Satelliten eintreten würden. Lauter führe, so Pfau, »als Begründung immer an, wir müssen in der Nähe der Erde bleiben, weil die DDR keine Verwendung für wissenschaftliche Forschungen aus dem ferneren Kosmos« habe. Pfau sei sich sicher, dass Lauter mit seiner Ansicht über Interkosmos »den politisch-ideologischen Aspekt der Interkosmos-Zusammenarbeit herabwürdigt«. Er wisse, dass Lauter bereits »die ersten Erfolge im Interkosmos-Programm auf Satelliten abtat als spektakuläre Erfolge u. ä. herabwürdigende Worte dafür fand«.1320 Pfaus Berichterstattung war detailliert, kleinlich, stellenweise paranoid.1321 Aber genau daraus entsprang ein hohes Nutzinteresse des MfS; ein Beispiel: »Gegen 12.20 Uhr tauchte bei Herrn Lauter Dr. Wagner aus Potsdam auf. Ich fragte ihn, wann er dran sei. Er sagte mir 13.00 Uhr. Kurz vor 13.00 Uhr kam dann auch Dr. Taubenheim, der ganz schüchtern beim großen Chef mehrmals an die Tür klopfte. Das Gespräch, das Professor Lauter mit mir führte, dauerte etwas länger, es begann auch später, und aus diesem Grunde haben die Doktoren Taubenheim und Wagner gegen 13.30 Uhr, nachdem ich weg war, ein Gespräch mit Professor Lauter gehabt. Ich hatte bei Professor Lauter meine Zigaretten liegen lassen und bin nach ungefähr zwei Minuten noch einmal zurückgekommen. Die beiden Herren saßen im Zimmer bei Professor Lauter und er hatte eine Kognakflasche hingestellt. Als ich nun wiederum auftauchte, bot er mir auch einen Kognak an, den ich noch trank, um mich dann nochmals zu verabschieden. Ich hatte gesehen, dass bei Dr. Taubenheim auf dem Tisch eine Mappe mit der Aufschrift STP – Solar-terrestrische Physik – lag. Wie ich später erfuhr, soll um diese Zeit eine Besprechung gewesen sein, die das Ziel hatte, eine Antwort auf einen Brief von Roederer zu formulieren, bei der Dr. Wittbrodt ausgeladen worden« sei. »Diese Information habe ich vom Genossen Zimmermann. Nähere Angaben kann ich bis jetzt nicht machen.«1322 1320  Abschrift eines Berichtes von »Pavel« vom 8.10.1970; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 44–48, hier 46 f. 1321  Vgl. zu »Pavel« vielfältige Bezüge zu seinem Wirken in der Zersetzungsarbeit des MfS gegen die Jugendarbeitsgruppe KOSMOS (JAGK), in: Buthmann: Konfliktfall »Kosmos«, passim. 1322  Abschrift eines Berichtes von »Pavel« vom 8.10.1970; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 44–48, hier 48.

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Auch Parteisekretär Ziert gab am 8. Oktober einen Bericht zu Lauter, und zwar anlässlich einer gemeinsamen Reise mit Karl Lanius zur 13. Generalversammlung des Internationalen Rates für wissenschaftliche Unionen in Madrid vom 24. bis 29. September. Er hatte den expliziten Auftrag, Lauter umfassend zu kontrollieren. Der Bericht ging am 11. November zu Mittig, dem Leiter der HA XVIII. Aus dem Inhalt: Lauter habe in Madrid zum Projekt Global Atmospheric Research Program (GARP) Gespräche geführt. Mit wem und was genau gesprochen wurde, konnte Ziert nicht herausfinden. An einem Tag habe er ihn aus den Augen verloren. Lauter sei »während des gesamten Tagungsverlaufes äußerst aktiv« gewesen, aber nicht dort, wo er »eine exakte politische Position zu beziehen und die in der Direktive festgelegte politische Konzeption durchzusetzen« beauftragt war. Seine Gespräche, etwa in Tagungspausen, konnte der IM nicht wiedergeben, die Informationen waren »recht dürftig«, da er der englischen Sprache nicht hinreichend mächtig war.1323 Allein die Hinweise zu Gesprächen Lauters mit dem Präsidenten der Internationalen Union für biologische Wissenschaften, Donald S. Farner, und dem Generalsekretär der Internationalen Union für Geografen (IUG), Chauncy D.  Harris, könnten vom MfS mit Interesse registriert worden sein. Farner sei, so Ziert, »offensichtlich über eine Reihe von DDR-Bürgern gut informiert« gewesen. So habe er gefragt, warum Hans Stubbe (Kap. 3.5.1, Exkurs 3) nicht der Einladung gefolgt sei; auch soll er sich über das Wohlergehen von Rompe erkundigt haben. Ziert teilte mit, dass das Gespräch Lauters mit Farner der Direktive entsprochen habe. Bei Harris will der IM das Gefühl gehabt haben, dass er auf die DDR-Delegation angesetzt worden sei.1324 Obgleich Lauter Einfluss und Kapazitäten zunehmend genommen wurden, machte er unbeirrt weiter; Pfau: der mache »nach wie vor, was er immer gemacht hat: D-Schicht«.1325 Lauters Philosophie, und allein das war hinreichend exakt von Pfau wiedergegeben worden, sah drei Säulen für ein Interkosmos-Engagements vor: kosmische Physik, kosmische Meteorologie und kosmische Nachrichtentechnik.1326 Am 21. Oktober war beim Direktor des ZISTP, Wittbrodt, ein wissenschaftlicher Beirat gegründet worden. Ihm gehörten 14 Personen an. Sollte bekannt werden, dass diese die gesamte Führungsriege des ZISTP darstelle, würde man »nur lachen«, äußerte ein IM. Ein wissenschaftlicher Beirat sei es jedenfalls nicht.1327 Zu diesem Personenkreis zählte auch der Sicherheitsbeauftragte Bliesener, der nicht einmal studiert hatte.

1323  HA XVIII/5/3 vom 2.11.1970: Bericht von »Karl« vom 8.10.1970; ebd., Bl. 49–56. 1324  Ebd., Bl. 54. 1325  HA XVIII/5 vom 19.10.1970: Bericht von »Pavel« am 8.10.1970; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 109–113, hier 111. 1326  Vgl. HA XVIII/5 vom 8.4.1971: Bericht von »Pavel« am 2.4.1971; ebd., Bl. 168–171, hier 168 f. 1327  Bericht zum Treffen mit »Dietrich« am 21.10.1970; BStU, MfS, AIM 4448/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 76 f., hier 77.

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Am 6. November berichtete Schult über die Verteidigung des Perspektivplanes im FoB Kosmische Physik. Die Leitung hatte Hans-Jürgen Treder inne. Alle Institutsdirektoren des FoB waren anwesend. Als Gäste kamen u. a. Steenbeck, Stiller und Zillmann vom MWT. Treder eröffnete mit der Information, dass künftig »eine gemeinsame« Wissenschaftskonzeption (WK) »Kosmische Physik« erarbeitet werde. Sie sollte die einzelnen WK der beteiligten Institute vereinigen. Zillmann teilte mit, dass diese WK drei Komplexe umfassen würden: solar-terrestrische Physik, Astrophysik und Observatoriumsprogramme »Physik der Erde«. Man wolle damit eine bessere Steuerung und Konzentration der Forschungsarbeiten erwirken. Wittbrodt habe Sicherheitsbedenken hinsichtlich des Geheimnisschutzes geäußert, worauf Steenbeck das mit der Bemerkung abgetan haben soll, dass das schon gehe, jeder Großbetrieb stehe vor solchen Aufgaben. In der Debatte um die Personalknappheit, wonach nach der Vorgabe des Präsidenten bis 1975 im ZIAP 30 Stellen abzubauen seien, kam die »bissige« Bemerkung Treders: »Ich verstehe nicht, wie man aus 30 Astro­physikern 600 Chemiker machen« wolle. Die Konzeption ging von Buschinski (MWT) aus, wenngleich in der Ursprungsform mit drei selbstständigen Säulen.1328 Tatsächlich wurde gegen Lauter der Vorwurf erhoben, dass er sein wissenschaftliches Augenmerk »auf ausgezeichnete wissenschaftliche Arbeit« lege. Ein seltsamer Vorwurf. Ein Beispiel, gegeben von Pfau: »Das ist übrigens das zentrale Problem beinahe jeder Aussprache mit ihm«, wenn er sagt: »›vergesst mir die Wissenschaft nicht‹.«1329 An anderer Stelle glaubte Pfau kritisieren zu müssen, dass Lauters »ständiges Wühlen« für wissenschaftliche vs. wissenschaftlich-technische Profilierung selbst die Parteileitung in diesem Sinne beeinflusst habe: »Es ist tatsächlich so, dass in diesem Sinne Vorrangigkeit der wissenschaftlichen Fragestellung schon weit­ gehende Übereinstimmung zwischen Lauter und der Parteileitung existiert. Initiator bei dieser Fragestellung war zweifellos Lauter. Dazu gesagt werden müsste, dass natürlich auch einige objektive Voraussetzungen da sind, die eine wissenschaftliche Fragestellung« als »zweifellos sinnvoll erscheinen« lasse und damit der »Einbruch Lauters in die Ideologie der Parteileitung« durchaus »auf fruchtbaren Boden« stoße.1330 Die Richtung der wissenschaftlichen Arbeit müssen die Wissenschaftler bestimmen, so Lauter, »nicht irgendein Ministerium«. »Auf Lauters Linie« lägen »Zimmermann und Wittbrodt«. Alle drei waren keine IM. Zimmermann selbst war nicht glücklich in seiner ehrenamtlichen Funktion als Parteisekretär. Er wollte das Amt niederlegen, doch Horst Klemm, der neue, menschlichere Parteisekretär, war damit nicht einverstanden.1331 Bliesener berichtete belastend über Zimmermann 1328  Bericht von »Dagmar« am 9.11.1970; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 160–163. 1329  HA XVIII/5 vom 18.8.1971: Bericht von »Pavel« am 5.3.1971; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 159–162, hier 161. 1330  HA XVIII/5 vom 8.4.1971: Bericht von »Pavel« am 2.4.1971; ebd., Bl. 168–171, hier 171. 1331 HA XVIII/5 vom 26.4.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 42–48, hier 44 sowie HA XVIII/5 vom 4.2.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 3.2.1972; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 155–159, hier 159.

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in dessen Eigenschaft als Parteisekretär.1332 Für die Linie der SED standen Underdogs wie Benno Gladitz alias GMS »Christian«1333 und Hans Pfau.1334 Das war das personale Strickmuster der DDR-Wissenschaftspolitik an der Basis. Die beiden Lauter sehr belastenden oben wiedergegebenen Berichte zu zwei Begegnungen mit ihm mögen entscheidend dazu beigetragen haben, dass wenig später das MfS den OV »Beamter« anlegte. Gladitz denunzierte Lauter bereits 1969, indem er direkt das MfS aufsuchte.1335 Der Astronom Gerhard Ruben alias IM »Astronom« berichtete am 9. Oktober von Ressentiments Lauters gegenüber Heinz Stiller, und zwar, »dass noch einige Jahre vergehen«, bis er, Stiller, »korrespondierendes Mitglied der DAW« werden würde. Dies habe er von Kroitzsch erfahren. Ruben interpretierte dies so, dass Lauter zu verhindern trachte, dass Leute aufstiegen, die nicht seiner Linie folgen würden. Von einem Parteisekretär habe er erzählt bekommen, dass Lauter »ungern Mitglied der SED geworden« sei, man hatte es ihm damals »sehr nahegelegt«. Als »Bedingung« für sein »Ja« soll er »geäußert haben, dass er das Parteiabzeichen nicht tragen« müsse.1336 Der Direktor des Meteorologischen Dienstes, Böhme, berichtete dem MfS am 13. Oktober, dass die »Wurzeln« des Programms des GARP »in der wissenschaftlich-technischen Revolution in Bezug auf die Meteorologie begründet« lägen. »Ein wesentlicher Impuls« sei hierzu vor vier Jahren auf Initiative Bulins auf der Stock­ holmer Konferenz erfolgt. Die Sowjetunion habe vor zwei, drei Jahren begonnen, ihre Mitarbeit zu intensivieren. Jährlich gebe es ein bis zwei Planungssitzungen; Vertreter der Sowjetunion und der USA seien hierin paritätisch vertreten. Der wissenschaftliche Nutzen werde in der Minimierung des noch herrschenden Gegensatzes zwischen der Vorhersagbarkeit des Wetters und der Erwartungshaltung der Volkswirtschaften gesehen. Gegenwärtig gebe es immer noch »negative Nebeneinflüsse«, von denen man erwarten könne, dass sie durch den Einsatz der EDV, Satelliten­technik und moderner Nachrichtentechnik entscheidend minimiert würden. Die UNO habe demzufolge zu einer Verstärkung der entsprechenden Forschungen aufgerufen. Dem folgte die Weltorganisation für Meteorologie (WMO), die praktische Schritte zur Umsetzung startete. Die DDR war daran offiziell beteiligt. Das Vereinigte Organisationskomitee bestand zu gleichen Teilen aus Vertretern der WMO, des ICSU und des Büros der IUGG. Ziel des GARP war es, mit der 1332  Vgl. Information von Bliesener zu einer GO-Sitzung im IE am 13.6.1973, aufgefunden in: ebd., Bl. 183. 1333  Vgl. HA XVIII/5 vom 9.3.1985: Abschlussvermerk; BStU, MfS, AGMS 4369/85, 1 Bd., Bl. 204. Auch Akte MfS, BV Gera, AP 379/61. 1334  Vgl. HA XVIII/5 vom 3.8.1972: Bericht von »Pavel«; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 2, Bl. 39–42, hier 39 f. 1335  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 4.3.1971: Vorschlag zur Werbung; BStU, MfS, AGMS 4369/85, 1 Bd., Bl. 123–129, hier 124. 1336  BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Astronom« am 9.10.1970; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 1, Bl. 182.

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Überwachung der Atmosphäre den Vorhersagezeitraum auf bis zu 10 bis 14 Tagen zu erweitern. Demnächst würden zunächst zwei Unterprogramme realisiert werden: 1973/74 das tropische und 1975/76 das erste globale Experiment. »Innerhalb des globalen Experiments wird die Überwachung der gesamten Atmosphäre mit indirekten Sondierungsmethoden von Satelliten aus eine wesentliche Rolle spielen, da es keine direkte Methode gibt, die sich mit annähernd gleichem ökonomischem Aufwand das gleiche leistet.« Die DDR habe »auf der Brüsseler Tagung bekanntgegeben, dass« sie »sich in Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Ländern am Einsatz der indirekten Sondierungsmethode beteiligen« werde. Das entsprach der »bestätigten Direktive und war mit der sowjetischen Delegation abgestimmt«.1337 Der Bericht Böhmes entsprach den wissenschaftlichen Tatsachen. Ein Konzentrat des Berichtes von Ziert zum Aspekt GARP vom 12. November ging separat an den Leiter der HA XVIII Rudi Mittig. Die Forschungen am GARP seien demnach nicht nur für die Meteorologie, sondern »auch unter militärischen Aspekten« von Bedeutung. Lauter habe als verantwortlicher »Themenleiter für die Entwicklung eines Infrarotspektrometers im Rahmen des Interkosmos-Programms« das Projekt »vollinhaltlich in das internationale GARP-Programm« eingegliedert »und höchsten Wert darauf« gelegt, »dass die Arbeiten zügig und termingemäß vonstatten« gegangen seien. Wissenschaftlich gesehen sei dies richtig und berechtigt. Doch da das Gerät für das sowjetische meteorologische System »Meteor« vorgesehen sei, und zudem »volkswirtschaftliche und militärische Bedeutung« besitze, sei dies einmal mehr ein grober Verstoß gegen die Geheimhaltung. In der Reisedirektive Lauters gebe es keine Berechtigung, über die Entwicklung des Gerätes zu sprechen, geschweige denn es international zu integrieren. Damit sei der Verdacht auf Erfüllung des Straftatbestandes im Sinne des Paragrafen 172 StGB gegeben.1338 Klotz* äußerte am 16. November den Verdacht, dass Lauter mit der Nominierung Wittbrodts als Direktor des HHI für sich selbst eine Hintertür offengelassen habe, da der 62 Jahre alt sei. Lauter soll ja sonst immer für jüngere Wissenschaftler plädiert haben.1339 Am 23. November berichtete Kautzleben, dass sich im Zuge »der Akademiereform der administrative Apparat der Akademie sehr stark und unbegründet vergrößert« habe, »und dass die Anfertigung von Analysen, Einschätzungen u. ä. große Kapazitäten der wissenschaftlichen Mitarbeiter« binde. In diesem Zusammenhang kritisierte er Lauter heftig, da der »nicht in der Lage« sei, »die anfallenden administrativen und organisatorischen Aufgaben zu bewältigen«. Dadurch komme es zur »Unregelmäßigkeit und Spontanität in der Zusammenarbeit bzw. im Leitungsstil«.1340 Und am 25. November berichtete Oertel, dass er von 1337  HA XVIII/5 vom 30.10.1970: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 13.10.1970: Erläuterungen zum GARP; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 45–50, hier 45–48. 1338  HA XVIII/5 vom 12.11.1970: Information; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 57 f. 1339  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 16.11.1970; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 122. 1340  BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 26.11.1970: Zur Zusammenarbeit zwischen dem FoB und der AdW; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2059/80, Teil II, 1 Bd., Bl. 51 f.

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Zimmermann wisse, »dass Lauter und einige andere Mitarbeiter des ZISTP (Namen wurden nicht genannt) die Arbeit im IK zurückwerfen« wollten. Das sei auch ablesbar an einer Äußerung anlässlich der Auszeichnung Schmelovskys mit dem Orden »Banner der Arbeit«; Lauter: »Nun macht aber einmal Schluss mit eurer Spielerei und macht wieder etwas Vernünftiges.«1341 Damit war nicht der Orden an sich gemeint, sondern jene Interkosmos-Arbeit, die zu dieser Auszeichnung geführt hatte. Am 4. Dezember behauptete Pfau gegenüber dem MfS, dass sich binnen eines halben Jahres der Interkosmosanteil des ZISTP von 35 auf 85 Prozent erhöht habe. Das sei zwar gut, aber die Manipulation bestand nach seiner Auf‌fassung darin, dass passive Programme der Bodenstationen hinzugerechnet worden seien.1342 Am 8. Dezember, Lauters Geburtstag, resümierte die HA XVIII/5/3 zum operativen Bearbeitungskomplex »Raumforschung, Interkosmos«, dass vermehrt fest­ zustellen sei, dass die Sicherheitsbestimmungen bezüglich der Interkosmos-Ordnung verletzt würden. »Für Interkosmos nicht bestätigte Personen« dürften »in die Bearbeitung solcher Themen nicht einbezogen werden«. Das aber sei nicht durchgängig beachtet worden. Auch würden Themen bearbeitet, die nicht zu Interkosmos gehörten, aber durch Abzug von Kapazitäten aus Interkosmos diesem Projekt schadeten. In dem Papier heißt es, dass im »Protokoll über die Tagung der Ständigen Arbeitsgruppe für kosmische Physik vom Juni 1970 in Wrocław« deutlich geworden sei, dass die sowjetische Delegation »an einer Verstärkung der Mitarbeit der einzelnen Länder bei der instrumentellen Ausrüstung der zur Verfügung gestellten Satelliten und Raketen« sehr interessiert sei. Bestimmte DDR-Wissenschaftler wie Lauter aber würden zusammen mit nationalen und internationalen Organisationen Druck in Richtung einer weltoffenen Arbeit ausüben; diese Organisationen seien das Nationalkomitee für Astronomie bei der DAW, das NKGG bei der DAW; die COSPAR-Kommission der DDR beim NKGG, das Nationalkomitee der DDR für die Internationale Union für Radiowissenschaften sowie die Fachgruppe im NKGG mit Verbindung zur Internationalen Kommission für solar-terrestrische Physik. 1967 hätten 13 DDR-Wissenschaftler dem COSPAR-Komitee der DDR angehört, sechs von ihnen seien in Interkosmos-Arbeiten einbezogen worden, was nicht zulässig sei. All dies widerspreche »der Grundsatzentscheidung des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrates«, Weiz, »aus dem Jahre 1967«, wonach »die in Interkosmos einbezogenen Wissenschaftler mit Ausnahme« von Lauter und Böhme, Leiter des Meteorologischen Dienstes, »aus Funktionen des COSPAR zurückzuziehen« seien. In dem 38seitigen Papier listete das MfS chronologisch all jene angeblichen oder tatsächlichen Bemühungen Lauters auf, die weltweite Zusammenarbeit zu befördern. Lauter versuche, Schmelovsky aus dem IE zu drängen und ihm eine leitende Funktion im ZI für Kybernetik anzuraten. Ihm sei es gar 1341  Bericht zum Treffen mit »Dietrich« am 25.11.1970; BStU, MfS, AIM 4448/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 92 f., hier 93. 1342  Vgl. HA XVIII/5: Information von »Pavel« am 4.12.1970; BStU, MfS, AIM  8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 145.

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gelungen, das MWT »in wesentlichen Fragen von seiner Linie zu überzeugen«. Das MfS kritisierte, dass diesem Ministerium der fachliche Durchblick fehle, es keine eigenen Vorstellungen habe.1343 In dem folgenden Bericht von Viktor Kroitzsch klingt an, was der eigentlich absehbare Tribut Lauters für seine Bereitschaft, den Generalsekretär der Akademiereform zu machen, bedeutete: die Missachtung durch Teile der maßgeblichen Wissenschaftler der Akademie der Wissenschaften. Sein Scheitern war unvermeidlich. Hatte die SED in Lauter gar einen Sündenbock  a priori gefunden? Einer, der nur formal zu ihnen gehörte, der womöglich gar abgeschossen werden sollte? Der Blick allein auf diesen Bericht von Kroitzsch zeigt, dass es so gewesen sein könnte. Kroitzsch berichtete seinem Führungsoffizier am 5. Januar 1971 über die am 15. Dezember 1970 stattgefundene Sitzung des Nationalkomitees der DDR für die URSI. Anlass war eine Tagung über Mikrowellen, ein Fachgebiet, das wegen der Umprofilierung der Akademie unter die Räder gekommen war und auch »nicht mehr gelehrt« werden sollte, woran, so Kroitzsch, Lauter maßgeblichen Anteil als Generalsekretär der DAW gehabt habe. Hans Frühauf soll dargelegt haben, dass sein Kampf für die Fortführung der Mikrowellenforschung vergeblich gewesen sei. Treder soll gar von einer »Profilschädigung« gesprochen haben. Ähnlich sei, so habe es Treder ihm, also Kroitzsch, gesagt, der Zustand auf den Gebieten der Radiowellenforschung und der Plasmaphysik. Auch auf dem Gebiet der Mathematik werde es nach Treder nun eng, man wolle die »Mathematik in der DDR auf wenige praxisverbundene Gebiete beschränken«. Er, Treder, habe zusammen mit führenden DDR-Mathematikern eine Art Denkschrift verfasst, die gegenwärtig bei Rompe liege, da erfahrungsgemäß, so Kroitzsch, Lauter verhindere, »dass die Berichte der Fachexperten weitergeleitet« würden. Treder habe deshalb die Akademieleitung gebeten, »das Original neben dem überarbeiteten Bericht an« Kurt Hager, der u. a. Mitglied des Präsidiums des Forschungsrates war, »weiterzuleiten. Diese Bitte wurde ihm abgelehnt (vermutlich auf Betreiben von Lauter). Auch die Bitte, den überarbeiteten Bericht einsehen zu dürfen, wurde ihm verwehrt. Professor Treder befürchtet, dass durch Strukturveränderungen auf dem Gebiet der Mathematik das Profil der Wissenschaft in der DDR weiter geschädigt wird und die DDR bald international nicht mehr auf diesem für uns wichtigen Gebiet mitreden« könne.1344 Auch wenn dieser Bericht plausibel scheint, darf nicht vergessen werden, dass der Handlungsspielraum Lauters definitiv begrenzt war. Die Reform konnte er um den Preis seines Amtes nicht verhindern. Günter Pätzold alias IME »Kosmos«, Sicherheitsbeauftragter für den Forschungsbereich Geo- und Kosmoswissenschaften auf dem Telegrafenberg in Potsdam, berichtete am 7. Januar dem MfS über ideologische Kämpfe zweier Lager in der DDR. 1343  HA XVIII/5/3 vom 8.12.1970: Bericht zum operativen Bearbeitungskomplex »Raumforschung-Interkosmos«; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13721, Bl. 24–61, hier 27, 29 f. u. 33–54. 1344  BV Potsdam: Bericht von »Geos« am 5.1.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 2, FiKo, Bl. 3 f., hier 3.

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Demnach würden sich in letzter Zeit verstärkt Kräfte »bemerkbar« machen, »die enge Beziehungen zu führenden Wissenschaftlerkreisen« im Westen hätten. »Die Konfrontation richtet sich gegen Wissenschaftler der DDR, die eine klare politische und wissenschaftspolitische Einstellung zu unserer Gesellschaft und den gesellschaftlich objektiv notwendigen Wissenschaftsprozess« zeigten. Die einflussreichsten und aktivsten hierin seien die Professoren Watznauer und Buchheim. Zu ihnen zählte er auch den Dresdener Schöpf sowie die Jenenser Schuster und Schmutzer. Sie würden »ihre ideologischen Angriffe […] vor allem gegen die Professoren Rotter und Militzer aus Freiberg sowie gegen die Professoren Stiller und Kautzleben aus Potsdam« richten. Sie würden gegen sie hetzen und behaupten, dass deren Karriere eine Folge ihres politischen Engagements sei. Zu den Strukturmaßnahmen infolge der Akademiereform führte Pätzold aus: »Nachdem man diesen Personen durch Neuformierung der Wissenschaftlichen Beiräte in den Hauptforschungsrichtungen den Einblick in wissenschafts-relevante Aufgaben entzogen« habe, »formieren sie sich« wieder »bei regelmäßigen Zusammenkünften in der Klasse Umwelt. Hauptpartner für deren wissenschaftspolitische Ansichten bilde in dieser Klasse Lauter. »Weitere regelmäßige Treffen« würden »über Professor Neef« erfolgen. »Über ihn erfolgt der Einfluss auf die wissenschaftspolitischen Probleme des Gebietes Geografie und Umwelt.« In letzter Zeit würden verstärkt Kontakte Watznauers und Buchheims zu Lauter festgestellt. Watznauer vertrete das wissenschaftspolitische Argument, dass der Forschungsbereich Geo- und Kosmoswissenschaften nur von Lauter oder Treder geleitet werden solle. Da Treder leitungsmäßig eher inaktiv sei, komme also nur Lauter infrage. Pätzold vermutete, »dass dieser Personenkreis ein aktiver Stützpunkt der westeuropäischen Wissenschaftspolitik« sei »oder werden« könne. Schwerpunkt sei hierin die Leopoldina. Einen »Beweis« lieferte Pätzold gleich mit: Als Stiller zur Aufnahme in die Leopoldina vorgeschlagen wurde, sei der Antrag »von Watznauer und Buchheim durch fürchterlichen Beschuss zu Fall gebracht« worden. Heinz Bethge, Präsident der Leopoldina, sei »nach dieser Beratung völlig ratlos« gewesen.1345 Schult berichtete am 14. Januar, dass Lauter am Vortag sein Ernennungsschreiben als Fachrichtungsleiter der solar-terrestrischen Physik vom DAW-Präsidenten erhalten habe. Ferner habe er den Ministerratsbeschluss Weiz vorgelegt und »dafür eine harte Kritik« einstecken müssen. Lauter wollte in diesem Beschluss die Arbeiten des ZISTP auf eine Höhe von 150 km beschränken. Dies hätte dann das Ende der Interkosmos-Arbeit bedeutet.1346 Am Samstag, dem 16. Januar, hatte Lauter Hans Pfau zu einer Aussprache geladen. Er machte ihm das Angebot, »die Zusammenarbeit der DAW im Rahmen des RGW zu übernehmen«. Dies könne er für wesentlich mehr Gehalt machen.

1345 BV Potsdam vom 7.1.1976: Information über politische Gruppierungen; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 3, Bl. 220–223. 1346  Bericht von »Dagmar« am 14.1.1971; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 189.

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Pfau soll »vorerst« abgelehnt haben.1347 Dass Lauter Pfau als Spitzel enttarnt haben könnte, ist wahrscheinlich. Lauter war ein klassischer Physiker, ein Physiker, der nicht anders konnte als beobachten, registrieren und prüfen. Und auf der anderen Seite war Pfau, der im Grunde genommen ungeeignet war als Agent. Er suchte Nähe zu gewinnen, wo es keine geben konnte. Und dennoch, er lieferte jene Informationen, die den typisch tschekistischen Charakter besaßen, also politisch-ideologisch getrimmt waren. Noch am selben Tag berichtete er seinem Führungsoffizier seine Mutmaßungen auf den Abschiebungsversuch Lauters. Der HFIM »Böttger« erhielt am 19. Januar die Information, dass Lauter Pfau aus dem ZISTP herauslösen wolle.1348 Wer war Pfau? Pfau studierte von 1956 bis 1961 an der Mathematisch-Mechanischen Fakultät der Leningrader Staatlichen Shadanov-Universität mit dem Abschluss als Diplommechaniker. 1962 kam er zum VEB Physikalisch-Technische Werkstätten resp. zum III. Physikalisch-Technischen Institut (PTI) in Berlin-Rahnsdorf. Von 1965 bis 1968 war er erneut in der Sowjetunion, wo er eine Aspirantur an der Shadanov-Universität innehatte. Dass er vom KGB angeworben sein könnte, kann angenommen werden. 1969 zurück, kam er an das Heinrich-Hertz-Institut (HHI), in diesem Jahr erfolgte seine Promotion. Später, ab 1972, wechselte er in die vom HHI ausgekoppelte Forschungsstelle für Kosmische Elektronik (FKE) resp. Institut für Elektronik (IE) der Akademie der Wissenschaften. Dort war er als Abteilungsleiter tätig. Inoffizieller Mitarbeiter des MfS unter dem Decknamen »Pavel« war er von 1970 bis 1976. Er nahm sich am 18. Dezember 1976 das Leben.1349 In der Leiterinformation Nr. 66/71 fasste das MfS am 21. Januar 1971 seine Ergebnisse unter dem Aspekt der erschwerten Zusammenarbeit der DDR mit der Sowjetunion zusammen: Eingangs erwähnte es, dass vornehmlich durch das HHI Beiträge für Interkosmos geleistet worden seien, etwa für die Satellitenstarts Interkosmos  I, II und IV sowie für das Raketenexperiment Vertikal  I. Die Arbeiten hätten zur Erhöhung des Ansehens der DDR beigetragen, die Sowjetunion aber sei »stark an einer weiteren Vertiefung dieser Zusammenarbeit interessiert«. Allerdings würden »verschiedene Personen, die in der DDR auf dem Gebiet der Raumforschung leitend tätig« seien, »gegen die zur Durchführung der Interkosmos-Zusammenarbeit erlassenen Bestimmungen verstoßen und eine Politik« betreiben, »die geeignet« sei, »den panmäßigen, effektiven Fortgang der Zusammenarbeit erheblich zu beeinträchtigen«. Genannt wurden Lauter, Daene und Wagner, die mit ihrem Verhalten negativen Einfluss auf jüngere Wissenschaftler nähmen. Die drei, aber auch andere, seien »Vertreter der sogenannten ›weltweiten wissenschaftlich-technischen Kooperation und Zusammenarbeit‹«. Von ihnen werde »ein ständiger Druck auf die Konzipierung von Forschungseinrichtungen ausgeübt, der in ihrem persönlichen und 1347  Bericht von »Dagmar« am 18.1.1971; ebd., Bl. 190. 1348  Vgl. HFIM »Böttger« vom 28.1.1971: Monatsbericht Januar 1971; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 2, Bl. 90–95, hier 90 u. 93. 1349  Buthmann: Konfliktfall »Kosmos«, S. 201 u. 352.

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im Interesse internationaler Organisationen« liege, diese seien COSPAR, IUGG, URSI und IUCSTP. Das MfS listete die Involvierung der DDR-Wissenschaftler in diesen und anderen Organisationen sowie Gremien detailliert auf, benannte Fachdisziplinen, in denen es zur Kooperation mit dem Westen kam und wie die »Zusammenarbeit mit westdeutschen Einrichtungen zur Untersuchung der sogenannten D-Schicht« und zu »bodengebundenen Messungen der Bahnparameter von Satelliten der USA« laufe. »Nach übereinstimmenden Aussagen« von Gringaus (Sowjetunion) und Schmelovsky sei »die Erforschung der D-Schicht (120  km Höhe)  eines der materiell und zeitlich aufwendigsten Forschungsprobleme, von dem bisher relativ wenig konkrete Ergebnisse« vorlägen. »Selbst große Länder wie die UdSSR und die USA« hätten bislang einen »konzentrierten Einsatz in diesem Bereich aus den vorgenannten Gründen« gescheut. Lauter unterstütze, »fußend auf die westdeutschen Empfehlungen und auch aus persönlichen wissenschaftlichen Interessen, die Bearbeitung dieses Komplexes in der DDR«. Argumente, für welche technischen Zwecke und volkswirtschaftlichen Felder diese Forschungsrichtung relevant ist, auch in Hinblick auf die künftig zu erwartende Fernerkundung, wurden nicht genannt. Das MfS behauptete, dass das Streben westlicher Länder nach »›weltweiter‹ Zusammenarbeit« dazu diene, »den spezifischen Charakter von Interkosmos aufzuheben«. Weiz habe deshalb eine Vorlage, die für den Ministerrat im Dezember 1970 erarbeitet worden sei – Titel: »Konzeption für das mit der UdSSR und anderen sozialistischen Partnern im Rahmen Interkosmos abzustimmende Programm der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit im Perspektivzeitraum 1971–1975« – zurückweisen müssen.1350 Lauter und Wittbrodt seien entgegen den Bestimmungen bestrebt, Wissenschaftler in die Kooperation westlicher Länder zu den oben genannten Themenkomplexen zu bringen. Auch gebe es Bestrebungen, nicht bestätigte Wissenschaftler in Kooperation zu sowjetischen Themen zu bringen. Hierbei handelte »es sich um Bemühungen« zweier Wissenschaftler »im Zusammenhang mit nationalen sowjetischen Experimenten (Start von Satelliten mit polaren Bahnen)«.1351 Am 27. Januar berichtete Oertel vom bevorstehenden Besuch hoher Staatsfunktionäre im ZISTP. Schmelovsky hatte hierzu in seinem Zimmer eine Ausstellung der mobilen Bodenempfangsanlage und anderer Geräte aufgebaut. Von ihm wisse man, dass Weiz »mit der Arbeit des Bereiches sehr zufrieden« sei. Lauter habe angekündigt, dass aus diesem Grunde »noch ›höhere‹ Gäste in das Institut kommen« würden. Das Institut könne »als Schule der DAW« betrachtet werden; es könne auch als eine Art Ausbildungsstätte für junge Wissenschaftler profiliert werden.1352 1350  MfS vom 21.1.1971: Information Nr. 66/71 über einige Probleme der zweiseitigen Zusammenarbeit SU / DDR auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des kosmischen Raumes – Interkosmos; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 20–28, hier 21–25 (sowie BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1890, Bl. 1–9). 1351  Ebd., Bl. 22 f. u. 26 f. 1352  Bericht zum Treffen mit »Dietrich« am 27.1.1971; BStU, MfS, AIM  4448/85, Teil  II, Bd. 1, Bl. 105 f., hier 105.

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Just an diesem 27. Januar polemisierte Kroitzsch – nachträglich – gegen Lauter bezüglich der vor zwei Jahren vom 18. bis 28. August 1969 in Toronto stattgefundenen Sitzung der URSI, als seinerzeit die DDR-Aufnahme auf der Tagungsordnung stand. Lauter soll demnach stets die Bezeichnung »East Germany« verwandt haben, was er den übrigen DDR-Delegaten untersagt habe: »Dieses Beispiel zeigt erneut, dass« er sich »ständig Sonderrechte herausnimmt und damit gegen seine eigenen Anordnungen« verstoße.1353 Im Konvolut zu Zappe alias GI »Heinz Ludwig« sind ohne Datum Hinweise zur wissenschaftlichen Bedeutung der XV. Generalversammlung der Internationalen Union für Geodäsie und Geophysik (IUGG) in Moskau 1971 überliefert. Zappe referierte hierin Aspekte der Grundlagenforschung des Faches, die DDR-Fachleute, nicht zuletzt Lauter, grundsätzlich versuchten, den SED-Funktionären näher zu bringen, jedoch in der Regel ohne Erfolg. Auf der Sitzung hatte der Generalsekretär der IUGG, Jean-Jacques Levallois, ausgeführt, dass es hierbei um die »Erforschung der Form des irdischen Systems, die künstlichen Satelliten eingeschlossen, und der physikalischen Größen, die an das System gebunden sind« gehe. Dabei würden sich die Satelliten »und die Theorie ihrer Bewegung« heute »als moderne technische Mittel zur geodätischen Wissenschaft« beweisen. Mit ihnen können Größe, Figur und Schwerefeld exakter als vordem berechnet werden. Eines der vielen wichtigen Themen mit eminenter volkswirtschaftlicher Bedeutung bilde hierbei die Erforschung der Erdkrustenbewegung. Die Wissenschaftler der Staaten der osteuropäischen Region seien hierin führend. Die USA hätten diesbezüglich die massive Bedeutung erkannt und mit dem System NOAA (Nationale Administration zur Erforschung der Ozeane und Atmosphäre) in die Praxis umgesetzt. Zappe weiter: »Die Beschränkung der IAG-Aktivitäten auf wissenschaftliche Forschungen, die nicht an staatliche geodätische Koordinatensysteme gebunden sind, ist als sehr langwierig einzuschätzen. Sie kann gefördert werden, wenn die regionale wissenschaftliche Arbeit der sozialistischen Staaten in den Organisationen Interkosmos und KAPG aktiv und effektiv weitergeführt werden.« Auch feierte Zappe den Sozialismus, da »die Staaten des sozialistischen Weltsystems am erfolgreichsten die lebensnotwendigen Probleme der Geodäsie lösen« würden, »weil von ihnen die Wissenschaft so organisiert« werde, »dass sie den wissenschaftlichen Vorlauf für die gesellschaftliche Praxis und Produktion erarbeiteten. Das beweist die Einführung des Krassowski-Ellypsoids als einheitliche Referenzfläche und das bewies in Moskau die Vorlage der Karte der Erdkrustenbewegung von Ost-Europa.«1354 Am 20. Januar ordnete der Führungsoffizier Pfaus, Büttner, an, dass er das Angebot Lauters, den Arbeitsplatz zu wechseln, nicht anzunehmen habe: »Das Angebot

1353 BV Potsdam: Berichterstattung von »Geos« am 27.1.1971; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 2, FiKo, Bl. 6. 1354  Ohne Kopfangaben: Wissenschaftliche Bedeutung der Generalversammlung der IUGG; BStU, MfS, AIM 7783/71, Teil II, Bd. 2, Bl. 102–107.

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wird nicht angenommen.« Er möge jedoch differenziert absagen, also auf seine Tätigkeit verweisen, die ihn ausfülle.1355 Erwin Schult berichtete am 3. Februar über die Verteidigung der Wissenschaftskonzeption (WK) in Lindenberg: Die Eröffnungsrede hielt Hilbert, der auch vom Besuch Stophs, Honeckers und Mittags im ZISTP tags zuvor berichtete. Wittbrodt ergänzte. Auftrat Lauter »mit süßsaurer Miene«, er habe den Besuch abgetan, kein Wort soll er über die Einschätzung der Politbüromitglieder gefunden haben. Besonders Schmelovsky soll darüber verärgert gewesen sein. Lauter betonte einmal mehr, dass es darum gehe, »stärker an fundamentalen wissenschaftlichen Aufgaben und Problemen« zu arbeiten und daraus »Experimente für IK« abzuleiten, und nicht nur Geräte auf Anforderung und ohne Feedback. Schult mutmaßte, dass Lauter die Arbeit mit der Sowjetunion im Rahmen des Interkosmos-Programms als zufällig darstellen wolle, eine Arbeit, die in der Zukunft nicht tragen werde. Ständig soll er versucht haben, die Forschung auf eine Höhe von 150 km zu begrenzen.1356 Am darauffolgenden Tag kam es zu einem Gespräch mit Hilbert, an dem u. a. Schult, Wittbrodt, Buschinski, Bliesener und Zimmermann teilnahmen. Übereinstimmend hätten sie geäußert, dass die Verteidigung der WK schlecht gewesen sei. Hilbert nahm die Kritik an und versprach, darüber nachzudenken. Er beabsichtige, »den Beirat umzubilden«.1357 Zu Buschinski (MWT) gab Schult einen gesonderten Bericht ab. Dessen Verhalten am 3. Februar soll »den Unwillen der Mitarbeiter des ZISTP« erregt haben. Warum dies so war, machte Schult nicht deutlich. Jedenfalls habe es deswegen am 4. Februar eine Aussprache bei Wittbrodt gegeben. Man habe Hilbert deutlich gemacht, dass »die Verteidigung nicht die Zustimmung in allen Punkten« seitens des ZISTP finde. Buschinski ließ sich jedoch nicht überzeugen und »versuchte mehrmals seine falsche Handlungsweise zu verteidigen«, wurde jedoch von Hilbert »zur Ordnung gerufen«. In der Folge habe es protokollarischen Ärger gegeben, Buschinski sei Verschleppungstaktik vorgeworfen worden, die Prämienmittelzahlung geriet in Verzug – aber nirgends findet sich ein Wort über den Kern des Konfliktes. Diesen aber kannte Schult sehr genau: er betraf die einzuschlagende Forschungsstrategie. Schult schloss: »Es ist schlecht nachzuweisen, aber es muss angenommen werden, dass Buschinski die Angelegenheit bewusst auf die Spitze treiben wollte aus persönlichen Motiven heraus.«1358 Eine Information von Oertel am 5. Februar gibt nicht nur Atmosphärisches über den Besuch der Staatsdelegation im ZISTP wieder, sondern für diese Untersuchung auch Bedeutendes: Als die Staatsdelegation im Zimmer Schmelovskys war, wo die 1355  HA XVIII/5/3 vom 22.1.1971: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 20.1.197; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 155–158, hier 155. 1356  HA XVIII/5: Bericht von »Dagmar« zur WK-Verteidigung am 3.2.1971; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 198–200. 1357  HA XVIII/5: Bericht von »Dagmar«: Begegnung am 4.2.1971; ebd., Bl. 203 f. 1358  HA XVIII/5: Bericht von »Dagmar« (o. D.); ebd., Bl. 237 f.

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Ausstellung platziert war, ist es zu einer Szene gekommen, und daran ist handlungslogisch kaum zu zweifeln, die einem Eklat für Lauter gleichkam. Als Lauter »seine Vorstellungen darlegen« wollte, »dass man im Institut die Fragen der Meteorologie breiter ausbauen sollte«, hätten »sich Honecker und Mittag von Lauter« abgewandt und sich mit anderen Mitarbeitern unterhalten. Zimmermann habe den Eindruck gewonnen, dass sie »die Vorstellungen von Lauter schon« kannten und sie nicht viel davon hielten.1359 Waren sie gebrieft worden? Wenn ja, dann könnte es recht widerspruchsfrei erklären, warum wissenschaftliche Argumente aus der Fachschaft, aus dem MWT und teilweise sogar aus der Sowjetunion keine Rolle spielten. Hat hier das Duo Honecker-Mittag vielleicht (das erste Mal) zugeschlagen? Nur so wird verständlich, warum die enge Beziehung Lauters zu Buschinski im MWT letztlich nicht tragen konnte. Belegt ist, dass Lauter sich um 1971 herum einmal wöchentlich mit ihm traf. Anschließend holte sich Wittbrodt dann »seine ›Anweisungen‹« von Lauter. Das hatte Schult dem MfS am 16. April mitgeteilt.1360 Pfau berichtete am 2. April über seine Aktivitäten hinsichtlich Karl-Heinz ­Bischoffs, ihn für die Infrarotspektroskopie zu motivieren. Den Auftrag hatte er von Offizier Büttner erhalten. Hintergrund war, dass es eine Verbindung Bischoffs mit dem Bochumer Raschke gab, der sich mit der IR-Spektrometrie befasste (siehe oben). Pfau aber hatte offene Türen nicht vorgefunden, Bischoff soll sich reserviert verhalten haben, er fürchte Konflikte mit der Geheimhaltung, namentlich mit Bliesener.1361 An diesem Tag berichtete er auch zu Reaktionen Lauters auf den Besuch seitens der DDR-Regierung im ZISTP. Lauter sehe im Mittelpunkt der Interkosmos-Arbeit wissenschaftliche Fragestellungen, Stoph hingegen wissenschaftlich-technische.1362 Das Projekt PM, eine Codebezeichnung für Infrarot-Fourierspektrometer, schien plötzlich zu kippen, da bekannt wurde, dass das Staatliche Optische Institut (GOI) in Leningrad in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl »Physik der Atmosphäre« der Leningrader Universität unter Akademiemitglied Kondratjew an der Entwicklung eines Michelson-Fourier-Interferometers arbeite, das auch für den Satelliteneinsatz gedacht war (im Wellenlängenbereich 1 bis 15 μm). Das DDR-PM dagegen war für den Bereich von 6,25 bis 25 μm ausgelegt. Dies teilte unter der VS-Signatur B 404-ZZ-35/71 der Direktor des ZISTP, Wittbrodt, Lauter am 20. April mit.1363 »Wegen der Bedeutung« des PM, die ihm durch den Ministerratsbeschluss der DDR vom 20. Januar 1971 beigemessen worden ist, müsse es nun zu einer Klärung kom1359 Information von »Dietrich« am 5.2.1971; BStU, MfS, AIM  4448/85, Teil  II, Bd. 1, Bl. 111–113, hier 111. 1360  HA XVIII/5 vom 16.4.1971: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 16.4.1971; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 234–236, hier 236. 1361  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 5.4.1971: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 2.4.197; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 163–166, hier 164 f. 1362  Vgl. HA XVIII/5 vom 8.4.1971: Bericht von »Pavel« am 2.4.1971; ebd., Bl. 168–171, hier 170 f. 1363  Vgl. Schreiben von Wittbrodt an Lauter vom 20.4.1971; ebd., Bl. 178 f. Grundlegend zum PM-Projekt (PM-1, PM-2 u. PM-V) siehe Hein-Weingarten: Institut für Kosmosforschung.

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men, nicht zuletzt deshalb, weil der finanzielle Aufwand erheblich sei. Wittbrodt artikulierte gegenüber Lauter: »1. Auf welche Weise wird durch diesen veränderten Sachverhalt der Ministerrats­ beschluss vom 20. Januar 1971 bezüglich des PM-Systems berührt und welche Konsequenzen hat das für unsere Aufgabenstellung? 2. Durch das MWT müsste geprüft werden, ob der Einsatz des PM-Systems auf Satelliten entsprechend den Vereinbarungen zwischen dem Hydrologischem Dienst der UdSSR und dem Meteorologischem Dienst der DDR weiterhin in vollem Umfange vorzusehen ist. 3. Sollte das der Fall sein, so ist nach Aussagen des Direktors des GOI gegenüber Schmelovsky eine enge Zusammenarbeit zwischen GOI und dem ZISTP wünschenswert und möglich. Die Zusammenarbeit sollte dann zweckmäßigerweise auf Regierungsebene (Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik) organisiert werden.«

Die Information zum Sachbestand erfolgte am 19. April im Zuge einer Besprechung von Vertretern des GOI und des ZISTP im ZOS.1364 Am 22. April berichtete Pfau dem MfS über die Hintergründe.1365 Am 28. April erneut, diesmal mit Blick auf die Haltung Lauters in dieser Frage. Er teilte mit, dass der ein »aktives Interesse an der Durchführung des IR-Spektrometers« habe. Auch Buschinski urteile ähnlich. Für eine Einbindung in die Programmatik des internationalen Global Atmospheric Research Program (GARP) aber bestehe »keine staatliche Berechtigung«.1366 Auf einer Sitzung bei Lauter zusammen mit Wittbrodt, Pfau, Bliesener, Erpenbeck und Buschinski am 26. April ging es u. a. auch um die Frage des PM-Systems. Hier soll Lauter »heftige Kritik« an den Fragestellern (Wittbrodt, Pfau, Schmelovsky) geübt haben mit dem Tenor, ob sie denn Zweifel hätten bezüglich des PM-Systems. Lauter soll gesagt haben: »Es gibt nichts Günstigeres, als dass die Sowjetunion ebenfalls im GOI ein solches Gerät baut. Das eröffnet uns weitere Durchsteigemöglichkeiten zu den sowjetischen Erfahrungen und auch die Möglichkeit, über eine Kooperation mit dem GOI, die unbedingt hergestellt werden« müsse, »rechtzeitig neue Entwicklungstendenzen zu erfahren.« Möglicherweise, so Lauter, sei deren Optik besser als die unsere, umgekehrt verhalte es sich in der Frage der Elektronik. Allein die Verbindung zum GOI sei eine Million Wert. In dieselbe Kerbe schlug auch Buschinski, der ausführte, dass der Bau des PM ganz und gar der Grundlinie des Meteorologischen Dienstes der DDR entspreche »in Bezug auf das GARP-Programm und die Weltorganisation für Meteorologie«. Wörtlich soll er laut Pfau gesagt haben: »Wir sind inzwischen so stark engagiert«, das heißt, »dass es für uns kein Zurück mehr« gebe. Im anschließenden Teil des Gespräches kam deutlich zum Ausdruck, dass bestimmte HHI-Mitarbeiter ganz offensichtlich wenig Engagement in der PM-Sache an den Tag gelegt hätten, dass es gar zu bewussten Verzögerungen durch Bliesener 1364  Vgl. Schreiben von Wittbrodt an Lauter vom 20.4.1971; ebd., Bl. 179. 1365  Vgl. HA XVIII/5 vom 25.5.1971: Bericht von »Pavel« vom 22.4.1971; ebd., Bl. 180–182. 1366 HA XVIII/5/3 vom 6.5.1971: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 28.4.1971; ebd., Bl. 183–185, hier 183.

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gekommen sei, der die für PM bestimmten Mitarbeiter nicht an das MWT zur Bestätigung weitergereicht hatte. Lauter hatte an einer Stelle gesagt: »Ich verlange endlich, dass das PM-System zur zentralen Leitungsaufgabe des HHI erklärt« werde. Die an PM arbeitenden Institute sollen selbst entscheiden, welche Themen für PM geopfert werden müssen. Das könne nicht immer von Oben aus erfolgen. Lauter kam auch auf die Frage der Geheimhaltung zu sprechen und vertrat die Auffassung, dass die Sowjetunion dafür sei, die Entwicklung des PM-Systems zwar geheim zu halten, nicht aber die Auswertung der Messergebnisse. Und zur Frage der Wissenschaftskonzeption (WK) sprach er sich dafür aus, »dass die alte Form der WK ›Astro und solar-terrestrische Physik‹ abgewandelt« werde »in eine Zuarbeit unsererseits in die WK ›Astro- und Geophysik‹«; und in der Wiedergabe Pfaus: »Die WK soll ein Forschungsprogramm darstellen mit Prognose.«1367 Schult berichtete am 23. April, dass sich Schmelovsky mit Kündigungsabsichten trage, er erwäge, eine Arbeit außerhalb des ZIPE aufzunehmen. Er sei »in letzter Zeit sehr verärgert«. Er trage sich ernsthaft mit dem Gedanken, sich an Weiz zu wenden. Schult listete einige ihm »bekannte Ursachen« auf. Etwa Differenzen zu Lauter in der Frage der »Weiterführung der Interkosmos-Arbeit«. Er sah Lauters »Generalmeinung« dahingehend, dass Interkosmos zweitrangig sei, allein die Tatsache mitmachen zu können und in dieser Hinsicht zum Nutznießer zu werden, um an fundamentalen wissenschaftlichen Aufgaben weiterarbeiten zu können. S­ chmelovsky dagegen liege eine aktive Mitwirkung an der Interkosmos-Arbeit am Herzen, eine enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und eine »maximale Ableitung wissenschaftlich-technischer Ergebnisse für unsere Industrie« war seine Maxime. Schult führte an, dass Schmelovskys Arbeiten von der ZK-Delegation (Stoph, Mittag, Honecker) gelobt worden seien, Lauter aber immer nur auf die hohe Bedeutung seiner Fachdisziplinen orientiert sei und diese betont habe. Auf der Beiratssitzung am 19. April sei in Neustrelitz »ein weiterer Angriff gegen Schmelovsky geführt« – bei dessen Abwesenheit – worden. Offenbar hatte es einen offenen Bruch zwischen Lauter und Schmelovsky gegeben. Lauter lasse Schmelovsky links liegen; er spreche oft mit Taubenheim, Bull, Buschinski.1368 Auch soll Buschinski Schmelovsky in Lindenberg anlässlich der Verteidigung der Wissenschaftskonzeption (WK) »scharf« angegriffen haben, weil der in wissenschaft und fortschritt, Heft 4/1971, einen Artikel zu Interkosmos veröffentlicht habe. Dies sei ohne Genehmigung vom MWT erfolgt. Schmelovsky verteidigte sich, verwies darauf, dass der Artikel mit dem Rat Inter­kosmos und mit Bestätigung durch Hilbert habe veröffentlicht werden dürfen. ­Lauter vertrat hingegen die Position Buschinskis.1369 Tatsächlich schien 1367  HA XVIII/5 vom 5.5.1971: Bericht von »Pavel« vom 28.4.1971; ebd., Bl. 186–191. 1368  HA XVIII: Bericht von »Dagmar« am 23.4.1971; BStU, MfS, AIM  11940/85, Teil  II, Bd. 1, Bl. 268–274, hier 268–270. 1369 Ebd., Bl. 271. Schmelovsky war nur Co-Autor des Beitrages: Felske, Dieter / Fischer, Hans-Joachim / Schmelovsky, Karl-Heinz: Programm »Interkosmos«, in: wissenschaft und fortschritt 21(1971)4, S. 157–160.

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Schmelovsky in dieser Zeit idealisiert zu denken, Hintergründe im politischen Raum scheinen ihm fremd gewesen zu sein. Dass die Personaleinstellungen in jüngster Zeit seit Interkosmos wesentlich länger dauerten, sah er als kontraproduktive Handlungsweise Lauters, um Interkosmos auszubremsen. Schmelovsky ahnte nicht, dass das MfS so lange brauchte, um die Personen durchleuchten zu können, um sie dann zu bestätigen oder eben nicht (früher dauerte es im Bereich des ZISTP im Maximum acht Wochen, aktuell viele Monate). So musste Schult, der offenbar diese Hintergründe als nicht von Lauter verursacht auch nicht sah oder sehen wollte, beim MfS ein deutliches Wort für das Verbleiben Schmelovskys im Institut finden: Ein Verlust von Schmelovsky, so Schult, könne das ZIPE nicht auffangen, ernsthafte Folgen für die wissenschaftliche Qualität des Hauses seien nicht zu umgehen.1370 Später, in den 1980er-Jahren, wird Schmelovsky in der Interkosmos-Frage eine Wendung vollziehen. Eine aussagekräftige Quelle bildet ein Bericht von Heinz Stiller, den er am 27. April gegeben hatte. Er ist ein eindrucksvolles Dokument auch des Einflusses des MfS auf den Wissenschaftsbetrieb. Der Bericht belegt den immensen Druck auf Stiller, nicht zuletzt im Interesse der HV  A, das Amt des Generalsekretärs anzustreben und den Kampf gegen Lauter offensiver anzugehen; hier in gekürzter Wiedergabe: Die Durchgriffsmacht des MfS »Von 1953 an hatte ich mit der Aufklärung gemeinsam mit meinem Bruder eine aktive Zusammenarbeit Westdeutschlands betreffend. Diese aktive Zusammenarbeit wurde in ihrer aktiven Form zu Beginn der 1960er-Jahre beendet. Der Kontakt zu den Genossen der Aufklärung hörte in der gesamten Zwischenzeit nicht auf. Im vorigen Jahr  – zu Beginn des Jahres  – fanden in Berlin mit Genossen der Aufklärung, mit denen ich früher schon zusammengearbeitet hatte, einige Gespräche statt, bei denen ich gebeten wurde, mich für die Arbeit im Bereich des Generalsekretärs bereitzuhalten, und zwar in der Funktion des Stellvertreters des Generalsekretärs mit einer möglichen künftigen Zielstellung, einmal selbst die Funktion des Generalsekretärs zu übernehmen. [Stiller wies explizit auf seinen Gesundheitszustand hin] Außerdem wies ich darauf hin, dass ich bei aller Beteiligung an aktiver Leitungsarbeit in hohen Funktionen selbstverständlich meinen internationalen Stand als Wissenschaftler weiter ausbauen muss und damit die Forderung einer aktiven wissenschaftlichen Weiterarbeit im Institut realisiert werden müsste […]. Die Genossen der Aufklärung baten mich, da sie diesen Kompromiss für richtig und sinnvoll hielten, Leitung und wissenschaftliche Arbeit miteinander zu kombinieren. Sie baten mich also in die Gespräche mit Vertretern der Akademieleitung optimistisch hineinzugehen und die Ausführungen zum Gesundheitszustand in einem gleichen Sinne optimistisch darzustellen. Es fanden dann zwei Gespräche statt. Einmal im Mai des vergangenen Jahres mit dem Generalsekretär und dem 1. Sekretär der Kreisleitung der SED der Akademie Genossen Klemm in Potsdam anlässlich der 100 Jahrfeier des Geodä1370  Vgl. ebd., Bericht von »Dagmar« am 23.4.1971, Bl. 272 u. 274.

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tischen Institutes und dann kurze Zeit später anlässlich einer Kreisdelegiertenkonferenz in Berlin mit Genossen Klemm und Gen[ossen] Jahn, Leiter der HA AK beim Präsidenten (Offizier der Abwehr). Im letzten Gespräch wurde ich von beiden Genossen informiert, dass der Generalsekretär sich gegen mein Einsteigen in die Leitung als Stellvertreter des Generalsekretärs intensiv gewehrt hätte und zum Schluss das Argument gebracht hätte, dass ich [Erwähnung des Gesundheitszustandes]. Ich erklärte den Gen[ossen] den Befund des Arztes, verbunden mit dem Optimismus und den Willen zur Gesundung und damit war für einen Zeitraum von einem halben Jahr, d. h. bis September 1970, die Mitarbeit im Generalsekretariat als Beauftragter, Stellvertreter des Generalsekretärs festgelegt worden, einschließlich bestimmter Maßnahmen im Institut mit der Realisierung einer aktiven Stellvertretung im Sinne eines amtierenden Direktors durch den Stellvertreter des Institutsdirektors. Ich selbst wurde von diesem Zeitraum ab sofort von meiner Tätigkeit als Institutsdirektor beurlaubt. Im September 1970 fanden dann noch einmal mehrere Gespräche mit dem Generalsekretär und den genannten Genossen und dann ein Kadergespräch statt, wobei meine Tätigkeitszeit auf zwei Jahre, d. h. bis September 1972 erweitert wurde und die Beurlaubung von der Funktion des Institutsdirektors auf diesen Zeitraum ausgedehnt wurde. Gleichzeitig wurde durch den Generalsekretär festgelegt, dass ein Ausscheren aus dem Institut erfolgen muss […]. Die Zusammenarbeit mit dem Generalsekretär war von Anfang an schlecht. Es entwickelte sich kein Kollektiv. Der Generalsekretär bemühte sich, alle Informationen wichtiger Art bei sich zu behalten und setzte mich ausschließlich im Sinne eines Büroleiters bzw. eines persönlichen Sekretärs ein. […] Die Situation änderte sich ein ganz klein wenig im positiven Sinne als zum Spätherbst unter Termindruck die RGW- und SU-Arbeit im Sinne von Abschlüssen von 5-Jahresverträgen kurzfristig auf mich übertragen wurde, ohne jede Vorbereitung, eine Arbeit, die ich bis Ende des vergangenen Jahres im Grundprinzip mit allen RGW-Staaten und insbesondere mit der SU vorbereitet bzw. abgeschlossen hatte. Für 1971 blieb ausschließlich noch der nominelle Abschluss des Vertrages offen nebst einigen Verhandlungen über die Vertragsformen, nachdem die inhaltlichen Dinge weitgehend vorgeklärt worden waren. Zu Beginn des Jahres 1971 war die sich anbahnende Arbeitsteilung durch den Generalsekretär wieder unterbrochen worden, die Atmosphäre wurde hektischer denn je. Er bekam die Information darüber, dass die Absicht bestünde, mich in der nächsten Wahl­periode Mitte 1972 zum Generalsekretär zur Wahl vorzuschlagen und die Arbeitsweise wurde fast unerträglich, hektisch, unkollegial. […]. Während der gesamten Periode meiner Arbeit in Berlin stellten sich folgende Grundmängel heraus: (a)  Die Zusammenarbeit mit dem Gen[ossen] Klemm und Gen[ossen] Jahn blieb auf ein Minimum beschränkt. Ich erhielt weder vom Generalsekretär noch von diesen Genossen eine ausreichende Information über die beabsichtigte Linie der internationalen Politik in der Wechselwirkung zu der nationalen Forschungspolitik. (b) In den Instituten hat sich in den vergangenen Jahren klar die Meinung durchgesetzt, dass sich Leitungskader der Institute an zentraler Leitungsarbeit beteiligen müssen. In der Leitung der Akademie dagegen besteht seit dem Politbürobeschluss über die Durchführung der Akademiereform eine Unklarheit in breiten Kreisen, insbesondere des Apparates über die Beteiligung leitender Wissenschaftler der Akademieleitung an der unmittelbaren Forschungsarbeit in den Instituten. Diese Beteiligung wird nur theoretisch als notwendig angesehen. In der konkreten Durchführung ergaben sich in meinem Fall erhebliche Schwierigkeiten, weil die konkrete Arbeit in meinem Institut als persönliches Hobby angesehen wurde, als eine nicht notwendige Angelegenheit, die die Präsenz in

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der Leitung und die Arbeit in der Leitung beeinträchtigt. In mündlichen Ausführungen wurde mehrfach immer wieder darauf hingewiesen, eine solche Mitarbeit in den Instituten wäre wichtig, in der Praxis ergab sich im Rahmen des Zeitbudgets nur eine minimale, eine zu geringe Möglichkeit, um auf dem Forschungsgebiet aktiv zu bleiben. Die Formulierung, zu bleiben, ließ sich selbst nicht einmal realisieren, weil in den wenigen Stunden, die für das Institut zur Verfügung standen, nicht rein wissenschaftliche Fragen, sondern im Rahmen der Konsolidierung des Institutes viele wissenschaftsorganisatorische Fragen eine Rolle mitspielten. In dieser Hinsicht ist der hauptamtliche Status eines Leiters in der Akademieleitung in ungenügender Form kombinierbar mit konkreter wissenschaftlicher Arbeit im Institut, was die Praxis bewiesen hat, sodass im Endeffekt bei Durchführung einer solchen Tätigkeit das internationale Absinken des Leistungsniveaus des betreffenden Leitungsmitgliedes unbedingt die logische Folge ist. (c) In der Akademieleitung ist eine krankhaft große Neigung zum Konzeptionalismus entstanden, nicht im Sinne einer soliden, fachlich inhaltlichen Grundkonzeption für die Arbeit bestimmter Forschungsrichtungen und Forschungszweige, sondern mehr in dem Sinne, sich mit Papier beschäftigen und Papier zu produzieren. Beschriebenes Papier ist das Endprodukt der bisherigen Leitungsarbeit und Berichte aller Art an übergeordnete Organe werden mit einem Zeitaufwand bearbeitet, Sitzungen werden mit einem Zeitumfang durchgeführt, sodass betriebener Aufwand zum erzielten Effekt außerordentlich gering ist. Dieser Stil hat Auswirkungen auch auf die Leitungsarbeit in den Instituten, wo die Effektivität der Leitungsarbeit ebenfalls nachgelassen hat. In diesem Zusammenhang muss gesagt werden, dass ein solcher Leitungsstil, praktiziert auf den verschiedenen Leitungsebenen bis in das Institut oder die Institute hinein, zu einer Verringerung der Effektivität der Forschungsarbeit im Mittel geführt hat. […] Ich hatte in letzter Zeit diese geringe Effektivität, besonders der Leitungsarbeit in der Akademieleitung in persönlichen Gesprächen und auch in einer Gewerkschaftsversammlung des Präsidentenbereiches wiederholt angegriffen und meine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck gebracht. Die Aktionen, die der Generalsekretär gegen mich startete im Rahmen des sehr unbefriedigenden oben beschriebenen Arbeitsverhältnisses, wurden nun durch diese Aktionen aus den verschiedenen Bereichen, besonders des wissenschaftlichen Sekretariats und der Leitung beantwortet, Aktionen, über die ich von den Genossen der Aufklärung mehrfach allgemein informiert wurde. Statt einer Entfunktionalisierung hatte man mir weitere Funktionen neben dem Stellvertreter des Generalsekretärs übertragen […] Die Ablösung von den alten Funktionen in Jena beispielsweise, die schon seit einem Jahr beantragt war, durch mich beantragt war beim Präsidenten, auch diese Ablösung war nicht erfolgt, sodass in der Gesamtbilanz die Zahl der Funktionen bei einem nicht wesentlich gebesserten Gesundheitszustand sich ständig erhöht hat. In dieser Situation wurde ich […] durch Gen[ossen] Jahn informiert, dass die Absicht besteht, mich zusätzlich noch als Mitglied in die Kreisleitung aufzunehmen, um mich, wie er sich ausdrückte, zu stabilisieren. […] Die Diskussion mit Gen[ossen] Jahn war fast nutzlos, da er auf die oben geschilderten Grundprobleme, der Wechselbeziehung zwischen Forschungs- und Leitungsarbeit bei leitenden Wissenschaftlern nicht einzugehen bereit war, sie im Prinzip auch nur verbal akzeptierte und auch das Wechselverhältnis zwischen Generalsekretär und Stellvertreter in seiner Bedeutung, wenn es negativ ist, falsch einschätzte. […] Das mir inzwischen vorliegende Attest kritisiert die bestehende Überlastungssituation sehr scharf und im Attest werden umgehende Maßnahmen zur Beseitigung dieses unmöglichen Arbeitszustandes gefordert. […] Für den 14. April meldete sich Gen[osse]

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Klemm bei mir […] an und wurde ohne Voranmeldung vom Gen[ossen] Jahn begleitet. Das Gespräch nahm folgenden Verlauf: Ich wurde vom Gen[ossen] Klemm um eine ausführliche Einschätzung [gebeten]. Ich entwickelte ausführlich das Verhältnis zwischen dem jetzigen Generalsekretär und mir, das in seiner negativen Form bereits im Jahre 1959 begann und durch zehnjährige ständige Eingriffe durch den jetzigen Generalsekretär in meine wissenschaftliche Laufbahn, in meiner Entwicklung gekennzeichnet war. Ich hatte die Genossen von der Aufklärung, die über diese Problematik informiert waren, noch einmal besonders bei der Orientierung auf die Stellvertretung des Generalsekretärs durch mich hingewiesen und sie hatten selbstverständlich diese Situation des hohen Risikofaktors für die Entwicklung erkannt, waren jedoch der Auf‌fassung, sich durch ihr Eingreifen, das Eingreifen des Gen[ossen] Jahn, dass sich die Arbeitsbedingungen jederzeit so gestalten lassen, dass eine gesunde Ausgewogenheit zwischen Institutsarbeit und Leitungsarbeit erreicht werden könne. Gen[osse] Klemm war der Auf‌fassung, dass er erstmalig die besonderen negativen Charaktereigenschaften des Generalsekretärs, die auch ihm bekannt geworden seien, in der klaren Form zu­sammenhängend über einen langen Zeitraum dargestellt bekommen hätte. Ich hatte dabei auch darauf hingewiesen, dass ich mehrfach leitende Genossen der Akademie wie beispielsweise auch den Genossen Jahn vor Berufungen des jetzigen Generalsekretärs in höhere Funktionen im Zuge seiner Zugehörigkeit zur Akademie gewarnt hatte, dass aber diese Warnungen nichts genutzt hätten […] Ich [bin] nicht in der Lage, aus der Position eines Stellvertreters heraus die Arbeit im Generalsekretariat so zu beeinflussen, dass ich den Generalsekretär im Wesentlichen allein umerziehen kann, da offenbar seine Charakteranlagen auch durch andere gesellschaftliche Organe nicht wesentlich beeinflusst werden könnten. […] Ich teilte ihnen sinngemäß mit, […] dass ich bezüglich des vorgesehenen Einsatzes als Generalsekretär im nächsten Jahr deshalb jetzt bereits Bedenken anmelden muss und dass ich auch nicht glaube, dass [durch] die Übernahme einer weiteren Funktion in der Kreisleitung die Verhältnisse in der Akademieleitung viel besser würden. Gen[osse] Jahn machte zu meinen Ausführungen eine Reihe, meiner Meinung nach unmögliche kritische Bemerkungen, die sich folgendermaßen formulieren lassen: a) Ich hätte sie bei dem Gespräch anlässlich der Aufnahme meiner Tätigkeit als Stellvertreter des Generalsekretärs bewusst fehlinformiert. b) Meine Aktivitäten gegen Lauter und in der Akademieleitung seien durch die Leitungsumwelt nicht genügend erkennbar; ich würde mich gegen Lauter nicht genügend zur Wehr setzen und müsste in dieser Hinsicht wesentlich aktiver werden. […] c) Die Formulierung ›der Stiller wurde immer stiller und der Lauter immer lauter‹ sei typisch für die Entwicklung, wobei der Generalsekretär durchaus durch den Stellvertreter zu überwinden gewesen wäre, was die Werbung für die Leistung des Stellvertreters anbelange, die ich im Sinne einer Eigendarstellung im Leitungsbereich zu wenig wahrgenommen hätte. […] d) […] würde ich einen unmöglichen gesellschaftlichen Ruf bekommen, weil man mich dann auch nicht mehr schützen könne und darüber hinaus könne man beinahe annehmen, dass während der Verhandlungen im März in Moskau, wo Lauter und ich gemeinsam waren, dass ein Komplott zwischen Lauter und mir bestünde, mit dem Ziel meiner Abberufung aus der Akademieleitung. Die Situation wurde seinerseits, von Jahns Seite, so eingeschätzt, dass ich mir über die Ehre, die mir mit der Berufung erfahren würde, doch nicht genügend im Klaren sei. Sollte ich jedoch auf dem Ausscheiden aus dem Generalsekretariatsbereich bestehen und aus dem Leitungsbereich,

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dann müssen wir natürlich ernsthaft über den weiteren Einsatz beraten und nachdenken. Die Funktion eines jetzt noch innehabenden Institutsdirektors wurde dabei überhaupt als andere Variante nicht mehr diskutiert oder in Erwägung gezogen, d. h. also die Wiederherstellung der Ausgangsverhältnisse. Gen[osse] Klemm wies darauf hin, dass ein solcher Fall bereits einmal mit einem Leitungskader durchgespielt worden sei, hier seien alle Konsequenzen mit aller Gründlichkeit und Härte durchgezogen worden und diesem Leitungskader täte seine damalige Entscheidung jetzt bereits leid. Gen[osse] Klemm schätzte dann zusammenfassend ein, dass [der Gesundheitszustand] sich eindeutig und klar seiner Meinung nach auf nichtbewältigte ideologische Probleme in mir zurückführen lassen. Er führte aus, dass man sich prinzipiell für die Leitung der Akademie entscheiden müsse. Es kämen immer dann Konflikte, wenn man sich einen, wie er ausführte, sicheren Rückzugsplatz, beispielsweise als Institutsdirektor halten wolle. Es kam klar zum Ausdruck, dass die Problematik des Wechselspiels in der Praxis zwischen Leitungsarbeit in Berlin und wissenschaftlicher Arbeit im Institut nicht sowohl von Klemm als auch von Jahn bisher verstanden worden sind. Sie stellten mir das Ultimatum, dass ich mich binnen einer Woche für den Weg nach Berlin oder nach unten entscheiden müsse. Gen[osse] Klemm führte dabei aus, dass man gegen ein Fithalten im Institut auf wissenschaftlicher Ebene selbstverständlich nichts einzuwenden hätte, hier sogar Interesse hätte, dass das Fithalten einmal an einem Modell beispielsweise bei mir erprobt werden würde. […] Aus einigen Bemerkungen, insbesondere von Jahn, ging klar hervor, dass er keinerlei Vorstellungen darüber hat, wie ein Wissenschaftler bei dem ungeheuer schnellen Entwicklungstempo der Wissenschaft im Zeitalter der technischen Revolution arbeiten muss, um fit zu bleiben und wie er arbeiten muss, um über das Fitbleiben hinaus aktive Höchstleistungen zu erzielen; denn nur mit solchen Höchstleistungen kann man eine internationale Position ausbauen. Mit einem einfachen Fitbleiben, d. h. den Wissensstand im Wesentlichen zu verfolgen, kann man international nichts, aber auch gar nichts gewinnen. Mein Hinweis auf den Zeitfonds – in der Leitung im Verhältnis zur Effektivität zu groß, im Institut im Verhältnis zu realen abrechenbaren Leistungen zu klein – wurde von Klemm beantwortet, dass die Effektivität in der Leitung seiner Meinung nach sicherlich größer werden kann. Von Jahn wurde glattweg abgestritten, dass der Zeitfonds, den ich für die Arbeit im Institut aufwenden könne, im vergangenen Jahr zu klein gewesen sei. Dass die Realität so ist, ist aus der Entwicklung der Institutsarbeit eindeutig ableitbar, wurde jedoch von Jahn klar negiert. Meiner Meinung nach schafft der beabsichtigte Stabilisierungseffekt durch Zuwahl in die Kreisleitung damit nur einen neuen Zuwachs zur schon bestehenden Konfliktsituation. Der Generalsekretär bleibt bis Mitte nächsten Jahres Generalsekretär und ich bin in der Funktion des Stellvertreters, wie jeder Stellvertreter, eindeutig von ihm abhängig. Er ist ordentliches Akademiemitglied und Mitglied des Forschungsrates. Ich bin kein Akademiemitglied und nicht Mitglied des Forschungsrates. Er bleibt auch in der neuen Wahlperiode Mitglied des Sekretariats, der Kreisleitung der SED der Akademieleitung. Ich selbst bin während dieser Zeit, zumindest bis zum nächsten Jahr dann nur Kreisleitungsmitglied. Nach der wissenschaftlichen Ebene bleibt der Generalsekretär Verbindungsmann zum Ministerium für Wissenschaft und Technik auch in wissenschaftlichen Fragestellungen der Vertragsgestaltung wie bisher und schafft damit, wie es sich bereits in den letzten Tagen gezeigt hat, immer wieder neue Konfliktsituationen für das Institut bei der Abbindung der Forschungsverträge mit dem Ministerium für Wissenschaft und Technik,

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Konfliktsituationen, die dann letztlich immer wieder auch wissenschaftlich auf meinem Schreibtisch landen. Damit ist die Situation so, dass auf allen Ebenen der Leitung der Forschungsleitung, der politischen Leitung und der wissenschaftlichen Vertragsgestaltung der Generalsekretär mein unmittelbarer Vorgesetzter ist und direkte Eingriffs- und Angriffsmöglichkeiten auf mich hat. Ich darf meine Einschätzung zu dem hier sehr ausführlich zitierten Gespräch noch einmal zusammenfassen: […] Sollten die oben angeführten Fragen der Zukunft des Wissenschaftlers nicht in einer geplanten und planbaren Form bewältigt werden, so können wir sagen, dass die in die Akademieleitung einbezogene jetzige Elite an jungen wissenschaftlichen Leitern in wenigen Jahren ruiniert ist, denn ein Überwiegen der Leitungsarbeit für einen bestimmten Jahreszyklus bedeutet immer erhöhte Anstrengungen an den darauf‌folgenden Jahreszyklus, um Anschluss zu gewinnen. Ist das nicht gesichert, so sind diese Leiter als Wissenschaftler dadurch ruiniert, dass sie auf neuen Gebieten völlig neu beginnen müssen, bzw. auf ihren alten Gebieten in einem Stadium beginnen müssen, der einem Neuanfang gleichkommt. Wie die Gesamtproblematik des Konfliktes zwischen Leitung und aktiver wissenschaftlicher Arbeit scheint auch schon bis in die Bereichs- und Abteilungsleiterebene der Zentralinstitute vorgedrungen zu sein. Generell ist es so, dass unsere wenigen befähigten und ideologisch befähigten Leiter auf diesen Ebenen zu viel Zeit für allgemeine Leitungsarbeit und Berichtswesen aufwenden müssen. Sie müssen zu viel Zeit für Arbeit außerhalb des Institutes aufwenden und haben zu wenig Zeit, sich mit der Formierung von schlagkräftigen Kollektiven nach den neuen Gesichtspunkten großer Forschungspotenziale zu richten. […] Ein formales Organisieren von Höchst­ leistungen, von Leitern, die nicht mit ihrem Kollektiv arbeiten können, scheint nach den internationalen Erfahrungen nicht möglich zu sein. Insgesamt zeigt sich, dass durch diese Verschiebung das Gleichgewicht bzw. der Relationen zwischen Forschung und Leitung vielleicht sogar besser gesagt administrativen Komponenten der Leitung nicht notwendig administrativen Komponenten der Leitung, dass sich diese Verschiebung doch bereits jetzt bemerkbar macht, denn im Zuge der letzten zwei Jahre Akademiereform ist im Mittel der Forschungseffekt doch geringer geworden. Es wird ein wesentliches Problem der Bewältigung der Leitung großer Potenziale sein, die wissenschaftliche Leitung dieser Potenziale in den Vordergrund zu rücken, die wissenschaftliche Leitung dieser Potenziale zu beherrschen, wobei keinesfalls die Bedeutung administrativer Elemente negiert werden soll. Zum Schluss sei folgende Bemerkung zu machen. Gen[osse] Klemm hat sein Gespräch offensichtlich mit ZK-Mitglied Professor Dr. Rompe ausgewertet, und zwar das Gespräch hier bei mir in Potsdam. Daraufhin hat mich Professor Rompe in seiner Eigenschaft als ZK-Mitglied und Erfahrungsträger auf dem Gebiet der Generalsekretariatsarbeit angerufen und für Dienstag, d. 20. April, also für einen Tag vor Ablauf des Ultimatums in Potsdam eine Rücksprache vereinbart, wobei er mir zu verstehen gab, dass sein Gespräch mit mir eine Fortsetzung des mit Klemm und Jahn unbefriedigend abgeschlossenen Gespräches sein wird. In diesem Gespräch kommt es ihm ganz besonders darauf an, echte praktische Lösungen im Sinne der Beherrschung des oben mehrfach angeführten Konfliktes zu finden. […]1371 1371  BV Potsdam vom 27.4.1971: Bericht von »Martin«; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 108–118; BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 4.5.1971: Vermerk zum Bericht; ebd., Bl. 107.

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Der Bericht verweist überdies auf seine Aktivitäten mit seinem Bruder Gerhard Stiller Anfang der 1950er-Jahre für die HV  A. Hierzu existiert ein nachrichtendienstliches, nicht aber wissenschaftspolitisch relevantes Schreiben von Markus Wolf vom 1. November 1966.1372 Schult hatte vom MfS am 18. Mai die Aufgabe erhalten zu registrieren, wer alles »zu Lauter gerufen« werde.1373 Die Aufgabe erfüllte er. Am 4. Juni berichtete er, dass die Sowjetunion unzufrieden sei mit der IK-Arbeit. Sie entspreche »nicht den Bedürfnissen einer Zusammenarbeit«. Das habe Boris N. Petrow, Vorsitzender des Rates »Interkosmos« bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, in Varna (siehe unten) geäußert, die Information stamme von Wittbrodt, der von Lauter in Kenntnis gesetzt worden sei. Die Unzufriedenheit beruhte demnach vor allem auf der »Nichteinhaltung der Termine und in der Nichteinhaltung der geforderten Qualität«. Lediglich die DDR habe ihre Verpflichtungen eingehalten. Petrow habe geäußert, dass die Zusammenarbeit mit Frankreich wesentlich umfangreicher sei. Insgesamt sei die Auswertearbeit im Rahmen der IK-Arbeit mangelhaft.1374 Es existiert eine undatierte Quelle im Nachlass Lauters, die sich auf diese Thematik direkt bezieht. Seine Notizen zeigen ein von der heterogenen Beteiligungsstruktur der sozialistischen Länder geprägtes Bild. Demnach bestand für die neue Satellitengeneration ab 1974 noch kein Programm. Die Sowjetunion sei geradezu gezwungen, andere Länder am Interkosmos-Programm zu beteiligen. Sie habe eingeschätzt, »dass außer der DDR kein nennenswerter wissenschaftlich-technischer Beitrag erfolgt« sei. Die gewichtete Verteilung notierte Lauter wie folgt, bezüglich der kosmischen Meteorologie (KOSMETO): Sowjetunion und DDR (experimentell und theoretisch), dann Polen (analytisch), Ungarn, Bulgarien, Rumänien, ČSSR und Mongolei. Bezüglich der kosmischen Physik (KOSPHYS): Sowjetunion, DDR, ČSSR, Polen, Bulgarien und Ungarn. Bezüglich der kosmischen Technik (­KOSNATECH): Sowjetunion, Ungarn. Bezüglich der kosmischen Biomedizin (­KOSBIOMED): Sowjetunion, Ungarn. Zum gemeinsamen KOSMOS-Satelliten-Experiment der Sowjetunion mit Frankreich seien die sozialistischen Länder aufgefordert worden, sich mit einem Bodenprogramm zu beteiligen. Lauter kommentierte diesen Hinweis mit einem Ausrufezeichen und notierte als Schlussfolgerung, dass die DDR offensichtlich wissenschaftlich und technisch Hauptpartner der Sowjetunion sei.1375

1372  Vgl. Generalleutnant Wolf an den Leiter der Abt. V, Oberst Weiberg: Stiller, Gerhard; BStU, MfS, AP 8993/82, Bd. 31, Bl. 86 f. 1373  HA XVIII/5 vom 19.5.1971: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 18.5.1971; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 277 f., hier 278. 1374 HA XVIII/5 vom 8.6.1971: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 4.6.1971; ebd., Bl. 283–286. 1375 Lauter: Tagebuchprotokoll von einer IK-Tagung, Bilanzen und Programme (o. D.); ­A rchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 843, S. 1–4.

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Die Interkosmos-Tagungen fanden jährlich statt. 1971 fand sie vom 6. bis 12. Juni in Prag statt. Lauter legte einen Gesamttätigkeitsbericht vor.1376 Zu dieser Tagung berichtete umfänglich Hans Pfau am 16. Juni, speziell über das Auftreten Lauters. Der Bericht ist denunziatorisch.1377 Büttner aber wollte Fakten, sodass Pfau noch einmal am 25. August speziell über das Verhalten Lauters berichten musste. Ein Großteil dieser Darlegung betraf die wissenschaftlichen Interessen Lauters.1378 Auch Ruben gab dem MfS zu Lauter am 9. Juni einen Bericht, der sich mit der Verteidigung der Forschungsergebnisse der Institute der DAW vor Vertretern des Ministerrats beschäftigte. Er war bei der Verteidigung, die auf dem Telegrafenberg stattfand, anwesend und im Besitz des Protokolls. Er verglich die Wiedergabe Lauters mit dem schriftlich fixierten Beschluss und stellte fest, dass Herauslassungen derart erfolgten, dass die Ergebnisse des HHI in den Mittelpunkt gerückt schienen. Anders als früher soll Lauter sich nun sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die auftragsgebundene Forschung ausgesprochen haben, verankert in der 3. Wissenschaftskonzeption (WK). Schwache Wissenschaftler wolle man sukzessive ausschließen, die Umsetzung von Wissenschaftlern sollte effektiver gestaltet werden können. Die DAW arbeite an einer entsprechenden Konzeption. Lauter befinde sich insgesamt »in einer kritischen Situation«, »da er teilweise gegen seinen Willen die Weisungen des Ministerrates in den Instituten durchzusetzen« habe.1379 Ruben war ein guter Beobachter, einer der sich auf Verstellungen und Masken verstand. Neben der IK-Tagung in Prag fanden zeitnah zwei weitere wichtige Tagungen statt. Am 10. Juni berichtete Böhme u. a. über seine Teilnahme an der Tagung »Kosmische Meteorologie« in Varna. Schwerpunkte aus Sicht der DDR bildeten das PM-System und WES  21380. Das Koordinierungskomitee (KoKo) tagte acht Tage vorher, ebenfalls in Varna. »Insgesamt«, so Böhme, »wurde der Umfang der Beteiligung der DDR am Interkosmos-Programm als unzureichend eingeschätzt«, die sowjetischen Vertreter hätten die zu geringen wissenschaftlichen Kapazitäten bemängelt.1381 Anatoli P.  Alexandrow vertrat die Sowjetunion, er war einer der profiliertesten Fachwissenschaftler. Er war bereits Leiter der sowjetischen Delegation zur Sitzung der Arbeitsgruppe »Kosmische Meteorologie« in Potsdam Ende 1967.1382 1376  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 22.6.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 160 f. 1377 Vgl. HA XVIII/5 vom 19.8.1971: Bericht von »Pavel« am 16.6.1971; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 201–205. 1378  Vgl. HA XVIII/5 vom 4.9.1971: Bericht von »Pavel« am 25.8.1971; ebd., Bl. 206–209. 1379  BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Astronom« am 9.6.1971; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 55. 1380  Zu WES 2: Wetterbild-Empfangssystem. Empfang und Aufzeichnung von Wolkenfotos und Wetterprofilen, die von Wettersatelliten gesendet wurden. Grundbausteine der Anlage: eine Zweikanal-Empfangsanlage ZEA 1, ein Bildaufzeichnungsgerät BAG 1 und ein Tonbandgerät. 1381  HA XVIII/5/3 vom 11.6.1971: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 10.6.1971; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 65–68, hier 65 f. 1382  Vgl. MD, Böhme, vom 30.5.1968: Vorläufige Information zur Teilnahme an der 11. COSPAR-Konferenz in Tokio im Mai 1968; ebd., Bd. 1, Bl. 163–167, hier 166.

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Da Böhme nicht an der Tagung des KoKo teilgenommen hatte, suchte er Buschinski auf. Das MfS hatte ihn hierzu beauftragt. Das Gespräch fand am 7. Juli statt. Es ist hinsichtlich des Verstehens des Untersuchungsgegenstandes ein Schlüssel­ dokument. Buschinski hatte Lauter hinzugenommen. Laut Böhme habe Buschinski »als entscheidende Tendenz« eingeschätzt, »dass in Varna vonseiten der UdSSR aktive Bemühungen zu verspüren« seien, »die Vertraulichkeitsbestimmungen im Rahmen Interkosmos zu lockern«. Dies hätten mehrere Delegaten der Sowjetunion gesagt resp. angedeutet. Als Begründung diene den Sowjets die sich vertiefende Zusammenarbeit mit westlichen Ländern und Indien, in die die Interkosmos-Arbeit einfließen könne. Bei dieser Integration spiele »der Zeitfaktor dabei eine wesentliche Rolle«, der VS-Charakter werde »als Hemmschuh« angesehen. »Die Ergebnisse« müssten »schneller ›offen‹ ausgewertet werden können, um die nötige Präsenz zu erzielen.« Böhme will sich Buschinski gegenüber »ungläubig« gezeigt haben, sodass der gezwungen war, einige Beispiele anzuführen«, die zeigten, dass die Sowjetunion »eine Reihe wissenschaftlicher Probleme« tatsächlich offen gestalten wolle und dies bereits tue, etwa hinsichtlich des ARKAD-1-Satelliten. Hier arbeite sie eng mit Frankreich zusammen. Auch der »Aufbau eines weltweiten Raketenmessnetzes im Rahmen der wissenschaftlichen Messungen Nordpol-Südpol« bezeuge die Offenheit der Sowjetunion, da sie etwa einhundert Raketen des Typs M 100 an Indien liefere. Laut Buschinski möge sich die DDR »an komplexen Experimenten […] beteiligen und eigene messbare Beiträge« für Interkosmos liefern. Man erwarte von ihr eigene Ideen. »Vonseiten der UdSSR wurde Professor Lauter konkret angesprochen, ob die Möglichkeit einer verstärkten Mitarbeit der DDR im Rahmen der kosmischen Biologie [und] Medizin besteht. Der habe diese Anfrage abgelehnt und betont, dass die DDR sich in der jetzigen Situation nur an dem bereits im Rahmen der kosmischen Biologie laufenden Thema beteiligen kann. Diese ›notwendige‹ Ablehnung soll der DDR-Delegation ›unangenehm‹ gewesen sein.«1383 In der Arbeitsgruppe VI habe Alexandrow einen Text verlesen, der das Vorhaben der Sowjetunion, nach 1973 einen mit Infrarotspektrometern ausgerüsteten Experimentalsatelliten zu starten, woran sich DDR-Wissenschaftler beteiligen solle, beinhaltete. Böhmes Gesprächspartner habe daraufhin Alexandrow angesprochen und geäußert, dass eine Bekanntgabe eines Starts seitens der Sowjetunion völlig ungewöhnlich sei, zumal das Thema VVS sei. Alexandrow soll geantwortet haben, dass das in Varna mit der DDR-Seite so abgesprochen worden sei. Lauter habe dies bestätigt.1384 Wie aber interpretierte der »MfS-Raumfahrt-Experte«, Offizier Dieter Knaut die Situation? Zitat: »Die Einschätzung der Ereignisse im Rahmen der Besprechungen des Koordinierungs-Komitees in Varna vonseiten W. Buschinskis gegenüber dem IM ›Hans‹ zeigt eine klare Verkennung der Haltung der UdSSR. Aus den Äuße1383  HA XVIII/5/3 vom 8.7.1971: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 6. u. 7.1971; ebd., Bd. 2, Bl. 69–76, hier 69–72. 1384  Vgl. ebd., Bl. 72 f.

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rungen ist eindeutig zu entnehmen, dass eine Tendenz entwickelt werden soll, die Geheimhaltungsgrade im Rahmen Interkosmos zu lockern. Dabei wird die Haltung der SU ins Gegenteil umgemünzt und vor die unterschwellige Politik der Personen um Lauter gespannt.« Von der Wissenschaftslogik des Fachs konnte Knaut nicht ausgehen, er war MfS-Offizier, einer, der in der sicherheitspolitischen Logik dachte. Knaut weiter: »Dem W. Buschinski muss unter dieser Sicht ein politisches Einschätzungsvermögen völlig aberkannt werden, da ja offensichtlich die SU klar auf Verstärkung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit im Rahmen IK orientierte, um die Ergebnisse sicher [nicht lesbar] im Interesse der IK-Partner und natürlich besonders der SU, als Ausdruck der Stärke vor den kapitalistischen Raumfahrtnationen zum Ausdruck zu bringen.«1385 Zu dem zu entwickelnden Infrarotsatelliten war mithin der Umstand eingetreten, so Knaut, dass man nun in der Welt wisse, dass die DDR bis 1973 ein Infrarot-Spektrometer entwickeln werde. Dies sei Lauter zu verdanken. Diese Aktivität werde nun bereits vom Westen mit Interesse verfolgt (Raschke habe auf der letzten ­COSPAR-Tagung bereits nachgefragt). Die inoffiziellen Mitarbeiter sollten sofort entsprechend instruiert werden, da mit weiteren neugierigen Fragen hinsichtlich des PM-System zu rechnen sei; Desinformation war gefragt: »Bisher wurde nur von einer indirekten Sondierungsmethode gesprochen. Für die Uneingeweihten war nicht klar, ob auf Infrarotbasis oder auf Mikrowellenbasis.« Knaut weiter: »An der Art und Weise des Ablaufs zur COSPAR-Tagung« könne geschlussfolgert werden, »dass Lauter bewusst die Anregung« für die Sowjetunion gegeben habe, »um auch diese Gelegenheit zu benutzen, um auf die ›Offenheit‹ der IK-Arbeit hinzuweisen. Damit« wolle »er sich u. a. ein weiteres Argument sichern für eine angeblich ›abgestimmte‹ Linie zur Behandlung der IK-Ergebnisse. Böhme wurde nahegelegt, die festgelegten Geheimhaltungsgrade zum PM-System strikt einzuhalten« und »keinerlei Tendenzen der Minderung zuzulassen.«1386 Vom 5. bis 10. Juli fand in Kopenhagen die VI. Internationale Konferenz über Gravitation und Relativitätstheorie statt. Ruben berichtete, dass Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung ausgetauscht worden seien, die »sehr interessant und für die weitere wissenschaftliche Forschung« nützlich sind. Die Polen seien weiter als die DDR-Wissenschaftler, da sie bessere Reisemöglichkeiten in den Westen hätten. Dadurch erscheine das Niveau der DDR »blasser«.1387 An der Tagung hätten fünf DDR-Wissenschaftler teilgenommen, u. a. Ernst Schmutzer1388 und Georg 1385  Ebd., Bl. 74 f. 1386  Ebd., Bl. 75 f. 1387 BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Astronom« am 27. u. 31.8.1971; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 87–95, hier 87. 1388  (1930). Kosmologe. 1949–1953 Physikstudium an der WPU Rostock, 1955 Promotion, 1958 Habilitation. Ab 1957 an der FSU Jena, 1960 Professor für Theoretische Physik, 1990–1993 Rektor. Mitglied der Leopoldina. Das MfS hatte die Absicht, ihn zu gewinnen. Nach Einschätzung der Aktenlage (AIM 9012/91) durch den Verf. war er eindeutig kein IM. Der Verfasser hat dieses »Akten-Einsichtsurteil« über ein umfassendes Gespräch mit Professor Schmutzer am 6.3.2019 in Jena verifizieren können.

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­Dautcourt.1389 Die USA stellten die bei Weitem größte Delegation mit 77 Teilnehmern, gefolgt von Großbritannien mit 22. Die Sowjetunion reiste mit elf Personen an. Schmutzer hatte gegen die Bezeichnung East-Germany protestiert. Der Protest wurde akzeptiert, die DDR-Flagge daraufhin präsentiert. Auf der Sitzung kam es zum Eklat in der Israel-Frage. Ein amerikanischer Wissenschaftler habe verlangt, dass man »die Nichteinreiseerlaubnis der israelischen Delegation 1968 nach Tiblissi nachträglich verurteilen sollte«. Der sowjetische Delegationsführer hatte daher den Vorsitzenden des Komitees, den Schweizer Mercier, aufgefordert, dagegen vorzu­gehen. Da Mercier diesem Ansinnen nicht folgte, »verließ die sowjetische Delegation geschlossen den Saal«. Die Wissenschaftler der anderen sozialistischen Staaten folgten.1390 Auf einer Besprechung im kleinen Kreis vor der Parteiversammlung am 13. September im ZISTP (HHI) im Gebäude L 4 (des zukünftigen Instituts für Elektronik), bestehend aus zwei IM, Gladitz und Pfau, sowie dem Parteisekretär Zimmermann, war man übereingekommen, »dass die nicht bestätigten Kader sukzessive aus dem Institut entfernt werden müssen«. Die beiden IM »verlangten vom Parteisekretär, dass er diese Meinung beim Direktor« vertrete. Auf der dann stattfindenden Parteiversammlung gab der Parteisekretär bekannt, dass 34 Personen für die Interkosmos-Zusammenarbeit nicht »bestätigt« worden seien. Drei von ihnen, die als Leistungsträger galten, arbeiteten jedoch bereits für Interkosmos. Das musste storniert werden, worauf sich die drei betroffenen Mitarbeiter »ziemlich bedrückt« gezeigt hätten. Auf die Frage, ob noch weitere Mitarbeiter herausfallen könnten, antwortete der Parteisekretär zustimmend. Der Direktor des ZISTP, Wittbrodt, verpflichtete daraufhin die Versammelten, zu schweigen, damit nicht Unruhe aufkomme. Tatsächlich waren einige erbost, beispielsweise Schmelovsky, der »äußerst erregt« gewesen sein soll: Man könne »solche außerordentlich guten Leute« nicht einfach hinausdrängen. Darauf schlug einer die Schaffung einer Applikationsgruppe vor, um sie gewissermaßen fachlich absaugen zu können. Dies stieß auf Einspruch von Pfau, der seinem Führungsoffizier zu verstehen gab, dass Applikationen immer die Rosinen im Forschungsbetrieb seien. Pfau: »Es ist also für meine Begriffe nur solange vertretbar, diese Personen in einer Applikationsgruppe wirken zu lassen, solange man weiß, dass keine Applikationen kommen.« Der Parteisekretär wies das zurück.1391

1389 Dautcourt studierte zusammen mit Treder bei Achille Papapetrou, der von 1957 an der HU Berlin und ab 1962 in Paris lehrte. Der Verf. dankt Herrn Dr. Dr. Dautcourt für interessante Einblicke in diese Materie und darüber hinaus im Rahmen einer fundierten Korrespondenz 2019. Sein Widerstand gegen das Verbot von Mitgliedschaften in internationalen Fachverbänden und Gremien sucht seinesgleichen. Die Darstellung fiel der Manuskriptkürzung zum Opfer, kam jedoch seiner Bescheidenheit entgegen. 1390 BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Astronom« am 27. u. 31.8.1971; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 87–95, hier 92–94. 1391  HA XVIII/5 vom 20.9.1971: Bericht von »Pavel« am 15.9.1971; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 274–276.

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Klaus Junge berichtete dem MfS am 1. September über Probleme im ZOS wegen der von der SED geforderten stärkeren Konzentration auf Schwerpunktthemen. Andere Themen würden wegen des Schwerpunkts der »Interkosmos-Themen« automatisch in Nachteil geraten. Dies gehe auch »zulasten der mit der Industrie gebundenen Themen«. Es bestünden »Disproportionen hinsichtlich der Kapazitäten und der Planung.«1392 Schult berichtete am 16. September einmal mehr über Lauter. Angeblich sei der nicht gewillt, dass die DDR ein guter Partner der Sowjetunion werde. Er gestalte den Arbeitsplan des ZISTP derart, dass eine klare Abrechenbarkeit einzelner Themen kaum mehr möglich sein werde: »Die Themen sollen nicht klar abrechenbar sein, damit alles in ihnen untergebracht werden« könne.1393 Der für den HFIM »Böttger« zuständige Offizier gab ihm am 22. September zu verstehen, dass er die Arbeit mit Schult so gestaltet müsse, dass ihm »keine Informationen über uns interessierende Probleme zugehen«.1394 Im Oktober sollen sich nach Einschätzung des MfS Hinweise ergeben haben, wonach Lauter »eine Haltung und Aktivitäten erkennen« lasse, »die der Verwirklichung der Aufgabenstellung des VIII. Parteitages teilweise« entgegenstünden.1395 Im Zen­ trum der Vorhaltungen stand dessen Zusammenarbeit mit Raumforschungsprojekten insbesondere der USA, zum Beispiel Auswertungsaufgaben zum Earth Resources Technology Satellites (ERTS) und zur bemannten Weltraumstation Skylab vom ZISTP durchführen zu lassen. »Von den 80 bodengebundenen Messprogrammen« des ZISTP würden »die Messergebnisse regelmäßig an Datenzentren im kapitalistischen Ausland übermittelt«. Die sogenannten »progressiven Wissenschaftler« sähen dies »als Ausdruck dafür«, dass Lauter »seine alte Linie der Orientierung auf eine weltweite Zusammenarbeit« weiterführe. Angeblich habe die sowjetische Seite deutlich gemacht, dass DDR-Wissenschaftler, die mit dem Westen kooperierten, »nicht für die Mitarbeit an den wesentlichen Problemen der sowjetischen Raumforschung infrage« kämen. Die Beziehungen Lauters »zu führenden Repräsentanten der westdeutschen Raumforschung« wie Karl Rawer1396 von der Ruhruniversität Bochum und Dieminger vom Max-Planck-Institut für Aeronomie Lindau / Harz seien be1392  HA XVIII/5/2 vom 3.9.1971: Bericht zum Treffen mit »Fritz« am 1.9.1971; BStU, MfS, AIM 16981/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 87–89. 1393  HA XVIII/5 vom 16.9.1971: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 16.9.1971; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 303–306, hier 304. 1394 HA XVIII/5 vom 5.3.1971: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 5.3.1971; ebd., Bl. 212–244, hier 214. 1395  HA XVIII/5 vom 1.10.1971: Erkenntnisse zu Lauter; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bl. 49–53, hier 49. 1396  (1913–2018). Studium der Mathematik in Freiburg bei Gustav Doetsch und der Physik in München bei Arnold Sommerfeld. Einer der führenden Ionosphärenphysiker des 20. Jahrhunderts, der noch als nahezu 100-Jähriger an der Vorbereitung des Internationalen Geophysikalischen Jahres (Gold button 2007) beteiligt war. Er leitete u. a. das Projekt International Reference Ionosphäre (IRI), das bei COSPAR und URSI angesiedelt war und seit 1999 als Standardmodell der Ionosphäre gilt. Leiter des Frauenhofer-Instituts für Physikalische Weltraumforschung. Autobiografischer Hin-

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sonders herzlich. Die Akademiereform sei nach Ansicht Lauters »gescheitert«. Diese Ansicht habe er in einem Vortrag vor Leitungskadern der DAW bereits 1970 vertreten, und zwar so, dass sie offiziös wurde. Auch der sowjetischen Seite gegenüber soll er sich in diesem Sinne geäußert haben. Das MfS behauptete: »Wiederholt war Professor Lauter Initiator von Strukturdiskussionen in der Leitung der DAW, die von der Lösung inhaltlicher Probleme ablenkten. Gleichzeitig beeinflusste Professor Lauter jüngere befähigte Wissenschaftler, keine Leitungsfunktionen in der DAW zu übernehmen, da diese nur Undank bringen würden und der wissenschaftlichen Entwicklung der Betreffenden abträglich seien.« Unsachkundig behauptete das MfS in seiner Schlussfolgerung, dass Lauter »immer wieder auf die Beibehaltung und Ausweitung geophysikalisch-theoretischer Arbeiten« orientiere, »die keine Nutzanwendung für die Volkswirtschaft erwarten« ließen.1397 Böhme berichtete dem MfS am 5. November, dass er Lauter hinsichtlich des im Rahmen des GARP geplanten tropischen Experimentes gefragt habe, ob die DDR sich daran beteiligen solle. Lauter bejahte, man könne das Forschungsschiff »Alexander von Humboldt« hierfür nutzen, es sei Grundlagenforschung (»numerische Modelle«) und besitze einen politischen Faktor dergestalt, dass die DDR »damit Zutritt zum Büro des GARP« bekomme. Drei Tage zuvor hatte er seinem Führungsoffizier, Knaut, mitgeteilt, dass Lauter eine Konzentration der DDR-Arbeiten auf die kosmische Meteorologie und kosmische Elektronik wünsche. Das C ­ OSPAR habe »starkes Interesse« signalisiert. Und die USA hätten großes Interesse an der Überwachung der Solarkonstante. Die Möglichkeiten der DDR seien hierzu allerdings gering, da es vor allem des Einsatzes von Satelliten bedürfe. Unter den Maßnahmen, die Knaut fasste, fand sich auch der Punkt: »Mit IM prüfen, was heißt ›Über­wachung der Solarkonstante‹.«1398 Am 24. November fertigte das MfS eine Information, die an Stoph und Hager ging. Das Datum ist auch mit 6. Januar 1972 tradiert (siehe S. 834). Es heißt hierin, dass Lauter eine »negierende Haltung zur Akademiereform« aufweise sowie die Konzentration der Mittel auf Interkosmos verhindere. Auch lehne er eine »Abgrenzung von der BRD« ab. Er beklage ein »Hineinregieren in die Wissenschaft« und die »Reglementierung der Akademie durch Regierungsstellen«. Seine Einstellung drücke sich »bezeichnend« in seiner Negierung des Besuches von Stoph, Mittag und Weiz und damit der Wissenschaftspolitik der DDR in seinem Haus, dem ZISTP, aus. Insgesamt sei eine passive bis negative Haltung zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion feststellbar, deutlich bevorteile er internationale Projekte mit maßgeb­ weis: Rawer, Karl: Meine Kinder umkreisen die Erde, Freiburg i. Brsg. 1986. Die HA XVIII/5/3 erstellte am 11.8.1975 eine Expertise zum Ionosphären-Institut Breisach am Rhein. HA XVIII/5/3 vom 11.8.1975: OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 184–191, hier 184 f. 1397  HA XVIII/5 vom 1.10.1971: Erkenntnisse zu Lauter; ebd., Bd. 1, Bl. 49–53, hier 51–53. Verifiziert wurden diese Erkenntnisse wenig später: HA XVIII/5 vom 20.10.1971: Erkenntnisse zu Lauter; ebd., Bl. 55–66. 1398  HA XVIII/5/3 vom 8.11.1971: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 5.11.1971; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 77–82.

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licher Beteiligung der USA. Seit Übernahme des Amtes als Generalsekretär der DAW sei er viel zu häufig im Ausland gewesen, allein im Westen in Japan, Österreich, Belgien, England, der Bundesrepublik, in Kanada, Spanien, Frankreich und in den USA. Die wohl wichtigsten Hinweise betrafen seine Intentionen gegen die Überbetonung des Interkosmos-Programms und auch jene, wonach er »wiederholt die Absicht geäußert« habe, »sich nach Ablauf der gegenwärtigen Legislatur­periode der DAW-Leitung im Jahre 1972 wieder ganz der wissenschaftlichen Arbeit zu widmen und keinesfalls erneut die Funktion des Generalsekretärs der DAW anzunehmen«.1399 Ein Bericht der HA  XVIII/5/3 vom 29. November beleuchtete das Bemühen des MfS, den Sicherungsbereich »Raumforschung / Interkosmos« vor »feindlichen Angriffen« stärker zu schützen. Der Bericht würdigte zunächst die bis 1971 erzielten positiven Beiträge der DDR im Rahmen des Interkosmos-Programms, wobei der Leiter des Rates »Interkosmos«, Petrow, die Auffassung vertreten haben soll, diese Zusammenarbeit noch zu vertiefen. Bislang sei die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion gleichsam in einer ersten Stufe gelaufen, die als abgeschlossen zu betrachten sei. Es komme nun in einer zweiten Phase darauf an, »neue Überlegungen und Konzeptionen für die weitere Entwicklung der Interkosmos-Zusammenarbeit anzustellen«. Ab 1973 werde die Sowjetunion »Satelliten einer neuen Generation mit erheblich höherer Nutzlast als bisher zur Verfügung stellen«. Am 2. November kam es in Moskau zu einem Treffen zwischen dem Vorsitzenden des Rates für die Koordinierung der Forschung für die friedliche Nutzung des Weltraums – Interkosmos – bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Petrow, und Vertretern der Botschaften der sozialistischen Staaten. Trotz einer prinzipiellen Übereinstimmung zwischen der DDR und der Sowjetunion sei aber eine »starke Tendenz erkennbar, durch eine Reihe leitender und mittlerer leitender Mitarbeiter, die Aufnahme und Bearbeitung solcher Forschungsthemen zu betreiben, die den Charakter von Grundlagenforschung tragen und die nicht in jedem Fall von zu erwartenden Ergebnissen her eine Bearbeitung im Rahmen Interkosmos rechtfertigen«. Auch sei »eine Überbetonung von geophysikalischen und radiowissenschaftlichen Forschungen, die nicht Schwerpunkt der Interkosmos-Zusammenarbeit« seien, festzustellen. Das Bestreben dieser Wissenschaftler sei zwar nicht neu, wohl aber die systematische Verstärkung dieses Willens. Die »maßgeblichen Vertreter dieser Richtung« seien Lauter, Sprenger und Wagner. Es seien Wissenschaftsrichtungen, die »in der Regel« von westlichen Wissenschaftseinrichtungen »initiiert« worden seien. Insbesondere die Raum­forschungsprojekte für die untere Atmosphäre sollten vornehmlich von europäischen Ländern durchgeführt werden, da die USA und die UdSSR die obere und äußere Atmosphäre dominierten. Für diese Arbeitsteilung habe sich Rawer ausgesprochen. Lauter soll dieser Tendenz entsprochen und »sich nachdrücklich dafür« eingesetzt haben, entsprechende Beobachtungs- und Bearbeitungsprogramme für 1399  MfS vom 24.11.1971: Information Nr. 1119/71: Über den Generalsekretär und 1. Stellv. des Präsidenten der DAW; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1974, Bl. 1–13, hier 10 u. 13.

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Europa auf Basis der »vorhandenen bodengebundenen Ausrüstungen« zu kreieren. »Er betonte, dass die vorhandenen modernen Ausrüstungen in den Ländern wesentliche ungeklärte Probleme der Physik der Hochatmosphäre und der Radiowellenausbreitung in Europa lösen können, wenn sie komplex projektgebunden in Kooperation eingesetzt« würden »und die Wissenschaftler zusammen« arbeiteten. Lauter war zu diesen Themen im Rahmen der URSI federführend in einer Arbeitsgruppe beteiligt.1400 Dieser Aspekt der Beschränkung auf das für die DDR eigentlich nützliche und auch finanzierbare, zudem forschungslogisch zweckmäßige, jedoch wenig prestigeträchtige, ähnelt stark der Orientierung Hartmanns auf die Grundlagen der Technologie und nicht auf kurzfristige Produktionserfordernisse. Die URSI-Tagung hatte für den europäischen Raum als »Empfehlungen zur zukünftigen Bearbeitung« 19 Projekte und Programmvorschläge verabschiedet. Zwei Inoffizielle Mitarbeiter des MfS berichteten, dass von diesen 19 Projekten allein zwölf »vom wissenschaftlichen Inhalt her Bestandteil des Beschlusses des Ministerrates vom Januar 1971 ›zur Konzeption für das mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Partnern im Rahmen Interkosmos abzustimmende Programm der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit im Perspektivplanzeitraum von 1971 bis 1975‹« seien. Auf der von Lauter geleiteten Arbeitsgruppe hatte er sieben Projekte »zur Bearbeitung vorgeschlagen, die sogenannte Fundamentalfragen« beinhalteten. Alle sieben Punkte waren nach Auffassung des MfS »hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Inhaltes und ihrer Zielstellung« im Beschluss des Ministerrates vom Januar 1971 fest »verankert«. Lauter soll die Auffassung vertreten haben, dass »Ziel und Zweck der Interkosmos-​ Kooperation nicht die Teilnahme an Experimenten an sich sei, sondern die Lösung physikalischer Fundamentalfragen der Hochatmosphäre«.1401 Das umfangreiche MfS-Papier, unter Mithilfe von Fachspezialisten entstanden, erläuterte zudem Projekte, die auf der Lindauer Tagung zur Beratung anstanden und die Bezüge zum Wissenschaftsprofil der DDR aufwiesen. Das erste Thema beinhaltete die »Erforschung der sogenannten Winteranomalie«. Das recht unerforschte Thema war für die langfristige Wetterprognostik bedeutend. Würde die DDR sich nicht beteiligen, wäre das gleichbedeutend mit dem Wegfall des osteuropäischen Raumes. Damit würde »das gesamte Projekt fragwürdig« werden. Ein entsprechendes Messgerät hatte Lauter aus der Sowjetunion »zurückgeführt« (was das MfS als potenziell negativ bewertete). Die inhaltliche Bedeutung dieser Thematik bestritt das MfS nicht. Ein zweites Thema betraf das Projekt »Wind und Dynamik der D- und E-Schicht«. Koordinator war Klaus Sprenger vom Observa­ torium in Kühlungsborn, der »gleichzeitig verantwortlicher Funktionär im Rahmen 1400  HA XVIII/5/3 vom 29.11.1971: Bericht zu Ergebnissen der vorgangsmäßigen Sicherung des Sicherungsbereiches Raumforschung / Interkosmos unter besonderer Sicht der Wirkungsweise westlicher Aktivitäten und Einflüsse und diese Wirkungsweise begünstigende Faktoren; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 67–94, hier 67–71. 1401  Ebd., Bl. 72.

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Interkosmos« war. Weil diese thematische Problematik »sehr eng mit den Messungen des sogenannten Meteorwindes [gemeint: meteorological wind, die Sowjetunion nannte ihren Wettersatelliten Meteor – d. Verf.]« korrespondierte und die Sowjetunion auf diesem Gebiet führend gewesen sein soll, ergab sich hier für das MfS sofort die Gefahr des Abflusses von Geheimwissen: »Inoffiziell wurde bekannt, dass seitens der USA erhebliches Interesse an diesen Messergebnissen besteht und dass speziell die Meteorwindmessungen im Rahmen der IUCSTP von den USA koordiniert werden.« Sprenger hatte in »seiner Eigenschaft als URSI-Koordinator« im April 1971 an einer Londoner Tagung teilgenommen und über die Thematik im Rahmen einer URSI-Tagung – erfolgreich – vorgetragen. Lauter habe dieser Forschung großes Augenmerk geschenkt. Ein IM mokierte sich, dass Lauter es »als besonders hervorzuhebendes Beispiel zum Ausdruck« gebracht habe, dass es »Sprenger gelungen sei, an die sowjetischen Messungen heranzukommen, was in anderen Bereichen der Zusammenarbeit noch nicht in dem Maße« gelungen sei.1402 Da das MfS hier und bei anderen Themen das Interkosmos-Abkommen sicherheitspolitisch gefährdet sah, holte es zum verbalen, anmaßenden Schlag aus: »Es ist eine häufig festzustellende Tatsache, dass in der Pflege der Beziehungen zu den internationalen Organisationen und sich ergebenden Rückwirkungen die verantwortlichen Personen übergeordnete staatliche Leitungen, wie das MWT, über Sachverhalte täuschen.« Über unterschwellige Aktivitäten werde nicht informiert, auch werde mit Halbwahrheiten operiert. Darüber hinaus würden »Nutzeffekte dargestellt« werden, die nicht zuträfen. Übergeordnete Stellen stünden dem machtlos gegenüber, da ihnen das Wissen fehle.1403 1971 konzipierte Vorstellungen für ein »weltweites internationales Programm zur Erforschung der Magnetosphäre« konnten natürlich nicht Halt machen vor den Grenzen der DDR. Dass sich Lauter, Wagner und andere hier gefordert fühlten, kann nicht erstaunen. Das MfS aber nannte deren Aktivitäten »unterschwellig«, also nicht mit staatlichen Stellen abgestimmt. Bereits auf einer Tagung im April 1971 in Neustrelitz habe Lauter seine Vorstellungen kundgetan und Wagner ins Rennen geschickt, um mit den sowjetischen Partnern Abstimmungen zu treffen, da man für dieses Forschungsprogramm auch auf Raketen und Satelliten zurückgreifen müsse. Das sei offenbar erfolgt und somit unterschwellig in eine Direktive der COSPARTagung 1971 gelangt. Bemerkenswert ist, und das entspricht auch den empirisch gemachten Erfahrungen, dass der Schreiber des Papiers zugestehen musste, dass die Forschungsprojektwahl in der Hand der DDR lag, dass die Sowjets Spielraum gaben, wenngleich es stimmen mochte, dass diese Projekte nicht der »Hauptrichtung der Zusammenarbeit im Rahmen Interkosmos« entsprachen. Jedenfalls will dies »ein zuverlässiger IM, der beauftragt war« mit »Kovdonjenko dazu« zu sprechen, »speziell zur Betonung geophysikalischer Arbeiten durch einige DDR-Wissenschaftler«, gesagt haben. Für das MfS war es ein Schlag gegen die Abschottungspolitik, da die 1402  Ebd., Bl. 73–75. 1403  Ebd., Bl. 75.

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13. Generalversammlung des COSPAR in Leningrad beschlossen hatte, den Druck ihrer Dokumente durch die DDR (Akademie-Verlag) durchführen zu lassen. Was dem MfS ein böses Geschäft war, weil dies einer Verzahnung der westlichen mit der östlichen Wissenschaftswelt entgegenkam, war Kommentatoren in Ost und West und nicht zuletzt Lauter Vorteil und Anerkennung für die DDR (Norddeutscher Rundfunk, ND-Korrespondenz aus Leningrad). Das MfS hatte recherchiert, dass der bis dahin für diese Publikationen beauftragte holländische Verlag angeblich pekuniäre Probleme hatte. Das Angebot an das COSPAR unterbreitete Lauter.1404 Das MfS zeigte sich mehr und mehr in der Rolle eines Bewerters. Äußerungen wie die folgende wären in der Sache freilich ohne Bedeutung, wenn sie nicht in Handlungen, sprich: Restriktionen umgegossen worden wären. So soll der »Leiter der Interkosmos-Einrichtung in Neustrelitz«, Robert Knuth, »bei einem Gespräch im Nachgang zur COSPAR-Tagung 1971 effektiv nicht in der Lage« gewesen sein, »konkrete Aussagen darüber zu machen, welchen konkreten Nutzen der Besuch dieser Veranstaltung ihm für die Durchführung seiner Interkosmos-Arbeit gebracht« habe. Demnach soll er »es als einen großen Erfolg« gewertet haben, dass es einem seiner Mitarbeiter »gelungen sei, von einem amerikanischen Wissenschaftler, von dem bekannt ist, dass er eine maßgebliche Rolle in der NASA spielt, den Code und die Bahndaten für einen Satelliten zu erhalten, den die USA 1971 starten würden.« Er habe gar »besonders« hervorgehoben, dass sein Haus »damit in der Lage sei, sich auf die Beobachtung dieses Satelliten gründlich vorzubereiten. Nach dem Nutzeffekt dieser Messungen befragt, gab er an, dass selbstverständlich die Daten den sowjetischen Interkosmos-Partner übergeben würden, der erhebliches Interesse zeige.« Einen Auftrag aber, diesen Satelliten messtechnisch im Rahmen des Interkosmos-Programms zu nutzen, könne Knuth, so das MfS, nicht angeben. Auch nicht, auf welchem Wege die Daten an die Sowjetunion übergeben würden.1405 Zum Forschungsprogramm zur »globalen Erforschung der Atmosphäre« habe Lauter einmal mehr Zusagen gemacht und den Einsatz eines Infrarotspektrometers für die Realisierung einer neuen Messmethode in Aussicht gestellt. Auch diese Zusage, so das MfS, sei ohne Beschluss erfolgt. Er habe »persönlich außerordentliche Aktivitäten« entwickelt, »um die Entwicklung eines solchen Gerätes in der DDR in Szene zu setzen und voranzutreiben«. Dass es hierzu aber durchaus Beschlussdokumente gab, nahm das MfS nicht zur Kenntnis. Es räumte lediglich ein, dass »zwischenzeitlich« diese Entwicklung in der DDR beschlossen »und im Rahmen Interkosmos soweit abgestimmt« worden sei, »dass es nach Fertigstellung auf einem Satelliten des nationalen Programms der UdSSR fliegen« werde. Trotz des Widerstandes »verschiedener Wissenschaftler« sei die Entwicklung durch Lauter »rasch vorangetrieben« worden. Inoffizielle Mitarbeiter hätten zwar konstatiert, dass es aus fachlicher Sicht gegen dieses Projekt nichts einzuwenden gebe, jedoch habe Lauter »Hintergedanken«.1406 1404  Ebd., Bl. 76–78 u. 80 f. 1405  Ebd., Bl. 79 f. 1406  Ebd., Bl. 81–83.

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Das MfS klaubte sich aus den Beschlüssen jene Elemente, die geeignet erschienen, gegen Lauter verwendet zu werden. Etwa im Ministerratsbeschluss zur Interkosmos-Arbeit von 1971, der eine Einschränkung der bodengebundenen Messprogramme festgelegt hatte zugunsten der Freisetzung von Kapazitäten für Interkosmos-Arbeiten. Bis jetzt, so das MfS, habe sich aber noch nichts getan. Laut inoffiziellen Berichten seien es westliche Einrichtungen und Personen, die für die Beibehaltung des bisherigen Bodenprogrammes appellierten. »Es ist eindeutig feststellbar, nicht die Tendenz der Reduzierung zugunsten aktiver Experimente, sondern die Tendenz der Umprofilierung auf neue, ebenfalls im Wesentlichen von außen einfließende Forschungsprobleme. Hierzu ist zu bemerken: Die Durchführung der umfangreichen bodengebundenen Messprogramme stellt im Wesentlichen eine notwendige Ergänzung dar zur Durchführung von Satelliten- und Raketenexperimenten. Für die Durchführung dieser Programme gibt es auch im befreundeten Ausland ein bestimmtes Interesse. Im Rahmen der sozialistischen Länder wurden diese Programme bisher im Komplex der allgemeinen offenen Zusammenarbeit der Akademien koordiniert. Es gab insbesondere von sowjetischer Seite bei vergangenen Interkosmosberatungen immer wieder deutliche Hinweise darauf, dass die bodengebundenen Messprogramme zwar eine Ergänzung der aktiven Experimente darstellen können, dass sie aber nicht Bestandteil der aktiven Zusammenarbeit im Rahmen Interkosmos sind und dass sie auch nicht aus Mitteln, die für Interkosmos zur Verfügung stehen, finanziert werden können.« Das Problem des MfS war, gegen die Wissenschaftspolitik Lauters einigermaßen brauchbare Argumente zu generieren. Am Ende der Bemühungen stand oft Hilflosigkeit: Lauter und andere würden versuchen, »die bodengebundenen Messprogramme zum konkreten Bestandteil der Interkosmos-Arbeit zu machen«.1407 In Prag hätten in diesem Jahr sowjetische Wissenschaftler zwar zugestanden, dass man die Beobachtungsprogramme brauche, allerdings nicht ihre Stärkung »zuungunsten der aktiven Beteiligung an Interkosmos«. Einen Dissens machten die MfS-Offiziere auch hinsichtlich der Frage aus, ob es in der Tagung in Varna die Thematik der Einbindung der Bodenprogramme in Interkosmos gegeben habe oder nicht.1408 Das MfS-Papier bezichtigt die »nationalen Einrichtungen zu internationalen wissenschaftlichen Organisationen« wie das »COSPAR-Komitee der DDR beim Nationalkomitee für Geodäsie und Geophysik« der DAW oder die Gesellschaft für Radiowissenschaften bei der DAW, gewissermaßen Taktgeber dieser Bodenprogramme zu sein, wobei auffällig sei, dass sich in diesen Gremien »vorwiegend solche Personen konzentrierten, die Befürworter der sogenannten weltweiten Zusammenarbeit« seien. Lauter berufe sie persönlich, wobei ihm seine Position als Generalsekretär der DAW nützlich sei. Dagegen sähen es sowjetische Wissenschaftler gern, folgende vier Linien zu forcieren: »Probleme der elektronischen Bauelemente und Geräteentwicklung; Entwicklung von Geräten und Aggregaten 1407  Ebd., Bl. 83–84. 1408  Ebd., Bl. 84 f.

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für Sputniks sowie für Abschusseinrichtungen; periphere Geräte einschließlich Aufzeichnungsmaterialien für bessere Informationsbearbeitung der gewonnenen Daten; Entwicklung und Produktion optischer Geräte, vor allen Dingen von Teleskopen für das Sonnenprogramm.« An DDR-Wissenschaftler seien Wünsche dahingehend herangetragen worden, Experimente zu starten, die der »Schaffung eines Datenkanals über einen zu startenden Interkosmos-Satelliten«, der »Entwicklung von Bordrechnern« sowie der »Entwicklung von Orientierungssystemen für Satelliten« dienen sollten. Die dagegen von Lauter gegenüber Weiz propagierte Linie umfasse die Aufgaben der Hochatmosphäre, die Übernahme von zwei bis drei größeren wissenschaftlich-technischen Projekten sowie die Umsetzung von Erkenntnissen für die Industrie der DDR, alles dies werde jedoch den westlichen Vorstellungen gerecht. Bei Lauter und anderen Wissenschaftlern sowie bei Buschinski vom MWT sei »die starke Tendenz« mit »Hinweis auf gegebene Kapazitätsschwierigkeiten« feststellbar, »keine zusätzlichen Verpflichtungen im Rahmen Interkosmos einzugehen«. Gegenwärtig würden 50 Prozent des Jahresetats des ZISTP für Interkosmos-Experimente eingesetzt. Auch die Hälfte des Personals arbeite für »aktive Interkosmos-Experimente«. Die andere Hälfte sei gar nicht, beziehungsweise teilweise mit Interkosmos-Arbeiten befasst.1409 Inoffizielle Mitarbeiter wiesen darauf hin, »gründlich Fragen der Abgrenzung nach dem Westen zu klären«, dies stütze sich auch auf Kovdonjenko: »Wenn die DDR mit COSPAR oder anderen internationalen Organisationen zusammenarbeiten will, so gibt es ihrerseits dagegen prinzipiell keine Einwände. Diese Frage muss die DDR selbst entscheiden. Aber daraus ergibt sich eine Konsequenz, was bisher im Rahmen Interkosmos getan wurde ist nach seiner Auffassung als eine Anfangsstufe zu bewerten. Sie diente zum Anlernen und dazu, dass man die Grundlagen für das Denken in größeren Dimensionen schafft. Diesen neuen Dimensionen jedoch gilt die Hauptaufmerksamkeit. Wer sich diesen widmen will, muss sich gegen die sogenannten weltweiten Probleme abgrenzen, weil die neuen Dimensionen sich nur im nationalen Programm der SU befinden und wenn man dort mitwirken will, auch den daraus sich ergebenden höheren Sicherheitsbestimmungen Rechnung tragen muss. Also entweder weltweit oder im engen Zusammenwirken mit dem nationalen Programm der SU echte Probleme lösen.« Grundsätzlich vertrat Petrow eine ähnliche Auffassung, er hob hervor, dass die Sowjetunion bilateral etwa mit Frankreich und Indien zusammenarbeite, dies aber nicht Bestandteil des Interkosmos sei. Weiz soll Lauter im Juni 1971 die Auflage erteilt haben, die Interkosmos-Arbeit schärfer von COSPAR zu trennen. Das Interkosmosgremium habe nicht Probleme des COSPAR zu lösen! Der Bericht schloss mit einem Frontalangriff gegen den laxen Geheimnisschutz. Selbst Grundlagenforschungselemente der Experimente sollten geheim gehalten werden, was veröffentlicht werden dürfe, hätten nicht die federführenden Wissenschaftler zu entscheiden.1410 Betrachtet man die sowjetischen 1409  Ebd., Bl. 85–89. 1410  Ebd., Bl. 89–93.

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Aussagen – selbst in der deutschen Interpretation – genauer, dann ist feststellbar, dass sie flexibler gehalten sind, nicht in einem »Entweder-Oder«, sondern eher in einem »Und« mündeten. Dieses Problem wird uns unten auch auf dem Gebiet der Kerntechnik begegnen. In Sonderheit das MfS (nicht, zumindest nicht geschlossen die lokale SED!) kannte nur ein Entweder-Oder. Es zerschlug eine Forschungslandschaft brachial – und um »Feinde« abrechnen zu können. Schlussendlich erfolgte eine Kritik zur Dienstreisedurchführung, die hauptsächlich Lauter angelastet wurde. Der vertrete die Auffassung, »dass die eigentliche Veranstaltung ohnehin unwesentlich« sei »und die entscheidenden Gespräche mit den entsprechenden interessierenden Personen bei solchen Tagungen für ihn das Wesent­liche darstellen. Er äußerte wörtlich: ›Die eigentlichen Politiker und Verhand­ler sind wir Wissenschaftler, d. h. die mit internationaler Erfahrung. Wir haben zwar eine Direktive, zu der wir ja sagen, handeln dann aber doch so, wie wir denken.‹« Lauter, so das MfS, rede nicht nur so, sondern setze es auch »in der Praxis bei Tagungsbesuchen und Reisen in das nichtsozialistische Ausland« um.1411 In einem Bericht der HA XVIII/5/3 vom 20. Januar 1972 – von Mittig, Leiter der HA XVIII, am 25. Januar abgezeichnet – geht es um die Inkenntnissetzung Lauters seitens des MWT zum IMS-Projekt (Internationale Magnetosphären-Studie). Die 1. Internationale IMS-Working-Konferenz hatte vom 8. bis 11. Juni in Innsbruck stattgefunden. Das MfS erhielt die Information, wonach Lauter nach der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates für die Erforschung und Nutzung des kosmischen Raumes am 4. Januar 1972 in Potsdam entsprechend positiv reagiert habe. Das MfS wollte Beweise, denn die Recherche habe gezeigt, dass es für IMS »keinen gültigen Beschluss zur Mitarbeit« gebe. Lauter sei jedoch der Meinung gewesen, dass Unterlagen über Gespräche hinsichtlich des IMS mit der Sowjetunion existierten. Er beauftragte einen Mitarbeiter, die Unterlagen rasch zu suchen.1412 Belege fanden sich. Tatsächlich war u. a. auf einer Arbeitsbesprechung der Sektion kosmische Physik in Prag 1971 die Thematik »fixiert« worden. Geplant war, dass Lauter und Wagner im März 1972 auf der kommenden IUCSTP-Tagung in London die weitere Gestaltung der Mitarbeit am IMS zu erörtern hätten. Der Beirat wollte das Projekt IMS jedoch erst im April 1972 behandeln. Zu einem Gespräch zwischen Staatssekretär Stubenrauch und dem Leiter des Rates Interkosmos über »prinzipielle Bemerkungen zur organisatorischen und inhaltlichen Gestaltung der Interkosmos-Arbeit« ließ Lauter verlauten, dass er enttäuscht sei von der Haltung der sowjetischen Seite, wonach diese nur an Interkosmos interessiert sei. Er habe »für die Haltung der SU keinerlei Verständnis«, auch keine Erklärung.1413 Es sind immer wieder diese kontextlosen oder kontextgeschwächten Zusammenstellungen des MfS, die suggerierten, dass Lauter gewissermaßen illegal arbeitet. So auch zum

1411  Ebd., Bl. 89–94. 1412  HA XVIII/5/3 vom 20.1.1972: Information; ebd., Bl. 109–112, hier 109. 1413  Ebd., Bl. 110.

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AUOS-Satelliten,1414 einem Interkosmos-Satelliten neuer Generation mit höherer Nutzlast. In Prag hatte die Sowjetunion darauf verwiesen, »dass eine Nichtbefolgung dieser Orientierung den Interkosmos-Partnern den Zugang zu den neuen Satelliten verwehren würde«. Lauter habe deutlich gemacht, dass die Fragen in Prag geklärt worden seien. Wittbrodt betonte, dass das Institut »mit dem PM-System über mehrere Jahre voll ausgelastet« sei, »und keine weiteren Kapazitäten weiter vorhanden« seien. Lauter habe die Überarbeitung der Vorstellungen vorgeschlagen. Insgesamt schätzte das MfS ein, dass Lauter »eine erhebliche Ratlosigkeit und Fassungslosigkeit« gezeigt habe. Er sei »bei der Erörterung der einzelnen Fragen und Probleme vor dem Beirat […] sehr erregt« gewesen.1415 Warum aber? Weil er mit einem unsäglichen Durcheinander von Scheinargumenten, schiefen Zitaten und unklaren Begriffen konfrontiert wurde. Das MfS ging am 21. Februar in die operative Planung für »eine neue Etappe« in der Bearbeitung Lauters. Es sei nun an der Zeit, die Phase der Sammlung von Informationen überzuleiten in »konkrete Prüfungshandlungen zu ausgewählten Problemen im Sinne einer Prüfung nach Paragraf 165«. Einzusetzende Offiziere waren Knaut, Bargenda, Büttner und Weißbach. Neben den fachlichen Untersuchungen, etwa zum Komplex PM, sollten Falsch- und Fehlinformationen an Partei und Regierung geprüft werden, wie etwa die Nichtbefolgung staatlicher Weisungen, die Verletzung des Geheimnisschutzes Interkosmos sowie der Missbrauch funktioneller Pflichten und Rechte. Regelrecht anmaßend waren die Bestrebungen des MfS, »Prüfungshandlungen« u. a. hinsichtlich der Winteranomalie, der »sporadischen E-Schicht« und zur polaren Ionosphäre zu starten. Dieter Weißbach erhielt die Aufgabe, Personen zu suchen, die als Gutachter infrage kämen.1416 Karl-Heinz Bischoff alias IM »Weiß« war einer der wenigen, der als Begutachter oder Gutachter geeignet war. Er berichtete am 18. Januar, dass Wittbrodt hauptverantwortlich für PM eingesetzt sei und dass Ullrich von der Verantwortung entbunden worden sei. »Diese Lösung« könne aber »nicht befriedigen, da der Direktor keinen fachlichen Überblick« besitze. Er schlug Schmelovsky oder Pfau hierfür vor. Zur Reduzierung der Bodenprogramme zugunsten aktiver IK-Experimente befragt, antwortete »Weiß«, dass es hierfür keinerlei Anzeichen gebe. Lauter stelle die eigene Profilierung in den Vordergrund; weder in seinem Bereich noch im MWT wolle jemand gegen ihn auftreten. Der IM forderte eine Klärung, da die verfügbaren Ressourcen äußert gering seien.1417 Das, wenn man so will, sowjetische Pendant zu Lauter war Alla G. Massewitsch. Sie habe, so Manfred Klotz*, »wesentlich das Geschehen in den Untergruppen und Kommissionen« bestimmt. Sie zeige »deutlich einen Trend zu weltweiten Beobach1414  Projekt der Sowjetunion im Rahmen des Interkosmos-Programms (Automatische Universal-Orbital-Station). 1415  Information vom 20.1.1972; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bl. 109–112, hier 110–112. 1416  HA XVIII/5/3 vom 21.2.1972: Information; ebd., Bl. 113–116. 1417  HA XVIII/5/3 vom 19.1.1972: Bericht von »Weiß« am 18.1.1972; BStU, MfS, AIM 1341/86, Teil I, 1 Bd., Bl. 92–94.

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tungsprogrammen«. Bis 1972 sollte zum Beispiel ein Lasergerät für Entfernungsmessungen einsatzbereit sein, angeregt von der Vorsitzenden der Kommission für Satellitengeodäsie, Frau Dobaczewska aus Polen. Massewitsch verteidige den Vorstoß, eine Intervention von ihm, Klotz*, soll jedoch bewirkt haben, dass solches in Zukunft nicht mehr vorkomme, das habe man schriftlich fixiert im Programmentwurf für den Arbeitsplan bis 1975. Er habe auch Lauter und Buschinski vom MWT davon in Kenntnis gesetzt.1418 Über den Fortschritt beim Bau des Laserentfernungsmessers berichtete Klotz* wiederholt. Es wurde in Ondřejov (ČSSR) zusammengebaut, beteiligt daran waren die Sowjetunion, die DDR, die ČSSR und Polen. Klotz*: »Der wunde Punkt bei diesen Geräten dürfte der elektronische Zähler gewesen sein, der aus Japan« zu importieren war, »da es keinen entsprechenden hochwertigen Zähler in den sozialistischen Staaten« gebe. Der Kauf eines solchen Gerätes sei bislang an Devisenmitteln gescheitert. Das ZIPE habe dies mehrfach beantragt.1419 Ende 1970 informierte Klotz* das MfS, dass Massewitsch interkosmosrelevante Fakten (wieder das Laserradarsystem betreffend) an eine Journalistin der Zeitschrift Für Dich weitergegeben habe. Dem IM wurde nahegelegt, dies dem MWT mitzuteilen.1420 ZIPE-seitig bezog sich der DDR-Beitrag auf den Bau der Zeitmesseinrichtung.1421 Auf dem Internationalen Symposium und der erweiterten Bürositzung der Sektion 6 von Interkosmos in Ulan Bator vom 26. bis 29. September und 30. September bis 2. Oktober 1972 kam u.  a die harsche Kritik an der DDR zur Sprache, die mit ihrer Akademiereform den Grund dafür gelegt habe, dass sie in der Sektion 6 »niemals eine große Rolle« mehr spielen werde. Sie arbeite nunmehr nur noch auf dem Gebiet der Satellitengeodäsie, während andere Länder auch auf den Gebieten der Hochatmosphäre und der Fotometrie arbeiteten. Damit seien »automatisch die DDR-Schulsternwarten aus der Zusammenarbeit über die Sektion 6 von Interkosmos ausgeschaltet« worden. Die Orientierung der DDR auf nationale Belange habe sie »etwas abgesondert«. Massewitsch äußerte nicht das erste und letzte Mal ihre Verärgerung über die DDR-Haltung.1422 Auf der Budapester Kommissionssitzung von 1971 (Sektion  6) war ebenfalls »harte Kritik an der DDR« geübt worden, »deren Zeitmesseinrichtung für das Lasergerät […] nicht funktionierte«. Irgendwie aber soll es auf Kommunikationspro­ blemen bezüglich der Integration des Gerätes beruht haben.1423 Wie auch immer, der Ärger mit der DDR war groß. Einen zusammenfassenden Bericht mit historischen Bemerkungen zur Entwicklung des Laserradars (das ist der Laserentfernungs­messer) lieferte Klotz* dem MfS am 12. Juli 1973. Demnach habe die DDR 1970/71 im 1418 BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 26.6.1970; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 99–102, hier 101. 1419  Beispiel: BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 13.8.1970; ebd., Bl. 113 f. 1420  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 2.12.1970; ebd., Bl. 135. 1421  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 10.12.1970; ebd., Bl. 137 f. 1422  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 18.10.1972; ebd., Bl. 258–261. 1423  Ebd., Bl. 261.

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Rahmen Interkosmos die Entwicklung aufgenommen, mit dem Ziel, es »auf dem Vektorzug Arktis  – Antarktis (ein internationales Programm) einzusetzen«. Die ersten auf dem Markt waren die USA und Frankreich fast zehn Jahre zuvor. Es folgte der Entschluss des ZIPE, neben dem Laserradar ein Laserzusatzgerät für die Satellitenbeobachtungskamera (SBG) zu bauen. Beide Gerätentwicklungen, an denen ZIPE beteiligt war, liefen »völlig getrennt«, aber parallel. In den ersten zusammengebauten LSD von 1972 in Ondřejov seien »noch einige amerikanische Teile integriert« gewesen. Da sich kein Betrieb fand, der eine Kleinserie bauen wollte, wurde von der Gruppe Laserradar (LSD) beschlossen, eine Kleinserie (fünf Geräte) zu bauen. Das Funkwerk Erfurt sollte, konnte aber die Zeitgebereinrichtung bis Ende 1972 nicht liefern. Die Absage, die nötig war, um ein Dringlichkeits­verfahren einleiten zu können, erfolgte. Es wurde am 24. Oktober 1972 über das MEE vom MWT eingeleitet.1424 Die leidige Geschichte des SBG war damit noch lange nicht beendet, siehe Kap. 3.3.2, Exkurs 2. Karl-Heinz Marek setzte für Insider der Geophysik der DDR 2009 Alla G. ­Massewitsch im deutschen Sprachraum ein Denkmal. In der Tat war sie exzellent und eine international geschätzte Astrophysikerin. 1908 in Tblissi / Georgien geboren, nahm sie 1936 das Studium der Astrophysik an der Moskauer Universität auf. Nach der 1946 erfolgten Promotion erhielt sie ab 1949 eine Dozentur für Astrophysik an der Lomonossow-Universität in Moskau (MGU). 1952 erfolgten ihre Habilitation und die Ernennung zur Vizepräsidentin des Astronomischen Rates der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. 1957 begann sie mit dem Aufbau eines landesweiten Beobachtungsnetzes für Satelliten-Bahnverfolgung. Sie war es übrigens, die am 4. Oktober 1957 während ihrer Teilnahme am VIII. Internationalen Astronautischen Kongress in Barcelona den Start von Sputnik 1 bekanntgab und auf diese Weise quasi als »First Lady of Space« berühmt wurde.1425 Sie arbeitete hauptsächlich auf den Gebieten der Physik und Evolution der Sterne und der Nutzung von Satellitenbeobachtungen für Geodäsie und Geophysik. Die Sowjetunion vertrat sie international u. a. in UNO, COSPAR, IAU, IAF und Interkosmos. Zu den zahlreichen Funktionen zählte der Vorsitz der Interkosmos-Sektion »Nutzung von Satellitenbeobachtungen in Geodäsie und Geophysik«. Die HA XVIII formulierte am 25. Februar 1972 Hinweise zu rechtlichen Problemen »beim Nachweis von Straftaten gegen die Volkswirtschaft im Bereich Wissenschaft und Technik«, speziell hinsichtlich des Materials »Interkosmos«. Einleitend hieß es, dass die Handlungen Lauters wirtschaftliche Störtätigkeit darstellen würden, wie dies auch auf anderen Gebieten der Volkswirtschaft nach ähnlichen Mustern geschehe. Lauter verletze »vorsätzlich die Pflichten aus seiner dienstlichen und beruf‌lichen Stellung«. U. a. weiche er ab von den »staatlich verbindlichen wirtschaftspolitischen Richtlinien und Direktiven und internationalen Abkommen 1424  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 12.7.1973; ebd., Bd. 2, Bl. 13–16. 1425  Vgl. Marek, Karl-Heinz: Begegnungen eines Raumfahrt-Enthusiasten. Neubrandenburg 2013, S. 31–43.

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zum Projekt Interkosmos«, er desorientiere die Wirtschaftspolitik der DDR und der sozialistischen Länder; er verwende »wissenschaftliche Kapazitäten und Mittel rechtswidrig« und er täusche zuständige Organe zum Zwecke der Durchsetzung eigener Wissenschaftsvorstellungen.1426 Insbesondere rekurrierte das MfS auf den Missbrauch seiner Vertrauensstellung (Paragraf 165 StGB, Vertrauensmissbrauch). Wie schwierig es für das MfS war, Straftatbestände zu konstruieren, zeigt der nachfolgende Passus, der auf die Spezifik der Prüfung nach Tatbestand des Paragrafen 165 StGB abstellt: »Die Besonderheiten ergeben sich aus der spezifischen Stellung der Wissenschaft und Forschung in der Volkswirtschaft und der Tätigkeit der in solchen Einrichtungen wie der DAW beschäftigten Personen. In wesentlichen Punkten entsprechen die operativ relevanten Verhaltensweisen insbesondere bei sabotageverdächtigen Handlungen den Tatbestandsmerkmalen der angrenzenden Delikte gegen die Volkswirtschaft, wie z. B. dem Vertrauensmissbrauch. Das erweckt den Anschein, als ob eine Wirtschaftsstraftat vorläge. Doch die nähere Untersuchung macht deutlich, dass bei formeller Erfüllung einer Reihe von Tatbestandsmerkmalen der Paragrafen 165, 171 und 172 StGB1427 die Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit an das Vorliegen bestimmter weiterer Voraussetzungen gebunden ist.«1428 Dass Lauter diesen Vertrauensmissbrauch überhaupt begehen konnte, soll an folgenden vom MfS festgestellten Befugnissen gelegen haben: seiner Verfügungsgewalt über wissenschaftliche Kapazitäten, seinen Entscheidungsbefugnissen »über Ausarbeitungen und Konzeptionen zur Wissenschaftspolitik« sowie »über Auswahl und Bearbeitung der Forschungsthematik«, vermuteter »Verfügungsberechtigung über Einsatz und Verteilung staatlich zugewiesener finanzieller und materieller Fonds« sowie seiner Erlaubnis zu selbstständiger »Entscheidungsfindung hinsichtlich des Profils der wissenschaftlichen Forschung im Aufgabengebiet und in IK-Arbeit«. Das MfS behauptete, dass Lauter diese Vertrauensstellung missbraucht habe, indem er »es unterließ, den ausdrücklich aufgetragenen Rückzug der ihm unterstellten Wissenschaftler aus den internationalen geophysikalischen Organisationen zu veranlassen, sondern im Gegenteil den Einsatz der Kader forcierte«; sich mit den betreffenden zuständigen internationalen Organisationen und Gremien beriet; »über den Einsatz wissenschaftlicher Kapazitäten zulasten der Interkosmos-Forschung und zugunsten wissenschaftlicher Interessen westlicher Organisationen und Einrichtungen entschied«, »durch Begründungen und Konzeptionen zur Wissenschaftspolitik der DDR und der internationalen Zusammenarbeit diese fehlzuorientieren suchte 1426  HA XVIII vom 25.2.1972: Zu rechtlichen Problemen hinsichtlich Straftaten gegen die Volkswirtschaft der DDR im Bereich Wissenschaft und Technik, speziell Interkosmos; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 117–123, hier 117 f. 1427 Straftaten gegen die Volkswirtschaft: § 165: Vertrauensmissbrauch; § 171: Falschmeldung und Vorteilserschleichung; § 172: Unbefugte Offenbarung und Erlangung wirtschaftlicher Geheimnisse. 1428  HA XVIII vom 25.2.1972: Zu rechtlichen Problemen hinsichtlich Straftaten gegen die Volkswirtschaft der DDR im Bereich Wissenschaft und Technik, speziell Interkosmos; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 117–123, hier 118.

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und teilweise desorientiert hat, um dadurch Mittel und Kapazitäten zu erhalten für aufwendige Forschungen außerhalb des Interkosmos-Programms, die im Interesse westlicher Organisationen und Institutionen lagen und zum Nachteil der Volkswirtschaft der DDR gereichten (IMS-Programm, Infrarotspektrometer, Projekt Windanomalien, Radioforschung, Projekt Wind und Dynamik u. a.).« Lauter habe getäuscht, indem er entschieden habe, sieben Themen »zu bearbeiten, die er als zum Interkosmos-Programm« gehörig deklarierte. Das sei »tateinheitlich Verdacht auf Falschmeldung und Vorteilserschleichung, Paragraf 171 StGB«. Ferner nutzte er Erkenntnisse aus dem Interkosmos-Programm zur Verfolgung persönlicher Interessen und zur Weitergabe an westliche Organisationen.1429 Eigentlich, so intendiert der Bericht, müsste Lauter auf diese Weise der DDRVolkswirtschaft einen Schaden zugefügt haben. Dazu aber konnten jedoch keine beweiskräftigen Nachweise gefunden werden. Bis »zu einem gewissen Grade« sollte das aber noch »nachzuholen sein«. Denn Lauter habe »mit seiner bewussten Entscheidung zum nicht gesellschaftlichen Verhalten« mindestens »die Folgen übersehen, die dadurch eintreten müssen und diese drohende Schädigung aus individualistischen oder Prestigegründen heraus akzeptiert«. Er habe also der DDR »vorsätzlich Schaden zugefügt«, wenngleich er »sein Handeln nicht direkt« auf »die Herbeiführung des Schadens« gerichtet habe. »Insofern«, so das MfS, werde »es auch möglich sein, Schädigungen als auch vor allem die Gefährdung der Wissenschaftspolitik der Partei und Regierung nachzuweisen. Die Gefährdung durch konzeptionelle Fehlorientierung« liege »auf der Hand«. Hierzu bedürfe es nur noch des Nachweises des Grades und des Umfanges dieser Gefährdung. Hier aber lag die Crux. Denn »das objektive Tatbestandsmerkmal – wirtschaftlicher Schaden – im Sinne des Paragrafen 165  StGB« erforderte »eine auf die materiellen und finanziellen Fonds bezogene Schädigung«. Diese Nachweispflicht galt auch für den Bereich Wissenschaft und Forschung. Weitere Aussagen dazu seien jedoch gegenwärtig nicht möglich, da sich die konzeptionellen Schädigungshandlungen als »mögliche« Wirtschaftsschäden erst in Zukunft zeigen würden; das MfS: »kausale Bedingtheit beachten!« Leider, so das MfS, erfasse der Paragraf 165 StGB »die bloße Gefährdung« nicht. Daraus folge die »Nichtanwendbarkeit« des Paragrafen. Zudem sei der so gehalten, dass die materiellen und finanziellen Fonds »in der Regel produktive Fonds« seien. Und das gelte nicht für den betreffenden Gegenstandsbereich. Diese Erkenntnis entnahm das MfS einschlägigen Artikeln aus Neue Justiz und Forum der Kriminalistik. Die Verfasser des Papieres wiesen auch bei der Anwendung der Paragrafen  171 und 172 StGB auf ähnliche Probleme des Schadensnachweises hin. Beim Paragraf 171 StGB müsse »das Ziel verfolgt worden sein, durch unwahre bzw. unvollständige Angaben wirtschaftliche Vorteile für die betreffende Institution zu erhalten, mit deren Hilfe die der grundsätzlichen staatlichen Orientierung widersprechende Forschung finanziert oder in anderer Weise ermöglicht werden« sollte.1430 1429  Ebd., Bl. 118–120. 1430  Ebd., Bl. 120–122.

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Das Fazit für das MfS war ernüchternd: »Handlungen im Bereich Wissenschaft und Forschung, die vergleichbar sind mit solchen in anderen volkswirtschaftlichen Bereichen, speziell der Produktion und Zirkulation, und dort als Aktivitäten wirtschaftlicher Störtätigkeit des Gegners und seiner Stützpunkte charakterisiert werden, sind strafrechtlich nur relevant, wenn die den Aktivitäten zugrunde liegenden Handlungen und Unterlassungen auf die Verursachung wirtschaftlicher Schäden gerichtet sind. Darum sind diese Handlungen und Unterlassungen auf die ausgelösten oder beeinflussten ökonomischen Prozesse hin zu untersuchen und der Eintritt wirtschaftlicher Schäden als Folge des Missbrauchs von Verfügungsoder Entscheidungsbefugnissen nachzuweisen.« Und weiter: »Die Tatbestände der Straftaten gegen die Volkswirtschaft sind in diesem Bereich deshalb nur bedingt anwendbar. In Wissenschaft und Forschung festgestellte bewusste Desorientierungen bei der konzeptionellen Bestimmung der Wissenschaft und Forschung als auch die Missachtung und Verkehrung der durch die Partei- und Staatsführung vorgezeichneten Wissenschaftspolitik im nationalen internationalen Rahmen sind nach den Bestimmungen des StGB nicht strafbar, soweit nicht Handlungen der Sabotage nachgewiesen werden können. Die Erarbeitung von [operativ relevanten] Materialien nach Paragraf 104 StGB in diesem Bereich ist demzufolge grundsätzlich nicht über die Zwischenetappe des Nachweises einer Straftat gegen die Volkswirtschaft möglich. Solchen Handlungen kann lediglich durch arbeitsrechtliche, disziplinarische oder sicherheitspolitische Maßnahmen begegnet werden.« Die Verfasser des Papieres empfahlen, diese Problematik mit der HA IX sowie mit Experten auf dem Gebiet des Strafrechts zu diskutieren.1431 Böhme berichtete am 9. März u. a. zu seiner bevorstehenden Teilnahme an der Plenartagung des KAPG. Lauter hatte vorgeschlagen, dass Böhme über das GARP sprechen solle. Offizier Knaut fragte natürlich nach, ob es dafür eine bestätigte Direktive gebe und welche Schwerpunkte im Vortrag angeschnitten würden. Böhme antwortete artig. In Bezug auf die Arbeit »in Richtung GARP« wolle er sich an die »Weisungen« [sic!] von Jewgeni K. Fjodorow, Leiter des Hydro-Meteorologischen Dienstes (HMD) der UdSSR, halten. Der soll in Brüssel darauf orientiert haben, »keine Details über die GARP-Absichten« bekanntzugeben. Einen gültigen Beschluss über die DDR-Beteiligung am GARP gebe es bislang nicht. Knaut bekam heraus, dass Böhme seinen Vortrag nicht mit den Sowjets abgestimmt hatte. Er erhielt den Auftrag, dies sofort nach der Ankunft in Prag nachzuholen. Knaut protokollierte: »Er wird es vermeiden, über Vorhaben und Interessen der DDR und der anderen sozialistischen Länder in Richtung GARP zu sprechen, da kein Beschluss darüber existiert.«1432 Allein dies entsprach einer direkten Kontrolle und Steuerung durch das MfS bis in den Praxisvollzug hinein!

1431  Ebd., Bl. 122 f. 1432  HA XVIII/5/3 vom 10.3.1972: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 9.3.1972; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 102–107, hier 103 f.

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Knaut war im Besitz eines Protokolls zu perspektivischen Fragen des ZISTP hinsichtlich der IK-Kooperation, basierend auf Ausführungen Lauters. Aus diesem Protokoll gab Knaut dem IM zur Kenntnis, dass der »Hauptteil der Arbeiten auf dem Gebiet der Kosmischen (Physik) Meteorologie« zusammen »mit dem HMD der UdSSR koordiniert« werde, »wobei die Kontakte zu den technischen Partnern in der UdSSR als ungenügend eingeschätzt« worden seien. Ferner teilte er ihm aus dem Papier mit, dass in Folge einer Absprache zwischen Lauter und Alexandrow vom HMD der UdSSR zu konzeptionellen und kommunikativen Fragen die DDR-seitig beteiligten Institute einbezogen würden, schlussendlich dann das so Abgestimmte der sowjetischen Seite vorgetragen werden solle. Knaut hatte dies, eingedenk der Praxis der Zersetzung, geschickt gemacht, die ausgewählten Passagen aus dem Kontext so herausgestellt, dass die Reaktion Böhmes darauf gleichsam unvermeidlich war: »Der IM war äußerst schockiert über diese Haltung Lauters und brachte zum Ausdruck, dass Lauter auf der Suche nach einem neuen Posten ist und vielleicht die Absicht habe, Direktor des MD der DDR zu werden.« Böhme sah dies als einen Angriff auf seine Person und nicht als sachliche Problemdiskussion an. Knaut dürfte zufrieden gewesen sein: »Die Einschätzung Lauters ist völlig gegensätzlich zu den Einschätzungen, die auf der Ebene des Koordinierungskomitees 1971 in Varna (siehe oben) getroffen wurden. Die Kontakte im Rahmen der kosmischen Meteorologie zum HMD« seien »nach Meinung des IM günstig und geordnet entwickelt. Der IM kann selber noch keine Einschätzung dafür abgeben, warum Lauter direkte Wege zum HMD aufnehmen« wolle. Um das herauszufinden, wolle Böhme Lauter entsprechend provozieren. Knaut betonte jedoch, dass die ihm gegebene »Information inoffizieller Art« sei, er sich also entsprechend verhalten möge.1433 Die Böhme gegebene Information »erfolgte mit der Zielstellung«, so das MfS, »beim IM die Bindung an das MfS zu verstärken« sowie »dem IM zu helfen, seine Haltung zu Lauter zu überprüfen um bessere operative Einsatzmöglichkeiten zu schaffen.« Unverhohlener kann kriminelle Energie sich kaum äußern, übersetzt: Zwietracht säen! Süffisant resümierte das MfS, dass »der ersten Reaktion« Böhmes »zu entnehmen« war, »dass er sich persönlich stark von Lauter angegriffen« gefühlt habe. Zu lesen in einem Aktenvermerk vom 13. März.1434 In ihm ist das Unverhohlene explizit gemacht: man suchte die Betroffenheit Böhmes, damit man ihn in Richtung Lauter zu operativ nützlichen Dingen aktivieren konnte. Ein aggressives Verhalten gegen Lauter war das Ziel: »Diese Haltung wird operativ unbedingt benötigt, da Lauter seine Aktivitäten in Richtung der kosmischen Meteorologie verstärkt und selber Kontakte aufbauen will.« Gegen Lauter bestehe der Verdacht, dass seine Aktivitäten in einem »Zusammenhang mit dem Einsatz des PM-System zum GARP« stünden. Knaut listete hierzu einige Fakten auf, die zeigen, dass Lauter aktiv kooperierte und entsprechende Verbindungen einfädelte.1435 1433  Ebd., Bl. 104–106. 1434  HA XVIII/5/3 vom 13.3.1972: Aktenvermerk; ebd., Bl. 108–110, hier 108. 1435  Ebd., Bl. 109.

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Am 15. März fand eine Besprechung zu wissenschaftlichen Themenstellungen im Rahmen der KAPG bei Lauter statt. Die Thematik stand im Kontext der Teilnahme Lauters an der IUCSTP-Tagung in London. Die IUCSTP hatte »verstärkt die Erforschung globaler Prozesse der Hochatmosphäre« angemahnt. Knaut sprach davon, dass Lauter dieses globale Thema »verstärkt« als Arbeitsrichtung für die DDR »festlegen« wolle. Der zusammenfassende Bericht zu Lauters Forschungsphilosophie dürfte im Wesentlichen aus Informationen Böhmes gewonnen worden sein; Knaut: »In diesem Zusammenhang machen Wissenschaftler auf die Tendenz aufmerksam, dass eine Orientierung auf globale Themen, die im Rahmen der KAPG bearbeitet werden sollen, eine Schwächung der Interkosmos-Kapazitäten der DDR bringen werde.« Komme es zu einer verstärkten Mitarbeit, müssten Bereiche wie Kühlungsborn  – zulasten der IK-Investitionen  – ausgebaut werden und Lauter würde auf seinen Spezialstrecken »doch noch an der ›weltweiten Kooperation‹ teilnehmen«. Knaut wusste, dass die KAPG mit der Bildung der Organisation »Interkosmos« gar eine »engere Zusammenarbeit erwartet« habe. »Durch die straffe Organisationsform im Rahmen« des Interkosmos-Programms sei »es jedoch nicht gelungen, eine Vermischung der Themenstellungen vorzunehmen.« Es gebe bereits Hinweise, wonach Lauter »in Umgehung der Interkosmos-Organisation Wege« suche, »um westlich orientierte Themenstellungen« mit DDR-Kapazitäten bearbeiten zu können. Lauter habe Ende 1971 auf einer Büro-Sitzung der KAPG vorgeschlagen, im März 1972 in Prag »über das GARP zu sprechen«. Knaut hielt fest, dass das eine Orientierung sei, über die kein Beschluss seitens der DDR vorliege.1436 Auf der KAPG-Sitzung am 10. März hatte ihr Vorsitzender, Horst Peschel, von einer Abstimmung mit Lauter gesprochen, »in deren Ergebnis es zu einer stärkeren Orientierung der KAPG auf Probleme der Kosmosforschung kommen« solle. Ausgerechnet der Direktor des Meteorologischen Dienstes, Böhme, habe darauf hingewiesen, »dass die Arbeiten der DDR auf dem Gebiet der Kosmosforschung im Rahmen der Organisation Interkosmos bearbeitet würden und eine Übernahme in die KAPG im Interesse der Vermeidung von Dopplungen falsch wäre«.1437 Nimmt man das Argument »Dopplungen« beiseite, bleibt eine grobe Verkennung seiner eigentlichen Aufgabe. Das was Lauter anstrebte, hätte er selbst anstreben müssen. Der Direktor des ZISTP, Wittbrodt, hatte Böhme zunächst zugestimmt, erlag jedoch »dem Druck der Diskussion«, er habe diesem »nicht standhalten« können und habe »letztlich einer engeren Zusammenarbeit« zugestimmt. Peschel legte dann fest, dass es noch 1972 zu gemeinsamen Sitzungen der KAPG und Interkosmos kommen müsse.1438 Im dazugehörigen Treffbericht stellte Knaut fest, dass außer Böhme »keiner der Teilnehmer […] gegen eine inhaltliche Orientierung der

1436 HA XVIII/5/3: Hintergründe zu einer Besprechung bei Lauter am 15.3.1972; ebd., Bl. 111–114, hier 111–113. 1437  Ebd., Bl. 113. 1438 Ebd.

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KAPG-Arbeit in Richtung Kosmosforschung« aufgetreten sei. »Nach Meinung des IM kennen die wenigsten die konkreten Organisationsformen der Arbeit der DDR auf dem Gebiet der Raumforschung und werden vorerst ohne Vorbehalte eine Orientierung auf dieses interessante Gebiet zustimmen.« Dabei war es Böhme, der von allen hier erwähnten Institutionen am wenigsten mit der Kosmosforschung resp. mit der Interkosmos-Zusammenarbeit zu tun gehabt hatte. Böhme als Gralshüter der Sicherheitsbestimmungen zu Interkosmos, es muss vielen wie ein Treppenwitz erschienen sein. Knaut hatte diese Haltung Böhmes konditioniert und ihm »als Ausdruck für die Entwicklung des politisch-operativen Bewertungsvermögens« ein Lob ausgesprochen.1439 Die HA XVIII/5 resümierte am 17. März aus der Warte des Leiters und Stellvertreters des Rates »Interkosmos«, Petrow und Werestschetin, die Interkosmos-Zusammenarbeit. Der Beitrag der DDR sei zwar anerkennenswert, es müsse aber eine zweite Phase eingeleitet werden.1440 Am 26. März erhielt das MfS von seinem IM »Rose« Hinweise zu Stiller, wonach der einmal mehr betont haben soll, dass die Forschungsbereiche (FoB) »völlig überflüssig« seien. Sie »seien lediglich dazu da, Anweisungen des Präsidenten der DAW weiterzugeben«.1441 Wir werden unten sehen, dass diese scheinbar belanglose Meinung Stillers von Bedeutung ist. Zum 31. März endete die Leitung des HHI durch Hans Wittbrodt, der auf Lauter im Mai 1970 gefolgt war. Nun begann die zweite Amtszeit Lauters als Leiter des HHI, sie endete im August 1976. Am 7. April beschwerte sich Böhme wortreich beim MfS, dass Lauter die Kontakte zu Alexandrow fortführe, ja verbessern wolle. Böhme hielt diesen Bereich für den seinen. Also habe er Lauter um eine Erklärung gebeten, »da er«, so Böhme, »ja die direkten Kontakte zu Alexandrow« unterhalte »und die Fragen der kosmischen Meteorologie in seinem Verantwortungsbereich« behandele. Lauter habe auf Stubenrauch verwiesen, mit dem das abgestimmt sei und außerdem betreffe es nicht sosehr Fragen der Meteorologie, sondern solche der Kosmischen Physik. Ferner gehe es um allgemeine interne Fragen der Beziehungen überhaupt zwischen der Akademie der DDR und dem Hydro-Meteorologischen Dienst der UdSSR. Böhme aber zeigte sich nicht zufrieden mit der Antwort, sodass Lauter ein Gespräch mit ihm vereinbaren musste, das für den 11. April anberaumt wurde. Böhme ist für dieses Gespräch mit folgenden Fragen, die er Lauter zu stellen hatte, vom MfS instruiert worden: »a) was deutet sich über den Hintergrund der Reise an; b) welche Fragen bezüglich der kosmischen Meteorologie sollen mit Alexandrow besprochen werden; 1439  HA XVIII/5/3 vom 28.3.1972: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 24.3.1972; ebd., Bl. 115–119, hier 115 f. 1440  Vgl. HA XVIII/5 vom 17.3.1972: Mitteilung über die Bewertung der Interkosmos-Zusammenarbeit durch sowjetische Wissenschaftler; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 126 f. 1441  BV Potsdam vom 26.3.1972: Bericht über Stiller; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 139.

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c) mit welcher Zielstellung will sich Lauter um ›interne Fragen‹ der Beziehungen in der SU kümmern«.1442 Am 17. April entwarf das Referat  3 der HA  XVIII/5 einen Arbeitsplan zur Organisation der operativen Bearbeitung Lauters in drei Etappen. Die 1. Etappe umfasste das Studium einschlägiger Dokumente aus den Bereichen Interkosmos, der U ­ RSI-Tagung in Lindau 1969, der IUCSTP-Tagung 1969 sowie der IUCSTPTagung 1972 in London »im Vergleich« mit einschlägigen Dokumenten der DDR über die Beteiligung an der Kosmos-Forschung für 1971 bis 1975. Man beachte, dass eine zeitliche Koinzidenz nur partiell gegeben war! Realisiert werden sollte diese Arbeit über die Anfertigung von »Fachgutachten in schriftlicher Form«. Folgende Inoffizielle Mitarbeiter sollten hierfür eingesetzt werden: »Hans« (Böhme), »Bernhard« (Hans-Joachim Fischer), »Pavel« (Pfau) und »Norbert«. Die zweite Etappe galt der qualitativen Explikation der ersten Etappe, geleistet von den genannten IM. Ein wesentliches Element in der Realisierung der drei Etappen bildete das Anlegen von »Dokumentationsmappen«, »die die notwendigen Materialien für die Erarbeitung von Gutachten enthalten« sollten. Die IM sollten diese »zur Einschätzung« bekommen.1443 Am 19. April fand das ursprünglich für den 11. April geplante Gespräch zwischen Böhme und Lauter statt. Es ging um die Frage der Kontakte Lauters zu Alexandrow. Im großen Ganzen erklärte Lauter ihm die Vielzahl von Projekten, die meist einen erheblichen Term in Bezug auf die internationale, globale Arbeit besaßen. Auch ging es Lauter um die Frage der »Festlegung komplexer Programme, die die Boden­programme der DDR beinhalten« würden. Lauter habe im Gespräch eine Bemerkung gemacht, die Böhme als Drohung aufgefasst haben will. Demnach sei die DAW für die Grundlagenforschung zuständig und nicht der Meteorologische Dienst.1444 Womit Lauter Recht hatte. Klotz* berichtete dem MfS am 19. Mai über die Haltung von Mitarbeitern des ZIPE zur Frage der Interkosmosverpflichtungen. Sie würden behaupten, dass man »nur einen Haufen Nachteile« habe. »Wo blieben eigentlich die Vorteile?« würden sie fragen. »Schockiert« seien sie diesbezüglich »durch die Aufzählung der Paragrafen des Strafgesetzbuches«; Klotz*: »Die Einschüchterung machte sich z. B. dadurch bemerkbar, dass viele Mitarbeiter, darunter auch [X], fragten, was nun eigentlich geheim sei und wie sie wüssten, was sie nun sagen dürfen und was nicht, bzw. mit welchen Personen sie sich austauschen dürfen«.1445 Eine Anekdote: Nach gut zwei Jahren intensivster Berichterstattung für das MfS testete offenbar Klotz* seinen 1442  HA XVIII/5/3 vom 12.4.1972: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 7.4.1972; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 121–124, hier 121 f. 1443  HA XVIII/5/3 vom 17.4.1972: Arbeitsplan zum Material »Lorenz«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 128–136, hier 129–131. 1444  HA XVIII/5/3 vom 24.4.1972: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 19.4.1972; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 127–132, hier 128 f. 1445 BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 19.5.1972; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 188.

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MfS-Gesprächspartner FIM »Gerlach«. Als der nämlich nach VVS- und GVSArbeiten zum Interkosmos-Programm fragte, wich Klotz* aus. »Er erklärte, dass er strenges Stillschweigen darüber bewahren müsse und deshalb auch zu uns nicht darüber berichten möchte, ohne eine gesonderte Genehmigung dafür zu haben«. Am Ende aber soll er faktisch eingewilligt haben, wobei »Gerlach« ihm alles aus der Nase ziehen musste.1446 In einem »Bericht über die Arbeitsergebnisse der DDR im Rahmen der Ständigen Arbeitsgruppe ›Kosmische Physik‹ seit der letzten Beratung in Prag im Juni 1971« vom 19. April konstatierte Wittbrodt, dass »die erfolgreiche Entwicklung der Interkosmos-Zusammenarbeit« weiter vorangeschritten sei. Hier hinein fiel auch das geglückte Experiment mit Vertikal-21447 im August 1971 sowie nach- und vorbereitende Datenanalysen erfolgter und künftiger Starts. Diese Aspekte sind in dem Bericht im Einzelnen detailliert dargestellt. Beispielsweise die »Auswertung von Messungen der sowjetischen zylindrischen Langmuirsonde an Bord des Satelliten Interkosmos 2« und die »aktive Beteiligung an den Arbeiten zum Thema I.5 (Variationen der Hochatmosphäre, die durch spontanes Auftreten der Sonnenaktivität hervorgerufen werden)«. Die Vertikal-Experimente waren erfolgreich, hervorgehoben wurden die gute Stabilisierung während des Fluges und die daraus resultierenden exakten Messdaten. Auch lagen im Berichtszeitraum Erkenntnisse zur DDR-Beteiligung an dem »laufenden ARKAD-Programm im Zusammenhang mit dem sowjetisch-französischen Satelliten OREOL« vor, hierzu existierten mindestens sieben Forschungskomplexe, wie das über ionosphärische A3-Beobachtungen vom LF- bis HF-Bereich auf Qi-Frequenzen in Kühlungsborn und Neustrelitz, ionosphärische Backscatter-Radar-Beobachtungen in Kühlungsborn, Ionosondenmessungen in Juliusruh und geomagnetische Beobachtungen in Niemegk. Der Bericht ist durchsetzt von Aktivitäten zu Experimenten mit Interkosmos-Satelliten (bis einschließlich Interkosmos 5). An dem letzten beteiligte sich Neustrelitz mit seiner Satellitenempfangstechnik. Für den Satelliten Interkosmos 3 wurde der Elektronikblock zum sowjetischen Röntgenpolarimeter SPR entwickelt. Und auf dem Gebiet der Theorie wurde der sowjetischen Seite »als Vorarbeit für die weitere theoretische Zusammenarbeit eine wissenschaftliche Studie über die Emission kohärenter und inkohärenter Radiowellen in kalten und warmen Magnetoplasmen und ihre Beziehung zu komplexen solaren Ausbrüchen übergeben«. Wittbrodts Bericht ist gespickt mit detaillierten Angaben von Forschungstätigkeiten und -Ergebnissen. Er schloss mit der Bemerkung, dass »für alle Welt« nun »sichtbar« geworden sei, »dass sich die Interkosmos-Zusammenarbeit im Berichtszeitraum erfolgreich weiterentwickelt und zu wesentlichen wissenschaftlichen Ergebnissen geführt« habe.1448 Hauptmerkmal 1446  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 11.9.1972; ebd., Bl. 269. 1447  Der Name »Vertikal« entspricht dem Bahnverlauf dieser Höhenrakete. 1448 Wittbrodt: Bericht über die Arbeitsergebnisse der DDR im Rahmen der Ständigen Arbeitsgruppe »Kosmische Physik« seit der letzten Beratung in Prag im Juni 1971 vom 19.4.1972; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 255, S. 1–9, hier 1 f., 4 u. 6–9.

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des Berichtes ist die enge, harmonische Symbiose zweier technischer Hauptsysteme der Kosmischen Physik, nämlich die Verschmelzung der klassischen bodengebundenen Messungen mit jenen, die über Raketen und Satelliten erzielt würden. Von einer Disharmonie oder Trennung beider Profile ist an keiner Stelle des Berichtes auch nur das geringste Anzeichen zu entdecken. Der GMS »Rose« berichtete dem MfS am 26. April von Verbindungen Lauters zur NVA. Lauter erhielt regelmäßig den Militärpolitischen Informationsdienst (MPID) und die Militärpolitischen Informationen (MPI). Den MPID erhielten innerhalb der NVA nur die Chefs der Verwaltungen und die Politstellvertreter. Das Material war als geheim eingestuft. Im Kontext seiner Mitgliedschaft im Beirat »Interkosmos« kam es zu Kontakten zur NVA, deren Vertreter in dem Gremium Beobachterstatus besaßen. Das MfS zeigte sich verärgert, als Lauter die Mitglieder des Beirates über die Beschwerde der Sowjetunion in Kenntnis setzte, wonach sie die Angebote der DDR für den Kosmos-Satelliten »AUOS« als unbefriedigend einschätzte. Lauter hatte in diesem Zusammenhang den NVA-Beobachter gefragt, »ob die NVA bestimmte Messmethoden« habe »oder Geräte, die auf dem neuen Typ eingesetzt werden« könnten, »um sie für die NVA zu überprüfen«. Er hielt es gar für »zweckmäßig, wenn der MD der DDR eine direkte Verbindung zur Infrarot-Aufklärung der Armee bekäme«. Was dem MfS missfiel, war eigentlich in der Sache positiv. Lauter band die NVA zu deren und zum Nutzen der Sowjetunion ein, inspirierte und informierte. Das hatte er auch auf der Beiratssitzung am 8. Februar getan: »Die NVA solle Meinungen, Überlegungen und Entwicklungstendenzen darlegen, die an das Interkosmos-Programm angeknüpft werden« könnten. Die NVA möge darlegen, »wie die Sensorentwicklung weitergehen soll, ob an Navigationsproblemen mittels Satelliten Interessen« bestünden. Speziell erfragte er die Interessen der NVA an der Stratosphärenphysik. Jedenfalls gebe es zurzeit noch keine entsprechende moderne Technik, strategisch sei die Verfolgung solcher Fragen aber notwendig. Der berichtende GMS aber monierte, dass er eigentlich hätte wissen müssen, »dass er nicht Fragen und Forderungen« zu stellen habe, »die vom Status der NVA-Vertreter« abwichen. Auch müsse ihm klar gewesen sein, dass »er bezüglich der prognostischen Entwicklung der NVA« mit keiner Antwort habe rechnen dürfen. »Die Gründe für das Verhalten Lauters« seien »unklar«. Der GMS empfahl, mit Lauter direkt ein Gespräch über diese Fragen zu führen. Das MfS wollte jedoch zunächst prüfen, inwieweit der GMS enger an Lauter herangeführt werden könne.1449 Eine Koordinierungsvereinbarung zwischen dem MfNV und der DAW vom 8. Januar 1969 aber zeigt, dass Lauter zumindest im Geiste dieser Vereinbarung gehandelt hatte. Denn diese diente »dem Ziel, Forschungskapazitäten im Bereich der DAW für die Schaffung eines langfristigen wissenschaftlich-technischen Vorlaufs zur Sicherung der Belange der Landesverteidigung einzusetzen«. Es sollte sogar die effektivste und schnellste Nutzung der erzielten wissenschaftlichen Ergebnisse 1449  HA XVIII/5/3 vom 28.4.1972: Bericht über Kenntnisse Lauters aus NVA-Periodika; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 76–80.

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erreicht werden.1450 Das Abkommen regelte die direkte und bindende Form der Zusammenarbeit. In diesem inhaltlichen Sinne handelte Lauter absolut regelkonform. Freilich erstreckte sich dieses Mandat nicht administrativ auf den Meteorologischen Dienst, wenngleich dieser in der Sache eine erhebliche Schnittmenge mit Belangen der AdW aufwies. Die HA  XVIII teilte der HA  I / MfNV/1 mit Schreiben vom 16. Mai 1972 mit, dass zwischen Lauter und Paul Verner – zu dieser Zeit war das Politbüromitglied auch Sekretär für Sicherheit – die Frage der Zusendung des MPID und des MPI besprochen worden sei. Die HA XVIII wünschte sich Zeugnisse und Einschätzungen zu beiden Periodika.1451 Wenig später gab es am 7. Juni hierzu einen Bericht: Im Beirat Interkosmos waren auch Vertreter der NVA als Beobachter kooptiert. Sie hatten lediglich die Aufgabe zuzuhören und mögliche Nutzaspekte aus ihrer Sicht zu registrieren. Eine direkte Mitwirkung gab es nicht in den Sitzungen. Ein IM will festgestellt haben, dass Lauter sehr aktiv auf diese Leute zuging. Zum einen erhielt er Einblick zu Problemen, »die auf Grundlage der Fragestellung auf das Kennenlernen echter Probleme der Landesverteidigung« hinzielten und »geheim zu halten« waren. Zum anderen animiere er sie »mit wissenschaftlichen Problemen und Zielstellungen«, die »bei einer positiven Bewertung seitens der NVA« dazu führen würde, von ihm selbst genutzt zu werden, um eigene »wissenschaftliche Aufgabenstellungen durchzusetzen«. Einen Nutzen für die NVA werde also von Lauter nur vorgetäuscht.1452 Tatsächlich trug der Berichterstatter erstaunlich viele Details zusammen, allerdings war die militärische Bedeutung der letztlich der Meteorologie dienenden Forschungen Lauters auch entsprechend hoch. Es lag in der Natur der Sache begründet, die NVA-Vertreter entsprechend zu kontaktieren. Am 3. August informierte die HA / Äußere Abwehr die HA XVIII, dass die MPI »keinen Geheimnisgrad« trage »und nicht nachweispflichtig« sei. Die Auf‌lage betrage 8 000 Stück. Dagegen diene der MPID »der internen Auswertung für die Kommandeure der Truppenteile und den Bezirksleitungen der SED (1. Sekretäre). Der MPID ist nachweispflichtig«. Die Informationen für beide Periodika würden »aus offenen Quellen der BRD« gewonnen.1453 Nachtrag: Lauter hatte Admiral Verner am 14. Januar 1972 um die Bereitstellung des Militärpolitischen Informationsdienstes (MPID) und die Militärpolitischen Informationen (MPI) für die DAW zwecks Auswertung der strategischen Grundtendenzen der Wissenschaftspolitik der Bundesrepublik und anderer NATO-Staaten gebeten. Am 3. August wurde die HA  XVIII informiert, dass die MPI »keinen Geheimnisgrad« trage »und nicht nachweispflichtig« sei. Die Auflage betrage 8 000 Stück. Dagegen diene der MPID »der internen Auswertung für die Kommandeure 1450  Koordinierungsvereinbarung zwischen dem Mf NV und der DAW zu Berlin vom 1.8.1969; ebd., Bl. 86–91. 1451  Vgl. HA XVIII an HA I / M f NV/1 vom 16.5.1972; ebd., Bl. 85. 1452  HA XVIII/5, Abschrift vom 7.6.1972: Probleme und Tendenzen in den Beziehungen zwischen Vertretern der NVA und Lauter im Wissenschaftlichen Beirat Interkosmos; ebd., Bl. 72–75, hier 73. 1453  HA I, Äußere Abwehr, an HA XVIII vom 3.8.1972: Zum MPID und MPI; ebd., Bl. 81.

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der Truppenteile und den Bezirksleitungen der SED (1. Sekretäre). Der MPID ist nachweispflichtig.« Die Informationen für die beiden Periodika würden »aus offenen Quellen der BRD« gewonnen.1454 Verner hatte Lauter am 8. Februar zustimmend geantwortet und informiert, dass der MPI nachweispflichtig sei.1455 Hans-Joachim Fischer berichtete am 9. Mai zu Fragen der Direktive bezüglich der XVI. COSPAR-Konferenz. Beim Generalsekretär der AdW, Lauter, waren am 4. Mai er und Stiller anwesend. Der ebenfalls geladene OibE Horst Fischer vom MWT erschien nicht. Zwar ging es um eine Zusatzdirektive für die Teilnahme an der Konferenz, doch im Grunde genommen drehte sich alles um die internationale und derzeitige Position Lauters. Man spekulierte auch über die Möglichkeit, ihn quasi abzuschieben, »in die UNO-Vertretung wählen« zu »lassen«.1456 Vom 10. bis 25. Mai 1972 fand in Spanien eine COSPAR-Tagung statt, an der auch Klotz* teilnehmen sollte. Im Mai 1971 war er in Seatle / USA nicht mehr in die Working Group I berufen worden. In Madrid sollte dies korrigiert werden.1457 Darüber hatte er dem MfS am 26. Oktober 1971 berichtet. Er betonte, dass Wagner sich ihm gegenüber reserviert verhalten habe, »sodass des Öfteren peinliche Pausen entstanden« seien. Wagner lege keinen Wert auf seine Bekanntschaft, er habe kein Vertrauen.1458 Hatte der von Lauter einen Tipp bekommen? Am 7. Dezember 1971 berichtete Klotz* noch einmal von seinem Ausschluss aus der Working-Group I. Er hatte demnach Lauter gebeten, »die Mitgliedschaft nachträglich zu beantragen«. Von Wagner erhalte er keine Hinweise, das sei zwecklos. Er könne auch über fachliche Arbeiten nicht mit Wagner reden, da dies die Geheimhaltungsvorschriften verletze.1459 Lauter soll zugesagt haben, sich im Mai 1972 in Madrid einzusetzen, dass er wieder in die Working-Group I kooptiert werde.1460 Doch dies blieb aus, seine Teilnahme an der COSPAR-Tagung in Madrid 1972 wurde nicht bestätigt, der Negativbescheid kam von der Auslandsabteilung.1461 Aber es war Lauter, der ihn gestrichen hatte.1462 Lauter hatte auf dem Weg zur COSPAR-Tagung in Madrid einmal mehr den Tross der Delegation zugunsten eines siebenstündigen Zwischenaufenthaltes in Paris verlassen. Das sorgte innerhalb der Delegation für Gesprächsstoff. Der Lauter mache dies eben, hieß es, er ändere »vor Antritt seiner Reisen in der Regel mehrfach die Abreisetermine«.1463 Diese Verwirrungstaktik ähnelte der im Falle Hartmanns 1454  Schreiben von Lauter an Verner vom 14.1.1972; ebd., Bl. 82. 1455  Vgl. Schreiben von Verner an Lauter vom 8.2.1972; ebd., Bl. 83. 1456  Bericht von »Bernhard« am 9.5.1972; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 4, Bl. 15–18. 1457  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 13.5.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 180. 1458  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 26.10.1971; ebd., Bl. 191 f. 1459  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 7.12.1971; ebd., Bl. 199. 1460  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 19.1.1972; ebd., Bl. 201. 1461  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 14.3.1972; ebd., Bl. 205. 1462  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 26.5.1972; ebd., Bl. 222–226, hier 224. 1463  HA XVIII/5/3 vom 9.6.1972; BStU, MfS, AIM  11101/87, Teil  II, Bd. 2, Bl. 136–145, hier 136.

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verblüffend (siehe S. 477). »Die Auslandsabteilung der DAW soll deshalb schon sehr nervös sein.« In Madrid habe er wieder dasselbe Verfahren gewählt und sich »für die Rückreise mehrere OK-Buchungen für verschiedene Abreisetermine« organisiert. Kurzfristig ändere er dann die verschiedenen Buchungen noch einmal. In Madrid legte Lauter am 12. Mai »gegenüber Alexandrow seine Vorstellungen« dar. Seine Philosophie bestand darin, die Probleme der Physik und der Meteorologie der Hochatmosphäre perspektivisch »komplex zu bearbeiten«, auch unter Einsatz von durch die Sowjetunion bereitzustellende Höhenraketen. Am Abend des 15. Mai führte Lauter in seinem Zimmer eine Delegationsbesprechung durch. Sein Ziel war es, die Teilnehmer zu einer einheitlichen Abfassung der Reiseberichte zu vergattern. Nicht um der SED einen Gefallen zu tun, sondern um zu verhindern, dass Querschüsse zu seiner Forschungsphilosophie in die Hände der SED resp. des MfS fielen. Die zentrale Botschaft von Lauter in der Wiedergabe Böhmes lautete: »Es komme darauf an, die Notwendigkeit der Verbindung Interkosmos-COSPAR auch in der Perspektive nachzuweisen.« Niemand aus dem Kreis dürfe »aus diesen Festlegungen ausbrechen«. Am 21. Mai führte Lauter eine weitere Besprechung durch, deren Ziel offenbar darin bestand, die Delegaten auf die Forschungsstrategie der IUCSTP zu verpflichten, deren Kommission im März 1972 in London festgelegt hatte, die Probleme der Evaluation der Erforschung der Stratosphäre und Mesosphäre voranzutreiben. Er habe hierzu bereits Expertenmeinungen eingeholt. Nicht zuletzt von Alexandrow, der »im Wesentlichen die Vorstellungen der IUCSTP als richtig qualifiziert« habe. Er habe dies von Alexandrow schriftlich bekommen, damit wolle er gegenüber Weiz auftreten. Böhme teilte mit, dass sich die »Mitglieder der DDR-Delegation« deutlich »gegen eine solche Handlungsweise« ausgesprochen hätten, auch »warnten« sie Lauter »davor, Aussagen für die IUSTP als wissenschaftliche Zielstellungen für Interkosmos zu qualifizieren.« Lauter aber soll von seiner Linie nicht abgegangen sein. Dies, so Böhme, stehe im Widerspruch zu den Beschlüssen der Regierung, Interkosmos stärker von den traditionellen Forschungsrichtungen zu trennen. An diesem Tag traf Lauter mit Harro Zimmer (siehe unten) zusammen, mit dem er ein Gespräch führte; Böhme: »Zimmer war insgesamt sehr aktiv. Er kreuzte des Öfteren den Weg von Mitgliedern der DDR-Delegation. Er zeigte Bilder, die er bei einem Besuch im Institut von Hachenberg gemacht hatte.«1464 Das Chaos in der Umstrukturierung der Akademieinstitute und in Sonderheit in den Bereichen des ZIPE hielt indes unvermindert an. Dies betraf nahezu alle Personen, Strukturen, Ressourcen, Kennziffern, Bestimmungen und Planauflagen im Großen wie im Kleinen. Wie etwa hinsichtlich zweier Planstellen, die wegen der Interkosmos-Einbindung nun einem höheren »Schutzgrad« zu genügen hatten. Zum einen musste ein Mitarbeiter für die Poststelle, zum anderen ein Mitarbeiter für das Personalbüro gewonnen werden. Stiller hatte im Bereich der Sternwarte Babelsberg unter Ruben in Überschreitung des Stellenplannormativs zwei Stellen bestätigt. Ruben und Treder waren übergangen worden. Ruben sah sich mithin 1464  Ebd., Bl. 136–138, 140 u. 142.

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gezwungen, eine schriftliche Erklärung abzugeben, um darauf zu verweisen, dass Planstellen staatliche Vorgaben seien, die »nicht durch Anweisung des Leiters des Forschungsbereichs überschritten werden dürfen«. Treder erhielt dieses Schreiben und teilte mit, dass auch er nicht informiert worden sei. Stiller (IM) hatte dies in Abwesenheit Treders mit Max Becker (IM) und Günter Pätzold (IM) »gedeichselt«. Die zwei Mitarbeiter seien bereits eingestellt worden.1465 Am 25. Mai berichtete Schult, dass ihm ein Mitarbeiter des wissenschaftlichen Sekretariats (WS) des Präsidenten der DAW erzählt habe, dass Rahnsdorf sich nun mit der Silikatforschung befassen werde, die Mitarbeiter dort seien unzufrieden und eigentlich passe Rahnsdorf als Geräteentwickler eher ins ZISTP. In einem Gespräch mit Wittbrodt soll diese Idee bereits erörtert worden sein, doch sei dies »auf energischen Widerstand von Lauter gestoßen«. Zimmermann habe Lauter unterstützt, indem er für den wissenschaftlichen, nicht aber den technischen Ausbau des Institutes plädiert habe.1466 Die Kampfansage Ein Schlüsseldokument stellt der Bericht von Pätzold alias IM »Kosmos« vom 2. Juni 1972 dar. Stiller hatte ihn am 1. Juni von der »Unterzeichnung des Vertrages zwischen der DDR und der UdSSR über das Interkosmos-Programm« unterrichtet. Am selben Tag ist dem ZIPE Mondgestein übergeben worden. Im Anschluss an diese Übergabeveranstaltung habe es ein Gespräch zwischen Treder, Stiller und Lauter gegeben. Lauter und Treder hätten zu verstehen gegeben, »alles zu unternehmen, was zur Verhinderung des Vertrages möglich sei. Den Vertrag bezeichneten sie als Utopie und überheblich, der von der DAW nie realisiert werden könne. Gleichzeitig kündigten sie Professor Stiller an, sie würden gegen ihn vorgehen, bis er oder sie auf der Strecke bleiben würden. Lauter und Treder waren am Vormittag bei Minister Weiz um den Vertrag anzufechten. Weiz soll sie aber abgewiesen haben.« Sie sähen sich fortan durch »die inhaltliche Gestaltung des neuen Interkosmosvertrages« in ihren Kompetenzbereichen beschnitten. »Den Kampf mit allen Mitteln« wolle Lauter »auch gegen alle anderen führen, die dieses Programm unterstützen.« Pätzold weiter: »Weiterhin würde Lauter den Angriff gegen alle Forschungsvorhaben, die mit den Datensatelliten zusammenhängen, betreiben.« Ferner wolle Lauter am 2. Juni »mit dem Präsidenten sprechen, um die Teilung des HHI und Angliederung der Abteilung Schmelovsky an das ZIPE zu beraten. Diese Truppe aus dem HHI würde« er »gern abgeben, da sie Verbindungen habe zum MfS, die ihn nur ruinieren würde.« 1465  BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Astronom« am 19.6.1972; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 172. 1466  HA XVIII/5 vom 30.5.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 25.5.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 71–73, hier 71 f. »Mir war auch immer klar, dass er ein ausgebildeter und praktisch erprobter Meteorologe war, dessen ›Höhengrenze‹ unter 100 km in den untersten Atmosphärenschichten lag.« Zimmermann an den Verf. am 27.3.2019.

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Er wolle »mit dem Rest des HHI ein globales Programm durchführen, welches eng mit der NASA verbunden« sei.1467 Die Teilung des ZISTP (HHI) rückte indes näher, ein Bericht von Schult vom 7. Juni zeigt, dass Lauter, den es zutiefst betraf, »nur sehr unvollständig über die Aufteilung informiert« war und wurde. Da dies so war, hatte er versucht, Treder Genaueres zu entlocken, der jedoch soll ihm gesagt haben, »dass dies alles schon mit Klare abgesprochen sei« und er »angenommen« habe, dass Klare ihn »darüber informiert« habe. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass die Konzeption der Teilung von Treder, Hans-Joachim Fischer und Karl-Heinz Schmidt1468 stamme. Treder schien gar das Zepter in der Hand zu halten, der nämlich instruierte am 2. Juni Schmidt und Fischer, »dass er von Klare den Auftrag« bekommen habe, »sich unmittelbar um das ZISTP zu kümmern und er jetzt alle Belange des Institutes selbst begutachtet und entscheidet«. Gegenwärtig sehe es so aus, dass aus dem Bereich IV und den Mitarbeitern am PM-System ein selbstständiges Institut werde, der Rest des Bereiches V und die Bereiche I, II und III würden unter Lauter weiterhin solarterres­trische Physik betreiben. Für die beratende Sitzung am 13. Juni zur Teilungsfrage lud Treder Schmelovsky, Wittbrodt, Schult, Fischer und Schmidt ein. Der Parteisekretär und der BGL-Vorsitzende wurden nicht eingeladen. Schult urteilte gegenüber dem MfS, dass die »gesamten Strukturfragen« bereits »in der Leitung der DAW« vorab »festgelegt« worden seien, »wobei vermutlich Lauter aus den Vorgesprächen ausgeschaltet« worden sei. Er wisse auch, dass sich Schmelovsky, Kempe und Fischer gegen eine Arbeit unter Lauter ausgesprochen hätten. Bemerkenswert hinsichtlich der nahen Zukunft war, dass Schmelovsky sich möglicherweise verrannt hatte. Jedenfalls hatte Schult den Eindruck, »dass man mit dieser Struktur Schmelovsky mit seinen Mitarbeitern isolieren« wolle, »was zum Ergebnis« führe, »dass er nach einiger Zeit nicht mehr arbeitsfähig« sein werde.1469 Tatsächlich sollte sich seine Prophezeiung bewahrheiten. Am 8. Juni denunzierte Böhme in schriftlicher Form Lauter mittels eines Briefes an das »Ministerium für Staatssicherheit, Berlin, Normannenstraße« – obgleich er es als IM quasi gegenüber seinem Führungsoffizier hätte tun können. Erschien ihm die Durchschlagskraft über seinen Führungsoffizier als zu gering? Oder war es gar mit ihm abgestimmt? Das Schreiben erinnert an jenes von Hanisch (siehe S. 567). Böhmes Schreiben begann: »Ich erlaube mir, Sie von einem Sachverhalt in Kenntnis zu setzen, der das Auftreten des derzeitigen Generalsekretärs der DAW, Professor E. A.  Lauter betrifft.« Im Rahmen von Lauters Aufgaben, die Böhme einleitend 1467  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 2.6.1972: Bericht zum Treffen mit »Kosmos« am 2.6.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 197 f. 1468  Es ist wenig wahrscheinlich, dass es sich um den ehemaligen Leiter des Büros für gesamtdeutsche und Auslandsbeziehungen handelte, wenngleich möglich. Karl-Heinz Schmidt (1932– 2005), Astrophysiker und Direktor des ZIAP von 1982–1990, der zu dieser Zeit in Jena beschäftigt war, scheidet aus, zumal der Betreffende als Verwaltungsleiter auserkoren oder bereits tätig war. 1469  HA XVIII/5 vom 7.6.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 7.6.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 77–79.

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skizzierte und die fachliche Berührungspunkte zu seinem eigenen Aufgabenbereich hatten (etwa die Forschungen im Rahmen der kosmischen Meteorologie), müsse er, Böhme, mitteilen, dass es in der Erfüllung der Pflichten und Weisungen von Partei und Regierung zu einer »Gegenläufigkeit« gekommen sei, die er »nicht vertreten« könne. Er erinnerte, dass sich zur Visaabholung anlässlich der COSPAR-Tagung in Madrid Lauter, Böhme, Knuth und Wagner in Westberlin getroffen hätten. Bei dieser Gelegenheit habe Lauter »Bemerkungen« gemacht, »denen zu entnehmen« gewesen sei, »dass er kurz vor diesem Gespräch ein Zusammentreffen mit dem Stellvertreter des Ministerpräsidenten«, Weiz, gehabt hatte. Böhme: »Wie ich weiterhin den Bemerkungen von Professor Lauter entnehmen konnte, beauflagte Gen[osse] Dr. Weiz Professor Lauter im Gespräch unter anderem damit, eine stärkere Trennung zwischen COSPAR und Interkosmos vorzunehmen. – Ich interpretiere das Anliegen der Regierung der DDR so, dass es darum geht, eindeutige Prioritäten festzulegen und zu sichern, dass die vertraglichen Vereinbarungen der Interkosmos-Arbeit gegenüber der UdSSR und den anderen beteiligten Ländern maximal erfüllt werden, ohne eine völlige Isolierung von solchen internationalen Organisationen wie z. B. COSPAR vorzunehmen, die für die Verfolgung des internationalen Trends von Bedeutung sind. Offenbar schätzt Professor Lauter diese Angelegenheit nicht in dieser Form ein, da er einseitig auf die weitere Verbindung zwischen C ­ OSPAR und Interkosmos orientiert. Es trat in diesem Zusammenhang eine gewisse Tendenz bei Professor Lauter auf, die darauf hinausläuft, ein Einschalten staatlicher Stellen in Probleme der Wissenschaft als unzweckmäßig zu qualifizieren. Zur Begründung seiner Haltung verwies Professor Lauter auf die mangelhaften Ergebnisse der DDR-Wissenschaftler, die im Vereinigten Kernforschungsinstitut Dubna tätig sind. Seiner Meinung nach fehlt dort eine langfristige Konzeption, die nur von Wissenschaftlern ausgearbeitet werden kann. – Ich sehe in dieser Haltung eine gewisse Überschätzung der Rolle der Wissenschaftler in der sozialistischen Gesellschaft, sowie ein Ausweichen vor der Verantwortung gegenüber maßgeblichen staatlichen Stellen.«1470 Böhme erscheint hier als modernes Gegenstück zum Ethos des bürgerlichen Wissenschaftlers, den vorgezeichneten, ja gar vorgeahnten Linien des Staates (der SED) gleichsam mimetisch zu folgen und nicht den Gesetzen des Fachs. Böhme meinte zu wissen, dass sich Lauters Haltung auch in Madrid manifestiert habe. Der habe ein Gespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Interkosmos-Rates der Sowjetunion, Nikolai Nowikow, geführt, das auch das Verhältnis von Interkosmos zu westlichen Organisationen beinhaltet habe. Nowikow soll festgestellt haben, dass die »Sowjetunion eine stärkere Verschmelzung zwischen IK und COSPAR« anstrebe. Lauter habe angedeutet, »dass er sich auf der gleichen Position befindet und damit im Gegensatz zur Meinung staatlicher Stellen in der DDR«. Auf der Delegationsbesprechung am 21. Mai hatte Lauter von einem Auftrag der IUCSTP berichtet, der darin bestand, »Expertenmeinungen zum Programm ›Erforschung 1470  Schreiben von Böhme an das MfS vom 8.6.1972; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil I, 1 Bd., Bl. 90–92, hier 90 f.

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der Stratosphäre und Mesosphäre‹ einzuholen«. U. a habe ihm auch Alexandrow, verantwortlich für die Kosmische Meteorologie der Sowjetunion, geschrieben. Der habe die IUCSTP-Themen »positiv bewertet«. Lauter habe hervorgehoben, »dass dieser Brief ein konkretes Dokument« sei, »das er als Vorstellungen der UdSSR für die inhaltliche Gestaltung der Interkosmos-Arbeit« auffasse. Dies werde er auch gegenüber Weiz so aufzeigen. Böhme weiter: »In diesem Sachverhalt wurde eine beabsichtigte Fehlinformation verantwortlicher Regierungsstellen der DDR deutlich, sodass die Delegation gegen eine solche Auslegung des Briefes auftrat.« Lauter habe sich jedoch nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. Böhme schloss: »Ich halte die Handlungsweise Professor Lauters insbesondere deshalb für unwürdig, da Berichte des Generalsekretärs der DAW zu bestimmten Sachverhalten im Bereich der Wissenschaft dazu angetan sein müssen, die Wissenschaftspolitik der Partei konstruktiv zu unterstützen und nicht, wie in den genannten Fällen, sie zu desinformieren.«1471 Böhme wählte nicht den dienstlichen Weg, nicht den Weg der Partei, nicht den Weg über seinen Führungsoffizier und auch nicht den Weg des wissenschaftlichen Meinungsstreites, sondern den Weg der direkten Denunziation. Eine solche Haltung honorierte das MfS. 1974 wird er die Verdienstmedaille der NVA in Gold erhalten.1472 Ein zweiter Plan des MfS zur operativen Bearbeitung Lauters hinsichtlich seiner wissenschaftspolitischen Positionen stammt vom 8. Juni, er galt für den »Realisierungszeitraum« bis zum 30. September. U. a. sollte der Nachweis erbracht werden, dass Lauter in »Umgehung bzw. Negierung staatlicher Weisungen und Auflagen« die westlichen Orientierungen durchgesetzt und diese in den Ministerratsbeschluss vom 20. Januar 1971 lanciert habe. Hierzu sollten sämtliche Fassungen des Ministerratsbeschlusses studiert werden. Dabei sollte versucht werden, Bestandteile des Einflusses Lauters gleichsam herauszudestillieren. Auch der Nutzen der Lauter’schen Politik einer geophysikalischen Orientierung für die Volkswirtschaft sollte evaluiert werden. Dies sollte Böhme realisieren. Ferner sollte der Nachweis darüber erbracht werden, dass diese Orientierung gleichsam die Interkosmos-Kooperation für den Zeitraum 1972 bis 1980 »durchsetzt« habe. Schlussendlich sollten die Verdachtsmomente weiterentwickelt werden. Ein Element der vielfältigen operativen Methoden sollte auch der Einsatz sogenannter Spielmaterialen (fingierte Dokumente zu allfälligen Zwecken) sein.1473 Der Staatssekretär im MWT, Klaus Stubenrauch, informierte am 9. Juni schriftlich »über die Tagung der Vorsitzenden der nationalen Koordinierungsorgane der sozialistischen Länder im Rahmen des Interkosmos-Programms in Budapest vom 1471  Ebd., Bl. 91 f. 1472  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 4.11.1974: Auszeichnungsvorschlag; ebd., Bl. 95 f. Ist realisiert worden. 1473  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 8.6.1972: Bearbeitungsplan zum Material »Lorenz«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 137–145.

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5. bis 9. Juni 1972«. Die Grundlage des Auftretens der DDR-Delegation bildete demnach eine von Weiz und Günter Prey bestätigte Direktive. Voran ging eine Abstimmung mit dem sowjetischen Vorsitzenden des Rates Interkosmos, Boris N. Petrow. Er soll die Absprachen im Mai in Moskau gewürdigt haben, die eine erweiterte Beteiligung am Interkosmos-Programm zum Inhalt hatten. Er habe betont, rechtzeitig die Ausrüstungen der AUOS-Satelliten zu besprechen. Auf dem Plenum war u. a. über den Anteil und die Art der Beteiligung der Mitgliedsländer an den Ausrüstungen der AUOS-Satelliten diskutiert worden. Im Oktober werde hierzu eine »Expertenberatung« stattfinden. Es würden Daten und Parameter bekanntgegeben werden, die dann Grundlage für die weitere Positionierung der Länder seien. Im Februar solle der jeweilige Anteil der Mitgliedsländer feststehen. Petrow habe »nachhaltig die Bedeutung von gleichzeitigen boden- und bordgebundenen Experimenten zu den bestätigten Programmen der Sonnen- und Magnetosphärenphysik« betont. In einem wesentlichen Punkt widersprach er jener Interpretation der DDR und gab der Philosophie Lauters direkt Schützenhilfe: Die »umfangreichen Observatoriumsprogramme der Teilnehmerländer« sollten »künftig nicht mehr über den Rat Interkosmos, sondern wie früher im Rahmen der Akademievereinbarungen« koordiniert werden, »um auch die nicht unmittelbar am Interkosmos-Programm beteiligten Institutionen einzubeziehen«. Der Rat Interkosmos würde lediglich die aktiven und passiven Raketen- und Satellitenexperimente koordinieren.1474 Ferner habe es auf Vorschlag der Arbeitsgruppe »Kosmische Physik« im Plenum eine Diskussion gegeben, die das Ziel »der Abgrenzung von Forschungsgebieten« verfolgt habe, »die bisher im Rahmen dieser Arbeitsgruppe behandelt« worden seien. Das bezog sich auf Forschungen zur Sonnenphysik und zum Sonnensystem, »die auf der Grundlage von bodengebundenen Untersuchungen durchgeführt« würden. Petrow argumentierte dahingehend richtungsweisend, dass »eine Ausgliederung entsprechender Forschungsgebiete aus dem Programm Interkosmos durchzuführen« notwendig sei, entsprechend wurde »entschieden«. Lauter soll hierzu »konstruktive Bemerkungen« gemacht haben, »wie diese Probleme in die Kommission für Geophysik der multilateralen Zusammenarbeit der Akademien sozialistischer Länder überführt werden können«. Insgesamt stand die Zusammenkunft im Zeichen der Erweiterung der Kooperation und zeitigte bereits erste Ergebnisse: Vorbereitung des Regierungsabkommens »INTERSPUTNIK« (kosmische Nachrichtentechnik); Gründung der Sektion Informationsverarbeitung im Rahmen Interkosmos (vereinheitlichte Datenverarbeitung auf Basis des Einheitliches System der elektronischen Rechentechnik, ESER) sowie die Absicht der Herausgabe eines Bulletins, das über das Interkosmos-Programm informieren solle.1475 Stubenrauch sprach sich für »eine 1474 MWT, Staatssekretär Stubenrauch, vom 9.6.1972: Information über die Tagung der Vorsitzenden der nationalen Koordinierungsorgane der sozialistischen Länder im Rahmen des Interkosmos-Programms in Budapest vom 5.–9.6.1972; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 344, S. 1–5, hier 2 f. 1475  Ebd., S. 3 f.

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mögliche Erweiterung der DDR-Beteiligung an der Erforschung und friedlichen Nutzung des kosmischen Raumes« aus. Demnach sei für die DDR hinsichtlich einer Erweiterung ihrer Beteiligung in Betracht gekommen: »1. Die Erforschung der Erde und der Umwelt vom Kosmos aus.« Hierzu seien »auch Vorstellungen für die Schaffung eines experimentellen Datensammelsystems mithilfe von Satelliten sowie die Entwicklung von Apparaturen und Methoden für die Erforschung der Bodenressourcen erörtert« worden, ferner Methoden der Datenkompression, seis­mische Forschungen und gravimetrische Forschungen. Auch verhandele man über eine Übergabe von Mondproben, die Luna 16 einsammelte und zur Erde transportiert habe, an die DDR. Stubenrauch hatte zugesichert, dass »nach eingehender Prüfung unserer Möglichkeiten« der »Umfang der DDR-Beteiligung an der Bearbeitung dieser Gebiete durch einen Beschluss der Regierung der DDR festgelegt werden« würde.1476 Stubenrauchs Interpretation war zumindest auf seiner staatlichen Ebene Konsens, sie war zudem logisch, ökonomisch und fachwissenschaftlich korrekt. Seine Rede machte deutlich, dass Lauters Ansichten nicht exklusiv waren. Petrow hatte sich am 7. Juni – neben der Darstellung der acht rein sowjetischen Projektkomplexe – klar zur Kooperation »mit anderen Staaten« bekannt und hierbei Indien, Frankreich, die europäische Organisation ESRO und auch die USA (auf acht Gebieten) genannt. Er soll der Auffassung gewesen sein, dass die »Zusammenarbeit der UdSSR mit den anderen Staaten« dazu angetan sei, »die Bedeutung der Zusammenarbeit im Rahmen Interkosmos, die künftig weiter verstärkt werden« müsse, zu erhöhen.1477 Klotz* berichtete dem MfS am 12. Juni über die Akademiereform. Er verarbeitete hierin Informationen, die er von Stiller erhalten hatte. Demnach sei »ein wesentliches Merkmal der Akademiereform […] die Ausrichtung der Forschungsthemen auf bestimmte nutzbringende Zweige und Probleme der Volkswirtschaft«. In den ersten Jahren habe »es einige Überspitzungen« gegeben, weil die Akademieforschung »auf ›Tagesfragen‹ ausgerichtet« worden sei, wodurch die Grundlagenforschung vernachlässigt worden sei. Mit der Übergabe eines halben Gramms Mondgestein an das ZIPE werde nun aber »ein anderes Extrem gesucht«, »nämlich die Forschung weit wegzubringen von der Anwendung und sie auf Gebiete zu konzentrieren, die eventuell in 100 Jahren bedeutungsvoll sein können […] Wenn vor einem knappen halben Jahr jemand im ZIPE die Forderung gestellt hätte, Mondgestein zu untersuchen, so wäre er als Geisteskranker eingeliefert worden.« Es werde gemunkelt, dass die Interkosmos-Forschung mehr erdbezogen profiliert werden solle. Damit erhielte das ZIPE die Funktion als Leitinstitut. Gerhard Montag, stellvertretender Minister des MWT, der an der Interkosmostagung in Budapest teilnahm, hatte jedenfalls die 1476  Rede von Stubenrauch auf der Tagung der Vorsitzenden der Nationalen Koordinierungskomitees »Interkosmos« (o. D.); ebd., S. 1 f. 1477  Petrow: Information über die grundlegenden kosmischen Experimente im Rahmen des nationalen Programms der UdSSR sowie in Zusammenarbeit mit anderen Staaten am 7.6.1972; ebd., S. 1–3, hier 3.

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Order, »keine Programme anzunehmen, die über 1975« hinausgingen. »Vermutlich« werde dann Stiller Lauter »ablösen«.1478 Ob die Sitzung am 13. Juni stattfand, ist nicht sicher, jedenfalls fand sie vor dem 20. Juni statt. Aus einem Bericht von Schult am 20. Juni geht hervor, wie unsicher und subjektiv die Frage der Institutsteilung diskutiert worden ist. Treder habe die Sitzung, die in Lauters Arbeitszimmer stattfand, mit einer zwanzigminütigen Rede eröffnet, sein Tenor: der Forschungsbereich (FoB) sei eine »geistige Einheit«, in der alle Zentralinstitute Leitinstitute auf ihrem jeweiligen Fachgebiet darstellten. Im ZISTP habe »sich eine neue wissenschaftliche Grundlage für den kosmischen Gerätebau herausentwickelt, welche über den Rahmen der kosmischen Physik hinaus geht. Hieraus ist sachlich die Entscheidung zur Bildung einer vollkommen selbstständigen Einheit entstanden. Es ist daraus eine Forschungsstelle zu entwickeln. Es gibt damit im FoB das Zusammenspiel der drei Zentralinstitute (ZI) mit der Forschungsstelle.« Für diese Forschungsstelle sollte ein wissenschaftlicher Beirat gebildet werden, bestehend aus circa zwölf bis 15  Mitgliedern, die aus den Mitarbeitern der drei ZI rekrutiert werden sollten. Aus dem ZISTP würden für die zu gründende Forschungsstelle alle Informationsphysiker ausgegliedert werden. Alle bestehenden Forschungsarbeiten sollten dessen ungeachtet zu Ende geführt werden. »Es dürfen bei keinem Programm des jetzigen ZISTP am Programm Abstriche gemacht werden.« Was aus dem ZISTP weiterhin herauszugliedern sei, müsse noch fixiert werden. Kernstück der neuen Forschungsstelle sei der Bereich IV des ZISTP. Soweit die Wiedergabe der Kernaussagen Treders, die Schult wie folgt ergänzte: »Die Teilung des Institutes war eine beschlossene Sache, über die nicht mehr diskutiert wurde, man gab auch keinem die Gelegenheit darüber zu diskutieren.« Dann folgt der vielsagende Satz: »In der Vorbesprechung zu dieser Beratung hatte Treder dargelegt, dass die Teilung ein Auftrag ist, der nicht von der DAW kommt, sondern von außen.«1479 Wenn aber das »von außen«, das ZK, Stoph oder das MWT gewesen wäre, hätte er es nicht nur sagen dürfen, dann wäre es zudem auch eine probate Legitimation gewesen. War das »von außen« also das MfS? Welche Betonung mag er in die beiden Worte »von außen« gelegt haben? Ein generelles Mandat jedenfalls besaß das MfS durchaus hierzu, nämlich seine Entscheidungshoheit in und zu Sicherheitsfragen. War die Trennung ein Handstreich? Zimmermann hatte Klemm gebeten, zur Teilung etwas zu sagen. Klemm aber, der Parteisekretär der Akademie, kam nicht! Also war es auch nicht die SED? Treder soll gegenüber Schult und Schmidt gesagt haben, dass es zur Teilung einen Beschluss der SED gebe und dass alles mit der HA AK abgesprochen sei. Klemm aber war, wie wir oben festgestellt haben, eher gegen eine Trennung. »Die Partei« klingt hier wie eine blasse Legitimation, dass 1478  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 12.6.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 236. 1479  HA XVIII/5 vom 20.6.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 20.6.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 82–87, hier 82 f.

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Treder jedoch die HA AK erwähnte, mag wie ein Mundknebel gewirkt haben: jeder wusste, dass das die Sicherheitsabteilung mit Verbindungen zum MfS war. Keiner aber wusste, dass es praktisch eine Außenstelle des MfS war, ausschließlich besetzt mit OibE und IM.1480 Nach Treder sprach Lauter, er soll höflich ums Wort gebeten und sinngemäß gesagt haben: »Man muss jetzt sehr sachlich alle nächsten Schritte überlegen. Es müssen alle Grundfragen beraten werden, die die IK-Arbeit betreffen, denn alles hat sich bisher aus der solar-terrestrischen Physik entwickelt. Die Zielfunktion muss sein: Auf ausgewählten Gebieten mit der UdSSR an der vordersten Front zu arbeiten. Es hat sich ein hochqualifiziertes Kollektiv für Informationselektronik im Institut entwickelt, welches große Leistungen vollbracht hat und auch vom Staat entsprechend dafür geehrt wurde. Er habe sich bisher nicht in die Belange des Institutes eingemischt und hat es mit Genugtuung beobachtet, wie sich aus der solar-terrestrischen Physik diese Gruppe entwickelt hat. Jetzt beginnt eine neue Phase unter Einbeziehung neuer Gebiete in der IK-Arbeit. Der Gerätesektor hat sich gut entwickelt. Ihm wurden ständig Kader der solar-terrestrischen Physik zugeführt. Neue Kaderzuführungen aus diesem Bereich sind nicht mehr möglich. Dieser Bereich ist eine wichtige Seite der Grundlagenforschung und in Absprache mit der UdSSR werden auf diesem Gebiet neue Probleme einbezogen. Für die IK-Arbeit werden neue Kader aus dem ZIPE zugeführt, die Kooperationspartner werden bleiben, ferner werden aus dem Bereich des Hochschulwesens und der Industrie neue Kader zugeführt. Es werden dann etwa 400 VbE an IK gebunden sein. Hierbei spielt die Gruppe Schmelovsky eine wichtige Rolle. Zur Forschungsstelle muss alles das kommen, was in der Infrarotgruppe ist. Der Geist von »Interkosmos« muss erhalten werden.«1481 Nur auf den ersten Blick sind diese Ausführungen eigenartig, passen sie doch so gar nicht in die vertraute Argumentationslogik Lauters. Aber die Situation war eine andere, er hatte mit diesem Handstreich verloren. Möglich auch, dass er unter Schock stand. Scheinbar gibt er nun Einflussbereiche bereitwillig ab  – um das Wesentliche, die Projekte der solar-terrestrischen Physik, zu retten. Das erkannte Schmelovsky messerscharf und entgegnete: das PM-System (als Interkosmos-­Projekt) benötige »alle Kapazitäten in technischer Hinsicht und ist gezwungen, auf den Bereich der solar-terrestrischen Physik zurückzugreifen«. Treder soll behauptet haben, dass sich beide Seiten »wesentlich entgegengekommen« seien. Lauter empfahl, die »Ressourcensachen« zu Stiller zur Entscheidung zu geben. Ullrich habe sich von der Zahl von 400 IK-Mitarbeitern beeindruckt gezeigt und die Ansicht vertreten, dass eine Teilung zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sinnvoll sei. Schult teilte dem MfS mit, dass zu dieser Beratung »kein Protokoll verfasst« worden sei. Die Ausarbeitung der Teilungsstruktur sei in seine Hände zusammen mit zwei

1480  Vgl. ebd., Bl. 83. 1481  Vgl. ebd., Bl. 84.

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Abb. 36: Hans-Jürgen Treder

Kollegen gelegt worden;1482 er, der Ökonom des Hauses, gab dann ein Fazit, das einem Paukenschlag gleichkam und die These eines Handstreiches untermauert: »Eine Trennung« sei »nicht notwendig und« könne »auch nicht sachlich begründet werden«. Er vertrete »die Meinung, dass es nur in der DAW möglich« sei, »eine solche strukturelle Veränderung vorzunehmen, ohne die Leitung des ZI zu hören und ohne die Parteileitung des ZI davon zu informieren. Schmelovsky« habe »Treder am 16. Juni 1972 seine Vorstellungen über eine Trennung des Institutes übergeben, ohne dass diese gelesen wurden oder auch nur mit einem Wort in die Beratung mit einbezogen wurden. In der Besprechung am 12. Juni 1972« sei »aus den Worten von Treder zu erkennen« gewesen, »dass man den Besuch von Honecker in der DAW so auslegt, dass er gesagt haben soll, ihr sollt Grundlagenforschung betreiben und lasst euch da nicht immer von anderen hineinreden. Im gleichen Zusammenhang« habe er ferner gesagt, »dass Schmelovsky nicht im Auftrag der DAW in Moskau« gewesen sei »und auch seine Vorstellungen über die weitere IK-Arbeit nicht mit der DAW abgestimmt« worden sei »Dass sie deswegen für die DAW nicht bindend 1482  Ebd., Bl. 84–86.

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sind,« habe er nicht gesagt, aber man könne »vermuten, dass man sich auf einen solchen Standpunkt« stelle. Schult schätze ein, so sein Führungs-IM, »dass die neu zu bildende Forschungsstelle nicht leben und nicht sterben« könne, »dies sei jedoch nicht sofort nachweisbar und somit kein Argument. Das Argument, dass man die IK-Arbeit auf 400 VbE erhöhen wird, hört sich dagegen attraktiver an.«1483 Gerhard Ruben berichtete dem MfS am 19. Juni von der wissenschaftspolitischen Entwicklung zu Interkosmos. Er vertrat zur Frage der Einsteuerung des Interkosmos-Programms in die Akademie die These, dass diese sogar gegen die strategische Auffassung von Honecker erfolgt sei. Er wies diesbezüglich auf das Problem des subjektiven Machtstrebens hin und sah dies bei Stubenrauch und insbesondere Stiller (Konfliktlinie zu Lauter), aber auch bei Weiz (Konfliktlinie zum VEB Carl Zeiss Jena) als gegeben an.1484 Am 22. Juni referierte Schult gegenüber dem MfS die jüngste Entwicklung in Sachen Institutsteilung. Hierzu gab es einen Referentenentwurf, den ein Kollege im Auftrage Treders angefertigt hatte. Der sollte dem Präsidenten »zur Beratung mit ›anderen‹ Dienststellen, wie sich Treder ausdrückte«, dienen. Am Berichtstag hatte es zudem im ZISTP eine Information der Bereichsleiter über die Teilung gegeben. Man sagte den Mitarbeitern, dass hierüber nicht diskutiert werde. Lediglich Robert Knuth soll etwas gesagt haben und konsequent einen Wechsel in die Forschungsstelle abgelehnt haben.1485 Doch ausgerechnet Knuth wurde später Direktor des IE resp. IKF, Nachfolger der aus dem ZISTP ausgegliederten Forschungsstelle. Böhme gab am selben Tag dem MfS einen Bericht, der zeigt, dass er allmählich zu begreifen schien, zu welchen Folgen seine inoffizielle Nebentätigkeit womöglich noch führen werde. Er hatte bei diesem Treffen sein Unbehagen ausgesprochen, gegen Lauter arbeiten zu müssen, zu dem er und andere eine emotionale Verbindung hätten, ein »Gefühl der Verbindung«, ein »Dankbarkeitsgefühl«. Das MfS bewertete dieses Eingeständnis als positiv, weil er trotzdem Lauter in dem oben zitierten Schreiben für das MfS, »eindeutig« belastet habe.1486 Am 11. Juli war Böhme bei Lauter in dessen Wohnung. Er berichtete hierüber dem MfS. Lauter habe ihm sehr ruhig und konzentriert mitgeteilt, dass er als Generalsekretär »ausgeschieden« sei und sich nun auf die wissenschaftliche Arbeit konzentrieren werde. Er sei dann auf die Moskauer Beratungen zu sprechen gekommen, die er, was die Vereinbarungen beträfen, als »unreal und wenig durchdacht« einschätze. Zum Datensammel-Satelliten / Telemetrie fehle ein wissenschaftliches Programm, die Sowjetunion verfüge über entsprechende Stationen, sei also auf die DDR nicht angewiesen. Zum Themenkreis »Erdressourcen« sei auch kein wissen1483  Ebd., Bl. 86 f. 1484 Vgl. BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Astronom« am 19.6.1972; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 169–171. 1485  HA XVIII/5 vom 23.6.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 22.6.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 88 f., hier 88. 1486  HA XVIII/5/3 vom 30.6.1972: Bericht von »Hans« an Knaut am 22.6.1972; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 146 f., hier 146.

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schaftliches Programm vorhanden und für die DDR sei dieses Thema irrelevant. Ein »Seismometer« für den Einsatz auf dem Mars und der Venus sei für die DDR ohne Bedeutung, Stiller könne hierzu keine Begründung geben. Überdies soll Treder das Astronomie-Thema bereits zerschlagen haben, es gebe hierzu nur Privatinteressen (Ruben sowie Mandelstam aus der Sowjetunion). Einmal mehr habe Lauter für seine Programmatik der Zusammenarbeit von Interkosmos und COSPAR-Tätigkeiten (wie oben IUSTP) plädiert: das sei Grundlagenforschung. Zu den Gründen seiner Abberufung als Generalsekretär habe er lediglich auf Gespräche mit Weiz und Stubenrauch verwiesen. Er rechne mit Claus Grote als seinem Nachfolger. Stubenrauch soll im Zuge der Moskauer Beratungen und Vereinbarungen »bereits nachdenklich geworden« sein. Böhme glaube weiterhin, »großes Vertrauen« bei Lauter zu besitzen.1487 Eine Aktennotiz des MfS vom 12. Juli gibt den Inhalt einer Beratung zur Teilungsfrage des ZISTP wieder, an der Schmelovsky, Lauter und Pfau (als amtierender Parteisekretär) teilgenommen hatten. Demnach sei entsprechend der Vorgabe des Präsidenten »einmütig« der Vorschlag gefasst worden, das ZISTP als ein einheitliches Institut bestehen zu lassen und ihm ein gesondertes Institutsteil »Kosmische Elektronik« anzugliedern. Dieser würde von einem Direktor geleitet werden, der gleichzeitig Stellvertreter des ZISTP-Direktors sei. Diese Forschungsstelle werde die jetzigen und künftigen IK-Arbeiten ausführen, also Elektronik-Telemetrie für Satelliten, das PM sowie Elektronik für geophysikalische Satelliten und Bodenempfangsgeräte. Dem Sonderteil würde die Satellitenbeobachtungsstation Neustrelitz zugeordnet werden. Die klassischen Arbeitsfelder Lauters würden zu IK-Aufgaben qua Dienstleistungen herangezogen werden. Das ZISTP behalte die zentrale Verwaltung und eine »einheitliche Kaderabteilung«.1488 Für einen kleinen Moment schien also Vernunft eingekehrt zu sein. An diesem Tag berichtete Böhme dem MfS, dass er zuversichtlich sei, einen eigenen Mitarbeiter in Kühlungsborn unterzubringen. Lauter werde dies als »Geste des guten Willens« werten.1489 Gedacht war an einen IM. Das MfS erhielt im Juli die Information von Stiller, dass die Akademie beschlossen habe, »die Forschungsbereiche zu vergrößern und mit mehr Aufgaben als bisher zu betrauen. Das stünde genau im Gegensatz zu der bis vor Kurzem erwogenen Auf‌lösung der Forschungsbereiche.« Stiller sei aber weiterhin für die Auf‌lösung der Forschungsbereiche, das sei die »günstigste und rentabelste Variante«.1490 Zudem stand die Rückkehr Lauters in das operative Geschäft als Direktor des ZISTP

1487  HA XVIII/5/3: Gespräch Böhmes mit Lauter am 11.7.1972; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 151–155. 1488 HA XVIII/5 vom 12.7.1972: Aktennotiz; BStU, MfS, AIM  11940/85, Teil  II, Bd. 2, Bl. 93 f. 1489  HA XVIII/5/3 vom 19.7.1972: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 12.7.1972; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 146 f., hier 146. 1490  BV Potsdam vom 17.7.1972: Bericht über das ZIPE; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 774/75, Bd. 3, Bl. 191.

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im Raum. Es zu verhindern, war so leicht nicht, da ihm dies vertraglich bei der Übernahme der Funktion als Generalsekretär zugesichert war. Das MfS machte sich nun verstärkt Gedanken, ihn zu entfernen. Zunächst analysierte es seine Auslandsdienstreisen von 1954 bis 1972 und stellte diese tabellarisch und grafisch dar. Der Anstieg war (monoton) steigend. Insgesamt waren es 80 Reisen, von denen zehn auf die Sowjetunion, neun auf die BRD, sieben auf Großbritannien und jeweils fünf auf die ČSSR, Frankreich und Ungarn entfielen. In die USA waren es drei Reisen.1491 Anfang August unternahm Offizier Knaut eine Dienstreise zur MfS-Kreisdienststelle Doberan zum Zwecke der unmittelbaren Vorbereitung mannigfaltiger operativer Maßnahmen vor Ort. Dazu zählten eine Durchsuchung der Wohnung Lauters in Kühlungsborn und die Akquirierung von IM.1492 Das MfS fand aus seiner Sicht belastende Dokumente, etwa einen Brief von Sidney Teweles, dem Vorsitzenden des Programms für eine Fachkonferenz des Komitees für atmosphärische Probleme von Luftraumfahrzeugen (CAPAV) der Amerikanischen Meteorologischen Gesellschaft in Miami für den Juni 1967. Ziel war, die weltweit vereinzelten Forschungen im Höhenbereich von 60 bis 200 km zu koordinieren. Es bestehe die Notwendigkeit, so Teweles, »eines größeren und besser vereinheitlichen Programms, das in der Lage« sei, jene »Gesamtmenge der Daten zu liefern, die für die Konstruktion, Prüfung und Operation von Luftraumfahrzeugen verlangt« würden. Man wolle »den Weg zu einem höheren Grad koordinierter Tätigkeit zwischen den wissenschaftlichen und technischen Gruppen, die sich mit der Forschung der höheren Atmosphäre befassen«, einschlagen. Die Konferenz werde sich auf Themen wie »Messtechniken und Probleme« und die »Zusammensetzung der Thermodynamik und die Bewegung der Atmosphäre« im Höhenbereich von 60 bis 200 km konzentrieren. Man beabsichtige, »die wachsende Kenntnis einer großen Reihe ausgezeichneter Wissenschaftler und Spezialisten zusammenzutragen«. Auf diese Weise erhoffe man sich, dass die »Mitarbeiter versuchen« würden, »definitive und gedankenweckende Überblicke über ihre entsprechenden Forschungsgebiete zu geben mit dem Ziel, eine Grundlage für weitere koordinierte Forschung zu schaffen«. Teweles bat Lauter um »eine Abhandlung über ›D-Region, Abhängigkeit von meteorologischen Faktoren‹ auszuarbeiten und vorzulegen« und um eine baldige Zusage in Vorbereitung auf die Konferenz.1493 Ein völlig normales wissenschaftsorganisatorisches Gebaren, in das aus dem Ostblock nicht nur Lauter einbezogen war. Die konzeptionelle Ausarbeitung der Amerikanischen Meteorologischen Gesellschaft wurde Böhme zur Analyse vorgelegt. Sie enthielt eine ganze Reihe von Hauptarbeitsaspekten für die Erforschung des betreffenden Höhenbereiches, die 1491 Vgl. Analysen zu Auslandsdienstreisen 1954–1972; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 3, Bl. 93–101, hier 100. 1492  Vgl. HA XVIII/5 vom 3.8.1972: Reisebericht von Knaut; ebd., Bd. 1, Bl. 150 f. 1493  U. S. Handelsabteilung, Verwaltung des Umweltwissenschaft-Service vom 1.8.1966; ebd., Bl. 153–155.

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bis dahin völlig ungenügend (»höchst ungenügenden Kenntnis der atmosphärischen Erscheinungen in den höheren Schichten über und unter der Mesopause«) war.1494 Tatsächlich ist dieses Forschungstarget von höchster volkswirtschaftlicher Bedeutung, da sich die fehlenden Erkenntnisse, oder mit anderen Worten: die konkreten Abweichungen von der Standardatmosphäre, direkt etwa auf die Konstruktion und den Betrieb von Überschallflugzeugen und Raumgleitern niederschlägt. Dass, wenn von Überschallflugzeugen die Rede ist, sofort und nahezu ausschließlich der Militärbereich der Fliegerei angesprochen ist, ließ natürlich das MfS aufhorchen. Die Darlegung der wissenschaftlichen Aspekte kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen, auch zählt die wissenschaftliche Materie zu den kompliziertesten Bereichen der Physik. Böhme versuchte dem MfS am 3. August die Bedeutung und die Konsequenzen der wissenschaftlichen Thematik zu erläutern. Er teilte mit, welche Themen von wem in der DDR resp. in Kooperation mit der Sowjetunion wie und mit welchem Stande und Zwecke bearbeitet würden. Etwa gehörten Raketenaufstiege bis in den Bereich von 60 km zum Interkosmos-Programm. Das Tagungsprogramm für Miami Beach betraf aber den Höhenbereich von 60 bis 200 km. Von den 20 amerikanischen Forschungslinien besaßen lediglich drei einen auch vom Höhenprofil her gesehenen Bezug zum Interkosmos-Programm. Diese entstammten ganz allgemein der kosmischen Physik und kosmischen Meteorologie.1495 Das Ergebnis dieser Betrachtung beugte Böhme nicht, es kam einem Freispruch gleich, da er Lauters Arbeiten als der Grundlagenforschung zugehörig ansah und darauf verwies, »dass dieser Gedanke«, also die Erforschung dieses Höhenbereiches, »schon vor sehr langer Zeit, und zwar zur Zeit der Gründung des Observatoriums Kühlungsborn von Professor Lauter entwickelt worden« sei »und dass die ursprüngliche Arbeitsrichtung des Observatoriums Kühlungsborn im Rahmen des Meteorologischen Dienstes gerade die These der Nichterforschbarkeit der Schicht zwischen 50 und 150  km mit Mitteln der Radiosondentechnik und der Satellitentechnik zum Ausgangspunkt für das Arbeitsgebiet« gemacht habe. »Diese Arbeiten« seien »sehr systematisch weitergeführt worden und« würden »auch jetzt noch weiterverfolgt«.1496 Im Grunde genommen widerlegte dieses Urteil den Konstruktivismus des MfS. Aber das MfS besaß noch andere IM, etwa Hans-Joachim Fischer alias IM »Bernhard«, von Haus aus Elektroniker, dem das US-Material übergeben wurde. Anders als Böhme legte sich Fischer sofort ins Zeug: »Aus dem Material« sei »ersichtlich, dass die bei uns von einigen Leuten häufig gebrauchte Formulierung, ›es handelt sich auf diesem Gebiet um reine Grundlagenforschung, es gibt auf der Welt ja nur eine Ionosphäre‹, unrichtig ist. Es wird von den USA auch ein Grundlagenprogramm

1494  Amerikanische Meteorologische Gesellschaft (o. D.): Forschungen der höheren Atmosphäre; ebd., Bl. 156–161, hier 156 f. 1495  Vgl. Abschrift des von »Hans« am 3.8.1972 gegebenen Berichtes vom 8.9.1972; ebd., Bl. 165–168; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 156–159. 1496  Ebd., Bl. 167 f.

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zielgerichtet auf erkannte Anwendungen im ökonomischen Bereich konzipiert. Hier geht es um die Beherrschung der Dynamik und Steuerung von Flugkörpern in großen Höhen (ballistische Raketen, Raumgleiter, Überschallflugzeuge). Dieses Gebiet besitzt ökonomische und strategische Bedeutung. Für die DDR sind dies wissenschaftliche Probleme, die unsere Möglichkeiten weit übersteigen bzw. meist außerhalb unserer Hauptinteressengebiete liegen, es sei denn, diese Forschungen werden auf Wunsch und in enger Zusammenarbeit mit unseren Bündnispartnern als Zuarbeit zu deren breiter angelegtem Programm verstanden.« Fischer wies darauf hin, »dass die Bemühungen, Daten aus Gebieten zu erhalten, die ihnen nicht direkt zugänglich« seien, zeigten, »wie wertvoll für diese Leute derartige Daten sind«. Zwar besäßen »unter normalen Bedingungen« diese Daten »vorwiegend« einen »wissenschaftlichen Wert«, »jedoch« könne es »sein, dass sie eine Bedeutung in Krisen­ situationen« erhielten, »wenn nämlich z. B. dem Gegner Daten über die Ionosphäre zur Verfügung« stünden, dann könne zum Zwecke der Störung des Funkverkehrs entsprechend gehandelt werden. Fischer war zudem der Auf‌fassung, dass den USA das Geld fehle, diese Arbeiten allein durchzuführen. Ferner griff er den Terminus »Luftraumfahrzeuge« auf, den Teweles nutze. Das sei ein irreführender Begriff, da dies nur für Raketen, Raumgleiter und Militärflugzeuge gelte, auf absehbare Zeit aber nicht für die zivile Luftfahrt. Er zeigt gar die Parallele im Ministerratsbeschluss auf, in dem es heißt: »Flugverkehr in großen Höhen«, übersetzt: Militärfliegerei. Fischer analysierte anschließend jene Aspekte des amerikanischen Programms, die einen Bezug zu den DDR-Arbeiten hatten, also beispielsweise Forschungsarbeiten im Bereich von 30 bis 60 km, Messungen mit Instrumenten, ausgestoßen von Kleinraketen. Er sei der Meinung, dass diese Arbeiten im Rahmen Interkosmos liefen, könne es aber nicht belegen. Ferner Ionosondenmessungen in Juliusruh (Rügen), Radarmessungen an Meteorschweifspuren (seien Bestandteil des Interkosmos-Programms), die Lyman-Alpha-Messungen zwar nicht mehr, sie seien in der Budapester Sitzung »aus der direkten Interkosmos-Kooperation herausgerufen worden«. Spezielle Messungen zu Höhenwindmessungen führe er mit einem Gerät durch, das er »im Rahmen Interkosmos von der SU zur Verfügung gestellt« bekommen habe. Fischer resümierte, dass die USA auf diese Weise objektiv unterstützt werde. Außerdem komme es zur Verschleierung, da man in der DDR von Interkosmos rede und nicht von einer Kooperation mit dem Westen.1497 Lauter versuchte indes, die Struktur der Verkopplung der Interessen zwischen KAPG und Interkosmos zu entflechten. Er formulierte einen Kompromiss, der weniger war als der kleinste gemeinsame Nenner. Er informierte den Präsidenten der KAPG, Boulanger, am 10. August über seine Vorstellungen hinsichtlich der Struktur und Aufgaben der KAPG. Endgültig sollte erst im Dezember auf einer Tagung der KAPG darüber beraten werden. Die entsprechenden Änderungen sollten der sowjetischen Akademie bis zum 1. Januar 1973 mitgeteilt werden. Die Haupt-

1497  Abschrift eines von »Bernhard« gegebenen Berichtes vom 2.8.1972; ebd., Bl. 169–173.

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punkte waren: Ausgliederung der »bodengebundenen Beobachtungsprogramme der kosmischen Physik aus der Koordinierung des Interkosmos – außerhalb aktiver Flugperioden  – und der zugehörigen wissenschaftlichen Programme« bei gleich­ zeitiger Betonung der Wichtigkeit »solcher Programme für künftige Experimente auf Satelliten und Raketen«. Die Koordinierung solcher Aufgaben solle »in der multi­ lateralen Kooperation der Akademien« erfolgen. Lauter schlug vor – nach Rücksprache mit einigen sowjetischen, betroffenen Wissenschaftlern – »die multilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der solar-terrestrischen Physik wieder voll in die KAPG zu integrieren«. Zudem schlug er vor, innerhalb der KAPG eine Sektion »Solar-terrestrische Physik« zu gründen, die die Fachgebiete Ionosphäre, Physik der Hochatmosphäre, Magnetosphäre, Sonnenphysik und Kosmische Strahlung versammle. Lauter sprach sich dafür aus, die Forschungsprogramme so zu konditionieren, dass aus den Resultaten die gerätetechnische Seite der Interkosmos-Experimente ableitbar sei. Wieder eine neue Kommission zu bilden, hielten er und von ihm befragte Wissenschaftler für nicht effektiv. Innerhalb der KAPG könne sofort gearbeitet werden.1498 Boulanger konnte dies nicht gefallen, da er auf Integration und nicht auf Desintegration gesetzt haben mag. Er konnte vor allem nicht von den restriktiven Trennungsversuchen der SED und der Minimierung der klassischen Forschungen im Rahmen der IAG-Themenwelt wissen. Also antwortete er Lauter am 21. September wenig optimistisch, sprach von »sehr ernsten Problemen«, die er angeschnitten habe und »deren Behandlung eine bestimmte Zeit in Anspruch« nähmen. Seine Fachleute würden gegenwärtig die Vorschläge prüfen. Zu den Vorstellungen Lauters bezüglich der Organisation der Sektionen in der KAPG habe er jedoch andere Vorstellungen.1499 Am 10. August präzisierte Manfred Klotz* gegenüber dem MfS seine bisherigen Aussagen zu Interkosmos. Die Satellitengeodäsie sei für die Interkosmos-Forschung eher untypisch. Typisch seien vielmehr Aufgaben, die sich auf die Atmosphäre und den kosmischen Raum bezögen. Das »erweiterte und überholte Interkosmos-­ Programm« trage dieser Tatsache Rechnung. Es sei von »wesentlich höherer Qualität«. Das Programm sei noch nicht beschlossen, jedoch kenne er die unter VVS stehenden Aspekte durch Stiller. Der habe ihn »zum Koordinator bzw. Sekretär« gemacht. Das bislang nur auf die Ionosphärenforschung eingeengte Gebiet (»durch Lauter«) werde nun in Richtung der »Erkundung von Bodenschätzen, die Schaffung von Raum­sonden und Sonden für den Mond und andere Planeten sowie für Navigations­zwecke« erweitert. Diese Aufgaben hätten »unmittelbaren Nutzen für die Menschheit«. Bereits diskutierte Aufgaben für die DDR seien die Untersuchung der Mondproben, der Bau eines Gravimeters für den Einsatz auf dem Mond und Planeten sowie der Bau eines Seismografen für den Mondeinsatz. Strukturelle

1498  Schreiben von Lauter an Boulanger vom 10.8.1972; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 344, S. 1–3, hier 1 f. 1499  Schreiben von Boulanger an Lauter vom 21.9.1972; ebd., 1 S.

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Änderungen im Interkosmos-Programm würden zwar erfolgen, seien aber »noch nicht spruchreif«. Es stehe jedoch fest, dass Lauter »nicht mehr Generalsekretär der DAW sein« werde, er wolle sich »nur noch der Ionosphärenforschung« widmen. »Damit müsste aber auch das HHI in zwei Bereiche aufgeteilt werden. Der eine Bereich würde zur Iono­sphärenforschung, der andere zur Interkosmos-Forschung kommen«. Überdies sei es sinnvoll, »wie das offensichtlich vorgesehen ist, das ZIPE als Leitinstitut für die Interkosmos-Forschung zu bestimmen und den Teil des HHI anzuschließen«.1500 Stiller hatte also frühzeitig alles gewusst, wenn nicht gar mitbestimmt, und zumindest Klotz* informiert! An diesem 10. August informierte Klotz* auch über die Forschungsrichtung Satellitengeodäsie im ZIPE, eine auftragsgebundene Forschung für die Verwaltung Vermessung und Kartenwesen (VVK). Vier Hauptforschungsrichtungen wurden weiland betrieben, u. a. zur geometrischen (Vektorzug in der Antarktis) und dynamischen Satellitengeodäsie (Berechnung von Satellitenpositionen im Voraus) sowie die Entwicklung eines Laserzusatzgerätes für das Satellitenbeobachtungsgerät (SBG) vom VEB Carl Zeiss Jena. Er vertrat gegenüber dem MfS die Auffassung, dass es für die Satellitengeodäsie »keinen besonderen Geheimhaltungsgrad« brauche und sie auch diesen nicht besitze.1501 Alles, was Mitte Juli 1972 zur Prozedur der Teilung des ZISTP (HHI) gesagt worden war, war bereits im September wieder Makulatur. Schult berichtete dem MfS am 26. September in der KW »Feld« von einem »Vorschlag für eine Anweisung des Präsidenten zur Bildung einer Forschungseinheit ›Kosmische Physik‹«. Er hatte die Information von Wittbrodt am 21. September erhalten, der sie seinerseits von Stiller hatte. Demnach habe Stiller angekündigt, dass das ZISTP geteilt werde. Bestehend aus dem Bereich »Kosmische Elektronik«, geleitet von Wittbrodt und Schmelovsky, und dem Bereich solar-terrestrische Physik unter Lauter. Doch noch am Nachmittag kamen Akademieparteisekretär Klemm und OibE Jahn von der HA AK ins Institut und erklärten, das Institut werde nicht geteilt. Als dann Wittbrodt von der Unterredung mit Stiller berichtete, soll sich Klemm »berichtigt« haben. Schult: »Stiller und Klemm hatten sich aber auf das Gespräch bei Weiz berufen.« Einige Tage später soll Klemm zu Zimmermann gesagt haben, dass das Institut geteilt werde, »bei der Trennung« dürfe »keine Vermischung von IK und COSPAR« zugelassen werden. Der Leiter des Bereiches »Kosmische Physik« werde mit Sondervollmachten vom Präsidenten ausgestattet. Der sei dann nur dem Präsidenten rechenschaftspflichtig. Lauter hatte am 25. September die Arbeit im Institut (wieder) aufgenommen. Er sei über diese Fragen nicht informiert gewesen. Er habe dazu nichts gesagt, sondern arbeite am Aufbau seines Bereiches. Als Leiter des Verwaltungsapparates von Lauter werde Karl-Heinz Schmidt eingesetzt. »Ullrich

1500 BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 10.8.1972; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 248 f., hier 249. 1501  BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 10.8.1972; ebd., Bl. 250–252.

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und Zimmermann wollen unter allen Umständen im Bereich von Lauter arbeiten, dies« hätten »sie in der Parteileitung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.« Schmelovsky soll sich mit dieser Lösung zufrieden gezeigt haben.1502 Am 4. Oktober berichtete Schult dem MfS, dass die Konzeption für die »Reorganisation« des ZIPE dem Präsidenten zur Bestätigung vorgelegt worden sei, der Titel hieß: »Aufgliederung in zwei selbstständige Forschungsgrundeinheiten«. Lauter soll sich »sehr diszipliniert und zurückhaltend« verhalten haben. Schult will auch erfahren haben, dass Lauter den Bereich V übernehmen wolle, das aber habe Stiller abgelehnt. Lauter soll dies sofort akzeptiert haben, »was noch vor einem halben Jahr bei Lauter nicht denkbar gewesen wäre«. Alle Mitarbeiter des Bereiches Schult [ÖTV], »die nicht« für Interkosmos »bestätigt sind«, sollten »zu Lauter kommen, die Bestätigten zu Wittbrodt«.1503 Aus dem Entwurf vom 3. Oktober: I. Aus der Begründung der Notwendigkeit der »Reorganisation« des ZISTP (HHI): (1) Die »zunehmende multilaterale und internationale Kooperation innerhalb globaler Forschungsprogramme der solar-terrestrischen Physik« auf der einen Seite und »die gezielt betriebene Entwicklung und Erprobung elektronischer Geräte für den extraterrestrischen Einsatz« auf der anderen Seite hätten sich dermaßen ent­ wickelt, »dass zur Vertiefung und weiteren Spezialisierung dieser beiden Gebiete eine neue Leitungsstruktur erforderlich« sei. (2) Die Umsetzung beider Trends erfordere »die Aufgliederung« des Institutes »in zwei selbstständige Forschungsgrundeinheiten«. Aus Abschnitt II zur Form und zum Umfang der Reorganisation: Mit der Gründungsanweisung des Präsidenten werde »die neue selbstständige Forschungsgrundeinheit die Traditionsbezeichnung« des ZISTP, nämlich »den Namen ›­HeinrichHertz-Institut‹ ohne jeden weiteren disziplinorientierenden Zusatz« übernehmen. Ein weiterer Punkt listete die im ZISTP verbleibenden und dem HHI zugeführten Struktureinheiten auf. Demnach solle das Observatorium dem HHI zugeführt werden. Das HHI sei weiterhin dem FoB Kosmische Physik zugeordnet und dem Akademiepräsidenten unterstellt. Der Realisierungstermin wurde auf den 1. Januar 1973 fixiert. Wittbrodt werde das »neue HHI«, Lauter das ZISTP übernehmen. Die bis 1975 zu erledigen Planaufgaben sollten zwischen den beiden Direktoren ausgehandelt werden. Ein Plan für die »schrittweise Entflechtung der Aufgaben des ZISTP und des HHI auf dem Gebiet der Aeronomischen Messtechnik und der solar-terrestrischen Arbeit des Observatoriums Neustrelitz« werde von einem noch zu benennenden Beauftragten realisiert. Die Mitarbeiter des Hauses sollten wie folgt aufgeteilt werden: ZISTP: 127 VbE, HHI: 150 VbE. Die Konzeption sei »inhalt-

1502  HA XVIII/5 vom 26.9.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 26.9.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 95–98. 1503  HA XVIII/5 vom 5.10.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 4.10.1972; ebd., Bl. 99–101.

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lich mit den Parteisekretären und den staatlichen Leitern der vorrangig betroffenen Struktureinheiten des ZISTP beraten« worden.1504 Rudi Mittig, Leiter der HA XVIII, nahm am 30. Oktober persönlich Kenntnis von der konspirativen Wohnungsdurchsuchung bei Lauter am 18. September, einem Montag. Die Durchsuchung fand von 11.45 bis 15.30  Uhr statt. Die Wohnung wurde von Spezialisten der Abteilung 31 geöffnet. Die Kolonne bestand aus Offizieren der HA XVIII/5/3 sowie der Abteilungen 31 und 34. Es wurden Wohn- und Schlafzimmer sowie Bad, Küche und Korridor durchsucht. Es wurden »festgestellt und gesichert« (d. h. abfotografiert) zahlreiche Materialien, Gegenstände und Dokumente, von denen sich das MfS Belastungshinweise gegen Lauter versprach. Man registrierte und fotografierte u. a. einen Radioapparat (»für Kurzwellenempfang geeignet«) und einen Fotoapparat vom Typ Exakta. Auch wurden selbstentwickelte Kreuzworträtsel fotokopiert. Deren Analyse in Hinblick auf mögliche Spionagenachrichten oblag der HA  II. Hierzu existiert die Anlage  4, wo auch vermerkt steht, »dass sich Lauter zu Hause öfters allein zurückgezogen und Kreuzworträtsel gelöst habe«. Zu diesen Rätseln habe er Statistiken erstellt. Der Spionageverdacht schien »erhärtet durch den Hinweis eines IM, wonach Lauter nicht der Typ sei, der sich mit relativ unnützen Sachen beschäftigt«.1505 An der Durchsuchung nahmen Büttner und Knaut teil.1506 Zum Stand der operativen Bearbeitung Lauters am 20. Oktober: Die Ermittlungsziele liefen in Richtung der Paragrafen 97, 165, 172 und 245. Immer noch war das MfS damit befasst, den Wissenschaftskanon sowie die Organisation, Normative und Praxis der wissenschaftlich-organisatorischen Arbeit Lauters zu studieren. Im Mittelpunkt hierzu stand der Versuch, Konflikte, Disziplinlosigkeiten und logische Brüche bei Lauter zu finden, etwa: »Nichteingehen auf sowjetische Vorschläge« sowie ungenehmigte Realisierungen von Aufgaben. Das Hauptaugenmerk lag jedoch auf etwaigen Datenabflüssen in den Westen.1507 Eine aktuelle Reiseanalyse wies aus, dass Lauter vom 18. September 1954 bis zum 20. September 1972 insgesamt einhundert dienstliche Auslandsreisen durchgeführt hatte.1508 Lauter wurde während seiner Dienstfahrten im westlichen Ausland kontrolliert und beschattet, meist »bewacht« von mitreisenden IM, sogenannten Reisekader-IM, aber auch kompakt, heißt systematisch, also praktisch rund um die Uhr. Letzteres geschah zum Beispiel bei seiner Reise nach London, die am 23. Oktober begann. Die Beobachtung setzte bereits eine halbe Stunde vor der Landung der Maschine in London-Heathrow ein: 1504  Konzeption für die Reorganisation des ZISTP (HHI) vom 3.10.1972; ebd., Bl. 103–109, hier 109. 1505 HA XVIII/5/3 vom 19.10.1972: Durchsuchungsprotokoll; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 3, Bl. 102 f. u. Anlagen, Bl. 104–108, hier 108. 1506  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 20.9.1972: Bericht; ebd., Bl. 109 f. 1507  HA XVIII/5/3 vom 20.10.1972: Bearbeitungsplan zum Material »Lorenz«; ebd., Bd. 1, Bl. 219–223. 1508  Vgl. Anlage (o. D., letzter Eintrag Dezember 1972): Reisen Lauters; ebd., Bl. 225–227.

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Abb. 37: Observation von Ernst August Lauter in London, 19721509 1509

1509  MfS vom 3.11.1972: Beobachtungsbericht; ebd., Bd. 3, Bl. 119–128, Bild Bl. 127.

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Am 27. Oktober wurde eine Besprechung über die Personalaufteilung des ZISTP anberaumt, woran Lauter nicht teilnehmen konnte, da er in London weilte. Es sei eine sachliche Besprechung gewesen bis auf einen Punkt. Schmelovsky wollte eine Person auf keinen Fall haben und soll »sehr unsachlich« reagiert haben. Warum, habe er nicht gesagt, außer: »zu dem haben wir kein Vertrauen«.1510 Es war ein IM. Pfau teilte dem MfS Zahlenkolonnen mit, die er anlässlich eines Besuches bei Lauter am 2. November festgestellt hatte. Hierzu muss gesagt werden, dass bei den Arbeiten Lauters diverse Zahlenkolonnen (aus Messreihen) vorkommen und er auch dafür bekannt war, solche selbst auszuwerten. Pfau mag das anders gesehen haben. Als es in dem Gespräch darum ging, ein Material auf dem Schreibtisch Lauters zu finden, seien Lauter plötzlich Blätter »verrutscht«, wobei ein kleinkariertes A 4-Blatt sichtbar wurde, »auf dem Zahlenkolonnen in sehr sauberer Form, eine Zahl in jedes Kästchen, aufgetragen waren. Es handelte sich um fünf- bis siebenstellige Zahlen«. Die Zahlen seien mit Kugelschreiber notiert worden: 125 – 43201, darunter 56789, darunter 213456 etc. Lauter soll sofort das Blatt mit einem anderen wissenschaftlichen Blatt abgedeckt haben. Dort seien die Zahlenkolonnen ganz anders gewesen, nämlich: 30.6. – 42,7 – 43,8; darunter 1.7. – 42,8 – 47,9. Die erste Form, so Pfau, sei »nicht für wissenschaftliche Zwecke geeignet«.1511 Das waren jene Mitteilungen, nach denen das MfS geradezu gierte. Siehe typische Zahlencodes eines tatsächlichen und überführten Agenten in Kap. 5.1, MfS-Spezial I. In einer Besprechung am 2. November soll Stiller im kleinen Kreis dargelegt haben, dass »kein neues Institut gegründet« werde, »sondern eine Forschungsstelle, die echt ausgegliedert« werde. Wittbrodt und Schmelovsky seien beauftragt worden, »eine Konzeption zu erarbeiten für ein Institut ›Grundlagen der Elektronik‹«.1512 Das war das spätere Institut für Elektronik (IE). Die harte Phase in der sogenannten Reorganisation des ZISTP (HHI) unter dem Aspekt der Herauslösung und Gründung der Forschungsstelle für Kosmische Elektronik (FKE) begann. Noch im September soll die Akademie-Parteileitung, namentlich Klemm, gegen eine Teilung gewesen sein.1513 Parallel eröffnete das MfS gegen Lauter den OV »Beamter«. Diese Parallelität war kein Zufall. Bereits im Sommer 1970 – siehe oben – hatte das MfS den Zwist zwischen einer Gruppe »älterer und leitender Wissenschaftler« und einer Gruppe jüngerer Wissenschaftler entfacht.1514 1510  HA XVIII/5 vom 7.11.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 3.11.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 117–120, hier 117. 1511  HA XVIII/5/3 vom 16.11.1972: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 7.11.1972; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 2, Bl. 94–97, hier 95 f. 1512  HA XVIII/5 vom 7.11.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 3.11.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 117–120, hier 118 f. 1513  Vgl. HA XVIII/5 vom 5.9.1972: Bericht von »Pavel«; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 2, Bl. 51–53, hier 51. 1514 HA XVIII/5/3: Analyse vom 27.8.1970; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 1, Bl. 12–19, hier  12. Siehe auch IM-Akte zu Stiller; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM  2051/80, Teil  II, Bd. 1, Bl. 96–103, hier 96.

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Abb. 38: Moderater Parteisekretär: Horst Klemm (rechts) neben Ernst August Lauter (Mitte), Generalsekretär der AdW der DDR

Zur Parallelwelt »MfS«: Eine an den Leiter der HA  XVIII Rudi Mittig und den 1. Stellvertreter des Ministers Bruno Beater gegangene Ausarbeitung der HA XVIII/5 vom 6. November kann auch als Start in eine neue Phase der Arbeit des MfS begriffen werden. Nach einer durch und durch positiven Darstellung der bisherigen Interkosmos-Arbeit auf zweieinhalb Maschinenseiten kommt der Text urplötzlich auf den Umstand zu sprechen, dass im Zuge der Realisierung des Befehls 2/67 des MfS erarbeitet wurde, dass es »Pläne, Absichten und Interessen, insbesondere amerikanischer und westdeutscher Kräfte« gebe, die »auf die Erkundung der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sowie auf die Beeinflussung der Gestaltung des wissenschaftlichen Programms und des Einsatzes der Kapazitäten für die Raumforschung in der DDR sowie auf die Entwicklung von Kooperationsbeziehungen gerichtet« seien. Im Zuge der Überprüfungen sei man auf Lauter gestoßen, zu dem es Hinweise gebe, wonach er nicht die Interessen der DDR, sondern die des Westens verfolge. Auf knapp acht Seiten wurden die Überprüfungsergebnisse zu Lauter dargestellt und dann in den Vorschlag gebracht, nun gezielt gegen Lauter operativ-politisch zu arbeiten »mit dem Ziel der Nachweisführung seiner staatsfeindlichen Tätigkeit gegen die DDR«. Ein Teilvorhaben sollte darin bestehen, ihn in seiner weiteren Arbeit zu behindern, oder im MfS-Deutsch: »In der Bearbeitung

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von Professor Lauter ist die weitere Einengung seiner Informationsmöglichkeiten, insbesondere über die Ergebnisse der Interkosmos-Arbeit, durchzusetzen.«1515 Von nun an begann auch die Suche nach sogenannten Feindverbindungen: mit wem er wann welche Kontakte pflegte.1516 Es folgten weitere Pläne zur operativen Bearbeitung unter einem beachtlichen Kräfteeinsatz von insgesamt zwölf Tschekisten. Die »spezielle Suche« ging in Richtung Spionage, also beispielsweise nach Kopfhörern, Radioapparaten, Containern, Tinte und Stiften. Sein Wohnzimmer sollte besichtigt und zum Zwecke der Installation von Observationstechnik ausgemessen werden.1517 Die Federführung gegenüber den IM, die Gutachterarbeiten durchzuführen hatten, erhielt Knaut. Ihm standen weiterhin vier IM zur Verfügung, und zwar »Hans«, »Bernhard«, »Pavel« und »Norbert«. Einen größeren Stellenwert als bislang erhielt die Untersuchung des sogenannten Datenabflusses in den Westen.1518 Umfangreiche technische Überprüfungen der Abteilung 341519 wurden für Lauters Dienst- und Privaträume geplant, immer das Ziel vor Augen, eine persönliche oder unpersönliche nachrichtendienstliche Verbindung zu entdecken. Lauters Interessen an Daten aller Art sollten von sieben IM analysiert und verfolgt werden: »Bernhard«, »Hans«, »Weiß«, »Norbert«, »Pavel«, »Marianne« und »Charlotte«.1520 Nichts sollte der Kontrolle entgehen, dienstlich wie privat. Für den Zeitraum vom 26. März bis zum 12. April 1973 sollten konspirative Durchsuchungen stattfinden: Suche nach Spezialpapier, Tinte, Geldverstecken, Kugelschreibern, Radioapparat, Frequenzeinstellung, konspirativen Verstecken, Fotomaterial.1521 Die auf diese Weise beschafften materiellen wie immateriellen »Daten« sollten analysiert werden. Hierzu zählte die Untersuchung eines weißen A4-Bogens (»glattes Schreibpapier«),1522 siehe ausführlich unten. Schult berichtete am 8. November von einer Leitungsbesprechung zur Reorganisation des ZISTP. Demnach wurde auf der Beratung eine Konzeption für eine »Aufgliederung in zwei selbstständige Forschungsgrundeinheiten beschlossen«. An ihr nahmen neun Personen teil, u. a. Lauter, Wittbrodt, Schult, Schmidt, Kempe und Bischoff. Es wurden Kommissionen gebildet, die die Trennung umzusetzen hatten. Die wichtigste war die »Kaderkommission«. Akademiepräsident Klare soll mit der Konzeption einverstanden gewesen sein, wolle sich aber noch mit Klemm 1515  Vgl. HA XVIII/5 vom 6.11.1972: Zur Lage im Sicherungsbereich Raumfahrt; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 243–253. 1516  HA XVIII/5 vom 11.11.1972 und HA XVIII/5/3 vom 13.11.1972: Zu Personen, die im Kontakt zu Lauter standen; ebd., Bl. 254–256 u. 257–262. 1517 HA XVIII/5 vom 8.12.1972: Arbeitsplan zu konspirativen Maßnahmen; ebd., Bd. 2, Bl. 4–6, hier 5 f. 1518  Vgl. Bearbeitungsplan OV »Beamter«; ebd., Bl. 7–32, hier 9 u. 12 f. 1519  Abt. 34 des OTS des MfS. 1520  Vgl. Bearbeitungsplan OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 2, Bl. 7–32, hier ­16–22 u. 24. 1521  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 20.3.1973: Maßnahmeplan; ebd., Bl. 33–35, hier 33 f. 1522  MfS, Technische Untersuchungsstelle, vom 16.1.1973; ebd., Bl. 38–41.

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abstimmen. Die Konzeption für das neue Institut werde von Stiller bis zum 1. April 1973 erarbeitet.1523 Formal legte die HA XVIII/5/3 den OV »Beamter« am 13. November an. Die Zielrichtung gegen Lauter lautete auf Ermittlung in Richtung der Paragrafen 97, 165 und 172 StGB.1524 Drei Tage zuvor hatte Offizier Knaut den Eröffnungsbericht geschrieben. Demnach habe es Hinweise gegeben, dass Lauter »erhebliche Anstrengungen« unternommen habe, »um das ihm zur Verfügung stehende Potenzial der Akademie der Wissenschaften zur Lösung wissenschaftlicher Themen einzusetzen, die von internationalen Organisationen – insbesondere des westlichen Auslandes – empfohlen« würden. Dabei soll er staatliche Weisungen umgangen haben, auch habe er sich der Manipulation »mit dem Ziel der Täuschung staatlicher Stellen« bedient. Der Verdacht sei begründet, dass ausländischen Stellen damit »erhebliche Vorteile« zuwüchsen. Die würden DDR-Wissenschaftspotenziale nutzen und Zugang zu Daten und Informationen erhalten. Zudem gebe es Informationsinteressen Lauters, die nicht unbedingt in sein engeres Berufsfeld passten, wie etwa Fragen zur militärischen Landesverteidigung und zum Zugang zu Sperrbereichen der sowjetischen Raumfahrt.1525 Eine Information von Schult an das MfS vom 16. November zeigt einmal mehr Macht und Einflussnahme der para(sitär)wissenschaftlichen Linien der SED und des MfS: Jahn (HA AK) und Akademieparteisekretär Klemm hatten Zimmermann am 13. November in der Parteileitungssitzung bezichtigt, ein »Überläufer« zu sein. In einem von Zimmermann gesuchten Gespräch mit Klemm und Jahn wich Klemm aus, dafür soll Jahn geredet haben. Schult: »Jahn legte Zimmermann dar, dass sie mit allen Mitteln versuchen« würden, »den Lauter abzuschießen, und er, Zimmermann«, würde »alles tun, um Lauter zu halten. Klemm kam dann kurz an den Tisch, an dem sie saßen, und wurde von Jahn über die Unterhaltung mit Zimmermann informiert, darauf« soll Klemm gesagt haben, dass er es »Zimmermann schon immer einmal sagen« wollte, »dass er ein Überläufer« sei. Kaum eine Sentenz in der Vielzahl überlieferter Berichte zeigt so eindringlich und wuchtig die Feudalherrenart der SED in Verbund mit dem MfS. Schult weiter: Die Parteileitung soll sich mit Zimmermann aufgrund des Verhaltens von Jahn und Klemm solidarisch gezeigt haben, jedoch auch betont haben, dass er »sich nicht genügend für die IK-Arbeit einsetzt. […] Im Anschluss an diese Veranstaltung saßen noch Pfau, Schult und Gladitz zusammen und waren sich einig, dass Zimmermann als Parteisekretär abgelöst werden« müsse, »da er sich voll für die Solarterrestrik einsetzt und nicht wie es seine Aufgabe sein müsste, für die IK-Arbeit.« Alle drei waren IM, gegen einen, der nicht IM, aber Parteisekretär war, wenngleich ehrenamtlich eingesetzt. Man wolle in der nächs1523 HA XVIII/5 vom 10.11.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 121–126, hier 121 f. u. 124. Dienstlicher Vorgang: VD HHI / L /125/72. 1524  Vgl. HA XVIII/5 vom 13.11.1972: Beschluss zum Anlegen eines OV; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 1, Bl. 4 f. 1525  HA XVIII/5/3 vom 10.11.1972: Eröffnungsbericht; ebd., Bl. 10 f.

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ten Parteileitungssitzung einen entsprechenden Vorstoß unternehmen und Kempe in Vorschlag bringen.1526 Tatsächlich eskalierte die Konfrontation Zimmermann vs. Klemm, Jahn und andere auf der Parteileitungssitzung am 21. November, als Zimmermann das Problem Lauter offensiv ansprach. Wer wem was erzählt hatte in der Kreisleitung der SED, ist in dem Bericht recht verworren wiedergegeben, dem Sinn aber nach ging es um eine Dekonspiration durch Zimmermann: »Er«, Zimmermann, »sagte nur, dass man ihm verboten« habe »darüber [über die Causa Lauter – der Verf.] zu sprechen, er jedoch der Meinung sei, dass die Leitung darüber informiert werden müsse«. Zimmermann habe Lauter über das Gespräch mit Jahn berichtet, der anschließend die Kreisleitung damit konfrontiert habe.1527 Lauter hatte also zu diesem Zeitpunkt definitiv Kenntnis, dass seine Abservierung vom MfS inszeniert wurde. Am 29. November fand eine gemeinsame Sitzung der NKGG-Fachgruppe »Solar-​ terrestrische Physik« und der COSPAR-Kommission statt. Auf der Tagesordnung stand an erster Stelle die »Entwicklung der internationalen Verflechtungen der solar-terrestrischen Physik«. Lauter führte aus, dass auch in Zukunft die Forschungen zur solar-terrestrischen Physik im »Blickpunkt einer engen Kooperation mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern« stehe und »unter gleichzeitiger Berücksichtigung der vorliegenden internationalen Programme und Projekte betrieben werden« müsse. »Besonders wichtig« sei »eine zunehmende Verankerung der Bodenbeobachtungsprogramme der DDR innerhalb internationaler Kooperationen, ein Anfang soll mit der Übernahme der multilateralen Koordinierung der Sonnenphysik durch die KAPG gemacht werden. Voraussetzung für einen Erfolg der Kooperationen ist aber die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit und Kreativität der beteiligten wissenschaftlichen Kollektive, die den Vorrang vor Organisationsfragen haben« müsse.1528 Am 6. Dezember berichtete Pätzold über eine Information Stillers über eine Zusammenkunft mit Alfred Neumann (Direktor des Instituts für Ökonomie, Organisierung und Planung des Bergbaues der Bergakademie Freiberg) am 30. November. Demnach habe die Industrie der AdW »Vorwürfe gemacht, dass sie ihren Verpflichtungen über die Grundlagenforschung auf diesem Gebiet nicht nachkommt«. Stiller habe dies zurückgewiesen und »den gegenwärtig unbefriedigenden Stand auf dem Gebiet der Grundlagenforschung in der Geologie damit« begründet, »dass die Geologen in den letzten Jahren sich in unvernünftiger Weise von der AdW der DDR abgegrenzt hätten und notwendige Materialien für eine mathematische Forschung auf diesem Gebiet nicht zur Verfügung gestellt hätten. In diesem Gespräch soll 1526  HA XVIII/5: Information von »Dagmar« vom 16.11.1972; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 127. 1527  HA XVIII/5 vom 30.11.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; ebd., Bl. 129–134, hier 130. 1528  Protokoll vom 7.12.1972: Gemeinsame Sitzung der NKGG-Fachgruppe »Solar-terrestrische Physik« und der COSPAR-Kommission am 29.12.1972; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 336, S. 1–3, hier 1.

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Gen[osse] Alfred Neumann gegen das IK-Programm polemisiert haben und das im Beisein von Vertretern der sowjetischen Botschaft. Es entstand der Eindruck, dass die Geologie zulasten der IK-Arbeiten verstärkt werden müsste.«1529 Bereits am 20. Dezember erfolgte die nächste konspirative Wohnungsdurchsuchung. Das Hauptinteresse galt etwaigen Bewegungsveränderungen von Materialien, etwa Briefpapier. Es wurde u. a. festgestellt, dass Lauter die »Briefmappe ›Berlin‹« nun »mit einem Wollfaden besonders gesichert« habe. Bei dieser Durchsuchung »wurde insgesamt festgestellt, dass eine größere Ordnung herrschte und nur wenige Arbeitsmaterialien vorhanden waren.«1530 Am 16. Januar 1973 lag der HA XVIII/5/3 ein Untersuchungsbericht vor. Der Untersuchungsgegenstand war ein Bogen weißes, glattes Papier vom Format A 4. Das Blatt war bereits im 1. Untersuchungsbericht vom 16. Oktober 1972 und im 2. Untersuchungsbericht vom 3. November analysiert worden. Es befand sich in der Briefmappe »Berlin«.1531 Einen Tag später gab Manfred Klotz* dem MfS einen historischen Überblick über die Entwicklung von Interkosmos, beginnend mit der ersten Konzeption vom 17. August 1967 für die Mitarbeit am Interkosmos-Programm bis 1971. Die daran anschließende bis 1975 firmierte ebenfalls als Ministerratsbeschluss. Allein für die Kosmische Physik folgte daraus unter Punkt 9.25: »1.1 Untersuchungen zur Physik der Hochatmosphäre mit Satelliten, Raketen und bodengebundenen Mitteln. 1.2 Untersuchungen zur Physik der Magnetosphäre. 1.3 Untersuchungen zur Physik der Sonne, der Sonnenaktivität und der solar-terrestrischen Beziehungen. 1.4 Untersuchungen auf dem Gebiet der Satellitengeodäsie. 1.5 Beteiligung an Entwicklung und Bau von technischen Systemen und elektronischen Geräten und physikalischen Sensoren für den extraterrestrischen Einsatz zur Sicherung der Aufgaben I–IV sowie von Aufgaben der kosmischen Meteorologie. – Methoden und Apparate zur Datenübertragung und -verarbeitung; – Ionenfallen zur Messung der Winkelorientierung von Raumflugkörpern; – Laserentfernungmessung; – Bordspeicher und Verarbeitungslogik für Primärdatenspeicherung; – Physikalische Sensoren; – Infrarotspektrometer.«

Ohne jeden Zweifel, das Programm, zu dem noch die Bereiche Kosmische Meteorologie, Nachrichtenverbindungen sowie Biologie und Medizin zählten, war hochmodern, im Wesentlichen ganzheitlich und hätte der DDR einen Weltspitzenplatz mit einem hohen volkswirtschaftlichen Nutzen bescheren können. Lauters Spezial1529  BV Potsdam: Bericht von »Kosmos« am 6.12.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 256–260, hier 260. 1530  HA XVIII/5/3 vom 21.12.1972: Aktenvermerk; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 129 f. 1531  Vgl. MfS, Technische Untersuchungsstelle, vom 16.1.1973; ebd., Bd. 2, Bl. 38–41.

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disziplinen für eine moderne Meteorologie waren im Punkt 9.25 sämtlich präsent. Zwei weitere von Klotz* diskutierte Punkte: Demnach befand sich Stiller aktuell in unangefochtener Machtposition als Leiter sowohl des Bereiches »Kosmische Physik« als auch der Interkosmos-Forschung der DDR; hierin inbegriffenen waren alle Arbeiten der Forschungsstelle für Kosmische Elektronik (FKE) unter Wittbrodt, die »Satellitengeodäsie und Lasergeräte« unter Lange, die Thematiken »Mondprobenuntersuchungen« unter Vollstädt, »Mondseismograf« unter Teupser und »Supraleitgravimeter« unter Albrecht. Und zur Frage der Geheimhaltung hieß es aus dem Munde von Klotz* in fachlicher und staatlicher Hinsicht, dass die Satellitengeodäsie nach wie vor kein VVS-Thema darstelle, die Spionagegefahr mithin irrelevant sei. Auch erforderten die drei genannten Thematiken keinen Geheimhaltungsgrad.1532 Genau das wollte das MfS nicht hören, es brauchte den personalwirksamen Hebel »Geheimnisschutz«. Am 18. Januar fand in Friedrichshagen ein Treffen der Herausgeber der Zeitschrift Meteorologie statt. Auf den Vorschlag eines der Herausgeber 1974 hin, die Tagung über Karpatenmeteorologie in der DDR abzuhalten, brachte Lauter die Idee vor, diese Tagung unter dem Gesichtspunkt des Umweltschutzes im Rahmen der sozialistischen Länder zu setzen. Böhme berichtete seinem Führungsoffizier, dass er diesen Vorschlag und die anschließende Diskussion mit Unbehagen verfolgt habe, da »in Richtung des Umweltschutzes im Inneren der DDR keine generelle Lösung gefunden« sei und »die Abstimmung zwischen den Ministerien noch« laufe. Dies jetzt zu behandeln, komme »einer Aufweichung der staatlichen Linie gleich«.1533 Ein Schreiben von Lauter an Stubenrauch vom 19. Januar behandelte die Neuordnung der solar-terrestrischen Physik in der DDR »und deren internationaler Vertretung«. Im Rahmen dieser Neuordnung, so Lauter, mache sich auch eine »Neuordnung der dafür zuständigen wissenschaftlichen Beratungsgremien notwendig«. Das NKGG hatte daher beschlossen, die bei sich »bestehenden Fachgruppen für die Vertretung gegenüber dem COSPAR und gegenüber den internationalen Gremien der solar-terrestrischen Physik in einer gemeinsamen nationalen Kommission ›COSPAR und solar-terrestrische Physik‹ zusammenzufassen«. Bevor Lauter aber die Personen dem NKGG mitteile, wünsche er von Stubenrauch die »Entscheidung«, ob diese »Kollegen, die in der Interkosmos-Arbeit verankert« seien, »künftig noch offizielle und damit auch international ausgewiesene Mitarbeiter der Kommission bleiben können«. Genannt wurden u. a. Knuth (bislang Sekretär der COSPAR-Kommission), Bischoff (Vertreter für Space-Warnkontakt) und Pfau (keine Aufgabe genannt).1534 1532  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Annekathrin« am 17.1.1973; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 341/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 281–284. 1533  Bericht von »Hans« am 1.2.1973: Treffen der Herausgeber der Zeitschrift Meteorologie am 18.1.1973; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 176 f., hier 176. 1534  Schreiben von Lauter an Stubenrauch vom 19.1.1973 zur Neuordnung der solar-terrestrischen Physik; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 364, S. 1 f.

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Ein Bericht zur Lage um das ZISTP vom 23. Januar zog Bilanz. Demnach seien die wissenschaftlichen Ziele – wie im Jahresplan 1972 ausgewiesen – nicht nur erreicht, sondern »qualitätsmäßig mit unerwarteten wissenschaftlichen Ergebnissen über das erwartete Ziel hinaus vorangetrieben worden«. Bei »der Neuordnung der Aufgaben des ZISTP« waren »natürlich« – wie der Berichterstatter schreibt – »ideologische und allgemeine menschliche Probleme aufgetaucht«. Bearbeiter kleinerer Themen, die weder in Interkosmos noch in KAPG-Arbeiten eingebunden waren, seien »in Pessimismus und Lethargie verfallen«. Die Resignation sei trotz beachtlicher Einzelleistungen in diesen Bereichen noch nicht überwunden. Sie fühlten sich geduldet, nicht aber zu schöpferischer Arbeit aufgerufen. Randthemen seien abgebaut worden, etwa: Ionosphärenstörungen, Probleme der Thermosphäre, atmosphärische Funkstörpegel, Gezeitentheorie. Die Spezialisten seien anderen Gebieten zugeordnet worden. Das sei schwierig gewesen, selbst »profilierte« und »jüngere« Wissenschaftler hätten sich nicht einsichtig verhalten. »Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Interkosmostechnik« sei »die technische Entwicklung der Observatoriumsausrüstung im Institut bewusst zurückgestellt worden.« Erhebliche Teile dieser Einrichtung waren ohnehin seit Längerem moralisch veraltet. Moderne EDV gab es nicht. Dann begann das Märchen, das bis heute fortgeschrieben worden ist: Die Reorganisation des ZISTP sei vom AdW-Präsidenten angewiesen worden. Sie sei nicht zuletzt in Hinblick mit der »daraus folgenden Neubildung der Forschungsstelle für Kosmische Elektronik« in einer »kameradschaftlichen Zusammenarbeit« erfolgt. Die personellen und strukturellen Ausgliederungen seien mit Kadergesprächen begleitet worden. Ein nächster Schritt werde die Neukonzeption der solar-terrestrischen Physik in der Forschungslandschaft der DDR sein.1535 Ein weiteres Papier, in Vortragsform gehalten und sehr wahrscheinlich von Lauter, beinhaltet u. a. die Neuformierung der Beratungsorgane in der AdW der UdSSR und betont die Übereinkunft, wonach sie »auf allen Gebieten der solar-terrestrischen Physik die MLZ [Multilaterale Zusammenarbeit] mit einer größeren Beteiligung« bestreiten wolle. In den internationalen Zusammenarbeitsthemen sei das IMS-Projekt (Internationale Magnetosphären-Studie)  »am weitesten fortgeschritten«. Die »Forschungsergebnisse aus bodengebundenen und satellitengetragenen Techniken« würden »hier zu vier-dimensionalen Modellkonstruktionen in der Magnetosphäre beitragen«. Wagner habe »als Mitglied des Steeringcommittees des IMS maßgeblich zu den bodengebundenen Analysemethoden beigetragen« und die Verantwortung dafür getragen, dass das hohe Niveau der sozialistischen Länder weiter fortgeführt werden könne. Der Verfasser des Textes betonte, »dass die internationale Entwicklung unseres Wissenschaftsgebietes gekennzeichnet« sei »von einer programmorientierten Forschung«. Leitworte: komplexe technische Systeme, international notwendige Kooperation, bodengestützte und satellitengestützte Techniken. Und weiter: »Im Rahmen der problemorientierten Programmvorschläge werden die nationalen 1535 ZISTP-Jahresbericht für 1972 vom 23.1.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 311, S. 8–14.

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und regionalen Programme in sich geschlossen bearbeitet, wobei die Information über Satellitenmessergebnisse sicher breiter erfolgen wird als bisher.« Der Verfasser verwies auf die Sowjetunion, die nun auch beschlossen habe, ein nationales IMS zu entwickeln. Dann kommt jene Stelle im Text, an der es keinen Zweifel mehr geben kann, dass er Lauter zuzuordnen ist, da der Autor geradezu dazu aufforderte, in eine Kooperation mit der NASA bezüglich der Skylab-Experimente zur Sonnenphysik zu treten, wo ein »Abwarten der Ergebnisse« zur Natur der Korona und Chromosphäre zu registrieren sei: »Auf diesem Gebiet können wir uns daher durch ein rasches Anlaufen unserer regionalen Zusammenarbeit in der KAPG sogar einen wissenschaftsorganisatorischen Vorsprung ausrechnen, den es gilt zu gegebener Zeit zur Beeinflussung der von den USA und Westdeutschland gesteuerten internationalen Forschungsprogramme zu nutzen.« Und zum Projekt SESAME (Struktur und Energetik der Strato- und Mesosphäre, hierzu fortlaufend unten): Auf dem Gebiet der Atmosphäre sei von den drei Forschungsprogrammen lediglich das vom ZISTP geleitete SESAME-Projekt »von den internationalen Organisationen zustimmend beraten worden«. Die bereits verabschiedete Endfassung werde im November von den Gremien der WMO beraten. Es sei zu diesem Projekt gelungen, »Vorstellungen der Sowjetunion durchzusetzen«. Großen Wert läge die Sowjetunion überdies auf das internationale Programm des weltweiten Beobachtungsnetzes der Observatorien (MONSEE), das sie initiiert habe.1536 Am 24. Januar legte Pfau dem MfS (Büttner) eine in weiten Teilen als Statistik gehaltene Expertise zur »wissenschaftlichen Entflechtung bei der Teilung des Instituts« (ZISTP) vor. Ziel war es, anhand der Plandokumente festzustellen, welche wissenschaftlich-technischen Themen der Interkosmos-Problematik angehörten und welche nicht. Pfau standen insgesamt fünf spezifische Plandokumente zur Verfügung. Er kam zu dem Schluss, dass circa 80 bis 90 Prozent aller Arbeiten als zu Interkosmos gehörend »ausgewiesen und abgerechnet« worden seien. Pfau setzte diesen Wert ins Verhältnis zur Arbeitskräfte-Teilung hinsichtlich der FKE (163 Mitarbeiter) und dem HHI (130  Mitarbeiter) und kam somit zwingend  – sachlich aber nicht korrekt – zu der Aussage, dass Aufgaben fälschlich als zu Interkosmos ausgewiesen worden seien.1537 Der operative Auftrag an ihn, Lauter Manipulationen nachzuweisen, war damit erfüllt. Wenngleich mit dem unlauteren Mittel, die fachliche Komplexität der Interkosmos-Forschung im Institutskonstrukt »ZISTP (HHI)-FKE« außer Acht zu lassen. Unlauter war auch die Besorgung der Plandokumente im angeblichen Auftrag der Parteileitung, das aber war gelogen. Pfau die Plandokumente auszuhändigen, war geheim gehalten worden und ist auch auf Missfallen von lokalen SED-Funktionären gestoßen. In einem Maßnahmeplan der KD Bad Doberan vom 31. Januar »zur Unterstüt­ zung der HA XVIII/5 bei der Bearbeitung des OV ›Beamter‹« fällt auf, dass ins1536  Ausriss aus einem Bericht zur Arbeit des ZISTP (Vortrag); ebd., S. 8–11. 1537  HA XVIII/5/3 vom 29.1.1973: Bericht zum Treffen mit »Pavel« am 24.1.1973; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 2, Bl. 100–106.

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besondere betriebliche Dinge eine Rolle spielten: Umgang mit Finanzmitteln, Verbindungen ins Ausland, Kooperationsbemühungen zur Sowjetunion sowie Art und Weise des Versands von Messergebnissen in die Bundesrepublik. Wie sehr die Aufgaben ins Detail gingen, zeigt ein Auftrag an den IM »Martin« aus dem OIF Kühlungsborn: »Welche Arbeiten werden vom Verdächtigen im Bereich der Werkstatt angewiesen? Stimmen diese mit der Beauflagung durch die Akademie überein? Für welche Aufgaben werden die technischen Anlagen im Observatorium genutzt?« Weiterhin wollte man versuchen, Sprenger zur inoffiziellen Mitarbeit zu gewinnen, ebenso den Parteisekretär und einen technischen Angestellten des Hauses.1538 Zum Stichtag 2. Februar hatte es sich gezeigt, dass hinter den nun laufenden technischen Umsetzungen und Fragen der Aufspaltung des ZISTP immer noch substanziell die Grundfrage der Trennung stand, die weiterhin nicht klar geregelt schien, zumindest was die Konstituierung des neuen Institutes betraf: »Die Leitung ist zurzeit damit beschäftigt, eine Konzeption zur Gründung eines Institutes für kosmische Elektronik auszuarbeiten.« Sie sollte im März dem Präsidenten der AdW und Weiz vorgelegt werden. Mittlerweile habe sich gezeigt, so Schult, dass das ZISTP es verstanden habe, die Funktionalorgane »zu behalten«, das neue zu gründende Institut hier aber akuten Bedarf habe. Auch gebe es eine Abwanderung von Wissenschaftlern, mittlerweile sechs an der Zahl. Dies gehe letztlich auf Lauters Betreiben zurück und liege nicht »auf der Basis des Ministeratsbeschlusses«. Auch Werkstattkapazitäten fehlten für die FKE. Was die Anwerbung von Arbeitskräften für die FKE anbelangte, sei »eine echte Hektik in Bezug auf das Bestätigungsverfahren eröffnet« worden. Die Kaderleiterin habe angedeutet, dass das Bestätigungsverfahren bis zu neun Monaten dauere. Die Partei habe deshalb Wittbrodt »beauftragt, diese Frage mit dem MWT zu klären«. Die Beratung des Vorschlags, Hans-Joachim Fischer als stellvertretenden Direktor der FKE einzusetzen, torpedierte Zimmermann mit Hinweis auf die Nichtvollzähligkeit der Parteileitung.1539 Aus einem Bericht von Dieter Oertel alias GI / IM »Dietrich«1540 zu einer Parteiversammlung am 24. Januar folgt, dass er es war, der Auskunft verlangt hatte über das Bestätigungsverfahren, das zu lange dauere, im Einzelfall gar neun Monate. Gegen diese Erscheinung müsse etwas getan werden. Die Antwort war, dass das am MWT liege und man dagegen nichts tun könne. Oertel habe dann nachgefragt, um wen es sich aktuell handele. Darauf wollte die Kaderleiterin auch an Hand einer 1538 KD Bad Doberan vom 31.1.1973: Maßnahmeplan; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 3, Bl. 153–158, hier 154–156. 1539  HA XVIII/5 vom 6.2.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 2.2.1973; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 145–148, hier 147 f. 1540  Detaillierte Sachberichterstattung mit einem nüchternen Blick auf die Geschehnisse. Wer die Geschichte des PM-Projektes in allen Facetten nachvollziehen will, kann dies kaum ohne die Berichte Oertels tun. Er studierte fünf Jahre in der Sowjetunion, Dipl.-Ing. für Elektronik-Technologie (1969). 1969 ZISTP, 1971 FKE resp. IE. Verpflichtungserklärung vom 21.1.1970. Der Abschlussbericht stammt vom 23.3.1985. In dem Bericht ist vermerkt, dass es nicht gelang, mit ihm eine Personenaufklärung in der angestrebten Weise durchzuführen. Er habe eine »aktive Feindtätigkeit« von Personen nicht sehen wollen. Quellen u. a. BStU, MfS, AIM 4448/85, Teil I, 1 Bd., Bl. 18 u. 273.

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Liste sofort antworten. Doch als sie vorzulesen begann, sprang Bliesener auf und habe es ihr »verboten, auch nur eine konkrete Ausführung dazu zu machen«. Oertel und andere gaben sich mit dieser Blockade Blieseners nicht zufrieden und verlangten einen Weg, um das Verfahren zu beschleunigen. Worauf Bliesener geantwortet habe, dass Oertel »dies alles nichts« angehe.1541 Bliesener war der Sicherheitsbeauftragte. Am 14. Februar berichtete Schult, dass Hans-Joachim Fischer als kommissarischer Direktor für Wittbrodt in dessen Abwesenheit eingesetzt werden solle. Das Substrat des Berichtes zeigt deutlich, dass Fischer längst die Fäden der Konstituierung in der Hand hielt. Diese Verbindungsfäden liefen insbesondere zu Stiller, zu dem er fortlaufend Kontakt hielt. Von Stiller kam auch der Hinweis, dass Ulrich Hofmann von der Akademieleitung den Namen »Kosmische Elektronik« aus »Sicherheitsgründen« abgelehnt und den Namen »Institut für Elektronik« in Vorschlag gebracht habe. Hofmann, Lanius, Rompe und Treder seien darüber hinaus »eindeutig dagegen« gewesen, ein »arbeitsfähiges Institut« aufzubauen, es habe eher eine Art Werkstatt für »graugrüne Kästen« werden sollen. »Die Wissenschaft will man herauslösen und in anderen Instituten machen.« Auch soll das Institut keine Leiteinrichtung für IK werden, allenfalls könne es Koordinierungsfunktionen übernehmen. Auch hier ist die Wiedergabe der Schult-Informationen, die gewöhnlich präzise waren, von »Böttger« in einigen Passagen leicht verworren, macht aber gerade so darauf aufmerksam, dass es eine Fülle von Streitigkeiten bei der Teilungsprozedur gegeben hatte. Schmelovsky soll sich in einer Sitzung gewehrt haben, nur Stiller und Fischer in solchen Fragen zu hören. Er möchte nicht »überfahren« werden. Am 14. Februar werde in der FKE »eine außerordentliche Parteileitungssitzung« stattfinden, »auf der die Frage des Einsatzes von Fischer auf der Tagungsordnung« stehe. Laut Zimmermann habe hiervon die Kreisleitung keine Kenntnis. Trotz der institutionellen Trennung, so Schult, gebe es noch vier Bereiche, die »sehr enge Nahtstellen in der Zusammenarbeit« aufwiesen, etwa betreffs der Auswertung der Messergebnisse mit Meteorologischen Raketen, dem Leyman-Alpha-Photometer und dem Magnetosphärensatelliten.1542 Zusammengefasst: weder die staatliche (Hofmann) noch die Parteilinie (Klemm) besaßen Kenntnis vom Geschehen. Die Akteure hießen Stiller und Hans-Joachim Fischer, explizit gesteuert vom MfS. Ein Schlüsseldokument stellt der von Schult an das MfS gegebene Bericht zur Konzeption des neuen Instituts dar. Die Beratung über die Konzeption fand am 20. Februar im Zimmer des Direktors statt. Anwesend waren neben Schult u. a. Vizepräsident Hofmann, OibE Horst Fischer, Schmelovsky, Hans-Joachim Fischer, Bliesener, Ullrich, Gladitz, Bischoff, Zimmermann und Pfau. Hofmann eröffnete, dass dem Entwurf nicht zugestimmt werden könne. Er entspreche den Vorgaben der AdW nicht. Dann folgt ein Satz, der alles, was bislang für die Spaltung des ZISTP argumentiert worden ist, auf den Kopf stellte und die alte staatliche Philosophie 1541  Bericht von »Dietrich« zur Parteiversammlung am 24.1.1973; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 12. 1542  HA XVIII/5 vom 14.2.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 14.2.1973; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 153–159.

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wieder restituierte: »Es soll ein Institut für die Grundlagenforschung der Elektronik gegründet werden und nicht eine eigene Kosmosforschung der DDR.«1543 Die Position Hofmanns, dem Eigeninteresse nicht unterstellt werden kann, erinnert noch einmal die Frage, wer eigentlich die Engführung auf die Interkosmos-Arbeit gesteuert hat! Ihm wird klar gewesen sein, dass aus der vom ZISTP herausgelösten Forschungsstelle (FKE), aus der dann das IE resp. das IKF wurde, ein hermetisch von der wissenschaftlichen Welt abgeschlossenes Haus würde. Ein eklatanter Verlust für die Wissenschaft der DDR. Und Hofmann legte noch nach: »Zielstellung des Instituts soll sein, Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Elektronik in enger Zusammenarbeit mit der UdSSR« zu leisten, »wo der Hauptträger die IK-Arbeit sein wird. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass für die Industrie der DDR ein großer Nutzen entsteht. Vor diesem Gesichtspunkt ist auch die gesamte Arbeit im Rahmen IK zu sehen.«1544 Diese Darstellung Hofmanns entsprach nicht nur voll der zentralen SED-Linie zu dieser Zeit, sondern auch der Meinung Honeckers, sich nicht irre machen zu lassen und Grundlagenforschung zu treiben. Zugleich harmonisiert sie mit Rubens Beobachtung (siehe oben). Auch der OibE im MWT, Horst Fischer, soll Hofmann voll zugestimmt haben. Der sprach gar von ideologischen Schwächen, wenn »man eine eigene Kosmosforschung aufbauen« wolle – und »aus diesem Grunde könne man auch den Namen ›Kosmische Elektro­ nik‹« für das Institut »nicht akzeptieren«. Fischer weiter: das Institut werde drei Säulen haben: Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Elektronik, IK-Arbeit sowie Überleitungsarbeiten für die Industrie. Hofmann sollte die neu zu erarbeitende Konzeption einen Tag später, am 23. Februar vorgelegt werden.1545 Eine fundamentale Darstellung zur Frage der globalen Forschungsprogramme im Zeitalter der Raumforschungstechnik gab Lauter im Rahmen der Vorträge Klasse »Physik« der Akademie der Wissenschaften am 1. März: »Die aus bodengebundenen Techniken im ersten globalen Forschungsunternehmen des ›Internationalen Geophysikalischen Jahres 1957/58‹ gesammelten Fakten über untere und obere Atmosphäre, über die Exo- und Magnetosphäre, über die Sonnenstrahlung, über Erdoberfläche und den Wasserkreislauf« seien im Zuge der Raketen- und Satellitentechnik »zum Teil beträchtlich erweitert« worden und hätten »zu neuen Problemstellungen« geführt, »die – wie sich schnell herausstellte – nicht mehr durch individuelle Experimente gelöst werden« könnten. Lauter wies darauf hin, dass die Sowjetunion »bereits Anfang der 1960er-Jahre« damit begonnen habe, die »Internationalisierung der wissenschaftlichen Ergebnisse der Raumfahrt« umzusetzen. Die Gründung des COSPAR »innerhalb des Internationalen Rates der wissenschaftlichen Unionen« sei »ein entscheidender Schritt für die gesamte Wissenschaftspolitik« gewesen. Dadurch sei es gelungen, Wissenschaftler der beiden Machtblöcke an einen Tisch zu bringen, 1543  HA XVIII/5 vom 23.2.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 22.2.1973; ebd., Bl. 164–166, hier 164. 1544 Ebd. 1545  Ebd., Bl. 164–166.

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und es hätten »sich unter komplizierten politischen Bedingungen konkrete Möglichkeiten zu internationalen Abmachungen« ergeben.1546 Lauter sprach gar von der Beendigung des Kalten Krieges durch diese von der Sowjetunion betriebene Wissenschaftspolitik. Die DDR sei seit Mitte der 1960erJahre »gleichberechtigt in dieses« COSPAR »aufgenommen« worden und nunmehr seit acht Jahren, »basierend auf ihren Erfolgen mit bodengebundenen Techniken«, ein geachteter, teilweise führender Partner. In der Raumforschung habe sich »eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen«, die er in vier Punkte gliederte: erstens »auf eine für die Menschheit sofort nutzbare Anwendung der weltraumgebundenen Technik«, zweitens durch langfristige global orientierte Forschungsprogramme, die »zur systematischen Lösung von Problemen, die den engeren Lebensraum des Menschen und den Schutz dieses Lebensraums durch natürliche planetare Gegebenheiten betreffen«, drittens durch Applikationen der Raumforschungstechniken auf Gebiete des technischen sowie bio-medizinischen Fortschrittes sowie schließlich viertens, »durch die Verlagerung des ›Jäger- und Sammlerstadiums‹ in den Raum des inneren und äußeren Planeten, auf den Erdtrabanten und in den astrophysikalischen Raum«.1547 Zur Anwendungsbreite der Satellitentechnik nannte Lauter die Nachrichtentechnik, das Bildungsfernsehen und medizinische Beratungssysteme in Drittländern, Flugsicherungs- und Navigationsdienste sowie Wettersatelliten. Interessant seien jene neueren Erkenntnisse, die in der bisherigen Raumfahrtära fachspezifisch zu nennen sind: »überraschend hohe Korrektur im Erdalbedo, also der Strahlungsbilanz der unteren Erdatmosphäre aufgrund der mit Wettersatelliten festgestellten niedrigen Wolkenbedeckung in den Tropen über den Ozeanen«; die festgestellte »quasiperiodische« zweijährige Welle in den tropischen Windsystemen (dadurch Kopplung des atmosphärischen Geschehens auf beiden Hemisphären); die Ent­deckung »extremer Instabilitäten in den strato- und mesosphärischen Windsystemen«; die »unter unserer maßgeblichen Mitwirkung« erschlossenen Energietransporte von der Troposphäre in die Hochatmosphäre durch dynamische Wellen; Erfassung hochatmosphärischer Windsysteme, den »gefundenen Übergang von der totalen turbulenten Durchmischung der Atmosphäre bis 90 km zum diffusen Gleichgewicht bis oberhalb von 100 km; die »große Bedeutung« von Spurengasbestandteilen und Aerosolen, einschließlich des kosmischen Staubes (1 000 Tonnen pro Tag); die »gefundene« hohe Temperatur der Atmosphäre über 250 km Höhe (Anstieg bis auf 2 000 Grad C), damit einhergehend die große Ausdehnung der Atmosphäre bis 3 000 km in den Raum, Abhängigkeit dieses Phänomens von der Sonnenaktivität, damit einhergehend der Verlust von Wasserstoff und Helium in den interplanetaren Raum hinein »und die damit verbundene Ansammlung dieser Gase in Erdnähe, die Geokorona«; die Entdeckung der extremen »Verformung des erdmagnetischen Feldes, die planetaren solaren Materieströme und die Schutzwirkung dieser Konfi1546  Lauter: Globale Forschungsprogramme im Zeitalter der Raumforschungstechnik, Vortrag vor der Klasse »Physik« am 1.3.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 123, S. 1–5, hier 1 f. 1547  Ebd., S. 2.

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gurationen gegenüber dem energiereichen ›heißen‹ interplanetaren Sonnenplasma und die Speicherwirkung für hochenergetische Partikel in verschiedenen Magnetfeldkonfigurationen und die Rolle elektrischer Felder; die Entdeckung des Sonnenwindes, »die Erfassung seiner Variationen und der mitgeführten ›eingefrorenen‹ magnetischen Felder«. Diese Phänomene der solar-terrestrischen Physik hätten, so Lauter, hinsichtlich des Energie-Übertragungssystems Sonne-Erde neue Problem­ lösungsaufgaben heranreifen lassen. Die daraus erwachsenen Projekte hätten das Ziel, »die physikalischen Grenzbedingungen zu fixieren, unter denen der gegenwärtige Lebensraum der Menschen auf dem Planeten Erde von der Natur vorgegeben« sei, »die künftigen natürlich sich vollziehenden Änderungen dieser Bedingungen ebenso modellieren zu können, wie diejenigen, die sich durch die zunehmenden Einflüsse des Menschen auf seinen Lebensraum ergeben«. Es gehe bei der Erkundung nicht primär um das Finden neuer physikalischer Gesetzmäßigkeiten, sondern »vielmehr um die exakte Beschreibung und Modellierung des komplexen Zusammenwirkens bekannter Gesetzmäßigkeiten im Großlabor planetaren Ausmaßes«.1548 Am 16. März diskutierte Offizier Knaut mit Böhme die Erarbeitung eines ersten »Gutachtens zum ›OV Beamter‹«. Dem Text ist zu entnehmen, dass Böhme mit Engagement gearbeitet hat, dass er bereitwillig war, Lauter zu belasten. Bei der Diskussion des ersten Gutachtens soll Böhme gegenüber Knaut zu der Auf‌fassung gekommen sein, dass der »festgestellte Sachverhalt einem Vertrauensmissbrauch« gleichkomme. Zwar ist nicht explizit genannt, worauf sich dies bezog, doch ist es sehr wahrscheinlich das SESAME-Projekt. Knaut saß mit Böhme sieben Stunden, von 17.00 bis 24.00 Uhr, zusammen.1549 An diesem Tag hatte Böhme zuvor ein Gespräch mit Lauter, der ihn u. a. über COSPAR-Angelegenheiten informierte. Auch habe Lauter ihm das Programm SESAME übergeben. Lauter habe das Programm noch einmal überarbeitet, es sei nun rund und in seiner Art »einmalig« in der Welt. Es bilde gleichsam ein Dach der Interessen der »Organisationen IUCSTP, IAMAP, URSI und COSPAR«. Ein anderer Punkt betraf konzeptionelle Überlegungen zum Bereich Kosmische Physik. Hierfür sei ein Planungsstab gebildet worden, dem Treder, Stiller und Lauter sowie Böhme angehören würden. Der Bereich solle laut Lauter aus den Bereichen Interkosmos (Geräte, Messtechnik, Primärdatenverarbeitung), Physik des Kosmos (Geophysik, Astrophysik, solar-terrestrische Physik), Ressourcenforschung (Geologie, Meteorologie, Geodäsie) sowie Geowissenschaftliche Grundlagen (Hydrologie, Geografie)  bestehen. Böhme wertete diese Struktur als einen Versuch Lauters, sich einen Zugang zu »allen wesentlichen Fragen zu sichern«.1550 Die Entscheidung zur Institutsspaltung sei, so ein Bericht der HA XVIII vom 28. März, »schrittweise« realisiert worden. Sie sei »unter Einbeziehung offizieller 1548  Ebd., S. 3–5. 1549  HA XVIII/5/3 vom 2.4.1973: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 16.3.1973; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 184 f. 1550  HA XVIII/5/3: Bericht zum Treffen Böhmes mit Lauter am 16.3.1973; ebd., Bl. 186–190, hier 186–188.

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Verbindungen, Offizieren im besonderen Einsatz, Sicherheitsbeauftragten und inoffiziellen Kräften« geschehen. Das Ziel habe darin bestanden, Lauter »funktionell in Bezug zum Sicherungskomplex Interkosmos zu eliminieren«. Gegenwärtig übe er »keinerlei Funktionen beratender und begutachtender Weise« mehr im Komplex Interkosmos aus. Auch über andere, etwa gesellschaftliche Funktionen, sei ein Einfluss nicht mehr möglich. »Es erfolgte eine exakte strukturelle Trennung zwischen Problemen und wissenschaftlich-technischen Aufgaben, die Gegenstand der Interkosmos-Zusammenarbeit« seien, »und solchen, die allgemeinen Charakter der Raumforschung« trügen. Lauter wurde Direktor »des neugebildeten Institutes für solar-terrestrische Physik«, in dem »die allgemeinen« Aufgaben der Raumforschung bearbeitet würden. Daneben wurde eine »Institutseinheit unter der Bezeichnung Institut für Elektronik gegründet, die inhaltlich und organisatorisch exakt von der anderen Forschungseinheit abgegrenzt« sei, »in der als geschlossene Einrichtung alle Probleme der Interkosmos-Arbeit bearbeitet und koordiniert« würden. »Mit dieser organisatorischen und inhaltlichen Trennung wurde der Umstand beseitigt, dass Professor Lauter in eigener funktioneller Verantwortlichkeit die inhaltliche Gestaltung dieser Zusammenarbeit wesentlich beeinflusst und programmiert sowie die Tatsache, dass er für diese Forschungspotenzen und zur Verfügung stehende finanzielle Mittel keine Verfügungsgewalt mehr besitzt.« Es seien bereits Maßnahmen eingeleitet worden mit dem Ziel, das neue Institut »schrittweise die Funktion einer Leiteinrichtung sowohl für Interkosmos als Kernstück der Raumforschung der DDR« als »auch für andere Fragen allgemeinerer Art der Raumforschung zuzuordnen«.1551 Hätten wir nur dieses abstrakte Quellenpapier des MfS, stünde es gegen die »staatliche« und »institutionelle« Überlieferungslage, auf die Hein-Weingarten aufbaut, ziemlich schlecht da. Man würde von Anmaßung des MfS sprechen, von einer Selbstzuschreibung, von einer subjektiv gefälschten historischen Realität. Aber aus der Vielzahl der Schlüsselquellen, die teilweise gegeneinander lebten und arbeiteten, in verschiedenen Institutionen der Raumforschung und in verschiedenen hierarchischen Ebenen und Funktionen, hat sich bis zu diesem Punkt der Untersuchung bereits ein deutlich konsistentes Bild ergeben, in dem sich die Fragezeichen – vor allem chronologisch gesehen  – minimierten. Damit aber sind die Rätsel um die Vorgänge in der Neukonstitution der Raumforschung nicht gänzlich beseitigt. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob das MfS in eigener Interpretation seiner Sicherungsdoktrin handelte oder ob es hier noch einen anderen, belastbaren Strang gegeben hatte. Etwa sowjetische Interessen. Die Interkosmos-Zusammenarbeit begann mit einer Beratung auf Regierungsvertreterebene im November 1965 in Moskau. Dort hatte der Präsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR die Interkosmos-Zusammenarbeit folgendermaßen artikuliert: »Die Entwicklung der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder auf einem neuen Perspektivgebiet der 1551 HA XVIII/5/3 vom 28.3.1973: Sachstandsbericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 69–101, hier 99 f.

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Wissenschaft und Technik bei der Untersuchung und Eroberung des Weltraumes für friedliche Zwecke liegt im Interesse der ganzen sozialistischen Gemeinschaft, dient der Festigung ihrer Einheit und Einigkeit zur Vergrößerung der Macht des sozialistischen Weltsystems zur Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in jedem sozialistischen Land.« Die behandelten Fragen, so das MfS, seien als Vertrauliche Verschlusssache (VVS) deklariert worden, auf die »Pflicht zur Geheimhaltung« sei »besonders hingewiesen« worden. Diese Maßgabe, so legt es die Wiedergabe des MfS nahe, habe Mstislaw W. Keldysch verkündet.1552 Mehr aber als für die eigene Rechtfertigung taugte dieses Statement nicht. Zunächst ging die Arbeit »normal«, heißt: folgerichtig weiter, da das MfS davon ausging, dass von Lauter weiterhin »erhebliche Anstrengungen unternommen« würden, um »personelle Stützpunkte« seiner Gefolgschaft in »Leitungsgremien der AdW« und in anderen Gremien zu installieren.1553 Sein eigentlicher Absturz stand noch bevor. Er war zu diesem Zeitpunkt nicht nur Direktor des, wenn man so sagen will, alten HHI, sondern auch noch Mitglied des Forschungsrates der DDR, Vizepräsident des NKGG, Leiter der Arbeitsgruppe solar-terrestrische Physik der KAPG und bekleidete Funktionen in C ­ OSPAR, U ­ RSI und IUCSTP. Der Sachstandsbericht vom 28. März wies an keiner Stelle einen Erkenntniszuwachs in Richtung der angestrebten Schuldzuweisungen aus. Belastende Fakten sind in dem Papier nicht enthalten. Allein ein Scheinargument ist ausgeführt, wonach es »im gesamten Sicherungsbereich Raumforschung / Interkosmos« zu vielfältigen »Datenausgängen an kapitalistische Staaten« gekommen sei: Juli 1968 bis Ende 1968: 10 Sendungen; 1969: 72 Sendungen; 1970: 277 Sendungen; 1971: 291 Sendungen und 1972: 196 Sendungen. Aber selbst diese Datenerhebung war zu dem Zeitpunkt weder verifiziert noch qualifiziert, auch bestanden keine Erkenntnisse darüber, ob die »Versendung unter Einhaltung der gültigen Ordnung erfolgte« oder nicht.1554 Ein weiterer Teil dieses Berichtes betrifft einen Aspekt zur Teilungsgeschichte des ZISTP (HHI). Es heißt, dass Petrow am 7. Dezember 1972 in Moskau in einem Gespräch mit Stubenrauch die Meinung vertreten habe, dass die DDR-Seite den Verpflichtungen, die aus der Interkosmos-Zusammenarbeit folgten, »trotz Auf‌forderung« nicht genügend nachgekommen sei. Seiner Auf‌fassung nach sei dies nicht objektiven, sondern subjektiven Momenten geschuldet. Das MfS bezog diese Information aus einem Papier Stubenrauchs vom 12. Dezember 1971. Stubenrauch hatte demnach sofort nach Rückkehr in die DDR die Umsetzung der sowjetischen Forderungen eingeleitet. Sein erster Schritt bestand in der Vorbereitung der Entsendung einer Expertendelegation nach Moskau. Lauter teilte Stubenrauch per Schreiben vom 6. Januar 1972 mit, dass die Kapazitäten seines Hauses nicht ausreichten, »um weitere Experimente (bezogen auf die Ausrüstung der neuen Satellitengeneration) zu unternehmen«. Er lehne die Entsendung einer Expertengruppe ab. Zwei seiner 1552  Ebd., Bl. 70. 1553  Ebd., Bl. 101. 1554  Ebd., Bl. 84.

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Wissenschaftler sähen »sich gegenwärtig außerstande«, mit der sowjetischen Seite »solche Gespräche zu führen«. Nach inoffiziellen Erkenntnissen des MfS seien diese beiden Wissenschaftler von Lauter gar nicht befragt worden. Das MfS sah dies als Beleg für den »begründeten Verdacht« an, dass Lauter Stubenrauch »vorsätzlich falsch informierte«. Die »komplizierte Situation« habe dann Weiz im April aufgelöst, in dem er »eine exakte personelle und organisatorische Abgrenzung der Interkosmos-Arbeit vom Wirken Professor Lauters in internationalen wissenschaftlichen Organisationen« auf den Weg brachte. Die Passage, wonach Lauter »anheimgestellt« worden sei, »sich selbst zu entscheiden, ob er sich in seiner künftigen Arbeit weiterhin vorrangig widmen will der Leitung der Interkosmos-Arbeit oder der Wahrnehmung seiner Position in internationalen wissenschaftlichen Organisationen«, und sich für die Beibehaltung seines Status quo bezüglich der internationalen wissenschaftlichen Einbindung entschieden haben soll, ist in dem Papier gestrichen worden. Stehen aber blieb, dass »auf Grundlage dieser Entscheidung« Lauters am 2. Juni seine »Abberufung als Mitglied des Koordinierungskomitees Interkosmos« und am 1. September jene als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates Interkosmos erfolgte. Der Schlüsselsatz für die formale Institutionengeschichte des HHI aber lautet: »Die organisatorische und inhaltliche Abgrenzung von Interkosmos erfolgte auf Beschluss der Leitung der Akademie der Wissenschaften durch eine Teilung des Zentralinstitutes für solar-terrestrische Physik. Danach, im Mai, reiste unter Stubenrauch eine Expertendelegation der DDR nach Moskau zur Beratung anstehender Probleme hinsichtlich der künftigen gemeinsamen Arbeit. In dem Sachstandsbericht sind Lauter belastende Aussagen enthalten. Demnach hätte Lauter in einem Privatgespräch einen leitenden Wissenschaftler der Interkosmos-Arbeit, einem IM, instruiert, in Ausnutzung seiner Position und Befugnisse alles zu unternehmen, damit »eine Erhöhung der Normen des Geheimnisschutzes für die bearbeiteten Themen« unterbleibe. Lauter soll ferner »erhebliche Aktivitäten gegen das im Mai 1972 in Moskau unterzeichnete Protokoll zur weiteren Profilierung der Interkosmos-Arbeit« unternommen haben. Gegenüber Stiller habe er gesagt, »alles zu unternehmen, was zur Verhinderung dieses Protokolls möglich sei, und gegen alle Personen vorzugehen, die dieses Programm unterstützen. Gleichzeitig definierte er seine eigenen wissenschaftlichen Absichten dahingehend, dass er mit dem ihm zur Verfügung stehenden Forschungspotenzial ein globales Programm durchführen will, welches eng mit der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA verbunden ist und den Kontakt zu den USA weiter ermöglicht«. Er arbeite zudem an einer Profilierung des physikalischen Bereiches der Akademie mit dem Ziel, Zugriff auf den Komplex Interkosmos zu bekommen. Damit, so das MfS, stelle Lauter objektiv einen »feindlichen Stützpunkt im Sicherungsbereich Raumforschung / Interkosmos« dar. Somit sei er der Straftatbestände nach Paragraf 165 und 172 »dringend verdächtig«.1555

1555  Ebd., Bl. 89–92.

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Am 5. April fand zum wiederholten Male eine konspirative Wohnungsdurchsuchung bei Lauter statt. Ziel war diesmal die ausschließliche Suche nach dem leeren Blatt Papier. Doch die Briefmappe »Berlin« lag leer im Schrank. Man fand es schließlich in einer anderen Briefmappe namens »Pompadour«, dort befand es sich inmitten einer größeren Anzahl anderer Briefbögen. Die optische Kontrolle vor Ort ergab, »dass sich auf dem Bogen keinerlei Veränderungen ergeben« hätten. Man entdeckte dann auf dem Wohnzimmerschrank die letzten Zeitungen und die Post, damit wurde offenkundig, dass jederzeit jemand in das Haus kommen könne, sodass »im Interesse der Konspiration« die Hausdurchsuchung sofort abgebrochen wurde.1556 Bislang aber war das Blatt der Macht noch nicht völlig gewendet. Der Wissenschaftliche Beirat des FoB Kosmische Physik beriet am 23. März und 13. April die Konzeption zum Forschungsprogramm Geo- und Kosmoswissenschaften. Die Konzeption wurde am 30. April von Stiller bestätigt. An der Ausarbeitung waren außer ihm Treder, Lauter, Kautzleben, Ruben und Hans-Joachim Fischer federführend beteiligt. Die notwendigen Abstimmungen erfolgten zuvor mit zwölf Institutionen wie dem Staatssekretariat für Geologie, dem Meteorologischen Dienst und der Klasse Physik der AdW. Die Konzeption beschreibt u. a. die allgemeinen Zielstellungen und die wissenschaftlichen Aufgabenstellungen in den Forschungsrichtungen »Physik der Erde und der Planeten«, Solar-terrestrische Physik« und »Astrophysik«.1557 Allein mit Stiller, Ruben und Fischer waren drei IM in Schlüsselpositionen beteiligt. Auf der anderen Seite aber war Lauter der einzige auch strategische Fachmann auf den zu behandelnden Gebieten mit Ausnahme der Astrophysik (Treder), die aber nicht Kern der Verhandlungsmaterie war. Lauters Handschrift war demzufolge immer noch erkennbar und Projekte seiner Wahl und Kreation präsent. Das Papier beschreibt die gewachsene Komplexität der Forschungsrichtung der solar-terrestrischen Physik und gab folgende Forschungsprogramme an: IMS, FBS (Studie des Aufbaus von Sonneneruptionen), MONSEE, SESAME, EDSTE (Thermosphärenforschung) und NIC (neutrales und ionisiertes Atmosphärengas). Als Hauptforschungsrichtungen wurden festgeschrieben: Interkosmos (Grundlagen der Ressourcenforschung und der Umweltgestaltung) sowie Meteorologie (Energetik der Atmosphären und Wechselwirkungen verschiedener Atmosphärenschichten). Für den Zeitraum 1975 bis 1980 gibt das Papier sechs und für den darauf‌folgenden bis 1990 fünf Aufgaben an, allesamt entsprachen den von Lauter stets ange­ gebenen forschungstheoretischen Linien. Eine explizite Interkosmos-Aufgabe enthält keines der elf Hauptthemen. Das ZISTP hatte die Funktion der Koordinierung der multilateralen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder inne. Tatsächlich gelang es Lauter, die – für ihn folgenschwere – forschungspolitisch hoch innovative

1556  HA XVIII/5/3 vom 9.4.1973: Bericht; ebd., Bd. 3, Bl. 169 f. 1557  Vgl. Konzeption zum Forschungsprogramm Geo- und Kosmoswissenschaften, bestätigt am 30.4.1973; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 2, FiKo, Bl. 170–184.

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Verpflichtung hineinzuschreiben: »Im Rahmen dieser auch auf die Mitarbeit an globalen internationalen Forschungsprogrammen ausgerichteten Zusammenarbeit hat das ZISTP (HHI) besondere Leitaufgaben im Programm SESAME.«1558 Vom 12. bis 14. April führte die HA  XVIII/5/3 einen Lokaltermin bei der KD  Doberan durch. U. a. wurde »bewiesen«, dass das OIF Warnemünde und »speziell« Lauter »eine Reihe von Verbindungen« zu Personen und Institutionen im Westen hätten. Diese Feststellung glich haargenau jener, wonach in einem Wald Bäume stünden. Es seien Verbindungen, die teilweise den Charakter »sehr enger Beziehungen« aufwiesen. Der größte Teil dieser Verbindungen sei auf Initiative Lauters entstanden. Das MfS ergriff nun Maßnahmen, den Datenausgang besser kontrollieren zu können, und bereitete abermals eine konspirative Wohnungsdurchsuchung und den Einbau der Maßnahme »A« (Abhören des Telefonverkehrs) vor. Es versuchte nochmals, an den Parteisekretär in Doberan heranzukommen, der Lauters Handlungen bislang billigte. Überdies sollten zum Zwecke der operativen Nutzung gegen Lauter zwei Physikstudenten kontaktiert werden. Das MfS hatte erfahren, dass er die beiden fördern wolle.1559 Wenige Tage später, am 14. April, wurde im Arbeitszimmer von Lauter in Adlers­hof eine konspirative Durchsuchung durchgeführt. Hier dokumentierte das MfS das Programm zur wissenschaftlichen Untersuchung der Stratosphäre und der Mesosphäre (SESAME), ebenso Schreiben von Rawer an ihn: »Die festgestellten Wasserzeichen besagen, dass es sich um Papier westlicher Produktion handelt.« Darauf fand man Druckspuren. »Die visuelle Identifizierung der Druckspuren ergab«, dass es sich höchstwahrscheinlich um Telefonnummern gehandelt habe. Ferner wurde ein Stadtplan von Paris »dokumentiert«, in den Markierungen (Strecken und Objekte) eingetragen waren.1560 Am 26. April teilte die Abteilung 34 mit, dass zehn untersuchte Bögen »zur Anfertigung von Geheimschrift geeignet« seien. Diese Eignung aber beruhe nicht auf einer »spezielle Präparation«, sondern »auf natürliche Papierbestandteile«.1561 Christian-Ullrich Wagner vom ZISTP schrieb am 14. Mai an Lauter, dass aus dem COSPAR-Landesbericht hervorgehe, dass »durch die Auflage des MWT, im diesjährigen COSPAR-Landesbericht alles wegzulassen, was aus der IK-Zusammenarbeit hervorgegangen ist«, höchstens 40 Prozent der Ergebnisse der Magnetosphärenphysik »berücksichtigt werden konnten«. Es befinde sich seiner Meinung nach darunter »kein Ergebnis, dass so repräsentativ wäre, dass man es als wichtigstes Ergebnis der Forschungen des ganzen Landes herausstellen« könne.1562 Genau das

1558  Ebd., Zitat auf Bl. 180. 1559  HA XVIII/5/3 vom 16.4.1973: Bericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 102–106. 1560  HA XVIII/5/3 vom 16.4.1973: Aktenvermerk; ebd., Bd. 3, Bl. 170 f. 1561  OTS, Abt. 34, vom 26.4.1973: Untersuchungsergebnisse; ebd., Bl. 176. 1562  Schreiben von Wagner, ZISTP (HHI), an Lauter vom 14.5.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 361, 1 S.

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hatte Otto Lucke beizeiten, etwa 1957/58 prophezeit: »Kein Land kann sich ohne Prestigeverlust den anfallenden Aufgaben verschließen.«1563 Und wieder ging es um die Durchsuchung der Arbeits- und Wohnräume Lauters. Ein Bericht vom 15. Mai erwähnt, dass handschriftliche Notizen von der Tagungsteilnahme in Seattle / USA anlässlich der COSPAR-Tagung vom 22. Juni bis 3. Juli 1973 »sichergestellt« werden konnten. Es seien mehrere Zettel der Größe A 5, kleinkariert. Auch hätten sich Zettel mit Notaten zur Interkosmos-Problematik gefunden, etwa: »Dieses Blatt hat mit rotem Kugelschreiber beschrieben die Aufschrift: ›Interkosmos / Kosphys. / Prag 10. Juli 1971«. Hierauf waren auch Gegenstand, Verfahren und Modi der IK-Tagungen notiert, etwa, dass im Rahmen der InterkosmosZusam­menarbeit »jährliche Arbeitsgruppentagungen der einzelnen Arbeitsgebiete« stattfänden. Etwa jene der AG »Kosmische Physik« vom 6. Juni bis 12. Juni 1971 in Prag. Damals waren sieben Sektionen gebildet worden, wobei die DDR in den Sektionen 1 bis 3 sowie 6 und 7 beteiligt war. Zum Untersuchungsergebnis stellte das MfS fest, dass Lauter nicht berechtigt sei, »persönliche Aufzeichnungen dieser VVS-Tagung auf Zettel anzufertigen und sie persönlich zu transportieren«. Das verstoße gegen die IK-Bestimmungen. Das MfS ging davon aus, dass Lauter die Zettel mit nach Seattle genommen habe (Verstoß nach Paragraf 172 StGB). Dies komme einer Informationssammlung nach Paragraf  97 StGB nahe, müsse also verfolgt werden. Als Beleg ist der Hinweis auf den Bericht Pfaus vom 25. August 1971 beigefügt, wonach Lauter »nach seiner verspäteten Ankunft zur Arbeitsgruppentagung Interkosmos in Prag am 10. Juni 1971 vormittags« Wittbrodt beauftragt hatte, »dass aus jeder Sektion die wichtigsten Gesichtspunkte auf Zetteln für ihn formuliert werden«.1564 Die Zettel sind im Material des OV »Beamter« als Kopien abgeheftet.1565 Schult kritisierte gegenüber dem MfS im Mai 1973 die Leitungsqualitäten Hans-Joachim Fischers insbesondere bezüglich einer Personalie, nämlich der Einstellung Ralf Joachims. Fischer wolle, so Schult, sich alle neuen Mitarbeiter selbst suchen. So habe er auch Joachim einstellen wollen »mit dem gleichen Gehalt, wie er bei der NVA bekommt«. Das sei das Gehalt, das auch er, der Direktor, bekomme. Am Anfang solle er jedoch als Wissenschaftler arbeiten. Dagegen hätten sich »ganz entschieden« Schmelovsky und Kempe gewandt. Entschieden wurde dann, dass Joachim als Leiter des Bereiches WO, bei geringerem Gehalt als bei der NVA, eingestellt werde.1566 Böhme führte am 16. Mai im MD der DDR ein Gespräch über diverse technische und wissenschaftliche Probleme. Lauter war in Begleitung von zwei Kollegen erschienen. Der kam an einer Stelle des Gesprächs auf den Umstand zu sprechen, warum Böhme auf der Beiratssitzung, die die Direktive zur COSPAR-Tagung be1563  Lucke: Konzeption für die Hauptfachrichtung VIII »Physik der hohen Atmosphäre« (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 239, S. 1–15, hier 2. 1564  HA XVIII/5/3 vom 15.5.1973: Bericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 188–192. 1565  Vgl. Beifügungen zu: HA XVIII/5/3 vom 15.5.1973: Bericht; ebd., Bl. 193 f. 1566  HA XVIII/5 vom 18.5.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 168–173, hier 170.

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handelte und bei der Lauter nicht anwesend war, er, also Böhme, gesagt habe, dass die Direktive zwischen beiden nicht abgestimmt worden sei, obgleich »im Begleittext der Direktive auf eine solche Abstimmung verwiesen« sei. Offizier Knaut notierte hierzu: »Entsprechend der Abstimmung zwischen dem IM und Unterzeichneten reagierte der IM« dann »in der Form, dass er auf den ungenügenden Stand der Abstimmung solcher Fragen zwischen Lauter und seiner Person« hingewiesen habe.1567 Böhme machte Knaut darauf aufmerksam, dass Lauter Quellen habe, die ihn mit Informationen auch dieser Art versorgten. Also etwa über die geheimen Beiratssitzungen Interkosmos. Knaut vermerkte, dass nun vor jeder einer solchen Sitzung, an der Böhme teilnehme, eine operative Abstimmung erfolgen müsse.1568 Eine hausinterne Erhebung zur Frage der Mitgliedschaften von HHI-Mitarbeitern in internationalen wissenschaftlichen Gremien mit Stand vom 22. Mai für das erste Halbjahr 1973 listete 14 Personen in insgesamt 30 Organisationen auf. Spitzenreiter waren Lauter und Wagner mit je fünf Funktionen resp. Mitgliedschaften. Funktionsträger waren in: KAPG neun, URSI und COSPAR je fünf, IAU vier, IAGA und SCOSTEP (IUCSTP) je drei sowie IAMAP einer.1569 Vom 22. Mai bis zum 6. Juni fand in Konstanz die XVI. Generalversammlung des COSPAR statt. Böhme erhielt hierzu am 9. Mai einen schriftlichen Auftrag vom MfS. Lauter stand im Mittelpunkt dieser dreiseitigen und von Böhme quittierten »Arbeitsanweisung«, wonach er ihn während der Tagung auf Schritt und Tritt zu folgen, Kontakte und Gespräche festzustellen, sowie auf Programme, die für westliche Einrichtungen relevant waren (IMS, SESAME), zu achten hatte. Es ist zu zitieren: »Richten Sie bitte Ihr Gesamtverhalten so ein, dass sie während der Tagung möglichst eng mit Professor Lauter zusammenarbeiten, hinreichend sachliche Gründe haben, seine Nähe zu suchen, um eine angemessene Kontrolle über seine Bewegungen auszuüben, An- und Abwesenheit, Treffs u. a. Aktivitäten zu erfassen.« Aus einem anderen Anstrich: »Versuchen Sie bitte während der Tagung unter Ausnutzung Ihrer wissenschaftlichen und staatlichen Position und den damit verbundenen Interessen von Professor Lauter an Ihrer Person, den persönlichen Kontakt zu stabilisieren, tragfähige Auskünfte über seine Pläne und Absichten (Entwicklung der Raumforschung in der DDR, Entwicklung und Gestaltung internationaler Kontakte) zu erarbeiten. (Beachten Sie hierzu die mündlichen Hinweise.)«1570 Die Suche nach Lauter belastenden Papieren beschränkte sich nicht allein auf seine Wohn- und Diensträume, sondern schloss auch konspirative Durchsuchungen von Räumen seiner Kollegen ein. So fand am 26. Mai eine konspirative Durchsuchung der Arbeitsräume von Jens Taubenheim statt, der berufsbedingt eine vielseitige und intensive Auslandskorrespondenz pflegte. Viele Dokumente waren in 1567  HA XVIII/5/3 vom 23.5.1973: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 18.5.1973; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 197–202, hier 200. 1568  Vgl. ebd., Bl. 200 f. 1569  Vgl. ZISTP vom 22.5.1973: Mitgliedschaften von Mitarbeitern des ZISTP in internationalen wissenschaftlichen Gremien; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 310, S. 1–4. 1570  Auftrag vom 9.5.1973; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 191–193, hier 193.

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englischer Sprache, sodass das MfS diese erst übersetzen lassen musste, da die operativen Mitarbeiter der englischen Sprache in der Regel nicht mächtig waren. Nach Darstellung des MfS wurde ein Papier gefunden, dass klar belege, »dass die Kapazitäten von Interkosmos voll in die Realisierung der IUCSTP-Programme eingeplant« seien (das Papier lautete: »Thesen zu Schlussfolgerungen für das DDR-Potenzial auf dem Gebiet der STP«). Eine Empfehlung der IUCSTP, Messungen der Sonnenstrahlung mittels Raketen und Satelliten durchzuführen, zeihte das MfS der Interkosmosmittelentfremdung. In summa ein Beleg für das MfS, dass Lauter »objektiv nicht in der Lage« sei, diese wissenschaftlichen Aufgaben ohne die Kapazitäten aus Interkosmos durchführen zu können.1571 Eine solche Auslegung, aus einem wissenschaftlichen Bericht zu IUCSTP-Forschungsaspekten zu destillieren, ist wissenschaftlich nicht haltbar und ging auch am Grundtenor der Diskussionen jener Zeit vorbei. Vielmehr ist es so, dass Lauter, Taubenheim und Kollegen Fundamentalforschung betrieben, ohne die eine Beteiligung an Satellitenexperimenten (auch Interkosmosbeteiligung) absurd gewesen wäre. Überlegungen der Wissenschaftler in der IUCSTP kamen gar nicht umhin, ins Herz auch der Kosmosforschung der DDR zu treffen, wollte die sich mit der Fernerkundung der Erde aus dem Kosmos beschäftigen. Tatsächlich sollte die bald einsetzende Fernerkundung ohne die hier aufgespannten Grundkenntnisse aus der Grundlagenforschung nicht auskommen. Sie wurden dann auch im IE resp. IKF durchgeführt. Etwa – aus: Thesen zu Schlussfolgerungen für das DDR-Potenzial auf dem Gebiet der STP – zu fragen: »Kann man« hinsichtlich [für den Frequenzbereich L-α und O3 – d. Verf.] »der Sonnenstrahlung zu absoluten oder zumindest zu langzeitig komparablen Eichverfahren kommen, die Voraussetzung der Messung einer Variabilität der Sonnenstrahlung sind?« Oder: »Für welche Spektralbereiche des UV und EUV können in der DDR messtechnische Entwicklungen übernommen werden, die an Aufgaben des wissenschaftlichen Gerätebaus in der DDR anschließen?« Das Papier Taubenheims, das die Schlussfolgerungen Lauters reflektierte, traf Aussagen darüber, was nicht so wichtig an der Programmatik der IUCSTP schien oder war, etwa die Beteiligung am Thermosphärenprogramm, also einem Messprogramm für Höhen über 120 km. Es skizzierte überdies auch übergeordnete Probleme, etwa die Idee, die kosmische Physik mit der kosmischen Meteorologie zu verschmelzen.1572 Hans-Joachim Fischer brachte von seinen Reisen in die Sowjetunion jene Nachrichten mit, die geeignet waren, die Priorität auf Interkosmos quasi legitimatorisch zu setzen, so von der Beratung in Moskau vom 28. bis 31. Mai zu Fragen der Interkosmos-Kooperation: »Die Freunde sehen es schon mit großer Genugtuung, dass wir dieses Programm durchführen wollen [Interkosmos-Programm von 1972], aber die Interessen der UdSSR sind weitergehend.« Und nahezu flehentlich: »selbst wenn ihr uns nur bei der Elektronik helft, ist das bereits ein wichtiger Beitrag«.1573 Aber 1571  HA XVIII/5/3 vom 9.5.1973: Bericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 107–109. 1572  Aus einem Bericht zu Aspekten einer IUCSTP-Beratung; ebd., Bl. 110–112. 1573  Bericht von »Bernhard« am 1.6.1973; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 4, Bl. 24–31, hier 25 u. 27.

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auch in diesem umfassenden Bericht über allgemeine Fragen und einzelne Projekte innerhalb des Interkosmos-Programms kann man sich nicht gegen den Eindruck wehren, dass die Sowjetunion zu dieser Zeit eine Öffnung der Kosmosforschung anstrebte, eine Öffnung, die das MfS mit seiner Sicherheitsdoktrin und der besonderen »Nähe« zur Bundesrepublik keinesfalls akzeptieren wollte. Der Stellvertreter Petrows, Werestschetin, soll laut Fischer geäußert haben, »dass die Zusammenarbeit in Interkosmos multilateral zu betrachten sei, als Regel, und dass ein zweiseitiges Abkommen, wie es von unserer Delegation ins Auge gefasst wurde, die Ausnahme sein sollte«.1574 Wenige Tage später, am 4. Juni, berichtete Hans-Joachim Fischer der Parteileitung – und ebenso Schult hernach dem MfS – von seiner Reise nach Moskau in IK-Angelegenheiten. Die Reise war vom MWT organisiert worden. Sowjetischerseits führte das Gespräch Petrow. Es wurden drei Themenkomplexe beraten, die allesamt Kapazitätsprobleme der AdW zum Inhalt hatten. Stubenrauch versprach, sich einschalten und prüfen zu wollen. Die Sowjets ihrerseits hatten u. a. gefordert, dass die IK-Arbeit ein Niveau erreichen müsse, das über das der USA hinausgehe. Stubenrauch habe erklärt, dass die DDR »wesentlich stärker als bisher in die IK-Arbeit einsteigen« müsse. »Dies sei unbedingt notwendig, um in der AdW der Forschung eine langfristige und konkrete Aufgabenstellung zu geben (er sprach von einer kleinkarierten Forschung, die zum großen Teil noch in der AdW betrieben wird und die man unbedingt noch überwinden muss, um in der AdW wieder ein vernünftiges wissenschaftliches Niveau zu bekommen).«1575 Über die XVI. Generalversammlung des COSPAR in Konstanz vom 23. Mai bis 5. Juni liegt ein umfassender Bericht vor. Teilnehmer an der Veranstaltung waren vonseiten der DDR Lauter und Taubenheim, beide ZISTP, sowie Böhme und Dietrich Spänkuch. Insgesamt nahmen 650 Wissenschaftler teil, 100 aus den USA, 30 aus der Sowjetunion und 80 aus der Bundesrepublik. Konstanz stand in jenen Tagen ganz im Zeichen dieser Tagung: »Die DDR-Fahne« soll »während der 14  Kongresstage neben Flaggen der Hauptteilnehmerländer an bevorzugter Stelle auf dem Marktplatz von Konstanz« geweht haben, hieß es im Kongressbericht. Der unbekannte Berichterstatter hob hervor, dass infolge der allgemeinen Finanzkrise die Länder gebeten worden waren, den Beitragssatz um »möglichst« 30 Prozent, mindestens aber um 20 Prozent zu erhöhen. Die DDR aber, so nach der an Lauter ausgegebenen Direktive, habe sich nicht an der Erhöhung beteiligt. Ihr Beitrag belief sich auf 1 500 Dollar (6 700 Fr.) pro Jahr. Damit lag sie zwischen der Kategorie I (»für nicht an Raumforschungsexperimenten beteiligte Länder«) mit 5 850 Fr. und der Kategorie II (»Beteiligung an Raketen- und Satellitenexperimenten«) mit 14 650 Fr. Die Kategorie III (eigene Raketen- und Satellitenausrüstungen) war mit 20 500  Fr. und die Kategorie  IV (eigene Raketen- und Satellitenstarts) 1574  Ebd., Bl. 26 f. 1575  HA XVIII/5 vom 7.6.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 174–183, hier 179 f.

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mit 90 250 Fr. ausgewiesen. Alle Werte sind hier bereits mit dem Erhöhungssatz wiedergegeben.1576 Damit rutschte die DDR deutlich in Richtung Kategorie I – entgegen der eigenen Interkosmos-Propaganda – ab. Entsprechend der Interkosmosbeteiligung hätte sie jedoch in die Kategorie II, tendenziell gar in die Kategorie III gehört. Des Weiteren: Lauter war vom Exekutivrat beauftragt worden, das COSPAR in Kyoto »offiziell zu vertreten und im Rahmen eines eingeladenen Vortrags über die im COSPAR erreichten Ergebnisse über Struktur der Hochatmosphäre dort zu berichten«. Nach Einschätzung des COSPAR habe die Sowjetunion »einen führenden Vorsprung vor der amerikanischen meteorologischen Raketenforschung erreicht«: Sie hatte den Ausbau ihrer Raketenkette  – auch geografisch gesehen  – deutlich erweitert. Die Beiträge der DDR sollen »große Beachtung« gefunden haben, etwa jene über atmosphärische Parameter, zur Aeronomie der Hochatmosphäre und die Entdeckung planetarer Wellen in circa 90  km Höhe. Zu den wissenschaftlichen Ergebnissen sollen »insbesondere Fortschritte bei der Kombination von bodengebundenen und raketengetragenen Methoden zur Bestimmung ionosphärischer und aeronomischer Parameter, beim Vergleich von Stratosphärentemperaturen […] bei der Anwendung von Lasern zur Temperaturbestimmung der Mesopausenregion, bei der Entdeckung quasiperiodischer Vorgänge in den Windsystemen und im Plasma in der Mesopausenregion« gezählt haben. Es wurde eingeschätzt, dass die Sitzungen des COSPAR ein »beträchtliches Anwachsen der internationalen Kooperationen auf den Gebieten der Ausrüstung von Raumflugkörpern erkennen« ließen, »die Zusammenarbeit zu wissenschaftlichen Programmen« sei »dagegen nicht so ausgeprägt«. Das Interesse der USA »an der DDR« scheine gar »beträchtlich gewachsen« zu sein. Der früherer COSPAR-Vizepräsident und US-Wissenschaftler habe Lauter »(offenbar gezielt)« informiert, »dass die USA-Wissenschaftler mit großem Interesse einer COSPAR-­ Tagung in der DDR entgegensehen«.1577 Der Berichterstatter hatte den Eindruck, dass die USA-Wissenschaftler die Tagungen gezielter als früher »zu gesamtwissenschaftspolitischen Informationen« genutzt hätten, »als es viele Kollegen bei uns wahrhaben wollen«. Man sei erstaunt über das Wissen der Amerikaner über die DDR. »Die außerfachlichen Gespräche mit westdeutschen Wissenschaftlern« könne »man dagegen als unerfreulich bezeichnen«. Früher sei man herablassend gewesen, jetzt sei »zur Schau getragenen Aggressivität« in Mode.1578 Am 14. Juni fand die 14. Sitzung der Fachgruppe  VI des Meteorologischen Dienstes »Physik der Atmosphäre« statt. Lauter hatte einen Vortrag zum Thema der Beziehungen zwischen der solar-terrestrischen Physik und Meteorologie gehalten. Sein Vortrag besaß stellenweise den Ton einer Denkschrift, ja nicht vom Kurs abzukommen und die Komplexität des Themas endlich zu begreifen. Der Vortrag sei 1576  Bericht über die XVI. Generalversammlung des COSPAR in Konstanz vom 23.5.–5.6.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 361, S. 1–18, hier 1 f. u. 5. 1577  Ebd., S. 7, 12, 14 u. 16. 1578  Ebd., S. 1.

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vom Fachvorsitzenden Karl-Heinz Bernhardt vom Bereich Meteorologie und Geophysik der Sektion Physik der HU Berlin sehr gelobt worden. Lauter riss in dem Vortrag an, inwieweit es für den Energiehaushalt der Erdatmosphäre wichtig sei, die Forschung zur Plasmaphysik zu forcieren (»Anregungszentren der solaren Strahlung im gesamten Frequenzbereich zu erfassen und zu beschreiben«), etwa Fragen der »Variationen der Gesamtsonnenstrahlung« zu klären, nach Überlagerungsphänomenen zu fragen, letztlich die auch von der Erdalbedo herrührenden Prozesse zu berücksichtigen. Auch die Fragen des Einflusses hochenergetischer Partikelstrahlung seien wichtig, erforscht zu werden, Einflüsse auf das Wettergeschehen seien jedenfalls nachgewiesen. In summa würde sich die solar-terrestrische Physik mit physikalischen Phänomenen »von der Grenze der Atmosphäre bis zur Stratopause« erstrecken, »einem Raum«, wie Lauter ausführte, »in dem die Sonne die Vorgänge fast vollständig« steuere.1579 Man könne, so Lauter zusammenfassend, für die infrage kommende Höhenskala gar nicht anders, als auf die Vielzahl der vorhandenen technischen Messmöglichkeiten in komplexer Weise zurückzugreifen, also direkte und indirekte, passive und aktive, bodengebundene und raketentechnische sowie satellitengestützte Messmethoden. Die Struktur und Energetik der Bereiche der Strato- und Mesosphäre würden im Projekt SESAME in acht Projekten behandelt.1580 Lauter nannte jene Forschungskomplexe, die am ZISTP gelöst werden sollten: »Komplexmodell einer aktiv solaren Region«, die Kopplungsphänomene zwischen Ionosphäre und Magne­tosphäre sowie zwischen Mesosphäre und Stratosphäre, hochatmosphärische Windmessungen sowie Fragen der Struktur und Dynamik des hochatmosphärischen Plasmas. Am ZISTP waren zu diesem Zeitpunkt folgende bodenständige Messungen möglich: Verfolgung der Windstruktur in 80 bis 90 km Höhe; Tem­ peraturprofile für denselben Höhenbereich (im Plasma); Aussagen über Variationen in der Plasma­struktur oberhalb der Mesosphäre, sowie über Absorptionsmessungen die Bestimmung planetarer und interner Wellen als Auswirkungsphänomene im Plasma.1581 Nährstoff für Verdächtigungen, oftmals aus Neid, karrieristischen Bestrebungen oder Ressentiments herrührend, lieferten die IM. Etwa Bischoff, der der Auf‌fassung war, dass der »Betrug« Lauters bereits vor 1969 (Lindau) stattfand, als der »die Spezialrichtung der Hochatmosphäre voll in IK einbrachte«. Das aber war eine Verkehrung der Dinge, vielmehr zerstörte IK die traditionelle Forschungslandschaft. Immerhin stellte sich das MfS die Frage, ob es für Lauter »aufgrund der sowjetischen Vorstellungen eine andere Alternative als die Richtung Erforschung« der Hochatmosphäre überhaupt gebe. Natürlich hoffte es auf ein »Nein« – wider 1579  Protokoll von der 14. Sitzung der Fachgruppe VI des MD der DDR »Physik der Atmo­ sphäre« am 14.6.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 281, S. 1 f. 1580  Vgl. Information von Lauter an Grote; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 354, S. 1–3, hier 2. 1581  Vgl. Protokoll von der 14. Sitzung der Fachgruppe VI des MD der DDR »Physik der Atmosphäre« am 14.6.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 281, S. 1 f., hier 2.

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die eigene Erwartung. Um all dies zu verstehen, mussten sich Knaut und Büttner erst einmal die einschlägigen DDR-Dokumente zu den sowjetischen beschaffen und von den IM erklären lassen.1582 Der Bericht Böhmes zu der Münchener COSPAR-Tagung am 21. Juni weist eine hohe Detailverliebtheit aus, aber auch Vages teilte er mit, etwa: »Professor Lauter führte mit Alexandrow ein Gespräch, dass die Mitarbeit der sozialistischen Länder im SESAME betraf. Ich hielt mich in der Nähe auf und wurde mittelbar Zeuge des Gespräches. Da das Gespräch sehr leise vonseiten Professor Lauters geführt wurde, ist die Information nicht vollständig sicher. Ich hatte den Eindruck, dass Professor Lauter darum bemüht war, zu erreichen, dass das Projekt SESAME mit anderen internationalen Programmen der sozialistischen Länder verknüpft werden sollte. Dabei kämen sowohl die KAPG als auch Interkosmos infrage.« Parallel zu dem offiziellen Fachbericht liegt ein inoffizieller von ihm vor. Er ist nur in Kleinigkeiten deckungsgleich mit dem offiziellen und typisch nachrichtendienstlich gehalten, also mit Blick auf Personen, Gespräche und Hintergründe. So habe Lauter sofort bei seiner Ankunft in München das für ihn gebuchte Zimmer im Inselhotel in ein kleineres Zimmer umgetauscht.1583 Am 27. Juli besprach Hollax mit Knaut die Lage in Bezug auf die angedachte Neuprofilierung der Astronautischen Gesellschaft der DDR (AG), die seit geraumer Zeit in die Kritik Lauters geraten war. Gegenüber Hollax hatte Lauter dargelegt, dass die International Astronautical Federation (IAF) sich praktisch mit dem ­COSPAR nicht vergleichen könne. Erstere berichtete über Raumfahrt, zweitere mache Raumfahrt; Lauter: »Wir mit unseren Arbeiten (ZISTP) orientieren uns voll auf COSPAR.« Die AG könne hingegen nur als eine Dachorganisation für Disziplinen wie Raumfahrttechnik, Medizin und Biologie etc. funktionieren und Sinn machen. Sie solle eine Art »Vorwärtsinformation« gewährleisten, eine Art von Prognostik und Weltstandsanalyse in den Disziplinen der Raumfahrt. Die Basis ihrer Arbeit sollte getragen sein »vom Motto der ›Weiterentwicklung der Menschheit‹«. Es ist dies die oben angesprochene Wissenschaftsethik Lauters, die an den Nutzen für die Gesellschaft orientiert war. Doch was machte das MfS aus Lauters Auf‌fassung? Knaut schätzte ein, »dass Lauter grundsätzlich von einer ideologischen Grundhaltung an wissenschaftlich-technische Fragen herangeht, die losgelöst ist von jeglichen gesellschaftsbezogenen Erfordernissen. Das zeigt sich sehr deutlich bei den Vorstellungen von Lauter über das Motto bzw. das Grundanliegen der Deutschen Astronautischen Gesellschaft, welches er formulierte ›Weiterentwicklung der Menschheit‹.«1584

1582 HA XVIII/5/3 vom 19.6.1973: Maßnahmeplan; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 2, Bl. 113–124, hier 113 u. 117. 1583  HA XVIII/5/3 vom 26.6.1973: Bericht von »Hans« vom 21.6.1973; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 203–207, hier 206. 1584  HA XVIII/5/3 vom 30.7.1973: Bericht zum Treffen mit »Dresden« am 27.7.1973; BStU, MfS, AIM 11978/86, Teil II, Bd. 2, Bl. 3–15, hier 7 f. u. 14.

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Am 31. Juli sprach Böhme einmal mehr mit dem MfS über Lauter. Das MfS resümierte, dass Lauter Vertrauen zu Böhme habe, er sei an einem engen Kontakt an Böhme interessiert. Vertrauen schaffen um Vertrauen zu brechen: ein Grundsatz geheim­dienstlicher Arbeit. Und so gelangte das MfS zu der gewünschten Fest­stellung, wonach Lauter  – hier im Zusammenhang mit einem ­COSPARBericht – »unwahre Angaben« mache. Die Hinterhältigkeit dieser Zersetzungsarbeit ist an vielen Stellen (be)greifbar: »Es wurde mit dem IM Übereinstimmung erzielt, die Aktivitäten von Lauter in Richtung SESAME nur soweit zu unterstützen, wie diese Belange nicht Probleme des Meteorologischen Dienstes (MD) der DDR berühren«.1585 Anfang August hatte Lauter seine SESAME-Konzeption so weit vorangetrieben, dass sie zur Kenntnisnahme an die WMO gebracht werden konnte, er sandte sie u. a. auch an die USA-Akademie, an Weiz und an das MfAA. Böhme will Lauter darauf aufmerksam gemacht haben, dass er »bei der Versendung des SESAMEProjektes nicht auf den MD der DDR verweisen« dürfe. Lauter wollte jedoch zumindest erreichen, dass Böhme anlässlich seiner Reise zur WMO-Tagung in Paris im November Hinweise in die Direktive zur Reise einfließen lasse, dergestalt, dass der DDR-Delegierte, also Böhme, »dieses Programm zu unterstützen hätte«. Knaut: »Aufgrund der operativen Linie lehnte der IM ein solches Ansinnen nicht brüsk ab, sondern nahm diesen Vorschlag kommentarlos zur Kenntnis.« Sein »operativer Kommentar« hierzu: »Es zeigt sich an diesem Sachverhalt, wie Lauter versucht, seine Linie unter Ausnutzung aller Möglichkeiten durchzusetzen.« Würde Böhme das SESAME-Projekt aufnehmen, käme dies einer staatlichen Sanktionierung gleich. Und zur Beiratssitzung des MD berichtete Böhme, dass Lauter bestrebt sei, die Grundlagenforschung des MD zu entwickeln. Es sollen sich »heftige Diskussionen« ergeben haben, da Lauter die Vertragsforschung mit der DDR-Industrie angegriffen habe. Er sei so weit gegangen, eine Agenda zu beschließen, die die Streichung von Themen beinhaltete, damit Kapazitäten für die Grundlagenforschung frei würden. Bernhardt von der HU Berlin soll teilweise die Linie Lauters unterstützt haben. Die auf dieser Sitzung entstandenen und verwendeten Dokumente wurden als geheim (VD) eingestuft und entsprechend vor Beendigung der Sitzung eingesammelt. Lauter habe sich dagegen gesträubt und sei nur durch Böhmes Einwirken davon abzuhalten gewesen, sie zeitweise mitzunehmen.1586 Über die Thematik sprachen Böhme und Lauter am 24. Juli und 7. August.1587 Am 23. August fand ein Gespräch zwischen den Direktoren des ZISTP (Lauter) und IE (Hans-Joachim Fischer) auf Wunsch Lauters statt. Fischer berichtete dem MfS anschließend. Demnach habe sich Lauter froh gezeigt, wieder wissenschaft1585  HA XVIII/5/3 vom 5.8.1973: Bericht von »Hans« vom 31.7.1973 BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 223–227, hier 226. 1586 HA XVIII/5/3 vom 10.8.1973: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 9.8.1973; ebd., Bl. 235–241. 1587  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 14.8.1973: Information; ebd., Bl. 242 f.

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lich arbeiten zu können. »Das wäre für ihn wesentlich besser als seine vorherige Funktion als Generalsekretär der Akademie«. Laut Fischer habe Lauter offen von der künftigen wissenschaftlichen Profilierung seines Instituts gesprochen. Beispielsweise wolle er bis 1976 die »Rekonstruktion der Bodenprogramme in Hinblick auf Rationalisierung und auf Aussagefähigkeit der Messwerte« vorantreiben. Danach könne er sich denken, wieder in Interkosmos einzusteigen. Er sei auch bereit, mit seinem Haus an der Geräteentwicklung für IK teilzunehmen. Fischer aber war bestens IK-gebrieft und bedeutete Lauter, dass Arbeiten im Zusammenhang mit Interkosmos im IK-Beirat zu behandeln seien. Er könne dazu überhaupt nichts sagen. Lauter möge seine Gedanken schriftlich zu Papier bringen und an das IE schicken. Fischer könnte partiell Interesse gezeigt haben, denn er berichtete dem MfS positive Aspekte eines möglichen Mitwirkens von Lauter bis hin zum Projekt ­SESAME, in dessen Programmatik auch die bisher vom Institut »nicht behandelte Neutral­ gaskomponente« passe. Lauter unterbreitete konkrete Vorschläge zur Kultivierung der wissenschaftlichen Kontakte zwischen beiden Instituten.1588 Böhme führte mit Stiller nach eigenem Bekunden ein vertrauliches Gespräch am 25. August. Stiller hatte ihm gegenüber angedeutet, dass er von Grote den Auftrag habe, Lauter nicht mehr an Interkosmos-Arbeiten »heranzulassen«. Lauters vormalige Profilierung der Kosmosforschung habe gezeigt, dass da »nichts herausgekommen« sei. Man werde sich »alle« seine »Aktivitäten« nunmehr »sehr genau ansehen«. Auch dessen Direktiven zu Dienstreisen. Lauter sei es bislang immer wieder gelungen, über die Verknüpfung wissenschaftlicher Forschungslinien mit aktuellen Bedürfnissen auf staatlicher Ebene Fürsprecher zu gewinnen.1589 Am 29. August sprach Lauter einmal mehr über sein SESAME-Projekt mit Böhme. In der Berichterstattung noch am selben Tag an Knaut überkamen Böhme plötzlich Zweifel, ob Lauter überhaupt an einer US-Leine hänge, eine strategische Linie sei nicht feststellbar.1590 Am 18. September folgte ein weiterer Sachstandsbericht zum OV »Beamter«, der in Richtung der Ermittlungsziele der Paragrafen 97, 165 und 172 StGB geführt wurde. Der Schwerpunkt der Ermittlungen lag auf »der Nachweisführung, wie weit durch Handlungen von Lauter bedeutender wirtschaftlicher Schaden verursacht wurde und wie weit diese Verursachung von Schäden vorsätzlich erfolgte«. Was ist festgestellt worden? Zunächst die Tatsache, dass Lauter maßgeblich »an der Ausarbeitung der Ministerratsbeschlüsse« vom 17. August 1967 und 20. Januar 1971 beteiligt war. Er habe hierin angeblich Aufgaben einfließen lassen, »die nicht in der Linie der sowjetischen Vorschläge für die Aufnahme der Interkosmos-Zusammenarbeit« gelegen hätten. Ein sogenannter Experten-IM des MfS hatte herausgefunden, dass von den Interkosmos-Finanzmitteln lediglich 55 bis 60 Prozent zweckgebunden 1588  Gespräch von Lauter mit Fischer am 23.8.1973; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 4, Bl. 32–36. 1589  HA XVIII/5/3 vom 31.8.1973: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 29.8.1973; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 244–251, hier 247. 1590  Vgl. ebd.; Bl. 249.

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eingesetzt worden waren. Mit dem Rest seien »andere Forschungsthemen bearbeitet« worden. Ob es Aufgaben waren, die »seinen persönlichen wissenschaftlichen Vorstellungen« entsprochen hätten, konnte nicht belegt werden. Man vermute jedoch, dass Lauter »erhebliche Anstrengungen« unternehme, um Programmteile etwa der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) zu unterstützen.1591 Was Lauter tat, war notwendig und akkurat. 1976 wird Ilse Spahn, stellvertretende Direktorin des Meteorologischen Dienstes der Halleschen Zeitung Freiheit mitteilen, dass auch ihr Dienst am jüngsten Experiment der DDR mit der MKF-6 (Sojus 22) beteiligt gewesen sei: »Bei der Fernerkundung der Erde mit aerokosmischen Mitteln muss die Wirkung der Atmosphäre berücksichtigt werden. Gerade die Atmosphäre befindet sich zwischen Kamera und dem an der Oberfläche erkennbaren Objekt und wirkt gewissermaßen als Störfaktor. Gerade die Atmosphäre ist aber Forschungsgegenstand der Meteorologie«. Ihr Dienst nehme »seit zehn Jahren an der Interkosmos-Arbeit teil«. Und weiter: »In diesem Jahrzehnt wurden in enger sozialistischer Gemeinschaftsarbeit zwischen der Akademie der Wissenschaften der DDR und dem hydrometeorologischen Dienst der UdSSR wesentliche Erkenntnisse gewonnen. Als Beispiel sei nur das komplexe Experiment mit dem Fourierspektrometer [PM – d. Verf.] der AdW der DDR genannt, das durch hochpräzise Messung der Wärmestrahlung des Systems Erde-Atmosphäre u. a. die indirekte Bestimmung vertikaler Temperaturprofile ermöglicht. Dieses Experiment mit dem sowjetischen Satelliten Meteor-25 begann am 15. Mai 1976.«1592 Die Übernahme der Leitung der Arbeitsgruppe 4 des COSPAR, »in der Experimente zur Physik der Hochatmosphäre behandelt« wurden, werde, so das MfS, von vier amerikanischen Wissenschaftlern »beherrscht«, die Lauter in dieses Amt lanciert hätten, von wo aus er nun deren Interessen wahrnehme. Das war die generelle Grundkonstruktion der Vorwürfe gegen Lauter. Die Beweise sind einfältig, weil sie auf der isolierten Annahme beruhten, dass zwischen dem Forschungsprofil Lauters und den Interkosmos-Experimenten eine feste Trennungslinie bestünde. Das Gegenteil war der Fall. Das MfS lebte eine andere Logik: »Aus konspirativ gesicherten persönlichen Aufzeichnungen eines Mitarbeiters von Lauter [Taubenheim – d. Verf.], die einen Auszug aus einer Ausarbeitung Lauters darstellten, geht hervor, dass er aus Empfehlungen des IUCSTP für die Profilierung der kosmischen Forschungen in der DDR die Schlussfolgerung« abgeleitet habe, »nicht nur das Potenzial des von ihm geleiteten Instituts für die Realisierung der IUCSTP-Programme einzusetzen, sondern dafür auch Kapazitäten der Interkosmos-Arbeit nutzbar zu machen.«1593 1591  HA XVIII/5 vom 18.9.1973: Sachstandsbericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 125–136, hier 125–127. 1592  Neues über die Luft. Meteorologie beteiligt, in: Freiheit vom 24.9.1976, Wochenend­ beilage »blick«, S. 10. 1593  HA XVIII/5 vom 18.9.1973: Sachstandsbericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 125–136, hier 129 f.

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Lauter war in Konstanz auch mit dem Leiter des Projektes »Internationales Programm zur Untersuchung der Magnetosphäre« (IMS), Juan G. Roederer, USA, zusammengetroffen. »Der Gesprächsinhalt« so ein IM, sei leider »nicht bekannt«. Auch habe Lauter von diesem Gespräch nicht berichtet.1594 Vollkommen quer mit den wissenschaftlichen Grundlagen jedweder Kosmosforschung, zumindest was den nichtstellaren Raum betrifft, ist die Annahme des MfS, wonach der folgende Zitatteil ein Belastungsmoment gegen Lauter darstellte: »Seine Funktion als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Meteorologischen Dienstes« habe Lauter dazu genutzt, »um bei einer Beratung im August 1973 über die langfristige Planung der Forschungen des Meteorologischen Dienstes dafür einzutreten, stärker die Grundlagenforschung zu ›Fundamentalfragen‹ zu entwickeln.« Lauter habe Gebiete der Meteorologie aufgegriffen, »auf denen der Meteorologische Dienst Vertragsforschung mit gesellschaftlichen Bedarfsträgern durchführt, z. B. Agrarmeteorologie, Klimatologie, Biologie und Medizin. Obwohl in der durch Lauters Auftreten ausgelösten heftigen Diskussion deutlich gemacht wurde, dass Grundlagenforschung nicht auf Kosten praxisbezogener Forschungen gehen« dürfe, habe er den Vorschlag unterbreitet, »terminlich festzulegen, wann welche praxisbezogenen Themen beim Meteorologischen Dienst der DDR eingestellt werden und wie die frei werdenden Kapazitäten neu einzuordnen« seien.1595 Es ist immer wieder erstaunlich, wie es Spitzen-IM im Verbund mit ihren Führungsoffizieren fertigbrachten, wissenschaftlich einleuchtende Zusammenhänge zu diskreditieren. Das Projekt SESAME Lauter übermittelte dem Generalsekretär der AdW, seinem Nachfolger Claus Grote, mit Schreiben vom 4. Oktober 1973 Informationen zum Projekt SESAME. Sollte Grote dem Programm zustimmen, würde er für die Zeitschrift spectrum eine Zusammenfassung schreiben.1596 Dieses global ausgelegte Forschungsprogramm war ein Kind Lauters und befasste sich mit der Struktur und Energetik der Strato- und Mesosphäre. Es ist ein Forschungsprofil, das die Zukunft der Meteorologie als eine Art Ökologie auf den Begriff brachte. Das Programm war von einem Spezial­komitee für solar-terrestrische Physik des ICSU vorgeschlagen worden und basierte auf einer von 40 Wissenschaftlern unter Vorsitz Lauters erarbeiteten Studie. Im November 1973 sollte es »von der Kommission für atmosphärische Wissenschaften der Weltorganisation für Meteorologie der UNO (WMO) beraten« werden »mit dem Ziel, den Teilnehmerstaaten zu empfehlen, ihre bodengebundenen und raumfahrttechnischen Experimente auf die im Programm vorgesehenen acht Projekte auszurichten«. 1594  Ebd., Bl. 131. 1595 Ebd. 1596  Vgl. Schreiben von Lauter zur Information an Grote vom 4.10.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 354, 1 S.

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Eine solche internationale Einbindung aber ließ sämtliche Alarmglocken des MfS laut werden. Die Erarbeitung des Programms hatte seinen Anfang genommen per Beschluss auf einer SCOSTEP-Sitzung 1972 in London. Lauter war zur Leitung des Vorhabens »beauftragt« worden. Der Programmentwurf war »mehrfach« mit Wissenschaftlern »aller« beteiligten Länder abgestimmt worden, u. a. mit Alexan­ drow, dem stellvertretenden Direktor des MHD der Sowjetunion. Lauter soll sowjetische Vorstellungen teilweise »gegen den Widerstand amerikanischer und englischer Wissenschaftler« durchgesetzt haben, etwa zur Frage der »Verbesserung der Raketenprogramme in den meteorologischen Messketten«. Im Frühjahr 1973 hatten dann die Landesvertreter im SCOSTEP das Programm beschlossen. Das Programm wurde anschließend dem COSPAR zu dessen Generalversammlung in Konstanz zugeleitet. Sowohl Alexandrow als auch Böhme vom MD hätten dem »Vorschlag ohne Vorbehalte« zugestimmt. »In Abstimmung mit Professor Böhme und unter Information des Generalsekretärs der AdW der DDR wurde das Programm von Professor Lauter im Auftrag des SCOSTEP an das WMO-Sekretariat übermittelt, das unter Hervorhebung der guten Qualität des Dokumentes die Vorbereitung der Vorlage des Dokumentes« am 29. August bestätigt hatte. Die Projekte lauteten: »1. Ursprung der Struktur der Mesopausenregion; 2. Modell der Strato- und Mesosphäre; 3. Kopplungserscheinungen zwischen Strato-, Meso- und Ionosphäre; 4. Jahreszeitliche Variationen in Strato- und Mesosphäre; 5. Atmo­ sphärische Wellen; 6. Überwachung der extraterrestrischen Variationen der Sonnenstrahlung; 7. Chemische Zusammensetzung des atmosphärischen Gases in Stratound Mesosphäre; 8. Einflüsse der Sonnenaktivität auf das Wetter.«1597 Die Bedeutung der SESAME-Problemkomplexe lag darin, dass mit deren Lösung die »Beherrschung«, besser: das Verstehen »der komplexen physikalischen Prozesse« möglich würde. »Erst ihre Kenntnis«, so Lauter, würde »die Abschätzung der Entwicklung der Umwelt und der variablen Einflüsse aus dem Weltraum und aus den menschlichen Aktivitäten an der Erdoberfläche und in der Atmosphäre zulassen«.1598 Zu dieser frühen Zeit war also bereits ein modernes Element inkorporiert, das wir heute anthropologische Meteorologie nennen. Trotz Kritik war Gerhard Zimmermann immer noch nebenamtlich Partei­ sekretär und sollte auch wiedergewählt werden.1599 Dies geschah auch, Ralf Joachim wurde Stellvertreter.1600 Am 14. November berichtete Böhme, dass in der Reisedirektive eines Mitarbeiters des ZISTP zur Tagung der IAMAP Passagen enthalten gewesen seien, die »auf die Teilnahme der DDR am SESAME-Projekt des IUCSTP ausgerichtet« seien. Maß1597  Information von Lauter an Grote; ebd., S. 1–3, hier 1 f. 1598  Ebd., S. 3. 1599 Vgl. HA XVIII/5 vom 10.10.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 196–204, hier 198. 1600  Vgl. HA XVIII/5 vom 12.11.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar« am 9.11.1973; ebd., Bl. 205–209, hier 208.

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nahmen des MfS folgten sogleich: Grote werde die Direktive sofort vorgelegt und auf das Problem SESAME hingewiesen. Maßnahmen zum Austausch des betreffenden Mitarbeiters würden eingeleitet.1601 Eine Gliederungskladde vom 14. November zum OV »Beamter« enthält u. a. apodiktisch, dass Lauter die sozialistische ökonomische Integration störe und hemme und dass er auf mittlere und leitende Kader der Interkosmos-Forschung eine massive ideologische Beeinflussung ausübe.1602 In einem Bericht vom 20. November hob das MfS hervor, dass Lauter mit seiner Politik der Integration mit dem Westen den USA Zugriffsmöglichkeiten auf »wissenschaftliche Daten aus geografischen Bereichen« gebe, »die den USA selbst nicht zugänglich« seien. Dies sei »von militärischer Bedeutung im Hinblick auf die Bedeutung des Zustands der Atmosphäre für Flüge in großen Höhen und Flugbahnbestimmungen von Interkontinentalraketen«. Lauter propagiere »fortwährend den ›weltweiten‹ Charakter der wissenschaftlichen Arbeit in der Raumforschung und« versuche, »in der Interkosmos-Arbeit tätigen Wissenschaftlern der DDR die Vorteilhaftigkeit einer Beteiligung an den USA-Programmen zu suggerieren und sie zu einer Umprofilierung wissenschaftlich-technischer Potenziale in der DDR in dieser Richtung zu bewegen«. U. a. sei er bereit, Institutionen der BRD Messdaten von der Station Juliusruh auf Rügen zur Verfügung zu stellen. Lauter habe sich in »seiner internationalen Tätigkeit in ›weltweiten‹ Vereinigungen« bereits »verselbstständigt«, sodass »seine diesbezüglichen Aktivitäten nicht mehr überschaubar« seien. Lauters Handeln sei »geeignet, die Bestrebungen der UdSSR, ›Interkosmos‹ im Rahmen der sozialistischen Friedensoffensive international stärker als geschlossene Organisation wirksam zu machen, zu beeinträchtigen«. Das MfS will von einem leitenden Wissenschaftler der NASA erfahren haben, dass man Lauter »große Hochachtung« zolle.1603 Am 15. November gab Lauter Böhme Einschätzungen zu den Dokumenten Nr. 22 und 24 der Commission for Atmospheric Sciences (CAS) hinsichtlich »­SESAME und das stratosphärische Experiment«. Es handelte sich um fachspezifische Fragen zu physikalischen Phänomenen über stratosphärische Erwärmungen, die wenig erforscht waren. Lauter hoffe, »künftig mehr Satellitendaten über den Höhenbereich um 50 km mit globalen Übersichten zu erhalten«, damit »das Studium einzelner stratosphärischer Erwärmungen sicher fortgesetzt werden« könne. Dafür aber müsse die Aufstiegsfrequenz mit Ballonen mindestens gleichhoch gehalten werden. Er es begrüßen würde, wenn diese Frage mit dem SESAME-Projekt »vereinigt werden könnte«. Das vorhandene Forschungsprojekt müsse hierfür nur erweitert werden; Lauter: »Ich glaube, es kann als sicher gelten, dass das Problem

1601  HA XVIII/5/3 vom 19.11.1973: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 14.11.1973; ebd., Bl. 260–262. 1602  Vgl. HA XVIII/5 vom 14.11.1973: Gliederung / B ericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 152–154. 1603  HA XVIII/5 vom 20.11.1973: Bericht; ebd., Bl. 155–162, hier 159–162.

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der stratosphärischen Erwärmung heute eindeutig seine Aspekte bis zur Mesopause und unteren Thermosphäre hat.«1604 Eine weitere Dienstreise von Offizier Knaut zur KD Doberan diente vor allem Absprachen zur Aktivierung und Gewinnung neuer IM, die zu Lauter eingesetzt werden sollten.1605 Das Gros der vom MfS eingeholten Kenntnisse fügte sich bislang nicht in das konstruierte Schema zu seiner strafrechtlichen Verurteilung ein. Etwa der Fakt, dass die KAPG »älter als die IK-Organisation« war, mithin die Koordination geophysikalischer Forschungen der sozialistischen Länder originär hier erfolgte, das betraf sowohl klassische Bodenexperimente aber auch Messungen auf Basis von Raketen und Satelliten. Sprenger, Leiter des OIF Kühlungsborn, auf die Frage von Offizier Weißbach, ob mit der Trennung des ZISTP und dem IE die Zusammenarbeit kompliziert werde: »Hier liegt ein Irrtum vor!« Wir, so Sprenger, würden ja nicht an IK mitarbeiten. »Eigentlich müssten die passiven Arbeiten […] über die KAPG koordiniert werden. Ich weiß auch nicht wie diese Arbeiten überhaupt in IK reingekommen sind – sachlich haben sie dort nichts zu suchen.« Und weiter: »Wir haben bereits früher – vor IK – immer wieder versucht, direkte Kontakte zu einschlägigen Instituten der SU zu erhalten. Es ist uns nie gelungen diese zu erhalten. Gelegentliche Kontakte, Austausch über laufende Arbeiten usw. – nicht mehr. Die sowjetische Seite war dort sehr zurückhaltend. Über IK ist uns das endlich gelungen und es steht zu befürchten, dass wir unsere Partner verlieren, wenn wir aus IK aussteigen.« Schlussendlich: »Im Übrigen ist es mir gleich über wen es läuft – wesentlich für mich – es läuft überhaupt.« Weißbach sah in diesen Passagen ein von Sprenger »unbeabsichtigt« vorgebrachtes Argument, das die eigene Forschungswelt in den Vordergrund schob und die Kooperation mit der Sowjetunion nur als ein Mittel zum Zweck (Egoismusunterstellung in Richtung der Lauter-Philosophie) betrachtete. Sprenger soll sich für ein weiteres Fachgespräch bereit erklärt haben, allerdings lieber im Institut. Die Forderung des MfS, das Gespräch vertraulich zu halten, soll er »ungern« akzeptiert haben. Das MfS ließ nicht davon ab, »weiter zu versuchen«, Sprenger »an« sich »zu binden«.1606 Doch das war vergeblich. Der Ministerrat der DDR beschloss am 4. Januar 1974 ein Erweiterungsprogramm für das Interkosmos-Abkommen mit nun 13 Themen.1607 Es war zuvor am 6. Dezember im Institut für Elektronik (IE) in einem engen Kreis beraten worden. Das Institut sollte in diesem Zusammenhang Leiteinrichtung werden und über Kooperationsverträge (Post, Zeiss Jena) in Höhe von acht bis zehn Millionen Mark zu befinden haben. Hierzu machte Schult Prioritäts-Bedenken geltend. Da diese

1604  Schreiben von Lauter an Böhme vom 15.11.1973; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 281, 1 S. 1605  Vgl. HA XVIII/5 vom 22.9.1973: Dienstreisebericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 137–141; HA XVIII/5/3 vom 25.10.1973: Bericht; ebd., Bl. 142–151. 1606  HA XVIII/5/3 vom 25.10.1973: Bericht; ebd., Bl. 149–151. 1607 Vgl. HA XVIII/5 vom 5.3.1974: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 227–234, hier 229.

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Verträge vom Stellenwert her unter denen der Staatsplanthemen des IE lägen, die Verträge aber bei den Kooperationspartnern zentrale Bedeutung hätten, würde das zu erheblichen Problemen führen, da das Institut längst über seine Kapazitätsgrenzen hinaus arbeite. Die Diskussion soll heftig, gleichwohl sachlich verlaufen sein.1608 Ein weiterer Bericht zum Stand der Ermittlungen vom 5. Januar offenbart zwar keine neuen Erkenntnisse zu Lauter, schließt aber mit einem Vorschlag ab, wie mit ihm weiter zu verfahren sei: »1. Aufgrund des Sachverhaltes gegen Professor Lauter eine Ausreisesperre in das nichtsozialistische Ausland zu verfügen, 2. Professor Lauter wegen des Missbrauchs des in ihn gesetzten Vertrauens von der Funktion des Direktors des« ZIPE (HHI) »zu entbinden und ihn mit der Leitung des Bereiches« OIF Kühlungsborn »zu beauftragen, 3. den Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, Genossen Dr. Weiz, zu beauftragen, im Zusammenwirken mit dem Präsidenten der AdW, Professor Klare, den Professor Lauter von diesen Entscheidungen in Kenntnis zu setzen und seine Abberufung durchzuführen, 4. Genossen Dr. Weiz zu beauftragen, im Zusammenwirken mit Professor Klare die aus diesen Festlegungen resultierenden Folgemaßnahmen hinsichtlich einer Veränderung der Tätigkeit Professor Lauters im Bereich der AdW sowie der von ihm ausgeübten Tätigkeit in internationalen wissenschaftlichen Organisationen zur Wahrung der wissenschaftspolitischen Interessen der DDR vorzunehmen.«1609 Dem Papier ist eine Konzeption für Weiz beigefügt mit folgenden Hauptaspekten: Gespräch mit Lauter unter Teilnahme von Klare zur Mitteilung der »verfügten Ausreisesperre« in den Westen sowie »der Entscheidung betreffs der bisherigen Funktion Professor Lauters als Direktor« des ZISTP. Ferner sollten die daraus folgenden Konsequenzen bedacht und entsprechend beraten werden mit der sowjetischen Seite bezüglich der Wahrnehmung der Position in COSPAR, »der Beauf‌lagung« Lauters, fürderhin »keine Aktivitäten zur weiteren Wahrnehmung seiner Funktionen in internationalen wissenschaftlichen Organisationen zu übernehmen« und der Prüfung, welche Funktionen Lauters »durch geeignete Wissenschaftler der DDR zu sichern« seien.1610 Zu dieser Zeit übte Lauter mehrere Funktionen in COSPAR, ICSU, SCOSTEP, IAMAP und in URSI aus.1611 Böhme verwies Anfang Januar auf Erkenntnisse zu Lauter, die er neu erarbeitet habe. Sie zeigen, dass er konstruieren konnte, möglicherweise mit einem solchen Raffinement, dass das Ergebnis, die Antworten Lauters, suggestiv, also zwangsläufig erfolgten. Es ging um das Projekt SESAME. Im Ergebnis dieser sogenannten Erkenntnisgewinnung fand das MfS die Bestätigung, dass die Initiative zu SEASAME angeblich von den USA ausging, um an Daten aus dem Ostblock herankommen zu können. Diesen Ursprung habe Lauter zu verdecken gesucht. Der IM »Hans«, 1608  Vgl. HA XVIII/5 vom 7.12.1973: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; ebd., Bl. 210–219, hier 218. 1609  MfS vom 5.1.1974: Zu Lauter; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 163–173, hier 173. 1610  Konzeption für Weiz, MfS vom 5.1.1974: Zu Lauter; ebd., Bl. 174. 1611  Vgl. Funktionen Lauters, MfS vom 5.1.1974; ebd., Bl. 175.

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Böhme, habe Lauter, so Knaut, mittels geschickter Fragestellungen überführen können. So soll Lauter mit einem Engländer bereits Vorgespräche zu einer früheren COSPAR-Tagung geführt haben. Von einem Amerikaner habe Lauter erfahren, dass die Engländer wohl indifferent zu dieser Frage gestanden hätten, worauf er SESAME für die USA als wichtig eingeschätzt habe. Allein das reichte dem MfS offenbar zur Feststellung, dass damit »wesentliche Verdachtsmomente über die Interessen der USA am Projekt bestätigt« worden seien. Die Stellung Lauters namentlich bei den Engländern muss sehr gut gewesen sein. Den Vorschlag der Sowjetunion, ihren Vertreter Mustel als Rapporteur für Teilprojekte der Erforschung der Hochatmosphäre einzusetzen, hatte das Nominierungskomitee der CAS nicht angenommen. Daraufhin habe der englische Verhandlungsführer Lauter vorgeschlagen, der dann auch angenommen worden ist. Böhme soll eingeschätzt haben, dass aufgrund des Wahlmodus auch die USA für die Wahl Lauters verantwortlich gewesen sein könnten. Er teilte dem MfS mit, dass Lauter nicht von der DDR für diese Funktion vorgeschlagen worden sei, also auch keine entsprechende Direktive der AdW hierzu vorgelegen habe.1612 Böhme war für seinen Einsatz zu Lauter von der AG E1613 mit neuer operativer Technik ausgestattet worden, einer Technik, »mit der eine Dokumentierung« seiner Gespräche konspirativ gesichert werden konnte. Das misslang aber aufgrund eines technischen Defektes.1614 Das Gespräch zur CAS-Tagung in Versailles vom 19. bis 29. November 1973 fand am 14. Dezember 1973 in der DDR statt. Böhme hatte sofort nach Rückkehr aus Paris Lauter angerufen und mitgeteilt, »dass nicht alles so glatt verlaufen« sei »wie erwartet«. Worauf Lauter sich »verwundert« gezeigt habe und gefragt haben soll, »ob denn die Amerikaner nicht da waren«. Das war genau das, was das MfS hören wollte. Das MfS stellte abschließend fest, dass Lauter die Bedeutung des Projektes SESAME hochspiele, dass es kein globales Interesse gebe und dass Lauter damit lediglich die Interessen einer (westlichen) Gruppierung folge. Genau dies aber war – allein aus dem Blickwinkel der CAS – grundfalsch. Das MfS schätzte ferner ein, dass durch den IM »günstige Voraussetzungen geschaffen« worden seien, um die »Übernahme der internationalen Funktion durch Professor Lauter bei der WMO zu verhindern«. Der IM werde mit dem Generalsekretär der Akademie Grote ein Gespräch zu dem Zwecke führen, einen anderen DDRVertreter für diese Funktion zu lancieren. Hierzu werde Böhme durch das MfS auf das Gespräch mit Grote vorbereitet werden.1615 Der nächste Sachstandsbericht des MfS folgte am 15. Januar. Die operative Bearbeitung Lauters war weiter »qualifiziert« worden. Demnach war die Installation einer »inoffiziellen Expertengruppe« zur »Nachweisführung eines eingetretenen 1612  HA XVIII/5/3 vom 9.1.1974: Bericht zum OV »Beamter«; ebd., Bl. 182–189, hier 184–187. 1613 Selbstständige Arbeitsgruppe des MfS für die Beschaffung und Bereitstellung operativ-technischer Mittel, Materialien und Ausrüstungen. 1614  HA  XVIII/5/3 vom 9.1.1974: Bericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 2, Bl. 182–189, hier 189. 1615  Gespräch von »Hans« mit Lauter am 14.12.1973; ebd., Bl. 190–196, hier 193–196.

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Schadens durch vorsätzliche Handlungen Lauters« erfolgt. Ein IM, der im engen beruf‌lichen Kontakt mit Lauter stand, hatte dargelegt, »dass die Themen, wie sie seit Jahren unter Leitung von Lauter in der DDR bearbeitet wurden, eigentlich gar nichts in der IK-Kooperation zu suchen« hätten. Insgesamt wurden in diesem Sachstandsbericht alle bisherigen vagen Anhaltspunkte wiederholt, diesmal so apodiktisch, als wären es bewiesene Tatsachen. Die strategische Bedeutung des Forschungsprofils von SESAME sah das MfS nur pro-westlich, also zur Verwendung der Daten für den »Flug von Interkontinentalraketen«, dem »Einsatz von Raumgleitern (Space-Shuttle)« und dem »Einfluss auf Messungen im Infrarot- und Mikrowellenbereich«. Lauter, wurde festgestellt, genieße Hochachtung bei seinen amerikanischen Kollegen. Er sei »Sprecher dieses Programms« und unternehme permanent »Aktivitäten, um dieses Programm im nationalen und internationalen Rahmen attraktiv und populär zu machen«.1616 Sachlich gesehen waren die Argumente der »strategischen« Bedeutung korrekt. Spätestens mit dem Shuttle-Programm der USA wurden weltweite Daten für die Landephasen notwendig; noch notwendiger würden sie künftig aufgrund der prognostizierten weltweiten Flüge von Luft-Raumfahrzeugen werden, einer der möglichen Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts.1617 Sein Ziel sei es gar, so das MfS, »sich mit seinem Institut und anderen ihm zur Verfügung stehenden Potenzialen voll an das Programm der NASA […] anzuschließen«.1618 Die folgenden Hinweise stammen aus einem offiziellen Bericht über das Auftreten der Delegation des MdI und des MD der DDR auf der 1. Speziellen Versammlung der IAMAP und IAPSO vom 14. bis 25. Januar in Melbourne. An der Tagung nahmen Vertreter von 30 Staaten teil. Die meisten kamen aus den USA (118), abgeschlagen folgten Großbritannien mit 23 und die Bundesrepublik mit 18 Wissenschaftlern. Die Sowjetunion entsandte sechs, wobei allerdings weitere 40 mit einem Forschungsschiff angereist waren und auch auf dem Schiff übernachteten. Auf dem Kongress sei diesbezüglich »von einer ›Invasion der UdSSR‹« gesprochen worden. Die DDR-Delegation ohne Lauter hatte alle eingereichten Beiträge vorgetragen und zur Diskussion gestellt. Sie sollen »zum Teil starke Resonanz« hervorgerufen haben. Der politische Ton in diesem Bericht war der allbekannte: »Die Delegation hatte ständigen Kontakt mit der UdSSR-Delegation. Beim Vorgehen der DDR-Delegation zur Frage der offiziellen Bezeichnung unserer Delegation wurde vorher die UdSSR-Delegation konsultiert.« Und die auf die eigene Abgrenzung hypertroph achtende DDR-Seite hielt schamlos fest, dass »die erhaltenen Tagungsmaterialien« diesmal »außerordentlich spärlich« waren. »Der schon bei anderen Tagungen festgestellte 1616  HA XVIII/5 vom 15.1.1974: Sachstandsbericht zum OV »Beamter«; ebd., Bl. 201–207, hier 201 u. 204. 1617  Jedoch, da es suborbitale Flüge sein werden, auch mit erheblichen Problem- und Konfliktpotenzialen, z. B. hinsichtlich militärischer Aspekte, nationaler Egoismen und zweier zu verbindender Rechtsräume: Luftraum und Kosmos, sowie vielfältiger Logistik- und Infrastrukturfragen. Stichwort: Space-Liner-Konzept. 1618  HA XVIII/5 vom 15.1.1974: Sachstandsbericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 201–207, hier 206.

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Trend, keine Kopien der vorgetragenen Arbeiten mehr anzubieten, erreichte auf dieser Konferenz den höchsten Grad. Es wurden nur sporadisch eine geringe Anzahl von Vortragsmanuskripten ausgelegt.«1619 Und weiter: »In politischen Gesprächen konnte einem Vertreter Australiens (Clarke) die stabile ökonomische Grundlage des sozialistischen Weltlagers und der DDR dargelegt werden.« Es mag an Peinlichkeit gegrenzt haben, wenn etwa betont wurde, dass bei den »Werktätigen Australiens« die DDR, »unsere Republik einen guten Ruf« besitze: »Dies ging aus den Reaktionen hervor, wenn wir ihre Frage nach dem Woher mit German Democratic Republic beantworteten. Die Antwort war meist ›Ah, Democratic Germany‹, worauf meist eine Schilderung der Geschäftemacherei in Australien folgte.« Gegen die falsche Bezeichnung der DDR-Delegation mit East Germany sei, so die Berichterstatter, erfolgreich interveniert worden. Die BRD-Delegation wurde mit West Germany ausgewiesen, was die DDR-Delegation beanstandete. Die Delegaten hätten jedoch »nach eingehender Beratung untereinander« beschlossen, hierzu »keine Schritte« zu unternehmen, »da die ordnungsgemäße Bezeichnung der BRD in erster Linie Sache der BRD-Delegation selbst« sei.1620 Eine Art Resümee zum OV »Beamter« vom 22. Januar enthält wiederum keine neuen Erkenntnisse, die auch nur entfernt gerichtsfest zu nennen gewesen wären. Breiten Raum nahmen die angeblichen »Disziplinlosigkeiten« Lauters ein, wenn etwa an Eigenmächtigkeiten im Ablauf seiner Auslandsdienstreisen erinnert wird (veränderte Reiserouten, eigenmächtiges Wechseln der Verkehrsmittel, unerlaubte Entfernung von der Delegation u. ä.). All den sogenannten Fakten haftete ein eigentümlicher, tendenziöser Geschmack an. In Bezug auf Lauters Kooperationsofferten zur NVA im Beirat Interkosmos formulierte das MfS in seiner Sicherheitsmanier: »Die Forderungen Lauters stehen im Gegensatz zur vereinbarten Form der Zusammenarbeit zwischen NVA und AdW, die darin besteht, durch die AdW der NVA Leistungen anzubieten, damit der Gesamtkomplex der wissenschaftlich-technischen Interessen der NVA für Außenstehende nicht sichtbar wird.« Oder Lauters »neuer Trend«: Nachdem er »1972 aus dem Koordinierungskomitee und dem Wissenschaftlichen Beirat Interkosmos entfernt wurde und damit sein weiterer Zugriff zu Informationen über die Interkosmos-Forschungen infrage gestellt war«, habe er Initiativen über einen Mitarbeiter entwickelt, Einfluss auf die Festlegung der Geheimnisschutzgrade zu nehmen, um weiterhin an Informationen heranzukommen. Schließlich wurde in gleicher »Faktenbeugung« lapidar festgestellt, dass Lauter Schreibpapier besitze, das »zur Herstellung von Geheimschrift im Durchschreibeverfahren geeignet« sei. Und: »Bei den wiederholten Durchsuchungen wurde der Bogen jedes Mal an anderen Aufbewahrungsorten innerhalb der Wohnung gefunden.«1621 1619  Bericht der Delegation des MdI und des MD auf der 1. Speziellen Versammlung der IAMAP / I APSO vom 14.–25.1.1974 in Melbourne; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 377, S. 1–10, hier 2–4. 1620  Ebd., S. 5–7 u. 10. 1621  HA XVIII/5 vom 22.1.1974: Feststellungen zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 196–200, hier 200.

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Mielke greift ein Erich Mielke wurde am 4. Februar persönlich um eine Entscheidung zu Lauter ge­beten. Das betraf dreier Schritte gegen Lauter, die mit einem Schlag für seine Karriere eine Kehrtwende bedeuteten: Entbindung als Direktor des ZISTP, Herauslösung aus internationalen Organisationen und Reisesperre für den Westen. Mielke zeichnete am 7. Februar mit »einverstanden« ab. In der Einleitung des Papieres wird auf die Information vom 6. Januar 1972 (siehe S. 755) verwiesen, in der das »schädigende Verhalten« dargelegt wurde und in dessen Folge die Abberufung als Generalsekretär der AdW erfolgt war. Im Papier sind Vorhaltungen behauptet, die mit dem Ton angeblich bewiesener Tatsachen argumentierten. So gesehen konnte Mielke nicht anders als sein »Einverständnis« geben; hier einige Auszüge: Zu Lauter hätten »feindliche Kräfte Kontakt hergestellt«, ihm sei »das Angebot zum Verlassen der DDR unterbreitet« worden. Er habe bei dienstlichen Reisen die Delegation wiederholt unerlaubt verlassen; in seiner Wohnung sei »ein handschriftlicher Bericht über Gespräche mit sowjetischen Wissenschaftlern festgestellt« worden; er habe »Interesse an militärischen Geheimnissen« gezeigt; das Schreibpapier, das bei konspirativen Hausdurchsuchungen gefunden worden sei, sei »zur Herstellung von Geheimschrift im Durchschreibeverfahren geeignet«.(Nicht einmal diese niedergeschriebene »Tatsache« war von der Abteilung 34 so behauptet worden.) Ferner sei er antisowjetisch eingestellt, auch behindere er die Kommunikation mit der Sowjetunion in der Interkosmosfrage. Obgleich er von Weiz gezwungen worden sei, seine internationale Präsenz zurückzufahren, baue er sie weiter aus.1622 Dem Schlüsseldokument zum Verständnis wissenschaftspolitischen Handels folgte am 12. Februar das nächste, es beinhaltete den Maßnahmeplan der HA XVIII/5 zu den vom »Genossen Minister angewiesenen Maßnahmen zu ›Beamter‹«. Die Abteilung beschloss folgende Schritte: 1. Gespräch mit Weiz – als Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates und Minister des MWT – im Beisein von Klare und Grote. Dazu werde eine Vorbereitung erfolgen, bestehend (1) aus der »Gewinnung« von Weiz für die oben skizzierten Aufgaben einschließlich der Terminierung eines hierfür notwendigen Vorbereitungsgespräches, (2) Konsultationen mit der HA IX zur Besprechung und Fixierung strafrechtlicher Aspekte, (3) einem zu führenden Gespräch mit Grote ebenfalls mit der Gewinnungsabsicht für die Aufgabe der Entmachtung Lauters. Der Part Grotes bestand einmal in der vorbereitenden Instruktion Klares und in einem Ersuchen an Blagonrarow, Generalsekretär der AdW der UdSSR, Lauter »aus dem COSPAR und anderen internationalen Organisationen« zurückziehen zu dürfen. Die Entscheidung Blagonrarows werde ein Beauftragter von ihm der DDR-Seite mitteilen. Ferner (4) die Rolle von Böhme alias IM »Hans« hinsichtlich der Instruktion Grotes: »Unterstützung der Einflussnahme auf Genossen Professor Grote durch Klarstellung von ›Beamter‹ erfolgter Desinformation gegenüber Professor Grote« sowie (5) ein »erneutes Gespräch mit Genossen Dr. Weiz 1622  Schreiben von Mittig an Mielke vom 4.2.1974; ebd., Bd. 2, Bl. 219–221.

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zu seiner detaillierten inhaltlichen und taktischen Vorbereitung (gemeinsam mit HA IX) auf das mit ›Beamter‹ zu führende Gespräch«. Ein weiterer Maßnahmepunkt bestand in der Einleitung der Reisesperre für Lauter »bei der HA VI und Sicherung ihrer Wirksamkeit«.1623 Am 14. Februar notierte das MfS, dass die »Voraussetzungen getroffen« worden seien, dass Lauter die Funktion im Rahmen der WMO nicht übernehmen könne. »Mit dem Ziel der Absicherung dieser Aktivität und in Wahrnehmung der üblichen Gepflogenheiten vereinbarte der IM ein persönliches Gespräch mit dem Generalsekretär der AdW, Professor Dr. Grote.« Dieses Gespräch fand tags zuvor im Dienstzimmer Grotes statt. Hierin teilte Böhme Grote mit, dass er als Meteorologe in der WMO tätig sei, sollte heißen: was braucht es da einen Lauter. Grote werde vom Minister des MdI ein diesbezügliches Schreiben demnächst erhalten. Aus fachlicher Sicht sei eine Abstimmung der Arbeiten zwischen dem MD und der AdW notwendig. Die Abstimmung, so Böhme, müsse aus wissenschaftspolitischer Sicht schnell erfolgen. Das Gespräch beinhaltete auch andere Themen wie etwa die Übergabe einer Wetterbild-Empfangsstation an Kuba und Lauters SESAME. Diesbezüglich teilte er Grote mit, dass Lauter angeblich geäußert habe, dass für dieses Koordinierungsprogramm »keine besonderen Kapazitäten zur Verfügung gestellt werden« müssten. Böhme behauptete, dass die Sowjetunion am Projekt »kein besonderes Interesse« habe. Die Hauptinteressen gingen von den USA aus. Des Weiteren gab er Grote einige Details von der CAS-Tagung, den Argumenten Saweyers (UK) und die Nichtwahl von Mustel sowie den Vorschlag, Lauter die Position des Rapporteurs zu übergeben, bekannt. Grote soll sich »sehr erstaunt über die Darlegung des IM« gezeigt haben. Er will von Lauter hierzu keinerlei Informationen erhalten haben. Vielmehr will Grote von Lauter erfahren haben, »dass er sich aus den internationalen Organisationen zurückziehen wolle«.1624 Ein Brief Böhmes an Grote ist vermutlich nicht abgeschickt worden. Er schrieb hierin von seiner Teilnahme an der Sitzung der CAS der WMO, auf der Lauter »als Rapporteur zum Projekt SESAME und damit zugleich als Mitglied der CAS-Arbeitsgruppe über Stratosphäre und Meeressphäre vorgeschlagen« worden sei. Er, Böhme, habe Lauter über die Sitzung informiert. Lauter habe den Einsatz eines jüngeren Wissenschaftlers an seiner Stelle zugestimmt. Der Generalsekretär der WMO bat Böhme – als Ständigen Vertreter der WMO – hierzu seine Zustimmung zu geben. Da Lauter aber der AdW angehöre, wende er, Böhme, sich also an Grote. »Unabhängig« von noch zu diskutierenden wissenschaftlichen Themen, bat Böhme Grote, »mir den mit dem zuständigen Organ abgestimmten Vorschlag zur weiteren Veranlassung zu übermitteln«.1625

1623  HA XVIII/5 vom 12.2.1974: Maßnahmeplan zur Realisierung der Anweisungen Mielkes; ebd., Bl. 224 f. 1624  HA XVIII/5/3 vom 14.2.1974: Bericht zum OV »Beamter«; ebd., Bl. 226–233. 1625  Böhme an Grote (o. D.); ebd., Bl. 234.

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Für den 17. Februar plante das MfS eine neuerliche konspirative Durchsuchung des Arbeitszimmers Lauters in Adlershof. Besonders suchte es nach Belegen, die Übereinkünfte »hinsichtlich der Profilierung des ZISTP mit den BRD-Wissenschaftlern« (drei Namen sind genannt) betrafen. Überdies war man schlicht an allem interessiert, was auf Papier festgehalten sein mochte.1626 Die Durchsuchung wurde termingerecht realisiert. Ein Mitarbeiter der Abteilung 26 prüfte die Möglichkeit der Installation der Maßnahme »B« (Abhören mit Mikrofon), dazu seien nach seiner Einschätzung aber noch weitere Prüfmaßnahmen bezüglich »der Verlegung der Leitungen über die Schaltzentrale« erforderlich. Im Schreibtisch entdeckten die Offiziere acht Blatt DIN A4 »älterer Herkunft«. Sie entwendeten ein Blatt zu Untersuchungszwecken.1627 In einem Papier der HA XVIII vom 20. Februar behauptete das MfS vor dem Hintergrund der staatspolitischen Bedeutung und damit des herausragenden Sicherheitsbedürfnisses der Kosmosforschung der DDR, dass »von leitenden Kadern der Interkosmos-Arbeit in der AdW« das Engagement des MfS gewürdigt werde, u. a. hinsichtlich seines Beitrages »zur gezielten Zuführung geeigneter Kader für die Besetzung von Schlüsselpositionen im Sicherungsbereich, zur Schaffung eines geschlossenen Objekts für Interkosmos-Forschungen innerhalb der AdW« sowie »zum Einsatz eines Sicherheitsbeauftragten«. Diesen habe das MfS geholfen, sich gegenüber »dem ständigen Druck einzelner Kräfte« zu wehren, »die auf eine Zusammenarbeit in der Raumforschung mit den USA und der BRD zu orientieren« versuchten. Ihnen habe es »durch geeignete politisch-operative Maßnahmen bei der Stabilisierung ihrer Positionen und bei der Durchsetzung der wissenschaftspolitischen Linie der Parteiführung Hilfe und Unterstützung gegeben«. Das sei bereits umgesetzt und deutlich geworden in der Person Lauters, dem man schrittweise die Wirkungsmöglichkeiten genommen und »durch staatliche Maßnahmen aus Schlüsselpositionen« entfernt habe. In der Folge sei das Institut für Elektronik entstanden, das von Hans-Joachim Fischer geleitet werde, »der ein Repräsentant derjenigen jüngeren Wissenschaftler« sei, »die konsequent die Wissenschaftspolitik der Partei- und Staatsführung« durchsetzten sowie »eng und kameradschaftlich mit den Wissenschaftlern der UdSSR« zusammenarbeiteten »und von deren Seite hohe Wertschätzung« komme.1628 Lauter war mit dem zähen Fortschritt der Zusammenarbeit und den Facharbeiten seitens der Sowjetunion in der KAPG nicht zufrieden, den modernen Anforderungen werde diese Organisation keinesfalls gerecht. Auch waren die Forschungswünsche gewachsen, nicht aber die finanziellen Mittel zu deren Befriedigung. Lauter soll

1626 HA XVIII/5/3 vom 11.2.1974: Vorschlag für eine operative Maßnahme; ebd., Bd. 3, Bl. 201–204. 1627  HA XVIII/5/3 vom 20.2.1974: Aktenvermerk; ebd., Bl. 205 f. 1628  HA XVIII vom 20.2.1974: Zum Sicherheitsbereich »Interkosmos«; ebd., Bd. 2, Bl. ­235–237, hier 236.

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dies Boulanger so auch gesagt haben, oder in der Sprache Pätzolds, »immer mehr zur Panik« getrieben haben. Dieser Bericht des Sicherheitsbeauftragten gleicht in Einzelheiten einer Offenbarung. Das KAPG, das letztlich ein »koordiniertes, einheitliches, abgestimmtes Auftreten aller sozialistischen Akademien in den überstaatlichen Organisationen« zu gewährleisten hatte, sei, so Pätzold, diesen Aufgaben einfach nicht mehr gewachsen. Die Aktivitäten seien zu gering, als dass sie zu einer rechtzeitigen gemeinsamen Abstimmung gereichen könnten. Das sowjetische NKGG gleiche mit seinen über 100 Mitarbeitern einem Verein, nicht aber einem Nationalkomitee. »Für die Jahreshauptversammlung der IUGG in Grenoble 1975« würde »bereits jetzt ein Einbruch der sozialistischen Länder vorausgesagt, da die Zeit zwischen Moskau und Grenoble nicht genutzt« worden sei, »um Kader aufzubauen«. Dagegen sei »kein führender Wissenschaftler in der BRD bekannt, der nicht wenigstens ein Jahr in den USA gearbeitet« hätte. Ohne diese Praxiserfahrung hätten sie keine Chance auf Führungspositionen. »In diesen Fragen« sei »die KAPG zu wenig beweglich. Das gegenseitige Verstehen, das abgestimmte Auftreten könnte durch Überwindung dieser Schwierigkeiten wesentlich gestärkt werden. Die Grenzen der Unbeweglichkeit der KAPG, die mangelhafte Abstimmung in Inhalt und Organisation, sind Grenzen, die schnellstens überwunden werden müssen.«1629 Am 21. Februar berichtete Ruben, dass sich Lauter anlässlich eines Besuches leitender Funktionäre der Bezirksparteileitung, der Parteileitung der Akademie, des Rates des Bezirkes und anderer Funktionäre in den Zentralinstituten ZIPE, ZIAP und ZIfE (ZI für Ernährung) ruhig verhalten habe, »dass er sehr still« gewesen sei, »keine Forderungen« gestellt »oder sich« anderweitig »in den Mittelpunkt zu spielen versucht« habe.1630 Ein Bericht der HA XVIII/5/3 vom 26. Februar bezog sich auf die Arbeit der eingesetzten IM-Expertengruppe zur Tatbestandsermittlung nach Paragraf  165 StGB in Sonderheit der dazugehörenden konspirativen Wohnungsdurchsuchung am 17. Februar. Die Untersuchungen würden derzeit noch andauern. Neue Fakten enthielt auch dieser Bericht nicht, alles erschöpfte sich mehr oder weniger in Behauptungen, wonach »eingeschätzt werden« müsse, »dass sich Professor Lauter in Bezug auf seine Zielstellungen zur Nutzung der KAPG für SESAME tarnt«. Dies will das MfS festgestellt haben aufgrund der Information, wonach Lauter geäußert haben soll, das Projekt SESAME nicht im Rahmen der KAPG zu bearbeite. Er habe dies eben »unterschwellig«, so IM »Hans«, versucht. Dass die wissenschaftlichen Gundlagenforschungsrichtungen sich in den diversen Unterdisziplinen glichen, bedingten oder komplementär zueinander lagen, das interessierte, besser: wollte 1629  Bericht vom 6.11.1974: Zur gegenwärtigen Situation in der Kommission der Akademien der Wissenschaften sozialistischer Länder für die multilaterale Bearbeitung des komplexen Pro­blems »Planetare geophysikalische Forschung« (KAPG); BStU, MfS, BV  Potsdam, VA  29/79, Teil  II, Bd. 1, Bl. 309–317. 1630  BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Astronom« am 21.2.1974; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 307.

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das MfS nicht begreifen. Also schlussfolgerte Böhme, dass Lauter sich einen »neuen Deckmantel« umhänge, um »mit dem Potenzial der KAPG internationale Projekte zu verwirklichen« sowie »seine Ziele« und »Vorstellungen künftig als die der KAPG auszugeben«.1631 Obgleich Lauter aus der AdW-Kreisleitung der SED ausscheiden musste, hatte ihn Parteisekretär Klemm als »Propagandist für Fragen der internationalen Wissenschaftspolitik« vorgesehen. Tatsächlich arbeitete Lauter unermüdlich weiter, bereits im November 1973 hatte er geäußert, dass seine »›Quarantäne‹ nun zu Ende sei und er mit der Kritik an der Leitung der AdW nicht länger zurückhalten wolle. […] ›Das Schweigejahr‹« sei für ihn vorbei.1632 Am 27. Februar führte das MfS ein Gespräch mit Weiz und verlangte – im Sinne der oben von Mielke abgesegneten Konzeption – folgende Schritte zu Lauter: Ausreisesperre, Entbindung von der Funktion des Direktors des ZISTP, vorbereitende Schritte für das Gespräch von Klare und Grote mit Lauter über diese Maßnahmen sowie die »Sicherung der wissenschaftlichen Vertretung der DDR in internationalen wissenschaftlichen Organisationen durch den Einsatz eines zuverlässigen und fähigen Wissenschaftlers«. Weiz soll hierzu »sein volles Einverständnis für die Notwendigkeit dieser Schritte zum Ausdruck« gebracht haben und »sofort bereit« gewesen sein, »am nächsten Tag die Reisesperre für Professor Lauter zu veranlassen«. Es eilte, denn die Reisedirektive für Sao Paulo (siehe unten) war schon in Arbeit. Überdies werde Weiz »in Übereinstimmung« mit Klare »Maßnahmen vorbereiten, die eine strukturelle Veränderung des gegenwärtigen« ZISTP »nach sich ziehen und die damit eine weitere Wahrnehmung der Funktion eines Direktors durch Professor Lauter überflüssig« machten.1633 Bei der Wiederbesetzung der vakant werdenden internationalen Positionen wolle man prüfen, ob es »überhaupt notwendig« sei, »die DDR im COSPAR vertreten zu lassen«. Weiz hatte bereits am 28. Februar mit Klare und Grote das Gespräch geführt. Auch Klare soll »sein volles Einverständnis zum Ausdruck gebracht« haben. Klare und Grote hätten Maßnahmen eingeleitet, die eine Ausreise Lauters in den Westen verhinderten.1634 Es ist eine Reisedirektive für die Teilnahme einer DDR-Delegation an der 17. Plenarsitzung des COSPAR vom 17. Juni bis 1. Juli in Sao Paulo (Brasilien) tradiert. Die Veranstaltung war in Verbindung mit dem 4. Internationalen Symposium für solar-terrestrische Physik des SCOSTEP geplant. Teilnehmen sollten: Lauter, Delegationsleiter, Mitglied des Sekretariates und Exekutivkomitees des COSPAR, Leiter der COSPAR-Arbeitsrichtung Satelliten- und Raketenexperimente in der Atmosphäre, Mitglied des SCOSTEP und des Programmkomitees des Symposiums;

1631 HA XVIII/5/3 vom 26.2.1974: Sachstandsbericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 238–253, hier 240 f. 1632  HA XVIII/5 vom 27.2.1974: OV »Beamter«; ebd., Bl. 254–257, hier 255 f. 1633  HA XVIII/5 vom 1.3.1974: OV »Beamter«; ebd., Bl. 258 f. 1634  Ebd., Bl. 259.

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Wolfgang Böhme, Direktor des MD der DDR sowie Christian-Ulrich Wagner, Bereichsleiter Sonnen- und Magnetosphärenphysik des ZISTP.1635 Das damalige Hauptbemühen des COSPAR bestand in der Erdbeobachtung mittels Satelliten und Raumstationen für die Ressourcenforschung. Die DDR, so ist festgestellt worden, engagiere sich seit neun Jahren im obersten Leitungs­gremium; allerdings thematisch »ausschließlich auf dem Gebiet der solar-terrestrischen Physik«, exakt: Messprogramme zur Physik der Sonne, des Erdmagnetfeldes und der Atmosphäre. Die Mitarbeit der DDR werde »ausschließlich aufgrund von Abstimmungen mit dem sowjetischen COSPAR-Komitee (Blagonrawow)« gestaltet. Das SCOSTEP war die Nachfolgeorganisation des ICSU-Komitees für die »Jahre der ruhigen Sonne«, ebenfalls von der Sowjetunion initiiert. Die DDR nahm seit 1962 an den Arbeiten dieses Komitees teil. Die Sowjetunion koordiniere das weltweite Beobachtungsnetz der Observatorien (MONSEE). Lauter war für die globalen atmosphärischen Forschungsprogramme verantwortlich, Wagner gemeinsam mit Shulin (Sowjetunion) für das IMS. Am STP-Symposium wollte sich die DDR mit vier Vorträgen beteiligen (Lauter und Wagner je zwei). »Beide Vertreter« seien »gehalten, keine Informationen über die multilaterale Zusammenarbeit abzugeben, sondern das dem sowjetischen Vertreter zu überlassen. Sie haben die Entwicklungstendenzen fachlich und wissenschaftspolitisch zu verfolgen«.1636 Auf Gebieten, die von der DDR eigentlich hätten besucht werden müssen, also Satelliten-Tracking, APT-Satelliten u. ä., habe Lauter Originalarbeiten und Informationen aller Art zu besorgen und »nach Rückkehr zu übergeben«. Die Beschaffung von Dokumenten war der DDR stets ein Hauptanliegen. Politisch gefordert wurde: »Sollte die Entscheidung des COSPAR bestehen bleiben, 1975 einer Einladung nach Israel zu folgen, enthalten sich die DDR-Teilnehmer nicht nur aller Vorschläge zur Ausgestaltung und Aufgabenstellung der nächsten Generalversammlung, sondern sie machen ihren Einfluss dahin geltend, dass keine attraktiven wissenschaftspolitischen Programme nach dort vorverlegt werden.« Die DDR-Delegation war ferner »gehalten, keinerlei Informationen über die Zusammenarbeit mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Ländern zu geben.« Weitere Hinweise zum Auftreten der Delegation hinsichtlich der Propagierung der DDR-Politik sind formuliert, etwa, das Argument des »schnellen ökonomischen Fortschritts der sozialistischen Länder«.1637 Am 7. März fand auf Bitte Lauters ein Gespräch mit Grote mit dem Ziel statt, ihm die Ausreise nach Paris zu einer vorher stattfindenden COSPAR-Sitzung zu ermöglichen. In dem Bericht hierzu steht vermerkt, dass Lauter »eine Erklärung dafür« wünsche, »dass nun auch seine Tätigkeit auf internationalem Gebiet ein1635  Vgl. ZISTP vom 1.3.1974: Reisedirektive für die Teilnahme einer DDR-Delegation an der 17. Plenarsitzung des COSPAR vom 17.6.–1.7.1974 in Sao Paulo; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 362, S. 1–6, hier 1. 1636  Ebd., S. 2–4. 1637  Ebd., S. 5 f.

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geschränkt« werde. Er soll, so Offizier Ribbecke, »abfällige Bemerkungen über die Wissenschaftspolitik der DDR, deren Opfer Genosse Prey geworden« sei, gemacht haben. Darüber hinaus sei er »durch einige aggressive Bemerkungen gegen die Politik der DDR« aufgetreten, wogegen sich Grote verwahrt habe. Am darauf‌folgenden Tag soll Lauter »im Institut sehr nervös« gewesen sein, »sodass seine engsten Mitarbeiter den Eindruck hatten, dass er deprimiert und unsicher« wirke. Gegenüber Stiller soll Lauter sich dahingehend geäußert haben, dass die DDR aus ihm einen Sacharow machen wolle. Stiller soll ihm gesagt haben, dass er aber dann nur ein kleiner Sacharow werden könne.1638 Zu diesem Gespräch liegt ein offenbar von Grote angefertigtes Gedächtnis­ protokoll vor. Danach habe Lauter die Gespräche gesucht, um erstens zu neuen internationalen Entwicklungen zu informieren und zweitens einen »Einspruch wegen der Entscheidung« Grotes zur »Nichtvertretung des Projektes SESAME durch« ihn »bei der WMO« vorzubringen. Lauter soll bei dem Gespräch vorgebracht haben, dass »wichtige Arbeiten« des UNO-Ausschusses für friedliche Nutzung des Weltraums »durch COSPAR initiiert« würden. Lauter erwähnte diverse Rechtsfragen beispielsweise auf dem Gebiet der Nachrichtensatelliten (etwa Störungen von Telekommunikationsverbindungen).1639 Dies waren Fragen, die in das Weltraumrecht mündeten und heute zum Standard internationaler Vereinbarungen zählen.1640 Das Gedächtnisprotokoll zeigt, dass Lauter die wachsende Komplexität der an­ stehenden Probleme voll begriff, ein Umstand, der bei den sicherheitsbetonten, eher rückwärtsschauenden Funktionären nicht gut ankam. Bei diesen war die Globalisierung kein Begriff, weder naturgesetzlich, umwelttechnisch und schon gar nicht wissenschaftspolitisch. Lauter hierzu: »Auf der COSPAR-Generalversammlung in Brasilien würden brandneue Ergebnisse des Skylab-Experiments vorgetragen. Es seien auch Gespräche und Informationen unter der Hand zu erwarten. Es komme darauf an zu überlegen, wie man das nutzen könne. Z. B. müsse man prüfen, inwieweit man mit konventionellen Satelliten weiterarbeitet, wenn man in wenigen Jahren alle notwendigen Ergebnisse vorliegen habe. Im Zusammenhang damit müsse auf neue Regulationen geachtet werden, z. B. muss man feststellen, welche Konstituenten (gemeint waren offenbar die zur Aufklärung bestimmter naturgesetzlicher Zusammenhänge zu bestimmenden Parameter) in Zukunft notwendig seien. Bei der Umweltforschung sei diese Frage besonders wichtig. Das wird auch im letzten KAPG-Bericht formuliert. Z. B. habe man bisher noch keinen Überblick über die wirksamen physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Der Einfluss des CO2 -Gehalts der 1638  HA XVIII/5 vom 11.3.1974: Bericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 265 f. Andrei D. Sacharow, Physiker. 1639  Gedächtnisprotokoll vom 7. u. 12.3.1974; ebd., Bl. 260–264, hier 260. 1640  Vorreiter des Denkens über Rechtsfragen in der Raumfahrt war Vladimír Mandl (1899– 1941). Zahlreiche Aktivitäten und Schriften zu diesem Thema, weiland war sein Buch »Das Weltraum-Recht« umstritten; vgl. Mandl, Vladimir: Das Weltraum-Recht. Ein Problem der Raumfahrt. Mannheim, Berlin, Leipzig 1932. In der DDR war hierin der Völkerrechtler Gerhard Reintanz (1914–1997) profiliert, zum Beispiel: ders.: Weltraumrecht. Berlin 1967.

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Atmosphäre auf die Energiebilanz sei noch unbekannt usw.« Der Vorsprung der USA auf dem Gebiet der Nachrichtentechnik (Nachrichtensatelliten) betrage zehn Jahre. Lediglich auf dem Gebiet der Wettersatelliten stehe die Sowjetunion »kurz vor dem Einholen« der USA. Man müsse bedenken, dass die USA jederzeit ihre von Satelliten gesendeten Daten durch Codierung verschließen könnten, was die Sowjetunion »ohnehin« tue. Lauter erwähnte diesbezüglich das PM-System, dass er »gegen den Widerstand von unverständigen Leuten ›hineingeprügelt‹« habe. Das Experiment mit der bemannten Raumstation Skylab »bezeuge die eindeutige Überlegenheit der USA«. Im »UNO-Ausschuss passiere nichts, was nicht im Detail im COSPAR vorberaten und abgestimmt worden sei«.1641 Lauter sprach vom harten Brot dieser Aufgaben. »Jüngere, weniger erfahrene Wissenschaftler können die umfangreichen Informationen und vielfältigen Beziehungen ideologisch nicht aufarbeiten«. Schmelovsky, Knuth, Felske, alle »seine ehemaligen Schüler« seien »noch zu jung«. Er selbst wollte COSPAR schon aufgeben, es sei ihm jedoch geraten worden, diese Funktion »weiterzuführen«. »Die ›kleine Lüge‹, nach der er Interkosmos zugunsten COSPAR aufgegeben habe, stimme nicht.« Das ­SESAME-Projekt habe er selbst vorgeschlagen, es habe eine zehnjährige Vorgeschichte. Er habe international 40 Wissenschaftler für das Projekt gewonnen, auch aus der Sowjetunion. Deren »Teilprogramm« sollte er »vor einem NASA-Gremium« vortragen, »er war eingeladen, habe das aber nicht wahrgenommen.« Er favorisierte ohnehin Wagner, der müsse allerdings vorher aus dem Interkosmos-Programm herausgelöst werden. Er erfülle alle Voraussetzungen. Lauter wollte wissen, ob seine eigene Herausnahme aus den internationalen Aktivitäten von ihm, Grote, ausgehe. Grote will gesagt haben, dass dies »eine dringende Empfehlung« sei, da seine »internationalen Aktivitäten so unübersichtlich geworden seien, dass es unmöglich sei, zu entscheiden, welche der ständig neuen Aufgaben ›bestellt‹ und welche objektiv notwendig seien«.1642 Das brachte Lauter offenbar in Rage, denn dann müsse er »sofort« Blagonrarow, den Präsidenten des COSPAR, SCOSTEP und Mitarbeiter seiner Arbeitsgruppe schriftlich in Kenntnis setzen, dass die Anweisung von der AdW komme. Er werde bei Weiz und der Partei »gegen eine solche Festlegung protestieren«. Lauter soll dann Grote noch einmal gefragt haben, von wo die Anweisung gekommen sei. Grote will geantwortet haben, dass »eine direkte staatliche Weisung« vorliege, »dass er nicht mehr (vorläufig) in kapitalistische Länder fahren dürfe, und dass man daraus Schlüsse für« seine »Funktionen ziehen müsse«. Lauter soll sich zwar beherrscht, aber unsachlich [sic!] argumentiert haben. Er sei bereit, alles niederzulegen, »man solle ihm alles sagen. Er sei ja nicht der erste, der wissenschaftlich totgemacht werde, er habe das auf diesem Platz auch schon machen müssen [als Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften – d. Verf.], hätte aber wenigstens in solchen Fällen einen 1641  Gedächtnisprotokoll vom 7. u. 12.3.1974; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 260–264, hier 260 f. 1642  Ebd., Bl. 261.

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klaren politischen Grund sagen können. Ob er nicht wenigstens das Recht« habe »zu erfahren, warum eine solche Maßnahme ergriffen« werde. Er habe immer Disziplin geübt, die Direktiven umgesetzt. Das Spitzenniveau der solar-terrestrischen Physik werde somit »zugrunde gerichtet«: »Aber gute Wissenschaftler seien in der DDR offensichtlich nicht gefragt.« Grote führte dann »mögliche Gründe der Weisung« auf. Wie die lauteten, ist nicht überliefert, kann aber an der Reaktion Lauters erahnt werden. Demnach habe Lauter diese »entschieden zurück« gewiesen, er habe sein Amt nicht »ausgenutzt«. »Er halte die solar-terrestrische Physik tatsächlich für die wichtigste Forschungsrichtung, weil die ganze Umweltproblematik direkt von ihren Ergebnissen abhängig sei. Dies habe man nur in der DDR nicht erkannt«. Er sehe in Weiz seinen Widersacher. »Prey habe ja auch daran glauben müssen, obwohl er am wenigsten Schuld« getragen habe »(fast wörtlich, ohne nähere Erläuterungen)«. Weiz habe es nicht ertragen können, dass er, Lauter, »ihm mehrmals widersprochen hätte«. Grote will dann auf ein neues Gespräch am 12. März orientiert haben, um zu sehen, welche Funktionen »endgültig« niederzulegen seien.1643 Ein Bericht der HA XVIII/5 vom 12. März rekapitulierte den Verlauf des Gesprächs am 7. März und birgt einige zusätzliche Informationen, zum Beispiel zur Frage der Funktion des Generalsekretärs. Lauter soll demnach auf eine weitere vierjährige Amtszeit verzichtet haben zum Ärger von Weiz, »da dieser keinen Widerspruch vertragen könne«. Am 8. März habe Lauter Stiller von einem Gespräch berichtet, in dem er ihm gesagt haben soll, dass das Reiseverbot von den betreffenden internationalen Organisationen hoffentlich »nicht zum Anlass« genommen werde, »dass seine Angelegenheit zu einer Art Sacharow-Fall in der DDR hochgespielt würde«. Worauf Stiller »scherzhaft« geantwortet haben soll, das könne ja dann nur ein »hundertstel Sacharow« sein. Tatsächlich aber machte sich die DDR erhebliche Sorgen um die Außenwirkung. Lauters Wunsch nach wahrheitsgemäßer Information der internationalen Organisationen werde nicht hingenommen, Grote drohte mit disziplinarischen Maßnahmen. Entsprechend der Inneren Ordnung der Akademie mussten Schreiben »in Abstimmung mit dem Generalsekretär« erfolgen, »um zu verhindern, dass Briefe mit nicht sachlichem Inhalt« ins Ausland gelangten.1644 Lauter begriff rasch, dass er verloren hatte. Er kannte das Regime. Jedenfalls soll er gesagt haben, »meinetwegen bin ich auch zufrieden damit, wieder nach Kühlungsborn zu gehen, gebt mir eine Arbeitsgruppe von vier oder fünf Mann und ich bin zufrieden«. Grote hatte anschließend Weiz über »die Gespräche« informiert. Weiz will die von Lauter ihm zugesprochenen Aussagen mit Erstaunen zur Kenntnis genommen haben, es sei »ausgemachter Schwindel, insbesondere die Frage, dass Lauter von Anfang an nur vier Jahre amtieren wollte sowie die von ihm gemachte Aussage, dass er bereit gewesen sei, COSPAR zugunsten Interkosmos aufzugeben«. Weiz hielt den Vorschlag Lauters, nach Kühlungsborn zu gehen und dort mit einer Gruppe von vier bis fünf Mann zu arbeiten, für akzeptabel, er sei damit »voll einverstanden. 1643  Ebd., Bl. 261 f. 1644  HA XVIII/5 vom 12.3.1974: Bericht; ebd., Bl. 268–273, hier 271 f.

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Das sei die beste Lösung«. Anschließend wurde Klare informiert. Auch der soll sich mit den Maßnahmen einverstanden erklärt haben. Dieser Bericht formulierte erste Überlegungen zur Wahrnehmung der bisherigen internationalen Funktionen Lauters und die Frage: Wen könne man wo hinsetzen, »wobei es sicher nicht lebensnotwendig für die DDR« sei, »unbedingt eine Funktion im COSPAR zu besetzen«. Zu SCOSTP sollte höchstens ein Vertreter entsandt werden, »wahrscheinlich ist es auch nicht notwendig, dass unbedingt dort jemand von der DDR teilnimmt«. Ferner bei der KAPG, »dafür käme beispielsweise Professor Kautzleben infrage«. Und bei der URSI »würde sich möglicherweise ein Vertreter des Institutes für Elektronik anbieten, evtl. Professor Schmelovsky oder Professor Sprenger« vom ZISTP.1645 Zu dem Gespräch am 12. März liegt ein Gedächtnisprotokoll von Grote vor. Demnach habe Lauter seine Bereitschaft erklärt, seine Funktionen in COSPAR sowie die Leitung für SESAME aufzugeben, nicht aber jene als nationaler Repräsentant des SCOSTEP. Grote will geantwortet haben, dass er nur das Reiseverbot durchzusetzen beauftragt sei, mithin fielen damit alle Funktionen zum Opfer. Lauter argumentierte anhand mitgebrachter Schreiben von betreffenden internationalen Gremien, aus denen hervorging, dass man auf Lauters Engagement setze. »Er hoffe, dass sein Rücktritt nicht vom COSPAR-Büro oder von anderen Organisationen zum Anlass genommen« werde, »einen internationalen Skandal zu produzieren.« Worauf Grote meinte, dass das wohl von seinem disziplinierten Verhalten abhänge. Lauter gab ihm zu verstehen, dass es ihm »alles leichter fallen« würde, »wenn er nicht wüsste, wie solche Verdächtigungen zustande kämen, durch hingeworfene Bemerkungen etc. Das sei das Schlimmste, dass er sich nicht einmal wehren könne.« Lauter soll angedeutet haben, dass er in seinen Rücktrittsbriefen schreiben werde, »dass er ›auf Rat seiner Akademie die und die Funktion aufzugeben habe‹«, worauf Grote sagte, dass das nicht infrage komme, er solle schreiben »Auf Rat der AdW habe ich mich entschlossen, die und die Funktion aufzugeben«. Damit soll sich Lauter einverstanden erklärt haben. Er wurde aufgefordert, die Kladden der Briefe erst zur Bestätigung vorzulegen. Erst danach dürfe er die Briefe absenden. Zudem sei – entgegen der Forderung Lauters – der Kreis der Anzuschreibenden auf fünf bis sechs Personen zu beschränken. In die Enge getrieben bat Lauter, ihm doch »das wenigstens in Anstand tun« zu lassen, »wie das die internationale Höflichkeit erfordert«. Blagonrarow wolle er jedenfalls »direkt über dessen Sekretär (Balajew) informieren«.1646 Lauter »habe schon Vorstellungen«, so Grote, »wie diese Maßnahmen zustande« gekommen seien: »Man habe inzwischen gemerkt, dass man Interkosmos und ­COSPAR nicht trennen könne, da IK auf COSPAR angewiesen sei. Jetzt wolle man, offensichtlich auf sowjetischen Hinweis, beides wieder – ohne ihn, Lauter – zusammenführen.« Es sei [X], der dahinterstecke, der könne ihn nicht mehr in die Augen sehen; nicht dagegen Stiller, Fischer, auch nicht Knuth und Felske. »Er sei sicher, 1645  Ebd., Bl. 272 f. 1646  Gedächtnisprotokoll vom 7. u. 12.3.1974; ebd., Bl. 260–264, hier 262 f.

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dass die Angriffe gegen ihn nicht aus der UdSSR kämen, dort wisse man seine Leistungen besser zu schätzen.« Warum aber, so ein Argument Grotes, dann Petrow »so wenig Kontakt mit dem COSPAR suche«, beantwortete Lauter damit, dass Petrow Techniker sei wie Interkosmos Technik sei und nicht Science wie COSPAR. Lauter habe dann aber erklärt, »das Verbot könne natürlich auch ›von jenseits des Ganges‹ kommen, ›du verstehst?‹« Lauter soll ferner erklärt haben, dass er die Arbeit in den Gremien nicht einfach aufgeben könne, deshalb müsse diese Angelegenheit auf die Tagesordnung der COSPAR-Bürositzung gesetzt werden, worauf Grote erwidert haben will, dass dies sehr von seinem disziplinierten Verhalten abhänge. Er bat zu prüfen, ob nicht wenigstens Wagner nun nach Brasilien fahren dürfe. »Es wurde festgelegt«, so heißt es, »dass Lauter folgende Funktionen aufgibt«: im COSPAR: Büromitglied, Mitglied des Exekutivkomitees, Vorsitzender der Arbeitsgruppe 4 und Nationaler Repräsentant; in SCOSTEP: Mitglied des Komitees, Vizevorsitzender der Arbeitsgruppe »Atmosphärische Programme« und Nationaler Repräsentant; in URSI: Leiter einer Arbeitsgruppe und Vizevorsitzender des Nationalkomitees; sowie in der KAPG: stellvertretender Vorsitzender und Leiter der Unterkommission 2.1647 Zu dem zweiten Gespräch am 12. März zwischen Grote und Lauter in der Konsequenz der Entscheidungen vom 7. März existiert ein Bericht der HA XVIII/5. In ihm ist vermerkt, dass Lauter zu den Rücktritten sein Einverständnis erklärt haben soll. Demnach werde er »aus dem Büro des Komitees für Raumforschung (­COSPAR) als Mitglied sowie als Leiter der Arbeitsgruppe 4 des COSPAR« ausscheiden. Ferner werde er »in einem Brief an den COSPAR-Präsidenten de Jager, Niederlande, mitteilen, dass er diese Funktionen auf Empfehlung der Leitung der AdW niederlegt. Eine Begründung dafür werde er nicht angeben. Lauter sicherte auf Verlangen Professor Grotes zu, dass er diesen Brief und weitere in dieser Angelegenheit von Lauter für notwendig erachtete Schreiben an Personen oder Institutionen im Ausland vor Absendung bei Professor Grote zur Bestätigung vorlegen wird. Lauter soll eindeutig darauf hingewiesen worden sein, dass eine Nichteinhaltung dieser Zusage als Verletzung der staatlichen Ordnung bewertet werden würde. Er soll versichert haben, sich an die staatliche Ordnung zu halten, jedoch darauf bestanden habe, über die getroffene Entscheidung betreffs seiner bisherigen COSPAR-Funktionen Blagonrarow zu informieren. Er beabsichtigt, zu diesem Zweck mit Blagonrarows Sekretär Balajew zu telefonieren.«1648 Zum Vorschlag Lauters, Wagner nach Brasilien zu schicken, bemerkte das MfS: »Wagner ist ein der Politik der DDR nicht positiv gegenüberstehender Wissenschaftler mit kirchlichen Bindungen«. Er bewege sich auf der Linie Lauters. Zurückzutreten bzw. zurückzuziehen sei Lauter außer bei den Verzweigungen des COSPAR bei der URSI, inklusive der Aufgabe des Vorsitzes des Nationalkomitees der DDR für die URSI (»Vorstellungen hinsichtlich einer weiteren Vertretung der DDR in der

1647  Ebd., Bl. 263. 1648  HA XVIII/5 vom 14.3.1974: Bericht; ebd., Bl. 274–277, hier 274.

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URSI« würden bislang nicht bestehen), ebenso habe er zurückzutreten als stellvertretender Vorsitzender der KAPG. Weiz und Grote hätten sich auf Stiller als Nachfolger geeinigt. Lauter werde allerdings die »nationale Vertretung der DDR gegenüber dem Spezialkomitee der ICSU für solar-terrestrische Physik (SCOSTEP) wahrnehmen« dürfen. Diese Funktion erfordere keine Auslandsreisen. Auch werde Lauter Mitglied im Präsidium des NKGG der AdW bleiben. Am 12. März soll Lauter nicht direkt auf seinen Vorschlag, nach Kühlungsborn zu gehen, eingegangen sein, aber es sei denkbar, »wenn er sicher sei, dass dann Ruhe einträte. Angesichts der schon längere Zeit andauernden Einschränkungen seiner Tätigkeit glaube er jedoch nicht daran, dass das der Fall sein würde.«1649 Ohne Datum ist ein handschriftlich verfasstes Dokument im Nachlass Lauters tradiert mit folgendem Wortlaut: »1. Ich bin überzeugt, dass die mir aufgezwungenen Verzichte auf internationale [unleserlich] vorrangig von Professor Grote« ausgehen. 2. [zunächst von Lauter als Nr. 3 nummeriert] Ich [unleserlich], dass ich noch vom … 3. [zunächst von Lauter als Nr. 2 nummeriert] Ich bitte um Bestätigung, dass in Bezug auf meine … 4. Ich bitte um Abberufungsschreiben aus den [unleserlich] (einschließlich COSPAR) und bitte [unleserlich] ›im gegenseitigen Einverständnis‹ [unleserlich].1650 Böhme führte am 18. März »auftragsgemäß ein Gespräch« mit Generalsekretär Grote. Ziel war es, Hintergründe zum Projekt SESAME sichtbar zu machen. Offenbar diente diese Besprechung der Vorbereitung Grotes auf ein Gespräch mit Lauter, dass dieser erbeten hatte. Der offenkundige Zweck, eine fachliche Vorbereitung Grotes samt Einsteuerung operativer Aspekte Knauts, ist nicht aufgeführt. Man unterhielt sich über Fallfragen, etwa, wenn Lauter weiterhin in Richtung SESAME arbeite und damit die westliche Seite »oder auch vonseiten der SU bestimmte Aktivitäten unternommen« würden, »um diesen Beschluss anzuzweifeln oder rückgängig zu machen«. Grote soll sich sicher gewesen sein, »dass nicht damit zu rechnen« sei, »dass von sowjetischer Seite oder anderen sozialistischen Ländern in Bezug auf Lauter Interventionen unternommen« werden würden. Grote teilte Böhme mit, dass Lauter ihm gesagt habe, dass er hinter der Affäre das MfS vermute. Eine »ihm näherstehende Person« habe das »verraten«. Bemerkenswert ist, dass Lauter offenbar Personen nach dem inversen Ausschlussverfahren nannte (siehe oben), so als ob er auf einen (non)verbalen Hinweis gehofft haben mag. Seinen Widerpart und Dauergesprächspartner Böhme nannte er gar nicht. In diesem Bericht ist festgehalten, was in die offiziellen Akten nicht kam, jene Person nämlich, die die Rücktrittsbriefe Lauters zu kontrollieren hatte. Nicht Grote, sondern Böhme: »Dem IM wurden Briefe und Entwürfe von Briefen vorgelegt, die Professor Lauter an die Vertreter der internationalen Organisationen verschicken will. Der IM hat diese

1649  Ebd., Bl. 274–277. 1650  Notizzettel mit der Überschrift »R. Grote« (o. D.); ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 357, 1 S.

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Briefe übersetzt (siehe Anhang [nicht im OV »Beamter« tradiert. Diese befinden sich im ArchBBAW]) und gab insgesamt dazu folgenden Kommentar:« Größere »Unsachlichkeiten oder unrichtige Darstellungen« gebe es nicht. In den englischsprachigen Texten fand er jedoch Passagen, die verschieden interpretiert zu werden die Möglichkeit boten. So gehe aus den betreffenden Textstellen »deutlich« hervor, »dass Lauter darum bittet, von seinen Funktionen gestrichen zu werden, andererseits kann man aber auch lesen, dass Professor Lauter darum bitten muss, ihn aus diesen internationalen Funktionen herauszunehmen«. Man müsse also »nochmals einen hochqualifizierten Übersetzer zu Rate ziehen«, so Böhme zu Knaut, »um vielleicht diese oder jene Passage noch in dem Sinne umzuändern, dass die Informationen zwischen den Zeilen gänzlich herausgelassen werden können«.1651 Lauter bekam just an diesem Tag, dem 18. März, einen weiteren Gesprächstermin bei Weiz. Er wisse, so Lauter, dass Weiz der Entscheidungsträger für sein aktuelles Schicksal sei. Er komme nicht, um zu bitten, diese Entscheidung wieder rückgängig zu machen. Er wolle nur »die notwendige Sicherheit für seine weitere Arbeit« wieder zurück, er brauche »›seine persönliche Sicherheit‹. […] Er ›ertrage nicht mehr die Demütigungen, die er zwar nicht beweisen könne, die sich aber laufend abgespielt haben‹. Die Situation sei für ihn verzweifelt.« Grote habe ihm keine Gründe dafür nennen können, der angeblich »›von nichts wisse und lediglich eine Weisung zu befolgen‹« vorgegeben habe. Er besitze Hinweise, dass »›etwas bei Weiz liegen‹« müsse. Man betreibe gegen ihn eine »Zermürbungstaktik«, »›ohne dass ich weiß, was ich verbrochen habe, was ich falsch gemacht habe, das halte ich nicht mehr aus‹.« Lauter soll sich dabei auf die Spaltung seines Institutes und seine »›Ausbootung aus Interkosmos‹« bezogen haben; Lauter: »›Diese Unsicherheiten belasten mich menschlich ungeheuer.‹«1652 Es gehe »nicht darum«, so Weiz, ihm »Steine in den Weg zu legen und ihm das Leben schwer zu machen«. Er sei eben »manchmal über das Ziel« hinausgeschossen, damals in seiner Zeit als Generalsekretär. Er, Weiz, habe niemand beauftragt, »etwas für oder gegen« ihn »zu tun«. Vielmehr stand die Frage »Interkosmos oder ­COSPAR«, das habe »mit der Person« Lauters nichts zu tun gehabt. Weiz hätte es gern gesehen, wenn Lauter sich für Interkosmos entschieden hätte, das aber habe er nicht getan, da er kein »Techniker sei und seine Stärke auf anderem Gebiet liege«. Lauter würde »oft eine überbetonte Aktivität entwickeln, die sich jedoch nicht immer in die politischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten einordnen« würde. Zumindest mit diesem Protokoll entsteht der Eindruck, dass sich Weiz drückte, ja nicht einmal sonderlich bemüht war, intelligente Gründe zu nennen, seine Vorhaltungen blieben feige und vage: für den Ruf eines Wissenschaftlers seien

1651  HA XVIII/5/3 vom 5.4.1974: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 26.3.1974; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 308–311. 1652  Bericht vom 18.3.1974: Information: Bericht; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. ­278–282, hier 278.

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»seine Leistungen« wichtig »und nicht nur« Aktivitäten »durch Mitgliedschaften in Gremien kapitalistischer Länder«. Auch in diesem Gespräch war die Vergatterung Lauters für dessen Austrittsschreiben wichtig, »seinen Partnern im NSW werde er mitteilen, ›ich habe mich entschlossen und mit der Akademie der Wissenschaften der DDR abgestimmt‹« zu schreiben. Weiz will zugestimmt und ihm gebeten haben, »keine Schwierigkeiten entstehen zu lassen. Es sei z. B. nicht gut und völlig unverständlich, wenn er auf den Wunsch seiner Akademie hin, die Tätigkeit im NSW einzustellen, das Wort ›Sacharow‹ in den Mund genommen habe. Zum ›Sacharow‹ könne nur werden, wer sich zum ›Sacharow‹ machen lässt.« Lauter stellte klar, dass die Intention des Gebrauchs des Wortes »Sacharow« genau umgekehrt war. »In langen Ausführungen« soll Lauter dann sein Spezialgebiet, die solar-terrestrische Forschung, gewürdigt haben. »Wenn wir die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die unsere Umwelt bestimmen, nicht in die Hand bekommen«, werde dies Milliarden kosten. Lauter stellte auch die Frage, »ob es ihm verboten sei, Literatur aus dem NSW zu beziehen.« Ihm wurde gesagt, dass er das könne, dürfe aber »nur solche Informationen« weitergeben, »die bei uns veröffentlicht sind.« Der folgende Absatz ist insofern bemerkenswert, als dass er die Kälte von Weiz wiederzugeben in der Lage ist: »Lauter erklärte, dass es ihm einfach darum gegangen sei zu erfahren, ob er ›konkret etwas falsch gemacht habe‹ und ›ob er noch etwas zu erwarten habe‹.« Darauf soll Weiz geantwortet haben: »Das müssen Sie besser wissen als ich, darüber Auskunft zu geben haben Sie jetzt Gelegenheit‹.« Und Lauter darauf: »Ich fühle mich unschuldig.« Abschließend ermahnte Weiz Lauter noch einmal »nichts Unbesonnenes zu tun«. Die Einstellung seiner Westverpflichtungen solle er »zu seiner eigenen Sache« machen.1653 Am selben Tag bat die HA XVIII die Abteilung 26 »um die Genehmigung zur unverzüglichen persönlichen Abholung der vorhandenen Berichte«. Es handelte sich um die von der Abteilung 26 »eingeleiteten Aufträge A 340 und A 65 sowie ›B‹ zu ›Beamter‹«.1654 Die HA XVIII übermittelte der BV Rostock den Hinweis, dass es zu Lauter Entscheidungen gegeben habe, die »sich auf das Verhalten der betreffenden Person erheblich auswirken« würden. Mithin sei er unter ständiger operativer Kontrolle zu halten, dazu zählten ein »›A‹-Auftrag« in der Wohnung in Kühlungsborn und Schriftfahndung durch »M« (Postkontrolle) der BV Rostock.1655 Eine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Gründen seines Ab­schusses erhielt Lauter nicht. »Er hätte bis hinauf zu Weiz alle gefragt, was der Grund sei, dass man ihn aus COSPAR zurückgeholt habe, er hätte aber von keinem eine definitive Antwort erhalten«. Er werde sich ein halbes Jahr zurückziehen und auf Tätigkeiten der KAPG konzentrieren.1656 Zur COSPAR-Tagung in Sao Paulo wurde 1653  Ebd., Bl. 279–282. 1654  HA XVIII vom 18.3.1974; ebd., Bl. 284. 1655  Vgl. HA XVIII vom 20.3.1974; ebd., Bl. 286. 1656  Abschrift vom 19.6.1974: Bericht von »Bernhard« am 7.5.1974; BStU, MfS, TA  77/89, Bd. 4, Bl. 45–47, hier 46.

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Böhme anstelle von Lauter geschickt. Westdeutsche Wissenschaftler fragten bei der DDR-Delegation nach, ob Lauter »etwa in Ungnade gefallen sei«.1657 »Natürlich nicht«, lautete die eingeübte Antwort der DDR-Delegaten mit IM-Auftrag. Lauter lieferte Grote am 20. März die gewünschten »Rücktrittsgesuche«. Er bat, ihm die Entwürfe entweder als Bestätigungen oder versehen mit Abänderungswünschen über Karl-Heinz Schmidt zurückzusenden, da er sich im Urlaub befinden werde.1658 Die »Gesuche« bekamen: Akademiemitglied Professor Blagonrarow, Moskau, in seiner Eigenschaft als Vizepräsident des COSPAR mit Datum vom 20. März. Lauter schrieb: »einem Ratschlag meiner Akademieleitung folgend, habe ich mich entschlossen, meine Mitarbeit im Büro und Exekutivrat des COSPAR zu beenden und auch den Vorsitz der Arbeitsgruppe 4 niederzulegen. Ich werde dementsprechend nicht mehr an der Bürositzung im April dieses Jahres teilnehmen.« Er bedankte sich abschließend »für die jetzt fast zehnjährige Zusammenarbeit und Unterstützung« und das ihm »entgegengesetzte Vertrauen«.1659 Die Eingangs­ sequenz, die Lauter wählte und die er Grote am 12. März offenbar abgerungen hatte, damit der Urheber des »Rücktrittswunsches« nicht ganz zu verschwinden drohte, zeigte letztlich doch den Initiator. Folgte der zweite Briefentwurf an de Jager, dem Präsidenten des COSPAR, ebenso wie alle Entwürfe, die an Grote gingen, vom 20. März. Lauter schrieb: »due to personal circumstances, I have decided to cancel my responsibilities with in COSPAR. So I am asking you, to give me a dispense from my duties as  a Bureau member as well as from those as the Chairman of ­COSPAR-working group 4. […] I have informed Academician Blagonrarow about my decision. […] My decision has been agreed by my academy, which at a proper time will also nominate a new national member to COSPAR.«1660 Ein weiterer Brief ging an H. Friedman, Präsident des SCOSTEP. Lauter schrieb: »Having in hand your proposal about the new structure of SCOSTEP and its new composition, to be set up during the next General Meeting this year, I have decided, not to prolong my activities within the committee. So I am asking you to cancel my duties as the vice-​ chairman of the Atmospheric Study Group and as the convener for the SESAME project.« Grote hatte diese ersten drei Briefe mit »Einverstanden« und Paraphe am 29. März abgesegnet.1661 Den Briefentwurf für Bowholl, Chairman of the Program Committee of IV. Symposium on Solar-terrestrial-Relation, USA, zeichnete Grote mit Änderungen – nach Rücksprache mit Schmidt – ebenfalls am 29. mit Einverstanden ab. Der Entwurfstext, Auszug: »I have informed the Presedent of ­SCOSTEP, that I have decided not to prolonge my duties in our committee. This includes also my non-participation in the Brazil-Symposium. Therefore I (durchge1657  Bericht von »Klaus Stephan« vom 7.8.1974; BStU, MfS, A 371/86, Bd. 1, Bl. 43–45, hier 43 f. 1658  Vgl. Schreiben von Lauter an Grote; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 365, 1 S. 1659  Schreiben von Lauter an Blagonrarow; ebd., 1 S. 1660  Schreiben von Lauter an de Jager; ebd., S. 1 f., hier 1. 1661  Schreiben von Lauter an Friedman; ebd., 1 S.

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strichen: have to) ask you to cancel my membership within the program committee. Expecially I (gestrichen: have to) (ergänzt: would like) to inform you that my in­ tended aurvey paper will not be available. Also my participation in the joint program committee meeting in Paris in April this year is cancelled. I hope that Dr. Champion is willing to cooperate with you in this matter, so that my decision will not affect the organisation too (durchgestrichen: sessians by, eingesetzt: seriansly).«1662 Am 20. März gab der Vorsitzende des URSI-Nationalkomitees Hans Frühauf zu Beginn der Sitzung den Rücktritt Lauters von beiden Funktionen (Stellvertreter Frühaufs und Leiter einer Arbeitsgruppe) bekannt. Mehr als diese Tatsache konnte er jedoch nicht mitteilen. Lediglich mit Grote sprach er, dem er die Frage gestellt habe, ob der Rücktritt mit der Akademieleitung abgestimmt worden sei. Grote habe gesagt, dass der Entschluss bekannt sei, »lediglich die Eile überrasche«. Frühauf bedauerte in seiner Ansprache den Rücktritt, da er Lauter »als einen äußerst begabten und in der internationalen Tätigkeit befähigten Wissenschaftler« schätze. Er wolle Erkundigungen einholen. Von den Anwesenden soll »es keine Bemerkungen« gegeben haben.1663 Am 25. März fand eine neuerliche konspirative Durchsuchung der Wohnung Lauters statt. Der Verfasser kennt keinen OV, der eine solch hohe Frequenz in der Durchsuchung der Wohn- und Diensträume hatte wie dieser. Wieder entnahm man ein Blatt Papier aus der Briefmappe »Pompadour«. Die Briefmappe »Berlin«, »worin sich dieses Papier zum früheren Zeitpunkt befand, war völlig ausgeräumt«. Die Untersuchung durch Spezialisten habe aber keinen positiven Befund erbracht. Von aufgefundenen Schlüsseln wurden Abdrücke angefertigt.1664 Zur Durchsuchung am 25. März existiert ein zweiter Bericht mit ergänzenden Hinweisen: danach sei der »bekannte Bogen« untersucht worden mit dem Ziel, ob er »seit der Untersuchung am 9. April 1973 Veränderungen« aufweise. Es sei u. a. festgestellt worden, dass die »bisherigen Eindrücke« wegen des Gewichtes der auf ihm liegenden anderen Blätter »zurückgegangen« seien. Bis auf den Rückgang dieser »Prägekraft« seien keine anderen Eindrücke festgestellt worden. Ergebnis der Spezialisten: Der Bogen ist nicht benutzt worden. Der Spezialist der Abteilung 34 machte darauf aufmerksam, dass es weiteres Papier dieser Art gebe, und zwar als Block wie auch »als loses Papier, welches für Aufzeichnungen benutzt« werde. Dieses Papier gebe es auch in seinem Dienstzimmer. Man schließe daraus, »dass eine spezielle Präparation nicht vorliegt«. Insgesamt konnte kein Papier gefunden werden, das »für eine Nutzung als GKP oder Durchschreibepapier infrage« gekommen sei.1665 Ein Dienstreisebericht der HA XVIII/5/3 vom 27. März für den Zeitraum vom 21. bis 22. März gibt lediglich die üblichen operativen Standards wie die Aktivie1662  Schreiben von Lauter an Bowhill; ebd., 1 S. 1663 HA XVIII/5/3 vom 27.3.1974: Aktenvermerk zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 293 f. 1664  HA XVIII/5/3 vom 26.3.1974: Aktenvermerk zum OV »Beamter«; ebd., Bd. 3, Bl. 207 f. 1665  HA XVIII/5/3 vom 29.3.1974: Aktenvermerk zum OV »Beamter«; ebd., Bl. 209–212.

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rung von inoffiziellen Mitarbeitern zur Überwachung Lauters wieder, einschließlich der Ausdehnung der Kontrolle auch auf Juliusruh (Rügen)1666 sowie Fragen nach Aufenthaltsorten, Kontenbewegungen etc.1667 Das MfS gab sich mit den bisherigen Ergebnissen absolut nicht zufrieden. Die SED benötigte eine Legitimation für ihr Handeln. In Vorbereitung einer neuen Maßnahme zur Feststellung von Geheimkontakten Lauters berieten die Offiziere des Referates 3 der Abteilung 5 der HA XVIII mit den Kollegen der Abteilung 34. Man diskutierte am 9. Mai zunächst Verfahrensweisen des amerikanischen Geheimdienstes. Die Kollegen der Abteilung 34 bereiteten sich vor, »alle Voraussetzungen« zu »schaffen, um unter Beachtung der Konspiration gleichzeitig einen optimalen Eingriff der Maßnahmen« zu »gewährleisten«.1668 Am 1. April notierte Offizier Brederlow Informationen zu Lauter, die ihm Stiller gegeben hatte. Demnach habe Lauter mit der Leitung der AdW »eine Aus­sprache über seine Perspektive« gehabt. Lauter werde alle internationalen Gremien ver­ lassen, an seiner Stelle werde er, Stiller, treten. Lauter soll im Bereich seines Instituts davon gesprochen haben, dass er sich wie Sacharow behandelt fühle. Und dass er den Abschied »aus den internationalen Funktionen […] als Vorbereitung für eine Tätigkeit als Akademie-Präsident« ansehe, er werde nun »von Neben­ aufgaben frei gemacht«.1669 Offenbar eine gezielte Desinformation zur Steuerung des Unmuts. Eine wichtige Quelle vom 5. April aus der Aktenlage zu Böhme beleuchtet die Problematik um das Projekt SESAME im Zusammenhang mit Lauters erzwungenem Rücktritt und den ihm abgepressten Rücktrittsbegründungen. Böhme hatte am 13. März mit ihm hierüber gesprochen und am 26. März Offizier Knaut berichtet. Lauter vertrat demnach die Auffassung, dass mit seinem Rücktritt der DDR das Projekt SESAME verlorengehe. Er hätte gern weitergemacht. Die Welt werde jedenfalls weitermachen. Auch mag noch Hoffnung angeklungen sein, da diese Entscheidung, so Lauter, »doch größere Kreise ziehen« könne, insbesondere zeige die sowjetische Seite »größeres Erstaunen«.1670 Die KD Doberan beschloss am und für den 9. April operative Maßnahmen gegen Lauter: eine Personenkontrolle im Dienst- und Privatbereich, die Schaffung neuer Quellen und drittens die Maßgabe, »alle Möglichkeiten zur Erarbeitung und Dokumentierung von Beweisen für strafbare Handlungen und Mängel in der Leitungstätigkeit, insbesondere Funktionsmissbrauch durch die verdächtige Person,

1666  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 27.3.1974: Dienstreisebericht; ebd., Bd. 2, Bl. 287–289. 1667  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 27.3.1974: Aktenvermerk; ebd., Bl. 290–292. 1668  HA XVIII/5/3 vom 10.5.1974: Aktenvermerk zum OV »Beamter«; ebd., Bd. 3, Bl. 217 f. 1669  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 1.4.1974: Zu Lauter, HHI; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 140. 1670  HA XVIII/5/3 vom 5.4.1974: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 26.3.1974; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 308–311, hier 308.

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konsequent« auszuschöpfen.1671 Lauter war an dem Tag gemeinsam mit Böhme in Potsdam zur Teilnahme an einer Tagung des NKGG.1672 Am 7. Mai resümierte Knuth die COSPAR-Geschichte in Bezug zur DDR. Die erste Tagung des COSPAR in einem sozialistischen Land fand 1963 in Warschau statt. Daran nahm eine DDR-Delegation unter Lauter teil. Die Anerkennung der DDR-Leistungen erfolgte rasch, Lauter wurde 1966 Büromitglied. »Diese Tatsache« sei nach seiner »Beobachtung seinerzeit von den zuständigen staatlichen und wissenschaftlichen Stellen der DDR sehr hoch eingeschätzt« worden. Weitere Berufungen erfolgten. Auf Lauters »Initiative hin übernahm 1970 der Akademie-Verlag die Veröffentlichungen der jährlichen COSPAR-Vorträge ›Space Research‹«. Alle waren sehr zufrieden. Das Blatt sei geschätzt worden. Nach seiner Kenntnis habe sich Lauter in wichtigen Fragen mit den sowjetischen Partnern abgestimmt. »Desgleichen wurde übrigens auch der jährliche schriftliche DDR-Landesbericht stets vorher mit dem MWT und dem Rat Interkosmos abgestimmt.« Möglicherweise, so Knuth, habe Lauter die Aspekte COSPAR zur Zeit seiner Amtsausübung als Generalsekretär »glatt überzogen«. Er selbst hielt »die 1972 zum Durchbruch gekommene Quasi-​ Gleichsetzung von COSPAR und Interkosmos für völlig irreal und sogar für einige DDR-Forschungsprogramme gefährlich.« Die Interkosmos-Zusammenarbeit sei nach seiner und anderer Kollegen »Auffassung die für die DDR einzig denkbare Form, in der für uns eine echte wissenschaftliche und technische Raumforschung überhaupt möglich ist.« Und weiter: »Es kann unmöglich heißen ›COSPAR oder Interkosmos‹, sondern nur ›COSPAR für Interkosmos‹.1673 Doch die einzige richtige Formel hätte heißen müssen: Interkosmos für das COSPAR. Spätestens am 8. Mai wusste das MfS, dass sich der Rias-Journalist und Raumfahrtexperte Harro Zimmer1674 auf die Spur von Lauter gemacht hatte. Zimmer war weiland 1. Vorsitzender der Wilhelm-Förster-Sternwarte in Westberlin.1675 Zimmer war ein Kenner in den hier zur Diskussion stehenden Wissenschaftsfragen. Das MfS gelangte vermutlich im Mai in den Besitz eines Schreibens von Lauter an J. B. Gregory, der ihm am 2. Mai geschrieben hatte. Es geht in den Schreiben um das Projekt SESAME. Lauters Hauptabsicht bei der Kreation von SESAME war demnach, »alle Leute, die in den Gebieten der Meteorologie der Hochatmosphäre, der Aeronomie und benachbarter physikalischer Forschungsgebiete von den verschiedenen internationalen Körperschaften arbeiten, in Verbindung zu bringen«. Dies zu organisieren, wäre eine Aufgabe von SCOSTEP. Mit dem Projekt würde erreicht werden, den Energie-Haushalt der Erde theoretisch und messtechnisch 1671 KD Bad Doberan vom 9.4.1974: Maßnahmeplan; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 2, Bl. 297–300, hier 297. 1672  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 15.4.1974: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 11.4.1974; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 303–307, hier 303. 1673  BV Neubrandenburg vom 7.5.1974: Bericht; BStU, MfS, AIM  8365/87, Teil  I, 1  Bd., Bl. 10–13, hier 12. 1674  Zu Harro Zimmer siehe auch Buthmann: Konfliktfall »Kosmos«, S. 116. 1675  Vgl. HA XVIII/5 vom 8.5.1974: Information; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 295.

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zu erfassen. Überdies helfe das Projekt »das disziplinäre Denken zu überwinden«. Wissenschaftler, »die im Besitz wertvoller experimenteller Ausrüstungen sind« und »die Möglichkeiten haben entsprechende Raumforschung zu betreiben und die in wertvollen analytischen Methoden geschult sind« würden ermutigt, »ihre Arbeit auf die bedeutenden Probleme des notwendigen Fortschritts auszurichten, einen ständigen Austausch über die Ideen und Schritte des Fortschritts« zu organisieren. Lauter sah aktuell die Möglichkeit für gegeben, dass IAGA und IAMAP eine Arbeitsgruppe über Strato- und Mesosphäre etablieren könne, die SESAME dann zu übernehmen habe. Er diskutierte einige Wege und auch Gefahren der Nicht­ realisation des Projektes, insbesondere die Bedeutung des SCOSTEP, und betonte, dass es wesentlich sei, die Korrespondenz zwischen den Wissenschaftlern zu entfachen. »Jeder Wissenschaftler sollte sich erinnern, dass in den vergangenen Zeiten unsere prominenten Wissenschaftler ihre Meinungen, Ideen und Resultate hauptsächlich brieflich austauschten – und das oftmals mit mehr Erfolg als es heutzutage mit großen Symposien der Fall ist.«1676 Lauter »entdeckte« das Briefeschreiben. In einem dieser Briefe erinnerte er, dass SESAME seine Idee sei und dass es jetzt nach drei Jahren darauf ankomme, es zu modernisieren. Es gehe um reine Wissenschaftsfragen, etwa Modelle der »Kopplungsbedingungen von verschiedenen atmosphärischen Schichten«. Auch sollten Methoden erdacht werden, die »das Raketennetz und die Bodenmethoden« zusammenbrächten. Sein Text wurde plötzlich unterbrochen mit einer für Kenner der DDR-Wirklichkeit unmissverständlichen Botschaft: »Ich denke, dass, wenn ­SCOSTEP wünscht, eine weitere Aktivität auf diesem Gebiet zu haben  – die hoffentlich nicht beeinflusst ist durch meinen unerwarteten Rücktritt –, dass die Formulierung der Aufgaben und Fragen gegenüber anderen ICSU-Körperschaften der Hauptabschnitt in der sehr nahen Zukunft ist.« Er schloss: »Aus meinen Betrachtungen mögen Sie entnehmen, dass mein Interesse an diesem Gebiet nicht verschwunden ist. Wenn Sie dabei sind, mich in meinen früheren Aufgaben zu übertreffen, würde ich mich ganz glücklich schätzen.«1677 Am 10. Mai wusste das MfS zu berichten, dass Lauter die Entscheidungen zu seiner Person nicht verkrafte, er reagiere »betroffen und wütend«. Proteste von westlicher Seite habe es bislang nicht gegeben. Jedoch würden von dieser Seite aus »vorsichtige Sondierungen« seiner Situation versucht. Für Blagonrarow sei angeblich nicht die Person Lauters von Interesse, sondern vielmehr, dass möglichst rasch ein Nachfolger von der DDR benannt werde. Lauter hingegen versuche nun, seine gebliebene Funktion in der KAPG »zu erhalten und zu festigen«.1678 Die angebliche Position Blagonrarows aber war Wunschkonzert des MfS, denn am selben Tag notierte – weit entfernt von den Instruktionen der Zentrale in Berlin – Offizier Koschke 1676  Abschrift eines Schreibens von Lauter an Gregory, vermutlich Mai 1974; ebd., Bl. 301–303. 1677  Ebd., Bl. 303. 1678  HA XVIII/5/3 vom 10.5.1974: Hinweise über Pläne, Absichten und Reaktionen; ebd., Bl. 304–306.

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von der Abteilung XVIII der BV Neubrandenburg, dass Dieter Felske vom 17. April bis 1. Mai in New York im UNO-Hauptquartier »als Fachberater des ständigen Vertreters der DDR in der 1. Sektion der UNO für politische und Sicherheitsfragen, Genosse Kleinpeter«, teilgenommen und ein Gespräch mit Blagonrawow, Vizepräsident des COSPAR, gehabt habe. Demnach habe Blagonrarow »diesen Schritt der DDR für sehr unüberlegt und gefährlich« eingeschätzt. Die Stimme der DDR werde nun gerade auch in Hinblick auf wichtige Entscheidungen des COSPAR in Sao Paolo »fehlen«. Während der COSPAR-Bürositzung in Paris habe sich dies bereits gezeigt. Er verstehe nicht, wieso Lauter persönlich zurückgetreten sei. Das sei ihm »unverständlich«. Das gehe gar nicht. »Rechtlich« sei »nur die Akademie berechtigt, Lauter im Büro abzumelden und gleichzeitig den neuen Vertreter zu benennen«.1679 Noch im Mai wurde Knuth für Brasilien zur COSPAR-Tagung vorbereitet. Knuth verlangte jedoch Argumentationshilfe zur Personalie Lauter, sollte er in Brasilien nach ihm befragt werden. Er trat mit dieser Bitte an den Sicherheitsbeauftragten im Institut für Elektronik, Bliesener, heran. Er hatte ihm hierzu eine Liste mit Fragen zukommen lassen.1680 Sie enthielt 21 Fragen, davon circa zehn bis 13 mit mehr oder weniger direktem oder indirektem Bezug zu Lauter; Beispiele: »Ist Professor Lauters Abbruch der COSPAR-Kontakte endgültig oder nur temporär? Inwieweit wird er noch für COSPAR-Arbeitsgruppen zur Verfügung stehen? Auf welchen Gründen beruht Professor Lauters Ausscheiden? Welche Vertreter benennt die DDR für die Arbeitsgruppen und Panels? Wird Dr. Wagner entsprechend früherer Vorstellungen den IK-Vertreter im IMS-Steering Committee machen? Bleiben alle Publikationsvereinbarungen mit dem Akademie-Verlag in Kraft? Wie wird sich in Zukunft die DDR-COSPAR-Kommission zusammensetzen bzw. mit wem soll das COSPAR-Sekretariat die Kontakte führen? Wie sahen die Absageschreiben von Professor Lauter aus? Welche DDR-Wissenschaftler sind von Professor Lauter Ende 1973 als Vertreter für die Arbeitsgruppen und Panels benannt worden?«1681 Diese Fragen zeigen die Desinformiertheit im engeren Kollegenkreis und die ungelösten Probleme in Bezug auf die Kontinuität der internationalen Zusammenarbeit. Ein weiteres Schlüsseldokument zum Verständnis der Vorgänge um Lauter stammt vom 27. Mai. Es beinhaltet die Berichterstattung Böhmes vom 24. Mai. Die »Legende« eines mit Lauter zu suchenden Gesprächs bildete die künftige ­COSPAR-Tagung. Bei diesem Gespräch trug Lauter die Bitte an Böhme heran, Briefe an zwei COSPAR-Mitglieder zu übergeben. Das Gespräch aber rankte vor allem um die Frage, was Kollegen über seinen »Rücktritt« dächten. Einige, antwortete er, würden seinen Rücktritt »bedauern«. Und dann folgte jener Satz, der bezeugt, dass er keine Illusion hatte, wem er seinen Absturz zu verdanken habe; Zitat Böhme: »Nach Meinung von Professor Lauter« sei »die Abberufung eine Maß1679  BV Neubrandenburg, Abt. XVIII, vom 10.5.1974: Information; BStU, MfS, AIM 8365/87, Teil I, 1 Bd., Bl. 7 f., hier 8. 1680  Vgl. Bliesener vom 22.5.1974: Information über ein Gespräch mit Knuth; ebd., Bl. 9 u. 24. 1681  Anlage 1 vom 20.5.1974; ebd., Bl. 25 f.

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nahme der Staatssicherheit.« Er habe geäußert, dass »alle Personen, die seinen ›Fall‹ behandelten«, sich nicht in der Lage zeigten, eine »richtige Begründung« zu geben. »Auch Dr. Weiz hatte keine Begründung gegeben, sondern nur die Mitteilung, dass er den Auftrag habe, ihm diese Entscheidung mitzuteilen.« Lauter habe gemeint, dass »ein solcher Auftrag an Dr. Weiz nur von der Staatssicherheit kommen« könne. Ferner hätten ihm »verschiedene Kollegen« etwas in dieser Richtung »gesagt«.1682 Zu der Version Böhmes, wonach der erzwungene Rücktritt mit einem gezielten Manöver aus dem COSPAR im Zusammenhang stehen könne, schüttelte Lauter nur den Kopf. Das sei völlig ausgeschlossen. Böhme schätzte ein, dass Lauter die Verratsquellen suche, ihn selbst, so glaubte er, verdächtige er aber nicht. Der Vorgesetzte Knauts (Ribbecke) war sich da so sicher nicht, wie es Knaut gewesen sein mochte. Der schrieb unter den Bericht Knauts: »Beachten, dass die Briefübergabe eine Überprüfungsmaßnahme gegenüber ›Hans‹ sein kann. Abt. 34 auf konspirative Untersuchung orientieren. ›Hans‹ mit Legende ausrüsten für den Fall einer Konfrontation«.1683 Dies dürfte eindrucksvoll schief gegangen sein, wie es der Hinweis auf Johnson nahelegt: Knaut schrieb am 17. Juli einen 14-seitigen Bericht über den Einsatz Böhmes in Sao Paulo. Böhme hatte u. a. die Aufgabe zu registrieren, wie und mit welchen Erklärungen Lauters »Rücktritt« von führenden Wissenschaftlern des Westens aufgenommen worden war. Eine andere Aufgabe bestand darin, wissenschaftspolitische Absichten des Westens hinsichtlich der DDR-Wissenschaftler und ihrer Institute festzustellen. Böhme war sowohl Leiter der DDR-Delegation als auch der designierte Nachfolger Lauters für die Funktion im Büro des COSPAR. Die Sowjetunion hatte darauf gedrungen, diese Funktion im Interesse der sozialistischen Länder zu sichern. In diesem Bericht wurden auch jene Gespräche ergebnisorientiert referiert, die Böhme mit Lauter am 11. und 14. Juni geführt hatte. So der Wunsch Lauters, Briefe an Johnson (Präsident des SCOSTEP, USA) und Gregory (Mitarbeiter der Arbeitsgruppe  IV, Kanada)  zu übergeben. Die identischen Briefe (Original und Kopie) enthielten einen Kommentar Lauters zum Projekt SESAME. Böhme muss sie gelesen haben, denn er beurteilte die Ausführungen Lauters gegenüber dem MfS als »sehr ausgereift«. Es sei »klar deutlich, dass Lauter für bestimmte Interessengruppen, die in den internationalen Organisationen vertreten sind, Programme entwirft, diese Programme in der Praxis tragfähig gestaltet und den Austausch der Resultate organisiert«. Der Brief habe erkennen lassen, dass Lauter weiter an SESAME arbeiten wolle, nicht reisen könne und über Arbeitsergebnisse zu SESAME verfüge, die er mitteilen möchte. Böhme übergab die Briefe an Johnson am 18. und an Gregory am 24. Juni. Gregory soll den Inhalt des Briefes bereits gekannt haben, also hatte Johnson bereits mit Gregory gesprochen. Gregory würdigte »das große Werk« von Lauter, diese 1682  HA XVIII/5/3 vom 27.5.1974: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 24.5.1974; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 295–302, hier 295 u. 297–300. 1683  Ebd., Bl. 300–302.

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»Würdigung« werde ihm noch »persönlich« zugestellt werden. Das Projekt SESAME werde »weiterleben«. »Es wird alles getan werden«, berichtete Böhme, »damit dieses großartige Projekt nicht stirbt.« Es solle mit wissenschaftlichen Programmen auf der amerikanischen Orbitalstation Spacelab gekoppelt werden. Außer diesen beiden Wissenschaftlern fragten neun weitere Wissenschaftler nach Gründen seines Rücktritts. Zwei dieser Personen, beide aus der Bundesrepublik, glaubten nicht an Krankheitsgründe für den Rücktritt. Lauter war in der Tat äußerst vital. Der Sekretär des COSPAR, Niemirowicz (Polen), habe gemeint, dass der Rücktritt politisch begründet sei. Niemirowicz forderte Böhme auf, dies zu bestätigen oder zu zerstreuen: als Sekretär müsse er dies schließlich wissen. Böhme versuchte ungeachtet dessen ein Gespräch mit Johnson zu erreichen zum Zwecke der operativen Zielstellung »noch weitere konkrete Informationen über den Hintergrund der Rolle Lauters im Zusammenhang mit dem Projekt SESAME und seiner Tätigkeit im COSPAR zu erhalten«, doch dies ging schief, da ihm Johnson »auswich«. Einer von neun Wissenschaftlern, die sich für Lauters Schicksal interessierten, sei ein Engländer gewesen, dem Böhme geantwortet habe, »dass Professor Lauter weitere größere Aufgaben im Rahmen einer neuen Kooperation übernommen« habe. Der Engländer soll sich ob dieser Auskunft sichtlich erstaunt gezeigt haben. Einem Amerikaner aus dem Kreis dieser Fragesteller will Böhme geantwortet haben, dass Lauter »in Abstimmung« mit der AdW der DDR »eine neue Tätigkeit im Rahmen von Kooperationsbeziehungen und neuen Programmen übernommen« habe. Zu diesem Gespräch hatte Böhme gegenüber Offizier Knaut bemerkt, dass ihm die Gespräche auf fachlicher Ebene schwergefallen seien, da sein Kenntnisstand nur gering sei (sic!). Der Amerikaner habe den Vorschlag gemacht, einen versierten Wissenschaftler in die USA zur spezifischen Ausbildung zu entsenden. Böhme sagte Prüfung zu. Das MfS hatte bereits einen Kandidaten parat, den »IMF-Kandidaten ›Licht‹«. Der war von Böhme eingesetzt zur Satellitendatenauswertung.1684 In dem 14-seitigen Bericht sind Hinweise vorhanden, dass Böhme vom gegne­ rischen Geheimdienst unter die Lupe genommen worden sein muss (bestimmte Verhaltenssequenzen, Kenntnisstände, kriminelle Kompromittierung, kombinatorische Fragestellungen, Kofferverlust, der kam eine Woche verspätet an!). Dieser Bericht ist eine Offenbarung hinsichtlich des eigenen Dilettantismus und der fachlichen Dilemmata. Zum Einsatz in Sao Paulo hatte Böhme vom MfS wie üblich einen detaillierten, schriftlich ausgeführten Auftrag, den er mit »Hans« zu unterschreiben hatte, bekommen.1685 Ein Blick in einen der offiziellen Reiseberichte zur vom 16. Juni bis 5. Juli stattgefundenen 17. Generalversammlung des COSPAR mit Symposium on SolarTerrestrial Physics in Sao Paulo und Sao Jose zeigt die Erklärungsnot der Delegaten. 1684  HA XVIII/5/3 vom 17.7.1974: COSPAR-Generalversammlung vom 16.6.–2.7.1974 in Sao Paulo; ebd., Bl. 263–276, hier 263–268. 1685 Vgl. HAXVIII/5/3 vom 7.6.1974: Auftrag zur COSPAR-Generalversammlung; ebd., Bl. 292–294.

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Der Sofortbericht stammt von Karl-Heinz Bischoff vom Institut für Elektronik vom 9. Juli. Bischoff kritisierte, dass in Vorbereitung auf die Teilnahme eine bessere Instruktion zur Personalie »Lauter« notgetan hätte. Er hätte es »für zweckmäßig gehalten, wenn insbesondere wegen der zu erwartenden diffizilen Fragen ausländischer Tagungsteilnehmer hinsichtlich der im Frühjahr erfolgten personellen Änderungen in der DDR-Mitgliedschaft in den verschiedensten Gremien des COSPAR (Ausscheiden Professor Lauters) eine etwas detailliertere Delegationsbesprechung vor Antritt der Reise stattgefunden hätte. Ferner wäre ein Auftreten der DDR-Teilnehmer mit eigenen – mit dem sowjetischen Kooperationspartner abgestimmten – wissenschaftlichen Beiträgen wünschenswert gewesen«. Wenn man schon keine eigenen Beiträge lieferte, konnte man immerhin »wertvolle Informationen erhalten«, die es gestatteten, »a) den eigenen und den internationalen Stand des betreffenden Arbeitsgebietes richtiger einschätzen zu können, b)  die Entwicklungstendenzen (Verlagerung auf neue Gebiete etc.) rechtzeitig zu erkennen und c)  bei Detail­ problemen internationale Erfahrungen und Erkenntnisse nutzen zu können, die die Effektivität der an unseren Instituten laufenden Forschungsarbeiten beträchtlich erhöhen werden«.1686 Bischoff berichtete in der »Angelegenheit Lauter«, dass vier Personen, darunter der ehemalige Mitarbeiter des HHI Hans Volland1687, »nach den Gründen des Ausscheidens von Professor Lauter aus der COSPAR-Arbeit« nachgefragt hätten. Insbesondere Priester aus Bonn und Obayashi aus Japan »vertraten die Meinung, dass ›bei COSPAR‹ der Eindruck entstanden« sei, dass Lauter »in der DDR ›in Ungnade‹ gefallen« sei. Obayashi will sogar »gehört haben«, dass Lauter nicht mehr Direktor seines Institutes sei. Bischoff dazu: »Die Argumentation meinerseits entsprach den in der Direktive gegebenen Hinweisen (Übernahme anderer Aufgaben durch Professor Lauter).«1688 Es existieren Bemerkungen Blieseners zu diesem Sofortbericht, die aus einem aus seiner Sicht notwendig gewordenen Gespräch mit Bischoff stammten. Danach habe Alla Massewitsch, Delegationsleiter der sowjetischen Delegation, dem Vertreter Israels mitgeteilt, dass, wenn die Tagung 1975 in Israel stattfinden sollte, aus den sozialistischen Ländern keine Vertreter teilnähmen. Daraufhin sei der Beschluss gefallen, Varna (Bulgarien) als nächsten Ort zu wählen. Da Bulgarien aber Probleme bei der Durchführung haben werde, forderte deren Vertreter, Serafimof, vor allem technische Hilfen (Zurverfügungstellung von Schreibmaschinen, Schreibtechnik, 1686  IE der AdW vom 9.7.1974: Sofortbericht zur 17. Generalversammlung des COSPAR mit Symposium on Solar-Terrestrial Physics vom 16.6.–5.7.1974; BStU, MfS, AIM  1341/86, Teil  I, 1 Bd., Bl. 123–129, hier 124 f. 1687  Ab 1952 am HHI für Schwingungsforschung unter Hachenberg bis 1958. Nach dem Verlassen der DDR kam Volland mindestens zweimal in die DDR, so 1964 zu einer Tagung im Observatorium für Ionosphärenforschung Kühlungsborn, in: HA XVIII/5/3 vom 13.4.1967: Operatives Material zu Hachenberg, Sternwarte Bonn; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13717, S. 1 f., (o. Pag.); Kündigung im HHI am 29.6.1958; ebd., 1 Bl. 1688  IE der AdW vom 9.7.1974: Sofortbericht zur 17. Generalversammlung des COSPAR mit Symposium on Solar-Terrestrial Physics vom 16.6.–5.7.1974; BStU, MfS, AIM  1341/86, Teil  I, 1 Bd., Bl. 123–129, hier 124 u. 129.

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Druckkapazitäten, Schreibkräften, Dolmetschern). Als besonders häufig sollen Anfragen zu Lauter gestellt worden sein, gleich drei westdeutsche Wissenschaftler fragten, warum »Lauter in der DDR in Ungnade gefallen« sei. Andere »Diskussionsteilnehmer, wie Professor Obojashi aus Japan«, gaben gar vor zu wissen, dass Lauter »nicht mehr Leiter eines Institutes sei. Wiederum andere fragten, wie denn der Gesundheitszustand« von ihm sei, »ob er bald wieder an COSPAR-Tagungen teilnehmen würde«.1689 Eine weitere konspirative Wohnungsdurchsuchung fand am 22. August statt. Es war wieder das besagte Blatt zu untersuchen, auch sollte geprüft werden, ob die anderen Bögen gleichartigen Papiers »tatsächlich gleichartig« seien. Der besagte Bogen Papier befand sich immer noch in der Briefmappe »Pompadour«, wo er im Februar aufgefunden worden war. Abermals konnten keine Veränderungen festgestellt werden. Ein anderes, scheinbar gleichartiges Papier, habe ein »anderes Fluoreszenzverhalten« aufgewiesen. Es sei nicht geeignet für die Anfertigung von Geheimschrift. Spezialisten der Abteilung 32 nahmen »mit einem Videorecorder Aufnahmen vom Aufbewahrungsort der Briefmappe ›Pompadour‹ in der Wohnung und von ihrer Entnahme« auf.1690 Die Abteilung 34 teilte das Ergebnis am 18. September der HA XVIII/5 mit. Demnach seien umfangreiche Untersuchungen erfolgt mit dem Ergebnis, dass es sich bei dem Papier »mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um speziell präpariertes Material« handele.1691 Böhme hatte am 11. September mit Lauter einen Termin verabredet. Zunächst drehte sich das Gespräch um die derzeitigen Arbeiten Lauters. Der tat kund, dass er sich »augenblicklich sehr stark mit der Problematik ›Sonne-Erde-MenschUmweltschutz‹ beschäftigt«. Hans Wittbrodt habe ihn gebeten, einen Artikel für die URANIA zu schreiben. Böhme bewertete dies als einen Ausdruck des bekannten Ehrgeizes Lauters, »da sowohl im nationalen als auch im internationalen Maßstab noch keine ausreichende Koordinierung der Forschungen auf diesem Gebiet vorhanden« seien. Es gebe noch »keine ausgereiften Programme« hierfür. Lauter wolle demnächst darüber in der Arbeitsgruppe Geo- und Kosmoswissenschaften der Klasse Physik der AdW einen Vortrag halten. Böhme berichtete an diesem Tag, dass er die Briefe an Johnson und Gregory übergeben habe, worauf Lauter erwidert haben soll, dass er dies bereits wisse. Sie hätten ihm geschrieben. Ihm sei also einerseits seine Würdigung, andererseits auch die Anbindung von SESAME an das »Zukunfts-Experiment Spacelab« bekannt. Böhme will bemerkt haben, dass es Lauter nicht recht war, über das in den Briefen bereits mitgeteilte hinauszugehen. Er habe »sofort alle Fragestellungen des IM« bestätigt und »immer wieder« auf den Brieftext verwiesen. Lauter verwies an diesem Tag, den 11. September, dass er bis 21.00 Uhr arbeiten müsse, da seine Frau Besuch aus Westberlin habe. Er wolle nicht mit dem 1689  Bericht von Bliesener vom 18.7.1974; ebd., Bl. 112–115, hier 113. 1690  HA XVIII/5/3 vom 23.8.1974: Vorgang »Beamter«; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 3, Bl. 222 f. 1691  OTS, Abt. 34, vom 18.9.1974: Untersuchungsergebnis; ebd., Bl. 224.

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Besuch in Berührung kommen, habe auch keine Meldung abgegeben. Er, Böhme, möge diese Information »vertraulich« behandeln.1692 Ganz sicher ein erneuter Test Lauters auf inoffizielle Mitarbeit Böhmes. Mit Datum vom 18. September existiert ein zusammenfassender Untersuchungsbericht der Abteilung  34. Der Bericht erinnert zunächst an die Teilnahme von Mitarbeitern der Abteilung an insgesamt sechs konspirativen Wohnungsdurchsuchungen: 20. September, 27. Oktober und 20. Dezember 1972, 4. Februar, 5. April 1973 und 22. August 1974. Die festgestellten Papiere seien mit physikalischen und chemischen Methoden untersucht worden. Es wurde festgestellt, dass »die ursprünglich in den Untersuchungsberichten fixierte Vermutung, dass es sich um speziell präparierte Papiere« handele, abschließend »nicht bewiesen werden« konnte. »Nach Anwendung vervollkommneter Untersuchungsmethoden sowie weiterer Vergleichsuntersuchungen mit handelsüblichen unpräparierten Papieren« hätten »sich analoge Ergebnisse« ergeben, »sodass die Eignung zur Anfertigung von Geheimschrift wahrscheinlich aus der fabrikmäßigen Zusammensetzung der ausgewählten Papiere resultiert.« Entsprechend lautete das Schlussurteil, es gebe keine Verdachtsmerkmale, »die auf die zwischenzeitliche Nutzung als Geheimschreibmittel« hätten schließen lassen können.1693 Karl Rawer teilte Lauter mit Schreiben am 18. September sein Bedauern über dessen Rücktritte mit, von denen er gehört habe: »Wir nehmen an, dass Ihre Gesundheit Ihnen nicht mehr so viel Aktivität erlaubt, wie Sie in den letzten zehn Jahren übernommen hatten.« Rawer stellte die vorsichtige Frage, ob er denn weiterhin Mitglied im Steering-comittee bleiben wolle und schloss den bemerkenswerten Satz an, der vermuten lässt, dass Rawer Hintergrundinformationen bekommen haben muss: »Nachdem diese Tätigkeit auch durch Korrespondenz wahrgenommen werden kann, hoffe ich, dass es Ihnen weiterhin möglich ist, uns bei dieser schwierigen und international so wichtigen Aufgabe mit Ihrem Rat zu begleiten.«1694 Als das MfS im September Nachricht erhielt, dass Lauter seine Teilnahme an einem Symposium für solar-terrestrische Physik im IZMIRAN Moskau betreibe, bat das MfS das KGB, entsprechende operative Maßnahmen vorzubereiten. Pikant war, dass im Anschluss an das STP-Symposium im IZMIRAN eine Interkosmos-Beratung stattfinden sollte, und zwar über die Satelliten AUOS-Ionosonde und AUOS-Magik.1695 Am 23. September berichtete aus dem Bereich des ZIPE Wolfgang Mundt zu Lauter. Demnach nehme Lauter regelmäßig an den Direktorenberatungen des Forschungsbereiches teil. Hier halte er sich aber gemessen an seinen Kenntnissen in der Diskussion »zur allgemeinen Problematik« zurück; zwischen ihm und Lauter 1692  HA XVIII/5/3 vom 13.9.1974: Bericht zum Einsatz von »Hans«; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 321–324. 1693  OTS, Abt. 34, vom 29.10.1974: Untersuchungsergebnis; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 209–212, hier 209. 1694  Schreiben von Rawer an Lauter vom 18.9.1974; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 364, 1 S. 1695  Vgl. HA XVIII/5 vom 10.9.1974: OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 313.

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wähnte Mundt eine Art Stillhalteabkommen. Lauter reagiere bei Kritik »sehr empfindlich […] Er schießt dann hart zurück«. Er treffe »aufgrund seiner Erfahrungen und Kenntnisse« seine Kritiker »genau«. Der Bericht scheint auf eine Instruktion hin gegeben worden sein, da Fragen beantwortet wurden wie: »Dem IM ist jedoch noch nicht aufgefallen, dass sich L. bewusst in den Vordergrund zu schieben versucht.« Er zeige elitäre Ansichten sowohl in der Bemessung der Fähigkeiten anderer als auch in Bezug auf Fachgebiete, von denen er verlange, dass sie sich mit exakten mathematisch-physikalischen Fragen zu befassen hätten. Mundt informierte, dass Lauter am 4. Oktober auf der Sitzung der Arbeitsgruppe Geo- und Kosmoswissenschaften »einen Vortrag zu den physikalischen Prozessen in der Umwelt halten« werde. Die Sitzung habe die »Profilierung der Umweltschutzforschung der DDR zum Gegenstand«.1696 Der Vortrag fand statt. Böhme berichtete hierüber dem MfS. Demnach hätten nach Lauter die komplexen Prozesse der physikalischen Umwelt »vorwiegend planetaren Charakter«, es gebe eine »extrem unterschiedliche Zeitabhängigkeit« und die langfristigen Phänomene der physikalischen Abläufe würden »fasst überhaupt nicht erfasst«. Die physikalische Umwelt sei gut bekannt, die Wechselbeziehungen zur biologischen Umwelt jedoch so gut wie nicht; bloße Analysen von Zeitmessreihen würden nicht ausreichen, es müssten Modellierungen vorgenommen werden. Bemerkenswert ist, dass die in der Diskussion entstandene Kritik sachlich und produktiv war und insbesondere Stiller produktive Vorschläge zur Weiterführung des Themas machte. Man wolle in ein bis zwei Monaten erneut diskutieren.1697 Das MfS kreierte am 15. Oktober Schwerpunkte der weiteren operativen Arbeit in Richtung des Nachweises zum Paragraf  165 StGB. Neue Erkenntnisse waren zwischenzeitlich nicht erarbeitet worden. Knaut erhielt speziell die Aufgabe, den Sachverhalt der Verbindung zwischen dem Projekt SESAME und dem Space-Shuttle zu erforschen, da Lauter im Rahmen einer STP-Kommission in dieser Richtung argumentiert hatte. Weitere konspirative Durchsuchungen seiner Wohnungs- und Diensträume standen auf der aktuellen Agenda.1698 Ein Bericht des Sicherheitsbeauftragten im ZISTP, Pätzold, vom 31. Oktober an das MfS zeigt das fachliche Vakuum, das mit dem Wegbruch Lauters bereits im Entstehen begriffen war. Der siebenseitige Schreibmaschinentext ist valide, allerdings fachlich so konkret und detailliert, dass er in dieser Untersuchung nicht referiert werden soll; hier nur dies: Laut Pätzold hätten sich die »inhaltlichen und organisatorischen Auseinandersetzungen« in der letzten Zeit »immer mehr« zugespitzt. »Es« werde »eingeschätzt«, »dass durch die Verhinderung neuer Themen und Themenbindungen in der KAPG speziell durch Vertreter der SU, als typisches 1696  Abt. XVIII / Inst. vom 23.9.1974: Bericht von »Gotha« am 23.9.1974; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 43 f. 1697 Vortrag zur Umweltproblematik mit Diskussion; BStU, MfS, AIM  11101/87, Teil  II, Bd. 2, Bl. 329–331. 1698  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 15.10.1974: OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 2, Bl. 317–319.

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Beispiel wurde Boulanger genannt, eine neue und den heutigen Bedingungen entsprechende Forschungsarbeit und multilaterale Zusammenarbeit negiert« werde. Und weiter: »Die Abstimmungen in der KAPG« würden »aus diesem Grunde immer mehr erschwert, das« gehe inzwischen »sogar soweit, dass beispielsweise Boulanger verhindern« wolle, dass Kautzleben »in eine der CSW-Gremien gewählt« werde. Ferner werde »eingeschätzt, dass von sowjetischer Seite aus seit längerer Zeit keinerlei Impulse gegeben werden, um die Zusammenarbeit in der KAPG weiter zu vertiefen und zu verbessern.«1699 Zogen sich die Sowjets wegen der Entfernung Lauters enttäuscht zurück? Mundt gab dem MfS am 17. Oktober einen Bericht über das 19. Symposium für angewandte Geophysik im Herbst in Toruń, (mit)veranstaltet von der ungarischen geophysikalischen Gesellschaft. Bereits vor einigen Jahren, so Mundt, sei die DDR Mitveranstalter der Symposiumsreihe gewesen, sei »dann aber vor etwa [drei bis vier] Jahren als Mitveranstalter ausgeschieden, als sich herausstellte, dass diese Symposiumsreihe nicht ein Symposium im Rahmen der sozialistischen Länder sein würde, sondern sich zu einem internationalen Symposium unter KA-Beteiligung ausweiten würde. Diesen Trend verfolgten insbesondere die ungarischen und tschechischen Veranstalter damals.« Die Entwicklung habe sich nun vollendet. In Toruń waren 370 Wissenschaftler aus 21 Ländern anwesend; die zahlenmäßig stärksten Delegationen hätten die USA, Kanada, Frankreich und die nordischen Länder gestellt. Die DDR entsandte circa zehn Wissenschaftler und machte deutlich, dass sie wieder Interesse als Mitveranstalter habe. Diese Bereitschaft sei dankend quittiert worden.1700 Mundt stellte ferner fest, »dass die Kontakte der ungarischen, tschechischen und polnischen Geophysiker zu Geophysikern aus den USA und anderen kapitalistischen Ländern relativ eng waren, da sie gemeinsame Unternehmen in den letzten Jahren durchgeführt hatten, sowohl Messe- und Ausbildungsreisen in diesen Ländern, aber auch Messreisen oder auf der Grundlage von Messaufträgen dieser kapitalistischen Firmen in Ungarn, in der ČSSR und in Polen.« Diese Bemerkung verband Mundt mit einer Ausstellung im Rahmen des Symposiums, wo u. a. Seismikfirmen aus den USA, Frankreich und Kanada ihre Produkte anboten. Auch die DDR sei mit einem Produkt vertreten gewesen, der »Weiterentwicklung bzw. Eigenentwicklung einer Digital-Messapparatur«. Diese habe angeblich »großes Interesse« geweckt, es hätten sich Verkaufsmöglichkeiten in das kapitalistische Ausland »angedeutet«. Doch die DDR-Delegation habe sich reserviert gezeigt, »da gegenwärtig im VEB Geophysik keine Fertigungskapazität für diese Apparaturen« bestand. Mundt berichtete an diesem Tag auch über die Sitzung der KAPG-Arbeitsgruppen V/1 und V/2 in War1699  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 31.10.1974: Information zur Rolle und zum Auftreten der DDR-Wissenschaftler in RGW-ZZ-Gremien und Internationalen Vereinigungen; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 321–327, hier 322 f. 1700  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 24.10.1974: Bericht von »Gotha« am 17.10.1974; BStU, MfS, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 48 f.

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schau, die vom 7. bis 14. Oktober stattfand. Hier sei einmal mehr zutage getreten, dass es erhebliche Probleme bei der Vereinheitlichung der Datenerfassungs- und Verarbeitungssysteme gebe. Es zeige »sich nach wie vor, dass die große Zahl von unterschiedlichen Rechenerfassungs- und Verarbeitungsanlagen in den sozialistischen Ländern«, herstammend aus der DDR, der Sowjetunion und westlichen Ländern, »ein gemeinsames Verarbeitungs- und Programmsystems sehr« erschwerten. »Auch die jüngsten Entwicklungen in den letzten beiden Jahren« zeigten »in dieser Hinsicht keine Fortschritte, sodass wir von der Schaffung eines wirklich abgestimmten ESER-Systems in den sozialistischen Ländern, zumindest auf dem geophysikalischen Gebiet noch sehr weit entfernt« seien. Es sei nicht einmal zu erkennen, »ob die einzelnen Partner aus den sozialistischen Ländern zukünftig gewillt sind, sich unmittelbar an diese gemeinsamen Absprachen zu halten«.1701 Ebenfalls am 17. Oktober berichtete Mundt über die am 4. Oktober stattgefundene Sitzung der Arbeitsgruppe Geo- und Kosmoswissenschaften der Klasse Physik der AdW der DDR in Potsdam. Thema war der Vortrag Lauters zu den physikalischen Umweltprozessen. Dessen Überblick »über den Stand unserer Kenntnisse und über zukünftige Aktivitäten auf dem Gebiet der physikalischen Umweltprozesse und der physikalischen Umweltforschung, die ja nur einen Teil der gesamten Umweltproblematik darstellt, aber für diesen einen Teil wirklich eine Grundlage für weitere Aktivitäten« sei, sei »sehr wertvoll« gewesen. Mundt vertrat die Auf‌fassung, dass für die Bereiche der Umweltchemie und -biologie einschließlich komplexer Wechselwirkungen ähnliche Grundlagen vorbereitet werden sollten. Er kritisierte, »dass der verantwortliche Leiter der Forschungsstelle Umweltgestaltung der AdW trotz besonderer Einladung nicht an dieser Arbeitsgruppensitzung« teilgenommen habe, »sondern nur durch einen Mitarbeiter vertreten war, sodass der eigentliche Zweck dieser Veranstaltung, nämlich seine wissenschaftliche Hilfestellung für die Leitung der Forschungsstelle Umweltgestaltung zur Ausarbeitung ihrer Pläne und Konzeptionen nicht ganz erreicht« worden sei.1702 Ein Dokument des MfS vom 28. Oktober 1974 gibt Kunde, dass Offizier Knaut gemeinsam mit Böhme »eine offizielle Stellungnahme zur Einladung« Lauters »durch die US-Handelsabteilung« erarbeitete. Böhme übergab dem MfS hierzu vertrauensvoll einen »Kopfbogen seiner Dienststelle mit seiner Unterschrift«. Das zeuge, so Knaut, von einer »vollen Identifizierung des IM mit der Arbeit des MfS«.1703 Eine weitere konspirative Wohnungsdurchsuchung sollte am 7. November stattfinden. Es ging einmal mehr um eine Beweiserlangung in Richtung der Paragrafen 97 und 165 StGB: »Prüfung des Vorhandenseins, Aufbewahrung und Zustandes des Briefbogens«. Zu den Aufgaben zählte die »Suche nach Zahlengruppen u. a. Codierungs- und Dekodierungsmaterial«. Insgesamt handelte es sich um 14 Such1701 Ebd. 1702  Ebd., Bl. 52. 1703  HA XVIII/5/3 vom 28.10.1974: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 24.10.1974; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 2, Bl. 325–327, hier 325.

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und Prüfkomplexe.1704 Für den 10. November war geplant, das Arbeitszimmer in Adlershof konspirativ zu durchsuchen. Hier ging es vor allem um Arbeitspapiere aller Richtungen Lauters, das spezielle Augenmerk aber lag auf dem Projekt ­SESAME.1705 Beide Durchsuchungen fanden statt.1706 Das bekannte Blatt wurde aufgefunden und untersucht. Eine Schriftprobe mit einem »verdächtigen Kugelschreiber« wurde ausgeführt und »ein Blatt verdächtiges Papier sichergestellt«.1707 Es existiert in der rudimentären Aktenlage zu Bischoff ein Material vom November 1974. Es ist ein Bericht von ihm an den Direktor des Instituts für Elektronik (IE), Hans-Joachim Fischer. Der war im Auftrag des MfS mit dem IM so »festgelegt« worden, »um operativ relevante Äußerungen Professor Lauters in der Sitzung der STP-Kommission im September 1974, die im Protokoll nicht wiedergegeben sind, zu dokumentieren«. Laut Berichtsbogen des MfS war zu klären: »Umweltforschung AdW!? – Woher diese Aktivität durch L. – Ursachen nicht klar? – Welchen Einfluss auf AdW Umweltforschung durch L. bisher – jetzt!«1708 Zum besagten Schreiben an Fischer ist zum zweiten Tagungsordnungspunkt notiert: »Lauter sprach über die von ihm entwickelten Gedanken zur Erforschung der physikalischen Umwelt, die er inzwischen in acht Thesen (vorgetragen in seiner Akademieklasse und auf dem ZISTP-Seminar in Eberswalde) zusammengefasst hat. Die für langfristige gesellschaftliche Planungen (wenigstens 100 Jahre voraus) notwendigen Kenntnisse sind noch nicht vorhanden. Dazu sind globale, großangelegte Forschungsprogramme notwendig, wobei die ›STP mit ihrer globalen Denkweise‹ einen großen Beitrag liefern könnte (Energieumsetzung im System Sonne-Atmosphäre, Energieeinkopplung, Abschirmmechanismen des Erdmagnetfeldes und der Atmosphäre, Energieumsatz in der biologischen Sphäre). Um diese Dinge zukünftig in den Griff zu bekommen, ist auch eine Änderung der jetzigen Ausbildungspraxis für Physiker an den Hochschulen erforderlich. ›Profane‹ Umweltforschung, wie sie zzt. ausschließlich betrieben wird, reicht nicht. Z. B. sei langfristige Wettervorhersage für die Gesellschaft wichtiger als Krebsforschung. Ein vorbildliches Programm zum Angehen dieser Problematik sei das GARP.« Und zum dritten Punkt der Tagung, dem Projekt IMS heißt es: »Die im ersten IMS-Bulletin genannten Aufgabenstellungen der beteiligten DDR-Institutionen reichen nicht aus, da andere Länder daraus kaum entnehmen könnten, was die DDR im Detail bearbeitet. Bis zum 1. Dezember 1974 soll der DDR-Beitrag überarbeitet werden.« Und zum roten Tuch für das MfS, dem Projekt SESAME, schrieb Bischoff: »Das Projekt ist bei SCOSTEP verblieben. Nach Mitteilung von Lauter ist auch die LOMO [Lomonossow-Universität Moskau] an diesem Projekt interessiert. Außerdem ist es 1704 HA XVIII/5/3 vom 5.11.1974: Vorschlag für operative Maßnahme; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 228–231. 1705  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 8.11.1974: Vorschlag für operative Maßnahme; ebd., Bl. 232–234. 1706  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 14.11.1974: Durchsuchungsbericht; ebd., Bl. 239 f. 1707  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 14.11.1974: Durchsuchungsbericht; ebd., Bl. 237 f. 1708  HA XVIII/5/3 vom 22.11.1974: OV »Beamter«; BStU, MfS, AIM 1341/86, Teil I, 1 Bd., Bl. 120.

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im Perspektivprogramm der NASA verankert worden, die insbesondere ihr Projekt Spaceshuttle / Spacelab dafür mit einsetzen wird. Ferner wurde mitgeteilt, dass inzwischen auch eine Reihe westeuropäischer Institutionen ihr Interesse an diesem Programm bekundet haben. Damit dürften sich die von mir in meiner Einschätzung vom 10. Juli 1973 gegebenen Schlussfolgerungen bestätigen.«1709 Die politische Arbeit soll sich im ZISTP bedeutsam verbessert haben; Lauter, der »früher ›im Licht‹« stand, stehe jetzt im Schatten und kümmere sich mehr um die Angelegenheiten des Institutes. Er mache aber »nach wie vor, was er immer gemacht hat: D-Schicht«.1710 In einem Schreiben der HA XVIII an den Leiter der BV Rostock vom 7. Dezember wurde den Offizieren im Norden der DDR attestiert, dass sie bei der Bearbeitung des OV »Beamter« in Richtung des Paragraf 165 StGB Fortschritte erzielt hätten. Deren Anteil sei »wertvoll«.1711 Gegen Ende des Jahres musste das MfS feststellen, dass Lauter seine Arbeit in der ihm gebliebenen KAPG weiter gefestigt hatte und entsprechende Aktivitäten entfalte, auch plane er Reisen in das sozialistische Ausland, etwa 1975 nach Bulgarien. Er nutze weiterhin seine beiden Funktionen (stellvertretender Vorsitzender des Büros der KAPG und Vorsitzender der Unterkommission 2 für solar-terrestrische Physik), um die »Interessen der USA und der BRD« zu unterstützen. Am 19. Dezember habe es hierzu ein Gespräch zwischen Lauter und Grote gegeben, in Erinnerung an die Festlegung, »schrittweise seine Leitungsfunktionen innerhalb der KAPG abzubauen«.1712 Lauter musste für sein Auftreten auf der KAPG-Bürositzung am 7. und 8. Januar 1975 in Sofia eine Zusatzdirektive formulieren. Grote signierte am 3. Januar mit »einverstanden«. Diese Direktive liegt in handschriftlich von Lauter verfasster Form in seinem Nachlass; einige Auszüge: »1. Professor Lauter gibt, wie dem Vorsitzenden der KAPG bereits auf der letzten Sitzung angekündigt, seinen Rücktritt aus dem Büro in seiner Funktion als Stellvertreter des Vorsitzenden bekannt. 2. Professor Lauter erstattet dem Büro Bericht über den Abschluss der Reorganisation der UK 2.« Damit sehe er die »ihm seitens der KAPG übertragenen Aufgaben als erfüllt an« und trete »als Vorsitzender der UK 2 zurück«.1713 Am 6. Januar informierte Lauter den Leiter des FoB Geo- und Kosmoswissenschaften, Stiller, über »die Abgabe seiner Funktion in der KAPG und im NKGG«. Er akzeptiere die Festlegungen des Generalsekretärs der AdW »voll inhaltlich«. Bei 1709  Schreiben von Bischoff an Hans-Joachim Fischer vom 8.11.1974; ebd., Bl. 121 f., hier 121. 1710  HA XVIII/5/3 vom 16.11.1974: Bericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 4, Bl. 62 f. Das Zitat war bereits 1970 von »Pavel« gegeben worden, in: HA XVIII/5 vom 19.10.1970: Bericht von »Pavel« am 8.10.1970; BStU, MfS, AIM 8038/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 109–113, hier 111. 1711  HA XVIII, Kleine, an den Leiter der BV Rostock vom 7.12.1974: Jahreseinschätzung der Arbeit am OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 2, Bl. 322. 1712  HA XVIII/5/3 vom 30.12.1974: Information; ebd., Bl. 322. 1713  Zusatzdirektive von Lauter für die KAPG-Bürositzung in Sofia am 7. und 8. Januar 1975; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 345, 1 S.

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der nächsten Sitzung der KAPG in Sofia werde er persönlich die Funktion aufkündigen. Er fühle sich zurzeit gesundheitlich stark angeschlagen »als Folge der inneren Erregung«. Stiller, der diese Aktennotiz verfasste, bemerkte, dass Lauter »diese Leitungsaktionen der Akademieleitung als stark subjektiv begründet« auf‌fasse, »ohne dass er objektive Fehlerquellen bei sich oder bei seinem Leitungsbereich erkennen könne«. Lauter sei dabei aufzuklären, wie diese Entscheidungen zustande gekommen sein könnten. Er wisse noch nicht, ob es von den Interkosmos-Verantwortlichen oder vom MfS gekommen sei. Stiller setzte handschriftlich eine Bemerkung hinzu, aus der interpretierbar ist, dass Lauter nicht die Interkosmosverantwortlichen, sondern das MfS verdächtige (nicht zuletzt aus Gesprächen mit Horst Klemm, dem Parteisekretär der Akademie). Ferner votierte Lauter für eine Westreise Wagners und für die Stellvertreterposition von Taubenheim im ZISTP. Stiller will ihm gesagt haben, dass »seinerseits keine Einwände bestünden«.1714 Am 10. Januar berichtete Schult alias GI »Dagmar«, dass er von Bischoff am 6. Januar erfahren habe, dass Lauter »alle Funktionen die er im Rahmen des KAPG« innehat, »niederlegen« müsse. »Dies sei auf Anweisung der Leitung der AdW geschehen. Dies sei jedoch nicht das Einzigste, es sei noch mehr los um die Person« Lauter, »man wisse nur noch nicht genau, um was es sich handelt.« Er dürfe »auch nicht mehr reisen.«1715 Der Untersuchungsbericht der Abteilung 34 vom 14. Januar war in allen 15 Punkten (Bleistiftminen, Kugelschreiber, Medikamente etc.) negativ.1716 Vom 28. Januar stammt ein voluminöser 72-seitiger Sachstandsbericht des MfS. In der Präambel des Berichtes steht die Behauptung, dass es gegen Lauter einen »dringenden Tatverdacht« gebe, wonach er »seit 1965 fortgesetzt handelnd Straftaten im Sinne des Paragrafen 165 (1) StGB (Vertrauensmissbrauch) zugunsten der Interessen von imperialistischen Kräften« begehe. Auch sei »begründeter Verdacht im Sinne des Paragrafen 97 StGB« gegeben. Es sind in diesem Papier acht seiner wichtigsten Funktionen aufgeführt, angefangen vom Mitglied des Forschungsrates der DDR bis hin zum Leiter einer Arbeitsgruppe der URSI, die er, »durch staatliche Entscheidungen« veranlasst, »verloren« habe. »Die Entscheidungen resultieren aus Empfehlungen des MfS aufgrund der in der operativen Bearbeitung nachgewiesenen nicht im Interesse der DDR liegenden Wirkungsweise Lauters in den internationalen wissenschaftlichen Organisationen.«1717 Das aber entsprach genau besehen keiner Anmaßung des MfS, sondern war ganz und gar seiner Rolle geschuldet, die in seinem Statut festgeschrieben war, wonach es das Recht nach Paragraf 5, Absatz 1, besaß, »zu allen Problemen der staatlichen Leitung, durch die Fragen der staat1714  AdW, FoB Geo- und Kosmoswissenschaften, Stiller, vom 27.1.1975: Aktennotiz; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 6–8, hier 6 f. 1715  HA XVIII/5: Information von »Dagmar« vom 10.1.1975; BStU, MfS, AIM  11940/85, Teil II, Bd. 3, Bl. 11. 1716  Vgl. MfS, Technische Untersuchungsstelle, vom 14.1.1975; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 3, Bl. 245 f. 1717  HA XVIII/5/3 vom 28.1.1975: Sachstandsbericht; ebd., Bd. 4, Bl. 9–33, hier 11 f.

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lichen Sicherheit berührt werden, Stellung zu nehmen und Vorschläge zu machen. Im Rahmen der allgemeinverbindlichen Rechtsvorschriften und Beschlüsse ist es befugt, Forderungen gegenüber den zuständigen Stellen zu erheben«.1718 Die Quintessenz des Sachstandsberichtes lautete: »Die Lauter entzogenen Funktionen wurden jeweils mit progressiven Wissenschaftlern besetzt.« Es handle sich bei Lauter »um einen wissenschaftlich und organisatorisch befähigten Fachmann«, der »ein anerkannter Spezialist auf dem Gebiet der Physik der Hochatmosphäre« sei. »Seine Arbeit« habe »auf seinem Fachgebiet zur internationalen Anerkennung der DDR-Wissenschaft beigetragen. Er wurde mehrfach mit staatlichen Auszeichnungen geehrt. Er arbeitet mit großer Intensität und verfügt über Durchsetzungsvermögen.« Er habe jedoch infolge angeblicher Rechtspflichtverletzungen nach Paragraf  165 StGB der Interkosmos-Forschung Mittel in Höhe von mindestens 18 Millionen Mark entzogen und »der aktiven Raumforschung immanente Stimuli, insbesondere für die elektronische, feinmechanisch-optische und gerätebauende Industrie der DDR wesentlich eingeschränkt«. Im Gegenzug habe er »die wissenschaftliche Effektivität westlicher Raumforschungsprogramme erhöht und imperialistischen Ländern ermöglicht, ihren Potenzialeinsatz in der Raumforschung« durch Einsatz von DDR-Mitteln zu minimieren.1719 Obgleich entscheidende Maßnahmen zur Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten Lauters umgesetzt worden seien, habe es sich gezeigt, »dass Lauter zeitweise darauf hoffte, nach einer gewissen Zeit wieder größere Wirkungsmöglichkeiten im Rahmen der AdW und im internationalen Maßstab zu erhalten.« Im Dezember 1974 habe man die »Niederlegung seiner Funktionen in der KAPG« durchgesetzt, Lauter habe festgestellt, »dass an einer systematischen Einschränkung seiner Wirkungsmöglichkeiten gearbeitet« werde. Er werde, so gegenüber Grote, »um die Beibehaltung seiner Stellung als Direktor des ZISTP kämpfen«. Lauter habe sich in »seiner Tätigkeit in globalen wissenschaftlichen Organisationen« durchaus »nicht als Vertreter der Interessen der DDR und der Interkosmos-Arbeit« gesehen, sondern als »internationaler Beamter«.1720 In dem Bericht ist auch die Episode des Verlassens der Straßen zugunsten von Waldwegen (siehe S. 703) erwähnt und dermaßen dunkel dargestellt, als ob dies auf eine Spionagetätigkeit zwingend hinauslaufe. Das ominöse Blatt Papier, das aufgrund seiner industriell hergestellten Art für Geheimschriften geeignet schien und das letztlich nie Spuren eines solchen Gebrauchs erkennen ließ, blieb ein belastender Fakt: »Die Aussage der Abteilung 34 über die Eignung des Bogens für die Anfertigung von Geheimschrift bleibt bestehen.« Auch habe man im Dezember während einer Hausdurchsuchung in seiner Kühlungsborner Wohnung einen vergoldeten Brieföffner gefunden, der nach Auf‌fassung der Abteilung 34 »für die Anfertigung von Geheimschrift geeignet« sei. Der HA II lägen Erkenntnisse vor, 1718  Statut vom 30.7.1969; BStU, MfS, SdM, Nr. 2619, Bl. 1–11. 1719 HA XVIII/5/3 vom 28.1.1975: Sachstandsbericht; BStU, MfS, AOP  5217/77, Bd. 4, Bl. 9–33, hier 11 f. u. 14. 1720  Ebd., Bl. 29 f.

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dass beim »BND eine solche Methode der Anfertigung von Geheimschrift durch Agenten zur Anwendung gekommen« sei.1721 Lapidar steht im Beschluss-Protokoll  1/75 des NKGG vom 1. Februar unter Tagungsordnungspunkt 1: »Der Präsident informiert über eine Besprechung beim Generalsekretär der AdW am 23. Januar 1975 zum Ausscheiden von Herrn Lauter aus dem Präsidium des NKGG und der KAPG-Leitung.« Unter Punkt 2.1 folgte dann in Auswertung der KAPG-Bürositzung vom 7. bis 10. Januar in Sofia der informelle Hinweis, dass das Büro »dem Antrag von Herrn Lauter« entsprochen habe, »ihn als stellvertretenden Vorsitzenden der KAPG und als Vorsitzenden der UK 2 zu entbinden«. Kautzleben und Taubenheim wurden im Gegenzug beauftragt, »bis zur X. KAPG-Tagung diese Funktionen zu übernehmen«.1722 Auf der NKGG-Sitzung am 5. Februar in Dresden stand als einer der wichtigsten Tagesordnungspunkte die Auswertung der KAPG in Sofia an. Der Präsident des NKGG, Horst Peschel, berichtete über die Bürositzung in Sofia. Die »Direktive hinsichtlich des Rücktritts von Professor Lauter« sei »ordnungsgemäß eingehalten« worden. Die sowjetische Seite habe die Entscheidung der DDR akzeptiert. Boulanger allerdings soll »einen sehr niedergeschlagenen Eindruck« hinterlassen haben. »Es hatte den Anschein, dass er von den Maßnahmen der AdW der DDR vorher keine Kenntnis hatte.« Nachfolger für UK 2 wurde Taubenheim. Lauters Position übernahm Kautzleben. Der vorgängige Antrag Lauters, »die UK 2 in eine selbstständige Organisation zu verwandeln«, wurde abgelehnt. Die Aktivitäten der DDR hinsichtlich der Theoretiker-Tagung in Eisenach im Januar sowie im selben Ort die Winterschule über Plasmaprozesse in der Magnetosphäre, auch im Januar, seien gelobt worden. Es seien »positive Beispiele« in Hinblick auf die 275-Jahr-Feier der Akademie.1723 Ende Februar 1975: Wie grotesk Versuche des MfS anmuten, wissenschaftliche Kommunikation dem Verdacht der Spionage in generalis zu unterstellen, zeigt ein Beispiel aus der Kooperation mit dem sowjetischen Wissenschaftler Wladimir Bulrukow*. Er war Abteilungsleiter im Institut von Keldysch, vergleichbar mit der Größe des Instituts für Kosmosforschung der UdSSR (IKI). Bulrukow* wurde vom KGB operativ unter dem Decknamen »Lowkatsch« bearbeitet. Eine entsprechende Mitteilung erhielt das MfS mit der Information 1143/74. Über den Experten der Erforschung der Hochatmosphäre der Erde und der Atmosphären des Mars und der Venus berichtete der sowjetische Mitarbeiter von der II.  Hauptverwaltung Scheljepow direkt seine Berliner MfS-Kollegen in Berlin. Bulrukow* hielt sich vom 14. bis 21. Januar in der DDR auf und hielt drei Vorträge in Berlin (IE), Außenstelle Neustrelitz des IE sowie in Eisenach. Von seinen zahlreichen Westkontakten 1721  Ebd., Bl. 32 f. 1722  Beschluss-Protokoll 1/75 des NKGG vom 1.2.1975; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 324, 1 S. 1723  Information über die NKGG-Sitzung am 5.2.1975; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 2, Bl. 123–127, hier 123 f.

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fiel dem MfS naturgemäß besonders die Bekanntschaft mit Roederer (USA) auf, der seinerseits mit Lauter bekannt war. Bulrukow* soll stark an wissenschaftliche Programme und Fragen des COSPAR, des SCOSTEP und des ICSU interessiert gewesen sein. Was natürlich völlig in der Natur der Sache, seines Faches lag. Über den Rücktritt Lauters habe er gegenüber Dritten sein Unverständnis geäußert; er soll sich über Lauters Fachkompetenz sehr angetan geäußert haben. Am 21. Januar hatte er mit Lauter in dessen Adlershofer Dienstzimmer ein Gespräch in englischer Sprache geführt. Das MfS will erfahren haben, auf welchem Wege ist nicht überliefert, dass Lauter ihm gegenüber geäußert haben soll, dass er seiner Funktionen müde geworden sei und sich wieder mehr wissenschaftlichen Themen stellen wolle.1724 Am 5. März führte Stiller ein Gespräch mit Lauter. Inhalt des Gespräches war das Institut für Elektronik (IE). Es sei laut Lauter eine Fehlinvestition: »Das gesamte Interkosmos-Programm« sei »ein Komplex von leeren Versprechungen.« Er erhalte regelmäßig Informationen aus dem IE. Das geplante Erweiterungsprogramm Interkosmos werde nicht erfüllt. Die Leitung der AdW beherrsche die Administration des IE nicht.1725 Eine weitere Zielsetzung zur operativen Arbeit gegen Lauter stammt vom 17. März. Es trägt in sich das Signum eines Vorabschlusses. Zur Einschätzung der Verdachtsmomente in Richtung Paragraf 165 StGB sollten die Materialien an die HA IX/3 übergeben werden. Es handelte sich um insgesamt 23 teils komplexe Aufgabenfelder. Ein Beispiel für die Anmaßung des MfS, sich mit wissenschaftlichen Spezialstudien befassen zu können (Maßnahmen zum Komplex Paragraf 165 StGB, Punkt 2) war u. a. die »Zusammenstellung aller operativen Hinweise zum Sachverhalt der Erarbeitung einer Monografie ›Die Windsysteme in der oberen Mesopausenregion mittlerer Breiten nach ionosphärischen Driftmessungen im Langwellenbereich‹«. Verantwortlich waren die Offiziere Klaus Panster und Dieter Knaut, Termin 30. April. Ferner war Bestandteil der operativen Maßnahmen der Einsatz der sogenannten »B«-Technik in Kühlungsborn. Bemerkenswert ist die Suche des MfS nach einer »unpersönlichen Verbindung des Lauter zu einem imperialistischen Geheimdienst«, nachdem direkte Spuren einer solchen Verbindung nicht aufgefunden werden konnten. Hierzu sollte die Schriftenfahndung auch auf die Bezirke Potsdam, Schwerin und Neubrandenburg ausgedehnt werden.1726 Am 19. März, einem Mittwoch, trafen in einem Objekt der KD Doberan der stellvertretende Leiter der KD, Major Jahr, die Berliner Offiziere Knaut und ­Büttner sowie der IM »Reinhard Frank« zusammen. Man unterhielt sich von 19.00 bis 24.00  Uhr. Das fünfseitige Protokoll bietet interessante Aspekte und Einblicke zur Person Lauters und zur kommunikativen Kultur am OIF. Demnach soll sich 1724  Vgl. HA XVIII/5 vom 26.2.1975: Papier ohne Betreff; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 38–46. 1725  BV Potsdam, Abt.  XVIII / I nst., vom 17.3.1975: Zu Lauter; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 147. 1726  HA XVIII/5/3 vom 17.3.1975: Schwerpunkte und Maßnahmen zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 47–50.

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Lauter wieder »gefangen« haben, er sei »sachlich und ruhig«. Er beschäftige »sich sehr intensiv mit wissenschaftlichen Auswertungsarbeiten«. »Reinhard Frank« aber bemängelte, dass dies auch ein Laborassistent könne. Der IM wusste offenbar nichts vom heuristischen und vom meditativen Zustand solcher »Versunkenheit« in der wissenschaftlichen Datenwelt. In ihr geschehen Zufallsentdeckungen, Augenblicke der Erkenntnisse tauchen auf, ordnen sich theoretische Überlegungen und es beruhigt das Gemüt. Der IM berichtete ferner, was Lauter sonst noch fachlich, administrativ, baulich-perspektivisch für das OIF und darüber hinaus so alles tue und plane. Beispielsweise sollte die Außenstelle Juliusruh auf Rügen die »Probleme der ›Partiellen Reflexion‹ bearbeiten und als Basis für Expeditionen ausgebaut werden«. Gegenwärtig würden dort »die Teilnehmer der nächsten Antarktisexpedition« trainieren. Eine nicht geringe Anzahl der vom IM berichteten Daten stammte übrigens aus dritter Hand, vom wissenschaftlichen Sekretär und vom Verantwortlichen für Ökonomie des ZISTP.1727 Und dann immer wieder dieses Moment: das eher beiläufig Gesagte, wenn nicht gar bewusst Provozierte aufzugreifen und es aufzuladen mit unerhörter Bedeutung: Im Rahmen des Parteilehrjahres, einer Pflichtveranstaltung für SED-Genossen, stand plötzlich eine »provokatorische Frage« nach Möglichkeiten des illegalen Verlassens der DDR im Raum. Einer der Teilnehmer hatte Lauter dazu entsprechend »inspiriert«, und der schilderte nun unbefangen, wie das etwa über den Transitraum des Prager Flughafens zu bewerkstelligen sei. Zu den vier vom MfS festgelegten Maßnahmen zählte dann auch die »Überprüfung der Möglichkeiten des illegalen Verlassens der DDR über Prag«. Dies war Sache der hierfür zuständigen HA VI.1728 Die KD Doberan zeigte sich unzufrieden über den andauernden Misserfolg in der Observation Lauters. Am 20. März hielt sie in ihrem Maßnahmeplan zum wiederholten Male fest, dass »eine inoffizielle Quelle unter den Wissenschaftlern des OIF« unbedingt zu rekrutieren sei. Sie besaß zwar drei Quellen, doch die hatten keine nähere Beziehung zu Lauter. Es gelang einfach nicht, Sprenger zu werben.1729 Vom 18. bis 21. März unternahm die HA  XVIII/5/3 eine Dienstreise in den Norden mit dem Ziel, die Leiter der Abteilungen  M der BV  Neubrandenburg, Schwerin und Rostock, der Abteilungen 26 und VIII der BV Rostock sowie der KD Bad Doberan zu konsultieren. Diese Konsultationen dienten der Realisierung eines neuen Maßnahmeplanes inklusive eines »B«-Auftrages. Die KD Bad Doberan drängte auf eine Versicherung der HA XVIII/5, dass »die Sicherheit der Maßnahme voll gewährleistet« sein müsse.1730 Lauter hatte am 20. März ein Gespräch mit einem Doktoranden. Das Gespräch kam dem MfS aus inoffiziellen Quellen zu Gehör. Demnach habe Lauter eine »offene 1727 Vgl. HA XVIII/5/3 vom 25.3.1975: Bericht zum Treffen mit »Reinhard Frank« am 19.3.1975; ebd., Bl. 55–59, hier 55–56. 1728  Ebd., Bl. 56 u. 59. 1729  KD Bad Doberan vom 20.3.1975: Maßnahmeplan; ebd., Bl. 51–54. 1730  HA XVIII/5/3 vom 26.3.1975: Dienstreisebericht; ebd., Bl. 60 f.

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Abb. 39: Ernst August Lauter bei der Auswertung von Signalen des ersten künstlichen Erdtrabanten Sputnik 1, 1957

antikommunistische Position« vertreten. Er mache in Sonderheit Demokratiedefizite in der DDR aus, etwa was die Besetzung von hohen Positionen betreffe, die Auswählbarkeit von Kandidaten bei Wahlen und die Praxis der Information. Programme seien gut und schön, man müsse aber immer das Konkrete sehen: »Diese ganzen großen Trendgeschichten, das ist doch furchtbar viel Gequatsche und Geseiche. Der Mensch lebt doch nur 70 Jahre und in diesen 70 Jahren muss man was für ihn tun.« Und weiter: »Man muss immer den Menschen sehen, der jetzt lebt.« Ob, so der Offizier, Lauter »mit diesem Gespräch einen Staatsbürger der DDR gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR aufwiegeln« wolle, könne »allein aus dem geschilderten Sachverhalt noch nicht geschlossen werden«.1731 1731  HA XVIII/5 vom 29.4.1975: Information; ebd., Bl. 73–78.

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Auch aus inoffizieller Quelle erfuhr das MfS, dass Lauter gegenüber Stiller diskriminierende Äußerungen gegen die AdW, gegen »profilierte Wissenschaftler« und gegen Interkosmos getätigt haben soll. Die AdW befinde »sich in einem sehr traurigen Zustand. Der Inhalt der wissenschaftlichen Arbeit werde nicht mehr beherrscht, es werde nur noch administriert. Nach dem IX. Parteitag der SED werde die größte Pleite der AdW der DDR offensichtlich werden.« Das Interkosmos-­ Programm »bestehe nur aus leeren Versprechungen. Mit Ausnahme des Satelliten Interkosmos 10 sei alles andere in diesem Programm wissenschaftlicher Unfug. Das Institut für Elektronik der AdW sei eine völlige Fehlkonstruktion. Das Programm zur Erweiterung des Interkosmos-Beitrages der DDR werde nie erfüllt werden.«1732 Am 4. April erzählte laut MfS der amtierende Vorsitzende des Rates des Kreises Bad Doberan bei einer Funktionärssitzung, dass Lauter bei der Gelegenheit eines Familienbesuches, beide waren befreundet, »staatsverleumderische Behauptungen über die Rolle und Stellung des MfS getätigt« haben soll, »in dem er zum Ausdruck gebracht« habe, »dass das MfS alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringt und sich schlimmer als im Faschismus die Gestapo in alles einmischt und sich besondere Rechte« herausnehme. Am nächsten Tag wurde Erich Einbruch* vom MfS gebeten, diese »verleumderischen Behauptungen so genau wie möglich zu dokumentieren«. Der aber wollte nicht so recht. Das MfS war mit dessen Erklärung nicht zufrieden, da er »bemüht« sei, »klare und konkrete Formulierungen zu umgehen und nur allgemeine Wertungen und Einschätzungen« zu geben.1733 Diese Familienbesuche hatten Tradition, begonnen hatten sie in seiner Funktion als Bürgermeister der Stadt Kühlungsborn im Jahre 1956. Einbruch* war auch einer der beiden Bürgen zur Aufnahme Lauters in die SED. Dies und anderes hielt er in seinem Bericht fest. Lauter habe die USA als Führungsmacht in der Raumforschung bezeichnet. Die Sowjetunion sei in Rückstand geraten, explizit in der Monderforschung. Sowohl die Sowjetunion als auch die DDR erzielten »nur mittelmäßige Leistungen«, die USA, Japan und BRD lägen vorn. Einbruch* gab auch politische Diskussionen mit Lauter wieder. Etwa die Position Jürgen Kuczynskis, der die Auffassung vertreten habe, »dass von der Theorie der Polit-Ökonomie her gesehen, solche Organe wie NVA und MfS parasitäre Organe« seien »und nicht entsprechend der Interessen der Arbeiterklasse notwendig« seien. Sie seien »völlig überflüssig«. Lauter habe diese pessimistische Wandlung seit der Aufgabe der Funktion als Generalsekretär der AdW vollzogen. Er habe seine kleinbürgerliche Haltung nicht abgelegt, falle anlassbedingt oft in diese zurück.1734 Die oben geplante Maßnahme zur Realisierung des Auftrages »B« im Haus Lauters in Kühlungsborn sollte am 23. April durchgeführt werden. Lauter würde sich zu diesem Zeitpunkt in Berlin befinden. Die operative Sicherung hatte die

1732  HA XVIII/5 vom 31.3.1975: OV »Beamter«; ebd., Bl. 62 f., hier 62. 1733  KD Bad Doberan vom 8.4.1975: Aktenvermerk; ebd., Bl. 64 f. 1734  Eine Abschrift, KD Bad Doberan vom 7.4.1975; ebd., Bl. 66–69.

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HA XVIII/5, speziell Böhme zu übernehmen. Insgesamt sollten zehn MfS-Mitarbeiter zum Einsatz kommen. Aus dem geplanten Ablauf der Aktion: »Nach Feststellung der Lage im Objekt durch Gen[ossen] Knaut werden die Genossen der Abteilung 26 eingeschleust.«1735 Am 17. April übermittelte der Leiter der HA XVIII, Kleine, der Abteilung 26 der BV Rostock die erforderlichen Daten für den »operativen Eingriff«.1736 Das Vorhaben wurde wie geplant in den Nachtstunden des 23. April durchgeführt. Die Qualität der Abhöranlage wurde als gut eingeschätzt.1737 Am 24. April wurde Einbruch* vom MfS »in einem Objekt der KD Bad D ­ oberan« regelrecht vernommen, besser: erpresst. Er bestand auf Vertraulichkeit seiner Äuße­ rungen gegenüber dem MfS, er dürfe durch seine Aussagen in Richtung Lauter nicht kompromittiert werden. Knaut sicherte ihm die vertrauliche Behandlung der Informationen zu und begründete ihm in legendierter Form »(Geheimnisträger, Interkosmos-Aufgaben) das Interesse am Erhalt von Informationen über die Person« Lauters. »Herausgearbeitet« wurden u. a. folgende – teils Lauter erheblich belastende – Aussagen: »Die DDR-Wissenschaft erlebt zurzeit einen Einbruch. Die Investitionen für die Wissenschaft wurden wesentlich gekürzt. Das Geld fließt in das Sozialprogramm und das bringt mit sich, dass keine neuen Werke und Fabriken gebaut wurden. Diese Entwicklung wird mit sich bringen, ›dass wir in wenigen Jahren kaputt sind‹.« Vom VEB Carl Zeiss Jena kämen »keine weltmarktfähigen Produkte mehr«. Auch habe Lauter über die »miserable Lage im Gerätebau« gesprochen. Weiz habe Jena bereits dreimal »kaputt gemacht«. Der sei »charakterlich ein Schwein, er ist ein Kriecher und Speichellecker«. Er habe bei der Absägung Preys seine Hände im Spiel gehabt. Weiz strebe den Titel eines Professors an, er, Lauter, habe jedoch zu seiner Amtszeit »als Generalsekretär seinen Einfluss geltend gemacht, ›dass dieser Mann diesen Titel nicht erhält‹«. Gegenwärtig schlage der Machtkampf (»starke Machtkämpfe«) zwischen Hager und Mittag zugunsten Hagers aus. Auch die Sowjet­union erfahre gegenwärtig einen »›kolossalen Einbruch‹«. Sie sei auf dem Gebiet der Raumfahrt schon »seit Jahrzehnten nicht in der Lage, Nachrichtensatelliten« zu bauen. »Die Sowjets können nichts, wo sie komplizierte wissenschaftliche Probleme haben, ›da wenden sie sich an uns‹. Die Amerikaner haben durch den Einsatz von Menschen auf dem Mond die entscheidenden Beiträge zur Erforschung dieses Planeten [sic!] gebracht und sind nicht mehr einzuholen.« Einbruch* will zu Bedenken gegeben haben, dass Lauter »vor Jahren noch ganz anderer Meinung war« und den Automaten den Vorzug gegeben habe. Lauter soll sich ferner von seiner Auffassung, wonach der USA die Führungsrolle zukomme, nicht distanziert haben. Sinngemäß habe er gesagt, wer etwa denke, dass die Amerikaner am Ende seien, »der irrt sich«. Sie seien führend in der Wissenschaft, dann folge die Bundesrepublik »noch lange vor uns«. Sein OIF sei jedoch zur »Weltspitze aufgerückt«, die Amerikaner würden auf

1735  HA XVIII/5/3 vom 15.4.1975: Ohne Betreff; ebd., Bl. 70 f. 1736  Vgl. HA XVIII vom 17.4.1975: OV »Beamter«; ebd., Bl. 72. 1737  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 30.4.1975: Aktenvermerk; ebd., Bl. 79.

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seinen Ergebnissen und Erkenntnissen aufbauen. Diese Aussage Einbruchs* dürfte Knaut willkommen gewesen sein, denn die These des MfS, im Berliner Raum geboren und konstruiert, wurde im hohen Norden nun endlich bestätigt. Lauter habe gegenüber Einbruch* in der Vergangenheit verschiedentlich angedeutet, dass es Arbeitsangebote im Westen für ihn gegeben habe, »in allen Fällen« soll dabei »eine Koordinierung seitens amerikanischer Kräfte« für Lauter »sichtbar geworden« sein. Lauter erwähnte u. a. ein sehr konkretes Angebot für die Position eines stellvertretenden Institutsdirektors bei Los Angeles.1738 Insgesamt teilte Einbruch* drei Fälle mit, die »dem MfS bisher nicht bekannt gewesen« waren. Es folgten dann die oben bereits getätigten Aussagen Lauters zum MfS, wonach es alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdrungen habe, und jene Begebenheit mit Jürgen Kuczynski, der die NVA und das MfS als parasitäre Organe bezeichnete, ganz zum »Vergnügen« Lauters. Lauter soll gesagt haben: »›Ausgerechnet dieser Professor Fuchs [Kap. 4.3.1] habe gewagt, während der Diskussion gegen die These« Kuczynskis »aufzutreten«. Er habe jedoch »nur ein verständnisvolles [sic!] Lächeln geerntet«. Es sei »doch ein unmöglicher Zustand«, dass Armeegeneral Heinz Hoffmann und Erich Mielke Mitglieder des Politbüros der SED seien – als »parasitäre Organe«. Deswegen sei es seinerzeit auch zu »massi­ven Beschwerden von kommunistischen und Arbeiterparteien der westlichen Länder« gekommen. »Ihm«, so Lauter, liege »diese Truppe schwer im Magen«. Er kenne persönlich aus seiner Akademietätigkeit einen MfS-Major, der sei »›ein Lump durch und durch‹«. Einbruch* schätzte ein, dass Lauter in der Vergangenheit seine Verschwiegenheit getestet habe. Er habe deshalb »zu ihm volles Vertrauen«. Lauter habe ihn als »›Ventil‹ seiner Vorstellungen« benutzt. Einbruch* erklärte sich bereit, künftig weiter in dieser Form über Lauter zu berichten.1739 Aus einem neunseitigen Bericht von Mundt vom 29. April zur KAPG-Tagung in Varna vom 11. bis 18. April geht hervor, dass neben einer Vielzahl von aktuellen personellen, strukturellen und organisatorischen Details bezüglich der KAPGArbeit die (angeblichen) Rücktritte Lauters und deren Folgen diskutiert worden seien. Die von dem Vorsitzenden Boulanger eröffnete Kommissionssitzung begann mit einem Dank an Lauter für dessen »langjährige aktive Mitarbeit« in den verschiedenen Funktionen. Anschließend unterbreitete er der Kommission den Vorschlag des Nationalkomitees für Geodäsie und Geophysik der ČSSR, Václav Bucha, Direktor des Geophysikalischen Instituts der tschechischen Akademie der Wissenschaften, für die Nachfolge Lauters in der Funktion des stellvertretenden KAPG-Vorsitzenden zu ernennen. Damit seien alle einverstanden gewesen. Bucha war es auch, der den ersten Plenarvortrag mit dem Thema »Erdmagnetfeld, Paläomagnetismus und Geodynamik« gehalten hatte. Da ein DDR-Vorschlag eingebracht worden war, der bezweckte, Kautzleben als Nachfolger Lauters einzusetzen, und dies 1738  HA XVIII/5/3 vom 30.4.1975: Bericht über ein Gespräch mit dem amtierenden Vorsitzenden des Rates des Kreises Bad Doberan; ebd., Bl. 80–88, hier 80–86. 1739  Ebd., Bl. 85–88.

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offenbar wohlwollend zur Kenntnis genommen worden sei, wurde kurzerhand »das Büro der KAPG um einen Vertreter erweitert«.1740 Es ist aufschlussreich, dass die Arbeiten der KAPG plötzlich positiv vom MfS dargestellt wurden – nun ohne die Implikationen des Verdachts einer angeblichen Spionagearbeit. Doch weiterhin wurde nach einer technischen Lösung für die DDR in der Frage der Verbindung der KAPG zur Interkosmos-Zusammenarbeit gesucht (Tagungsordnungspunkt: »Fragen der Kooperation außerhalb der KAPG«). Der frühere Verbindungsmann der KAPG war hierfür Lauter gewesen. Vorgeschlagen wurde nun Kautzleben oder Taubenheim. Das aber wurde von der DDR-Delegation, vermutlich vom Sicherheitsbeauftragten des ZISTP, Pätzold, abgewiesen; Mundt: »Es wurde dann von der DDR-Delegation darauf hingewiesen, dass die Interkosmos-Arbeiten von den anderen geophysikalischen Arbeiten bei uns in der DDR streng getrennt« seien »und dass beide Mitarbeiter nicht für eine Verbindung zu Interkosmos vorgesehen« seien. »Daraufhin wurde dieses Problem nochmals diskutiert und es wurde schließlich Dr. Bucha aus der ČSSR als Verbindungsmann der KAPG zu Interkosmos bestätigt.« Später soll Bucha »in einer persönlichen Diskussion« mit der DDR-Delegation die Meinung vertreten haben, dass Kautzleben »auf jeden Fall die Verbindung zu Interkosmos als Vertreter der KAPG wahrnehmen« könne. Mundt: »Als wir dazu äußerten, dass das nicht vorgesehen« sei, »und eine strenge Trennung zwischen den Aufgaben bestehe, meinte er, dass er auch nicht direkt in Interkosmos beschäftigt« sei, »dass aber eine solche strenge Trennung in der ČSSR zwischen allgemeinen geophysikalischen Aufgaben und den von Interkosmos nicht« vorliege, »sodass er ohne Weiteres als Verbindungsmann der KAPG zu Interkosmos fungieren« könne.1741 Aus Ergebnissen der sogenannten IM-Arbeit zur COSPAR-Tagung 1975 stammt ein siebenseitiges Papier. Das MfS kreierte hierin vier Zielstellungen. Die erstgenannte lautete: »Konkrete Hinweise über Formen und Methoden der Nutzung der Organisation COSPAR durch amerikanische Interessengruppen unter spezieller Sicht der Rolle Professor Lauters bei der Entwicklung des Projektes SESAME ­(Synoptik1742 und Dynamik der Stratosphäre und Mesosphäre)  zu erarbeiten.« Hierzu fand das MfS in einem Bericht des Spezialkomitees für solar-terrestrische Physik an den XVIII. COSPAR-Kongress die folgende Passage: »In den Jahren 1972/73 schrieb Professor Lauter, ein führendes Mitglied des COSPAR-Büros und auch einer der befähigtsten und vertrauenswürdigsten führenden Mitglieder des SCOSTEP, einen Entwurf des Projektes […]. Professor Lauter trat für uns unglücklicherweise zurück und einiger Impuls ging verloren.« In der oben genannten Kon1740  BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 30.4.1975: Bericht von »Gotha« am 29.4.1975; BStU, MfS, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 71–79, hier 72 f. 1741  Ebd., Bl. 77. 1742 Datensammlung mittels eines weltumspannenden Netzes von Bodenstationen, aerologischen und anderen Beobachtungsstationen über den Wetterzustand zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Form einer Zusammenschau beispielsweise in der Form von Isobaren (Linien gleichen Druckes).

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zeption heißt es: »Die Gruppe kommt zusammen, um Rückschau zu halten und das Ziel und den Plan für die weitere Entwicklung des Projektes SESAME, dessen Initiator Professor Lauter ist, festzulegen. Da die amerikanische Organisation ­NOAA jetzt eines ihrer Projekte mit SESAME bezeichnet, ist einer Umbenennung unseres Projektes in MAP (Mittleres Atmosphärisches Forschungsprogramm) erforderlich.« Hier geht auch hervor, dass das Projekt SESAME ab 1978 in die »Shuttle-Ära« übergehen werde. »Eingesetzte Quellen des MfS« hätten »im Rahmen der Teilnahme an den Veranstaltungen erarbeiten« können, »dass alle wesentlichen Grundgedanken von Lauter im Projekt enthalten sind«. Laut Gregory, dem Projektverantwortlichen, sei es zu erheblichen Verzögerungen bei der Projektbearbeitung infolge des Rücktritts Lauters gekommen. Auch seien wieder alle wesentlichen Fachmomente in das Projekt MAP geflossen: »Ein überprüfter und profilierter IM schätzt ein, dass es eindeutig darauf hinausläuft, das Projekt MAP als ein wissenschaftliches Programm für das nationale Projekt der USA ›Space Shuttle‹ zu benutzen. Dadurch, dass MAP / SESAME im Rahmen von internationalen Körperschaften entwickelt und koordiniert wird, sparen die USA selber wesentliche eigene wissenschaftliche Potenzen.«1743 Lauter arbeite gegenwärtig an der Modernisierung der Messung, Erfassung und Verarbeitung von Daten, wodurch er einen wissenschaftlichen Vorlauf erhalte. Es bestehe kein Zweifel, dass er die Daten dann der amerikanischen Seite zukommen lassen wird. In Juliusruh lasse er gegenwärtig »ein großes Antennennetz aufbauen«. Lauters Interesse an den PM-Daten vom IE soll Fischer alias IM »Bernhard« gekontert haben mit dem Hinweis, ihm diese nicht zu geben. Es müsse erst eine »umfassende Auswertung der Daten im Hinblick auf ihren strategischen Wert« erfolgen, auch seien sie zunächst für das sozialistische Lager zu nutzen, überdies sei ein entsprechendes Abkommen zwischen der Sowjetunion und den USA abzuwarten, »damit nicht verantwortet werden« müsse, »dass Professor Lauter bereits vorher die Möglichkeit« bekomme, »Ergebnisse des PM-Einsatzes unkontrolliert zu behandeln«. Böhme hatte mitgeteilt, dass Lauter gemeint habe, die PM-Daten seien »für ihn wichtig«. Er soll ihm sogar gesagt haben, dass er über seine Wünsche keine Aufzeichnungen anfertigen dürfe, er müsse die Frage »vertraulich« behandeln.1744 Wieder ein Test auf inoffizielle Mitarbeit für das MfS? Am 20. Juni fertigte das MfS eine Information, wonach Lauter »erhebliche unterschwellige Vorbereitungen« treffe, »um Ergebnisse in seinen Besitz zu bringen, die im Rahmen des Einsatzes des PM-Systems erzielt werden« sollen. Das System werde »voraussichtlich noch 1975 auf einen nationalen Satelliten der UdSSR vom Typ ›Meteor‹ eingesetzt«. Das MfS erfuhr zudem von Böhme, dass Lauter einen »arbeitsfähigen wissenschaftlichen Beirat« am ZISTP »zu gründen« trachte. Hier

1743  Ergebnisse der operativen Bearbeitung Lauters im COSPAR-Zusammenhang, ohne Kopfangaben; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 89–95, hier 89 f. 1744  Ebd., Bl. 91 u. 93 f.

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wolle er ihn und den Direktor des IE kooptieren. Das MfS spekulierte, dass sich Lauter auf diese Weise Zugang zu PM-Daten verschaffen wolle.1745 Der Kühlungsborner IM »Reinhard Frank« berichtete am 2. Juli, dass Lauter sich mit dem Gedanken befasse, eine Fachzeitschrift für solar-terrestrische Physik herauszugeben, die die Forschungsergebnisse der sozialistischen Länder unter der KAPG publizieren solle. Dieses Organ werde seinesgleichen in der westlichen Forschung suchen. Der IM wusste auch zu berichten, dass Lauter am 3. Juni einige Professoren der Universität Rostock ins OIF geladen habe. Hier habe er die »Gelegenheit« wahrgenommen, »auf die Forschung seiner Einrichtung zur Problematik ›Mensch und Umwelt‹ hinzuweisen«. Er habe dahingehend orientiert, »gemeinsam, in globaler multinationaler Zusammenarbeit, einen aktiven Beitrag auf diesem Gebiet zu leisten«. Der extra nach Kühlungsborn angereiste Offizier Büttner resümierte, dass Lauter alles versuche, um im Ort, in der Umgebung und auch an der Universität Rostock Verbündete zu finden, Mittel für den Ausbau des OIF und andere Unterstützungen zu bekommen. Im allgemeinen Teil des IM-Gespräches soll der IM sich gar zu der Ansicht verstiegen haben, wonach Lauter sich »nach seiner Meinung zielgerichtet als Feind in diese Position gebracht« habe. Der IM kannte Lauter seit 1947. Er will auch erfahren haben, dass Lauter Angst vor dem MfS habe, er sei bestrebt, die inoffiziellen Mitarbeiter des MfS zu erkennen (»zu erfassen«) »bzw. mögliche Positionen des MfS in seiner Umgebung zu verhindern«.1746 Ein Bericht von Böhme am 2. Juli gibt Aspekte wieder, die er am 23. Juni bei einem Besuch Lauters in dessen Wohnung gewonnen hatte. Er hatte den operativen Auftrag erhalten, Lauters fachliche und historische Bezüge zu SESAME zu aktua­ lisieren. Tatsächlich zeigte das Gespräch, dass Lauter sehr gut über einzelne Vorhaben der USA informiert war, so über das Vorhaben im Rahmen des Shuttle-Programms, Sonden bei den Hin- und Rückflügen abzusetzen, um atmosphärische Parameter messen zu können. Insbesondere zeigte sich Lauter bestens informiert über westliche Wissenschaftler, kannte neben den jeweiligen beruf‌lichen Positionen und Fähigkeiten auch manche biografische Details. Im Zusammenhang mit Personen, die mit einem nicht sehr tiefen Sachverstand ausgerüstet an Tagungen etc. teilnahmen, soll Lauter bemerkt haben: »ja, es ist ja bei uns überall eine große Unsicherheit in der DDR« zu bemerken. Dies setze sich dann auf den internationalen Konferenzen fort und darunter leide die Wissenschaftskooperation. Schlussendlich kam die Rede auf seine Lage. Er sei »ja nun einer Reihe von Intri­ gen ausgesetzt« gewesen »in der Vergangenheit«. Einst sei er davon ausgegangen, dass »sein Einsatz als Generalsekretär« der DAW / AdW »doch ursprünglich ausging von der Partei bzw. von der Regierung. Aber im Laufe der Zeit habe er sich Klarheit darüber verschafft, dass an seinem ganzen Aufbau, an seinem systematischen Aufbau, wie er sich ausdrückte, das MfS interessiert war. Von diesen Leuten sei 1745  HA XVIII/5/3 vom 20.6.1975: Information; ebd., Bl. 96 f. 1746  HA XVIII/5/3 vom 14.7.1975: Bericht zum Treffen mit »Reinhard Frank« am 2.7.1975; ebd., Bl. 174–183.

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er systematisch aufgebaut worden. Als er das feststellte und analysierte musste er dann zu der Schlussfolgerung kommen, sofort alles hinzuwerfen, um nicht noch in schlimmere Dinge einbezogen zu werden.« Böhme »reagierte in dieser Richtung nicht, er sprach nur sein Erstaunen aus, dass es so etwas gibt, überhaupt gibt bei uns in der DDR.« Da dies auf Lauters Karriere absolut nicht passt, ist zu spekulieren: Erstens, Böhme provozierte das MfS, wollte vielleicht wissen, ob Knaut hier etwas bejahen würde. Wenn ja, hätte er zwingend annehmen müssen, dass Lauter IM war; oder zweitens, dass Lauter Böhme versuchte zu einem Geständnis zu locken, für das MfS zu arbeiten. Tatsächlich empfahl Knaut Böhme, fürderhin achtsam zu sein. So wie Lauter argumentiere, eigne es sich durchaus, »eine Bestätigung im Hinblick auf eine Verbindung zum MfS« zu erhalten.1747 Ein 75-seitiger Sachstandsbericht vom 10. Juli ging 14 Tage später als Original an den Leiter der HA XVIII, Kleine. Ein Durchschlag ging auch an die HA IX. Der neuerliche Sachstandsbericht weist einige Ergänzungen und in seiner Gesamtheit optimierende Umstellungen auf. Grundsätzlich aber besitzt er keinen neuen Erkenntniswert.1748 Lauter, so der Generalvorhalt, habe trotz Eintritt der DDR in das Interkosmos-Programm die traditionellen Arbeiten am HHI und OIF »in vollem Umfange« weitergeführt. Diese stellten »aufwendige Routineaufgaben« dar, die, und hierin lag das MfS völlig falsch, »nicht unbedingt für eine Mitarbeit an aktiven Interkosmos-Experimenten unter dem Aspekt der optimalen Nutzung der Ergebnisse der Kosmosforschung für die Volkswirtschaft benötigt« würden. Es hätte eine Prüfung der betriebenen Forschungsprogramme durchgeführt werden müssen, die aber habe Lauter vermieden. Auf diese Weise sei es ihm gelungen sein, seine Vorstellungen in den Beschluss des Ministerrates der DDR vom 20. Januar 1971 »zu verankern«. Das MfS sprach von einer »vorsätzlichen Manipulierung«, wenn Lauter behauptete, dass eine Wettervorhersage für 14 Tage ab 1980 möglich werde. Damit habe er sich im Ministerium gleichermaßen »grünes Licht« verschafft.1749 Einerseits bedeutete der Wegbruch von Kapazitäten und Messmöglichkeiten für das ZISTP (HHI) die Notwendigkeit des Bezugs von Daten zur Erfüllung der hauseigenen Forschungsprogramme, etwa Daten von UV-Messungen des Ozons bzw. Raketenmessdaten zur Eichung der bodengebundenen Messungen, von anderswo her. Andererseits fehlten den mit Interkosmos-Experimenten im IE beschäftigten Wissenschaftlern die Daten des ZISTP, oder mit anderen Worten: ihnen fehlte der Einbezug ihrer (geheimen) Daten in komplexe Prozessparameter. Lauter vertrat anlässlich einer Planabstimmung zwischen dem ZISTP und dem IE am 16. Juli die Auffassung, dass »eine wissenschaftliche Grundlagenforschung [nur] auf der Grundlage multilateraler globaler Experimente möglich« sei. Dafür 1747  HA XVIII/5/3 vom 16.7.1975: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 2.7.1975; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 3, Bl. 10–15. 1748  Vgl. HA XVIII/5 vom 10.7.1975: Sachstandsbericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 98–173. 1749  Ebd., Bl. 135 f.

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müsse man zunächst die »komplexen Prozessparameter definieren und diese dann messen«. Zur Interkosmos-Arbeit soll er laut Ralf Joachim alias GMS »Klaus Stephan« gesagt haben, dass die Experimente »keine wissenschaftlich wertvollen Aussagen« brächten, »da sie nur unbedeutende und nebensächliche Daten registrieren und keine komplexen Prozessparameter«. Und weiter in der Wiedergabe Joachims: Er, Lauter, könnte ein vernünftiges Programm vorschlagen für IK, aber er sei ja weder informiert noch gefragt. »Von einer wissenschaftlichen Arbeit könne man ja nur dann sprechen, wenn entsprechend international auch die Ergebnisse vorgelegt werden und also die Ergebnisse veröffentlicht werden.« Aber alles, was Interkosmos betreffe, sei geheim. In Bezug auf eine Nachnutzung gerätetechnischer Art für eine Bodenstation werde nur einem Mitarbeiter Einsicht in die Unterlagen gewährt, richtig aber sei es nach Lauter, eine generelle Nachnutzung offiziell zu gestatten. Am Beispiel der Sonnenphysik im Rahmen der Meteorologie hatte Lauter ausgeführt (sein Institut kooperierte mit einem niederländischen Institut), dass das Thema eine »enorme gesellschaftliche Bedeutung« besitze. Diese Aufgabe sei »ganz entscheidende Grundlagenforschung für eine künftige Anpassung der Gesellschaft an die natürlichen Bedingungen, die eine hoch politische Bedeutung besäßen«. Hierfür brauche man die Messung komplexer Prozessparameter, die eben IK nicht liefern könne. Lauter habe gewünscht, periodisch Gespräche zwischen beiden Instituten zu führen.1750 Ein weiterer Untersuchungskomplex zu Lauter zielte auf den Nachweis einer »Rechtspflichtverletzung« anlässlich des Europäischen Regionaltreffens der URSI zu Fragen der Ionosphärenforschung im Jahre 1969 in Lindau. Das MfS beauftragte vier Experten-IM »zur Überprüfung und Beurteilung des Sachverhaltes«. Die IM arbeiteten unabhängig voneinander. Das Ergebnis erschöpfte sich dann im Wesentlichen auf die Feststellung und Forderung der URSI, die zersplitterten wissenschaftlichen Potenziale zu bündeln und miteinander zu vernetzen. Diese Maxime laufe diametral den Interessen der Interkosmos-Zusammenarbeit zuwider, da dies »objektiv eine Stabilisierung ausgewählter Forschungsprogramme der westeuropäischen Raumforschung« bedeute. Lauter habe es unterlassen, Hilbert hierüber entsprechend zu informieren. Er habe getäuscht, da er für den Direktive-Entwurf formuliert habe, dass der »offizielle Gegenstand der Besprechung« die »bodengebundenen Messmethoden zur Erforschung der hohen Atmosphärenschichten« seien. In den Einladungen der Veranstalter aber stehe, dass es um »eine europäische Zusammenarbeit in der Ionosphärenforschung sowohl mit bodengebundenen als auch mit Raketen- und Satellitenmethoden« gegangen sei. Die von den Experten-IM durchgeführte »vergleichende Einschätzung« habe zur Feststellung geführt, »dass wesentliche Teile« des oben erwähnten »Ministerratsbeschlusses mit dem in Lindau beschlossenen Programm inhaltlich identisch« gewesen seien. Die angeblichen Rechtspflichtverletzungen Lauters auf dem Gebiet SESAME sind bereits oben dar1750  HA XVIII/5 vom 10.9.1975: Bericht von »Klaus Stephan« am 28.8.1975; BStU, MfS, A 371/86, Bd. 1, Bl. 110–113.

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gelegt, in diesem Papier sind sie breiter referiert. Zwei weitere Abschnitte, Nummer 3 und 4, wiederholen zum x-ten Male Behauptungen und Aussagen zu Lauters Wirken: ein übliches Verfahren des MfS, einen äußeren Anschein für Belastungen zu organisieren, methodisch garniert mit Auf‌listungen von Gesetzen, Verordnungen und Beschlüssen sowie IM-Mitteilungen aller Art (analog der Gutachtenerstellung, siehe Kap. 5.1, MfS-Spezial  I). So zum Beispiel eine Aussage Lauters von 1970: »Merkt Euch mal bei aller Arbeit für die Zukunft, die Arbeit mit der SU ist nicht seligmachend. Wir müssen das ja machen, weil es so festgelegt ist. Aber Ihr werdet sehen, dass die Gruppe um Taubenheim und Bull (diese Gruppe war nicht in die Interkosmos-Arbeit einbezogen) das internationale Ansehen des HHI wahren und weiter heben wird«. Das MfS fasste zusammen, dass Lauter schädliche Auf‌fassungen vertrete wie die »Ablehnung der staatlichen Leitung der Wissenschaft in der DDR«, darüber hinaus diskriminiere er die Ergebnisse der sowjetischen Wissenschaft und Technik und bete die wissenschaftlich-technischen Leistungen der USA an. Letztlich sei er dazu übergegangen, »an Projekten der NASA mitzuarbeiten, indem er das Projekt SESAME zu einem Schwerpunkt seiner persönlichen Arbeit und der Arbeit des von ihm geleiteten AdW-Instituts machte, und zwar in Kenntnis davon, dass dieses von US-Seite angeregte Projekt der wissenschaftlichen Vorbereitung des US-Raumfahrtunternehmens Space-Shuttle dient«. Das Papier endete mit der Feststellung, dass Lauter das in ihn durch Partei- und Staatsführung sowie die Leitung der AdW gesetzte Vertrauen missbraucht habe und dass er »aus einer der politischen Linie der Partei- und Staatsführung konträr entgegenstehenden Position heraus vorsätzlich entgegen seinen Rechtspflichten handelte und die dadurch herbeigeführten erheblichen wirtschaftlichen Schäden in seinen Vorsatz aufgenommen« habe.1751 Die XVI. Generalversammlung der IUGG in Grenoble Zu der Reisegesellschaft zur XVI. Generalversammlung der Internationalen Union für Geodäsie und Geophysik (IUGG) in Grenoble vom 24. August bis 6. September 1975 unter Leitung von NKGG-Präsident Horst Peschel zählte Lauter nicht mehr. Die Gruppe umfasste 14 Personen, zum Leitungsteam gehörten Kautzleben und Mundt. Zur Frage der »Wissenschaftspolitik der IUGG« ist im offiziellen Reisebericht von Peschel ausgeführt worden, dass die zahlenmäßige Repräsentanz von Vertretern der sozialistischen Staaten nicht den wissenschaftlichen Leistungen ihrer Länder entsprochen habe. Im Büro der IUGG mit seinen sieben Assoziationen sei das Verhältnis 2:5, im Exekutivkomitee 7:21 gewesen. Die »politische Wirksamkeit unserer Vertreter« scheine »nicht ausreichend zu sein«. Nach den Neuwahlen sei »das Verhältnis erheblich ungünstiger geworden, sodass die neun Mitglieder der sozialistischen Staaten im Exekutivbüro stärkere Unterstützung ihrer Akademien 1751  HA XVIII/5 vom 10.7.1975: Sachstandsbericht zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 98–173, hier 173.

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zu aktiver Mitarbeit benötigen«. Von 1975 bis 1979 werde »kein Präsident« und »nur ein Generalsekretär einer Assoziation aus den sozialistischen Ländern im IUGGExe­kutivkomitee mitwirken«. In den Assoziationen sollen die Verhältnisse ähnlich gelegen haben. Kein Wort zu den Ursachen dieser Disproportion, die gerade der Tatsache geschuldet war, dass Lauter »zurückgezogen« und dessen Wahlkandidaten mehr und mehr gehindert worden sind, sich im Ausland zu zeigen. Und so stimmte auch dieser Bericht das neu-alte Lied von der Ausbildung der neuen Auslandskader an: »Wissenschaftler mit hervorragenden Leistungen aus den sozialistischen Ländern müssen vor allem kontinuierlich international mitarbeiten, wozu sie auch politisch, fachlich und sprachlich vorzubereiten sind, auch ist ihr kontinuierliches Auftreten in den Symposien während und außerhalb der Generalversammlungen der IUGG und ihrer Assoziationen zu gewährleisten.« Nur dadurch könne der politische Einfluss der sozialistischen Staaten gehoben werden. BRD-Wissenschaftler hätten mehrfach Vorstöße dahingehend gemacht, einen wechselseitigen Wissenschaftleraustausch mit der DDR zu vereinbaren. Als großes Problem sei erkannt worden, dass die viel zu geringe Sprachbeherrschung von Wissenschaftlern aus der DDR der Kommunikation absolut unzuträglich sei. Sprachkenntnisse der Stufe 1a seien nicht ausreichend.1752 Mundt lieferte dem MfS am 11. September einen Bericht über die Tagungs­ teilnahme ab. Er war insbesondere in Hinsicht auf die Begleitumstände (Hin- und Rückreise, Veranstaltungsorganisation etc.) überaus detailliert, berührte aber nicht jene fundamentalen fachlichen Gesichtspunkte, wie dies Peschel in seinem offiziellen Reisebericht tat. Mundt: Die wissenschaftlichen Leistungen in den Assoziationen seien in den letzten vier Jahren zwar gewachsen, doch habe es »keinerlei echte wissenschaftliche Höhepunkte, die von dominierendem Charakter waren«, gegeben. Die zahlreichen DDR-Beiträge seien durchweg positiv aufgenommen worden, das durchschnittliche Niveau soll über dem internationalen Durchschnitt gelegen haben. »Wir sind daher sehr gefragte Diskussionspartner«.1753 Zur Wahl Kautzlebens zum Sekretär einer Kommission der IAG führte Mundt aus, dass diese erstens »auf der Basis enger Absprachen zwischen den sozialistischen Ländern« stattfand und zweitens »auf der Basis einer massiven Unterstützung des alten IAG-Präsidenten Boulanger«; Mundt: »das wäre sonst nicht möglich gewesen«. Ebenso kam die Wahl Stillers in diese Kommission nur »nach massiver Vorarbeit« seitens eines sowjetischen Kollegen zustande. Insbesondere die USA habe dahin­ gehend insistiert, Wahlfunktionen künftig nur noch für je vier Jahre gelten zu lassen. Diese Variante sei, so Mundt, gut für die DDR. (Allerdings nicht für das MfS, da 1752  Bericht über die Teilnahme der DDR-Delegation an der XVI. Generalversammlung der IUGG vom 24.8.–6.9.1975 in Grenoble; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 324, S. 1–12, hier 1–3 u. 10. 1753  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 16.9.1975: Bericht von »Gotha« am 11.9.1975 zum Besuch der XVI. Generalversammlung der IUGG; BStU, MfS, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 87–95, hier 91.

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diese Mitarbeiter ja vorzugsweise IM sein mussten, was die Rekrutierung erheblich schwieriger machte.) »Unsere Leute«, so Mundt, seien um die 40 Jahre.1754 Am 17. September berichtete Böhme zu Lauter. Im Mittelpunkt standen Erkenntnisse im Zusammenhang mit der XVI. Generalversammlung der IUGG in Grenoble. Unmittelbar vor der Tagung hatte Taubenheim von Gregory die Bitte erhalten, eine Ausarbeitung zum aktuellen Stand der Erkenntnisse und Messungen auf dem Gebiet der Erstellung der Ionen- resp. Elektronendichteprofile anzufertigen. Taubenheim war dieser Bitte in Abstimmung mit Lauter nachgekommen.1755 Auch Pätzold berichtete  – am 19. September  – über die Tagung in Grenoble. Man habe dort allgemein »eine starke Abblockung gegenüber der DDR-Delegation«, besonders aber gegenüber Stiller festgestellt. Ein Schweizer habe versucht, DDR-Delegationsmitglieder »zum Beitritt in die EGG zu bewegen«. Stiller sei für die fachliche Planung der künftigen Veranstaltung in Kraków systematisch ausgeschalten worden. Stiller, Peschel und Kautzleben hätten sich überdies in der Frage der »Aufrechterhaltung der Funktionen in der CSE« nicht einigen können. Das Auftreten der westlichen Länder in der EGG sei einheitlicher gewesen als das der sozialistischen Länder hinsichtlich der KAPG.1756 Am 11. September fertigte das MfS einen Bericht über das Gespräch von Einbruch* mit Lauter im August an. Das Gespräch fand am 3. September statt. Lauters Ansichten lauteten demnach folgendermaßen: Wie in der Sowjetunion sei es auch in der DDR »äußerst schlecht bestellt« mit der Wissenschaft. Er habe hierzu zwei Gründe angeführt. Erstens in der verfehlten »gesamten Hochschulpolitik bis zur Hochschulreform«. Sie sei »falsch« gewesen. Die Ergebnisse kämen derzeit negativ zum Tragen. »Dass Studenten die Vorträge von Professoren durch Fragestellungen unterbrechen können«, sei »nach seiner Meinung unmöglich«. Die »zweite und sehr bedeutende Ursache« liege in dem »Hineinreden von Partei und Staat in die Wissenschaft«. Lauter habe sich optimistisch gezeigt, dass die USA ab 1980 ein anderes Landesystem für Weltraumfahrzeuge in Einsatz bringen würden: »Also die Welt wird sich noch wundern, was die Amerikaner zu bieten haben auf diesem Gebiet.« Er soll hierbei auf die Raumfährenentwicklung angespielt haben. (Das MfS schätzte später ein, dass sein Projekt SESAME diesem Raumfährenprojekt dienlich sein werde.) Einmal mehr habe er Kuczynski gelobt, er freue sich auf ihn, wenn er im kleinen Kreis an der Akademie hin und wieder mit ihm zusammentreffen und diskutieren könne. (Das MfS witterte an dieser Stelle reflexartig sofort eine Opposition, eine Plattform feindlichen Handelns.) Lauter sei festen Willens, »noch für längere Zeit Direktor des ZISTP in Berlin zu bleiben«. Jedenfalls bis zur Erreichung seines 60. Geburtstages, danach wolle er sich wieder intensiver wissenschaftlichen Fragen 1754  Ebd., Bl. 91–94. 1755  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 19.9.1975: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 17.9.1975; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 3, Bl. 16–22, hier 17 f. 1756  Potsdam vom 18.9.1975: Informationsgespräch über die Tagung in Grenoble mit Stiller; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 3, Bl. 266–274.

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widmen. Seine Mitarbeit im Forschungsrat befriedige ihn nicht, »dort kommt nichts raus«, »er möchte dort weg«. Grote habe »kein Format«, »keine Anerkennung im Rahmen« der Akademie. Die »Beschickung von DDR-Wissenschaftlern in die Antarktis« sei »wissenschaftlich« gesehen »völlig unbegründet«. Als Generalsekretär habe er sich seinerzeit dagegengestemmt. Weiz schien ihm damals schon zustimmen zu wollen. Daraufhin aber seien über die Botschaft der Sowjetunion Beschwerden gekommen, was zu »erheblichen Kontroversen mit Weiz« geführt habe. Der habe dann ihm, Lauter, »unmögliches Verhalten in dieser Angelegenheit« geziehen.1757 Heinz Stiller gab Ralf Joachim am 24. September den Auftrag, ihm einen Situationsbericht zu Schwierigkeiten in der IK-Zusammenarbeit für den Akademie-Präsidenten zu erarbeiten. Es gehe primär um Planstellenkapazitäten, der Akademiepräsident beabsichtige hierzu mit dem Chef der Staatlichen Plankommission (SPK), Gerhard Schürer, und Weiz, eventuell auch mit dem Vorsitzenden des Ministerrates, Horst Sindermann, zusammenzutreffen. Stillers Aktivität erfolge in Umgehung Grotes (Grote war nicht nur Generalsekretär der Akademie, sondern auch IK-Verantwortlicher). Joachim erhielt überdies den Auftrag, am 26. September bei der Dienstbesprechung der Institutsdirektoren des Forschungsbereiches »einen ausführlichen Arbeitsbericht« zu geben. Ziel war, die Direktoren für die Erdressourcenforschung zu interessieren.1758 Die HA IX/3 gab am 15. Oktober eine Stellungnahme zum OV »Beamter« ab. Einführend wurde mitgeteilt, dass in den letzten beiden Jahren »mehrfach Konsulta­ tionen und Abstimmungen zwischen der HA XVIII/5 und der HA IX/3 sowie gemeinsame Absprachen mit den eingesetzten IM-Spezialisten« stattfanden. War die HA IX mit im Boot, ging es immer um die Frage einer Strafrechtsrelevanz. Dem Befund fortgesetzter Pflichtverletzungen Lauters werde »vollinhaltlich zugestimmt«. »Zweifelsfrei« sei erwiesen, dass Lauter seine »internationale Stellung vornehmlich für die Wahrnehmung und Lösung von Forschungsaufgaben für die NASA und andere westliche Forschungseinrichtungen missbrauchte und wiederholt gegen den Ausbau und die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der UdSSR generell und die Interkosmos-Arbeit im Besonderen« vorgegangen sei. Mittels operativer Eingriffe (Maßnahmen) seien ihm deshalb »Einflussmöglichkeiten auf die weitere Interkosmos-Arbeit« genommen worden. Auch das »unmittelbare Mitwirken in internationalen Gremien« sei »unmöglich gemacht« worden. Die aufgedeckten Belastungen würden eine Anklage wegen Spionage nach Paragraf 104 StGB zwar zulassen, jedoch fehlten dafür die konkreten Nachweise: »Die vorliegenden Indizien sind nicht ausreichend, um mögliche Verbindungspersonen und Hintermänner im NSW und der von diesen im Zusammenwirken mit dem Verdächtigen verfolgten Ziele konkret zu bestimmen sowie die erforderliche Differenzierung in der Motiva1757  HA XVIII/5/3 vom 11.9.1975: Gespräch mit Einbruch*; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 194–200, hier 195–198. 1758  HA XVIII/5/3 vom 29.9.1975: Information von »Klaus Stephan«; BStU, MfS, A 371/86, Bd. 1, Bl. 117 f.

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tion des Verdächtigen für sein Vorgehen vornehmen zu können.« Man könne nicht feststellen, ob er lediglich an seiner alten Forschungsstrategie festgehalten oder »ab einem bestimmten Zeitpunkt eine staatsfeindliche Zielsetzung« verfolgt habe. Es fehlten schlicht »konkrete Fakten über mögliche feindliche Absprachen und staatsfeindliche Zielsetzungen für den Nachweis der subjektiven Tatbestandsmerkmale«. Auch hinsichtlich einer Verletzung seiner Pflichten gemäß Paragraf 165 StGB fehle es an belastbaren Fakten. »Wesentlich hierfür ist, dass die Handlungen des Verdächtigen im Bereich der Grundlagenforschung und dabei in der Konzipierung und Ausgestaltung von Forschungsprogrammen liegen und demzufolge nicht der gesetzlich vorgeschriebene Nachweis konkreter Kausalzusammenhänge zwischen vorsätzlichen Pflichtverletzungen und konkret nachgewiesener und messbarer vorsätzlich herbeigeführter besonders schwerer wirtschaftliche Schäden erfolgen« könne. Es folgte eine Art Belehrung seitens der HA IX für die HA XVIII/5: »Der Vorsatz des Täters im Sinne des Paragrafen 165 StGB darf nicht nur grundsätzlich die Gefahr des Eintritts wirtschaftlicher Schäden beinhalten, sondern [muss auch] den unmittelbaren mit der vorsätzlichen Rechtspflichtverletzung angestrebten und eingetretenen Schaden erfassen.« Man könne zwar gegen Lauter strafrechtlich nichts unternehmen, jedoch die »bedeutsamen operativen Aufklärungsergebnisse« für eine nachhaltige Veränderung in Regimefragen des Sicherungsbereiches verwenden. Das 1. Exemplar der Stellungnahme ging an den Leiter der HA XVIII, Kleine.1759 Lauter hielt am 23. Oktober einen Vortrag zur Umweltproblematik im Rahmen einer Tagung der Klasse Physik. Böhme berichtete dem MfS am 30. Oktober hierüber. Lauter soll demnach »sehr stark« die Frage der Adaption von Umwelt und Gesellschaft herausgearbeitet haben.1760 Die HA XVIII/5 geriet in Ermittlungswut, sie biss sich regelrecht an der Idee fest, dass Lauter ein Agent der USA gewesen sein muss. Seine konspirierte Zernichtung musste legitimiert werden, die Akademie sollte erfahren, dass das rätselhafte Geschehen um ihn herum einen Grund hatte. Mit Datum vom 30. Oktober legte es einen neuerlichen Maßnahmeplan zur operativen Arbeit vor. Einmal mehr war eine »konspirative Wohnungsdurchsuchung zum Zwecke der Prüfung des als GKP geeigneten Bogens auf Benutzung« geplant. Die oben erwähnte Monografie über die Windsysteme war immer noch nicht einer eingehenden Prüfung unterzogen worden. Der IM »Nichtraucher« sollte dies endlich bewerkstelligen. Die Monografie war u. a. an 30 Westwissenschaftler verschickt worden. Des Weiteren sollten Vorträge auf Veranstaltungen des COSPAR und der IUCC mit Bezügen zur SESAME-Programmatik dahingehend überprüft werden, ob hierin »Interkosmos-Ergebnisse einbezogen« worden waren. Ferner sollte nach einem neuen Kraftfahrer für Lauter gesucht werden, der eine »unmittelbare Kontrolle« zu realisieren in der Lage sei. Ver1759  HA IX/3 vom 15.10.1975: Stellungnahme zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 213–216. 1760  HA XVIII/5/3 vom 31.10.1975: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 30.10.1975; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 3, Bl. 23–26, hier 23 f.

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traute Kollegen Lauters sollten einer M-Kontrolle unterworfen werden. Systematisch mit je spezifischer Ausrichtung waren folgende IM gegen ihn im Einsatz: »Hans«, »Bernhard«, »Weiss«; »Licht« und »Marianne«.1761 Ende November begann die HA  XVIII/5 zu prüfen, inwieweit weitere »Entscheidungsbefugnisse und Einflussmöglichkeiten auf zentrale Entscheidungen« von Lauter »gegenwärtig noch gegeben« seien und inwiefern es Möglichkeiten und Notwendigkeiten gebe, diese weiter einzuschränken.1762 Am 9. Dezember nahm Böhme auf Einladung Stillers an einem Gespräch teil, dass sich zum Ziel setzte, Lauter wegen dessen Thesen zur physikalischen Umwelt und seines Artikels Welt­ raum und Erde »zur Rede zu stellen«. Böhme möge, so Stiller, hierbei den Papst der Meteorologie spielen, der aus fachlicher Warte sehr genau hinzuhören verstehe. Offizier Knaut konditionierte Böhme zusätzlich.1763 Böhme übergab bei dieser Gelegenheit dem MfS ein Schreiben von Lauter, das angeblich belegen sollte, dass Ergebnisse, die in der Monografie Die Windsysteme abgedruckt waren, von Interkosmos-Themen stammen.1764 Ein weiteres Schlüsseldokument ist ein Bericht Böhmes vom 7. Januar 1976. Es bezieht sich auf Lauters Umweltschutz-Thema, diskutiert am 11. Dezember 1975. Es ist ein eindrucksvolles Dokument zur Illustration der ideologischen und praktischen Machtverhältnisse an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Der Diskussionsvortrag fand in der Konsequenz des Vortrages am 23. Oktober 1975 statt. Robert Rompe leitete die Veranstaltung. In dem tribunalartigen Gespräch soll Lauter zunächst seine Adaptionsthese verteidigt, Katastrophenszenarien jedoch betont haben. Es komme jedoch darauf an, so Stiller, »wissenschaftlich die Vorgänge in der Natur zu erfassen und zu erklären, bevor für die Gesellschaft gewisse Konsequenzen gefordert werden«. Und Rompe habe gefragt, »was« denn »diese Schwarzmalerei« überhaupt »mit dem Wetter« solle. Treder setzte noch eins drauf: »Katastrophentheorien wie die der kommenden Eiszeit« seien »vom kapitalistischen System geboren«. Die »wollen eine Krise in der Natur hochspielen um von der Krise in der kapitalistischen Gesellschaft abzulenken.« Akademiepräsident Klare habe dagegen nur vorsichtig Kritik geäußert. Ein anwesender SED-Funktionär habe gemeint, dass Lauters Darstellung »sehr unklar« gewesen sei. Es ist schon verblüffend, wie konditioniert Lauters eigene Kollegen, zumal Physiker, gewesen waren. Er war ja, was alle wussten, ein Gefallener. Man mag wohl sehr überrascht gewesen sein, dass ausgerechnet Gesellschaftswissenschaftler, die keine Nähe zu Lauter besaßen, dessen 1761 HA XVIII/5/3 vom 30.10.1975: Maßnahmeplan zum OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 217–221. 1762  HA XVIII/5 vom 26.11.1975: OV »Beamter«; ebd., Bl. 226. 1763  HA XVIII/5/3 vom 15.12.1975: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 9.12.1975; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 3, Bl. 27–29, hier 28. Lauter, Ernst August: Bedeutung der Erforschung des erdnahen Raumes für den Menschen, in: Wittbrodt, Hans et al. (Hrsg.): Weltraum und Erde, Bd. 1. Berlin 1975, S. 209–223. Der Beitrag besticht durch Kompetenz und Klarheit. Die Projekte SESAME und GARP sind erwähnt. 1764  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 15.12.1975; ebd., Bl. 28.

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Darlegung positiv aufgenommen hatten. Böhme: »Sehr destruktiv war die Haltung der anwesenden Gesellschaftswissenschaftler […] vom Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsorganisation der Akademie. Diese Personen konnten sich nicht den Darlegungen Lauters entziehen, obwohl nach Meinung des IM gerade sie die gesellschaftspolitischen Aspekte hätten erkennen müssen.« Lauter hatte an den Reaktionen begriffen: Am Ende des Gespräches teilte er der versammelten Runde mit, »dass er seine Tätigkeit auf diesem Gebiet einstellen« werde. Das MfS konstatierte einen vollen Erfolg. »Die durchgeführten Maßnahmen« seien »erfolgreich verlaufen« und hätten »Lauter empfindlich getroffen«.1765 Hans-Joachim Fischer insistierte gegenüber dem MfS, dass man Lauter (resp. dem ZISTP) ruhig die Aufgabe überlassen könne, herauszufinden, ob atmosphärische Bestandteile wie NO3 und O3 überhaupt bei der Datenauswertung von Inter­kosmosProjekten eine Rolle spielen werden.1766 Natürlich spielten sie eine Rolle, doch hatte man keine geeigneten Fachwissenschaftler. Die waren bei Lauter geblieben und galten als für Interkosmos nicht verpflichtbar. Aus einem Protokoll des ZISTP vom 14. Januar zur Rechenschaftslegung des Direk­tors des ZISTP, Lauter, vor dem Leiter des FoB Geo- und Kosmoswissenschaften über die Planerfüllung des Jahres 1975 am 11. Januar: Demnach fand die Verteidigung auf dem Telegrafenberg am Samstag, dem 10. Januar statt. Stiller konstatierte das Vorliegen aller wichtigen Planerfüllungsdokumente und Lauter referierte kurz zu den Ergebnissen aus den Komplexen Sonnenphysik, Magnetosphäre, Hochatmosphäre, Observatoriumstechnik und -betrieb sowie zur Teilnahme an der 21. Sowjetischen Antarktisexpedition (SAE). Auch der Parteisekretär resümierte gute Arbeit, die DSF-Arbeit habe an Aktivität zugelegt, die sozialistische Demokratie sich weiter entfaltet, die Entwicklung der Kollektive schreite voran. In dieses Horn stießen der BGL-Vorsitzende, der FDJ-Vertreter und ein Ökonom des Hauses. Allein im Auftreten Kautzlebens mag man Fremdinteresse gespürt haben. Der nämlich stellte Fragen »zum Nutzaspekt der Observatoriumsprogramme in Relation zum betriebenen Aufwand und die Gründe für das Fehlen einer Kooperation mit dem Rundfunk- und Fernmeldetechnischen Zentralamt der Deutschen Post«. Taubenheim antwortete, dass die Observatoriumsmessungen »untrennbarer Bestandteil und experimentelle Basis der Grundlagenforschung« seien und eine fachliche Kooperation mit der Post nicht (mehr) nötig sei, da alle grundsätzlichen Problemlösungen bereits überführt worden seien. Summa summarum eine rundum gelungene Verteidigung mit viel Lob und abrechenbaren Leistungen. An keiner Stelle tauchte eine Kritik auf (abgesehen von der subkutanen Frage Kautzlebens), die hätte vermuten lassen, dass Lauter demnächst weiter fallen würde. Ganz im Gegenteil: Für 1976 erhielt das Institut zur Auf‌lage, neun Aspekte seiner Forschungstätig1765  HA XVIII/5/3 vom 9.1.1976: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 7.1.1976; ebd., Bl. 42–47, hier 42 f. u. 46. 1766  Vgl. HA XVIII/5 vom 8.1.1976: Bericht zum Treffen mit »Bernhard« am 17.12.1975; BStU, MfS, TA 77/89, Bd. 4, Bl. 179–181.

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keit weiterzuführen, darunter gar die Aufgabe, »Voraussetzungen zur Erweiterung der Kooperationsleistungen auf dem Gebiet der Interpretation von Sekundärdaten des IK-Programms« zu schaffen. Diese Aufgabe bezeichnete genau jenes fachliche Vakuum, das das Institut für Elektronik (IE) besaß. Auch die Weiterarbeit im Rahmen der KAPG und die Mitwirkung an der 21. Sowjetischen Antarktisexpedition standen auf der Agenda.1767 Indes gingen die operativen Überwachungsaufträge zu Lauter, die Maßnahmen »A« und »B«, auch für das erste Halbjahr 1976 unvermindert weiter.1768 Stiller berichtete am 16. Januar, dass man in Bezug auf das Projekt »Raduga« nun die Lösung anstrebe, im ZIPE eine neue Struktureinheit zu bilden, »die sich mit Fragen der Interpretation der Messdaten« beschäftigen soll, die Gesamtleitung aber werde im IE verbleiben.1769 Am 18. Januar schätzte Kautzleben gegenüber dem MfS ein, dass es sich in Gesprächen mit Joachim vom IE gezeigt habe, dass sich dessen Haus im Rahmen Interkosmos vorzugsweise »geräteseitig« positionieren werde: »Die gerätemäßige Bestückung der Satelliten« werde »bereits als Tradition und als das Wesen der Interkosmos-Arbeit angesehen. Gleichzeitig« aber mache »sich eine wissenschaftliche Ausrichtung auf die Ionosphäre bemerkbar, die auf den Einfluss von Professor Lauter zurückzuführen sein« könne.1770 Ende Januar fasste das MfS seine Erkenntnisse zur neuen wissenschaftlichen Richtung, der Umweltforschung, Lauters zusammen. »An die Person Lauter herangeführte zuverlässige IM, die als profilierte Wissenschaftler tätig« seien »und teilweise von Lauter ins Vertrauen gezogen« würden, hätten »zu diesem Zeitpunkt« eingeschätzt, »dass Lauter sich diesem Gebiet widmet, um sich ohne Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Erfordernisse einen spektakulären wissenschaftlichen Erfolg zu verschaffen, der gleichzeitig seinen internationalen Anschluss wiederherstellen soll, der ihm Anfang 1974 (Maßnahmen der internationalen Isolierung des L. im März 1974) verloren« gegangen sei. Der vorläufige Höhepunkt diesbezüglich sei die Fertigstellung einer Schrift am 8. Oktober 1975 mit dem Titel »Thesen zu den die Umwelt bestimmenden physikalischen Prozessen« gewesen. Das MfS zitierte aus der Einleitung: »Die Thesen sind der Versuch, die Rolle der natürlichen physikalischen Prozesse für den Lebensraum des Menschen auf dem Planeten Erde fundamental zu formulieren, um daraus abzuleiten: 1767  ZISTP vom 14.1.1976: Protokoll zur Rechenschaftslegung des Direktors des ZISTP vor dem Leiter des FoB GuK über die Planerfüllung des Jahres 1975 am 11.1.1976; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 311, S. 1–11. 1768  Vgl. HA XVIII vom 13.1.1976: Aufträge zu den Maßnahmen »A« und »B« zum OV »­B eamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 227. 1769  BV Potsdam, Abt.  XVIII / Inst., vom 24.1.1976: Bericht zum Treffen mit »Martin« am 16.1.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 175 f. 1770  BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 27.1.1976: Zu Verhandlungen mit dem IE; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2059/80, Teil II, 1 Bd., Bl. 116.

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a) die notwendige Entwicklung und Zielstellung der involvierten Wissenschaftsgebiete, b) Aussagen über die Adaption (Anpassung) der Entwicklung der Produktivkräfte, c) Einordnungsgrundsätze für die mannigfaltigen Detailprobleme der Umweltwissen­ schaften.«1771

Lauter habe diese Arbeit Schritt für Schritt forciert und strebe noch für Anfang 1976 an, seine Vorstellungen dem Plenum der AdW zur Diskussion vorzutragen. Im Rahmen der »Wissenschaftlichen Gespräche« an der AdW hatte er seine Thesen am 11. Dezember 1975 bereits skizziert. Das Forum wurde 1974 von Rompe kreiert. Das MfS besaß IM-Einschätzungen: »1. Die generell richtige Forderung nach der Adaption (Anpassung) der Gesellschaft an die Natur erfährt in den Auf‌fassungen Lauters eine nicht gerechtfertigte Über­ betonung. Diese Überbetonung, wie sie u. a. in der Forderung Lauters besteht, eine ›Strategie der Adaption der Produktion an die Natur-Umwelt‹ zu schaffen, würde in ihrer Konsequenz eine materielle Aufwendung bedeuten, die letztlich für die Gesellschaft ohne Aufgabe der Volkswirtschaft nicht lösbar wäre. […] 2. Die Forderungen Lauters an die Gesellschaft sind gesellschaftsneutral gefasst. Häufig verwendet Lauter den Begriff ›Industriegesellschaft‹. […] 3. Die wissenschaftlichen Standpunkte des Lauter werden von sachkundigen Wissenschaftlern als fragwürdig betrachtet. Seine pessimistische Grundorientierung in Richtung einer kommenden Eiszeit, ›auf die sich die ganze Welt einstellen muss‹, wird als Desorientierung eingeschätzt.«1772

Der klimatologische Trend ging tatsächlich, was übrigens weiland breit in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist, realiter in Richtung Eiszeit. Weiter das MfS: Es müssten also weitere »operative Maßnahmen eingeleitet« werden, die in der Lage wären, seine Vorstellungen »zu kanalisieren«, um ihm im Endeffekt weitere Einflussmöglichkeiten zu nehmen. Das MfS sprach in diesem Kontext von »des­orientierenden Auf‌fassungen auf dem Gebiet der Umweltforschung«. Die Gegensteuerung seiner Auf‌fassungen sei in der Diskussion am 11. Dezember 1975 erfolgreich gewesen (siehe oben). Ihm sei »deutlich gemacht« worden, »dass seine pessimistische Grundorientierung unsachlich« sei und »nicht den Erfordernissen der sozialistischen Gesellschaft« entspreche. Er sei der Ablenkungsstrategie des Westens verfallen. Er soll erklärt haben, dass »eine weitere Beschäftigung für ihn mit dem Gebiet der Umweltforschung erledigt« sei. »Er machte einen außerordent­lich deprimierten Eindruck, da er eine solche umfassende wissenschaftliche Niederlage offensichtlich nicht erwartet hatte.« Das MfS zog zufrieden Bilanz ob der fußfassenden operativen Arbeit: »Das wissenschaftliche Ansehen des Lauter, insbesondere in Kreisen der führenden Wissenschaftler der Akademie, wurde erheblich erschüttert. Das von ihm angestrebte Auftreten vor dem Plenum der Akademie wurde ver1771  HA XVIII/5 vom 28.1.1976: Maßnahmen zur Zurückdrängung der Stützpunkttätigkeit; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 229–232, hier 229. 1772  Ebd., Bl. 230.

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hindert. Er findet keine Unterstützung bei der weiteren Verbreitung seiner Auffassungen, dafür wurde ihm der Boden entzogen.« Auch nahm er seine Positionen aus dem 1. Entwurf seines Institutsberichtes über die Erfüllung der Aufgaben im Jahre 1975 heraus, hier hatte er der Umweltforschung noch »einen breiten Platz« eingeräumt. Das MfS dazu: »Die durchgeführten Maßnahmen sind Bestandteil der zu Lauter festgelegten Schritte zur weiteren Zurückdrängung und Einschränkung seiner Wirkungsmöglichkeiten als Stützpunkt feindlicher Kräfte im Bereich der Wissenschaften der DDR.«1773 Mit Schreiben vom 2. Februar beantragte Akademiepräsident Klare, Lauter aus dem Forschungsrat abzuberufen. In einem Gespräch am 23. Januar war dies zwischen Weiz und Klare ausgehandelt worden.1774 Ein Papier vom 6. Februar wiederholt, ergänzt durch einige wenige Details, die Ergebnisbilanz des MfS hinsichtlich der strafrechtsrelevanten Dimension. Interessant ist diesbezüglich nur die handschriftliche Notiz des Leiters der Abteilung 5 der HA XVIII: »Im Sinne Aussprache mit IX/3 weiter verfahren«.1775 Mit anderen Worten: alle Ergebnisse sollten weiterhin in Richtung einer positiven strafrechtlichen Prüfung qualifiziert werden. Kautzleben berichtete dem MfS am 17. Februar über das Projekt »Raduga«. Es habe für das Projekt »seitens der Ministerien einschließlich der NVA grünes Licht« gegeben. Allerdings würden Mängel den Ablauf der Entwicklungsarbeiten beeinträchtigen, dazu zählten: Das Leitungssystem im IE funktioniere nicht recht, weil u. a. die Aufgaben zu Interkosmos zu umfangreich geworden seien, eine Verlagerung auf das ZIPE werde »von den leitenden Mitarbeitern des IE nicht verkraftet«. Kautzleben war jedoch nicht bereit, die »Mängel und Probleme« zu personifizieren. Er erklärte, dass »er selbst fachliche und organisatorische Schwierigkeiten bei der Verwirklichung seiner Aufgaben« habe.1776 Lauters Isolation wird manifest Am 18. Februar nahm ein Mitarbeiter der Britischen Botschaft in Ost-Berlin Kontakt zu Lauter auf. Das MfS erfuhr davon und stellte postwendend Recherchen an.1777 Die namentlich genannte Person hatte zu Lauter telefonisch Kontakt aufgenommen, da 1975 an ihn, Lauter, gerichtete Briefe ohne Antwort geblieben waren. Lauter bestätigte ihm, keine Briefe erhalten zu haben. Man wolle die Briefe nun noch 1773  Ebd., Bl. 231 f. 1774  Vgl. Schreiben von Klare an Weiz vom 2.2.1976: Abberufung von Mitgliedern des Forschungsrates; ebd., Bl. 233. 1775  HA XVIII/5 vom 6.2.1976: Information zum OV »Beamter«; ebd., Bl. 234–237, hier 234. 1776  BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 17.2.1976: Bericht von »Laser« am 17.2.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2059/80, Teil II, 1 Bd., Bl. 119. 1777  Vgl. HA XVIII vom 23.2.1976: Information über Aktivitäten eines Mitarbeiters der Britischen Botschaft; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 240.

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einmal schreiben. Ein IM, der offenbar beim Anruf zugegen war, teilte dem MfS mit, dass Lauter »erregt« gewesen sei »und völlig bleich im Gesicht. Als er sich gefangen« habe, »diktierte er einen Brief« an Grote. Das MfS legte Sofortmaßnahmen fest, u. a. habe Grote nach Eingang der Lauter-Information diesem sofort mitzuteilen, »dass er über mögliche künftige Aktivitäten dieser Art zu informieren und die Partner darauf aufmerksam zu machen hat, dass sie sich bei evtl. Anfragen entsprechend der Inneren Ordnung an die Leitung der AdW wenden möchten«.1778 Grote erhielt somit Kenntnis, dass einer der Sekretäre der Botschaft nachgefragt habe, ob seine Dienstadresse in Adlershof noch stimme. Vordem sei an seine Sekretärin die Frage gestellt worden, »ob ich noch am Leben sei«.1779 Am 27. Februar zog die HA XVIII die Schlinge um Lauter fester. An die HA XX gewandt, verlangte sie, Lauter das Podium bei der Fernseh-URANIA (u. a. Raumfahrt – Sonderstudio) zu entziehen. Lauter soll angeblich die zuständige Presse- und Informationsabteilung beim AdW-Präsidenten umgangen haben. Die HA XX möge schnellstens entsprechende Maßnahmen der Verhinderung seines öffentlichen Auftretens treffen. Lauter vertrete auf den »Gebieten der Forschung desorientierende und teilweise unwissenschaftliche Standpunkte« und suche Gelegenheiten, »diese zu propagieren«. Es gebe hierfür bessere, »ausgewiesene Wissenschaftler«.1780 In der »Information« der HA XVIII mit der Nummer 55/76 steht ergänzt, dass Lauters Ausführungen für die beabsichtigte Sendung im Rahmen des Themas »Mensch – Umwelt« der Umweltforschung gegolten hätten.1781 Die HA XVIII bat mit Schreiben vom 3. März die Abteilung Postzollfahndung der BV Rostock um die Weiterführung des Auftrages »B« (Abhören mit Mikrofon). Das Interesse der HA XVIII lag in Sonderheit auf »Briefe und Begleitbriefe bzw. Begleitschreiben zu Sendungen«; diese wolle man vollständig als Kopien erhalten.1782 Grote antwortete Lauter am 4. März zur Information des telefonischen Kontaktes seitens der Britischen Botschaft. Er empfahl ihm, bei ähnlicher Gelegenheit die Botschaft zu informieren, sich künftig über den offiziellen Weg über das MAA an die AdW zu wenden.1783 In einem persönlichen, tagebuchartigen Bericht unter dem Titel »Lebenslauf-Ergänzung« (angelegtes Heft ab 15. März 1976) schilderte Lauter u. a. seine Berufung als Generalsekretär der DAW: »Mit Beginn der Akademiereform übernahm ich auf Wunsch des stellvertretenden Ministerpräsidenten Dr. Weiz die Funktion des Generalsekretärs und ersten Stellvertreters des Präsidenten der Akademie. Seinem Wunsch entsprechend legte ich [unleserlich] Mitgliedschaft im COSPAR alle 1778  HA XVIII/5 vom 23.2.1976: Information zum OV »Beamter«; ebd., Bl. 241 f. 1779  Schreiben von Lauter an Grote vom 18.2.1976; ebd., Bl. 248. 1780  HA XVIII vom 27.2.1976: Anforderung an die HA XX; ebd., Bl. 243. 1781  Vgl. HA XVIII vom 27.2.1976: Information zum Auftreten Lauters im Fernsehen der DDR; ebd., Bl. 244. 1782  Schreiben der HA XVIII an die Abt. Postzollfahndung der BV Rostock vom 3.3.1976: Weiterführung der Maßnahme »B«; ebd., Bl. 243. 1783  Vgl. Schreiben von Grote an Lauter vom 4.3.1976; ebd., Bl. 247.

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Funktionen in den Organisationen des ICSU, in der URSI, der IAMAP, der IAGA nieder. Entgegen den vorher getroffenen Absprachen musste ich für alle [unleserlich] von der [Leitung] des neu formierten Heinrich-Hertz-Instituts beurlauben lassen, behielt jedoch [unleserlich]. In dem Arbeitsbuch steht auf einer Seite ohne weitere Ausführungen geschrieben: »Epilog eines Direktors«. Darunter: »Gespräch Stiller 23.8.76 [siehe unten], Professor Stiller: 1.9. Direktor läuft aus (?), kurze (?): Interkosmos-Kooperation (?)«.1784 Stiller erhielt während seiner Vertretung für den Vorsitzenden des Koordinierungskomitees (KoKo) Interkosmos, Grote, vom 1. Januar bis 16. Februar einen Einblick in die Unzulänglichkeiten der Interkosmos-Arbeit. Er berichtete dem MfS von seinen Eindrücken am 16. März. Der Schwerpunkt in der Zeit dieser Vertretung bestand in der Koordinierung der involvierten Ministerien für das Projekt »Raduga«. Die »aufgetretenen Probleme und Schwierigkeiten« hätten sich dermaßen aufgeschaukelt, dass man nicht mehr umhinkönne, »die IK-Arbeit grundsätzlich neu« zu durchdenken. »Die bisherige Leitungsstruktur« sei »nicht in der Lage, die gewachsenen Anforderungen sicher zu realisieren.« Stiller weiter: Strukturierungen, die Erreichung eines stabilen Leitungssystems und die wissenschaftliche Qualität in der Frage der Beherrschung der Aufgabenstellungen müssten weiter durchdacht und profiliert werden. Man wolle dies aber erst nach Beendigung des Projektes »Raduga« »in Angriff […] nehmen, um das Projekt nicht zu gefährden«.1785 Stiller diskutierte gegenüber dem MfS fünf große Mängelkomplexe, u. a. die Informationsproblematik hinsichtlich seiner Stellvertreterfunktion. Er erfahre praktisch nichts, sodass er im Vertretungsfalle uninformiert sei; die geübte Kritik an dem Leiter des FoB Kautzleben sei nicht gerechtfertigt, da die Hauptfehlerquelle objektiv wie subjektiv im IE liege; es gebe ferner vielfältige Streitigkeiten unter den beteiligten Institutionen. Ein beanstandeter Punkt jedoch überrascht wegen seiner Klarheit: »Hineinregieren durch das MfS von außen.« Stiller machte dies an der unfairen Behandlung Kautzlebens fest, den das MfS als undurchsichtig einschätze. Zudem blendete Stiller seinen eigenen Dauerdeal mit dem MfS völlig aus! Einer der erwähnten Streitpunkte war auch der zwischen Klare und dem MWT in der Frage eines eigenen Satelliten.1786 Stiller sprach nach Abschluss der Vertretung mit Grote über die zu reformierende Leitungsstruktur; einer seiner Vorschläge lief darauf hinaus, das IE aus dem Forschungsbereich auszugliedern.1787 Lauter schrieb am 19. März einen dienstlichen Brief an Böhme. Der hatte ihn am 17. Februar gebeten, »an der wissenschaftlichen Auswertung von Sekundärdaten von Infrarotsondierungen der Atmosphäre teilzunehmen«. Lauter habe mit 1784 Lauter: Lebenslauf-Ergänzung; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 845, Original-Pag., S. 42–44, hier 42. 1785  BV Potsdam, Abt.  XVIII / Inst., vom 24.3.1976: Bericht zum Treffen mit »Martin« am 16.3.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 180–182, hier 180. 1786  Ebd., Bl. 181 f. Zum Projekt eines eigenen Satelliten siehe Hein-Weingarten: Institut für Kosmosforschung, S. 111–124. 1787  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 24.3.1976; ebd., Bl. 182.

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Hans-Joachim Fischer gesprochen und man sei übereingekommen, eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Vertretern des MD, IE und ZISTP zu installieren. Die erste Zusammenkunft sollte bereits im April stattfinden.1788 Man benötigte Lauters Können und Wissen dringend für Auswertearbeiten. Ohne die Kenntnisse der Naturprozesse in der Atmosphäre konnten und können gemessene Satelliten-Daten nicht korrigiert werden (sogenannte Atmosphärenkorrektur). Am 22. März teilte die HA II der HA XVIII/5 mit, dass es sich bei dem Angehörigen der Britischen Botschaft um einen Diplomaten gehandelt habe. Der gehöre zur Politischen Abteilung, Bereiche Presse und Kultur. Die Person stehe bereits unter operativer Bearbeitung. Diesbezügliche Erkenntnisse aus der operativen Bearbeitung Lauters möge man ihr zur Abstimmung mitteilen.1789 Kautzleben berichtete am 24. März einmal mehr über den Verlauf der Projektarbeiten zu »Raduga«. In Planung war ein Arbeitsbesuch von circa 15  Personen vom 8. bis 15. April in Moskau. Thema sei die Interpretation von Luftaufnahmen. Das ZIPE werde vier Mitarbeiter entsenden, darunter den Sicherheitsbeauftragten Pätzold, der kein Wissenschaftler war. Die anderen Personen kamen aus jenen Bereichen, die am Projekt direkt beteiligt waren bzw. Nutznießer sein würden: Institut für Elektronik (IE), Meteorologischer Dienst, Ministerium für Land- und Nahrungsgüterwirtschaft, Ministerium für Geologie, Wismut, Geografie sowie Meeresforschung der AdW. Die Koordination zwischen den Ministerien sei abgeschlossen, »strittige Probleme« zwischen dem ZIPE und dem IE auf dem Gebiet der Kommunikation untereinander geklärt. »Während bisher die gesamte IK-Forschung über das MWT mit der UdSSR koordiniert wurde (lief), gibt es jetzt aufgrund eines Politbürobeschlusses auch direkte Beziehungen der DDR-Regierung zu sowjetischen Stellen. Seitens der DDR wurde bei der SU angefragt, ob Satellitenaufnahmen aus den sowjetischen Forschungsprogrammen, die das Gebiet der DDR betreffen, zur Auswertung und Übung bereitgestellt werden könnten.« Diese Frage sei prinzipiell geklärt worden, die Bedingungen zum Erhalt solchen Materials warfen aber Sicherheitsfragen auf. Es bedürfe der VVS-Stempelung und der Restriktion, die Aufnahmen nur »unter geologischen Aspekten« auswerten zu dürfen.1790 Am 25. März teilte Stiller in einem Schreiben an Peschel, den Vorsitzenden des NKGG, mit, dass »der Vorsitzende der sowjetischen Kommission für das Projekt ›Internationale Untersuchungen der Magnetosphäre (IMS)‹«, Migulin, ein konzeptionelles Papier über »die Beteiligung der DDR am Projekt« übersandt habe. Migulin hatte um eine überprüfende Einschätzung gebeten. Stiller gab nun Grote seine mit Fischer vom IE abgesprochene Einschätzung kund: Die DDR bearbeite Probleme, die auch im Projekt IMS enthalten seien, »einmal im Rahmen der KAPG 1788  Schreiben von Lauter an Böhme vom 19.3.1976; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 3, Bl. 68. 1789  Vgl. HA II vom 22.3.1976: Zur angefragten Person der Britischen Botschaft; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 258. 1790  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 24.3.1976: Bericht von »Laser« am 24.3.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2059/80, Teil II, 1 Bd., Bl. 123 f.

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(im Wesent­lichen aufgrund bodengebundener Messungen) und zum anderen im Rahmen von Interkosmos (durch Beteiligung an gemeinsamen kosmischen Experimenten).« Beide, Stiller und Fischer, hielten »es für zweckmäßig, dass in den Plänen der KAPG die Zielstellungen der IMS ausdrücklich berücksichtigt« würden. Man plädiere dafür, es der Sowjetunion »vollständig« zu überlassen, »in welcher Form die Interkosmos-Arbeiten mit den Arbeiten der zum Projekt IMS [unleserlich] werden«. »Aus verschiedenen, u. a. auch personellen Gründen halte« es Stiller »zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht für zweckmäßig, die Arbeiten in der DDR, die den Zielstellungen des IMS entsprechen würden, zu einem speziellen nationalen Programm der DDR für die Beteiligung im IMS zusammenzufassen«.1791 Am 26. März nahmen Lauter und Böhme an einer Sitzung des NKGG teil. KarlHeinz Bernhardt von der HU Berlin hatte hier Fragen der Kosmos- und Umweltforschung angeschnitten und die Forderung aufgestellt, mehr auf global-orientierte Forschungen zu setzen, worauf Stiller erwiderte, dass man das in der Vergangenheit genügend getan habe und heraus sei da nichts gekommen. »Obwohl diese Bemerkungen auf Lauter abzielten, reagierte dieser nicht.« Am 30. März berichtete Böhme dem MfS, dass Lauter fest davon ausgehe, die Sekundärdaten zu PM-1 zu erhalten. Die Daten seien offen und er könne mit ihnen seine Forschungen zur D-Schicht vorantreiben. Knaut vereinbarte mit Böhme sofort die Erarbeitung einer Ordnung, aus der hervorzugehen habe, »welche Daten wann [und] wie an wen übergeben werden« können (zu PM-2). Die Daten von PM-1 waren für Lauter irrelevant. Die Daten zählten zur IK-Arbeit, unterlagen damit der entsprechenden Sicherheitsordnung.1792 Lauter führte am 14. April die 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates der Hauptforschungsrichtung STP durch. Interkosmos-Arbeiten waren nicht inbegriffen, lediglich die Sekundärdatenauswertung. Der Plan für den Zeitraum 1976 bis 1980 sah Forschungen zur Strato- und Mesosphäre, zum Energietransfer und zu solaren Magnetfeldern vor. Von 1980 bis 1985 wären demnach Modellentwicklungen zur Sonnenaktivität und Erdatmosphäre zu leisten, schließlich wollte er von 1985 bis 1990 zur Prognostik zu Sonnenaktivitäten und zu Zuständen der Erdatmosphäre arbeiten. Unter dem Thema Nr. 511 (Klimatologie der winterlichen Mesopausenregion) startete als »Parteitagsinitiative« (!) das ZISTP-Thema »Basis des MAP-Programms (SESAME) der sozialistischen Länder«.1793 Lauter war einfach nicht totzukriegen. Ein Bericht von Stiller vom 27. April zur Interkosmos-Forschung zeigt die Abhängigkeit von der SED-Politik. Stiller hatte am 22. April die Sekretariatssitzung der SED-Kreisleitung der AdW thematisiert. Im Mittelpunkt standen Interkosmos, 1791  Schreiben von Stiller an Grote vom 25.3.1976; ArchBBAW, Nachlass Lauter, Nr. 345, 1 S. 1792  HA XVIII/5/3 vom 1.4.1976: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 30.3.1976; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 3, Bl. 59–67, hier 60 f. 1793 HA XVIII/5/3 vom 15.4.1976: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 14.4.1976; ebd., Bl. 69–75, hier 69–71.

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»Raduga« und die Elektronik. U. a. war »die ideologische Position im Institut für Elektronik« Thema. Der Parteisekretär der Akademie, Klemm, habe festgestellt, dass das »jetzige« Leitungssystem »den Anforderungen solch enorm komplizierter Experimente in der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung nicht« mehr auf allen Ebenen »gewachsen« sei. Das beginne beim Koordinierungskomitee und ende im Institut für Elektronik. Stiller habe das akzeptiert und entsprechende Vorschläge gemacht. Er wurde für die Umsetzung in Form einer Sekretariatsvorlage mit Vollzug binnen eines halben Jahres verantwortlich gemacht. Die zu erstellende Konzeption sollte stärker mit Eigenansprüchen profiliert werden. Eine »ausgesprochene Nur-Reaktion auf Wünsche« der Sowjetunion wolle man eher nicht. Jedenfalls solle der FoB Geo- und Kosmoswissenschaften »stärker in das Geschäft einbezogen werden«. Diese Orientierung soll auch von Offizier Günther Jahn »ausdrücklich und wiederholt« gegeben worden sein. Etwa in einem Gespräch Jahns mit Klemm, OibE Horst Fischer und den beiden IM in Schlüsselpositionen, Joachim und Stiller. Dieses Gespräch fand in Vorbereitung eines gerade beginnenden Treffens zwischen Klare und seinem sowjetischen Kollegen Alexandrow bezüglich der gemeinsamen Raumforschungsprojekte statt.1794 Böhme berichtete Offizier Knaut am 5. Mai, dass Stiller ihn in einem persönlichen Gespräch informiert habe, dass er mit Grote übereingekommen sei, »Lauter nach Ablauf seiner Periode als Direktor des ZISTP nicht erneut« zu berufen. Stiller habe ihm, Böhme, die Übernahme des ZISTP in Verbindung mit der Berufung als Akademiemitglied (sic!) angeboten. Böhme soll abgelehnt haben. Stiller jedoch soll ihm nichtsdestotrotz »auf jeden Fall eine Berufung als Akademiemitglied« versprochen haben.1795 Ein streng vertrauliches Papier vom 27. Mai lieferte ehrabschneidende und völlig verlogene Argumente, die eine Wiederberufung Lauters als Mitglied des Forschungsrates verhindern sollten. Lauter habe »auf einem ungewöhnlich engen Spezialgebiet der Geo- und Kosmoswissenschaften gearbeitet«. Es seien »Routinearbeiten« in einem »kleinen Observatorium«, mit denen er sich befasse. Seine »Fehlorientierungen« seien aus dieser »wissenschaftlichen Enge« entstanden, »gekoppelt mit seinem ausgeprägten Subjektivismus«.1796 Am 3. Juni berichtete Böhme: Demnach hatte Lauter vorgeschlagen, dass die Leitung des FoB Geo- und Kosmosforschung sichern solle, dass in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie ein Vortrag zur Thematik der Einflussnahme des Menschen auf die Umwelt gehalten werden könne mit der spezifischen Richtung der Ozon-Problematik. Stiller soll eine Prüfung zugesagt 1794  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 27.4.1976: Bericht zum Treffen mit »Martin«; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 183 f. 1795  HA XVIII/5/3 vom 18.5.1976: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 5.5.1976; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 3, Bl. 83 f., hier 84. 1796  Argumentation zur Frage der Nichtwiederberufung eines leitenden Kaders aus dem Forschungsbereich Geo- und Kosmoswissenschaften vom 27.5.1976; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 259–263.

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haben. Tags zuvor hatte Böhme ebenfalls ein Gespräch mit Stiller. Es ging um Desinformation im Mantel strengsten Stillschweigens. Demnach soll Lauter westdeutschen Wissenschaftlern die IK-Struktur verraten haben. Er habe laufend die IK-Arbeit gestört (Destruktion, Desinformation, Meinungsmanipulierung). Lauter »habe Sabotage betrieben«. Böhme kündigte ein Gespräch beim Präsidenten noch am 3. Juni an. Auch Klemm sollte teilnehmen, sagte jedoch ab! Böhme: Er habe »offensichtlich noch keine Meinung dazu«. Am Abend dann, nach dem Treffen mit Knaut, telefonierte Böhme mit Stiller. Der signalisierte, dass Klare »eine aufgeschlossene Haltung« eingenommen habe. Es sei jene »Variante diskutiert« worden, die »für Lauter den Status eines Experten« vorsehe, »um damit jegliche Leitungsfunktion« zu verhindern. Sein möglicher Nachfolger könne Knuth werden. Man wolle noch geraume Zeit sondieren. An diesem Tag hatte Böhme Offizier Knaut einen Artikel aus Die Welt vom 6. Mai übergeben. Der befasste sich mit der Frage der Klima­auswirkungen. Dem Tenor nach seien hier Argumente vorgestellt, die »in der Tendenz mit den bekannten Vorstellungen E. A. Lauters« harmonierten. Eine »volle Übereinstimmung« bestehe »an der Stelle«, »wo eingeschätzt wird, dass das Wetter wieder so sein« werde »wie in der Zeit zwischen 1600 und 1850«.1797 Die HA XVIII/5 schlug am 11. Juni vor, Lauter sowohl von der Funktion des Direktors des ZISTP zu entbinden als auch aus Leitungsgremien der AdW zu entfernen. Er soll als Experte »entsprechend seines wissenschaftlichen Profils« am OIF Kühlungsborn arbeiten. Das MfS schlug hierzu drei Varianten vor. 1. Variante: Leiter des OIF bei gleichzeitiger struktureller Trennung von Interkosmos-Aufgaben. 2. Variante: Leiter des OIF und Angliederung an den Meteorologischen Dienst. 3. Variante: Einsatz als Experte am OIF »ohne Leiterfunktion und außerhalb der Interkosmos-Thematik«. Zu Lauters Funktion als Direktor des ZISTP steht militant geschrieben: »Beseitigung« aus derselben. Das MfS schlug zugleich vor, dies mit Ablauf der Berufungsperiode 1976 zu realisieren. Personale Alternativen würden durch Vorstellungen von IM in »Schlüsselpositionen« an den Leiter des FoB Geo- und Kosmoswissenschaften, Stiller, herangetragen werden, der dann in ein Gespräch mit dem Präsidenten der Akademie treten werde. Zur Begründung: Lauter habe ein zu enges wissenschaftliches Profil und er orientiere sich ständig am Westen. Einen zweiten Punkt bildete die Abberufung Lauters als Mitglied des Forschungsrates. Der empfohlene Weg hierfür: Schreiben des Präsidenten der Akademie vom 2. Februar an Weiz. Ein dritter Punkt behandelte die Frage der Abberufung Lauters von seinen letzten verbliebenen Funktionen als Vizepräsident des NKGG und Vorsitzenden der Fachgruppe solar-terrestrische Physik beim NKGG. Seine Funktion als Ordentliches Mitglied der AdW bleibe unangetastet, da es sich um eine Wahlfunktion und nicht um eine Berufung handele. Insgesamt sollten die Veränderungen zeitnah erfolgen bei vorheriger Information staatlicher Funktionäre über die Handlungsweisen Lauters. Von Weiz erwartete man wie bislang Unterstützung, der hatte bis dato eine 1797  HA XVIII/5/3 vom 5.6.1976: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 3.6.1976; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 3, Bl. 107–109.

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solche Erwartungshaltung immer erfüllt. Die Schritte von Weiz sollten vom MfS kommunikativ begleitet werden.1798 In der am 16. Juni verfassten Abschlusskonzeption des OV konzipierte das MfS eine zusätzliche Variante, die zum Tragen kommen sollte, sofern Weiz sich hinsichtlich der Nichtwiederberufung Lauters als Direktor des ZISTP passiv verhalten würde. Demnach hätten dann Grote, Stiller und Offizier Jahn auf Klare hinarbeiten sollen, diese Nichtwiederberufung zu realisieren.1799 Jahn erhielt am 5. Juli 1976 offenbar von oder über Stiller die Information, wonach Eberhard Leibnitz, multipler Wissenschaftsfunktionär und Präsident der URANIA, eine von ihm angeregte Sendung der Fernseh-URANIA vorbereite. Stiller hatte diese Information von Lauter erhalten. Der Leiter der Presseabteilung hatte bereits mit Lauter Kontakt aufgenommen und dessen Zusage zur Mitwirkung erhalten. Themata sollten Klimabeeinflussung, Energiebilanz und -fluss in der Hochatmosphäre sein. Akademieseitig lief bereits eine Initiative, dem Verantwortlichen der URANIA-Sendereihe zu signalisieren, dass die Akademie keine Unterstützung geben werde. Der Pressechef soll »sehr ungehalten« reagiert haben. Er, der sich hierüber bereits mit Werner Lamberz und Kurt Hager kurzgeschlossen habe, lasse das Thema nicht fallen. Er führe es dann eben mit sowjetischen Wissenschaftlern durch. Jahn teilte in diesem Schreiben ferner mit, dass Lauter in der Frage der Umweltproblematik Unterstützung bei Bernhardt von der HU Berlin gefunden habe, der ähnlich argumentiere.1800 Im Rahmen des Vorschlages zum Abschluss des OV »Beamter« vom 9. Juli ist eine »Information über die schädigenden Aktivitäten« Lauters enthalten, die die oben genannten Vorbehalte zusammenfasste. Die gemeinsam mit der HA  IX/3 erarbeitete Information an Weiz enthalte »keine Fakten, deren Offenlegung Quellen und Methoden der Arbeit des MfS offenbarten«. Sie war verbunden »mit der Empfehlung, Maßnahmen zu veranlassen, die eine Wiederholbarkeit derartiger Erscheinungen und Handlungen von Einzelpersonen« fürderhin ausschlössen. Rudi Mittig, mittlerweile Stellvertreter Erich Mielkes, quittierte am 14. Juli mit »ein­ verstanden«.1801 Das Informationspapier war am 5. Juli fertig und wurde auf den 9. August aktualisiert.1802 Am 23. August fand eine Aussprache zwischen Stiller und Lauter teil. Teilnahm der Jurist Max Becker von der Kaderabteilung der Akademie. Stiller teilte Lauter mit, dass er nicht mehr als Direktor des ZISTP vorgeschlagen werde. Die Interkosmos-Zusammenarbeit sei in eine neue Phase getreten, der künftige Direktor müsse »ein ungewöhnliches Engagement bei der Bewältigung der entsprechenden Aufgabenstellungen entwickeln«. Lauter biete hierfür nicht die Gewähr, da er andere 1798  HA XVIII/5 vom 11.6.1976: Zum künftigen Einsatz von Lauter; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 264–267. 1799  Vgl. HA XVIII/5 vom 16.6.1976: Konzeption zum Abschluss des OV »Beamter«; ebd., Bl. 269–273, hier 272. 1800  HA AK, Jahn, vom 7.7.1976: Information; ebd., Bl. 274 f. 1801  HA XVIII/5 vom 9.7.1976: Vorschlag zum Abschluss des OV »Beamter«; ebd., Bl. 276. 1802  Vgl. Papier vom 5.7. resp. 9.8.1976 ohne Titel und Unterschrift; ebd., Bl. 277–284.

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Schwerpunkte setze. Er sei darüber hinaus nicht mehr für die Interkosmos-Arbeit bestätigt. Der Aufforderung Stillers, Stellung zu nehmen, soll er nicht nachgekommen sein. Lauter behielt sich vor, ein Gespräch bei der SED-Kreisleitung zu führen. Für die nächsten drei Jahre wünsche er am OIF keinerlei Leitungsfunktionen zu übernehmen. Die mit der Nichtwiederberufung verbundene Gehaltssenkung werde er nicht in jeder Höhe hinnehmen. Lauter forderte, die »arbeitsrechtlichen Bedingungen für seine künftige Arbeit« zu regeln. Abschließend soll er »unsachlich« geworden sein, indem er bemerkte, dass das Ziel nun erreicht sei.1803 In der Stiller-Akte liegt eine Kurzfassung des Geschehens ein, die bedeutend drastischer die Reaktionen Lauters wiedergeben. Der zweiseitige handschriftliche Bericht stammt vom Sicherheitsbeauftragten Günter Pätzold und gibt als Verteiler den Akademie-Präsidenten, die SED-Kreisleitung, die Abteilung Kader und Bildung der Akademie, die HA AK und den Forschungsbereich an. An der »Aussprache« nahmen demnach teil: Stiller (IM), Lauter und Becker (IM). Pätzold muss, wenn nicht über eine Abhörvorrichtung, entweder von Stiller oder Becker, vermutlich aber von beiden Bericht bekommen haben. Demnach sei Lauter vorinformiert gewesen und habe »einen sehr angespannten Eindruck« gemacht. Bei der Verkündung durch Stiller bis zur Mitteilung seiner Nicht-Wiederberufung, sei Lauter »so betroffen« gewesen, »dass er zu keiner Stellungnahme fähig« gewesen sein soll. Er habe lediglich geäußert, dass Stiller »fortfahren« könne, er »habe nichts dazu zu sagen«. Stiller schämte sich nicht, Lauter Fehlleistungen zu unterstellen, u. a. habe er »keine eigenen wissenschaftlichen Publikationen, kein Lehrbuch« geschrieben und »die Vorbereitung der 22. und 23. SAE« sei mangelhaft gewesen. Lauter soll auf diese Kritik hin »ausgesprochen provokatorisch« reagiert haben. Er habe auf seine Aufbauarbeiten (ZISTP, FoB, IK) hingewiesen und bezüglich seiner Funktion als Generalsekretär der Akademie ausgeführt, dass er »aus dem Sauhaufen AdW erst etwas gemacht« habe. »Wenn die Demütigungen so weitergehen, muss der Präsident sagen, ob er seine Akademiemitgliedschaft einschränken soll. Er erwartet, dass der Präsident auf ihn zukommt und hält sich dafür zwei Tage bereit.« Und weiter: »Er wird nicht weinen, wenn er dieses Zimmer verlässt, denn diese Sache wird Folgen haben. Es hat den Anschein, dass er nur von Feinden umgeben ist. Was mit ihm gemacht wird, ist ein Verbrechen. Die AdW ist für ihn gestorben.« Er wolle den Parteiweg »einschalten« und habe gedroht: »›Wartet nur ab, ich werde es euch noch zeigen‹«.1804 Der Vorschlag des Akademie-Präsidenten, Lauter abzuberufen, datiert vom 26. August als »Vorlage an das Sekretariat der SED-Kreisleitung«. Der Beschluss kommt jedoch einem Zirkelschluss gleich, da der »Beschlussvorschlag« lautete: »Das Sekretariat der SED-Kreisleitung beschließt, der Abberufung des Gen[ossen] 1803  Stiller und Becker vom 23.8.1976: Streng vertrauliche Aktennotiz über eine Aussprache mit Lauter am 23.8.1976; ebd., Bl. 299–301. Auch in der IM-Akte zu Stiller: BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 212–214. 1804  Pätzold vom 23.8.1976: Information zur Aussprache mit Lauter; BStU, MfS, BV Potsdam AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 210 f.

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Professor Dr. sc. nat. E. A. Lauter von der Funktion als Direktor des Zentralinstituts für solar-terrestrische Physik nach Ablauf seiner Berufungsperiode zuzustimmen.« Es folgte die bekannte Begründung. Klare erklärte sich einverstanden mit dem Wunsch Lauters, ihn mit einer kleinen Arbeitsgruppe ohne Leitungsfunktion arbeiten zu lassen.1805 Er teilte ihm noch am 26. August die getroffene Entscheidung mit. Er bestätigte ihm, dass er mit Ablauf der Berufungsperiode die Funktion des Direktors des ZISTP »nicht mehr« ausüben werde. Die Mitteilung ist so gefasst, dass der uneingeweihte Leser des Schreibens der Meinung sein konnte, dass Lauter dem ganz freiwillig so zugestimmt habe. Klare dankte Lauter hierin für die mehrjährige Tätigkeit und wünschte ihm weiterhin Gesundheit »und viel Erfolg«. Es folgen administrative Entscheidungen und eine »dritte Zusatzvereinbarung zum Einzelvertrag vom 9. Juli 1968«, die u. a. eine Gehaltssenkung einschloss.1806 Das MfS ließ sich noch am selben Tag über die unmittelbaren Reaktionen im Umfeld Lauters unterrichten. Schult teilte mit, dass ein Mitarbeiter der Meinung sei, Lauter wolle nicht für Interkosmos arbeiten. Daher sei er als Direktor nicht mehr tragbar. Und der IM »Marianne« teilte mit, dass Lauter sofort seinen Schreibtisch ausgeräumt habe, Papiere bündelte und verschiedene Dinge regelte. Ab 13.30 Uhr sei er dann mit Mitarbeitern des Instituts im Restaurant »Moskau« gewesen. Lauter habe allen für die Zusammenarbeit gedankt. Taubenheim soll betont haben, »dass er das Werk« Lauters »so gut wie möglich fortsetzen« werde.1807 Er soll auch deutlich gemacht haben, dass er nicht für das Amt des Direktors des ZISTP zur Verfügung stehe.1808 Klare setzte tags darauf Stiller in Kenntnis über die Sachlage. Jens Taubenheim übernahm dennoch die Leitung des ZISTP (HHI), jedoch lediglich als amtierender Direktor, da er sich als Experte der solar-terrestrischen Physik nicht für das komplette Themenfeld des im Zentralinstitut vereinten Wissenschaftsgebäudes geeignet einschätzte. Unabhängig von dieser persönlichen Note wurde er am 1. Juli 1979 als Direktor des ZISTP berufen.1809 Erst ab Juli 1981 kam der Wunschkandidat des MfS an die Spitze des Hauses, Wolfgang Mundt. Ein Schlüsseldokument stellt ein Bericht von Pätzold vom 15. September dar, der die Rolle des OibE im MWT Horst Fischer deutlich macht. Er stellt – wie der nachfolgende von Stiller auch – ein Paradebeispiel für den (mit-)prägenden Part des MfS in der Wissenschaftsorganisation dar. Pätzold berichtete, dass Fischer, der »eine große Übersicht« besitze, die Arbeitsweise des ZIPE kritisiert habe. Namentlich Stiller, Kautzleben, Joachim und Hans-Joachim Fischer wurden von ihm kritisiert. »Die Kritik war so angelegt, dass alle eben zitierten Personen nur darauf warten« würden, »von ihm vorgeschriebene Maßnahmen zu erhalten, nach denen sie sich 1805  AdW der DDR, Präsident, vom 26.8.1976: Vorlage an das Sekretariat der SED-KL; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 302 f. 1806  Schreiben von Klare an Lauter vom 26.8.1976; ebd., Bl. 305 f. 1807  Ohne Kopfangaben: Information zum Beamten; ebd., Bl. 307 f. 1808  Vgl. Ohne Kopfangaben: Information zum Beamten; ebd., Bl. 309–311, hier 310; Schreiben von Klare an Stiller vom 27.8.1976; ebd., Bl. 304. 1809  Gespräch des Verf. mit Taubenheim am 15.4.2019.

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zu richten haben bzw. diese von ihm gegebenen Hinweise und Informationen die einzigen Grundlagen bilden für evtl. Aktivitäten« dieser Personen. »Die Stellung, die Horst Fischer im Projekt ›Raduga‹ einnimmt, ist weit über das Maß eines vom MWT Beauftragten hinaus[gehend]. Im Prinzip fungiert Horst Fischer als Projektleiter der DDR in diesem Experiment. Vonseiten der Akademie« müsse »in Zukunft darauf geachtet werden, dass für ähnlich gelagerte Forschungsaufgaben eine geeignete Person die diplomatischen wie von der fachlich-inhaltlichen Seite die kompetenten [verquer formuliert – d. Verf.] Verhandlungen mit der sowjetischen Seite und den anderen Partnern führt, sodass es zu einer sinnvollen und richtig koordinierten Leitungstätigkeit im Projekt durch die Akademie selbst kommt und nicht durch einen Beauftragten, der im Prinzip von der Akademie außenstehend ist.«1810 Eine ähnliche Kritik von Stiller zum »Raduga«-Komplex bezog sich auch auf die Person Horst Fischer. »Rücksprachen« mit Kautzleben und Joachim hätten deutlich gezeigt, »dass sich in der Person von Gen[ossen] Dr. Horst Fischer beim MWT in den letzten zehn Jahren in der Kosmoskooperation ein Kader profiliert« habe, »der praktisch über die Kenntnisse sämtlicher Details verfügt, da ihm durch die persönliche Partnerschaft zum Gen[ossen] Dr. Weiz auch alle internen Dinge bekannt werden. Beim Experiment ›Raduga‹ ist er persönlicher Mitarbeiter des für dieses Experiment benannten Regierungsbevollmächtigten des Stellvertreters des Ministers, Gen[ossen] Dr. Hilbert, und in dieser Funktion, da Gen[osse] Dr. Hilbert sehr stark auch mit anderen Aufgaben belastet ist, kommt Gen[ossen] Dr. Horst Fischer praktisch die Rolle eines Geschäftsführers eines Regierungsbevollmächtigten zu. Durch die Tatsache, dass er die gesamte Kaderpolitik in dieser Funktion beherrscht, die gesamte Freigabe von Kadern sowohl der Industrie als auch der wissenschaftlichen Institute, Bestätigungen der Kurierpost, Bestätigungen von Expertenberatungen usw. alles über seinen Schreibtisch laufen, hat er eine ungewöhnlich große Machtakkumulation in seinen Händen und verfügt im Prinzip über die gesamte Information. Diese Information wird von ihm nur dosiert weitergegeben, sodass jeder, der Leiter des Experimentes, Dr. Ralf Joachim, der Generalsekretär, der Leiter des wissenschaftlichen Beirates, der Direktor des Institutes für Elektronik, immer nur über Teilinformationen verfügen […], und das ist mein persönlicher Eindruck«, so Stiller, »die subjektiv gesteuert werden und ihn in eine Position der totalen Unabkömmlichkeiten bringen. Solche Züge waren, und ich kenne ihn seit 15 bis 20 Jahren, schon früher Anlass in früheren Funktionen, in Leitungsfunktionen in der Wissenschaft, ihn aus solchen Funktionen umzusetzen, denn die Kontinuität in der Grundlagenforschung, die Langfristigkeit der Programme, lassen eine solche subjektive Leitungsarbeit als immer unmöglicher erscheinen, sie führen zu ständiger Unruhe in den betreffenden Systemen und eine solche Unruhe ist ja gerade im Augenblick für ›Raduga‹ und das Interkosmos-Programm recht typisch geworden. Kaderentscheidungen, unverständliche Kaderentscheidungen, dass in dem entschei1810  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 12.10.1976: Bericht von »Kosmos« am 15.9.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 3, Bl. 35.

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denden Augenblick des Experimentes z. B. der Leiter des Experimentes in der DDR zurückgelassen wird, Dinge, die er selbst nicht versteht und zu mir geäußert hat und völlig uninformierte Leute dann in das Leitungszentrum nach Moskau geholt werden, die Fragen, die Zeiss-Genossen an mich gestellt haben, wieso man von sechs Mann die bestätigt sind, drei Nichtinformierte zum Experiment reinholt, darunter auch den Gen[ossen] Fischer und bei den sehr komplizierten Kontrollfunktionen sich nur noch auf drei Experten beschränkt, das sind alles Dinge, die ohne Begründung auf den sicher starken Einfluss von Gen[ossen] Dr. Horst Fischer zurückzuführen sind, und diese Subjektivität muss überwunden werden. In der Richtung hat, so glaube ich, der Gen[osse] Kautzleben recht, dass durch Informationsstopps der verschiedensten Art und durch unsolide Kaderanleitung, Informationsübermittlung und unsolide Vorbereitungsarbeit im letzten Moment Umstellungen aller Art ohne genügende Präparation, dass hier eine Reihe von Problemen sich dadurch ergeben, die sonst nicht objektiv bedingt sind. Ich persönlich möchte mich im starken Maße solchen Auffassungen anschließen, auf komplizierten Gebieten, wie dem Aufbau der Geologie z. B. in den Anfangsphasen, Aufbau des ZIPE, Ausarbeitung des Programms der Geo- und Kosmoswissenschaften – alles ungewöhnlich komplizierte, wissenschaftlich-analytische und strategische Arbeiten, die ein hohes Maß an kollektiver Information und Leitungsarbeit erfordern – bei allen diesen Aufgaben hat sich Gen[osse] Kautzleben in hervorragender Weise bewährt.« Und weiter: »Die Funktion, die Dr. Horst Fischer damit praktisch geschaffen hat als graue Eminenz in der Interkosmos-Kooperation zwischen Ministerien und Akademie zu wirken, könnte bei einer moralischen und charakterlichen Ausgeglichenheit für ein solches Programm wie das Interkosmos-Programm sicherlich viel Gutes gebracht haben. In Sonderaktionen hat es auch viele positive Ergebnisse in Stoßarbeit gebracht. Die große Spontanität des Gen[ossen] Dr. Fischer, die Unfähigkeit zur kontinuierlichen Arbeit und seine wahrscheinlich auch klar erwiesene Unfähigkeit, Kollektive anzuleiten im Sinne einer Kontinuität über längere Zeit hinweg und im Aufbau von Kadern, sind meines Erachtens die Ursache, warum diese günstige Mittlerposition zwischen Ministerium und Akademie eben doch nicht zur Systematisierung und zur Solidisierung der gesamten Problematik beigetragen hat.«1811 Das MfS fertigte am 14. Oktober einen neuen Maßnahmeplan zur Observation Lauters in Kühlungsborn an. Wieder sollte eine konspirative Wohnungsdurchsuchung durchgeführt werden, »um den Ausbau der ›B‹-Technik vorzunehmen«.1812 Wie üblich, verbuchte das MfS in der Entfernung Lauters für sich einen großen Erfolg: »Die durchgeführten Maßnahmen stellen einen wesentlichen Schritt zur Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit im Sicherungsbereich Raumforschung / Interkosmos dar und eröffnen neue Möglichkeiten zur Vergrößerung des 1811  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 12.10.1976: Bericht von »Martin« am 13.9.1976; ebd., Bl. 36–39. 1812  HA XVIII/5/3 vom 14.10.1976: Maßnahmeplan zur Realisierung des Ausbaus der Maßnahme »B«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 313–315.

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Potenzials der unmittelbar im Rahmen der Interkosmos-Arbeit eingesetzten personellen und materiellen Kapazitäten.«1813 Doch die Bereinigung der Interkosmos-Arbeit von zivilen Aspekten machte nichts besser, geschweige denn einfacher: »Am 18. November 1976 fand beim Leiter des FoB Geo- und Kosmoswissenschaften eine Beratung über Fragen der Strukturierung im Rahmen des Interkosmos-Leitungssystems sowie zu inhaltlichen Fragen statt.« Teilnehmer waren Stiller, Pätzold, Hans-Joachim Fischer und Joachim. Stiller erteilte Fischer den Auftrag, Varianten zur Problemlösung zu entwickeln und ihm diese bis zum 22. November zuzuleiten. Die Aspekte betrafen in erster Linie Leitungsfragen, die längst hätten geklärt sein müssen. Ausgangspunkt für die Analyse und Heilung der Leitungsorganisation sollten die Aufgabenstellungen sein, die aber müssten zunächst überhaupt erst einmal geklärt werden. Auch müsse überlegt werden, ob es nicht Sinn mache, einen hauptamtlichen Chef für Interkosmos zu installieren, und Gremien, auf die dann dieser Mann zurückgreifen könne, einschließlich einer zu schaffenden »genügend große Stabsgruppe«. Erörtert wurden ferner die Hauptaufgaben im Rahmen von Interkosmos (Fernerkundung, planetare Missionen, Materialwissenschaft) sowie methodische Fragen (Vordenken, Realitätssinn der Vorhaben etc.).1814 Am 22. November fand dann im Institut für Elektronik (IE) die Diskussion zur Qualifizierung des Leitungssystems für Interkosmos statt. Teilnehmer waren Stiller (IM), Hans-Joachim Fischer (IM), Joachim (IM), Pätzold (IM) und Becker (IM). Die Resultate waren: Erstens sollte das »künftige Leitungssystem Interkosmos« einen hauptamtlichen Leiter bekommen. Dem zugeordnet würden ein Stellvertreter und zehn bis 15  Mitarbeiter. Dessen »Apparat« werde »als unmittelbare Entlastung« des IE »alle zentralisierbaren Aufgaben der organisatorischen und inhaltlichen Gestaltung der Gesamt-Interkosmos-Arbeit einschließlich der Koordinierung im internationalen und internationalen Rahmen« übernehmen. Dies sollte sofort realisiert werden. Ferner sollte mit der »Vorbereitung der Bildung eines Instituts für Kosmosforschung der AdW der DDR« begonnen werden. Entsprechende Strukturmaßnahmen zur »Durchprofilierung des Leitungsapparates und der Bereichsstruktur unter Berücksichtigung der künftigen erweiterten Aufgabenstellungen des Instituts für Kosmosforschung« würden damit erforderlich werden. »Dazu« gehöre »auch die Ausnahmeregelung der Berufung von mehreren Stellvertretern des Institutsdirektors.« Die Vorbereitungen sollten unmittelbar erfolgen. Der »juristische Bildungsakt« wurde für den 1. Januar 1979 ins Auge gefasst.1815

1813  HA XVIII/5/3 vom 14.10.1976: Abschlussbericht zum OV »Beamter«; ebd., Bl. 316–322, hier 322. 1814  IE vom 22.11.1976: Diskussion zur Interkosmos-Organisation; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 223–226. 1815  FoB Geo- und Kosmoswissenschaften vom 22.11.1976: Aktennotiz über weitere Vorstellungen zur Qualifizierung des Leitungssystems Interkosmos; BStU, MfS, AIM 2059/80, Teil II, 1 Bd., Bl. 167 f.

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Der Beschluss zur Archivierung des Vorgangs »Beamter« erfolgte am 28. Dezember 1976. Hierzu ist vermerkt, dass »eine strafrechtlich, mit Ermittlungsverfahren verbundene Nachweisführung« nach den Paragrafen 97 und 165 StGB »nicht realisiert werden« konnte.1816 Der Ministerrat der DDR beschloss am 3. Juni 1977 die Vorgehensweise »über die weitere Beteiligung der DDR am Interkosmos-Programm der sozialistischen Länder für den Zeitraum bis 1980«. Der finanzielle Aufwand war mit 166 Millionen Mark veranschlagt worden. Eine  – volkswirtschaftlich anmutende  – Prioritäts­angabe wurde mitgegeben: »Im Mittelpunkt des Programms der weiteren Beteiligung der DDR steht die Mitarbeit an den Aufgaben der Fernerkundung der Erde aus dem Kosmos.« Hierzu erwartete man den alsbaldigen Abschluss eines zweiseitigen Vertrages mit der Sowjetunion. Allein für die Fernerkundung der Erde wurden in summa circa 82 Millionen Mark veranschlagt. Fünf ständige Arbeitsgruppen sollten mit der Durchführung der disziplinorientierten Arbeitsrichtungen befasst sein: u. a. für die Fernerkundung, die Kosmische Physik und die Kosmische Meteorologie. Die Ziele, Mittel und Terminrealisationen wurden für diese fünf Arbeitsrichtungen grob skizziert. Die Kosmische Physik verfügte lediglich über circa 32 Millionen Mark. Aber auch hier fraß der überwiegende Anteil ein Aufgabenbereich, der instrumentellen Interkosmos-Charakter trug, also beispielsweise für Interkosmos-Satelliten des Typs AUOS.1817 Zieht man die kosmetischen Angaben zu allen vier Arbeitsrichtungen ab, dann stellt dieses Dokument ein Zeugnis für die endgültige Wende in der Raumforschung der DDR dar. Der jeweilige interkosmosbereinigte Term in den vier Arbeitsrichtungen außer »Fernerkundung«, wo in Gänze Interkosmos getrieben wurde, kann kaum die 10-Prozent-Marke des Gesamtetats betragen haben, möglicherweise tendierte er späterhin gegen circa fünf Prozent, da Daten und Erkenntnisse kaum in Richtung der klassischen Kosmischen Physik oder gar in die Industrie der DDR geflossen sind. Aus einer Expertise Kautzlebens vom 3. August zu Vorschlägen möglicher Beiträge der DDR im Rahmen der UNESCO (in Vorbereitung der 20. Sitzung der Fachsektion Wissenschaft und Technik bei der UNESCO-Kommission der DDR) fallen zwei Aspekte auf, die im Sinne der Wissenschaftssteuerung themenrelevant sind: erstens die Tatsache, dass fachliche Vernunft immer auch noch durchstach, selbst bei jenen, die eng mit dem Sicherheitsregime liiert waren wie eben Kautzleben. Er sah und empfahl die Chance, im Zuge des Aufbaus des Methodisch-diagnostischen Zentrums (MDZ) für Fernerkundung im ZIPE, aerokosmische Multispektral­ aufnahmen von »Spezialisten junger Nationalstaaten« auswerten zu lassen (allerdings nicht Lauter!); und: »Es ist auch denkbar, dass der UNESCO die Organisation 1816  HA XVIII/5 vom 28.12.1976: Beschluss über die Archivierung des OV »Beamter«; BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 4, Bl. 323 f. 1817  MR der DDR vom 3.6.1977: Beschluss über die weitere Beteiligung der DDR am Interkosmos-Programm der sozialistischen Länder bis 1980; BStU, MfS, SdM, Nr. 2473, Bl. 51–66, hier 60–62.

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eines internationalen Seminars zu Fragen der photografischen Fernerkundung ab Ende 1978 in der DDR angeboten« werden könnte. Der zweite Aspekt betraf die Abschottung. Kautzleben informierte in dem Schreiben, dass [X] ihn aufgefordert habe, »Vorschläge zu übermitteln, die von der DDR gemeinsam mit den anderen sozialistischen Staaten für Projekte europäischer Zusammenarbeit im Rahmen der UNESCO und in Übereinstimmung mit der Schlussakte von Helsinki auf dem Gebiet der Erdwissenschaften dem UNESCO-Sekretariats bzw. zu MINESPOL II unterbreitet werden können«. Der MfS-Mitarbeiter unterstrich den Namen [X] und notierte: »MfS (mit ›Laser‹ klären; Verstoß gegen Spielregeln!)«.1818 Die Situation im FoB Geo- und Kosmoswissenschaften hatte sich bis Sommer 1977 nicht gebessert, am 22. Juli notierte Offizier Brederlow entsprechende Auslassungen Stillers. Demnach sollte der Forschungsbereich unbedingt umgestaltet werden. Es sei ferner angedacht, das Institut für Elektronik »fast vollständig auszugliedern«.1819 Das Ansinnen lag in der Sicherheitsdoktrin des MfS begründet, diesen Bereich geschlossen als Sperrbereich zu deklarieren. Am 24. Januar 1978 informierte Mundt über »eventuelle strukturelle Veränderungen im FoB Geo- und Kosmoswissenschaften«. Demnach soll es von sowjetischer Seite eine Anregung »zur Bildung eines Forschungsbereiches ›Technische Physik‹« gegeben haben. Ziel sei, die gerätetechnische Entwicklung für Interkosmos voran­ zutreiben. Damit werde, so die Überlegung, das Institut für Elektronik aus dem FoB Geo- und Kosmoswissenschaften herausgelöst werden. »Andererseits« könne »aber erwartet werden, dass eine solche Konzentration des wissenschaftlichen Gerätebaus schneller und effektiver arbeiten könnte«.1820 Pätzold bekam am 28. November von Stiller über ein Gespräch Mitteilung, dass der am 24. November mit Horst Fischer geführt hatte. Den Gesprächsinhalt möge Pätzold diskret behandeln. Der offizielle Anlass war Stillers Rückkehr von einer IK-Tagung in Warschau. Ihm selbst gehe es nicht gut und er müsse »bald wieder zur Kur, da er gesundheitlich sehr angeschlagen« sei »und die Auseinandersetzungen mit Weiz und Stubenrauch nicht verträgt«. Zunächst monierte er, »dass die Tatsache, dass er nicht auf dem Verteilerschlüssel [für die »im Forschungsbereich erarbeiteten Materialien«] vermerkt« sei, »für ihn eine persönliche Beleidigung« darstelle. Seine Arbeiten »zum langfristigen Plan« zusammen mit Sadejew und Petrow seien »nutzlos«. Nur zwischen Jeleszejew und Horst Fischer werde alles entschieden, »sonst nichts«. Horst Fischer vertrete die Ansicht, dass »die naturwissenschaftliche Strategie« eigentlich »nutzlos« sei. »Er bestimmt, welches Gerät fliegt.« Das IE bringe

1818  Schreiben von Kautzleben an Grote vom 3.8.1977: Zur Vorbereitung der 20. Sitzung der Fachsektion Wissenschaft und Technik bei der UNESCO-Kommission der DDR; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 3, Bl. 193–197, hier 195 f. 1819  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 22.7.1977: Bericht zum Treffen mit »Martin«; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil II, Bd. 1, Bl. 285. 1820 BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst. vom 24.1.1978: Berichterstattung von »Gotha« am 24.1.1978; BStU, MfS, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 209 f.

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Abb. 40: Kosmosforschung in der DDR: Ilja Wettengel vom Institut für Elektronik am Demodulator, 1978

nichts zustande. So könne es nicht weitergehen. Erstaunlich ist eine Art Plan, der aus dieser Diskussionsebene kam, der in den kommenden Jahren praktisch 1 : 1 realisiert worden ist (Erfüllungsstand in Klammern): Der Leiter »der Koordinierung gehört in die Nähe des Präsidenten« (erfüllt); das Institut für Elektronik (IE) »sollte ernsthaft eine Neue Flanke als ›Kosmisches Forschungsinstitut‹ (nicht nur Elektronik) erhalten.« (erfüllt); aus dem IE sollten alle Koordinierungspersonen ausgegliedert werden und stattdessen ein KoKo-Zentrum geschaffen werden (erfüllt); Hans-Joachim Fischer sollte »keinesfalls« als Direktor des IE mehr eingesetzt werden (nahezu erfüllt), in die engere Wahl für diese Position wurde Knuth genommen (erfüllt); Ralf Joachim – führend im Koordinierungskomitees Interkosmos (erfüllt); sowie Hans-Joachim Fischer »Präsident der Astronautischen Gesellschaft« werden (erfüllt).1821 Der Bericht endete mit einer Bilanz zu »sechs Jahre Forschungsbereich«. Der FoB sei »relevant und anerkannt« und habe sich »überaus bewährt«. Würden die erbrachten »Leistungen bestätigt«, müsste »in den nächsten Jahren eine politische Stabilisierung der Kader erreicht werden, bis zur Berufung als Akademiker«. Aus

1821  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 11.12.1978: Aussprache zwischen Stiller und Fischer; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 3, Bl. 319–321, hier 319 f.

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dem werde dann »eine eigene Klasse und der Aufbau einer eigenen Schule« erfolgen, »um schnell die Ergebnisse zu verallgemeinern und die Positionen der Kräfte zu stabilisieren«. Und weiter: »Wenn dieser Schritt im nächsten Jahr nicht« komme, bedeute »dies die Liquidation des gesamten« FoB Geo- und Kosmoswissenschaften, »da die Spitze viel zu klein« sei.1822 Indes, an der Basis ging die Arbeit in der Kosmosforschung scheinbar unberührt von den turbulenten Ereignissen um Lauter weiter. Nachträge Aktuelle Vorstellungen über Hauptrichtungen der Forschungsarbeiten der KAPG vom Februar 1979 zeigten, dass Lauters Positionen im Trend lagen. So heißt es unter 2.1: »In allen Ländern und folglich auch in der internationalen Zusammenarbeit wächst die Bedeutung derjenigen Arbeitsgebiete, die für die gesellschaftliche und speziell die volkswirtschaftliche Nutzung am interessantesten sind. Das betrifft im Bereich der KAPG insbesondere die Aussagemöglichkeiten zu mineralischen Ressourcen, zu den Umweltbedingungen und zur Prognose von Naturkatastrophen.« Und unter Punkt 2.2: »Die internationale Wissenschaftsentwicklung wird in wachsendem Maße durch große internationale Forschungsprogramme gesteuert, die von den internationalen Unionen, wie z. B. in der IUGG, allein oder gemeinsam von der IUGG mit anderen Unionen bzw. von anderen Organisationen organisiert werden (Lithosphäre-Projekt bzw. Geodynamik-Projekt, GARP, Weltklimaprogramm, MAP, IMS u. a.).« Unter 2.3 sind jene Gebiete aufgeführt, die den Interessenbereich der KAPG begrenzten wie zum Beispiel Interkosmos. Explizit Lauters alte Forderungen – wie bei ihm auf dem atmosphärischem Gebiet – finden sich unter Punkt 3.2: »Die Sicherung homogener Beobachtungs- und Messreihen zur Erfassung der für die Geophysik und Geodäsie typischen Änderungen und nicht vorhersagbaren Naturerscheinungen«; sowie Punkt 3.3: »Die vertiefte, häufig multidisziplinäre Untersuchung ausgewählter Objekte und Regionen, die geowissenschaftlich besonders interessant erscheinen.« Und schließlich unter Punkt 3.4: »Es wächst die Einbeziehung kosmischer Methoden zur Erforschung der Erde und andererseits die vergleichende Betrachtung anderer Objekte des Sonnensystems unter Einsatz geophysikalischer Methoden.« Die speziellen Gebiete zur Physik der solar-terrestrischen Beziehungen finden sich unter Punkt  6. Es sind dies die bekannten Lauter’schen Positionen, nämlich internationale Programme wie MAP, GARP und IMS. »Langfristiges Ziel« sei »die Schaffung der wissenschaftlichen Grundlagen für die permanente Über­wachung und Prognose der physikalischen Bedingungen des erdumgebenden Raumes.« Es ist keine wesentliche Dissonanz zu der Forschungsphilosophie Lauters erkennbar. Geschickt umgeht das Papier den Fakt der geopolitischen Aufteilung der Welt und formuliert Sätze und Themen wie: »Die Einschätzung der Auswirkungen

1822  Ebd., Bl. 321.

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der Tätigkeit des Menschen auf die Prozesse in der Atmosphäre und auf die Änderung ihrer physikalischen und chemischen Charakteristik.«1823 Zum Teil heftige Kontroversen fanden zwischen Stiller (FOB) und der Instituts­ führung des IE von 1979 bis 1981 statt. Stiller wollte mehr Theorie und Grundlagenforschung als die in sich (angeblich) zerstrittene Führung des Instituts für Elektronik (IE), die ihrerseits auf technikorientierte Leistungen vor allem in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion orientierte. Dafür schließlich war Lauter beseitigt worden. Plötzlich war wieder eine Vergrößerung der geophysikalischen Kapazitäten laut geworden. Kritisiert wurde von Stiller die allzu geringe Teilnahme des IE am »wissenschaftlichen Leben innerhalb der Klasse Physik« und die zu geringen wissenschaftlichen Kapazitäten. Die Institutsperspektive, zumal in der Phase der Gründung eines reinen Kosmos-Forschungsinstitutes, müsse deutlich in der Qualität gehoben werden. Es muss wie ein schlechter Witz geklungen haben, was diesbezüglich Hermann Zapfe alias IM »Paul Hoppe« seinem Führungsoffizier zu berichten hatte: »Offensichtlich betreibt Professor Stiller hier eine Wissenschaftspolitik, die nicht dazu geeignet ist, Potenzen des FOB / GK für die unmittelbare applikative Nutzung in der Volkswirtschaft […] zu erzeugen.«1824 Stiller wartete plötzlich mit Argumenten auf, die noch vor Kurzem Lauter zum Verhängnis gereichten. Der Streit war so heftig, dass er letztlich mit der Abberufung des »west-östlichen Iwans«, Hans-Joachim Fischers, als Institutsleiter des IE endete. Eine Vorahnung hierfür mag bereits ein Bericht »Hoppes« vom 24. Januar 1980 gegeben haben. Darin ist über Beiratssitzungen »Interkosmos« die Rede, auf der Stiller Front gegen die Perspektivpläne des IE, namentlich Hans-Joachim Fischers, machte, den er gar in letzter Minute ausbootete. Auf dieser Beiratssitzung hatte Stiller dargelegt, dass die IE-Fachvorlage absolut ungenügend sei. Beim Präsidenten der Akademie habe deshalb eine Beratung stattgefunden, in dessen Ergebnis festgelegt worden sei, dass der Neubau des IE in seiner Hand zu liegen komme und dass er selber, also Stiller, die Ausarbeitung des Perspektivplanes »beaufsichtigen« werde. Stiller habe, so Zapfe in der Wiedergabe seines Führungsoffiziers, am IE kritisiert, »dass es nicht am wissenschaftlichen Leben innerhalb der Klasse Physik teilgenommen« habe. Das darf man wohl frech nennen, war es doch gerade Stiller, der – nicht nur sicherheitspolitisch veranlasst – dafür verantwortlich war, »dass das IE zu wenig theoretische Kapazitäten« hatte und aus dem wissenschaftlichen Leben herausgenommen wurde. Stiller weiter: »Es kommt jetzt darauf an, im IE mehr Projekt-Denkvorarbeit zu leisten. Dabei muss das IE verstärkt werden, u. a. dadurch,

1823  Expertengruppe für Prognose, Moskau vom 23.2.1979: Kommission der Akademien der Wissenschaften sozialistischer Länder für die multilaterale Bearbeitung des komplexen Programms »Planetare Geophysikalische Forschungen« (KAPG). Einige Vorstellungen über Hauptrichtungen der Forschungsarbeiten der KAPG bis 1985 und darüber hinaus; ebd., Bd. 4, Bl. 132–143, hier 135–137 u. 140 f. 1824  HA XVIII/5 vom 22.1.1981: »Paul Hoppe« zum Profil des IE; BStU, MfS, TA 243/87, 1 Bd., Bl. 62–77, hier 77.

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dass eine eigene Klasse Geo- und Kosmoswissenschaften gebildet wird und durch eine geschickte Berufungspolitik in diese Klasse eine Anreicherung von theoretischen Kapazitäten im IE er[reicht wird].«1825 Wenn man bedenkt, dass gerade auch Schmelovsky ausgegrenzt worden war, später auch Hans-Joachim Fischer, Zimmermann gar nicht mehr ernsthaft gehört wurde und Lauter längst entfernt worden war, und dies alles mit wesentlicher Hilfe Stillers, dann müsste man, in der Logik des MfS, Stiller als Saboteur geradezu zwingend sehen. In diese Richtung muss auch Zapfe gedacht haben, wenn Offizier Hans-Jürgen Mieth von der HA XVIII/5 bilanzierte: »Es taucht hier die Frage auf, welchen Anteil insgesamt Professor Stiller bei der Entstehung der jetzigen Situation trägt und inwieweit durch seine Unfähigkeit, Überschätzung seiner Person und seinen Fähigkeiten oder bewusstes Fehlverhalten diese Situation heraufbeschworen hat.« Mieth schlug vor, die Erkenntnisse Zapfes mittels anderer IM zu überprüfen.1826 Zapfe hatte am 17. September 1980 Mieth eine Analyse zum Anteil der DDR an der IK-Arbeit vorgelegt, die, so weit zu sehen ist, auf ihre Art ein Unikum darstellt. Die Kernaussage war, dass, wenn die Entwicklung so weitergehe wie bislang, man 1985 auf das Niveau von 1967 zurückgefallen sein werde. Seine grafisch-analytische Berechnung erfolgte nach quantitativen und qualitativen Bestimmungsmerkmalen (Punktesystem, jeweils von »1« [niedrigstes Niveau] bis »4« [höchstes Niveau]). Die Bewertung hatte er aus Gesprächen mit zwei führenden Wissenschaftlern und zwei weiteren, informierten Mitarbeitern des Hauses gewonnen. Subjektivität räumte Zapfe dabei durchaus ein. Der Bewertungskomplex  I betrachtete das Verhältnis der Leistung zum Weltstand: »1«  entsprach so etwas wie »Nachfolgeexperiment« (besser: alte Kopie); »2« ein sogenanntes Aufholexperiment (besser: neue Kopie mit eigenen Leistungsanteilen); »3« dem internationalem Stand entsprechend; »4« ein Schlüsselexperiment (besser: weltstandsneu), der Bewertungskomplex II beurteilte die Komplexität des Experimentes, der Bewertungskomplex III die Frage der technischen Relevanz (hier »1«  unzureichende Technik bis »4«  neuartige technische Lösungen). Der Bewertungskomplex IV untersuchte die Frage der physikalischen Relevanz in der Kosmosforschung (»1«  Messung nur einer Größe, »4«  komplexe Experimente zur Erforschung grundlegender Zusammenhänge, der Bewertungskomplex V schließlich stellte den Versuch dar, den Einfluss der Experimente auf andere Gebiete zu beurteilen. Gewiss mag die Methode der Analytik, Meinungen einzuholen, zweifelhaft gewesen sein, doch allein der Umstand, dass er von den vier Personen zwei befragte, die als seriös, wissend und vor allem kritisch eingestuft werden können (Zimmermann und Schmelovsky), garantierte eine Verwendbarkeit der Aussagen. Die Fragen nach der Validität und der prinzipiellen Daten-Erfass­ barkeit an sich, sind ohnehin für ein hermetisch operierendes Land, wie es die DDR darstellte, höchst problematisch. Dennoch dürfte die getroffene Generalaussage als 1825  HA XVIII/5/3 vom 25.1.1980: Bericht zum Treffen mit »Paul Hoppe« am 24.1.1980 zur Perspektivplanung des IE; ebd., Bl. 78 f. 1826  Auswertung der Berichterstattung von »Paul Hoppe« am 24.1.1980; ebd., Bl. 80 f.

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Trendaussage zutreffend gewesen sein. Letztlich deckt sie sich mit den frühen Prophezeiungen Lauters. So verwundert es nicht, dass das MfS Zapfe untersagte, die Analyse »in irgendeiner Form publik zu machen«. Vorher aber hatte er die Analyse bereits vier Personen, nämlich Stiller, Hans-Joachim Fischer, Ralf Joachim und einer weiteren Person gegeben.1827 Ein Bericht Joachims Ende November 1980 zeigt, dass die Ausrichtung des IKF, ehemals IE, immer noch unentschieden war. Er kritisierte, dass die Vorlage zur Profilierung des IKF mangelhaft sei, wenn es »ausschließlich auf Grundlagenforschung« hin ausgerichtet werde. Akademiepräsident Werner Scheler hatte betont, dass es »auf dem Gebiet der Kosmosforschung unbedingt sein« müsse, einen »volkswirtschaftlichen Nutzen« zu generieren. Der Mangel sei, dass die Bindung zur Industrie zu wenig ausgewiesen werde. So gesehen, sei das neue Institut ein »totgeborenes Institut«. Joachim unterstütze diese Haltung »voll«. Die Vorlage, so Joachim, entspreche im Wesentlichen den Intentionen Stillers. Der orientiere auf »Grundlagenforschung mit Erkenntnisgewinn«. Hierbei sei er im Einklang mit Roald S. Sagdejew, Leiter des Instituts für Kosmosforschung (IKI) der Sowjetunion. Nicht aber mit dem Hydro­ logischen Dienst sowie mit der Hauptverwaltung Geodäsie und Kartografie der Sowjetunion. Knuth habe deutlich zu verstehen gegeben, dass er die Forderungen Schelers nicht umsetzen könne, dafür sei »er nicht der richtige Mann«. Knuth, so Joachim, überbetone die Grundlagenforschung.1828 Im Januar 1981 vertrat Zapfe in einem 16-seitigen analytischen Papier gegenüber dem MfS die Auffassung, dass die seit 1976 bestehenden Profilprobleme des IE nicht beseitigt worden seien. Hierüber habe es auf der Ebene der SED-Grundorganisation des Hauses bis hinauf zur SED-Kreisleitung der AdW wiederholt Auseinandersetzungen gegeben. Kern der Kritik waren die Zukunftsfähigkeit und die Frage des Nutzens für die Volkswirtschaft der DDR. Im Ergebnis der Debatten und Kontroversen sei eine Vorlage zum Institutsprofil des Hauses für das Präsidium der AdW gefertigt worden, dass Zapfe förmlich »auseinandernahm«. Die Vorlage war unter Regie von Hans-Joachim Fischer erstellt worden. Grundlage bildete eine Klausurtagung der Leitung. Die Vorlage wurde vom Präsidium nicht bestätigt. So kam u. a. Zapfe die Aufgabe zu, sich mit der Vorlage zu befassen. In das Visier Zapfes geriet einmal mehr Stiller. Was der gegen Lauter bewegt hatte, tat nun Zapfe gegen ihn. Auch auf Anweisung des MfS. Stiller hatte die besagte Vorlage, die inhaltlich eher eine Leistungs- denn eine Zukunftsdarstellung war, nicht akzeptiert, weil er in die Bearbeitung der Vorlage nicht einbezogen worden war. Dies will Zapfe von fünf Personen gehört haben. Stiller soll sich dann in der Phase der Überarbeitung deutlich herausgehalten haben. Im Dezember 1979 sei dann die ohne Stiller erfolgte

1827  HA XVIII/5 vom 29.9.1980: Bericht zum Treffen mit »Paul Hoppe« am 17.9.1980; ebd., Bl. 41–50, hier 46–50. 1828  HA XVIII/5/2 vom 7.11.1980: Bericht zum Treffen mit »Klaus Stephan«; BStU, MfS, A 371/86, Bd. 1, Bl. 213–217, hier 213.

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Überarbeitung an ihn zurückgegeben worden. Der habe sie dem Präsidium nicht weitergereicht mit der Begründung, sie genüge nicht.1829 Anfragen etwa Hans-Joachim Fischers (IE) nach näheren Gründen oder Hintergründen soll Stiller nicht beantwortet haben. Im Januar 1980 sei es dann zwischen Stiller, dem Parteisekretär des IE und Zapfe zu einem Gespräch über die Perspektive des Hauses gekommen. Stiller tat hier kund, dass die Profilierung von außen erfolgen werde, nämlich vom FoB. Dabei sollten die »geophysikalischen Kapazitäten des Instituts« vergrößert werden. Eine solche Forderung hätten Fischer und andere nicht wagen dürfen. Zapfe hatte erfahren, dass zu diesem Zeitpunkt Stiller im FoB GK wegen zurückgegangener Leistungen kritisiert worden sei. Im Mai 1980 habe dann Stiller dem Präsidium eine Konzeption über ein Zentrum für Kosmosforschung vorgelegt, die er teilweise gegenüber IE-Vertretern (hier Joachim, der noch »Realisierungskonsequenzen« einbringen wollte) abschottete. Die Vorlage war erarbeitet worden von Stiller (IM, Schlüpo [IM in Schlüsselposition]), Horst Fischer (OibE, Schlüpo), Friedrich Sauber* (IM »Burghardt«) und Joachim (IM, Schlüpo). Es fehlten die Spitzenkräfte Schmelovsky (nicht IM) und Zimmermann (nicht IM), aber selbst Hans-Joachim Fischer (IM, Schlüpo). Zu Recht kritisiert Zapfe an dieser Stelle das Fehlen von »entsprechenden Fachkollegen aus dem IE einschließlich Professor Fischer«! Im Sommer und Herbst 1980 sei es dann zu Treffen zwischen Stiller und Sagdejew (IKI Moskau) gekommen. Sagdejew habe Stiller »aufgefordert, geophysikalische Experimentvorschläge zu unterbreiten und dann entsprechende gerätebauliche Lösungen« zu entwerfen.1830 Im September / Oktober 1980 erfolgte die Ausarbeitung der neuerlichen Präsidiumsvorlage. Hierzu wurde im Oktober / November ein Gespräch mit Sagdejew in Moskau geführt. Zapfe schlussfolgerte zutreffend, dass Stiller die Vorlage nicht mit Sagdejew abgestimmt, sondern ihn nur informiert habe. Diese letzte Vorlage war von fünf Personen und von ihm selbst erarbeitet worden, alle waren IM des MfS. Zapfe stellte fest, dass dieser Personenkreis keine aktiven Kosmosexperimente durchgeführt habe und »weniger dazu angetan« sei, »eine kosmophysikalische Ausgestaltung eines Instituts für Kosmosforschung durchsetzen zu können«. Es seien hier vorwiegend Techniker am Werk gewesen. Zapfe nannte Personen, die – neben dem wissenschaftlichen Beirat Interkosmos – unbedingt an Bord geholt zu werden verdienten: Taubenheim, Knuth, Schmelovsky, Treder, Kautzleben, Albrecht, Junge sowie Böhme vom Meteorologischen Dienst. Auch hierin hatte er Recht. Er, den man holte, weil man dachte, dass er hart und jede unliebsame Struktur- oder Personaldebatte durchboxen werde. Die Hinzunahme solcher Personen sei von Stiller abgelehnt worden, es müsse, so Stiller, auch so gehen. Aber warum? Hans-Joachim Fischer habe gar schriftlich den Vorschlag bei Stiller eingereicht, Schmelovsky zu kooptieren. Stiller habe dies »ohne Begründung« abgelehnt. Im gesamten Prozess der Vorlagenerarbeitung sei Stiller nie aufgefallen mit eigenen »Ideen und Gestal1829  HA XVIII/5 vom 22.1.1981; BStU, MfS, TA 243/87, 1 Bd., Bl. 62–77, hier 62–66. 1830  Ebd., Bl. 65–67.

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tungsvorschlägen«, er habe sich »immer zurückgezogen« (zur Beratung mit seinem Führungsoffizier – d. Verf.). Die Abstimmungstermine, an denen die Mitglieder der Gruppe miteinander hätten beraten und abstimmen müssen, so Zapfe, habe Stiller jeweils »aus fadenscheinigen Gründen nicht wahrgenommen«.1831 Noch einmal steht die Frage im Raum, wer eigentlich die Interkosmos-Arbeit steuerte? Ist sie womöglich gar nicht gesteuert worden? War alles »nur« eine Folge reiner Machtkämpfe, in denen das MfS, kader- und sicherheitspolitisch orientiert, kräftig mitmischte? Es war Zapfe, der das folgende Beispiel einer offenkundigen Brüskierung tradierte. Demnach habe es in der endgültigen Fassung der Vorlage keine Übereinstimmung mit den übrigen Mitgliedern der Arbeitsgruppe gegeben. Investitionsfragen, Kaderzuführungen und Realisationsvoraussetzungen sowie wichtige Aspekte von Mitgliedern der Arbeitsgruppe seien nicht eingeflossen. Er versuchte das Vorgehen Stillers wie folgt zu deuten. Demnach habe er »persönlich den Eindruck, dass Professor Stiller in sträflicher Weise Hinweise sowjetischer Fachkollegen in den Wind geschlagen […] und uns« in »einer engstirnigen Sicht im Rahmen eines zu profilierenden FOB GK einen ›Sündenbock‹ erzeugt« habe, und zwar »in der Person von Professor Hans-Joachim Fischer, auf den er die Schuld und die Schwierigkeiten eines Nichtbestehens von Profilrichtungen für die 1980er-Jahre im« Institut für Elektronik (IE) abwälzte. Er verstehe es nicht, warum Stiller sich »dem wissenschaftlichen Meinungsstreit nicht gestellt« habe, namentlich Schmelovsky nicht in den Beratungskreis (»Profilierungsarbeitsgruppe«) hineingenommen, ja ausgeschlossen habe. Er sei mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass Stiller die Probleme auf das IE abwälzen wolle. Insgesamt existierten Ressortkämpfe und erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen ZIAP, ZISTP, IE und dem MDZ.1832 Auch im Rahmen der bestätigten Präsidiumsvorlage zur Gründung des IKF aus dem IE kam es zur Intransparenz, da Stiller die gesamte Vorlage sicherheitstechnisch als »VVS-P-ZZ« eingestuft hatte, die Joachim nicht herausgeben durfte. Insgesamt kam Zapfe zu einem vernichtenden Urteil über Stiller: »Offensichtlich« betreibe er »eine Wissenschaftspolitik, die nicht dazu geeignet ist, Potenzen des FOB / GK für die unmittelbare applikative Nutzung in der Volkswirtschaft in den nächsten Jahren zu erzeugen«, vielmehr betreibe er »eine Politik, die vorhandenen hohen technischen Fähigkeiten des IE umzuprofilieren in unfruchtbare Seitenäste der Kosmosforschung, die in absehbarer Zeit keinen volkswirtschaftlich erkennbaren Nutzen« brächten. Stiller wirke nicht erziehend (ideologisch) in das IE hinein, sondern durch »abseits gelegene« Wissenschaftslinien, die er in dieses Haus zu tragen bemüht sei.1833 Am 5. März 1981 berichtete Mundt, dass der FoB Geo- und Kosmoswissenschaften wie im Vorjahr auch, wieder »vom Präsidenten der Akademie am stärksten kritisiert« worden sei. Die Kritik habe sich bezogen auf die »Leistungsfähigkeit 1831  Ebd., Bl. 67–69. 1832  Ebd., Bd. 70–72 f. 1833  Ebd., Bl. 74 f. u. 77.

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unserer Arbeit«, ferner auf »die Qualität und Fundamentqualität der Ergebnisse auf dem Gebiet der Grundlagenforschung, auf das Niveau und die Quantität der überführungswürdigen Leistungen, aber auch auf solche Fragen, wie die Profilierung und Entwicklung der einzelnen Zentralinstitute, d. h. ihre Leitungs- und Kaderstruktur, und auf generelle Fragen der Kaderarbeit im Forschungsbereich.« Wundt war jedoch der Auffassung, dass die Kritik zu Unrecht bestehe.1834 Schmelovsky kritisierte Ende des Jahres heftig das IKF resp. die Interkosmos-Forschung. Dies berichtete Ralf Wieynk alias IM »Meyer Peter«1835 dem MfS. Es sei dazu gekommen, so Schmelovsky, dass »zugunsten« der »Hobbyforschung einiger wissenschaftlicher Kräfte und einer Reihe wissenschaftlich nicht tätiger Funktionäre im Institut und Forschungsbereich spekulativ fehlorientiert« würde. Er erinnerte diesbezüglich an Stiller mit seinem Mondgestein (siehe S. 783). Die volkswirtschaftlichen Erwartungen seien enttäuscht worden. Als Beispiel nannte er »alle bisherigen und weiteren Arbeiten und Expeditionen mit Spektrometern«, etwa im Rahmen der Vietnam-Expedition 1980. Bezüglich Vietnam: es sei »beschämend«, »wie mit unklaren wissenschaftlichen Grundlagen und Zielstellungen« vormals und aktuell »Hoffnungen und Effekte geweckt werden, Unsummen quasi zum Fenster rausgeworfen« würden, nur »damit einige Herren ihr ›Spielzeug‹ haben und aufgrund der geweckten Erwartungen sich im ›Kredit‹ wohlfühlen dürfen«. Das war ganz in der Tonart seines ehemaligen Förderers Lauters gesagt, den er selbst »für Inter­kosmos« in Stich gelassen hatte. Zu einer geheimen Aufgabe in Kooperation mit dem VEB Carl Zeiss Jena soll er gesagt haben, dass sie diese Geheimhaltungsstufe nur besitze, damit »die Beurteilungsfähigkeit dieser Aufgabe und deren Schwächen abzuschirmen« gingen. Die Aufgabe stelle ein »ganz großes Windei« dar »und schon jetzt könne man sagen, dass keine brauchbaren Lösungen bzw. Nutzen« ableitbar sein werden. Und zu Aufgaben und Struktur des Hauses äußerte er, dass es nicht zu volkswirtschaftlichem Nutzen resp. Spitzenleistungen kommen werde. »Die ›Hobby-Forschungsbereiche‹ und ›Königreiche‹ im Forschungsbereich und im IKF verstünden es leider immer wieder, Gläubiger zu finden.« Er sprach von »Schaumschlägerei«. Ferner: »Mit Gründung des Institutes IKF habe er in einer GVS-Akte, die er an den Präsidenten der AdW persönlich gegeben habe, eine entsprechende Analyse unterbreitet, auf die jedoch keine Reaktion erfolgt sei.« Wieynk gab zu Protokoll, dass er diese Aussagen aufgrund seiner Erfahrungen im IKF vollauf be1834  BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 18.4.1981: Bericht von »Gotha« am 5.3.1981; BStU, MfS, AIM 16898/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 100 f. 1835  Elektromaschinenbauer. 1959–1962 Studium an der Ingenieurschule Mittweide, ab 1962 im VEB »Carl von Ossietzky« Teltow, hier 1963 Abteilungsleiter und 1975–1981 Kontrollbeauftragter für Forschung und Entwicklung. 1979 IKF. 1965–1971 Fernstudium an der TU Dresden (Politische Ökonomie des Sozialismus). Intensive und »erfolgreiche« IM-Tätigkeit, beteiligt an der Überführung von Spionen. Werbung 1975, davor GMS »Dschungel« für die HV A / I I/306. Beendigung der IM-Tätigkeit 1987. 1959 Mitglied der CDU; Nachfolgekandidat für die Volkskammer der DDR, u. a. Mitglied des Hauptvorstandes von 1965 bis 1974. Berichtete zur Führungsriege der CDU und zum IKF; BStU, MfS, AIM 8698/87.

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stätigen könne. Zahlreiche Einzelerscheinungen seien belegbar. Auch andere wie Erwin Schult sähen dies so.1836 Böhme berichtete dem MfS am 10. März 1983, dass Lauter am 24. Februar bei einer URANIA-Fernsehaufzeichnung die These vertreten habe, »dass der Sozialismus bisher bei günstigen klimatischen Bedingungen aufgebaut« worden sei und »man nicht vorhersagen« könne, »wie es bei klimatisch ungünstigen Bedingungen« aussehe. Die Regie habe diese Passage gestrichen.1837 Die Personalpolitik in den vorangegangenen vier Jahren war  – wie ein Jahrzehnt vordem – von Unruhe und Umbrüchen gekennzeichnet. Beharrungs- und Reformwille prallten aufeinander, oder anders formuliert: Tradition und Moderne, Berufsethos und Parteihörigkeit. Selbst die finalen Reformen beeinträchtigten 1983 immer noch die Leistungsfähigkeit der Institute und Institutionen des FoB Geo- und Kosmoswissenschaften. Ein Bericht des Sicherheitsbeauftragten Pätzold markierte die Veränderungen: die Umwandlung des IE in IKF inklusive der Einsatz eines neuen Direktors und Aufbau des Bereiches »Extraterrestrische Physik«; die »Bildung des Einstein-Laboratoriums und Ausgliederung von Mitarbeitern« aus dem ZIAP einschließlich des Einsatzes »eines neuen Direktors« im ZIAP; die Umprofilierung und Transformation des Bereiches »Sonnenphysik und Plasmaphysik« des ZISTP in Radioastronomie im ZIAP; der »Einsatz eines neuen Direktors« im ZISTP und die »Ausgliederung des Bereiches Geomagnetismus« aus dem ZIPE in das ZISTP; die »Ausgliederung der Werkstatt (ATA)« des ZIAP und die »Bildung einer Zentralwerkstatt des Forschungsbereiches Geo- und Kosmoswissenschaften bei der VDE Potsdam«; sowie die »Übernahme des Bereiches Hochdruckphysik« des ZIPE »als selbstständigen Bereich« durch Stiller.1838 Pätzold bestätigte, dass diese Maßnahmen »nicht ohne Folgen« geblieben seien. »Ab- und Neuberufungen von Kadern sowie erheblicher Arbeitsplatzwechsel bzw. Arbeitsortwechsel waren objektiv notwendig.« Wichtig in thematischer Hinsicht war jedoch, dass die »Zielstellung, die mit den Veränderungen erreicht werden sollte (die Institute gesellschaftlich relevanter zu machen)«, zumindest »nicht in jedem Fall von den Fachspezialisten akzeptiert« worden sei. Der Bereich Geomagnetismus fühle sich im ZISTP »völlig fehlstrukturiert und ohne fachliche Anbindung« (vormals durch das ZIPE). Man könne dies allein anhand der Personalie Mundt nachvollziehen. Ihm als Direktor des ZISTP sei einfach nur mit dem Bereich Geomagnetismus »ein Hinterland« gegeben worden. Ohne diesen Bereich hätte er keine fachliche Kompetenz für das ZISTP gehabt. Und Niemegk1839 arbeite an Panzer1836  HA VII, Abt. 2, vom 2.12.1981: Bericht von »Meyer Peter«; ebd., Teil II, Bd. 3, Bl. 255 f. 1837  HA XVIII/5/3 vom 15.3.1983: Bericht zum Treffen mit »Hans« am 10.3.1983; BStU, MfS, AIM 11101/87, Teil II, Bd. 4, Bl. 55–58, hier 55. 1838  Information von »Kosmos« (o. D.); BStU, MfS, BV  Potsdam, VA  29/79, Teil  II, Bd. 6, Bl. 175–195, hier 175. 1839  Im Bereich des Geomagnetischen Observatoriums Niemegk des ZISTP wurden militärtechnisch relevante Arbeiten (zum Beispiel Magnetfeldzünder für Panzerminen, die mit Selbstvernichtungseinrichtungen auszuführen waren) durchgeführt. »Intelligente« Technik: Verkopplung

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minen. Und das ZIAP, das nun den Bereich Sonnenphysik und Plasmaphysik besitze und Radioastronomie betreiben solle, sähen manche Mitarbeiter »als Betrug« an. Die Begründung für diesen Schritt sehe man darin, dass man keine Chance sehe, dem Welttrend überhaupt noch folgen zu können. Es müssten Investitionen in der Größenordnung von 55  Millionen transferabler Rubel getätigt werden. Pätzold referierte anschließend die Lage einzelner Institute. Allein beim IKF tauchte dabei eine Personalie auf, die Pätzold beim Durchsehen der Berichterstattungen und Leistungsabrechnungen auf‌fiel. Und zwar, dass die »Person des Direktors« des IKF »augenfällig im Hintergrund blieb und Leistungen seines Stellvertreters«, Zapfe, so dargestellt würden, dass dies »an Personenkult« grenze. »Bei der Verteidigung« sei der »Eindruck« entstanden, »dass Dr. Zapfe der Institutsdirektor« sei »und der Direktor ein geduldeter Sekretär. Bei aller Wertschätzung der Leistungen Dr. Zapfes und seiner Verdienste ist ein derartiges zur Schau tragen, dem Institutsdirektor den Rang abzulaufen, nicht zu akzeptieren, zumal Professor Knuth wiederholt beabsichtigte, von seiner Funktion zurückzutreten.«1840 Tatsächlich kam Zapfe gleichsam aus dem Nichts, besaß, soweit zu sehen ist, keine einschlägigen Referenzen in einer der Disziplinen der Raumforschung. Auf Versammlungen mit Sportschuhen und Jeans, ständig alle taxierend mit unangenehmem Gestus, ein IME, heißt: IM im besonderen Einsatz. Verantwortlich für die völlig geheimen, militärisch relevanten Arbeiten im Hause. Aber auch, wie oben gesehen, analytisch begabt. Seine Karriere begann an der TH Ilmenau, wo er studierte, Forschungsstudent an der Sektion (INTET) wurde und schließlich auf Empfehlung der Hochschulparteileitung zum VEB Stereomat Berlin kam. Zwischenzeitlich war er auch für kurze Zeit im VEB Carl Zeiss Jena tätig.1841 Ein Parteikader auf dem Weg ganz nach oben mit modernem, legerem Auftreten. In diesem Jahr verfasste Marek zusammen mit Sigmund Jähn eine gemeinsame Dissertation (572 Seiten, VVS), die für Jähn das Promotionsverfahren und für Marek das Habilitationsverfahren bedeutete. Heute heißen sie die sogenannten »Doktorbrüder«. Das akademische Verfahren wurde am 9. August 1983 abgeschlossen.1842 Ende 1983 sank das Klima im IKF weiter ab. Den Grund hierfür sah Wieynk zutreffend in dem Fakt der »Militarisierung« des Hauses. Die würde »bis in den Familien- und Freizeitbereich dringen«. Mit der »Neubesetzung der Leitung« habe sich »ein Prozess der Differenzierung« herausgebildet, der »das allgemeine Arbeits-

von Magnetfeldzündern mit seismischen Sensoren: »bei Erreichen eines bestimmten Schwellwertes« wurde der »Zünder aktiviert und bei Abschwächung des Schwellwertes die Aktivierung außer Kraft gesetzt«. Interne Information von »Kosmos« vom 18.1.1984; ebd., Bl. 157. 1840  Information von »Kosmos« (o. D.); BStU, MfS, BV  Potsdam, VA  29/79, Teil  II, Bd. 6, Bl. 175–195, hier 175 u. 177. 1841  Zum Tätigkeitsprofil bei Carl Zeiss Jena siehe Feingerätetechnik 19(1970)3, S. 119–121; vgl. auch Bericht des IMS »Christina« o. D. (Sommer 1975) zur Situation der Forschung an der Sektion INTET; BStU, MfS, BV Suhl, AIM 701/92, Teil II, Bd. 2, Bl. 77–81, hier 80. 1842  Vgl. Marek: Begegnungen eines Raumfahrt-Enthusiasten, S. 59–64.

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klima und die Stimmung der Mitarbeiter verschlechtert«. Die hierarchischen Ebenen würden sich gegeneinander isolieren.1843 Vizepräsident Ulrich Hofmann wiederholte am 22. November 1983 seine alte Kritik im Rahmen einer Beratung mit dem Sekretariat der SED-Kreisleitung der Akademie. Demnach habe er »eine sehr heftige Kritik an dem IKF geübt«, und zwar »in der Form, dass dieses Institut viel zu wenig volkswirtschaftlichen Nutzen« bringe. Klemm und andere in der Kreisleitung hätten dem »in der Form« jedoch nicht zugestimmt. Im IKF sei man der Auf‌fassung, dass es »keine Strategie für die fachliche Arbeit« gebe, dies habe man versäumt und orientiere eigentlich nur auf den Gründungsbeschluss zu Interkosmos.1844 Tatsächlich hatte sich 1983 ein Aktionismus entfaltet, der schädliche Projekte unterschiedlicher Couleur zeitigte. Zapfe akquirierte ein Projekt mit Sternradio und Schmelovsky fluchte und schimpfte auf den Irrsinn.1845 4.2.3 Resümee Nach einer über zehnjährigen Phase einschneidender Strukturänderungen in der Raumforschung war Ende der 1970er-Jahre der ideologisch von der SED ersehnte Zenit endlich erreicht. Die Westberliner sozialistische Zeitung Die Wahrheit titelte am 28. Juni 1978: »Neuer Höhepunkt des diesjährigen Interkosmos-Programms. Kosmonauten aus Polen und der UdSSR im All«.1846 Der DDR-eigene Höhepunkt folgte zwei Monate später mit dem Start von Sojus 31, an Bord der erste deutsche Kosmonaut, Sigmund Jähn. Das Organ des ZK der SED, Neues Deutschland, beschrieb nahezu alle acht großformatigen Seiten mit diesem Thema, die Titelüberschrift war 21  mm hoch: »Der erste Deutsche im All ein Bürger der DDR«.1847 Doch das alles war nur Propaganda, Außenwirkung, dem Zwecke der Machterhaltung dienlich. Die Ausgaben für den Raumflug und für die Interkosmos-Satelliten speisten keinen Mehrwert. Und die Wirklichkeit dahinter sah anders aus: Personen verschwanden aus der Öffentlichkeit, die weltweite Führerschaft in der Atmosphärenphysik wurde achtlos verschleudert, Ineffizienzen wohin man sah. Aber es gab auf der anderen Seite Prämien, Auszeichnungen und Beförderungen. Vor allem wurden neue Karrieren gestartet. Selten dürfte auf einem Forschungsgebiet eine der Hauptfragen so offengeblieben sein wie in diesem Falle, nämlich die Frage nach dem letztendlichen Verursacher der kostspieligen und wissenschaftsunfreundlichen Kehre in der Raumforschung. 1843  HA VII, Abt.  2, vom 10.11.1983: Information zum IKF; BStU, MfS, AIM  8698/87, Teil II, Bd. 4, Bl. 16 f. 1844  Bericht vermutlich von Schult: Zur Dienstberatung am 22.11.1983; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 3, Bl. 257. 1845  Vgl. HA XVIII/5 vom 27.1.1978: Bericht von »Dagmar«; ebd., Bl. 279–285, hier 284. 1846  Die Wahrheit. Sozialistische Tageszeitung Westberlins vom 28.6.1978, S. 1. 1847  Neues Deutschland vom 27.8.1978, S. 1.

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In der diachronen Darstellung sind zwar an einzelnen markanten Punkten konkludente Antworten angeboten, doch sie scheinen nie endgültig. Am Ende bleibt der Zweifel. Eines nur, und das spielt paradoxerweise im Möglichkeitsraum, scheint sicher zu sein: hätte man Ernst August Lauter in seinem Tun nicht eingeengt und später beseitigt, sondern ihn gar unterstützt, dann hätte er tatsächlich Weltruhm nicht nur mit seinem Projekt SESAME erlangt, auch der Forschungsstandort Potsdam-Berlin-Warnemünde wäre rasch führend in der Welt geworden. Wer also war es, der die Kehre von der Grundlagen- und angewandten Forschung hin zum wissenschaftlich-technischen Gerätebau für Interkosmos-Satelliten zu verantworten hatte; wer hielt meteorologische und Umweltfragen für nicht so wichtig? War es das – vom MfS diktierte – staatliche Normativ »Innere Ordnung«, die den Weg für Interkosmos ebnete, die alles Zukünftige formatierte und perforierte? War es der »west-östliche Iwan« Hans-Joachim Fischer alias GI »Elektronicus« alias IM »Bernhard«, der seinen sowjetischen Gesprächspartnern den Wunsch nach Gerätehilfe von den Lippen ablas? War es der geheimnisvolle, unterschwellige, aber umtriebige, mehrmals in der Sowjetunion weilende Hans Pfau alias »Pavel«, der möglicherweise einer KGB-Einflüsterung gehorchte? Oder diese beiden zusammen? War es gar das Werk des karrierebesessenen Heinz Stiller alias IM »Martin«, der wie ein Zernichter auch noch nach der Kehrtwende in der Raumforschungspolitik fortwirkte, nur diesmal alles noch einmal, aber in umgekehrter Weise vollzog? Und der später, nach der Revolution, anstelle Lauters dessen Fachanliegen in der Welt vertrat. Oder war es die Summe des Tuns all dieser IM-Männer? Oder war es die bloße Ideologie? Denn Raumfahrt war zu jener Zeit (auch und gerade in der DDR) ein bevorzugtes Mittel im ideologischen Klassenkampf und damit ein Vehikel. Von einem Resümee erwarten wir Klarheit im Urteil über das Erforschte. Was also ist gewiss, wenn schon nicht die Beantwortung der Frage nach der eigentlichen Ursache des Bruches im klassischen Forschungsprofil der Raumforschung? Eines Bruches, der mit der Spaltung des HHI (beide Teile waren auch räumlich getrennt worden, je ein Teil auf einem der beiden Areale der Akademie der Wissenschaften, mittendurch verläuft die Rudower Chaussee) und seiner Belegschaft einsetzte. Ein Geschehen, von dem jeder wusste, profitierte oder darunter litt. Beide Häuser galten als miteinander verfeindet, was natürlich übertrieben ist, aber so sprach, so fühlten und lebten es einige. Es blieben gewiss auch alte Freundschaften und Arbeitspartnerschaften erhalten, doch überstrahlten nun neue, unerklärliche Feindschaften das einstige gemeinsame wissenschaftliche Leben. Zahlreiche Neueinstellungen überdeckten bald das Geschehen, ließen es verblassen, nie aber völlig. Wir wissen vor allem, dass jene, die die ungleiche Spaltung des Hauses ausführten, nicht jene waren, die zu den »Alten« gerechnet wurden, sondern jene, die das MfS die »fortschrittlichen«, die »jungen« Wissenschaftler nannte. Es waren also nicht die sogenannten Zugpferde der klassischen Raumforschung wie Lauter, Lucke, Wagner oder Messerschmidt. Es war aber auch nicht die SED-Leitung der Akademie, immerhin im Status einer Kreisleitung. Der Parteisekretär der Kreisleitung verleugnete sich mehrmals. Der für das ZIPE zuständige Parteisekretär

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opponierte gar offen gegen die brachiale Gewalt gegen Lauter, obwohl er ermahnt worden war. Es war auch nicht das zuständige Ministerium, das MWT. Auch ein Staatssekretär nicht, und selbst der Vizepräsident der Akademie stand auf der Seite Lauters. Es waren nach Aktenlage andere, nämlich fünf jüngere Wissenschaftler, allesamt Top-IM des MfS. Und das MfS vor Ort, die zuständigen Hauptamtlichen und OibE Jahn von der HA AK. Sie arbeiteten beharrlich gegen Lauter. Und der zuständige Minister wie auch der Präsident der Akademie gehorchten wie Soldaten. Das sind die Tatsachen. Nach außen bot sich ein anderes Bild. Da nahm man Bewegung, Veränderungen und Konkurrenz wahr. Herrschte etwa doch eine Art von Demokratie, ging da was gegen die »Alten«, das »Alte«, die SED, den Staat? Lauter war schließlich SED-Genosse und Generalsekretär der Akademie, eine politische Position hohen Ranges! Auf eine nahezu paradoxe Weise scheint dies der ehemalige Akademiepräsident Werner Scheler zu bestätigen, der argumentiert, dass es bei Beschlussfassungen, etwa hinsichtlich der Forschungspläne der Institute, keine apodiktischen Weisungen gegeben habe, und hierfür zahlreiche Beispiele anführt. Ähnlich argumentiert die Historikerin Hein-Weingarten, dass man sich sogar gegen den Staat durchgesetzt habe.1848 Aber wie das geschah, aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen, das steht konkret nur in dieser Untersuchung. Abgesehen davon, dass eine Weisung eine Weisung bleibt, auch wenn sie nicht apodiktisch vorgetragen wird, war natürlich Freiraum gegeben. Gerade weil es die manifeste Zersplitterung, das Chaos und das »Zick-Zack« gab, liegt es nahe, der Zentralverwaltungswirtschaft nicht das Adjektiv »apodiktisch« anzuhängen. Auch hier lagen Anspruch (der SED) und Wirklichkeit oft weit auseinander. Auch gab es weder eine immer sieghafte, rein apodiktische Weise des Durchstellens von »Befehlen« (weil es die sogenannten Mitspracheinstitute wie die Gewerkschaft sowie Verfahrensregelungen gab), noch konnte eine klar erkannte unvernünftige Weisung von der Faktizität der fachlich vernünftigen (Lauter und andere) und der adminis­ trativ vernünftigen (Hilbert, Buschinski, in Teilen auch Stubenrauch) Amtsinhaber und Funktionäre immer gebrochen werden. Im vorliegenden Falle siegte jedoch das Unvernünftige, – und die SED konnte Lobeshymnen über ihre Interkosmos-Programme singen lassen. Wenngleich sich das Sieghafte subkutan organisierte und damit immer einen Vorsprung herausarbeitete, vor allem über Informationen verfügte und ein Ziel vor Augen hatte, kann die Unbeirrbarkeit im Wegverlauf, wie ihn vor allem Hans-­ Joachim Fischer für das Interkosmos-Programm der DDR beschritt, nur erstaunen. Für den Gestandenen und Bewiesenen waren plötzlich die Türen verschlossen und für jenen, der immer schon mit geheimen Projekten zu tun hatte, alle Türen offen.

1848  Scheler: Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissenschaften der DDR, S. 33 f. Hein-Weingarten: Institut für Kosmosforschung, u. a. S. 86 f., 89 f., 96, 98, 332 u. 338.

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Begünstigt wurde der Kampf gegen Lauter durch dessen harte Art, Entscheidungen im Sinne der Wissenschaften herbeizuführen. Das gefiel vielen nicht. Er moderierte nicht. Auf Freundschaften war er nicht aus. Er war »Beamter« seiner Wissenschaft, nicht Beamter im Sinne einer Vereinsglückseligkeit oder gar des Westens wie das MfS glaubte und ihm diesen Namen auf den Operativen Vorgang schrieb: »Beamter«. Seine amtlichen Schreiben atmeten den Geist eines eher kalten Wissenschaftsmanagers; er konnte gewiss leiten, war sachlich präzise, rasch in der Auffassungsgabe, entscheidungsmutig, grundsätzlich an den Sachen orientiert. Der Verfasser hat – bis auf Gerhard Zimmermann und Jens Taubenheim – keine Zeitzeugen kennengelernt, die Lauter vor und nach dem Fall, vor und nach der friedlichen Revolution, verteidigten. Evident ist, dass das, was sich hier abspielte, nicht in den tradierten Akten der betreffenden Institutionen nachlesbar ist. Mit den Akten des BStU haben wir damit das einzig verlässliche Datenfeld, das uns nicht nur die Spuren der Konflikte und der Diskurse vermittelt, sondern Initiativen des Tuns, kurz: die plastische Architektur des Geschehens liefert. Direkt belegt sind Ereignisse, Folgen und nicht zuletzt die Opfergeschichte(n) selbst. Was aber die Frage der Spiele im »Spiel Interkosmos« anlangt, sah jeder mit wachem Blick, dass das Spiel der handelnden Kräfte laufend Ineffizienzen hervorbrachte, allein schon deshalb, weil es keinen Markt gab, dessen »unsichtbare Hand« sie minimierte und damit Schaden verhinderte. Solche schlechten Spiele wie das Interkosmos-Spiel geschahen schon deshalb, weil die Zentralverwaltungswirtschaft wesentlich stumpfer als jede Marktwirtschaft reagierte. Jene Akteure auf dem »Markt« des Sozialismus, die nach Belohnung durch das System strebten, hatten es immer leichter als jene, die sich gegen die Widrigkeiten stemmten. Ein bemerkenswerter Umstand bestand darin, dass die IM in Schlüsselpositionen (Schlüpos) gerade durch ihre Interaktionen mit dem MfS in ihren Positionen bestärkt worden sind, vor allem auf der intrinsischen Ebene des Selbstbewusstseins. Sie fühlten sich sicher und unterstützt, auch wenn sie dies nicht immer waren. Die Haltungen der Schlüpos setzten sich nicht mit wissenschaftlichen Argumenten im freien Spiel der Kräfte durch, sondern allein aufgrund ihrer Siegesgewissheit, ihres Auftretens. Gegen Lauter sollte das schon was heißen. Möglich, dass genau dies der gesuchte tiefere Grund für die Kehre in der Raumforschung war.

4.3  Kerntechnik und Flugzeugbau Beide DDR-Industrien zählen zu jenen wenigen Gebieten der Wissenschaft und Technik, die als vergleichsweise gut erforscht eingeschätzt werden können. Insbesondere zur Kerntechnik resp. Kernphysik liegen achtbare Arbeiten vor. Dennoch ist nach wie vor nicht zufriedenstellend geklärt, warum es zu einem Abbruch beider Unternehmungen gekommen ist. Dieser Frage widmet sich dieses Hauptkapitel.

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4.3.1 Kerntechnik Heinz Barwich – ein Anarchist? Barwich, Hartmann und Lauter waren vom Charakter her eckig, alle drei waren erstklassige Wissenschaftler und zugleich auch »sturköpfige« Wissenschaftsmanager: sie kannten nur eine Herrschaft an, und die hieß »Gesetz des Faches«. In ihren Disziplinen waren sie Meister. Diese Zentrierung begrenzte ihre Karriere und trieb sie automatisch in eine Gegnerschaft zur SED und zum Staatssicherheitsdienst. Heinz Barwich, so Wolfgang Müller, soll die Freiheit sehr geschätzt haben, was aus seinen Erfahrungen aus der Sowjetunion herstamme. So sei es auch verständlich und naheliegend, dass er gerade von »den niedrigen Rängen der SED« und von den »staatlichen Organen« angefeindet worden ist. Von einigen, die ihn gut kannten, wurde zwar seine anarchistische Grundeinstellung hervorgehoben: »Frei von jeder Bevormundung, Ablehnung jeder Gewalt von Oben, voll verantwortlich sein für jede Handlung.«1849 Doch nahezu alle schätzten seine Kreativität, Schlagfertigkeit und konstruktive Handlungsfähigkeit. Verrisse, anarchistisch grundiert, kamen erst nach seiner Flucht in Umlauf. Barwich flüchtete am 6. September 1964 im Alter von 53 Jahren in den Westen. Dort in Köln, nach einem kurzen Intermezzo in den USA, starb er keine zwei Jahre später am 10. April 1966 »unerwartet« an Herzschlag. Ein unvollendetes, letztlich tragisches Leben. Die Physikalischen Blätter veröffentlichten gleichsam als Nachruf ein Gespräch in Briefform, das noch vor Ende 1965 redaktionell fertiggestellt war. Barwich hatte jedoch die Redaktion am 7. Januar 1966 gebeten, vorerst von einer Veröffentlichung wegen bestimmter Nachrichten aus der DDR, die mit seiner Familie zusammenhingen, abzusehen. Nach dem Tod Barwichs glaubte die Zeitschrift, dass der Zeitpunkt der Veröffentlichung gerechtfertigt sei, da sein Sohn indes wegen des Versuchs der »Republikflucht« zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Das Gespräch zeige, so der Interviewer, »den inneren Kampf eines Physikers, der in der ersten Reihe der Großen des DDR-Staates stand und sich in erfolglosem Ringen um ein Arrangement mit dem Regime und dessen Anschauungen aufrieb«.1850 Aus dem Interview, Barwich: »Wenn ich als Jude aus dem Dritten Reich geflohen wäre, würden Sie mich nicht nach den Gründen gefragt haben. Sie werden sich vielleicht wundern, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass es in meinem Falle und ähnlichen Fällen der Flucht aus kommunistisch-autoritären Staaten im Grunde genommen auch um ein ›Rassenproblem‹ geht, nur nicht das der Zugehörigkeit zu einer ›biologischen‹, sondern einer ›soziologischen‹ Rasse. Aus Ihrer Frage entnehme ich – Sie werden mir die Ironie verzeihen –, dass Sie mich zur Rasse des bürgerlich-materialistischen Typus rechnen 1849  Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 94; HA III/6/S vom 20.3.1963: Bericht; BStU, MfS, AOP 10660/67, Bd. 1, Bl. 19–25, hier 22. 1850  Heinz Barwichs Schicksal und Bekenntnis, in: Physikalische Blätter 22(1966)6, S. 267.

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Abb. 41: Heinz Barwich: Foto in seiner MfS-Akte

(dessen Vorkommen natürlich nicht auf den Westen beschränkt ist), indem Sie voraussetzen, dass der Mensch bestrebt ist, seine Bewegung stets in Richtung auf die fettesten Pfründe hin zu steuern. Es gibt aber auch noch eine Minderheit vereinzelter Exemplare einer Rasse der ›unruhigen Weltverbesserer‹, die auf diese Güter, falls notwendig, verzichten, wenn es darum geht, ihrer Überzeugung gemäß zu handeln. Denken Sie an Professor Havemann, den ich sehr gut zu verstehen glaube, obgleich ich sein spezielles politisches Glaubensbekenntnis nicht teile.« Der Interviewer hatte sich fragend gewundert, dass Barwich ob seiner DDR-Privilegien geflüchtet sei. Er, Barwich, könne sich nicht mehr alles gefallen lassen, habe »des ›Marschierens im gleichen Schritt und Tritt‹« satt, »wenn die Richtung für schädlich erkannt worden ist«. Seine »Emigration«, so Barwich, »entwickelte sich aus einer ganzen Reihe von Enttäuschungen bei meiner gesellschaftlichen Tätigkeit in der DDR, über die ich mich den dafür maßgeblichen Persönlichkeiten gegenüber schriftlich geäußert habe.

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Ich möchte hier nur kurz erwähnen: Die Doppelzüngigkeit der SED in der Frage der Atomwaffen für die DDR, die Missachtung des Stockholmer Appells des Weltfriedensrates durch Chruschtschow im Zusammenhang mit der Kubakrise und die mit dem Bau der Berliner Mauer aufkommenden Unmenschlichkeiten. Schließlich kamen dazu eigene Gefährdung durch Kritik an Maßnahmen der SED und durch Weigerung, Unterschriften zu leisten, die die Partei von den führenden Wissenschaftlern unter vorgeschriebenen Aufrufen usw. regelmäßig verlangte.« In der DDR herrsche Furcht, so Barwich sinngemäß, abweichende Meinungen zu politischen Linien zu vertreten oder auch nur Solidarität mit in der Kritik geratenen Persönlichkeiten wie Havemann zu üben: Solche Handlungen aus Furcht seien »›normale‹ Reaktionen der ›moralischen Selbsterhaltung‹«, letztlich aus dem Grunde »notwendig, um in diesem System zu leben«. Barwich: »Ich habe zwischen 1955 und 1961 immer wieder versucht, durch die Politik der ›kleinen Schritte‹ manche Übertreibung der Partei zu durchkreuzen; aber ich stand allein. Der DDR-Intellektuelle steht schließlich vor der Entscheidung, entweder ›Gott‹ oder dem ›Mammon‹ zu dienen, und er entscheidet sich i. a. für den bequemen Weg.« Das Gewissen aber peinige, denn etwa mit den Schüssen an der Mauer könne schlechterdings kein Intellektueller seinen Frieden machen. »Der Intellektuelle des Ostens führt günstigstenfalls ein ›Doppelleben‹, wie seinerzeit Fuchs in Los Alamos und Harwell.«1851 Barwich war  – im Unterschied zu Hartmann und Lauter  – ein Freigeist, im Grunde genommen ein Intellektueller. Er sprach und bewegte sich auch anders, war ungehemmter, freier. Denklangsame Zeitgenossen konnten ihm meist nicht folgen, zu rasch seine Urteilsfähigkeit, zu reich seine Bilder, zu pointiert die Gedanken. Oft schilderte er farbig, erfand Bilder und Begriffe: im Falle von Erich Apel und Hermann Grosse (beide SPK) sprach er von »Halbleitern«, da beide Karl Rambusch im Sattel hielten (analog der Ladungsspeicherung), statt ihn schleunigst abzu­setzen.1852 Barwichs Wirken in der DDR war auf das Engste mit Max Steenbeck und Rambusch verknüpft. Die Abteilung VI/2 hatte am 21. Dezember 1961 vorgeschlagen, zu Steenbeck und Rambusch einen Operativ-Vorlauf anzulegen, beide waren die wichtigsten Gegenspieler Barwichs. Grund hierfür waren Erkenntnisse, wonach beide »auf dem Gebiet der Entwicklung der Kernenergie eine Konzeption vertreten« würden, »die volkswirtschaftlich für die DDR nicht vertretbar« sei. Beide hätten »Regierungsund Parteibeschlüsse veranlasst und herbeigeführt«, »die sich gegenwärtig als Schaden für die Volkswirtschaft« erwiesen. Zwar lägen keine Hinweise einer bewussten Schädigung der Volkswirtschaft vor, doch durch »oberflächliches Herangehen und falsche Auslegung der Empfehlungen und Missachtung der Sowjetunion« sei »die Perspektive der Kernenergie falsch dargestellt« worden. Obgleich es seit 1959 seitens 1851  Gespräch mit Heinz Barwich: Trotz Erfolges Entscheidung für den Westen, in: Physikalische Blätter 22(1966)6, S. 268–272. 1852  Abt.  VI/2 vom 18.5.1960: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 6.5.1960; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 154–156, hier 154.

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der Sowjetunion »und einiger Wissenschaftler der DDR« die Empfehlung gegeben habe, wonach »die Kernenergie in den nächsten 20 Jahren keine Perspektive« besitze, hätten sie »die Entwicklung der Kernenergie forciert« und »dabei nicht die Ökonomik der DDR« beachtet. Seit dem Herbst 1961 würden beide »die Konzeption vertreten, das AKW-I der DDR als technisches Versuchsfeld zu benutzen.« Das aber »würde hohe Investitionen bedeuten, die keinen Nutzen für die Volkswirtschaft« brächten. »Zur Durchsetzung ihrer Konzeption beeinflussten sie leitende Wissenschaftler der DDR und einen großen Teil der Mitarbeiter des VEB Entwicklung und Projektierung kerntechnischer Anlagen. Dabei kommt ein Misstrauen gegen die wissenschaftlich-technischen Arbeiten der Sowjetunion am AKW-I zum Ausdruck.«1853 Im OV »Renegat« zu Robert Rompe findet sich ein undatierter Hinweis, wonach Rambusch zum Hydrologischen Dienst sollte. Der habe »schon mit ›russischen Genossen‹ gesprochen. ZK hat zugestimmt. Will auf jeden Fall Krach schlagen. Will Rompe um Rat fragen (Aussprache).« Dies geht aus einem Brief von Rambusch an Rompe hervor. Rambusch war zu diesem Zeitpunkt an der Forschungsstelle für Übermikroskopie der Friedrich-Schiller-Universität Jena beschäftigt.1854 Barwich wurde am 4. August 1955 von Offizier Heinz Kairies von der Abteilung VI/2 zur inoffiziellen Mitarbeit geworben. Einer schriftlichen Erklärung zur Zusammenarbeit sei er ausgewichen, sodass davon Abstand genommen wurde. Als Anwerbungsdatum wurde das Berichtsdatum zur Werbung am 5. August gesetzt. Bereits zu dieser frühen Zeit soll er verantwortlich gemacht worden sein für den Aufbau eines Atomreaktors. Barwich bat seinen MfS-Gesprächspartner, ihn bei der Suche nach einem Haus mit sechs Zimmern zu unterstützen.1855 Der Leiter der Abteilung VI, Eduard Switala, richtete diese Bitte umgehend an das Referat VI der Dresdener Bezirksverwaltung.1856 Kairies sah die Bedeutung Barwichs für das MfS darin, dass er »auf die bekannten Physiker innerhalb der DDR« ansetzbar sei.1857 Einer Einschätzung zur Zusammenarbeit mit ihm vom 11. Juli 1957 ist zu entnehmen, dass er bereits »teilweise dekonspiriert« sei, »was jedoch aufgrund seiner öffentlichen Stellung dementiert werden« könne. Ihm selbst sei nicht bekannt, dass er unter dem Decknamen »Hahn« geführt werde.1858 Der IM-Vorgang ist – technisch – am 7. März 1967 eingestellt worden. Lapidar steht vermerkt: »›Hahn‹ ist verstorben«.1859 Im dazugehörenden Abschlussvermerkt steht zusätzlich vermerkt, dass »Hahn« im September 1964 die DDR illegal verlassen habe und der Fall be1853  Abt. VI/2 vom 21.12.1961: Anlegens einer VAO; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 58 f. 1854  Notat über einen Brief von Rambusch an Rompe (o. D.); BStU, MfS, AOP 17/56, Bd. 1, Bl. 28. »Übermikroskopie« ist ein früherer Begriff für Elektronenmikroskopie. 1855  Vgl. Abt. VI/2 vom 5.8.1955: Bericht über die Werbung; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 12–15, hier 14 f. 1856  Vgl. Abt. VI/2 vom 15.8.1955: Bereitstellung von Wohnraum für den Stalinpreisträger; ebd., Bl. 19. 1857  Abt. VI/2 vom 3.5.1956: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 30 f., hier 31. 1858  Abt. VI/2 vom 11.7.1957: Einschätzung der Zusammenarbeit; ebd., Bl. 56 f. 1859  HA XVIII/5 vom 7.3.1967: Beschluss zum Einstellen eines IM-Vorganges; ebd., Bl. 307 f., hier 308.

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arbeitet worden sei. Es sei nachgewiesen worden, dass »Hahn« Verbindung zum US-Geheimdienst gehabt habe.1860 Sein Führungsoffizier war jener Günther Jahn, dem wir oben vielfach in anderen Feldern und Orten der DDR-Wissenschaften begegnet sind. Barwich berichtete durchaus personenbezogen, wenngleich dominant sachorientiert. Diese Art der Berichterstattung, die offenbar auf offizieller Gesprächsebene stattfand, war teilweise, weil zu Fähigkeiten, Charaktereigenschaften und familiären Bezügen sprechend, personenbelastend.1861 Diachroner Bericht Die DDR besaß in summa fünf Kernkraftwerke (KKW), nämlich Rheinsberg mit der ersten Netzsynchronisation vom 9. Mai 1966 (Baubeginn war 1960), dann Nord-1 zum 11. Dezember 1973, Nord-2 zum 23. Dezember 1974, Nord-3 mit dem 3. November 1977 und zuletzt Nord-4 zum 4. August 1979. Rheinsberg war vom Typ WWER W-2, die anderen vom Typ WWER W-230. Die Leistung von Rheinsberg betrug 70 MWel, die der anderen lagen bei 440 MWel.1862 Müller spricht in Bezug auf die Überlieferungslage – seine Analytik beruht insbesondere auf die einschlägigen Ministerratsbeschlüsse von 1955 bis 19621863 – des Beginns der Befassung der DDR mit Fragen der Kernphysik von einem nur »bruchstückhaften Bild«, wofür die damals hohe Geheimhaltung verantwortlich zeichne. »Immerhin«, so Müller, stehe »fest, dass die Leitung« der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) »bereits am 30. Mai 1950 die Planung eines Forschungsinstituts für Kern- und Atomphysik« behandelt habe. Im November soll dies positiv entschieden worden sein. Der Ort der Besprechungen war mit Miersdorf bei Berlin-Zeuthen prädestiniert für solche Forschungsbestrebungen. Für das Institut Miersdorf wurde bereits »am 8. Dezember 1951 ein wissenschaftliches Kuratorium« eingerichtet, das unter Vorsitz des Akademiepräsidenten Walter Friedrich stand. Auch Rompe gehörte dem Gremium an. Die erste Initiative hierzu war Ende 1949 von Bruno Leuschner ausgegangen. Leuschner war zu dieser Zeit Staatssekretär im Ministerium für Planung. Danach habe Rompe Ulbricht angesprochen.1864 Das Institut in Miersdorf der DAW wurde 1952 gegründet, seit 1957 Kernphysi1860  Vgl. HA XVIII/5 vom 7.3.1967: Abschlussvermerk; ebd., Bl. 309. 1861  Vgl. Abt. VI/2 vom 2.3.1956: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 1.3.1956; ebd., Teil II, 1 Bd., Bl. 20–23. 1862  Vgl. Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 83. 1863  Vgl. Beschluss des MR über Maßnahmen zur Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke vom 10.11.1955; BArch DF I/1.10. Beschluss des Präsidiums des MR über die Änderung des Beschlusses über Maßnahmen zur Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke vom 4.10.1956; BArch, DF I/1.10, Nr. 856. 1864  Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 14. Reichert erwähnt Hans Wittbrodt vom ZAFT, der von dieser Offerte überrascht war, in: Reichert, Mike: Kernenergiewirtschaft in der DDR. Entwicklungsbedingungen, konzeptioneller Anspruch und Realisierungsgrad (1955–1990). St. Katharinen 1999, S. 61.

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kalisches Institut der DAW in Miersdorf. Nachfolger wurde 1962 das Institut für Hoch­energiephysik (IfH) der DAW in Zeuthen. Thomas Stange hat die Geschichte des IfH in seiner Dissertation von 1998 dargestellt, drei Jahre später erfolgte auf dieser Grundlage eine Buchedition.1865 Zu dieser Arbeit bemerkte der ehemalige Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften Claus Grote, dass Stange die »Beschränkungen der kernphysikalischen Grundlagenforschung zugunsten der Hochenergiephysik 1962 (ähnlich damals in anderen Ländern)« – übrigens mit dem üblichen Verweis darauf, dass die DDR angeblich ein ganz normaler Staat wie jeder andere war – »zwar korrekt« dargestellt habe, »aber die Ursache für die Ersetzung des Kernphysikers als Leiter des Zeuthener Instituts durch einen Hochenergiephysiker« doch »irrtümlich als Resultat einer Kraftprobe zwischen parteilosem Direktor und der Parteileitung des Instituts« gesehen habe. »Sein ›Indizienbeweis‹« sei »nicht schlüssig.«1866 Aufklären, wie es nun wirklich war, wollte Grote aber auch nicht. Die Sowjetunion übte sich zunächst in Zurückhaltung, erst auf Druck der UNO Ende 1954 stimmte sie der internationalen Zusammenarbeit zu und lockerte die Geheimhaltung. Nun kamen auch die sozialistischen Staaten in den Genuss einer Anerkennung ihrer eigenen Bestrebungen und einer gewissen Förderung. Den Utopie-Aspekt (Kap. 3.2.1) betont auch Müller, wenn er von der in vielen Ländern herrschenden Euphorie spricht, hinsichtlich eines kommenden Atomzeitalters.1867 Müller sieht im Mangel der DDR an vielerlei Voraussetzungen wie fehlende Materialien und Stoffe, Geräte und Ausrüstungen sowie Investitionen den Hauptgrund für eine insgesamt unbefriedigende Startphase in der Beschäftigung mit Kernenergetik. Auch die Personaldecke war außerordentlich dünn. Er nennt quasi vom Start weg insgesamt 42 Personen mit zumindest einschlägigen Erfahrungen auf diesem Gebiet wie Manfred von Ardenne, Heinz Barwich, Hans-Joachim Born, Gustav Hertz, Josef Schintlmeister, Max Steenbeck, Peter Adolf Thiessen, Max Volmer, Carl Friedrich Weiss und Gernot Zippe.1868 Aber das genügte nicht. Vor allem fehlte der qualitativ hinreichend breite Unterbau an Ingenieuren und Technikern. Zwar brachten die Rückkehrer aus der Sowjetunion neue Erfahrungen auf den Gebieten der Kernphysik und Kerntechnik mit nach Hause, doch dürften diese aufgrund der isolierten Beschäftigung mit Einzelfragen eher nicht hinreichend gewesen sein. Das sieht Mike Reichert ähnlich, wenn er konstatiert, dass die in die DDR gegangenen Atomspezialisten »nur sehr wenig verwertbare Erfahrungen« mitbrachten.1869 Freilich waren von dieser Beschränkung einige der oben genannten Wissenschaftler wie Barwich und Steenbeck weniger betroffen. Die Startbedingungen waren zumindest auf einzelnen theoretischen, empirisch-experimentellen und messtechnischen Gebieten als sehr gut einzuschätzen. Zwei frühe von Gustav Hertz herausgegebene Bücher 1865  Vgl. Stange: Die Genese des Instituts für Hochenergiephysik. 1866  Grote, Claus: Kein x-beliebiges Institut, in: Neues Deutschland vom 17.5.2002, S. 13. 1867  Vgl. Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 5 u. 17. 1868  Vgl. ebd., S. 16 f. 1869  Reichert: Kernenergiewirtschaft in der DDR, S. 71.

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geben hiervon Zeugnis: zum einen der Band Grundlagen und Arbeitsmethoden der Kernphysik von 1957 sowie das Lehrbuch der Kernphysik I. Experimentelle Verfahren von 1958.1870 Messtechnisch war man aufgrund der Versiertheit Werner Hartmanns auf hohem Niveau; Hartmann: »Auf jedem Gebiet der exakten Naturwissenschaften hängen Fortschritt und Erweiterung unserer Kenntnisse davon ab, ob es möglich ist, die Fragen an die Natur genau genug zu formulieren und im Experiment so zu stellen, dass eine interpretierbare Antwort erhalten wird. Diese letzte Forderung mag für einen Uneingeweihten auf dem Gebiet der Kernphysik als besonders schwierig erfüllbar erscheinen, da wir es ja oft mit Vorgängen zu tun haben, in denen einzelne Individuen von Elementarteilchen die wesentlichen Mitwirkenden sind.«1871 Diese beiden Prämissen waren für den Messtechniker Hartmann zweifellos fachbezogen gemeint. Dennoch ist es deren anthropogene Note, die fordert: man muss, was bei den Elementarteilchen Dank der Heisenberg’schen Unschärferelation ja kein Pro­ blem mehr war, die handelnden Subjekte beim Aufbau der Kerntechnik miteinander harmonisieren. Oder negativ formuliert: Mit dem Einsatz der Parteifunktionäre und der Macht der Tagespolitik würde das Experiment fehlschlagen. Barwich, der bekannteste Atomphysiker der DDR, zeichnet in seinem Abschnitt dieses von Hertz herausgegebenen Bandes anschaulich und instruktiv den damaligen Stand zum Reaktorbau nach. Dieser erste Überblicksbeitrag erschien erst 13 Jahre nach Inbetriebnahme des ersten Kernreaktors überhaupt. Barwich verwies einführend auf den »großen Umfang« von Kenntnissen seit der Erstinbetriebnahme: »Auf einem gewissen Teilgebiet, nämlich dem der ›thermischen‹ Reaktoren, welche den Ausgangspunkt der Entwicklung in allen Ländern bildeten, ist die physikalische Forschung bereits soweit abgeschlossen, dass die für die Konstruktion notwendigen Berechnungen nach fertig ausgearbeiteten Methoden unter Benutzung von experimentell bekannten kernphysikalischen Materialkonstanten mit für die Praxis ausreichender Genauigkeit durchgeführt werden können. Bei der Entwicklung eines solchen Reaktors handelt es sich daher im Wesentlichen um die Lösung von rein technischen Problemen. Jedoch dürfte der Zeitpunkt nicht mehr fern sein, wo für die verschiedenen Verwendungszwecke bestimmte Typen von Reaktoren herausgearbeitet sein werden, deren Konstruktion und Bau ohne wesentliche Hilfe des Physikers von Ingenieuren durchgeführt werden kann.« Allerdings sei »auf dem Gesamtgebiet der Kernreaktoren« gewiss »noch ein gut Teil Forschungsarbeit zu leisten.«1872 Müller sieht es als einen »wesentlichen Faktor« an, ja sogar als »unumgängliche Voraussetzung des Beginns von Kernforschung und Kerntechnik in der DDR«, dass die Spezialisten aus der Sowjetunion wieder zurückgelassen worden waren.1873 Ins1870  Hertz: Grundlagen und Arbeitsmethoden; Hertz, Gustav (Hrsg.): Lehrbuch der Kernphysik I. Experimentelle Verfahren. Leipzig 1958. 1871  Hartmann: Kernphysikalische Messgeräte, S. 137–176, hier 137. 1872  Barwich, Heinz: Kernreaktoren, in: Hertz, Gustav (Hrsg.): Grundlagen und Arbeits­ methoden der Kernphysik. Berlin 1957, S. 177–216, hier 177. 1873  Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 19.

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gesamt gesehen bestand akuter Personalmangel. So verwundert es nicht, dass sich die SED intensiv Gedanken machte, wie sie zu befähigten Köpfen für den Standort Dresden kommen könnte. Die in der DDR vorhandenen Wissenschaftler waren verstreut an verschiedenen Orten untergekommen. Und einige lebten im Westen. Möglichst viele von ihnen für Dresden zu bekommen, war (auch) Sache des MfS; ein Beispiel: Die DDR beabsichtigte Hans-Joachim Born (nicht zu verwechseln mit dem in der Bundesrepublik lebenden Atomphysiker und Nobelpreisträger Max Born) für den Aufbau der Kernphysik in der DDR gewinnen.1874 Born wurde nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion 1955 Institutsleiter in Berlin-Buch, 1957 ging er in den Westen.1875 Das Bucher Akademieinstitut für Medizin und Biologie besaß den Bereich Angewandte Isotopenforschung, den Born leitete. Born wurde 1934 von Otto Hahn promoviert, doch erst 1957 konnte er sich aufgrund des Krieges und des Aufenthaltes in der Sowjetunion an der TH Dresden habilitieren, wahrscheinlich zeitnah erhielt er einen Ruf vom Institut für Radiochemie an der TH München. Hiervon muss der Staatssicherheitsdienst erfahren haben, da er Robert Havemann ins Feld führte, zu versuchen, Born zu halten. Entweder für einen Lehrstuhl an der HU Berlin oder eben in Dresden an der TH Dresden oder am Zentrum für Kern­forschung (ZfK). Der Staatssicherheitsdienst entwickelte wohl auch die Idee, Born als Quelle zu gewinnen – gegen Havemann und westdeutsche Atomphysiker. Das alles war laienhaft gedacht und in einer Diktion, die eine Widergabe verbietet. Tat­sache aber ist, dass Havemann Born auch abschöpfen sollte: »Bei nächster Gelegenheit Feststellung darüber, welcher westdeutsche Wissenschaftler nach Meinung des Professor Born geeignet und bereit wäre, den Aufbau des Radiochemischen Institutes des ZfK zu übernehmen und auf welche Weise diese Bereitwilligkeit konkretisiert werden« könne.1876 Rambusch soll auf Anfrage Havemanns zunächst nicht erfreut gewesen sein, doch irgendwie war wohl vereinbart worden, im Zusammenspiel mit Fritz Selbmann Born bei einem Kaffee in Grünheide auf einen entsprechenden Wechsel von seinem Institut in Berlin-Buch nach Dresden anzusprechen. Die Einladung soll Born hocherfreut angenommen und bei dieser Gelegenheit geäußert haben, dass »die Bildung der Fakultät für Kerntechnik an der TH Dresden« ein »Fehler« gewesen sei. Born »entwickelte« sogleich »abermals seinen Plan, für den Aufbau der Radiochemie in Dresden einen ehrgeizigen Nachwuchswissenschaftler aus Westdeutschland oder sogar aus dem Ausland zu gewinnen, und erklärte seine Bereitschaft, dabei mitzuwirken, und ließ wiederum erkennen, dass er wenig Interesse daran« habe, »selbst das künftige Radiochemische Institut des ZfK zu übernehmen.« Das MfS resümierte: »Bei der für den 7. des Monats in der 1874  Vgl. Abt. VI/2 vom 23.2.1957: Bericht von »Leitz« am 22.2.1957; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 2, Bl. 54–57, hier 57. 1875  Vgl. Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 68. 1876  Abt. VI/2 vom 23.2.1957: Bericht von »Leitz« am 22.2.1957; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 2, Bl. 54–57, hier 57.

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Sommervilla des GI ›Leitz‹ vorgesehenen zwanglosen Aussprache geht es darum, eindeutig festzustellen, welche Perspektive sich Professor Born in der DDR selbst gesteckt hat. Danach müssen sich weitere Maßnahmen des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik (AKK) und des ZfK richten.«1877 Offenbar war Born verwundert, dass Havemann ein solches Interesse an ihm gefunden hatte; das sei, so Born, »nicht üblich«. Ahnte er, dass der Staatssicherheitsdienst dahintersteckte? Tatsächlich handelte Havemann ja (auch) im Interesse des MfS (»in unserem Auftrage«!). Havemann habe ihm geantwortet, dass er dies als SED-Mitglied und Staatsfunktionär tue, sich hierzu »unbedingt verpflichtet« fühle, »eine so wertvolle Kraft« für die DDR »zu erhalten« und alles dafür zu tun, »um ihn an diese zu binden«. Handschriftlich notierte der Vorgesetzte von Havemanns Führungsoffizier: »Man muss sich angewöhnen eine Einschätzung der Treffs zu geben, sowie besser die Aufgaben für den GI entwickeln. Warum erst Treff am 18. April«, wenn ein solch »starkes Interesse an der Stellungnahme von Born am 7. April besteht?« Am 10. Mai 1957 äußerte Havemann, dass er Born nicht schon wieder einladen könne, er habe ihn bereits zwei Mal zu Gast gehabt und einmal in dessen Institut besucht, ohne dass je eine Gegeneinladung erfolgt sei. Rambusch möge selbst aktiv werden. Der Führungsoffizier formulierte: »Seine Einschätzung der Entwicklung seines Verhältnisses zu Professor Born ist richtig. Es kommt darauf an, den Genossen Rambusch unbedingt zu veranlassen, dass er von sich aus dazu übergeht, Professor Born mehr als bisher für die Tätigkeit in der DDR zu interessieren, indem ihm ein erhöhtes Vertrauen gezeigt wird.« Es wird die Maßnahme beschlossen, dass Rambusch »sich mit Professor Born mehr als bisher zu beschäftigen« habe.1878 Dies entsprach durchaus bereits einem direkten Dirigismus wissenschaftspolitischer Art. Das MfS wollte nicht nur Born halten, sondern über Havemann gar westdeutsche Atomwissenschaftler gewinnen: »Entwicklung eines Plans zur Verbindungsaufnahme zu westdeutschen Atomwissenschaftlern mit dem Ziel, sie für die Aufnahme der Tätigkeit in der DDR zu gewinnen.« Havemann entwickelte für den Spätsommer 1957 die Absicht, »seinen alten Plan der Organisierung eines Vortrages in München unter Ausnutzung der Professoren Gerlach und Gallinger« für die Verbindungsaufnahme zu westdeutschen Atom­spezialisten zu reaktivieren, nicht nur dies, sondern in Verbindung mit Carl Friedrich von Weizsäcker in Hamburg einen »zweiten ähnlichen Start« zu versuchen. Oder in lapidarer Auftragssprache des Staatssicherheitsdienstes für ihren GI: »Schaffung der Voraussetzungen zur Aufnahme von Verbindungen zu westdeutschen Atomwissenschaftlern durch Organisierung von Vorträgen in Westdeutschland, durch Veröffentlichungen in den westdeutschen Physikalischen Blättern usw.«1879

1877  Abt. VI/2 vom 5.4.1957: Bericht von »Leitz«; ebd., Bl. 61–63, hier 62. 1878  Abt. VI/2 vom 11.5.1957: Bericht von »Leitz« am 10.5.1957; ebd., Bl. 64 f. 1879  Ebd., Bl. 66 sowie Abt.  VI/2 vom 14.6.1957: Bericht von »Leitz« am 14.6.1957; ebd., Bl. 67–70, hier 68 u. 70.

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Carl Friedrich Weiss1880 erhielt auf Beschluss des ZK der SED den Auftrag, ab 1955 in Leipzig das Institut für Angewandte Radioaktivität aufzubauen. Die Schwierigkeiten des Aufbaus waren enorm. Die im ersten Jahr gemachten Zusagen – wie auch im analogen Fall für Justus Mühlenpfordts Institut für physikalische Stofftrennung (IpS) – waren »in einem solchen Umfange nicht eingehalten worden, dass aufgrund der eingetretenen Enttäuschung und Verärgerung unseres Erachtens ein guter Boden für Abwerbungsversuche entstehen« könne. Dies schrieben drei Personen von der Betriebsparteiorganisation (BPO) der SED, u. a. der Parteisekretär Karl Schröder am 30. Januar 1956 an Walter Ulbricht. Eine umfangreiche und notwendige Bestellung von Geräten und Instrumenten, im Sommer 1955 mit Minister Selbmann für den Realisationszeitraum Ende 1955 bis Anfang 1956 abgestimmt, sei fast vergessen worden. Die eingereichten Unterlagen seien im Ministerium für Finanzen sechs Monate liegen geblieben. Dies sei nur ein Beispiel vieler Enttäuschungen damals allein auf dem Gebiet des Verwaltungshandelns. Weiss und Mühlenpfordt hätten »wiederholt ihre außerordentlich starke Enttäuschung und Verärgerung darüber zum Ausdruck gebracht, dass ihnen entgegen den ursprünglich von Partei und Regierung gemachten konkreten Zusagen die notwendigen Arbeitsmöglichkeiten nicht gegeben« worden seien. Sie sahen den »Bürokratismus der Verwaltungsstellen« und eine »›Cliquenwirtschaft‹ bei verantwortlichen wissenschaftlichen Gremien« hierfür verantwortlich. Das sei republikweit so.1881 Die DDR benötigte Köpfe, doch es fehlte eklatant an entsprechenden Arbeitsmöglichkeiten. Müller weist darauf hin, dass die DDR von der Sowjetunion 1955/56 eine »mahnende Ermunterung« für eine eigene Kernkrafttechnik erhalten habe und »tatkräftige Hilfe« versprochen bekommen haben soll. Doch dieser Aufbruch (»früher Frühling«) war bereits 1962 abrupt zu Ende. Er nennt als Gründe hierfür die wirtschaftliche Lage und den insgesamt enttäuschenden Verlauf des Kernenergievorhabens. Die Wirtschaftsplanung geriet zu der Zeit in eine schwere Krise. Hier hinein fällt auch die Problematik des Siebenjahrplanes 1959 bis 1965. Müller: Das »Abkommen« vom 28. April 1955 »über die Hilfeleistung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken an die DDR bei der Entwicklung der Forschungen auf dem Gebiet der Physik des Atomkerns und der Nutzung der Atomenergie für die Bedürfnisse der Volkswirtschaft« beinhaltete die komplette Lieferung von Ausrüstungen, Materialien und Stoffen bis hin zu fachlicher Unterstützung und Ausbildung. Die Vorbesprechungen erfolgten im Januar 1955. Geplant war der Aufbau eines Kernreaktors für experimentelle Zwecke sowie eines Zyklotrons. Die Projektierung sollte in der Sowjetunion durchgeführt werden. Geliefert werden sollte die Ausrüstung für einen Wasser-Wasser-Forschungsreaktor mit 2 000 kW Leistung, ein Zyklotron mit einer Leistung von 25 MeV für Alphateilchen. Drei Jahre später machte die Sowjetunion dieses »streng geheime« Projekt im Zuge der Vorbereitung der am 1880  (1901–1981). Radiochemiker, Cellist. 1881  Schreiben der BPO an Ulbricht vom 30.1.1956; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 24–27, hier 24 f.

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1. September 1958 beginnenden 2. Genfer Konferenz der UNO öffentlich. Eine Art Wettbewerb mit den USA, die ihrerseits ihren verbündeten Staaten den Zugang per Hilfe ermöglichten.1882 Den Fragen des Atomrechts widmete sich die DDR ab 1955. Das Gesetz über die Anwendung der Atomenergie in der DDR – Atomenergiegesetz – wurde am 28. März 1962 von der Volkskammer verabschiedet. Müller vermutet, dass man zuvor kein Gesetz brauchte, weil man Flexibilität benötigte. Möglich auch, dass man erst die Reaktion der BRD abwarten, also nicht der erste sein wollte. Er erwähnt auch die Uneinigkeiten in der DDR selbst, 1958/59 über die Richtung der Anwendung (friedliche Zwecke), die nicht an die Öffentlichkeit drangen. Nennt hierzu aber recht wenig Faktisches bis auf wenige Diskussionen im Wissenschaftlich-technischen Büro für Reaktorbau (WTBR) und zu Steenbeck, aber auch zu ihm nichts Genaueres. Müller zitiert Eckard Hampe zur Beschlussvorlage des AKK: Demnach habe das AKK »›bewusst auf die Aufnahme der ausdrücklichen Verpflichtung, die Atomenergie ausschließlich für friedliche (zivile) Zwecke zu nutzen, verzichtet. Damit soll der Weg zur Ausnutzung der Arbeiten auf dem Gebiet der Kernforschung und Kerntechnik zur Stärkung der Verteidigungskraft des sozialistischen Lagers offengehalten werden. Im 1. Grundsatz des Entwurfs wird deshalb u. a. wie folgt formuliert: die Ausnutzung der Atomenergie durch die Arbeiter- und Bauern-Macht der DDR hat dem weiteren sozialistischen Aufbau, dem Wohl des ganzen Volkes, der Hebung seines Lebensstandards und der Erhaltung des Friedens zu dienen‹.«1883 Müller weist auf einen Streit zum Vorwort für das erste Heft der neugegründeten Zeitschrift Kernenergie hin, hierin protestierten u. a. Barwich und Steenbeck energisch gegen jedwede militärische Nutzung.1884 Hierzu siehe unten. Der Start der DDR in das Abenteuer Kernenergie begann wie allgemein üblich im Streit und im Mangel. Aus einem Bericht von Werner Schauer alias GI »Karl Wagner« – den wir oben bereits in anderen Kontexten kennengelernt haben – am 27. Juni 1955 in der KW »Rosengarten«: »Dr. Barwich, der den Aufbau des geplanten Objektes bei Weißig durchführen soll, soll zwei Arbeitsräume in der Dornblüthstrasse erhalten«. Hier begegnen wir auch Hartmann, der im Begriff stand, Vakutronik aufzubauen: Die Räume in der Dornblüthstrasse wurden am 20. Juni 1955 von Dr. Hartmann, dem GI und den bereits eingestellten Personen bezogen. Der GI arbeitet mit Dr. Hartmann zurzeit im gleichen Zimmer.«1885 1882  Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 7 u. 18 f. Führend auf diesem Gebiet war Josef Schintlmeister; zur Sache siehe seinen Vortrag am 16.12.1957, in: Barwich, Heinz (Hrsg.): Das Zentralinstitut für Kernphysik am Beginn seiner Arbeit. Berlin 1958, S. 25–42. 1883  Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 270. Quellenhinweis: Hampe, Eckard: Zur Geschichte der Kerntechnik in der DDR von 1955 bis 1962. Die Politik der Staatspartei zur Nutzung der Kernenergie. Dresden 1996. 1884  Vgl. Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 270; vgl. auch Reichert: Kernenergiewirtschaft in der DDR, S. 105 f. 1885  Abt. VI vom 28.6.1955: Treff bericht; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP  2554/76, Bd. 15, Bl. 4–6, hier  5 sowie Abt. VI vom 28.6.1955: Treff bericht; BStU, MfS, AIM  4966/59, Teil  II, 1 Bd., Bl. 16–18, hier 17.

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Die Frage der Entwicklung der Kerntechnik war 1955 in den Medien der DDR, insbesondere im Neuen Deutschland überaus präsent. Ein wichtiges Datum war die großangelegte interdisziplinäre Tagung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR über die friedliche Ausnutzung der Atomenergie vom 1. bis 5. Juli 1955 in Moskau.1886 Man informierte mehrfach über sowjetische Pläne, auch über eine Beratung zu atomwissenschaftlichen Fragen in Dresden im September u. a. m.1887 Ein Artikel von Ardenne im Neuen Deutschland vom 7. Dezember soll an der Humboldt-Universität Berlin »einen regelrechten Tumult« ausgelöst haben. Es wurde das Verlangen laut, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. »Nach längeren Auseinandersetzungen wurde die Angelegenheit schriftlich an Professor Rompe übergeben«. War Havemann hier der Ruhestifter? Durchaus: »Durch Beeinflussungen der KP [KP heißt Kontaktperson, hier Havemann – d. Verf.] wurden an der Uni die Diskussionen wieder beigelegt. Den Ardenne selbst schilderte die KP als Person mit zwei Gesichtern. Einmal genießt er alle Hochachtung, da er als Nichtakademiker sehr hoch einzuschätzende Leistungen vollbringt, alle von ihm verlangten Dinge entwickelt und sich vor nichts zu schade vorkommt. Andererseits ist er sehr unbeliebt, da er geistiges Gut stiehlt wo er nur kann.«1888 Die Studenten hatten sofort begriffen, wie später jeder gestandene Wissenschaftler auch, dass Ardenne meisterhaft die Klaviatur der SED spielte. Er war das schiere Gegenbeispiel zu Steenbeck, wie wir sehen werden. Allein Gerhard Barkleit feiert ihn ex post als Friedenskämpfer: »Die Entschiedenheit, mit der Ardenne sich immer wieder gegen eine Eskalation der nuklearen Rüstung wandte und stattdessen die friedliche Nutzung des Spaltmaterials der Kernwaffen beschwor, sowie eine Reihe spektakulärer Forschungsergebnisse ließen ihn innerhalb weniger Jahre zu dem Ausnahmewissenschaftler werden, den Ulbricht schätzte und den jeder DDR-Bürger kannte.«1889 Die Beschlüsse des Politbüros vom 2. November und des Ministerrates vom 10. November »über Maßnahmen zur Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke« waren Geheime Regierungssachen. Stoph besaß hierfür die Verantwortung. Mit den Beschlüssen wurden errichtet: der Wissenschaftliche Rat (WR) für die friedliche Anwendung der Atomenergie (a), das AKK (b) mit einem eigenen Wissenschaftlich-technischen Rat (c), das ZfK (d) sowie die Fakultät für Kerntechnik an der TH Dresden (e). An der Fakultät gab es einen sogenannten 1886  Vgl. Tagung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR über die friedliche Ausnutzung der Atomenergie, 5. Bde. Berlin 1957. 1887  Vgl. Toptschijew: Nutzung Atomenergie, in: Neues Deutschland vom 9.3.1955, S. 6; Atomwissenschaftliche Beratung in Dresden, in: Neues Deutschland vom 2.9.1955, S. 1 f.; DDR-Atomenergie, in: Neues Deutschland vom 12.11.1955, S. 1; Wissenschaftlicher Rat für Atomenergie, in: Neues Deutschland vom 12.11.1955, S. 2. 1888  Abt. VI/2 vom 14.12.1955: Bericht der KP Havemann am 13.12.1955; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 2, Bl. 7–10, hier  9. Vgl. Ardenne, Manfred von: Deutsche Kernphysik, in: Neues Deutschland vom 7.12.1955, S. 3. 1889  Barkleit: Manfred von Ardenne, S. 152. Barkleits Buch liegt recht quer zur allgemeinen Überlieferung. Er würdigt Ardenne als »den namhaftesten« (S. 156), den einzigen, »der nicht nur sich selbst und seine Fachkompetenz der DDR zur Verfügung stellte« (S. 169).

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Ausbildungs-Kern-Reaktor (AKR-1). Es handelte sich hierbei um einen thermisch homogenen feststoffmoderierten Null-Leistungsreaktor. Neben dem AKW zählten 1959 sechs Institutionen zum AKK, darunter Hartmanns Vakutronik. Dem WTR gehörten elf Mitglieder unter Vorsitz Barwichs an: u. a. Rompe, Wittbrodt, Born, Rexer, Weiss und Richter.1890 Der Wissenschaftliche Rat (WR) konstituierte sich unter Hertz als Vorsitzendem am 9. Dezember. Von den 21 Personen waren elf Physiker, davon waren lediglich vier mit Fragen der Kernphysik sehr vertraut (Barwich, Born, Hartmann und Hertz). Im Mai 1962 kam Bertram Winde (Leiter der HA Forschung und Entwicklung des AKK) hinzu; Rambusch wurde als Sekretär des WR abberufen. Mit der Bildung des WR wurde aus dem Forschungsrat die Kernenergie ausgegliedert. Der WR diente vornehmlich der Information und Beratung des Ministerrates. Die Bedeutung des WR war laut Müller eher eingeschränkt, zu den Mitgliedern zählten auch Hager, Selbmann und Rambusch.1891 Das im November 1955 auf Beschluss des Ministerrates zum 1. Januar 1956 geschaffene AKK hatte weit größere Bedeutung als der WR. Ihm wurde zugleich das Zentrum für Kernforschung (ZfK) unterstellt. Das AKK hatte die Aufgabe der Koordinierung und Kontrolle der Betätigung auf den Feldern der Kernforschung und -technik. Es wurde mit Beschluss des Präsidiums des Ministerrates vom 4. Oktober 1956 als selbstständiges zentrales staatliches Organ des Ministerrates etabliert. Damit war Stoph diesen Verantwortungsbereich los. Fortan zeichnete Selbmann, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates, für die Fragen von Kernforschung und -technik verantwortlich. Das 1. Statut des AKK datiert vom 21. Februar 1957. »Neben der Bestätigung der Funktionen des Leiters und des Wissenschaftlich-technischen Rates wurde das Kollegium des Amtes als beratendes Organ des Leiters ›in allen wichtigen Fragen (gemäß der Verordnung vom 17. Juli 1952 über die Bildung der Kollegien)‹ institutionalisiert«. 1958 ist dem AKK Steenbecks Wissenschaftlich-technisches Büro für Reaktorbau (WTBR) angeschlossen worden.1892 Auch das ZfK Rossendorf ist am 1. Januar 1956 gegründet worden. Sein Statut (Anordnung Nr. 1 vom 3. Juli 1957, GBl. 1957, S. 309) ist vom Leiter des AKK im Einvernehmen mit dem Minister für Finanzen erlassen worden. Das ZfK war »›als selbstständige wissenschaftliche Einrichtung juristische Person‹«.1893 Das Aufgabenspektrum war breit und eher allgemein. Eingerichtet wurde auch ein Kuratorium. Der Rossendorfer Ringzonenreaktor (RRR) war eine Eigenentwicklung der DDR. Er diente als sogenannter Forschungsreaktor reaktorphysikalischen Untersuchungen von 1962 bis 1991. Am 4. Januar 1956 hatte Offizier Kairies ein Gespräch mit dem Leiter des AKK Rambusch zur Umsetzung der Einstellung von Offizier Mittag in das AKK. 1890  Vgl. Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 24, 28 u. 118. 1891  Vgl. ebd., S. 24 f. 1892  Ebd., S. 27. 1893  Ebd., S. 93.

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Er wurde als Technischer Leiter zum 15. Januar eingesetzt. Rambusch bekam einen kurzen Lebenslauf und einen Fragebogen zu ihm, beides übergab er auf Anweisung Barwich. Rambusch hatte gebeten, hierüber Stoph zu informieren, »damit er bei eventuellen Aussprachen mit Dr. Barwich informiert« sei.1894 Der Staatssicherheitsdienst verortete sich also bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt direkt im Verwaltungsbereich. Karl Weidensporn* (alias »Edith« für die sowjetische Abwehr) berichtete am 16. Februar dem MfS über die Situation im Institut für physikalische Stofftrennung (IpS) von Mühlenpfordt; es ging um den zu zögerlichen Aufbau des Institutes. Weidensporn* war der Auffassung, dass der Aufbau »festgefahren« scheine. Man scheue sich, die veranschlagten sieben Millionen DM zu bewilligen. Die Organisation lag in den Händen des Mitglieds des Rates für Atomenergie Eberhard Leibnitz, dem Weidensporn* die fachlich notwendigen Kenntnisse absprach, der jedoch aus Prestigegründen gern mitmache: »so werde er nicht das Interesse haben, diese zzt. noch seinem Institut angehörende Abteilung in ein selbstständiges Institut mit überzuführen zu helfen«. Es müsse mehr Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden, dafür aber habe Mühlenpfordt »nicht die notwendige Routine. Man müsse es so machen wie Ardenne.«1895 Neben dem inoffiziellen Niedermachen von Personen auch hier Material- und Gerätesorgen, wohin man auch sah. Weidensporn* benötigte für den Bau eines Massenspektrometers einen Wellenmesser vom Typ 121 vom RFT-Funkwerk Erfurt. Doch das Werk lieferte nicht, da »sämtliche Geräte von der KVP [Kasernierte Volkspolizei] geschluckt« würden.1896 Barwich berichtete am 17. März Offizier Kairies. Das Gespräch fand im Vorfeld seiner bevorstehenden Reise zusammen mit Hertz nach Moskau statt. Auf der Moskauer Konferenz werde beschlossen werden, so Barwich, dass alle am Aufbau einer nationalen Kernenergie beteiligten sozialistischen Länder ständige Delegierte nach Moskau zu entsenden hätten zwecks Koordination der Arbeiten. Er könne allerdings keine Namen nennen, da es keine gebe. Lediglich Thiessen und S­ teenbeck kämen infrage, die aber weilten noch in der Sowjetunion. Sie müssten also freigegeben werden. Steenbeck sei der geeignetere der beiden, er sei wissenschaftlich anerkannt und bewiesen sowie loyal. Barwich machte sich überdies Gedanken, wer in der DDR für den Aufbau infrage käme, er nannte für einen »Dreierkopf« Steenbeck, Schintlmeister und sich selbst.1897 Das war fachlich real. Der Mangel an Kern­physikern in der DDR wurde erneut am 29. März von ihm angesprochen. Er machte den Vorschlag, die Kernphysiker Heinz Pose und Robert Döpel zu benennen, jedoch auch die weilten noch in der Sowjetunion.1898 Barwich hatte eine 1894  Abt. VI/2 vom 5.1.1956: Bericht; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 13. 1895  Ohne Kopfangaben: Aktennotiz; BStU, MfS, BV  Leipzig, AIM  271/85, Teil  I, 1  Bd., Bl. 30. 1896  BV Leipzig vom 7.4.1956: Aktennotiz; ebd., Bl. 31. 1897  Abt. VI/2 vom 17.3.1956: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 17.3.1956; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 28 f. 1898  Vgl. Abt. VI/2 vom 29.3.1956: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 29.3.1956; ebd., Bl. 30 f.

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hohe Meinung von den fachlichen Qualitäten Steenbecks. Im April 1956 zeigte er sich zuversichtlich, dass er für die DDR gewonnen werden könne.1899 Eine Delegation des AKK weilte Anfang 1956 zum Abschluss des Vertrages zur Bildung des Ost-Institutes in Moskau. Nach Ansicht des Berichterstatters hatte sich die Delegation nicht als Ganzes verhalten. Hartmann, Barwich und Weiss hätten sich abgesondert. Dies bezog sich nicht nur auf die Gestaltung des Tages, sondern auch in Einzelfragen. Auch hätten sie versucht, »unter allen Umständen« die noch in der Sowjetunion weilenden Professoren Thiessen und Pose »schnellstens in die DDR« zurückzuholen. »Besonders Dr. Hartmann« sei »in feindlicher Form in Erscheinung« getreten. Er soll »die Russen« und »Russland« ständig verächtlich gemacht haben. Hartmann und Barwich sollen sich sofort nach der Ankunft in Moskau abgesondert haben und mit den Söhnen von Thiessen, aber auch mit Sowjetbürgern gesprochen haben. »Die Spaltung innerhalb der Delegation« habe »sich im Laufe der Zeit dahingehend« ausgewirkt, »dass Barwich und Hartmann sich entfernten, sobald ein Genosse aus der Delegation zu ihnen« gekommen sei. »Sie stellten sich entweder in eine Ecke« oder »setzten sich an einen Nebentisch, wo sie ihre Unterhaltung fortsetzten.«1900 Einen ständigen Vertreter im Ost-Institut würden nach Hartmanns Ansicht die ehemaligen SU-Spezialisten nicht befürworten, »da man dies als Verrat an den deutschen Wissenschaftlern« werten werde. Hartmann soll hierbei auf Thiessen und Pose gezielt haben. Neben Hartmann, Barwich und Weiss sind in dem Bericht lediglich noch Hertz und Alfred Eckardt1901 namentlich genannt.1902 An seinen Vater schrieb Hartmann nach Rückkehr in Dresden, dass der Aufenthalt in der Sowjetunion »hochinteressant« gewesen sei, »erstaunlich« sei, »was die Russen für gewaltige kernphysikalische Maschinen gebaut« hätten. »Größer als sie die Amerikaner besitzen.«1903 Eine Anekdote: Am 31. Mai fand eine »Unterredung« mit Barwich statt (wer sie mit ihm führte, ist der Quelle nicht zu entnehmen), bei der er einmal mehr auf die 1899  Vgl. Ohne Kopfangaben: Notiz von Major Treßelt anlässlich eines Gespräches zwischen Generalmajor Last und Rambusch am 12.4.1956; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 26. 1900  Ein Schreiben mit der Nr. 30 und den Buchstaben E. S. vom 5.4.1956: Bericht über die Delegation des Amtes für Kernforschung, welche zum Abschluss des Vertrages zur Bildung des Ost-Institutes in Moskau weilte; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 14–16, hier 14 f. 1901  (1903–1980). Promotion 1930 an der Universität Kiel, Habilitation 1936. 1937–1940 Röntgenröhrenwerk Siemens Rudolstadt, 1940–1944 Deutsche Seewarte Hamburg, 1944–1945 KZ Emslandlager Papenburg. Ab 1947 Leiter des PTI, 1949 Lehrstuhl für Angewandte Physik. »Obwohl« er im KZ war, so das MfS, habe »er daraus keine Lehren gezogen, sondern steht unserem Staat sogar negativ gegenüber. Aussprachen mit uns lehnt er strikt ab, verbietet sogar das Betreten seines Instituts durch unseren Mitarbeiter.« Abt.  VI vom 1.6.1957; BStU, MfS, HA  XVIII, Nr. 10584, Bl. 4 f. 1902 Vgl. Schreiben mit der Nr. 30 und den Buchstaben E. S. vom 5.4.1956; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 14–16, hier 15 f. 1903  Abschrift eines Briefes von Hartmann an seinen Vater vom 1.4.1956; ebd., Bl. 17. Über die Mischung von dienstlichen Obliegenheiten mit privaten Begegnungen bei Dienstreisen siehe auch Friedreich, Sönke: Urlaub und Reisen während der DDR-Zeit. Zwischen staatlicher Begrenzung und individueller Selbstverwirklichung. Dresden 2011, S. 140–146.

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Notwendigkeit der Praxiserfahrung für die Arbeit in Forschung und Entwicklung verwies. Das sei bei ihm und seinen Lehrern Hertz, Volmer und Richard Becker der Fall gewesen. Bei den jüngeren Fachkollegen heute, wie Macke, sei es nicht mehr so. Das sei, so Barwich sinngemäß, ein gravierender Mangel. Barwich soll sich etwa wie folgt ausgedrückt haben: »Alle diese Fragen müssten Fritze [so der von ihm stets genannte Stellvertreter des Ministerpräsidenten] Selbmann einmal richtig auseinandergesetzt werden und zwar von kompetenter Seite – ich bin dazu nicht befugt und auch zu jung. Fritze Selbmann kann das nicht wissen. Für ihn ist Physiker = Physiker, also auch Ardenne = Barwich. So ist das nicht! Und hierzu brachte er wieder einen Vergleich. Musiker ist auch nicht Musiker. Der eine ist ein geschulter Mann, der die Noten liest und schreibt und der andere ist auch ein Musiker – ein Volksmusiker, der auf jedem Bockbierfest die Leute ablenkt, manchmal sogar sehr gut unterhält. Das ist meine Überzeugung, ganz von meiner politischen Einstellung zu Ardenne abgesehen – rein objektiv. Das Tragische aber ist, dass das keiner ›oben‹ richtig auseinandersetzt. Professor Hertz ist eben kein Kämpfer. Er war es früher nicht, drüben nicht und hier auch nicht. Er ist mit seinem Lehrstuhl und Teilgebiet der Wissenschaft zufrieden, macht das sehr gut und aus.«1904 In einem Gespräch des MfS mit Barwich am 23. Juni kam man überein, dass es geraten scheine, nicht an der Londoner Konferenz aufgrund der aktuellen politischen Anschuldigungen teilzunehmen. Barwich stimmte dem zu. Steenbeck aber werde seinen Kopf durchsetzen. Und »die jungen Leute« würden auf der Konferenz »nicht in der Lage« sein, »der ausgeprägten bürgerlichen Etikette« zu entsprechen. Winde habe bereits zwei Genossen vorgeschlagen, sie hätten Auslandserfahrungen. Am 23. Juni beklagte sich Barwich bei Offizier Treßelt, dass die Wohnungsangelegenheit in Dresden sich immer noch hinschleppe. Seine Wohnung in Berlin, Stalinallee, würde gern Werner Schauer  – den wir oben in beiden Hauptkapiteln begegnet sind – übernehmen.1905 Am 29. Juni berichtete Barwich dem Offizier Kairies, dass er mit Selbmann in Moskau gewesen sei. Man habe über die »Rückführung der Spezialisten« Thiessen und Steenbeck »gesprochen«. Thiessen werde in Berlin-Adlershof ein Institut bekommen, das sich mit physikalischer Chemie befassen solle. Und Steenbeck werde wohl Wissenschaftlicher Direktor des aufzubauenden Atomkraftwerkes werden. Barwich kritisierte Selbmanns Erklärung, wonach das Atomkraftwerk 1960 fertiggestellt sein werde. Somit könne der Westen mit Abwerbungen reagieren. Steenbeck wolle jedoch zuvor »mit seiner Familie nach Westdeutschland« reisen, »um Bekannte zu besuchen«. Um eine Abwerbung der beiden zu verhindern »wurde festgelegt, dass vonseiten der sowjetischen Regierung folgende Personen mit ihnen sprechen werden: Gen[osse] Mikojan, Gen[osse] Perwuchin und Gen[osse] Malichew«. Döpel

1904  Unterredung mit Barwich am 31.5.1956; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 36 f. 1905  MfS, Treßelt: Gespräch zwischen dem MfS und Barwich am 23.6.1956; ebd., Teil  I, 1 Bd., Bl. 32 f.

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könne übrigens die Sowjetunion »sofort« verlassen, »wenn es die Regierung der DDR wünscht«. Letztere Information stammte von Kairies selbst.1906 Der Plan, Steenbeck für die DDR zu gewinnen, reifte im Sommer. Das MfS rechnete ihn zur internationalen Spitzenklasse; gewänne man ihn, würde dies auch »ein Prestigegewinn gegenüber Westdeutschland« bedeuten, so Offizier Kairies von der Abteilung VI/2 am 20. Juli.1907 Tatsächlich setzte ein heftiges Ringen um dessen künftige Wahlheimat ein.1908 Am 14. September traf sich Hans Wittbrodt mit Kairies. Besprochen wurde der Besuch der Physikertagung in München, die kurz zuvor stattfand. Dort habe er Steenbeck entdeckt, ihn aber nicht angesprochen.1909 Auf der 5. Tagung des Wissenschaftlichen Rates (WR) am 15. Dezember wurde die Bildung von Fachkommissionen beschlossen. Hans-Joachim Born leitete die Isotopen-Kommission, Hartmann die Geräte-Kommission, Havemann die Abfall-Kommission, Gerhard Harig jene für Nachwuchs- und Ausbildungsfragen. Zeitlicher Vorgriff: Die Kommission Kernenergie konstituierte sich am 29. Januar 1960. Ihr Vorsitzender wurde Hertz. Mitglieder waren u. a. Barwich, Fuchs, Rompe, Rambusch, Steenbeck, Thiessen und Winde. Am 17. Juli 1962 ist die Kommission umgebildet worden. Sie wurde in den Vorstand des WR kooptiert. Aufgrund der Krise der Atomtechnik in der DDR konstituierte sich der WR am 16. September 1963 neu. Hierfür war der Beschluss des Ministerrates vom 19. Dezember 1962 bestimmend. Nicht mehr dem Ministerrat zuarbeitend, wurde der WR nun Gremium des Forschungsrates. Damit erhielt der Forschungsrat die Kernenergie zurück. Oberstes Organ wurde nun ein Plenum, das zweijährig tagte. Ihm gehörten Hertz als Vorsitzender, Barwich, Faulstich, Fuchs, Markowitsch, Müller, Rompe, Schwabe, Steenbeck, Wyschofsky und als Sekretär Schumann an. Rambusch, nicht mehr Leiter des AKK, war ständiger Gast.1910 Müller nennt folgende Probleme beim Aufbau von Reaktor und Zyklotron per Ministerratsbeschluss vom 10. November 1955 in aufsteigender Wertigkeit: die Geheimhaltung, die Lieferprobleme durch die Sowjetunion und die enormen Lieferschwierigkeiten aus dem Dienstleistungssektor der DDR. Im September 1956 wurde deutlich, dass der ursprüngliche Fertigungstermin nicht mehr gehalten werden konnte. Nicht mehr im Mai wie geplant, sondern erst Ende Dezember.1911 Das Richtfest für das Reaktor-Institut des ZIK fand am 23. November statt. Barwich lud Hartmann mit Schreiben vom 17. November hierzu ein.1912 Am 14. Dezember 1906  Abt. VI/2 vom 2.7.1956: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 29.6.1956; ebd., Teil II, 1 Bd., Bl. 39–41. 1907  Abt. VI/2 vom 20.7.1956: Plan zu Maßnahmen zu Steenbeck und Thiessen; BStU, MfS, AP 2866/87, Bl. 41–45. 1908  Vgl. Konvolut von Belegen und Hinweisen zwischen 1956 und 1959; ebd., Bl. 46–92. 1909  Vgl. Abt. VI/2 vom 14.9.1956: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 14.9.1956; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 43–47. 1910  Vgl. Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 26. 1911  Vgl. ebd., S. 95 f. 1912  Vgl. Schreiben von Barwich an Hartmann vom 17.11.1956; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 37, Bl. 46.

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ist dann »der letzte Schritt zum Aufbau des ersten Forschungsreaktors«, der Einsatz der »Uranstäbe in die aktive Zone«, so Barwich in einem Vortrag am 16. Dezember in Dresden, vollzogen worden.1913 Doch volle Leistung erreichte der Rossendorfer Forschungsreaktor (RFR) erst am 5. November 1958. Das Zyklotron, ein Fest­ frequenz-Zyklotron vom Typ U-120, war im Frühjahr 1958 fertiggestellt worden. Am 24. April 1958 konnten erstmalig Ionen beschleunigt werden. Der RFR war ein Serien-Reaktor des Tank-Typs WWR-S mit einer Leistung von 2 000 kW (Modera­ tor, Reflektor und Kühlmittel waren »leichtes« Wasser, der Brennstoff Uran war auf 10 Prozent an U235 angereichert). Der im sowjetischen Institut für Atomenergie »I. W. Kurtschatow« (IAE) hergestellte Typ eignete sich lediglich für kernphysikalische und festkörperphysikalische Experimente.1914 Zum Standort Leipzig: Weidensporn* berichtete am 30. November einmal mehr zum Stand des Aufbaus am Institut Mühlenpfordts. Seine Mitarbeiter hätten bereits Kenntnis erhalten, dass der für 1957 geplante Bau nicht zustande komme, »weil keine Mittel zur Verfügung« stünden. Nur Mühlenpfordt wisse es noch nicht: »Kein Funktionär traut sich«, ihn zu informieren. Es werde nun nicht mehr möglich sein, die »Anlage für die Großherstellung von D2O aufzubauen«. Ferner mangele es an Messgeräten für das Detektieren der Menge des hergestellten Deuteriums. Es sei ungewiss, ob man die Geräte von der westdeutschen Firma Atlas beziehen könne.1915 Das Wissenschaftlich-technischen Büro für Reaktorbau (WTBR) ist von Steenbeck aufgebaut worden. Zunächst Anfang 1957 noch als »Gruppe Steenbeck« bezeichnet, dann im Juli 1958 als selbstständiger Bereich im AKK. Es zeichnete zuständig für die Entwicklung und Beratung (von Kooperationspartnern) und zukünftige Nutzung von Kernkraftwerken. Es ist zum 31. Dezember 1960 wieder aufgelöst worden infolge von größeren organisatorischen Veränderungen hinsichtlich Rheinsbergs.1916 Havemann berichtete am 18. Januar 1957 dem MfS, dass er noch am selben Tag zum AKK bestellt worden sei. Dem Vernehmen nach sollte er und ein weiterer Wissenschaftler »den Vorsitz in der zu bildenden Regierungskommission für Strahlenschutz übernehmen«. Die »dem AKK unterstellten Fachkommissionen auf dem Gebiet der Kernenergie« würden »umgebildet, erweitert und unmittelbar der Regierung der DDR unterstellt werden«.1917 Anlässlich der Bildung des Dresdener Klubs soll Barwich am 12. April in Leipzig zu Offizier Kairies gesagt haben, »dass die guten und die dem Staat treu ergebenen Wissenschaftler durch ihre Arbeitsüberlastung nicht dazu kommen, diesen Klub zu besuchen, dadurch werden die weniger belasteten Wissenschaftler Gelegenheit 1913  Barwich: Das Zentralinstitut für Kernphysik, S. 7. Barwich: Das rote Atom, S. 184 f. 1914  Vgl. ebd., S. 24 sowie Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 97 f. 1915  BV Leipzig, Abt. VI, vom 1.12.1956: Bericht von »Senftleben« am 30.11.1956; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 271/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 14 f. 1916  Vgl. Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 30. 1917  Abt. VI/2 vom 18.1.1956: Bericht von »Leitz« am 18.1.1956; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 2, Bl. 48–51, hier 50.

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haben, unkontrollierte Gespräche zu führen.« Es ist gut möglich, dass Barwich dies ironisch meinte, denn das war oft seine Art. Kairies: »Auf den Hinweis, dass er selbst diesen Klub zu besuchen hat, kam er mit allen möglichen Ausflüchten.«1918 Die erste nachweisbare Auslandsdienstreise Barwichs fand vom 23. bis 27. April nach Amsterdam zum internationalen Symposium für Isotopentrennung statt.1919 Kairies sprach mit Barwich am 19. Juni in Dresden. Barwich war erzürnt und sprach davon, am 24. Juni nach Berlin zur Ratstagung des Wissenschaftlichen Rates fahren zu müssen und dort quasi aufgefordert sei, die Unwahrheit zu sprechen. Deshalb wolle er bereits am 21. Juni nach Berlin fahren und vorab eine »ernste Aussprache« führen. Grundlage sei eine Ausarbeitung Rambuschs, die er nicht akzeptieren könne, er wolle sich »als Wissenschaftler nicht zum Gespött anderer machen und Behauptungen aufstellen, die man mit den jetzigen Kräften überhaupt nicht durchführen« könne. Selbmann könne diese Dinge selbst vorstellen, »aber nicht ihn für Propagandarummel verwenden«. Der sei in letzter Zeit mehrfach zu Fragen der Kernphysik unseriös aufgetreten. »Den Entwurf, den er vom Genossen Rambusch erhalten hat«, habe er mit Hartmann und Born »abgesprochen, die sich seiner Meinung angeschlossen« hätten. Bislang habe man stets Propaganda getrieben, erst hieß es, dass das Zentralinstitut am 31. Dezember 1956 fertig werde, dann Mitte Juni 1957 und nun Anfang bis Mitte 1958. Kairies informierte Offizier Treßelt über die Absicht Barwichs, am 21. Juni nach Berlin zu fahren, damit der Rambusch vorwarne. Und dann noch dies: Demnach habe Schintlmeister ihn, Barwich, informiert, dass Mitarbeiter der sowjetischen Dienststelle versucht hätten, ihm zu Aufklärungszwecken zu westlichen Wissenschaftlern zu nutzen. Schintlmeister will dies abgelehnt haben. Erst wolle er mit Rambusch darüber reden. Das MfS gab ihm hierfür grünes Licht. Rambusch habe ihm daraufhin gesagt, dass er das Angebot nicht annehmen solle. Barwich wurde von Kairies hierüber informiert.1920 Aus einem Vortrag Hartmanns am 20. Juni ist zu zitieren: »Offensichtlich haben wir den Umgang mit der Technik noch nicht gelernt.« Atomexplosionen seien »der schlagendste Beweis für den infantilen Charakter der technischen Zivilisation auf der Erde. Nicht einmal, wenn es an das eigene Leben geht, können sie das Spielen lassen. Wir müssen uns einsetzen, dass das Spielen aufhört.« Hans Joachim Hanisch alias IM »Rüdiger« (Kap. 4.1 sowie MfS-Spezial I u. II) kommentierte anderthalb 1918  Abt. VI/2 vom 12.4.1957: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 12.4.1957; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 53 f., hier 53. 1919 Vgl. SFT: Gutachten über die wissenschaftlich-technische Tätigkeit Barwichs vom 25.6.1965; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 265–305, hier 299. Zur internationalen Tagung fuhren neben Barwich Justus Mühlenpfordt und Fritz Bernhard, in: Barwich, Heinz: Bericht vom 19. oder 20.6.1957; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 63–69. 1920  Abt. VI/2 vom 20.6.1957: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 19.6.1957; ebd., Bl. 56–62. Mit dem Realismus hatte Rambusch offenbar ein Problem. Sebastian Stude fand einen Beleg, wonach Rambusch 1989 (!) zur Begegnung der Energiekrise eine Kraftwerkskapazität bis 2040 von 32 000 Megawatt Kernenergie empfahl, was circa 72 Reaktoren des KKW Greifswald entsprochen hätte; vgl. ders.: Strom für die Republik. Die Stasi und das Kernkraftwerk Greifswald. Göttingen 2018, S. 19.

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Jahrzehnte später, dass Hartmann hier »mit keinem Wort eine Verurteilung dieser Verbrechen, kein politisches Engagement!« gegen den Westen erkennen ließ.1921 Am 2. Juli ist Havemann von Offizier Reichert an Offizier Richter (zurück-)übergeben worden. Die Übergabe an Reichert war am 23. November 1956 erfolgt. Die neuerliche Übergabe fand in der Wohnung Havemanns statt und dauerte maximal nur eine halbe Stunde.1922 Die Sache mit Born schliff sehr. Havemann lieferte kein Ergebnis. Am 27. September konnte er nur mitteilen, dass er ihn seit längerer Zeit nicht mehr getroffen habe. Er wolle dies aber nach Mitte Oktober erneut ins Auge fassen.1923 Vom 21. Oktober ist ein Bericht des Staatssicherheitsdienstes zu den Stimmungen unter den Kernphysikern der DDR überliefert. Der vierseitige Bericht ist von Günther Jahn und dessen Vorgesetzten Eduard Switala unterschrieben. Das MfS machte einen Stimmungsumschwung infolge der politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen der DDR-Regierung aus, die bei ihnen »auf Ablehnung stoßen oder verleugnet« würden. Dass sei beachtenswert in Sonderheit bei Hertz und Barwich, da diese bislang nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion mit einer »außerordentlich loyalen Einstellung« zur Sowjetunion und DDR aufwarteten. Da man davon ausgehe, dass dies keine Einzelfälle seien, müsse die »negative Meinungsbildung unter den Wissenschaftlern der Kernforschung« überprüft werden. Barwich etwa beklage, »dass unsere Wissenschaftler zu sehr kontrolliert und in politische Aktionen eingespannt« würden. Zum Einsatz eines Mitarbeiters für Kader und Sicherheit neben dem schon vorhandenen hauptamtlichen Parteisekretär soll er gesagt haben: »Wir kommen uns vor wie bei einer regelrechten Christenverfolgung bzw. Staatssicherheitsbude.« Die Leipziger Professoren Leibnitz und Weiss1924 hätten ihm schon bedeutet, froh zu sein, nicht dem AKK unterstellt zu sein. Noch könnten sie »als ›freie Menschen‹ leben«.1925 Weiss, Direktor des Institutes für angewandte Radioaktivität, habe gesagt: »Ich brauche an meinem Institut keine Politiker, sondern Physiker!«1926 Die Institute von Weiss und Rexer, so Jahn, würden sich gegen die geplante Eingliederung ihrer Institute ab Januar 1958 unter dem AKK sträuben. Das Amt sei ein »Parteiapparat«, wo »sie durch bürokratische Arbeitsweise erdrückt würden«.1927 Hierzu lieferte Jahn ein beeindruckendes Beispiel einer Informationskompression: Hertz soll einen Festvortrag anlässlich des 40. Jahrestages der Oktoberrevolution »mit Verleumdungen gegen die Sowjetunion« abgelehnt und »unsere Regierung« 1921  Hanisch: Zum Persönlichkeitsbild Hartmanns (o. D.); BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 22, Bl. 151–156, hier 151. 1922  Vgl. Abt. VI/2 vom 3.7.1957: Treff bericht vom 2.7.1957; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 2, Bl. 71 f. 1923  Vgl. Abt. VI/2 vom 28.9.1957: Bericht von »Leitz« am 27.9.1957; ebd., Bl. 73–75. 1924 Weiss war beauftragt, das Institut für angewandte Radioaktivität aufzubauen; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 24–27. 1925  Abt. VI vom 21.10.1957: Stimmungen führender Kernphysiker; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 196–199, hier 196. 1926  BV Leipzig, Abt. VI, vom 26.10.1957: Maßnahmeplan; ebd., Bl. 207–214, hier 209. 1927  Abt. VI vom 21.10.1957: Stimmungen führender Kernphysiker; ebd., Bl. 196–199, hier 196 f.

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beschuldigt haben, »die Wissenschaftler zur Republikflucht« zu veranlassen. Warum diese Wissenschaftler sich so verhielten, könne noch nicht »einwandfrei analysiert« werden. »Vermutlich ist Folgendes der Fall: Die bedeutendsten Physiker und besonders die SU-Spezialisten betrachten Professor Hertz und somit Leipzig als ihr Zentrum und treffen sich häufig dort. Da diese Personen infolge ihrer exponierten Stellung kaum einer politischen Betreuung und Erziehung unterliegen, dominiert bei diesen Zusammenkünften die bürgerliche Ideologie.« Dazu geselle sich eine Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage in der DDR, die die Genannten wegen ihrer Westbesuche besonders bemerkten. »Das Konzentrat negativer Ansichten« sammle sich bei Hertz, der dieses an Barwich, Weiss und Rexer »weitergebe«. Bernhard Kockel, der »bereits mehrfach negativ in Erscheinung getreten« sei, sei ein »Günstling« von Hertz, er sei »vermutlich an dessen negativer Meinungsbildung aktiv beteiligt«. »Darüber hinaus« sei »der Einfluss des Leipziger Philosophen Bloch auf die Meinungsbildung der Intelligenz nicht zu unterschätzen.«1928 Es folgte der Plan des MfS zur Erforschung der Verbreitung dieser negativen »Epidemie« (Aufklärung der Verbindungskreise, Inhalt und Charakter der Gespräche, Rolle wissenschaftlicher Gremien etc.). Vorgesehen war hierzu der Einsatz von fünf Geheimen Informatoren (GI), unter ihnen Havemann alias GI »Leitz«, Hans Frühauf alias GI »Rembrandt«, einer sogenannten Kontaktperson (KP) und dreier weiterer Personen, die man in offiziellen Gesprächen abschöpfen wollte, zum Beispiel Rompe und Rambusch. Aus den direkten Auftragskonzeptionen ist zu zitieren; unter Punkt 2 zu Rompe: »Rompe erhält den Auftrag eine Berufung des Professor Kockel an die Humboldt-Universität zu überprüfen. Bei dem dazu notwendigen Gespräch mit Professor Hertz ist das Verhältnis zwischen beiden zu analysieren.« Der wahre Anlass des Gespräches dürfte Rompe verborgen geblieben sein. Unter Punkt 4: »Die GI ›Rembrandt‹ und ›Leitz‹, Mitglieder im Vorstand der Physikalischen Gesellschaft, werden zur Erarbeitung eines Überblicks über die politische Situation bei und um Hertz und zur positiven Beeinflussung eingesetzt. Ihre Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, den Einfluss feindlicher ideologischer Strömungen festzustellen und zu bekämpfen.« Unter Punkt 5 wurde festgehalten, dass ein GI zu prüfen habe, »inwieweit die Unterstützung« Ardennes durch den Staat »für die negative Meinungsbildung« bei gewissen Wissenschaftlern »ausschlaggebend« sei, besonders hinsichtlich der SU-Spezialisten. Und unter Punkt  6: Rambusch und eine weitere Person »werden zur Aufklärung des Leipziger Kreises« um Hertz und zu dessen »positive Beeinflussung eingesetzt.« Schließlich unter Punkt 7: »Es wird vorgeschlagen, dass die politische Betreuung der betreffenden Wissenschaftler durch die Abteilung Wissenschaft des ZK verbessert wird.«1929 Jahn hatte diesen Plan nach einem Bericht von Zeiler, ZK der SED, verfasst, der seinerseits eine Aussprache mit Barwich über dessen Weigerung, einen Parteisekretär in seinem Institut akzeptieren zu müssen, am 16. Oktober geführt hatte. Aus dem 1928  Ebd., Bl. 196. 1929  Ebd., Bl. 197–199.

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Gespräch mutmaßte Friedrich Zeiler, dass Barwichs politische Negativität von Hertz und dem Leipziger Kreis »ernsthaft« herrühren könne. Zeiler führte Bespiele von Aussagen Barwichs an; etwa: »Barwich erzählte mir, dass er am Tage des gelungenen Startes des 1. Erdsatelliten seiner Frau zu Hause gesagt habe, in diesem Kollektiv hätte bestimmt kein Parteisekretär etwas mitzureden, sonst hätte der Sputnik bestimmt nicht starten können.« Barwich soll eine ganze Reihe von elementaren und allgemeinen Vorbehalten gegen den Parteisekretär des ZfK, Alfred Hoffmann, vorgebracht haben, etwa: er könne »nicht verstehen, welches Recht der Parteisekretär dazu hätte, während der Arbeitszeit mit bestimmten Mitarbeitern, vor allem natürlich Genossen, Aussprachen durchzuführen«. Dieser Hoffmann sei ihm suspekt, auch in seinem Umgang mit Kollegen, auch soll Barwich hierzu Beispiele gegeben und erwähnt haben, dass Hoffmann eben mit Leuten umspringe wie er wolle, was ihn nicht wundere, denn der sei ja ein »ausgesprochener Militarist«, Berufssoldat, Stabsfeldwebel und Mitglied der NSDAP gewesen. Generell habe Barwich gefragt, warum er, wenn er schon einen von der Staatssicherheit »für Fragen der Beobachtung und Überwachung« habe, nun auch noch einen hauptamtlichen Parteisekretär erdulden müsse. Er könne »diese physische Belastung nicht mehr länger« aushalten und erwäge »ernsthaft«, seinen Posten zu Verfügung zu stellen.1930 Das Gespräch mit Zeiler bewegte Barwich offensichtlich so sehr, dass er sich genötigt sah, ihm »eigenhändig« zu schreiben, »weil ich vermeiden möchte, dass die Hauptlinie meiner Vorstellung durch allzu viele Einzelheiten verwischt wird und weil ich Ihnen ein Schriftstück in die Hand geben wollte, welches Sie zur offiziellen Behandlung meines Antrages bitte als Unterlage benutzen« mögen. Der Antrag beinhaltete die Forderung der Abberufung Hoffmanns. Das Gespräch hatte ihn in dieser Frage »nicht umgestimmt«. Diesen Entschluss habe er bereits »am Ende vorigen Jahres« mitgeteilt, und dies mit fehlendem Vertrauen begründet. Hoffmann habe es binnen Jahresfrist »nicht vermocht, dieses fehlende Vertrauen zu gewinnen«. Es handele sich »also um einen zweifach gescheiterten Versuch, zu einer erträglichen Zusammenarbeit zu kommen«. Praktisch schüfen die Gespräche des Parteisekretärs mit den Mitarbeitern seines Hauses eine Kluft zu ihm. Er akzeptiere nicht den immer gültigen Beschluss der SED-Bezirksleitung, einen hauptamtlichen Parteisekretär bei ihm installiert zu haben. Dies könne man auch ändern. Das zeige die Geschichte der Kommunistischen Partei (KP). Selbst wenn Hoffmann seine Haltung ändern werde, es scheine ihm unmöglich, dass es je »zu einem guten Verhältnis« kommen könne. Auch einem neuen Parteisekretär werde dies nicht gelingen, »solange die Parteiorganisation sich hinter verschlossenen Türen mit Institutsproblemen befasst, ihren Mitgliedern Schweigen und besondere Verbote bezüglich des – ich betone – dienstlichen Verkehrs mit dem Leiter auferlegt, und solange noch ein Genosse den andern (beides Arbeiter!) wegen einer parteifeindlichen Äußerung telefonisch bei der Parteileitung zu melden, sich veranlasst fühlt.«1931 1930  Aussprache mit Barwich am 16.10.1957; ebd., Bl. 203–206. 1931  Schreiben von Barwich an Zeiler vom 20.10.1957; ebd., Bl. 200–202.

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Zeiler war vom ZK der SED; seine Informationen gelangten zum MfS und mündeten dort zusammen mit den Informationen der Abteilung VI des MfS (Jahn) in einen umfänglichen Maßnahmeplan »zur Überprüfung der feindlichen Einflüsse um Professor Hertz« mit Datum vom 26. Oktober. Der achtseitige Beitrag trägt im Wesentlichen alle bereits oben genannten Fakten zusammen, angereichert mit biografischen Daten und Einschätzungen zu den erwähnten Wissenschaftlern. Etwa zu Kockel, der 1947 von Westberlin nach Leipzig kam, eine enge Verbindung zu Heisenberg und 1956 zwölf Thesen verfasst habe, die »in sehr krasser und offener Form gegen« die SED gerichtet seien.1932 Barwich äußerte sich gegenüber Switala und Jahn am 12. November u. a. zur akuten Frage eines Parteisekretärs im ZfK. Gegenüber dem jungen Hoffmann verspüre er eine Abneigung, er werfe ihm »Horcherei und Schnüffelei vor«. Er habe den Eindruck, »bevormundet und kontrolliert« zu werden. Barwich vertrat die Auffassung, »dass der Block der Parteilosen zu stärken« sei und »ein Parteisekretär erst dann notwendig« werde, »wenn das Institut zu groß ist«, wenn »er sich nicht mehr um jede Person kümmern« könne.1933 Am 15. November fand im Physikalischen Institut der Universität Leipzig ein kernphysikalisches Kolloquium statt. Das war drei Tage nach der Flucht Hans-­ Joachim Borns, der, so wurde kolportiert, nicht aus finanziellen, sondern aus ideologischen Gründen in den Westen gegangen sei. Schintlmeister soll gegenüber Weidensporn* geäußert haben, dass sich Born niemals wie Ardenne verhalten hatte, »der nur Propagandareden halten würde«. Sein Satz »Wer ist der Nächste?«, erinnert an jenen von Hartmann im Dresdener Klub geäußerten (siehe S. 101). Im Podium nach dem Kolloquium kamen dann Hertz, Weiss, Rambusch, Mühlenpfordt und Bernhard zusammen. Es fehlte Barwich. Der soll sich mit einer »beleidigenden Äußerung« den Unmut herbeigezogen haben. Bezüglich des Starts von Sputnik 1 soll er gesagt haben: »Nun« habe »endlich die« Sowjetunion »zwei zuverlässige Satelliten.«1934 Am 7. Dezember erfuhr das MfS von Rambusch, dass Barwich die Einstellung von SED-Genossen rigoros ablehne. Anders wie Hertz, der »wörtlich« gesagt haben soll: »Wenn ich die Möglichkeit habe, zwischen einem Parteimitglied und einem Parteilosen bei fachlich gleichem Niveau zu wählen, dann nehme ich das Parteimitglied, denn dann habe ich ja viel mehr Ruhe.«1935 Aber Hertz mag es ironisch gemeint haben: es gab ja weit und breit keine Genossen, die wenigstens gleiches fachliches Niveau wie die Parteilosen besessen hätten.

1932  Maßnahmeplan vom 26.10.1957; ebd., Bl. 207–214, hier 207. 1933  Abt. VI/2 vom 16.11.1957: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 12.11.1957; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 76–80, hier 77 f. 1934  BV Leipzig, Abt. VI, vom 6.12.1957: Bericht von »Senftleben« am 3.12.1957; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 271/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 65–70, hier 67 f. 1935  MfS, Treßelt: Gespräch zwischen dem MfS und Rambusch am 7.12.1957; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 82.

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Am 10. Januar 1958 riss Barwich der Geduldsfaden. Gegenüber den Offizieren Herrmann, stellvertretender Leiter der Abteilung VI, und Jahn brachte er »seine endgültige Ablehnung« gegenüber »Hoffmann zum Ausdruck«. Es habe eine offene Konfrontation gegeben, er lehne eine weitere Zusammenarbeit mit ihm strikt ab. Auch gegen Selbmann übte Barwich harte Kritik. Er akzeptiere dessen Schönfärberei und sein Vorpreschen nicht. Er habe Selbmann geschrieben und seine Funktion zur Disposition gestellt. Es sei leider so, »dass es die Regierung in der Behandlung von Wissenschaftlern nicht ernst genug« nehme »und der Meinung ist, mit der Bezahlung sei alles erledigt«. Was Hoffmann mit ihm mache, würde man »mit Leuten wie Steenbeck und Thiessen nicht wagen«. Das »Traurige daran« liege darin, »dass er im Gegensatz zu diesen beiden in seiner Bejahung unseres sozialistischen Systems keinen Gesinnungswandel durchführen musste«. Hoffmann trage auch eine Mitschuld am »Weggang« Borns, jedenfalls habe Hoffmann Born zu sich einbestellt, was sich, so ist diese Passage zu interpretieren, nicht schicke. Jedenfalls soll Born nach den Worten Barwichs gesagt haben: »Der Weg nach den USA ist uns zwar versperrt, aber man kann ja auch an der Peripherie unserer Republik gut arbeiten, ist ungestört und wird nicht in jeder Form gegängelt.« Die beiden Offiziere notierten in Auswertung des Gesprächs, dass Barwich einen niedergeschlagenen Eindruck hinterlassen habe. »Er betrachtet den Parteisekretär und die Parteiorganisation als Organ der Bevormundung und will vom Genossen Selbmann die Frage beantwortet wissen, ob die Instituts- oder die Parteileitung für das Institut verantwortlich sei.« Er verstehe es einfach nicht, dass er, der von den SU-Spezialisten der DDR am treuesten ergeben sei, so beschnitten werde, während Thiessen Westfahrzeuge fordere und Steenbeck zwischen den Welten hin- und herpendele.1936 Bei einem Gespräch Barwichs am 10. Januar mit Herrmann und Jahn kam die Sprache auch auf Steenbecks Vorwort für die sowjetische Fachzeitschrift Atomenergie. Dieses Vorwort sollte in Übersetzung auch in der DDR erscheinen. Barwich teilte den beiden Offizieren mit, dass er ebenso wie ein Kollege von ihm Steenbeck sein Einverständnis für den Artikel gegeben habe. Nun aber, nach Vorlage des Vorworts durch Steenbeck, »sei ihm der pazifistische Charakter klar geworden, und er habe begriffen, dass die Formulierungen Steenbecks einen Misstrauensantrag an unsere Regierung« bedeuteten. »Steenbeck habe ihm erläutert, dass sein Appell von Westdeutschland positiv aufgenommen werden würde, da mit dem Erscheinen dieses Artikels dokumentiert« werde, »dass die Wissenschaftler der DDR frei und unabhängig ihre Meinung äußern« dürften. Barwich empfahl gegenüber den Offizieren, »auf das Vorwort Steenbecks ganz zu verzichten und der Zeitung, ähnlich wie in der Sowjetunion, in kurzen, klaren Sätzen das Geleit zu geben, ohne dass ein Wissenschaftler als Verfasser genannt« werde.1937

1936  Abt. VI/2 vom 13.1.1958: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 10.1.1958; ebd., Teil II, 1 Bd., Bl. 81–85. 1937  Ebd., Bl. 83.

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Aus einer Berichterstattung von Lotar Ziert alias GI »Karl«: 1958/59 bekam die SED in Bezug auf die Verfassung eines Atomgesetzes erhebliche Argumentationsprobleme, die Forderungen Steenbecks nach Aufnahme einer expliziten »Verbotserklärung« für die militärische Anwendung der Atomenergie abzuwehren. Waren die Genossen zunächst »kopflos« ob des »pazifistischen Standpunktes« des renommierten Physikers, wonach »allen Bürgern« der DDR »jede Arbeit mit radioaktiven Substanzen verboten« werden sollte, »die militärischen Zwecken dient«,1938 gelang es ihnen nach einem halben Jahr intensiver Diskussion schließlich doch, ihm eine für die eigenen Interessen offenere Formulierung abzuringen. Diese dem ZK der SED zu unterbreitende Fassung sah vor, dass die DDR »ausschließlich das Ziel verfolgen« wolle, »die Atomenergie zum Wohle der Menschheit zu nutzen«.1939 Steenbeck, der sich »vehement weigerte, an der Wasserstoffbombe« in der Sowjetunion mitzuarbeiten,1940 blieb auch in der DDR kompromisslos. War Barwich alias GI »Hahn« zeitweise gar ein Falke? Aus den Notizen Jahns über ein Gespräch mit ihm am 27. Mai: Barwich trug sein Anliegen vor, den tschechischen Wissenschaftler Peter Mutang* als seinen Mitarbeiter einzustellen. »Alle Argumente gegen« Mutang*, so Jahn (allerdings verschriftlichte Jahn keines dieser Argumente!), »schlug Barwich aus und betonte, dass dieser Mann für ihn wichtig« sei. Mutang* soll Jude gewesen sein und Mitglied der Kommunistischen Partei (KP). Der zweite Punkt war eine Denunziation Hartmanns durch Barwich. Demnach sei Hartmann »jetzt ständiger Stammgast im Dresdener Klub« und gehe »oft mittags dort hin, um zu arbeiten«. Er mache sich Sorgen, da Hartmann Lustlosigkeit zeige. Den Vorhalt, warum er kein Engagement zeige, soll Hartmann ihm gegenüber mit: »für wen und wofür denn« quittiert haben. Barwich spekulierte gegenüber Jahn auf zwei mögliche Gründe, einmal im privaten Bereich Hartmanns und zum zweiten im Vorwurf Peter Knolls, eine »feindliche Plattform« zu bilden oder gebildet zu haben. Hinzu komme, dass der Kaderleiter behauptet habe, dass Hartmann ein »Nazi gewesen« sei. Hartmann habe damals eine gerichtliche Bestrafung verlangt. Rambusch habe jedoch die Situation geklärt, »seitdem«, so Barwich, »leistet er als Wissenschaftler nichts mehr«. Mit Republikflucht müsse gerechnet werden.1941 Im Juni entschied das MfS, dass der Einstellung von Mutang* nicht entsprochen werde. Er gefährde das Ansehen Barwichs.1942 Kurz zuvor hatte Barwich zum Dresdener Klub geäußert, dass der »keineswegs dazu angetan« sei, »Hartmanns Bewusstsein 1938  Ergebnis der Beratung des 3. Entwurfes des Gesetzes über die friedliche Anwendung der Atomenergie mit den Mitarbeitern des WTBR vom 28.8.1958; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 60–64, hier 60. 1939  Bericht von »Karl« (o. D.): Diskussion über den Entwurf des AW-Gesetzes im Wissenschaftlichen Rat am 13.3.1959; ebd., Bl. 108. 1940  Reichert: Kernenergiewirtschaft in der DDR, S. 67. 1941  Abt. VI/2, Jahn, vom 29.5.1958: Bericht zum Treffen mit Barwich am 27.5.1958; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 22–25, hier 22 f. 1942  Vgl. Abt. VI/2 vom 19.6.1958: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 17.6.1958; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 100–102.

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oder das anderer Professoren zu formen«. Eher bilde der Klub »eine Möglichkeit, dass die bürgerlichen Professoren dort unkontrolliert ihre Gedanken zum Ausdruck bringen können, was durch Auslage westlicher Zeitschriften gefördert« werde. Jahn schätzte ein, dass durchaus die Gefahr bestehe, dass der Klub »sich zu einer negativen Brutstätte auswächst, zumal durch Partei und MfS kaum Einfluss genommen« werde.1943 Zur Entwicklung der Kernforschung äußerte Barwich, dass es im Gegensatz zu Polen und der ČSR in der DDR »keine Klarheit über die Entwicklung unserer Kernforschung« gebe, vor allem bezüglich der Uranaufbereitung und der Schwerwasserproduktion. Polen habe sogar »junge Leute« nach USA und England zu Studienzwecken delegiert, die mit fruchtbaren Resultaten (»starken Impulsen«) zurückgekehrt seien. Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sei hingegen für die DDR »ausgesprochen schlecht«. Jahn mahnte in seinem Kommentar zum Bericht Barwichs an, »unbedingt zu beachten«, dass »die immer stärker werdende Sympathie mit dem polnischen Herangehen an die physikalischen Probleme« als »eine getarnte Kritik« gegen die Partei geübt werde, da die DDR keine Delegationen nach Harwell entsende und der Einfluss der Partei stärker werde.1944 Jahn sprach am 17. Juni mit Barwich über dessen bevorstehende Reise nach Stockholm vom 16. bis 22. Juli im Auftrag des Weltfriedensrates. Dessen Aufgabe bestehe darin, »für die Anerkennung der DDR auf dem Gebiet der friedlichen Kernenergienutzung einzutreten, um für unsere Wissenschaftler offizielle Teilnahme an internationalen Veranstaltungen zu erwirken. Er bat um Aufgabenstellung und Lageinformation in Schweden durch unser Ministerium.«1945 Hierzu sind von Jahn keine näheren Angaben fixiert worden. Hartmann erhielt am 26. Juli vom Wissenschaftlichen Rat für friedliche Anwendung der Atomenergie eine Einladung zur Teilnahme an der II. Internationalen Konferenz der UNO über die Friedliche Anwendung der Atomenergie in Genf.1946 Er unterrichtete Erich Apel von seinem Eindruck, den er anlässlich der kernphysikalischen Tagung 1958 in Genf gewann, auf der »mit aller Deutlichkeit erkannt« wurde, »dass wir, soweit es das Gebiet der Kernphysik und -technik betrifft, in einer provinziellen Enklave leben und arbeiten«. Und ferner: »Vorgesetzte Dienststellen können ja in fast allen Fällen gar nicht entscheiden, wie dringend oder notwendig ein solcher Erfahrungsaustausch« für die Wissenschaft sei. »Solche Fehler können zum Verlust von Mitarbeitern durch Republikflucht führen. In jedem Fall aber geben sie allmählich einen die Initiative lähmenden Gefühls völliger Resignation Platz.«1947 1943  Abt. VI/2, Jahn, vom 29.5.1958: Bericht zum Treffen mit Barwich am 27.5.1958; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 22–25, hier 23 f. 1944  Ebd., Bl. 24. 1945  Abt. VI/2 vom 19.6.1958: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 17.6.1958; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd, Bl. 100–102, hier 100. 1946 Vgl. AKK, Abt. Information, an Hartmann vom 26.7.1958: Einladung; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 24, Bl. 51. 1947  Auswertung von Archivunterlagen; ebd., Bd. 37, Bl. 16–19, hier 16.

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Ziert gab im Herbst dem MfS einen aufschlussreichen Bericht über die Atom­ politik der DDR und speziell zur Haltung Steenbecks. Demnach sei am 28. August im Wissenschaftlich-technischen Büro (WTB) das Atomenergiegesetz zur Diskussion gestellt worden, das eine militärische Nutzung einschließe. Dagegen habe sich Steenbeck, Leiter des WTB Reaktorbau, energisch gewandt. Er habe »die Bedingung« gestellt, »dass die Atomenergie in der DDR ausschließlich für friedliche Zwecke genutzt« werden solle. »Darüber hinaus sollte darin enthalten sein, dass den Wissenschaftlern in der DDR verboten« werde, »an der militärischen Ausnutzung der Atomenergie zu arbeiten und sich an der Vorbereitung von Versuchen zu beteiligen.« Nur zwei parteilose Wissenschaftler hätten Steenbeck klar unterstützt, die Genossen traten differenziert auf. Explizit verantwortlich für den in das Gesetz geschriebenen Passus der militärischen Verwendung waren Winde und Ziert. Sie konfrontierten Steenbeck mit dem »Argument«, wonach »eine atomare Ausrüstung unserer Truppen nur ein Mittel der Selbsterhaltung sei«. Steenbeck reagierte mit dem Argument, dass »es nicht Aufgabe des Gesetzes sei, die Stationierung von Atomwaffen zu regeln«. Er schlug vor, den Passus der militärischen Komponente zu tilgen und stattdessen in Klarheit den Titel zu setzen: »Gesetz zur Anwendung der Atomenergie«. So würde gesagt sein, »dass es bei uns nur eine Anwendung der Atomenergie« geben werde. Dieser Formulierung hätten dann alle zugestimmt. Da aber die Parteigenossen uneins waren, wurde beschlossen, dass sie sich zur einheitlichen Meinungsbildung noch einmal intern zusammensetzen wollten, jedoch: »Die Genossen der Parteigruppe sind inzwischen kopflos geworden und versuchen zunächst den Termin für die Stellungnahme hinauszuzögern.« Steenbeck hatte deutlich gemacht, käme es zur militärischen Komponente, dass er dann nicht mehr mitmachen werde. Man beschloss also, die Entscheidung des ZK der SED abzuwarten.1948 Zu dieser Angelegenheit gibt es ein weiteres mit »Bemerkungen« getiteltes Papier mit ergänzenden Ausführungen, eine Art Auswertung des Geschehens. Demnach hatte man zwar mit einem Widerstand von Wissenschaftlern gerechnet, nicht aber damit, »dass die Frage ›Entweder-oder‹ gestellt« werde. Eine Entscheidung seitens des ZK sei nun die »einzig mögliche Lösung«. Damit nichts von dieser Kontroverse an die Öffentlichkeit dringe, akzeptierte man zunächst Steenbecks Formulierungsvorschlag.1949 Am 22. September lieferte Ziert dem MfS ein Protokoll über die Sitzung am 28. August, das zeigt, dass die Unnachgiebigkeit Steenbecks fester war als in der obigen Berichterstattung wiedergegeben. Danach habe er – im Rahmen des dritten Entwurfs  – expressis verbis ein Verbot militärischer Nutzungen verlangt: »Allen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik ist jede Arbeit mit radioaktiven Substanzen verboten, die militärischen Zwecken dient.«1950 1948  Abt. VI/2 vom 2.9.1958: Bericht von »Karl«; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 55–57, hier 55 f. 1949  Bemerkungen von Leutnant Sattler (o. D.); ebd., Bl. 58 f. 1950  Beratung des 3. Entwurfes; ebd., Bl. 60–64, hier 60.

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Winde, Rambusch und Ziert führten am 30. Januar 1959 mit Steenbeck eine Aussprache über den vierten Entwurf. Ein Bericht hierzu ging an Grosse von der SPK, Abteilung Investitionen, Forschung und Technik. Es wurde über die Verbotsklausel Steenbecks debattiert. Steenbecks Forderung war flankiert von einem Mitarbeiterschreiben des WTBR, in der diese seine Forderung unterstützten. Verklausulierte Formulierungen wie etwa der Hinweis auf die Friedenspolitik der DDR und die Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke halfen nicht, Steenbeck von seiner Verbotsklausel abzubringen. Man hoffe nun, dass Grosse als Regierungsvertreter Steenbeck zur Vernunft bringe.1951 Zwei Tage zuvor hatte Barwich ernsthafte Überlegungen angestellt, wie er sich künftig den verwaltungstechnischen Aufgaben entziehen könne. Zu diesem Zwecke wollte er neben dem Amt des Direktors eine zweite Führungskraft installieren, die sich mit den verwaltungstechnischen und organisatorischen Aufgaben zu beschäftigen hätte. Er wünschte sich hierfür Wittbrodt. Die Funktion könne als Generalsekretär getitelt werden. Eine entsprechende Statutenänderung für das ZfK sei notwendig. Das MfS hielt es auch für möglich, dass Barwich prüfen wolle, ob diese vertraulichen Gedanken, die er nur Franzke mitgeteilt hatte, an anderer Stelle wieder auftauchten. Das MfS vermerkte, dass Franzke dies lediglich dem Kaderleiter mitgeteilt habe. Die Parteileitung sei »vorerst offiziell nicht in Kenntnis gesetzt« worden.1952 Ein anderer Einsatz stand an, der von Klaus Fuchs. Sein Einsatz im ZfK war von der Parteiführung festgelegt worden. Barwich soll zwar seinen Einsatz begrüßt haben, reklamierte aber für sich die Reaktor-Theorie. Fuchs sehe er als Abteilungsleiter für theoretische Physik (Bereich Zyklotron, Schintlmeister). Zwischen ihm und Rambusch brach jedoch ein Konflikt dahingehend auf, dass er dagegen war, Fuchs ein höheres Leitungsamt (Bereichsleiter resp. Stellvertreter des Direktors) zu geben. Rambusch verwies auf Hager, der habe »unmissverständlich« klargestellt, dass Fuchs Stellvertreter des ZfK werde. Barwich betonte, dies als Direktor selbst bestimmen zu wollen. Er sei dagegen. Ein klärendes Gespräch in der Abteilung Wissenschaft des ZK der SED beugte dann Barwich. Das Neue Deutschland verkündete am 1. September 1959, dass Fuchs zum »stellvertretenden Direktor und Leiter eines wissenschaftlichen Bereiches« des ZfK berufen worden sei. Steenbeck soll sich einverstanden gezeigt haben, theoretische Physiker an Fuchs abzugeben. Barwich hingegen verhalte sich »disziplinwidrig« und lehne »die führende Rolle des AKK« ab.1953

1951  Vgl. Schreiben von Winde, AKK, an Grosse, SPK, vom 2.2.1959: Atomenergiegesetz; ebd., Bl. 92–94. 1952  Gespräch zwischen Barwich und Franzke am 28.1.1959; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 110 f. 1953  Zum Einsatz von Fuchs (o. D.); BStU, MfS, AIM 8234/73, 1 Bd., Bl. 22–24. Mitteilung der Berufung im Neuen Deutschland vom 1.9.1959, S. 2.

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Exkurs 13: Keine »Schubladen-Einordnung« möglich: Fuchs und Wetzel Jahre später, 1968, schätzte Rambusch ein, dass der 1911 geborene Klaus Fuchs1954 zu den »hoffnungsvollsten theoretischen Physikern« zähle. Ein Erfolgserlebnis sei ihm aber bislang versagt geblieben. Er habe seit 1958 circa 15 bis 20 Probleme »angefasst«, was dem Staat circa vier bis fünf Millionen Mark für Forschungsmittel gekostet habe.1955 1962 wurde er als Direktor des Bereiches Reaktortheorie eingesetzt. Wie viele namhafte Dresdener wohnte er auf dem Weißen Hirsch. Er erhielt ein exklusives Haus in der Schillerstraße (17 Räume, dazu Flure, Dielen, Boden, Keller). Im November 1962 nahm das MfS Kontakt zu ihm auf zum Zwecke der Werbung als IM zur »Kontrolle der Tätigkeit des Wissenschaftlichen Rates zur friedlichen Anwendung der Atomenergie«.1956 Der Abschlussbericht datiert vom 1. Juni 1973. Fuchs wurde nicht als IM angeworben. Direkte Gespräche zur Werbung enthält das Material nicht. Es waren offizielle Gespräche. Die inoffizielle Verbindung im ZIK realisierte der seit 1965 eingesetzte Sicherheitsbeauftragte. Zudem wurde Fuchs zum VIII. Parteitag der SED Mitglied des ZK, womit eine IM-Tätigkeit nicht mehr möglich war. 1972 wurde er Mitglied der AdW.1957 Ein charakterzentrierter Bericht über seinen ersten Monat in der DDR stammt von Offizier Nitschke von der HA VIII vom 29. Juli 1959. Demnach hat es auch einen Besuch bei Ulbricht gegeben.1958 Fuchs war am 23. Juni in der DDR, Schönefeld eingetroffen. Empfangen wurde er von Margarete Keilson vom ZK, die er keine drei Monate später heiratete. Unter den Hochzeitsgästen befanden sich Hager und Leuschner.1959 Von Nitschke stammen zahlreiche, aufschlussreiche Berichte über die Aktivitäten und die Beziehungen von Fuchs.1960 Am 21. September zog Fuchs nach Dresden. Er nahm, öffentlichkeitswirksam, gleich zum Republikfeiertag am 7. Oktober an der Demonstration im Zug des ZfK teil.1961 In der Historiografie zu Fuchs herrscht ein buntes Bild vor, ein Bild voller Verzeichnungen. Zwei Dinge aber sollten unbestritten sein, sein Mut und seine theoretische Begabung. Ansonsten aber scheint in Vielem ein Bruch vorgelegen zu haben. Als er 1975 in seiner Eigenschaft als Leiter des Forschungsbereiches Physik, Kern- und Werkstoffwissenschaften den Direktor des Instituts für phy-

1954  Konvolut von Dokumenten zu Fuchs, in: BStU, MfS, AP 4189/99. 1955 HA XVIII/5 vom 21.2.1968: Aussprache mit Rambusch am 9.2.1968; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 65–70, hier 69. 1956  HA III/6/S vom 2.11.1962: Kurzvorschlag; BStU, MfS, AIM 8234/73, 1 Bd, Bl. 11. 1957  Vgl. HA XVIII/5 vom 1.6.1973: Abschlussbericht; ebd., Bl. 39 f. 1958  Vgl. Bericht vom 29.7.1959; ebd., Bl. 15–19. 1959  Vgl. »Kurze Inhaltsangabe« (o. D.); ebd., Bl. 20. 1960  Vgl. Zum Beispiel: HA VIII, Abt. II/2, vom 12.9.1959; ebd., Bl. 37 f. 1961  Vgl. HA VIII, Abt. II, vom 15.10.1959; ebd., Bl. 39 f.

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sikalische Stofftrennung Leipzig (IpS), Klaus Wetzel, einzuschätzen hatte, war er nicht nur des Lobes ob dessen wissenschaftliche Befähigung voll, sondern zeigte sich auch als Verkenner der grundsätzlichen Bedingungen insbesondere nach der Akademiereform; ein Auszug: »Als besonders tragfähig hat sich sein Gedanke erwiesen, dass die Isotopenverhältnisse natürlicher Gemische Informationen über die Entstehung und Geschichte der chemischen Elemente in der Natur enthalten müssen. Dieser Gedanke impliziert praktisch die Inversion des Forschungszieles der Isotopentrennung: der Isotopie- bzw. Trenneffekt ist bekannt, von ihm wird auf die Trennbedingungen rückgeschlossen. Mit den Arbeiten zu Isotopenvariationen des Kohlenstoffs und Stickstoffes in der Lithosphäre konnten tatsächlich relevante Aussagen zur Genese und Migration von Erdgas- und Erdöl gewonnen werden.« Das Bild aber, das er von der Situation im Leipziger Institut zeichnete, verkannte völlig, dass Wetzel praktisch machtlos war, was die Grundbedingungen anlangte; es ist zu zitieren: »Die vielfältigen Impulse für die Profilierung des ZI haben jedoch dazu geführt, dass er der in der Natur der Thematik begründeten Gefahr einer Zersplitterung nicht mit genügender Energie entgegentritt.« Er verstehe »es noch nicht, mit genügender Konsequenz Arbeitsgebiete, die für Übernahme durch andere Disziplinen reif sind, abzustoßen und neigt auch gegenüber der Industrie gelegentlich zu Kompromissen, die eine Konzentration auf profilbestimmende Arbeitsgebiete erschweren. Die Relation zwischen methodischen Entwicklungen und derjenigen Grundlagenforschung, die wissenschaftlichen Vorlauf schafft, ist noch unbefriedigend.«1962 Trotz aller Anstrengungen gelang hierin niemals ein zufriedenstellender struktureller Aufbruch. Die Fassung verlor Wetzel 1981 im Zusammenhang mit den Forschungsarbeiten für die Industrie, als er zuspitzte: »Auf fremdem Arsch lässt sich’s gut durchs Feuer reiten«. Anlass war eine Bitte um Mithilfe bei einem Forschungsvorhaben seitens des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, die auf einer Dienstberatung am 18. September 1981 verlesen worden war. Vermutlich der Kaderdirektor der Akademie der Wissenschaften soll behauptet haben, dass Wetzel seit Jahren bereits »gegen die Zusammenarbeit mit Wirtschaftsobjekten« sei.1963 Das MfS verifizierte diese Haltung am 2. November 1981, wonach die Kreisleitung der Akademie in eben diesem Sinne die gezeigten Haltungen Wetzels kritisiert hatte (der gesagt haben soll: »sollten ein bisschen in Abwehrstellung gehen«, »dürfen uns diese Sachen nicht hineindrücken lassen« etc.).1964 Die HV A, SWT, kritisierte ebenfalls Wetzel, zumindest in zwei Punkten, scharf. Einmal wegen dessen Veröffentlichung in spectrum, dort habe »er ohne Rücksicht auf ökonomische Konsequenzen die wissenschaftsstrategischen Linien des ZfI offengelegt und außerdem geheim gehaltenes Know-how eines speziellen Ferti1962 Beurteilung vom 25.3.1975; BStU, MfS, BV  Leipzig, AIM  1992/89, Teil  I, Bd. 1, Bl. ­208–212, hier 209  f. 1963  BV Leipzig, Abt. XVIII, vom 10.10.1981: Bericht von »Leo« am 3.10.1981; ebd., Bl. 229. 1964  BV Leipzig, Abt. XVIII, vom 2.11.1981: Bericht eines IM am 19.10.1981; ebd., Bl. 230.

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gungsverfahrens bei der Herstellung stromversorgungsfreier Dauerbeleuchtungskörper […] preisgegeben«, sowie zum anderen in seiner mangelhaften Hilfe für die HV A. Er soll lediglich für die eigenen Interessenslagen auf dem Gebiet der Isotopengeochemie gearbeitet haben. Die anderen von ihm angezeigten Informationsbedarfe kämen »über den Charakter von ›Wegelagerer-Aufgaben‹« nicht hinaus. Ein dritter negativer Vermerk betraf die Vorschläge Wetzels hinsichtlich des Tippens von geeigneten Auswertern für die HV A, die allesamt in der letzten Zeit nicht brauchbar gewesen seien.1965 Beide waren staatstreu, Fuchs aber machte der SED nie solche Sorgen wie Wetzel alias GI »Müller«. Es ist ein Schreiben von Rambusch an Barwich vom 16. März 1959 über eine Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates des ZfK tradiert. Die Sitzung über den Forschungs- und Entwicklungsplan für 1959 fand am 6. März statt. Rambusch zeigte sich in dem Schreiben äußerst deprimiert. Seit der Sitzung habe er selten »eine derartig große Depression empfunden«; Zitat: »Nach gemeinsamen Vorstellungen wurde der Wissenschaftliche Beirat für das Zentralinstitut für Kernphysik geschaffen und mit der grundsätzlichen Aufgabe betraut, beratendes Organ für das Institut und das Amt für Kernforschung und Kerntechnik zu sein.« Überdies habe es die Aufgabe der erzieherischen Einwirkung auf die wissenschaftlichen Mitarbeiter. Der Plan sei im Sommer 1958 grob gefasst und seitdem verbessert worden. Rambusch erinnerte Barwich an seine Bitte vom Oktober 1958, den Institutsplan noch einmal zu überarbeiten. Nach seiner Kenntnis sei der Beirat über die Pläne nicht informiert worden; Rambusch: »Sie werden sich sicher noch der sehr sarkastischen Bemerkung von Professor Dr. Hertz erinnern, dass ihm die Zusammenstellung der Forschungsund Entwicklungsthemen wie ein Inhaltsverzeichnis eines physikalischen Lehrbuches« vorgekommen sei. Infolge des Mangels, keinen echten Plan zu den Schwerpunkten der Arbeit des Institutes zu besitzen, habe der Beirat »seine grundsätzliche Aufgabe nicht erfüllen« können. Die Sitzung sei ein Beispiel dafür, wie es nicht gehe und stehe im Widerspruch zu seiner, Barwichs, Auffassung, »dass jede Sitzung gut vorbereitet werden« müsse. »Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen heute die Rechnung von DM 4 000 vorlege, die allein dieser Arbeitstag an Gehalt für die Beteiligten der Freitagssitzung ausmacht.« Die Vorbereitung der Sitzung sei derart mangelhaft gewesen, dass Hertz zu keiner Stellungnahme zum vorgelegten Plan bereit war. Er, Rambusch, wisse nicht, wie die Zusammenarbeit zwischen AKK und ZfK künftig vonstattengehen solle. Rambusch verwies auf Barwichs wiederholte Diskussionen über die Zweckmäßigkeit der Gründung des Wissenschaftlich-technischen Büros für Reaktorbau (WTBR) und bemerkt dazu, dass dem AKK bislang vom ZfK »keine zusammenfassende Darstellung« vorgelegt worden sei. Er verwies ferner auf Barwichs Argument, nicht genügend qualifiziertes Personal zu haben, und meinte, dass er »schon drei Jahre und mehr« auf dem Gebiet arbeite »und in dieser Zeit ein

1965  HV A, SWT / V, vom 22.2.1989: Bericht eines IM; ebd., Bl. 296 f.

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Kollektiv« hätte aufbauen können. Er klage wie weiland 1955. In der DDR gebe es aber genügend Beispiele dafür, dass es auch anders gehe.1966 Barwich schrieb am 24. März an Ministerpräsident Otto Grotewohl in seiner Eigenschaft als Mitglied des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie und Mitglied des Weltfriedensrates. Sein Thema war der Entwurf des Atomgesetzes, das einmal mehr unmittelbar vor dem Beschluss durch die Volkskammer der DDR stand. Der letzte, nunmehr 5. Entwurf war in der Sitzung des Rates am 13. März »diskutiert und gebilligt worden«. Die Diskussion sei aber, so Barwich, »meiner Meinung nach sogar zu Recht – im Interesse der Vermeidung einer böswilligen Auslegung eventueller Meinungsverschiedenheiten in der Öffentlichkeit nicht rückhaltlos offen geführt« worden. Der »Mangel der Aussprache« habe darin gelegen, »dass von der Mehrzahl der Mitglieder eine stillschweigende, a  priori durchaus nicht selbstverständliche Voraussetzung gemacht« worden sei, »die eigentlich einer Überprüfung bedurft hätte. Diese Voraussetzung sei etwa wie folgt zu formulieren: ›Die Einstellung der Regierung der DDR zur Frage der Nutzung der Atomenergie unterscheidet sich grundsätzlich von der der Regierung der UdSSR. Diese hat durch Entwicklung und Vervollkommnung von Kernwaffen bisher unbestritten der Erhaltung des Friedens gedient und verfolgt auch in Zukunft damit keinen anderen Zweck als diesen einzigen. In voller Übereinstimmung mit den gemeinsamen Zielen im Kampf um die Erhaltung des Friedens lehnt indessen die Regierung der DDR die eigene Herstellung von Kernwaffen aus Gründen der politischen und militärischen Zweckmäßigkeit – nicht also aus moralischen Gründen – ab, insbesondere auch unter den Bedingungen, dass die Bundesrepublik noch nicht durch einen Friedensvertrag oder eine internationale Vereinbarung auf der Grundlage des Rapacki-Planes die gleichen Verpflichtungen übernommen hat.‹«1967 Weiter aus dem Brief Barwichs, zunächst zur Formulierung des Paragrafen 1 (1): »Die Anwendung der Atomenergie« habe »dem weiteren sozialistischen Aufbau, dem Wohle des ganzen Volkes, der Hebung seines Lebensstandards und der Erhaltung des Friedens zu dienen.« Dagegen würde die Formulierung, die auf der Sitzung vorgeschlagen worden sei: »und dadurch der Erhaltung des Friedens zu dienen«, der oben zitierten Voraussetzung entsprechen. »Die Vertreter von Partei und Regierung argumentierten gegen die Einfügung des Wortes ›dadurch‹ unter Hinweis auf die Präambel, in der sowieso gesagt sei, dass eine militärische Nutzung der Atomenergie ausgeschlossen werden muss. Hier wird jedoch nur konstatiert, ›dass die Atomenergie große Perspektiven eröffnet, sofern sie für friedliche Zwecke und nicht als Mittel zur Massenvernichtung benutzt wird‹ – eine Feststellung, die ebenso gut in der Präambel eines Atomgesetzes der UdSSR stehen könnte – und weiter, ›dass alle Anstrengungen der auf dem Gebiete der Atomenergie arbeitenden Wissenschaftler 1966  Schreiben von Rambusch an Barwich vom 16.3.1959; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 114–117. 1967  Schreiben von Barwich an Grotewohl vom 24.3.1958; ebd., Bl. 121–123, hier 121. Am 2.10.1959 stellte Adam Rapacki der UNO seinen Plan einer begrenzten atomwaffenfreien Zone vor.

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und Techniker der DDR ausschließlich das Ziel ihrer Anwendung für friedliche Zwecke zum Wohle der gesamten Menschheit verfolgen‹. Hierdurch ist dem Friedenswillen der Bürger der DDR wirksam Ausdruck gegeben und sind Richtung und Ziel unserer Arbeitsbemühungen zutreffend charakterisiert worden. Indessen ist hierdurch kein direktes Gebot oder Verbot gegeben, was auch natur­gemäß nicht in der Präambel, sondern nur in den Paragrafen des Gesetzes möglich ist. Wollte man die Präambel als eine ausreichende Bestätigung der Gültigkeit der o. g. Voraussetzung ansprechen, dann bliebe unverständlich, warum dann die Einfügung des Wörtchens ›dadurch‹ in Paragrafen 1 (1) abgelehnt werden sollte. Tatsächlich kann aber diese Präambel auch nicht als eine solche exakte Bestätigung gewertet werden. Für die Einsetzung dieses Wörtchens und damit die Bestätigung der obigen Voraussetzung sprachen sich aus die Herren Hertz, Steenbeck, Barwich, Ardenne, Kunze, Weiss, Friedrich, Macke, Eckardt und zunächst auch Rompe, soweit ich es im Gedächtnis behalten habe. Mir ist außerdem bekannt, dass noch weitere Professoren, die sich an der Diskussion nicht beteiligten, den gleichen Standpunkt einnehmen. Eine Abstimmung hielt der Vorsitzende, Herr Professor Hertz, nicht für erwünscht, indem er erklärte, dass es letzten Endes Sache der Regierung sei, über die richtige Formulierung zu entscheiden, da wir Wissenschaftler in politischen Fragen nicht kompetent seien. Aufgrund einer solchen Einstellung erfolgte auch schließlich die Zustimmung zu der ungeänderten Fassung des Paragraf 1.«1968 Barwich motivierte sein Schreiben primär damit, erreichen zu wollen, dass über die Sache noch einmal gründlich nachgedacht werde. Er wies nicht zuletzt darauf hin, dass eine solche einseitige Positionierung der DDR in der Weltöffentlichkeit aufmerksam verfolgt werde. Es könne sein, dass sie eine vergleichbare Wirkung wie jene Entscheidung der Sowjetunion für einen einseitigen Verzicht auf Versuchs­ explosionen zur Folge haben könnte.1969 Unter dem Titel »Hier hilft nur noch Schönfärberei!« notierte Barwich am 14. April einige Ergebnisse zur Sitzung bei Glawatom tags zuvor. Demnach habe Wassilij S. Emeljanow zu einem Vortrag »Steenbecks über konstruktive und Brennstoff-Fragen zum Druckwasserreaktor größte Bedenken« geäußert, zugespitzt in der Frage an Steenbeck: »wozu die Rechnungen gemacht seien: ›Wollen Sie das Plutonium selber machen oder aus einem anderen Lande beziehen; wenn die Frage der Beschaffung des Plutoniums nicht geklärt sei, dann hätte diese Rechnung doch gar keinen Sinn!‹« Barwich schlussfolgerte zusammenfassend, dass Emeljanow »die Lage der Kernenergetik allzu schwarz« male, »mit dem Ziel, uns vom Bau weiterer Kraftwerke und besonders von Plutonium- und Anreicherungsanlagen für Uran abzuhalten. Die Argumente sind nicht immer stichhaltig. Eines steht jedoch fest: An eine regelmäßige Stromlieferung durch unser erstes Kraftwerk zu glauben und es als Quelle elektrischer Energie volkswirtschaftlich einzusetzen, das scheint allzu rosiger Optimismus. Seine Bemerkung, ›ich würde an Ihrer Stelle nur einen Reaktor 1968  Vgl. ebd., Bl. 122 f. 1969  Vgl. ebd., Bl. 123.

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bauen‹, halte ich für richtig, denn das Argument, die zweiten 70 MW billiger als die ersten zu erhalten, ist zweifelhafter denn je, wenn man unter Kosten nicht nur die Installierung versteht. Dennoch ist die große Bremse, die Emeljanow stets anzieht, politisch zu verstehen. Nicht umsonst lehnt er die Isotopentrennungsanlagen und die Plutoniumsanlagen wegen angeblicher Unwirtschaftlichkeit in kleinem Maßstab und absolut zu hohen Kosten in großem Maßstabe als undiskutabel ab.« Ferner: »Er kennt genau die ›virtuelle‹ Grenze zwischen militärischer und friedlicher Anwendung der Atomenergie. Er weiß, dass nur die Abhängigkeit eines Landes in der Lieferung und Aufarbeitung des Brennstoffes (Brennstoffzyklus) von einem anderen Lande die Garantie bietet, dass es keine Atomtechnik für militärische Zwecke ohne dessen Einwilligung machen kann und berät uns entsprechend: Rechnungen über Plutonium ohne technische Konsequenzen  – ja, Druckwasser- und Siedewasserreaktor  – ja, denn hierfür braucht ihr ja unser angereichertes Uran; aber Natururanreaktoren?, die lohnen sich doch nicht, da sie alle schon bekannt sind«. Zusammenfassend notierte Barwich: »Die Atompolitik der DDR muss sich also aus den Fesseln der Unselbstständigkeit befreien.« Emeljanow habe »ja nur seine ›persönliche‹ Meinung gesagt hat. Die Frage, ›wozu bauen wir eine zweite Ausbaustufe‹, hat nach wie vor problematischen Charakter. Die Entscheidung hierüber fiel seinerzeit tatsächlich wie üblich in so wichtigen Dingen ohne Beratung in einem zuständigen Gremium! Der Regierungsbeschluss des Rates lautete: Bau eines Kraftwerkes von 50 bis 100 MW. Also ist dieser Beschluss nicht beachtet worden! So gibt es noch eine ganze Reihe von wichtigen Maßnahmen ähnlicher oder noch größerer Tragweite, die auf solche Weise im ›Ein-Mann-Verfahren‹ getroffen wurden und der Republik als Ganzer geschadet haben und weiterhin schaden. Um mit dieser Politik endlich Schluss zu machen, muss die Kritik durchgeführt werden.«1970 Diesbezüglich soll Barwich Ende April geäußert haben, dass er sich wieder in die Sowjetunion versetzt wünsche, da ihm dort »nicht bedingungslos jeder Wunsch erfüllt« worden sei. Er wünsche sich mehr Widerstand gegen seine Ideen und Vorstellungen. Selbst Ulbricht erfülle »ihm jeden Wunsch«. »Das müsse dazu führen, dass er größenwahnsinnig« werde »und er selbst fühle sich dabei nicht wohl«. Er werde zudem von allen falsch eingeschätzt.1971 Barwich schrieb am 13. Juni einen Beitrag zum Bericht über die Verhandlungen über die 2. Ausbaustufe des AKW-I in Moskau vom 8. bis 16. April. Einführend konstatierte er, dass speziell in der Sowjetunion nach der ersten Genfer Konferenz und dem XX. Parteitag der KPdSU Ernüchterung ob der Wirtschaftlichkeit von Atomkraftwerken eingetreten sei. »Man kann weder über die Betriebssicherheit noch vor allem über die Wirtschaftlichkeit dieser Anlagen etwas aussagen, bevor nicht Betriebserfahrungen über Jahre vorliegen. Der rasche Bau unserer zweiten Ausbaustufe fand deshalb auf sowjetischer Seite wenig Verständnis (Emeljanow: 1970  Barwich am 14.4.1959: Zur Sitzung bei Glawatom am 13.4.1959; ebd., Teil  II, 1  Bd., Bl. 118 f. 1971  BV Dresden, Abt. XV, vom 28.5.1959: Äußerungen Barwichs; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 120.

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›Ich würde nur einen Reaktor bauen.‹). Der Nutzen, den uns die 2. Ausbaustufe bringen wird, ist heute mehr denn je zweifelhaft. Da der Beschluss der Plankommission, den ersten Reaktor noch einmal zu wiederholen, in der Meinung gefasst wurde, dass es sich um ein regulär arbeitendes Elektrizitätswerk handeln würde, beruht also zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit auf einem Irrtum. Zu kritisieren wäre auf jeden Fall, dass die Kommission des Wissenschaftlichen Rates, welche das Gutachten über Atomkraftwerke ausarbeitete, zu dieser Frage nicht einmal gehört wurde. Solche folgenschweren Entscheidungen sollten in Zukunft nicht wieder ohne ein Sachverständigengutachten gefällt werden.« Bei Verhandlungen mit der sowjetischen Seite wurde augenfällig, »dass bei uns kein einziger Ingenieur dabei war, während die Gegenseite fast ausschließlich durch Ingenieure vertreten war«. Ingenieure, die zunächst reisen sollten, durften dann doch nicht. Es fehle zudem bei uns eklatant an Physikern, während in der Sowjetunion dies eben nicht der Fall sei. Dort säßen Physiker »in den eigentlichen Forschungsstätten und werden von der Verwaltung und den Betrieben und technischen Institutionen nach Bedarf zur Beratung und Mitarbeit herangezogen«. An anderer Stelle verwies Barwich darauf, dass Steenbecks Arbeiten über die Nutzung von Plutonium kaum praktische Bedeutung besitzen dürften, zumal Emeljanow gesagt habe, dass »Plutonium ›heute nicht als Kernbrennstoff, sondern als Kernsprengstoff bezeichnet werden muss‹ und noch ca. 15  Jahre vergehen werden, bis seine friedliche Anwendung möglich ist.«1972 Zu dieser Thematik verfasste Barwich am 21. Juni eine Darstellung zur Perspektive der Kernenergiepolitik der DDR in Auswertung der Beratungen in Moskau im April und in Dubna im Mai. Tags darauf ist sie dem AKK zugestellt worden. Demnach seien derzeit »konkrete Pläne für den weiteren Kraftwerkbau« nicht »angebracht«. Erst müssten Betriebserfahrungen vorliegen. Ferner verfocht Emeljanow »leidenschaftlich den Standpunkt, dass nur ein Reaktor des gleichen Typs (Kraftwerk für ausschließlich friedliche Zwecke) gegenwärtig gebaut werden sollte.« Wert wurde auch darauf gelegt, die technisch-physikalischen Probleme des schnellen Reaktors zu lösen, der sei die Zukunft. Die sowjetische Seite sei gern bereit, Hilfe bei der Errichtung der Forschungsreaktoren zu leisten. Barwichs Bericht ist wie gewohnt detailliert technisch-sachlich gehalten. Jeder seiner Adressaten besaß somit die Gelegenheit, sich ein genaues Bild zu verschaffen. Seine Logik bestach und mündete in der Zielstellung: systematisch Erfahrungen sammeln und langfristig denken, alles gegen einen Schnellschuss zu tun. Hierzu zählte nicht zuletzt die Heranbildung von Fachpersonal und die Errichtung von Anlagen, etwa solche zur Erzeugung von Natururan und von schwerem Wasser.1973

1972  Barwich: Beitrag zum Bericht über die Verhandlungen über die 2. Ausbaustufe des AKW-I in Moskau vom 8.–16.4.1959; ebd., Teil II, 1 Bd., Bl. 122–126. 1973  Barwich: Bemerkungen zur Frage der Perspektive aufgrund der Auswertung der Besprechungen in Moskau (April 1959) und Dubna (Mai 1959); ebd., Bl. 127–143, hier 127–129.

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Hartmanns Vakutronik (Kap. 4.1) war derzeit involviert in Arbeiten des AKW-I, nämlich zur Instrumentierung mit dosimetrischen Geräten und solchen für den industriellen Isotopeneinsatz.1974 Barwich konstatierte anlässlich einer Reise von Vertretern des AKK nach Ungarn frappierende Unterschiede in der kernphysikalischen Forschung und Atompolitik beider Länder. Der Bericht vom 8. Juli stellt ein Schlüsseldokument zum Verständnis der damaligen Situation dar, die bis heute wissenschaftliches Objekt der Deutung ist. Er sprach hierin von einem »krassen Gegensatz«, den er festgestellt habe. In der DDR habe man im Gegensatz zu Ungarn »alles« getan, »um eine Konzentration der verbliebenen, einigermaßen guten Führungskräfte zu vermeiden«; Zitat: »Jeder einzelne Wissenschaftler musste Direktor eines isolierten Institutes werden, das von dem Nachbarinstitut möglichst weit entfernt stehen musste und nach Möglichkeit verschiedenen Institutionen unterstellt war.«1975 Das entsprach den Tatsachen: Dresden, Leipzig, Greifswald, Jena, Miersdorf und Zeuthen. Weiter Barwich: »Ganz besonders wurde dabei Wert darauf gelegt, bereits bestehende Arbeitsgruppen in ihrer Isoliertheit zu belassen. Beispielsweise wurde das Zyklotron nicht an das dafür geeignete Institut in Miersdorf angeschlossen, sondern an das neugegründete ZfK, das über keinen einzigen eingearbeiteten Mitarbeiter verfügte. Um aber am Zyklotron nicht zu gute Kader zu haben, wurden die guten Spezialisten Richter und Bernhard nach Miersdorf versetzt. Das Institut für Angewandte Radioaktivität mit Professor Weiss als erfahrenem Messphysiker und Radiochemiker kam natürlich nicht an das Zentralinstitut, sondern an die Seite eines chemischen Institutes in Leipzig und wurde sinngemäß nicht etwa dem AKK, sondern der Akademie unterstellt. Professor Rexer als Spezialist für Werkstoffe und Festkörper durfte auf keinen Fall in den Rahmen des ZfK eingegliedert werden, sondern musste an einem anderen Ort in Dresden ein eigenes Institut bekommen, weil Herr Selbmann für sein Ministerium es damals so wollte. Es hat seinerzeit nicht an Protesten gegen die Politik der Zersplitterung gefehlt. Sie wurden aber nicht anerkannt. Herr Rompe erklärte ausdrücklich, dass die Konzentration unrentabel sei.« In Bezug auf die Atompolitik stellte Barwich fest, habe sich Ungarn »überhaupt nicht vom Atomfieber der ersten Genfer Konferenz« beeindrucken lassen. Ungarn verhalte sich in der »Frage eines Atomkraftwerkes äußerst abwartend«. Deren Pläne seien »nicht auf Prestigegewinn durch Reklametermine, wie dies in der ČSR und bei uns« sei, ausgerichtet. Sie hätten »ohne jeden Druck von oben« und trotz der Ungarn-Ereignisse – Barwich schrieb: Konterrevolution! – ihren Reaktor fertiggestellt.1976

1974  Zum Beispiel: Bericht zum Stand des Isotopeneinsatzes in der Industrie vom 4.10.1959; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 315/59, 1 Bd., Bl. 167–171. 1975  Barwich am 8.7.1959: Schlussfolgerungen aus der Ungarn-Reise des AKK vom 22.6.– 1.7.1959; BStU, MfS, AIM 2753/76, Teil II, 1 Bd., Bl. 149–153, hier 150. 1976  Ebd., Bl. 150 f.

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Am 25. August verfasste Offizier Jahn zu einer Unterredung mit Barwich einen Bericht. Beide sprachen vier Tage vorher auf Barwichs Wunsch hin miteinander. Die Hauptthematik bestand in der Frage der Versetzung von Fuchs in sein Institut bei gleichzeitiger Ernennung zum stellvertretenden Direktor. Barwich versuchte, dies zu verhindern. Er habe für Fuchs zwar Verständnis, habe auch mit ihm im Juli ein gutes Gespräch gehabt, das in Begleitung von zwei ZK-Mitarbeitern stattgefunden habe. Eine Verabredung über eine Arbeitsaufnahme sei aber noch nicht getroffen worden. Im Urlaub habe er erfahren, dass Fuchs als Stellvertreter im Gespräch sei und sein Arbeitsgebiet die Reaktor-Physik sein solle. Jahn: Barwich sei »der Meinung, dass Reaktor-Physik für Dr. Fuchs nicht infrage kommt, sondern dass er ähnlich wie Professor Schintlmeister in der Neutronen-Physik eingesetzt werden« sollte. »Die Frage des Stellvertreters scheitert seiner Ansicht nach am Statut«, da Kurt »Schwabe als Stellvertreter bestimmt sei«. Jahn wertete Barwichs Vorstoß als Angst vor Konkurrenz. Barwich wisse, so Jahn, dass hinter Rambuschs Willen Steenbeck stehe, sodass sein Vorstoß primär gegen Steenbeck gerichtet sei. »Letzten Endes« besitze alle Kritik gegen Rambusch eine Spitze gegen Steenbeck. Barwich werde »von den meisten Physikern« wie Hertz und Steenbeck »als genialer Mensch eingeschätzt, der jedoch kaum in der Lage« sei, »ein Kollektiv zu leiten«. Jahn empfahl Barwich, sich direkt mit Rambusch und Fuchs auseinanderzusetzen.1977 Am 1. September, im Anschluss einer Aussprache zwischen Grosse und Rambusch, hatte Rambusch »festgelegt, dass Gen[osse] Dr. Winde sofort einen Vorschlag für eine Statutenänderung des ZfK zur Beratung in der Parteikommission vorbereitet«. Bislang wurde die Einzelleitung (per Berufung) angewandt, nun solle künftig ein Direktorium die Leitung des ZfK übernehmen. Zum Direktorium würden die Bereichsleiter zählen, die alle zwei Jahre aus ihrer Mitte den leitenden Direktor zu wählen hätten. »Der vorhergehende Direktor« werde »dann jeweils als Vizedirektor für die nächste Wahlperiode fungieren«. Das MfS, vermutlich Jahn, schätzte ein, dass Barwich »dieser Änderung keinesfalls« akzeptieren werde. Er strebe vielmehr an, dass ihm zur Seite ein wissenschaftlicher Sekretär gestellt werde, der die verwaltungstechnischen Aufgaben übernehmen solle, sodass er sich wieder ganz der Wissenschaft widmen könne. Überdies könne er nur von Ulbricht entbunden werden, der ihn schließlich berufen habe. Die Parteiorganisation und auch Steenbeck würden der Vorstellung mit einem Direktorium an der Spitze folgen.1978 Offenbar im Sommer kam es zu einer Aussprache über die Perspektiven in der Kernforschung, worüber Rambusch »deprimiert« berichtete. Die Aussprache fand zwischen Grosse, Apel und Thiessen statt. Er selbst war nicht eingeladen worden. Das Ergebnis war, dass eine Konzentration auf die Forschungsseite erfolgen sollte, nicht dagegen auf die Energiegewinnung aus Kernkraft. Auf eine Nachfrage Rambuschs, ob Grosse überhaupt die Unterlagen für die am 10. September stattfindende

1977  HA VI/2 vom 25.8.1959: Bericht; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 127–129. 1978  Aktenvermerk (o. D.): Statutenänderung für das ZfK; ebd., Bl. 130.

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Parteikommissionssitzung gelesen habe, verneinte dieser dies. Rambusch sei darüber »empört« gewesen, »dass man, ohne sich genau mit der Materie vertraut gemacht zu haben, solche Vorurteile« fassen könne. Es befremde ihn, zu »einer solch wichtigen Aussprache« als »verantwortlicher staatlicher Leiter« nicht eingeladen worden zu sein. Rambusch soll sich um ein Gespräch bei Apel bemüht haben.1979 Weil Barwich es abgelehnt hatte, am 10. September an einer Sitzung der Kommission teilzunehmen (er hatte seine Einwände Apel und Fabia mitgeteilt), wurde am 11. September mit ihm ein gesondertes Gespräch geführt. Barwich führte zwei Gründe für seine Weigerung an, die Jahn wie folgt zusammenfasste. Zum einen sei er »beleidigt« gewesen, dass er im Zusammenhang mit einem von Rambusch stammenden Vorschlag nicht konsultiert worden sei (in der Sache des Perspektivplanes). »Außerdem« habe »er im Juli in Auswertung der Moskauer Verhandlungen und der Dubna-Konferenz an die Genossen Apel und Rambusch eine längere Ausarbeitung geschickt, die im Vorschlag des Amtes nicht berücksichtigt« worden sei. Zum anderen wolle er nicht mit Steenbeck diskutieren, da er dann gegen Steenbeck, Rompe und Rambusch allein stehe. Keiner der drei sei in seinen Augen in der Sache kompetent. Barwichs Kritik richte sich vornehmlich »gegen die zweite Aufbaustufe des AKW, die annähernd 170  Millionen DM kosten würde und deren Bau nicht gerechtfertigt« sei. Nach den Moskauer Verhandlungen und der Konferenz in Dubna sei diese zweite Aufbaustufe »undiskutabel«. Ein AkW mit einer elektrischen Leistung von 50 MW wie im Falle der ersten Aufbaustufe festgelegt, entspreche den technischen und materiellen Möglichkeiten eher, nicht aber ein AkW mit einer Leistung darüber hinaus. Die thermiode Leistung betrage in diesem Falle 200 MW. Dies sei 1956 auch so festgelegt worden. Ferner stelle die Überlegung, das AKW-I für die Verbesserung der Energieversorgung einzusetzen, eine, so Jahn Barwich wörtlich wiedergebend, »willkürliche Illusion der Herren Selbmann, Zeiler und Rambusch« dar, was nicht im Einklang mit der fachlichen Einschätzung von Experten liege. Die drei Herren seien nicht berechtigt, überhaupt eine solche Forderung zu stellen. Sie sei nirgends formuliert worden. Barwich werde für seine Auffassung bis zum letzten kämpfen, er sei sich bewusst, dass dies seinem Ruf als Wissenschaftler schaden könne. Jahn empfahl dennoch, dass die Frage der zweiten Aufbaustufe »anhand der vorhandenen Dokumente ernsthaft zu überprüfen« sei, »da sowohl von Professor Steenbeck als auch vonseiten des WTBR Zweifel geäußerte« würden.1980 Zu solcherart Geschehen Carl-Heinz Janson: »Ein schlimmes Kapitel der Kommandowirtschaft ist das willkürliche Eingreifen von Parteiorganen in Wirtschaftsprozesse. Auf allen Ebenen mussten es sich die verantwortlichen Wirtschaftsleiter gefallen lassen, dass andere sich in ihre ureigensten Befugnisse einmischten. Funktionäre ohne fachliche Kompetenz erhoben ideo­ logischen Vorurteilen entstammende Forderungen. Entgegen aller wirtschaftlichen

1979  Aktenvermerk (o. D.); BStU, MfS, AIM 8234/73, 1 Bd., Bl. 25 f. 1980  HA VI/2 vom 16.9.1959: Zu Barwich; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 131–133.

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Vernunft hatten Fachleute Maßnahmen zu realisieren, nur weil Parteileitungen es so wollten. Rationalität, ökonomisches Rechnen und gesunder Menschenverstand konnten sich dagegen nicht durchsetzen.«1981 Thema eines Schreibens von Barwich vom 24. September an die Betriebspartei­ organisation (BPO) war seine Besprechung mit Rambusch im Beisein von Winde drei Tage zuvor. Es war ein hartes, unfreundliches Gespräch. Im Mittelpunkt stand »die Anschuldigung«, dass Rambusch »die Stellungnahme der Institutsleitung zur Kernenergieperspektive, wie sie in den Dokumenten ›Bemerkungen zur Frage der Perspektive aufgrund der Auswertung der Besprechungen in Moskau (April 1959) und Dubna (Mai 1959)‹ und ›Empfehlungen des Zentralinstitutes für Kernphysik zum Bau eines zweiten Forschungsreaktors‹ seitens der Institutsleitung dem Amt übermittelt worden waren, in der Vorlage für die Parteikommission völlig ignoriert« haben soll »und einen gänzlich entgegengesetzten Standpunkt vertreten« habe, »wobei sogar die Darlegungen des ZfK verfälscht wiedergegeben« worden seien. Barwichs Protest bei Apel führte »zur Absetzung der Sitzung der ZK-Kommission« am 10. September »und zu einer scharfen Kritik an der Leitung des AKK«. Apel hatte Barwich geantwortet: »Mit Deiner Kritik an der Arbeit des Amtes für Kernforschung bin ich auch einverstanden. Wir werden uns in nächster Zeit in der Kommission prinzipiell mit den Fragen der Arbeit des Amtes nach einer gründlichen Analyse und Vorarbeit etwa Mitte November beschäftigen.«1982 Rambusch habe erklärt, so Barwich, »dass seitens der Genossen der Partei des Instituts eine zu dem Standpunkt der Institutsleitung in Widerspruch stehende Stellung genommen wurde, also angeblich die Meinung des Instituts auf diese Weise berücksichtigt worden sei. Dies ist eine Intrige, welche der stark angegriffene Gen[osse] Rambusch versucht hat, um sich aus der Schlinge zu ziehen, gegen die ich aber wiederum auf das schärfste protestiere. Es ist mir bekannt, dass kein Widerspruch zwischen der Stellungnahme der Physiker der Parteileitung zu den Problemen der Kernenergetik entsprechend den o. a. Dokumenten vorhanden ist, wie mir Gen[osse] Alexander [Karl F., Leiter im ZfK Rossendorf] auch mündlich erneut bestätigt hat. Nicht umsonst habe ich, wie Sie wissen, im Interesse einer Einheit von Institutsleitung und BPO besonderen Wert darauf gelegt, dass letztere das Dokument zur Perspektive rechtzeitig zur Kenntnis bekam und niemals ist bei der kollektiven Durchsprache dieser Sache die Partei ausgeschlossen worden. Der Versuch des Gen[ossen] Rambusch, durch seine dunklen Andeutungen im Interesse einer Rechtfertigung seines Vorgehens einen Keil zwischen die Institutsleitung und BPO zu treiben, ist aufs schärfste zu verurteilen, und ich werde dies dem Gen[ossen] Apel speziell unterbreiten. Außerdem bedeutet dies eine Verleumdung der BPO unseres Institutes. Ich bitte Sie, mir zu bestätigen, erstens, dass der Parteileitung nicht bekannt ist, dass sich Genossen der Amtsleitung gegenüber zur Problematik 1981  Janson: Totengräber der DDR, S. 147. 1982  Schreiben von Barwich an die Leitung der BPO, Lässig, vom 24.9.1959; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 137 f. Das Dokument ist eine Abschrift des MfS.

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der Perspektive in einer Weise geäußert hätten, die im Gegensatz zum Inhalt der o. g. Dokumente steht; zweitens, dass die Parteileitung entsprechend dem guten Einvernehmen, welches besteht, nicht die Absicht hat, über Fachfragen hinter dem Rücken der Institutsleitung mit dem AKK zu verkehren und dies auch in dem vorliegenden Falle nicht getan hat.« Und weiter: »Ich möchte nur mitteilen, dass ich dem Gen[ossen] Walter Ulbricht meinen Rücktritt anbieten werde, sofern nicht eiwandfrei klargestellt wird, dass der Gen[osse] Rambusch in dem vorliegenden Fall einen schweren Fehler gemacht hat und Sicherheit dafür besteht, dass in Zukunft kein Keil zwischen BPO und Institutsleitung mehr getrieben werden darf.«1983 Lässig, 1. Sekretär der BPO, antwortete erst am 13. Oktober auf Barwichs Brandbrief gegen Rambusch vom 24. September. Das Schreiben ist höf‌lich gehalten und teilte Barwichs »Sorge hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen der Parteileitung« und ihm selbst. Lässig versuchte in dem Schreiben jedoch alles auf Missverständnisse und Informationspannen zu reduzieren. »Es ist der Parteileitung natürlich bekannt, dass es zu den Problemen der Perspektive unterschiedliche Auf‌fassungen gibt. Die Parteileitung hat es bisher vermieden, zu diesen unterschiedlichen Auf‌fassungen Stellung zu nehmen und sich festzulegen, weil ohne Klärung einiger grundsätzlicher Fragen eine Festlegung auf eine bestimmte Konzeption ein voreiliger Eingriff in den wissenschaftlichen Meinungsstreit wäre.« Überdies seien die von Barwich erwähnten Dokumente erst am Freitag, dem 9. Oktober, »über das Amt in den Besitz der Parteileitung gekommen«. Ihn, Barwich, habe man trotz wiederholter Versuche nicht erreicht. »Der Parteileitung ist es unerklärlich, wie Herr Professor Rambusch zu der Meinung gelangt ist, die Parteileitung habe der Konzeption des Amtes zugestimmt.« Das stimme keinesfalls. Lässig schlug vor, gemeinsam die Missverständnisse und offenen Fragen auszuräumen.1984 Eine weitere Aussprache Jahns mit Barwich erfolgte am 14. Oktober. Grundlage war eine von Barwich ausgearbeitete Vorlage für eine Sitzung am 16. Oktober. Kern sei, dass die Entscheidung über die zweite Aufbaustufe extern gefällt werden müsse. Erstens ausgehend von der Auf‌fassung der Sowjetunion, zweitens von der Plankommission, die eine ökonomische Studie vorlegen müsse. Barwich sei der Auf‌fassung, man solle sich nicht vor 1962 die Hände binden, da in dem Jahr die Entscheidung über den Reaktortyp fallen werde. Er vertrete die Variante Natururan, die allerdings die Sowjetunion wegen des anfallenden Plutoniums ablehne. Barwich habe seine Meinung Hermann Matern (Mitglied des Politbüros der SED) mitgeteilt. Überdies wolle er mit Ulbricht sprechen. Eines seiner Themen bei ihm werde auch sein, dass die Politik der Partei falsch sei. Seiner Ansicht nach solle sie sich um die Propaganda kümmern, nicht aber um Sachangelegenheiten der Wissenschaften: »Unter der Intelligenz würde eine außerordentliche Unzufriedenheit herrschen, und Hertz« habe ihm »aufgetragen« Ulbricht mitzuteilen: »›Wenn er jünger wäre,

1983 Ebd. 1984  Schreiben von Lässig an Barwich vom 13.10.1959; ebd., Bl. 139 f.

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bliebe er nicht hier.‹ Die Meinung von Hertz« beruhe »auf Verärgerung über die Hochschulpolitik in der DDR.«1985 Es ist ein Bericht von Fritz Hilbert, dem Leiter Kader und Sicherheit im ZfK Rossendorf, vom 21. Oktober überliefert. Gegenstand des Berichtes sind Sitzungen im ZfK, die vom 12. bis 15. Oktober stattfanden. Sie hätten »große Unzulänglichkeiten« in der Frage der Leitungstätigkeit Barwichs zutage gebracht. Thematik der Sitzungen war die Vorlage des Perspektivplanes zur Entwicklung der Kernenergie der DDR. Es ging auch hier um die strittigste Frage dieser Zeit, ob eine zweite Aufbaustufe (Siedewasserreaktor) erfolgen solle oder nicht. Dieser wäre dann als »Forschungsreaktor für Leistungsreaktoren in Bezug auf das kommende Kernenergieprogramm« zu errichten. Diese Vorlage sei von Barwich einfach nicht weitergereicht worden, obgleich sie »sich bereits einige Zeit« in seinen Händen befunden habe. Deshalb habe man nicht fundiert beraten können. »Hinzukommt, dass eine Empfehlung von leitenden Mitarbeitern des Institutes am 21. August 1959 ausgearbeitet und abgegeben wurde«, in der vorgeschlagen wird, »einen eigenen Forschungsreaktor zu bauen, der nicht nur die Konzentration, die Kräfte des ZfK in Anspruch nimmt, sondern auch andere Betriebe und Institutionen, einschließlich das WTBR mit einbezieht. Diese Meinungsverschiedenheiten waren bereits Gegenstand zwischen der Arbeitsgruppe Professor Steenbeck und Professor Barwich vor längerer Zeit. Diese Empfehlung enthält auch den Namen von Professor Schwabe, obwohl in einer Erklärung, die Professor Schwabe am 15. August 1959 Professor Barwich abgab, es heißt, dass er sich von dem Vorschlag von Professor Barwich distanziert, wurde trotzdem sein Name in diese Empfehlung mit hineingearbeitet und an das AKK weitergeleitet. Dies wurde Professor Schwabe erst völlig klar, nachdem er die Vorlage und andere Empfehlungen kannte.« Hierüber sei Schwabe sehr entrüstet gewesen. Er habe gesagt, dass er sich somit »vor der Öffentlichkeit unsterblich blamiert«. Die Vorlage sei erstmalig am 12. Oktober diskutiert worden im Rahmen einer Bereichsleitersitzung. Die Partei habe Exemplare der Vorlage gehabt. Dies habe Barwich nicht gewusst. Er habe sie zurückgefordert, um sie dann selbst zu verteilen. Allerdings erst, nachdem die Partei das an Schwabe ausgereichte Exemplar wieder eingesammelt hatte.1986 Am Donnerstag, dem 15. Oktober, fand eine weitere Sitzung statt. Sie und die dritte zeigten, dass die Konflikte offen ausgebrochen waren. Sie fand in der Wohnbaracke, im Zimmer eines untergeordneten Mitarbeiters statt. Teilnahmen u. a. Schwabe, Faulstich, Fuchs und Thümmler1987. Barwich nahm nicht teil. In der Sitzung wurde rasch deutlich, dass die Vorstellung, einen eigenen Forschungsreaktor zu bauen, wie Schnee in der Sonne schmolz. Fritz Thümmler stellte fest, 1985  HA VI/2 vom 15.10.1959: Aussprache mit Barwich am 14.10.1959; ebd., Bl. 135. 1986  Rossendorf vom 21.10.1959: Bericht von Hilbert; ebd., Bl. 141–143, hier 143. 1987  Er hielt den dritten Vortrag anlässlich der Inbetriebnahme des Reaktors im ZfK. Thümmler, Fritz: Einige kerntechnisch interessante Werkstoffprobleme, in: Barwich, Heinz (Hrsg.): Das Zentralinstitut für Kernphysik am Beginn seiner Arbeit. Berlin 1958, S. 43–59.

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dass damit »der homogene Reaktor gestorben« sei, »außerdem habe er eine Reihe großer Mängel in sich«. Die dritte Sitzung fand am selben Tag um 15.00 Uhr statt. An ihr nahmen Vertreter des WTBR und des ZfK teil, u. a. Schwabe und Fuchs. Man bat auch Barwich und Steenbeck, dieser Versammlung beizuwohnen. Die jedoch setzten ihr bilaterales Gespräch »ungehindert« [unbeeindruckt] fort. Beide erschienen erst »nach 17.00 Uhr«. Barwich sei mit lautem Wortschwall eingetreten und habe gesagt, »Da kann man ja mit der Pressekonferenz beginnen.« Er habe sich mit Steenbeck bereits verständigt, sodass es nichts zu diskutieren gebe, »jede Diskussion« sei »überflüssig«. Die Sitzung sei aufgehoben. Insbesondere Schwabe soll sich empört haben über dieses Verhalten, »der als 2. Direktor wie ein einfacher Mitarbeiter behandelt« worden sei. Er und zwei andere Bereichsleiter meinten: »die Prälaten erschienen und das Fußvolk marschiert«. Schwabe werde in Zukunft die Zusammenarbeit mit Barwich ablehnen. Er habe seinen Rücktritt eingereicht. Das Rücktrittsgesuch liege Hilbert bereits vor.1988 Ein Aktenvermerk mit der Tgb.-Nr. 722/59 enthält die Information, dass Winde am 28. November mit Barwich in einem »besten Einvernehmen« gestanden habe. Der stehe auch mit Steenbeck »in voller Übereinstimmung«. Barwich sei schon ­immer für den Siedewasserreaktor gewesen. Barwich sei bei Walter Ulbricht gewesen und fühle sich so, das ließ er durchblicken, dass »er ›der Held des Tages gewesen sei‹«.1989 Überliefert ist in der Akte zu Hertz eine der tiefgründigsten Darstellungen zur Kernenergieproblematik zu Beginn des Jahres 1960, eingeleitet von einem Schreiben Barwichs vom 11. Januar an ihn. Hertz war derzeit Direktor des Physikalischen Instituts der KMU Leipzig. Barwich legte seinem Schreiben ein Memorandum bei. Thema ist die Situation auf dem Gebiet der Kernforschung und Kerntechnik. Barwich schrieb, dass das Memorandum sich »mit den zunehmenden Mängeln« auf diesen beiden Gebieten befasse. Kernpunkt seiner Kritik sei die Arbeit des Wissenschaftlichen Rates. Soll der Rat »mehr als ein rein repräsentatives Gremium sein«, so müsse »mindestens der Zustand« von Anfang 1956 wieder erreicht werden.1990 Barwich hob im »Memorandum über die Zunahme der Mängel der Arbeit des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie« vom 11. Januar hervor, dass sich die Erwartungen, die in den Rat gesetzt worden seien, mittlerweile nicht erfüllt hätten. »Während der Beschlussvorlage für den Bau eines ersten Atomkraftwerkes Anfang 1956 eine mehrmonatige Arbeit einer dreigeteilten Kommission von mehr als 30 anerkannten Wissenschaftlern und Techniker voraus1988  Rossendorf vom 21.10.1959, Bericht von Hilbert; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 141–143, hier 143. 1989  Aktenvermerk ohne Kopfangaben; ebd., Bl. 145. 1990  Schreiben von Barwich an Hertz vom 11.1.1960; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 137 sowie BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 479–484. Anlage 1: Ausführungen von Prof. Dr. Steenbeck über die Konzeption des WTBR im Zusammenhang mit der Vorbereitung der 2 Aus­baustufe des AKW-I vor der Kommission für Kernenergie am 29.1.1960; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 152–154 u. 170–172 sowie BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 473–478.

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ging, fehlte eine ähnliche Vorbereitung der Beschlussvorlage über die 2. Ausbaustufe vollkommen, obgleich dieses Objekt ungefähr die gleiche Bedeutung hat wie das erste. Ein dringender Vorschlag zur Berufung einer engeren Fachkommission zu dieser Vorlage (eingereicht am 9. September an den Vertreter der Wirtschafts­ kommission des ZK im Rate, Gen[ossen] Apel) fand keine Berücksichtigung.« In einer kurzfristig anberaumten Sitzung am 5. Dezember 1959 fand sich »die Mehrzahl aller Ratsmitglieder in die Rolle von Zuhörern versetzt, die zu den von Barwich und Steenbeck vorgetragenen Detailfragen keine Stellung nehmen konnten«.1991 Barwich stellte fest, dass »kein führender Maschinenbauer« bei der Beratung der 1. Ausbaustufe resp. in Hinblick auf die 2. Ausbaustufe hinzugezogen worden sei. Sowohl er als auch Steenbeck seien in dieser Frage nicht Fachmänner genug. Der Wissenschaftlich-technische Rat,1992 »welcher durch den gleichen Beschluss des Ministerrates wie der Wissenschaftliche Rat für die friedliche Anwendung der Atomenergie ins Leben gerufen wurde und dem zum großen Teil Mitglieder des Letzteren angehören, war als Arbeitsgremium zur Unterstützung des AKK und zur Vorbereitung der Arbeit des Wissenschaftlichen Rates gedacht.« Bis 1958 habe dieser Rat fruchtbare Arbeit geleistet, etwa hinsichtlich des Aufbaus wissenschaftlicher Institute (Beispiel: Institut für angewandte Physik der Reinststoffe, Institut für physikalische Stofftrennung). Das Institut für angewandte Physik der Reinststoffe (Dresden) wurde später Bestandteil des Zentralinstituts für Festkörperphysik und Werkstoffforschung. »Forschungspläne«, so Barwich weiter, seien »auf dem gesamten Sektor der Kernforschung und Kerntechnik« »tatsächlich beraten« worden. 1959 schlug dann selbiges völlig fehl. »Die Einstellung der Tätigkeit« des WTR »erfolgte letzten Endes wegen allgemeiner Überlastung seiner Mitglieder im Zusammenhang mit der inzwischen zu groß gewordenen Anzahl von Fachgremien mit ähnlichen Aufgaben (Forschungsrat, Kollegium des AKK, Kuratorium und Beiräte der Institute sowie Parteikommission)«. Der Rat wurde nicht per Beschluss aufgelöst, seine Mitglieder nicht benachrichtigt. »Durch die Ausschaltung dieses Rates hat sich im AKK allmählich die Methode der selbstständigen Entscheidungen wichtiger Fragen eingeführt«.1993 Barwich setzte sich ausführlich mit den fachlichen Fehlern allein schon in der Vorbereitung der Sitzungsunterlagen auseinander, die, so der Eindruck des Verfassers, schlampig geführt resp. eigentlich gar nicht gewollt waren. Der Text zeigt, dass Barwich seinen »Kontrahenten« und Amtspersonen an Sprach- und Argumentationskraft haushoch überlegen gewesen sein muss. Es seien an dieser Stelle unkommentierte Ausschnitte aus dem Text zitiert; Barwich zählte Mängel auf: 1991  Barwich: Memorandum über die Zunahme der Mängel der Arbeit des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie vom 11.1.1960; BStU, MfS, AP  3192/63, Bl. 138 f., 151, 157 f., hier 151. 1992  Wissenschaftlich-technische Räte, in: Neues Deutschland vom 7.8.1955, S. 3. 1993  Barwich: Memorandum über die Zunahme der Mängel der Arbeit des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie vom 11.1.1960; BStU, MfS, AP  3192/63, Bl. 138 f., 151, 157 f., hier 138, in der Orginalpaginierung Barwichs S. 1–5.

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»a) Die Problematik des Baues eines Atomkraftwerkes ist oberflächlich und irreführend dargelegt. So nimmt man […] mit Überraschung zur Kenntnis, dass zur Begründung der überragenden Wichtigkeit von ›Projektierung und Bau von Atomkraftwerken‹ […] festgestellt wird, dass die Ausführungsprojektierung ›in erster Linie eine ausgesprochene Konstruktionsarbeit sei‹. Und zum Beweis folgt: ›Die Vielzahl von Rohrleitungen und Armaturen erfordert eine genaue vermasste Verlegung‹ etc.« Barwich hatte im Übrigen auf der Sitzung dargelegt, dass eine Entwicklung bislang noch nicht begonnen wurde, er stellt hier noch einmal diesen wichtigen Umstand fest: »b) Im Zusammenhang mit dieser merkwürdigen Auffassung ist es verständlich, dass die Argumente, welche zugunsten des Baues einer 2. Ausbaustufe angeführt werden […], nicht zugkräftig sind. Es sind nämlich genau die gleichen, die bereits für die alte Konzeption derselben, die sowohl seitens der SU als auch von den Fachleuten bei uns bereits vor der Sitzung gründlich verworfen wurde, herangezogen wurden; d. h., die Vorlage wurde hier überhaupt nicht nach einer neuen Konzeption überarbeitet. Und deshalb sucht man auch vergeblich nach einer Gegenüberstellung der alten und der neuen Anforderungen.« Und c): »Die Informationen über die wahrscheinlichen Gründe der Ablehnung des Vertragsabschlusses seitens der SU waren völlig unzureichend, sodass für die Ratsmitglieder keine Einschätzung des Standpunktes der sowjetischen Seite möglich war. Die in der Vorlage angeführte Vermutung […] sprach nur gegen eine 2. Ausbaustufe.« Und aus d): »Im Übrigen enthält die Vorlage sehr viele aus der Literatur zusammengeschriebene Angaben […] – besonders ökonomische Daten, die einen spekulativen Charakter haben und zum Teil Widersprüche enthalten, welche besser nicht aufgenommen worden wären, da bekannt ist, dass diese Daten nur aus Betriebserfahrungen gewonnen werden könnten.« Schließlich e): »Vielfach fehlt eine korrekte Ausdrucksweise, sodass die Möglichkeit von Missverständnissen gegeben ist (Prototyp eines Siedewasserreaktors – statt: Versuchskraftwerk mit Siedewasserreaktor; von den gesetzlich verankerten Begriffen der Projektierung wird kein Gebrauch gemacht etc.).«1994 Ein negativer Umstand übrigens, der sich in einigen neueren historischen Texten fortkopiert hat. Barwich stellte in einem vorletzten Hauptunkt fest, dass bei der Auswahl behandelter Fragen Willkür herrsche: »Es war bisher kein Grund dafür zu erkennen, dass beispielsweise die Gründung eines Institutes für Strahlenbiologie und Strahlenschutz und der Entwurf seines Statuts vor den Wissenschaftlichen Rat gebracht wurden, während eine Reihe viel wichtigerer Maßnahmen und Statute weder vor dem Rat noch vor einem anderen Gremium überhaupt diskutiert wurden.« In dem fünften und letzten Hauptpunkt wandte sich Barwich den Mängeln in der Berichterstattung zu. 1959 sei demnach »kein wörtliches stenografisches Protokoll mehr geführt« worden. Damit, so Barwich, sei »eine objektive nachträgliche Überprüfung des Verhandlungsverlaufes unmöglich« geworden.1995

1994  Ebd., Bl. 139 u. 157. 1995  Ebd., Bl. 139 u. 158.

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Hertz antwortete Barwich postwendend am 13. Januar und bat, Abschriften des Memorandums an Grosse, Thiessen, Steenbeck, Rompe und Rambusch zu senden.1996 Zum Memorandum Barwichs liegt eine Stellungnahme Rambuschs vom 8. Februar vor. Der stellte eingangs fest, dass die Einschätzung Barwichs über die Arbeit des Wissenschaftlichen Rates zutreffend sei und damit die »Grundzüge dieser Einschätzung« auch »von uns«, also dem AKK, »geteilt« würden. Doch zur Überraschung folgte sogleich die Kehre: »Falsch jedoch dargestellt« seien von ihm »die zur Beweisführung herangezogenen Fakten«, auch würden »Verallgemeinerungen getroffen, die nicht zulässig« seien. Die Antworten Rambuschs auf das Barwich-Memorandum sind im Kern Verdrehereien. Hier ein Beispiel; Zitat Rambusch: »Verzicht auf Kommissionsarbeit bei Vorbereitung von Beschlüssen. Bereits diese Formulierung ist eine nicht zulässige Verallgemeinerung. Es sei an das hervorragende Beispiel der kollektiven Vorbereitung des Atomenergiegesetzes erinnert.«1997 Genau dies war nicht der Fall, wie wir oben gesehen haben. Rambusch wich auf Nebengleise aus, verwechselte Gespräche, Diskussionen im ZfK und Absprachen. Und er kritisierte einmal mehr die konzeptionellen Überlegungen des ZfK in Hinblick auf die Frage »Forschungsreaktor oder Leistungsreaktor« und stellte fest, dass die Konzeption des ZfK »nicht von den Belangen der Volkswirtschaft« ausgehe, »sondern« vielmehr »in erster Linie nur die Interessen des ZfK als ein wissenschaftliches Forschungsinstitut« ansehe.1998 Dies ist offenkundig ein ähnliches Problem wie es bei Hartmann die Technologieproblematik und bei Lauter das Interkosmos-Problem war. Rambusch wollte als Amtsfunktionär Erfolge »nach oben« melden, ökonomische und fachliche Argumente zählten wenig. Blieben ihm im Grunde gegen Barwich nur Wortspiele; Zitat: »1. Arbeiten zur Weiterentwicklung und für den Bau des Leistungsreaktors widersprechen den wissenschaftlichen Zielen des Direktors des ZfK, da diese Arbeit im Grunde genommen wissenschaftlich anonym ist und keine wesentlichen wissenschaftlichen Ergebnisse erwarten lässt.« Und es folgte ein zweiter Punkt, der später auch gegen Hartmann in Anwendung gebracht worden ist: »Die Übernahme konkreter Aufträge für die Weiterentwicklung durch die Konstruktion und den Bau eines Leistungsreaktors sind an feste Termine gebunden und erfordern daher eine verstärkte Verantwortlichkeit und Plantreue der mitarbeitenden Institutionen.« Ergo: »Diese Verantwortung möchte der Direktor des ZfK offensichtlich nicht übernehmen.« Barwich zeige »keine Bereitschaft zur sachlichen Diskussion«; es sei von ihm »ein sehr unsachlicher Ton in die Diskussion gebracht« worden, »sodass keine sachliche Auseinandersetzung über die in der Konzeption vorgelegten Fragen mög1996  Vgl. Schreiben von Hertz an Barwich vom 13.1.1960; ebd., Bl. 140 sowie BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 485. 1997 Rambusch: Stellungnahme zu dem Memorandum über die Zunahme der Mängel in der Arbeit des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie von Prof. Barwich am 11.1.1960; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 141–145, 159–164, hier 159, in der Originalpaginierung Rambuschs’ S. 1–11. 1998  Ebd., Bl. 160.

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lich war. Die Ausfälle und Angriffe von Barwich gingen soweit, dass sich Professor Schwabe nachträglich in einem Schreiben von Professor Barwich distanzierte.« Diese angebliche Unsachlichkeit geschah bei einer Aussprache am 12. Oktober 1959, anwesend Barwich, Schwabe, Fuchs und weitere ZfK-Mitarbeiter sowie auf der anderen Seite Rambusch und Winde.1999 Anders wie Barwich sah Rambusch den Vorwurf, der Rat funktioniere nicht, widerlegt mit dem Hinweis auf eine Aussprache zur Sache zwischen Barwich und Steenbeck am 15. Oktober 1959, dann im erweiterten Kreise unmittelbar vor der Ratstagung am 16. sowie schlussendlich auf der Sitzung des Wissenschaftlichen Rates am 3. Dezember 1959. Dass dort nicht diskutiert worden war, sah Rambusch als normal an, da dort Fachleute verschiedenster Fachgebiete saßen.2000 Die Ausschaltung des Wissenschaftlich-technischen Rates erfolgte laut Rambusch bereits im Dezember 1956, es sei eine »de-facto-Liquidierung« gewesen. Dafür aber, und dies sei eine eindeutige Festlegung gewesen, traten anstelle des Rates Kommissionen, wodurch der Rat »selbst überflüssig« geworden sei. Auf der 5. Tagung des Wissenschaftlichen Rates war beschlossen worden, »die Fachgremien« des WTR »als Kommissionen des Wissenschaftlichen Rates einzusetzen«. Dadurch seien dem WTR die Arbeitsgremien entzogen worden, womit ihm der Boden für Beschlüsse entzogen worden ist. Und zum anderen wurde der WR »überflüssig, da die Kommissionen nach den in ihren Arbeitsordnungen festgelegten Funktionen direkt die Rolle des beratenden Organs auf den verschiedenen Fachgebieten übernehmen sollten.« Immerhin anerkannte Rambusch, dass die de-facto-Auflösung nicht durch Beschluss zustande gekommen sei und dass es nottue, die »Zuständigkeit der verschiedenen beratenden Organe« endlich zu klären. Die Diskussion, die Rambusch hier führte, trug deutlich den Stempel des abschweifenden Besserwissens mit dem Ziel, Barwich in seinem eigentlichen Anliegen nicht verstehen zu wollen. Barwich soll auf der Tagung des WR am 3. Dezember 1959 die Ansicht vertreten haben, »dass die in der Vorlage gegebenen Begründungen für eine 2. Ausbaustufe nicht zugkräftig genug« gewesen seien und er »seinerseits zwei neue Begründungen« formuliert habe: »1. In der Staatlichen Plankommission (SPK) liegt ein Beschluss vor, eine 2. Ausbaustufe zu bauen. 2. Ich habe eine Information darüber erhalten, dass wir bereits eine Summe von ca. zehn Millionen DM für die 2. Ausbaustufe investiert haben.« Rambusch dazu: beide Formulierungen seien dem Inhalt nach nicht neu, lediglich der Form nach.2001 Zur Frage der Willkür bei der Auswahl zu behandelnder Fragen meinte Rambusch, dass »die Gründung des WTBR«, wie bekannt, »nicht vom Wissenschaftlichen Rat beraten und beschlossen« worden sei, da Steenbeck »unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion von Genossen Selbmann beauftragt« worden sei, »eine Arbeitsgruppe für den Bau von Leistungsreaktoren aufzubauen. Dieser 1999 Ebd. 2000  Vgl. ebd., Bl. 142. 2001  Ebd., Bl. 143 u. 163.

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Auftrag« sei »durch die Gründung des WTBR schließlich sanktioniert« worden. Und weiter: »Auf alle Fälle aber, und hier ist Professor Barwich falsch informiert, wurde die Gründung des WTBR mit den dafür zuständigen Regierungsstellen beraten und abgestimmt.« Es sei statutenkonform, wonach der Leiter des Amtes (also Rambusch) dies qua Amt tun könne. Unklarheiten zu den Aufgabenstellungen des WTBR gebe es lediglich im ZfK: »Allen Bestrebungen, auch in dieser Frage Klarheit im ZfK zu schaffen, weicht der Direktor des ZfK [Barwich] aus, denn trotz der Bereitschaft des WTBR ist es dazu noch nicht gekommen.« (Allein diese Formulierung zeigt, dass Rambusch den Grund der Verweigerung nicht mitteilen wollte.) Auch in der Frage der Berichterstattung sei Barwich angeblich falsch informiert, es gebe sehr wohl »Protokolle sämtlicher Tagungen«.2002 Der Knackpunkt lag eben beim Attribut »stenografiert«. Aussagekräftige Protokolle waren es nicht. Der Streit eskalierte im Februar 1960 weiter, da Barwich sich genötigt sah, an Hertz eine Beschwerde in Bezug auf das Beschlussprotokoll zur von Hertz geleiteten Kommissionssitzung vom 9. Februar zu richten. Barwich monierte, dass das Protokoll »nicht in allen Punkten den tatsächlich erzielten Beratungsergebnissen« entspreche.2003 Um es vorweg zu nehmen: Hertz antwortete am 24. Februar und teilte Barwich mit, dass er ebenfalls »in einigen Punkten nicht einverstanden« sei und noch in derselben Woche mit Rompe und Rambusch »darüber sprechen« werde. Ferner kündigte er einen Besuch im ZfK an, um mit ihm und Kollegen zu sprechen.2004 Zu den Einwänden Barwichs: sie sind einerseits für das Verständnis des Sachzusammenhangs wichtig, andererseits auch als Beleg für die typische Art und Weise des Apparates, auf fachlich-sachliche und historische Einwände zu reagieren. Insofern ist es eine Blaupause auch für das spätere Hartmann-Geschehen (Kap. 4.1). In diesem Schreiben an Hertz ist auch der Fakt dargestellt, dass Barwich bereits sechs Mal versucht hatte, dass ihm die Beschlüsse der Sitzung vom 3. Dezember 1959 zugestellt werden, »deren Formulierung mir bis heute nicht bekannt ist«.2005 Dies zeigt, dass Barwich weit vor Hartmann bereits ausgegrenzt worden ist und ihm letztlich keine andere Wahl blieb als zu fliehen. Eine Konsequenz, die Hartmann dann nicht mehr ziehen konnte. Tatsächlich kündigte Barwich in diesem Schreiben praktisch seine Flucht an: »Den Weg eines Kockel möchte ich, wenn es irgend geht, so spät wie möglich beschreiten, da mir die Menschen des ZfK persönlich am Herzen liegen und ich glaube, dass viele von ihnen gern mit mir zusammenarbeiten.« Er hatte also Hertz mitgeteilt, dass die Flucht eine Option sei. Darauf wird zurückzukommen sein. Hier das unwesentlich gekürzte Schreiben Barwichs: 2002  Ebd., Bl. 145 u. 164. 2003  Vgl. Schreiben von Barwich an Hertz vom 20.2.1960; ebd., Bl. 146 f. u. 166 f., hier 146. 2004 Schreiben von Hertz an Barwich vom 24.2.1960; ebd., Bl. 148 sowie BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 490. 2005  Schreiben von Barwich an Hertz vom 20.2.1960; BStU, MfS, AP  3192/63, Bl. 146 f. u. 166 f., hier 146. Das Schreiben umfasst vier Seiten.

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»Zu dem Beschlussprotokoll über die Sitzung der von Ihnen geleiteten Kommission vom 9.2.1960 muss ich leider einige Einwände machen, da es nicht in allen Punkten den tatsächlich erzielten Beratungsergebnissen entspricht. Es trifft nicht zu, dass ein Beschluss III.2 ›Es ist notwendig, für das Zentralinstitut für Kernphysik eine kollektive Leitung zu bilden‹ gefasst wurde, insbesondere ›nach eingehender Aussprache‹ […]. Mein Gedächtnis kann mich unmöglich trügen, da ich in einem solchen Falle auf eingehender Aussprache bestanden und mindestens zwei Fragen gestellt hätte, nämlich: 1. aufgrund welcher Analyse wird ein solcher Beschluss für notwendig erachtet und 2. worin soll seine Durchführung bestehen, etwa in einer Änderung des Statuts oder anderen juristischen Festlegungen? Ich erinnere mich sehr wohl, dass Herr Rambusch einige Anschuldigungen gegen die Leitung des ZfK im Zusammenhang mit Unzufriedenheit von Professor Schwabe gebracht hat und dass Herr Rompe später bemerkt hat, man müsste über diese Frage noch einmal sprechen. Ich selbst habe zu den Vorwürfen absichtlich nicht sachlich Stellung genommen, sondern nur erklärt, dass sie durch einseitige Beobachtungen und unvollständige Informationen in dieser Form nicht gerechtfertigt sind. Weiterhin ist es nicht zutreffend, dass beschlossen wurde, dass das ZfK umgehend einen Perspektivplan auszuarbeiten hat. Wäre dieser Beschluss mir bekannt geworden, so hätte ich zunächst einmal geltend gemacht, dass vor einem ¾ Jahr ein solcher Perspektivplan an das Amt gesandt wurde, woraufhin ich bis heute noch nicht eine schriftliche Zeile der Bestätigung, der Kritik oder der Aufforderung zu einer Überarbeitung erhalten habe. Selbstverständlich kann ich eine Überarbeitung dieses inzwischen teilweise überholten Dokumentes durchführen, kann mich aber mit dem gestellten Termin nicht bedingungslos einverstanden erklären. Hier liegt offenbar eine willkürliche Erweiterung des tatsächlich gefassten Beschlusses über die Zukunft der Arbeiten zur Reaktorentwicklung vor […]. Ich vermisse in dem Protokoll die Feststellung, dass festgelegt wurde, die Beschlüsse der Sitzungen des Wissenschaftlichen Rates an die Mitglieder des Rates, die für ihren Inhalt mit zuständig sind, zu versenden. Ich versuchte nunmehr (zum 6. Male), die Beschlüsse der Sitzung vom 3.12. zu erhalten, deren Formulierung mir bis heute nicht bekannt ist. Ich bitte Sie, zu verstehen, dass es für meine Leitungstätigkeit im ZfK notwendig ist, die genaue Formulierung des letzten Beschlusses über die Erforschung und Entwicklung anderer Reaktortypen als des Druckwasserreaktors sowie über die Zurückstellung des Siedewasser-Kraftwerk-Projektes auf die Ebene der übrigen Studienprojekte zur Kenntnis zu bekommen. Ich habe bisher noch keinen Kollegen in leitender Funktion gesprochen, der nicht mit mir einer Meinung in folgendem ist: Beschlüsse von Kommissionen oder Räten müssen entweder vor einer Beratung formuliert vorliegen und können dann angenommen werden, oder sie müssen während einer Beratung exakt formuliert werden und auf diese Weise in das Protokoll gelangen, oder sie müssen nach der Sitzung formuliert werden und den Teilnehmern der Beratung so zugestellt werden, dass eine Kontrolle ihrer Richtigkeit und ein Einspruch möglich ist. In allen Fällen müssten sie vom Vorsitzenden oder allenfalls von seinem Stellvertreter unterzeichnet werden. Wenn aber gar kein offizielles Protokoll geführt wird, ist ja eine objektive Kontrolle nicht möglich, also auch keine widerspruchsfreie Arbeit denkbar, gerade bei so schwierigen Problemen, wie sie jetzt vorgelegen haben. Stimmen Sie auch dieser Auffassung zu? Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang, Einspruch zu erheben gegen den Beschluss I.6, wonach Herr Rambusch Ihr Stellvertreter im Wissenschaftlichen Rat werden

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soll. Ich kann mich an eine solche Festlegung nicht mehr erinnern, werde also bei jeder Gelegenheit dagegen stimmen. Die sachliche Kritik des Memorandums ist sowohl [von] Ihnen als auch von den Herren Steenbeck, Rompe und Apel anerkannt worden, und da die anerkannten und nunmehr größtenteils beseitigten Mängel nun einmal personengebunden sind, kann nicht mehr übersehen werden, dass damit auch die Anerkennung der Kritik an einer Person erfolgt ist. Diese Person nunmehr in eine noch verantwortlichere Position zu heben, wird niemals die Mehrheit der Ratsmitglieder vertreten. Diese Feststellung ist jedoch nicht in das Protokoll gelangt. In diesem Zusammenhang muss ich die Formulierung […] über die prinzipielle Klärung der Aufgaben des WTBR und des ZfK anführen. Dieser Punkt ist missverständlich formuliert. Die Klärung ist doch nun gottseidank und in gutem Einvernehmen zwischen Herrn Steenbeck und mir herbeigeführt worden! Worum es geht, ist doch die Frage, die sowohl Herr Steenbeck als auch ich in gleicher Weise gestellt haben: Soll das Statut des WTBR, das nach übereinstimmender Meinung den gegenwärtigen Erfordernissen nicht mehr entspricht, auf dem Wege der Gesetzgebung abgeändert werden oder durch eine protokollarische Festlegung, die dem Wissenschaftlichen Rat bekanntgegeben wird. Da weder Herr Steenbeck noch ich auf einer Änderung des Gesetzblattes bestanden haben, ist also das Letzte beschlossen worden. Die Formulierung lässt dieses tatsächliche Ergebnis der Beratung nicht erkennen. Ich bitte Sie, lieber Herr Hertz, mir Glauben zu schenken, wenn ich Ihnen sage, dass ich nach der Aussprache am 9. Februar tatsächlich den freundschaftlichen Händedruck mit Herrn Rambusch ernst gemeint habe und der Meinung war, er würde nunmehr ehrlich versuchen, das unsachliche Vorgehen, über das Sie ja nur zu einem geringen Teil durch die Ereignisse informiert sind, abzustellen. Umso größer ist die Enttäuschung, dass ich Sie nun wieder, anscheinend in der gleichen Weise wie bisher, belästigen muss. Ich habe aber nur zwei Möglichkeiten, einmal, sachliche Arbeit anzustreben und immer wieder zu fordern, oder zurückzutreten. Mit dem letzteren Gedanken bezüglich des ZfK trägt sich bekanntlich Herr Schwabe. In einer Aussprache mit Herrn Grosse hat er offenbar nicht die erwartete Kritik an meiner Person geübt, sondern sich über das Amt beklagt, und vorgeschlagen, das Institut an die TH anzugliedern, woraufhin ihm die gleichen Vorwürfe, wie sie mir gemacht wurden, trafen, nämlich, dass die Institutsleitung an den Mängeln der Zusammenarbeit mit dem Amt schuld sei. Damit dieser Brief nicht endlos wird, möchte ich jetzt mit einer Bitte schließen. Geben Sie uns Dreien, Herrn Schwabe, mir und Herrn Schintlmeister, die Gelegenheit einer gemeinsamen intimen Aussprache mit Ihnen und machen Sie sich selbst ein Bild über die Berechtigung unserer Klagen. Wenn ich auch dem von mir vorgebrachten Antrag bei Walter Ulbricht, das Institut der Akademie zu unterstellen, oder dem Schwabe’schen Vorschlag, es an die Hochschule anzugliedern, zzt. keine Chancen gebe, so verspreche ich mir doch von einer gelegentlichen Stellungnahme Ihrerseits für die Sache einiges Gute.«2006

Über das Memorandum von Barwich fand am 9. Februar eine Besprechung statt. Barwich soll, so Offizier Jahn, nach Abschluss der Sitzung davon ausgegangen sein, dass die Differenzen zwischen ihm und Rambusch beigelegt worden seien; Jahn: »Besonders wertvoll waren bei dieser Auseinandersetzung die Beiträge der Genossen 2006  Ebd. Gemeint ist die Anerkennung der Berechtigung der Kritik durch das Memorandum.

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Apel und Grosse, die sich entschieden gegen das Störfeuer von Barwich wandten und vor allem seine Methode der ›Postwurfsendungen‹ verurteilten. Die Tatsache, dass seit 1955 ein Statut für die Arbeit des Wissenschaftlichen Rates existiert, von dem niemand Kenntnis hatte, wurde von Rambusch kaum beachtet und wird im Beschlussprotokoll nur insofern erwähnt, dass es nach den neuesten Gesichtspunkten überarbeitet werden muss. Rambusch machte erneut darauf aufmerksam, dass er mit der Arbeitsweise Hartmanns sehr unzufrieden ist, dass er befürchtet, dass über Hartmann jede fachliche Kontrolle verlorengeht, wenn der Charakter des VEB Vakutronik entsprechend den Wünschen Hartmanns verändert wird.«2007 Das betraf Hartmanns Bestrebung, aus Vakutronik einen WIB zu machen (Kap. 4.1). Hertz nahm sich der Barwich-Thematik an, sprach mit Kollegen, schrieb Briefe, telefonierte, forderte Dokumente an. Rambusch, Sekretär des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie beim Ministerrat der DDR, schickte ihm mit Schreiben vom 15. Februar das Beschluss-Protokoll über die Sitzung der Kommission für Kernenergie vom 9. Februar zu. Das Protokoll sollte er anschließend wieder zurückgeben.2008 Dieses Beschluss-Protokoll – von Rambusch und ohne Datum! – hielt fest, dass am 3. Dezember 1959 die 11. Tagung des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie stattfand, auf der der Plan für die Entwicklung der Kernenergie der DDR beraten worden war. Es ist verklausuliert festgestellt, dass sowohl Steenbeck als auch Barwich sich Klarheit in der weiteren Arbeit dringend wünschten. Das Protokoll informierte, dass Barwich im Januar 1960 ein Memorandum vorgelegt hatte. Auf Vorschlag von Rompe fand daraufhin unter Vorsitz von Hertz am 9. Februar eine Beratung statt, an der Hertz, Rompe, Apel, Grosse, Barwich, Steenbeck und Rambusch teilnahmen. Entschuldigt fehlte Thiessen. Rambusch übergab zu Beginn der Beratung eine Stellungnahme des AKK zum Memorandum an Hertz, Apel, Grosse und Barwich.2009 Warum aber nicht an Steenbeck und Rompe? Es sind allermeist organisatorische Maßnahmen festgelegt worden, die belegen, dass das Memorandum Barwichs sehr ernst genommen worden sein muss. Die Arbeitsorganisation im Wissenschaftlichen Rat sollte nun über sechs Reformvorschläge auf Vordermann gebracht werden. Rambusch, bislang Sekretär des Rates, sollte »nur« noch Stellvertreter werden. Zum AKK: der erste Punkt glich einem Paukenschlag: »1. Die Arbeitsweise des Amtes muss geändert werden. Das Amt muss mehr als bisher die im Statut des Amtes verankerten Aufgaben übernehmen. Im Besonderen hat das Amt die Aufgabe, eine einwandfreie organisatorische und vorbereitende Tätigkeit für die Arbeit des Wissenschaftlichen Rates durchzuführen.« Dies ist im Kern der Aussage eine heftige Maßregelung Rambuschs. In einem dritten Punkt zum AKK ist beschlossen worden, den Wissenschaftlich-technischen Rat des Amtes »aufzulösen, da die 2007  Abt. VI/2 vom 19.2.1960; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 147. 2008  Vgl. Schreiben von Rambusch an Hertz vom 15.2.1960; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 167. 2009  Vgl. Beschluss-Protokoll zur 11. Tagung des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie (o. D.); ebd., Bl. 149 f. u. 168 f.

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Arbeit dieses Rates von den Kommissionen und dem Wissenschaftlichen Rat selbst übernommen« worden ist. Für das ZfK standen die beiden folgenden von Barwich kritisierten Punkte zur Debatte: erstens die Aufgabe, »umgehend einen Perspektivplan auszuarbeiten«, und zweitens im ZfK »eine kollektive Leitung zu bilden«. Das entsprach einer Entmachtung Barwichs. Für das WTBR sei der vorgesehene Wissenschaftlich-Technische Beirat zu bilden. Der habe zur Hauptaufgabe, die Entwurfs-, Konstruktions- und Projektierungsarbeit für die 2. Ausbaustufe des AKW zu leisten. Ein weiterer Hauptpunkt des Beschlusses fasste Vorschläge zur Verbesserung der Kommunikationsbedingungen, insbesondere zwischen ZfK und WTBR.2010 Am 18. Februar führte Offizier Jahn ein Gespräch mit Barwich über die Sitzung am 9. Februar. Barwich äußerte, dass er mit dem Ergebnis der Sitzung zufrieden sei. Sein Memorandum habe Wirkung erzielt. Nicht zufrieden sei er hingegen mit der Beschlussfassung, die ihm am 17. Februar, also tags zuvor, übergeben worden sei, namentlich »gegen die Formulierung, dass im Zentralinstitut eine kollektive Leitung« installiert werden solle. Ein solcher Beschluss sei gar nicht gefasst worden. Barwich meinte, dass es das Beste sei, das Zentralinstitut vom AKK zu lösen und entweder an die DAW oder an die TH Dresden anzubinden. In dieser Hinsicht sei er mit Schwabe weitgehend einig; Jahn: »Dabei vereinigen sich die Interessen von Schwabe und Barwich in der Absicht, einer strengen Kontrolle und Anleitung zu entgehen.« Jahn empfahl deshalb, »so schnell wie möglich« Schwabe aus diesen Organisationsdiskussionen herauszunehmen und ihm einen akzeptablen Rahmen für seine Arbeit auf dem Feld der Radiochemie zu schaffen. Das Handicap hierbei sei, dass Schwabe angeblich Bedenken hege, dieses Gebiet (weiter) zu bearbeiten, »da jede Beschäftigung mit Radiochemie militärisch auszulegen« sei. Zum Verhältnis Steenbecks zu Barwich schätzte Jahn ein, dass beide »niemals echte Auseinandersetzungen in offener Form« austragen würden, sie »sich niemals dem Staat gegenüber eine Blöße geben würden«. Obgleich die Auseinandersetzung hinsichtlich der 2. Ausbaustufe deutlich sei, hätten sie sich beide »friedlich« geeinigt.2011 Rambusch lieferte Hertz am 29. Februar einige Ausführungen Steenbecks als Anlage  1 zum Protokoll über die Sitzung der Kommission für Kernenergie vom 29. Januar.2012 Steenbeck erläuterte hierin seine Vorstellungen »über die Konzeption des WTBR im Zusammenhang mit der Vorbereitung der 2. Ausbaustufe des AKW-I vor der Kommission für Kernenergie am 29. Januar 1960« ohne jede übliche Ablenkung hin zu verwaltungstechnischen oder gar moralisch-politischen sowie ideologischen Dingen:2013 hier sprach ein Technikbeseelter wie unter Ingenieuren 2010  Ebd., Bl. 150 u. 168 f. 2011  Vgl. Abt. VI/2 vom 19.2.1960: Unterredung mit Barwich am 18.2.1960; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 148 f. 2012  Vgl. Schreiben von Rambusch an Hertz vom 29.2.1960; ebd., Bl. 151. 2013  Vgl. Anlage 1: Ausführungen von Prof. Dr. Steenbeck über die Konzeption des WTBR im Zusammenhang mit der Vorbereitung der 2. Ausbaustufe des AKW-I vor der Kommission für Kernenergie am 29.1.1960; BStU, MfS, AP  3192/63, Bl. 152–154 u.  170–172 sowie BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 473–478.

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üblich. Es ist ein eindrucksvolles Dokument des begabten Steenbeck. Er bezeichnete seine Vorschläge als zur »Vorbereitung der 2. Ausbaustufe des AKW-I« gehörig. Man könne diese auch als experimentelle Optimierung der Leistungsfähigkeit der ersten Stufe ansehen. »Wesentliche Verbesserungsmöglichkeiten« bestünden beispielsweise darin, den Reaktor so zu ändern, dass »eine bessere Manipulierbarkeit« ermöglicht werde.2014 Barwich droht Ulbricht Generalmajor Markus Wolf von der HV A erhielt aus inoffizieller Quelle Kenntnis von Positionen Barwichs hinsichtlich der Formulierung des Atomgesetzes, die er dem Stellvertreter Mielkes, Generalleutnant Otto Walter am 4. März 1960 weiterreichte. Demnach war Barwich nach eigenem Bekunden nicht mit seinen Formulierungsvorschlägen durchgedrungen. Sein Brief an Grotewohl im November 1959 sei wie auch ein Wiederholungsschreiben drei Wochen später unbeantwortet geblieben. Also habe er Ulbricht angeschrieben, worauf er von Staatssekretär Plenikowski eine »nichtssagende Antwort« erhalten habe. Offizier Roitzsch von der Abteilung  I / b (er erhielt diese Informationen von einem Informanten) hielt fest: »In dem Gespräch betonte Barwich, dass er zehn Jahre in der Sowjetunion gelebt habe und den Ton der Parteihierarchie hinreichend kenne. Gerade deshalb sei er von der Richtigkeit seiner Auf‌fassung überzeugt.« Barwich erachte diese Formulierung als Gewissensfrage, deshalb sei er auf die Nichtantwort »auf das schwerste verärgert«. Er behalte sich deshalb vor, »aus dem Weltfriedensrat auszutreten«. Er trage sich gar »mit dem Gedanken, sich in dieser Frage direkt an den Gen[ossen] Chruschtschow zu wenden«.2015 Barwich wollte offenbar Klartext mit Rambusch sprechen, möglichst unter vier Augen; Winde als Zeugen akzeptierte er nicht. Rambusch bestand jedoch darauf, dass Fuchs und der neue Parteisekretär Lässig daran teilnehmen sollten. Nichtsdestotrotz gelang es Barwich, kurz mit Rambusch unter vier Augen zu sprechen. »Die Auseinandersetzung verlief hart, weil Professor Barwich entgegen den vorher gemeinsam getroffenen Festlegungen über die weiteren wissenschaftlichen Arbeiten wieder Änderungen durchsetzen wollte.« Ein weiterer Streitpunkt war die Forderung Barwichs, Schumann für das ZfK zu gewinnen, der als Sekretär für den Wissenschaftlichen Rat »festgelegt worden« war.2016 Fuchs war zu dieser Zeit Leiter des Bereichs Theoretische Physik im ZfK. Am 6. Mai denunzierte Barwich gegenüber Offizier Jahn Hartmann, da dieser überraschend erklärt habe, die DDR nicht zu verlassen. Er wundere sich darüber, 2014  Ebd., Bl. 473. 2015  Abt. I / b vom 4.3.1960: Hinweis zu Barwich; ebd., Bl. 151 f. 2016  Tgb.-Nr. 202/60, Aktenvermerk zu einer Information von Rambusch am 26.4.1960; ebd., Bl. 153.

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da er mit ihm längere Zeit befreundet sei. An diesem Tag gab Barwich gegenüber Jahn eine ausführliche Einschätzung zu Fuchs. Laut Jahn habe Barwich gesagt: »Ich kann die Leitung des Instituts jetzt nicht mehr abgeben, da sonst vor der Öffentlichkeit dokumentiert ist, dass das Titanenringen von Fuchs gewonnen wurde.« Barwich hatte bei dieser Gelegenheit begeistert von Fuchs gesprochen, der »unter Umständen das gesamte Problem der Leistungsreaktoren revolutioniert« habe. Er habe eine »Reaktortheorie entwickelt, die sowohl die Trennanlage für Uran als auch die Aufbewahrung von Brennelementen unmöglich [obsolet – d. Verf.] macht. Während gegenwärtig pro Tonne Uran 10 bis 15 kg in Energie umgewandelt werden«, liege »der Wirkungsgrad bei der Erfindung von Fuchs zwischen 200 bis 600 kg pro Tonne.« Auch andere Apparaturen würden entfallen. Es handele sich quasi um eine Art von Schnellreaktor. Fuchs habe in einer wissenschaftlichen Diskussion mit ihm alle kritischen Fragen abwehren können. In der Auswertung notierte Jahn u. a., dass künftig »darauf geachtet werden« müsse, »dass die Beleidigungen von Partei- und Staatsfunktionären« durch Barwich unterblieben (Anlass waren wieder seine Äußerungen gegen Rambusch). Und in der Sache der »Erfindung« von Fuchs sei darauf zu achten, dass alle Wissenschaftler, die mit dieser Sache in Berührung kämen, abzusichern seien, »um die Geheimhaltung der Erfindung zu gewährleisten«.2017 Barwich teilte am 27. Juni Zeiler vom ZK der SED mit, dass die Situation gegenwärtig nicht mehr haltbar sei. Man habe versucht, nach der Ratssitzung am 3. Dezember 1959 und nach der Sondersitzung am 9. Februar 1960 »den Eindruck zu erwecken«, dass »alles bester Ordnung« sei, »das Gegenteil aber ist der Fall«. Ihm sei es, so Barwich, nicht möglich, in schriftlicher Form »alle Vorwürfe darzulegen«, die er »gegen die Leitung des AKK vorzubringen« habe, ja, sich nachgerade dazu »verpflichtet fühle«. Das ZK müsse sich, vielleicht über das Einschalten von Apel, mit der Angelegenheit unbedingt befassen. Heute jedoch müsse er zunächst beim ZK der SED »in aller Form einen Misstrauensantrag gegen den Leiter des AKK, Genossen Rambusch« stellen. Die Begründung liefere bereits sein Memorandum vom 11. Januar. Rompe allerdings versuche, »diese Kritik zu unterdrücken«. In Apel setze er seine »einzige Hoffnung, weil er es war, der das Gegenteil tat und in einer Sondersitzung der Kommission am 9. Februar 1960 eine Beratung dieses Schriftstückes erzwang. Die Ergebnisse dieser Beratung berechtigten zum Optimismus. Der erste schwere Rückschlag trat ein, als mir das sogenannte ›Protokoll‹ dieser Besprechung zugesandt wurde (siehe Anlage Brief an Professor Hertz). Heute ist zu konstatieren, dass der Leiter des Amtes seine Politik niemals geändert« habe. Beschlüsse seien nicht umgesetzt worden. Auch die Gründung des Beirates des WTBR nicht, »sodass wir nunmehr das zweijährige Jubiläum des Nichtbestehens des gesetzlich geforderten Wissenschaftlich-technischen Beirates dieser Institution feierlich begehen können«. Es würden Tatsachen verdreht und Informationen vorenthalten werden: »Das letzte Ereignis in diesem Sinne ist die Geheimhaltung der Stellungnahme der sowjetischen 2017  Abt. VI/2 vom 18.5.1960: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 6.5.1960; ebd., Teil II, 1 Bd., Bl. 154–156.

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Regierung zu der Anfrage unserer Regierung bezüglich des Atomkraftwerkbaues.« Diese laufe Rambuschs Konzept zuwider. In vier Jahren sei es Rambusch nicht gelungen, einen »maßgeblichen Kernkraftwerksingenieur heranzuziehen«. Darauf habe er, Barwich, Ulbricht ausdrücklich hingewiesen. Er bitte um eine Aussprache, die er im Beisein von Fabian (ZK-Mitglied) und Fuchs zu führen wünsche. Rambusch lehne er für diese Aussprache ab. Was Barwich bewogen haben mag, den Brief nicht abzusenden, wissen wir nicht. Handschriftlich notierte er: »Im Entwurf verblieben, da nicht genügend redigiert« (notiert am 15. August).2018 Barwich teilte am 1. Oktober einem Mitarbeiter des VEB Deutscher Innen- und Außenhandel Chemie mit, dass er sich außerstande sehe, »die geplante Vortragsreise nach Wien durchzuführen. Es handelt sich darum, dass ich aufgrund einiger in letzter Zeit aufgetretener Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten gegenwärtig nicht die nötige optimistische Grundeinstellung aufbringen kann, die zu einer erfolgreichen Durchführung eines solchen, immerhin repräsentativen Unternehmens unbedingt notwendig ist.«2019 Ein weiteres Schlüsseldokument stammt vom 31. Oktober, angefertigt von Offizier Jahn. Gegenstand war seine Aussprache mit Parteisekretär Lässig vom ZfK am 28. Oktober. Thema war das Verhältnis Barwichs zu Fuchs. Es sei angedacht, »Barwich aus dem Institut zu entfernen und Fuchs als Leiter einzusetzen«. Die Idee stamme von Lässig, der betont habe, dass das »die Linie« sei, »die er vom Genossen Erdmann, Zentralkomitee, habe, und solche Auf‌fassungen« gebe »es« aber auch »im Büro der Bezirksleitung Dresden«. Die eigentliche Überraschung aber folgte: »Auf die Entgegnung« Jahns, »dass die Angriffe Barwichs gegen das Amt für Kernforschung anders gelöst werden müssen, entgegnete Lässig, dass diese Angriffe berechtigt sind und führte Beispiele an. Auf die« weitere »Entgegnung« Jahns, »dass doch die Kritik an Barwich im Wesentlichen entfällt, wenn seine Meinung über das AKK richtig ist, wusste Gen[osse] Lässig keine Antwort, als sich auf die Linie zu berufen.« Jahn: »Meiner Ansicht nach ist diese Linie gefährlich. Wenn die Ablösung Barwichs durch Fuchs Linie ist, verlieren wir beide als Wissenschaftler, wobei Fuchs eindeutig wertvoller ist, wenn er Theorie betreiben kann. Vermutlich wird er an der Leitung des Institutes scheitern. Außerdem werden sich die Wissenschaftler der Kern­forschung und andere im Falle einer Ablösung mit Barwich solidarisieren. Sicher wird er zum Märtyrer, ›weil er seine Meinung sagte und deshalb abgesetzt wird‹.« Auch würde auf seine wissenschaftliche Kapazität verzichtet werden, die auf dem Gebiet der Kernforschung liege. Jahn abschließend: »Hinzu kommt, dass Barwich trotz aller Mängel als fortschrittlicher Wissenschaftler eingeschätzt werden muss.«2020 Barwich hielt im November an der TH Dresden einen Vortrag zu Grundlagen und Perspektiven der Kernkraftwerke für die DDR. Er referierte die internationa2018  Schreiben von Barwich an Zeiler vom 27.6.1960; ebd., Bl. 219–221. 2019  Schreiben von Barwich an Heinrich vom 1.10.1960; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 157. 2020  Abt. VI/4 vom 31.10.1960: Aktenvermerk; ebd., Bl. 158 f.

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len Trends und stellte summarisch fest, »dass kein einziger der heute bekannten Kraftwerksbauten als Prototyp für eine wirklich langfristige Dauerentwicklung infrage« komme. Ihm ging es um die Forschung selbst, die nicht hinreichend weit fortgeschritten sei, ganz zu schweigen vom miserablen Stand der technischen Erprobung; Barwich: »Über die Notwendigkeit, Betriebserfahrungen auch an nicht endgültigen Kraftwerksreaktortypen zu sammeln, besteht kein Zweifel. Ich möchte betonen, dass ich ein konsequenter Verfechter des Standpunktes der sowjetischen Fachkollegen bin, die wiederholt zum Ausdruck brachten, dass eine Beurteilung der technisch-ökonomischen Qualitäten des Reaktors auf dem Papier, ohne Auswertung mehrjähriger Betriebserfahrungen, unmöglich ist. Gegen diese Einstellung wird oft verstoßen, und zwar besonders von den Atomkraft-Enthusiasten in den Ländern, die noch über kein Kraftwerk verfügen.« Er erörterte sodann eine Reihe von technisch-ökonomischen Daten, die zeigten, wie wenig man sich weiland in der DDR überhaupt mit solchen Fragen beschäftigte.2021 Die validen Daten, die Barwich referierte, können hier nicht dargestellt werden, da es sich um theoretische Fragen der Kernphysik und -technik handelt. Am 1. Dezember notierte Johannes Maye von der Abteilung VI/2, dass Barwich während der »Gelehrtenratstagung Ende November in Dubna« zum Vizedirektor gewählt worden sei. Den Teilnehmern Winde und Rambusch sei angeblich dieser Tagungsordnungspunkt vorher nicht bekannt gewesen, es sei »für sie überraschend« gekommen. Angeblich soll Barwich sich geehrt gefühlt haben. Mit dieser Wahl auf zwei Jahre wurde sein »direkter Aufenthalt in Dubna« notwendig. Maye schlug vor, mit Barwich demnächst ein Gespräch hierüber zu führen.2022 Im Kern war es seine Abschiebung, die er auch als solche verstanden haben muss. Die Veränderungen 1961 im Zuge der Grenzschließung und der damit einhergehenden Probleme zeitigten nach Müller »auch eine geänderte Einstellung der politischen Führung zur Kernenergie«.2023 Der Bau des ersten Atomkraftwerks lag 1961 bereits »weit hinter dem ursprünglichen Zeitplan« zurück. Der Beschluss des Ministerrates der DDR vom 10. März 1960 zum Perspektivplan zur Entwicklung der Kernenergie in der DDR bis 1965 hatte sich mittlerweile als Makulatur erwiesen. Der sah ein weiteres Atomkraftwerk vor als »Weiterentwicklung unter Einbeziehung deutscher Projektierungs- und Konstruktionsgruppen sowie mit breiter Beteiligung unserer eigenen Industrie«.2024 Barwich schrieb Hertz am 13. Januar 2021 Barwich, Heinz: Grundlagen und Perspektiven der Kernkraftwerke, Vortrag anlässlich der III.  Polytechnischen Tagung der TH Dresden im November 1960; ebd., Teil  II, 1  Bd., Bl. 169–193, hier 171. 2022  Abt. VI/2 vom 1.12.1960: Bericht; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 160. Barwich: Das rote Atom, S. 194. 2023  Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 8. 2024  »Perspektivplan zur Entwicklung der Kernenergie in der DDR bis zum Jahre 1965« vom 10.3.1960 und »Ergänzende Hinweise zum Perspektivplan des Wissenschaftlichen Rates aufgrund einer Beratung am 3.12.1959«; BArch, DF I 1/10, 877, in: Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 8.

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zu dieser Thematik. Er erinnerte daran, dass der Ministerrat beschlossen hatte, dass der »Wissenschaftliche Rat die neuesten Erkenntnisse, vor allem hinsichtlich gasgekühlter Reaktoren« zu beraten und auszuwerten vorgegeben hatte. Recht drastisch und ironisch bemerkte er hierzu: »Zweifellos hat einer unserer Herren Minister den Eindruck gehabt, dass die im ›Atomrat‹ vereinigten bedeutenden Gelehrten dem ›Gasgekühlten‹ zu wenig Interesse entgegenbrachten und dass möglicherweise unsere Zukunft auf der ›Gaskühlung‹ liegt. Borniert, wie diese Gelehrten nun einmal sind, haben sie bisher keine Anstalten gemacht, der freundlichen Auf‌forderung des Ministerrates Folge zu leisten, und wenn ich nicht ein so arger Kunde wäre und im ZK der SED gefordert hätte, dass dieser ›unantastbare‹ Beschluss dem Wissenschaftlichen Rat nochmals bekanntgegeben wird, würde er sich[erlich] vergessen in den Akten schmoren und niemand würde ihm eine Träne nachweinen.«2025 Am 16. Januar schickte Hertz Barwich das Manuskript seines Dresdener Vortrages vom November 1960 (Grundlagen und Perspektive der Kernkraftwerke, siehe oben) zurück. Er, Hertz, »glaube, dass die wirkliche Sachlage darin sehr richtig zum Ausdruck« komme. Er riet, den Vortrag allen anderen Mitgliedern der Kern­energieKommission zukommen zu lassen.2026 Noch vor der Grenzschließung begannen 1961 Veränderungen und Einschnitte bezüglich der alten Planung. So schied Rambusch im Januar als Leiter des AKK aus (blieb aber zunächst auf der Planstelle). Es war das Wetterleuchten für die künftigen, größeren, einschneidenden Veränderungen, hier im zeitlichen Vorgriff: Zunächst der Beschluss vom 15. Februar 1962 über Sparmaßnahmen im zentralen Staatsapparat, der auch die Atombranche betraf. Ab dem Atomgesetz vom 28. März 1962 erhielt das AKK eher nur noch perspektivische Aufgaben. Kurz darauf, per Beschluss des Präsidiums des Ministerrates vom 26. April 1962, wurde es der SPK zugeordnet. Doch auch diese Lösung trug nicht lange. Mit dem Beschluss des Ministerrates vom 16. Dezember 1962 erfolgte die Auf‌lösung des AKK zum 15. März 1963. Die offizielle Begründung hierfür erfolgte erst später  – und sei auch nach Müller »nicht besonders glaubhaft« gewesen –, nämlich aufgrund einer gebotenen »strikten Trennung zwischen der Anwendung der Kern- und Strahlungsenergie in allen Bereichen staatlicher Interessen einerseits und der staatlichen Kontrolle durch Erlaubniserteilung andererseits vorzunehmen«. Mit der Auf‌lösung des AKK wurde das ZfK der DAW zugeordnet. Der Name wurde geändert in Zentralinstitut für Kernforschung (ZIK).2027 Zurück zum Geschehen 1961: Ein Schreiben Barwichs an Leuschner vom 4. April beleuchtete die aktuelle, akute Situation in der Entwicklung der Kernenergie und -technik. Barwich verwies auf die Tatsache, dass der Ministerratsbeschluss nicht in der fachlichen Stringenz der Empfehlungen des Wissenschaftlichen Rates liege. Er 2025  Schreiben von Barwich an Hertz vom 13.1.1961; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 198 f. 2026  Vgl. Schreiben von Hertz an Barwich vom 16.1.1961; ebd., Bl. 200. 2027  Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 29 f. u. 94.

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nannte zusammengefasst jene Bedenken, die er bereits 1959 an verschiedenen Stellen vorgebracht und erläutert hatte (siehe auch oben, Brief an Hertz). Abschließend stellte er heraus: »Diese Revision soll ja gerade endlich einmal Vorstellungen zu einer gesunden Perspektive der Kernenergie bis 1980 und darüber hinaus zur Erörterung bringen. Ich würde durchaus in der Lage sein, reale Maßnahmen anstelle des Baues der 2. Stufe vorzuschlagen.«2028 Drei Tage später schrieb Barwich an Hertz, dass »ein selbstständiger Bau einer 2. Ausbaustufe« gegenwärtig für die DDR »unmöglich« sei. Der Stand der Technik lasse es nicht zu, ein Druckgefäß zu bauen. »Die Absage der Sowjetunion bezüglich Ausrüstungen steht fest.« Ferner komme der Serienbau von Druckwasserreaktoren ab 1970 für die DDR nicht infrage. Dazu reiche nicht ihre »industrielle Kraft«.2029 Am 26. April notierte Offizier Maye die wichtigsten Aspekte der Argumente ­Barwichs. Er hielt eingangs der Stellungnahme fest, dass auf Empfehlung des Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie vom 3. Dezember 1959 der Ministerrat der DDR am 25. Februar 1960 (Sitzung des Ministerrates) und am 10. März 1960 (Sitzung des Präsidiums des Ministerrates) einen Perspektivplan für die Entwicklung der Kernforschung und Kerntechnik beschlossen habe. Inhalt des Planes war »die Inangriffnahme der Projektierung, Konstruktion und der Bau der 2. Ausbaustufe des AKW-I«. Barwich habe bereits in einem Vortrag an der TH Dresden im November 1960 (siehe oben) Argumente entgegengesetzt. Mit dieser Intention habe er sich auch an den Vorsitzenden der SPK, Leuschner, und an Hertz gewandt. Seine Hauptargumente seien gewesen, dass zum einen der Ministerrat nicht den Empfehlungen des Rates gefolgt sei und zweitens, »dass der obengenannte Beschluss unter der Voraussetzung gefasst« worden sei, »dass die UdSSR die Haupt- und Nebenausrüstungen einschließlich des Reaktorgehäuses« zu liefern habe. Chruschtschow habe im April 1960 jedoch darauf hingewiesen, »dass diese Anlagen von der Industrie der DDR gefertigt werden« müssten. Das berge eine »bedeutende Gefahr« in sich, da der »wissenschaftlichen Forschung im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre durch die Bindung von Kapazitäten und Kräften größter Schaden zugeführt« werde. Ähnlich dächten Schwabe, Rexer, Hartmann, Weiss, Eckardt und Hertz. Er plädiere für eine Revision des Kernenergieprogrammes. Er zeige auch Alternativen auf, so verwies er auf die Berechnungen von Fuchs hinsichtlich des Schnellen Brüters oder Fermi-Brüters.2030 In einem Auskunftsbericht der Abteilung VI/2 vom 28. April 1961 zeigte sich eine gewisse Trendwende in der Beurteilung Barwichs, es hieß, er trage anarchistische Grundzüge: »Durch diese Charaktereigenschaften« setze »er sich oft in Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern und bestehenden Beschlüssen.« Er sei allerdings fach2028  Schreiben von Barwich an den Vorsitzenden der SPK, Leuschner, vom 4.4.1961; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 163–166, hier 166. 2029  Schreiben von Barwich an Hertz am 7.4.1961; ebd., Bl. 167 f. 2030  Abt. VI/2 vom 26.4.1961: Stellungnahme zu Barwichs Auf‌f assung zur Entwicklung der Kernenergie in der DDR und zur 2. Ausbaustufe des AKW-I; ebd., Bl. 159–162.

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lich anerkannt und weise ein »ausgeprägtes wissenschaftlich-organisatorisches Talent« auf.2031 Dieser (praktische)  Anarchismus aber ist zu übersetzen, er heißt: Freiheit im Denken und im Besitz einer eigenen Urteilsfindung zu sein. Dies bewies er grundsätzlich, auch in politischen Alltagsfragen. Eine Solidaritätsadresse der in Dubna weilenden DDR-Wissenschaftler im Rahmen einer öffentlichen Parteiversammlung an Ulbricht anlässlich der aktuellen Lage (Grenzschließung) unterschrieb er nicht. Da er an dieser Versammlung (bewusst) nicht teilnahm, wurde er aufgesucht und um Unterschrift gebeten. Die lehnte er mit einer ganzen Reihe von Argumenten ab, generell müsse er, unterschriebe er den Brief, sich »mit der gesamten Politik der DDR einverstanden erklären«, das aber könne er nicht, da er »in manchen Fragen« eine »eigene Meinung« habe. Diese abweichenden Meinungen werde er auch immer offen aussprechen. Er habe bislang registriert, dass »solche Leute wie Hertz oder Steenbeck« auch »noch nicht in der Öffentlichkeit zu den jüngsten Ereignissen Stellung genommen« hätten. Allerdings gebe es solche von »früheren Nazis« wie »Pose und Thiessen«. Er habe nichts dagegen, »möchte« aber seine »Meinungsfreiheit behalten«. Überdies habe er in der Vergangenheit »Gespräche mit führenden Genossen« gehabt, in denen er »vorgeschlagen« habe, »gewisse Maßnahmen innerhalb der DDR zu treffen, die die Republikflucht hätten eindämmen können«. Man habe aber auf ihn nicht gehört. Ferner sei er nicht für einen separaten Friedensvertrag, der werde die Kriegsgefahr eher steigern. Ihm gefalle auch das Verteidigungsgesetz der DDR nicht. Einer Wehrpflicht könne er auch nicht zustimmen. »Und wie ist es dann mit denjenigen Leuten, die aus religiösen oder pazifistischen Gründen diese Pflicht ablehnen?« Dies sei nicht festgelegt, also bestehe die Gefahr willkürlichen Umgangs mit Verweigerern. Es sei überdies definitorisch nicht klar, ob es sich überhaupt um eine Wehrpflicht handele. Dies und anderes erzählte Barwich den um Unterschrift Bittenden, der dies alles postwendend an Winde schrieb, von Dubna aus, am 26. September.2032 Im Anschluss an die 18. Tagung des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie fand am 7. Juli eine Besprechung der Kommission »Kernenergie« statt. Es existiert hierüber eine Aktennotiz vom 13. Juli. An der Besprechung nahmen Hertz, Barwich, Faulstich, Fuchs, Rambusch, Rompe, Steenbeck, Thiessen, Winde und Schumann teil. Behandelt wurden zwei Punkte. Zum einen der Entwurf eines »Abkommens über die Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der DDR bei der friedlichen Ausnutzung der Atomen­ ergie«. Hierzu wurde in der Diskussion »festgestellt«, dass der »sowjetische Vorschlag« nicht »die Bereitstellung von Bestrahlungsmöglichkeiten für Reaktorkonstruktionsmaterialien« und nicht »die Unterstützung vonseiten der UdSSR bei der

2031  Abt. VI/2 vom 28.4.1961: Auskunftsbericht; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 161 f. 2032  Schreiben von Bredel an Winde vom 26.9.1961; ebd., Bl. 168–170. Brief der DDR-Dubna­ wissenschaftler an Ulbricht (o. D.); ebd., Bl. 171 f. Siehe auch Barwich: Das rote Atom, S. 205.

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Entwicklung von Uranlegierungen und Brennelementen in der DDR« enthalten habe. »Weiterhin« habe »der Entwurf nicht klar erkennen« lassen, »ob sich die Bereitstellung von Kernbrennstoff auf die gegenwärtig in Betrieb bzw. in Bau befindlichen Reaktoren (Forschungsreaktor Rossendorf, Null-Reaktor Rossendorf, AKW-I) bezieht oder auf eventuell noch weitere zu errichtende Reaktoren. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass die nicht erwähnte Unterstützung bei der Entwicklung von Uranlegierungen und Brennelementen auf ein Versehen vonseiten der UdSSR zurückzuführen sein dürfte, da von der sowjetischen Seite gerade dieser Punkt in den letzten Besprechungen mit Herrn Professor Rambusch immer wieder betont worden« sei, sowie »der sowjetische Entwurf insofern einen Fortschritt gegenüber den bisherigen Verträgen darstellt, da er globaler gehalten ist.« Die Sowjetunion sei damit dem DDR-Wunsch »nach einem bilateralen Vertrag weitestgehend entgegen« gekommen. Die Kommission habe das AKK ermächtigt, »auf der Basis des vorgelegten Abkommens-Entwurfes zu verhandeln«. Der Vertrag könne aus Sicht der DDR in Berlin geschlossen werden. Zum anderen legte Schumann im Auftrag des AKK »einen Entwurf für eine Artikelserie« vor, da die Redaktion der englischen Zeitschrift Nuclear Power Beiträge seitens der DDR wünschte.2033 Barwich wurde quasi »mit Dubna« exiliert. Am 26. Oktober schrieb er einen bewegenden, gleichsam literarischen Brief an Hertz. Nein, nichts Besonderes von Dubna, seiner Wirkungsstätte, scheint ihm erwähnenswert, sondern er machte sich Sorgen um die Frau von Hertz, die einen Beinbruch erlitten hatte. Barwich schrieb von der Kraft und Fähigkeit von »Überheilungsprozessen« (nach Hering), ging in die Literatur und landete in der Politik, mitten in das Geschehen in Westberlin hinein. Barwich war, das wussten Zeitgenossen, äußerst witzig. So auch hier: »Hoffentlich ist nun der Organismus Ihrer Frau über diese These von Hering informiert.« Zu seiner und seiner Frau Erbauung lege er deshalb »eine Abschrift [!] einer Novelle des Kollegen Szilárd2034 aus dem kürzlich erschienen Bändchen The voice of the dolphins bei. Dieses Büchlein erhielt ich kürzlich zugesandt, da wir auf der vorjährigen Pugwash-Konferenz in Moskau bekannt wurden. Einen Auszug aus der Titelnovelle, die übrigens grundlegend optimistisch und deshalb wahrscheinlich wirklichkeitsferner ist als der beiliegende ›Report‹, hatte er«, also Szilárd, »als Konferenz-Paper vorgelegt. Ich hatte den Auftrag, dieses Paper an seinen Freund [Max] zu überbringen, was ich tat. Er soll sich bei der Lektüre gut amüsiert haben. Da ich nun die Broschüre habe, sende ich Ihnen mein Exemplar in Kürze mit Extrapost zu, hoffe jedoch, die ganze Sammlung nochmal für Sie zu kriegen. Sie sehen also, dass diese Art von Konferenz durchaus nicht vollkommen nutzlos ist. Szilárds Humor ist m. E. köstlich. Ich werde nie mehr etwas Humoristisches zu schreiben versuchen, ich würde mich schämen. Wegen dieser Abfallprodukte der ›Seventh conference on 2033  Besprechung der Kommission »Kernenergie« am 7.7.1961; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 360, S. 1 f. 2034  Der Atomphysiker engagierte sich – zusammen u. a. mit Einstein – gegen den Bau der Atombombe. Vgl. Szilárd, Leó: Die Stimme der Delphine. Frankfurt / M. 1961.

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science and world affairs‹, die diesmal in der Nähe von Boston stattfand, wäre ich gerne dabei gewesen.« Obgleich von Stoph genehmigt, bekam Barwich dennoch kein US-Visum und sprach nun über seinen Stadtbummel in Westberlin, wo er »bei Mampe auf dem Kudamm« die USA-Reise ein wenig »kompensieren (mit Einlage: cocktailende Berliner Bevölkerung jubelt vorbeifahrender USA-Panzerbesatzung zu)« konnte. Sein »tiefster« Eindruck von Westberlin: »Fast vollkommener Boykott der S-Bahn durch die Bevölkerung, ohne dass eine Kontrolle durch FDJ o. ä. ausgeübt wird. Es handelt sich hier also um einen echten Propagandaerfolg – fragt sich nur: welcher Seite? (Dialektik).« Ferner erzählte er von einem Gespräch, worin er sich selbst reflektiert hatte: »dass ich von den sachlichen Resultaten enttäuscht bin, liegt natürlich an mir: ich hatte zu viel erwartet. Ich habe mich als unverbesserlichen ›Idealisten‹ hart zu kritisieren, der einfach nicht bereit ist, seine mehr als 30-jährigen Erfahrungen elementar auszuwerten. Aber das macht nichts. Hier in einer Art von schlecht nachgebautem Elfenbeinturm kann man ganz gut abschalten. Im Grunde genommen bin ich von der ferneren Perspektive ZfK, wie ich sie mir nach den bisherigen Daten extrapoliert vorstelle, nicht begeistert. Können Sie mir was Netteres raten? Mit meinem derzeitigen Vertreter sind wir vom Regen in die Traufe gekommen  – aber es gab eben überhaupt keinen anderen Ausweg. Possmotrim, skasal slepoi – uslüschim, skasal gluchoi!«2035 Laut einem MfS-Bericht vom 4. Dezember stand Fuchs hinter der SED-Linie zur Elektroenergiegewinnung aus Kernkraft. Barwich soll bis Mitte 1960 »keine klaren Vorstellungen über die richtige Orientierung für die Kernenergie der DDR« gehabt haben. Fuchs meinte, dass Barwich sich »durch sein persönliches, teilweise unsachliches Verhalten und Auftreten« »gegen die Linie von Partei und Regierung gestellt« habe. Barwichs Vorstellungen von Ende 1960, Anfang 1961, »in Richtung schneller Reaktoren«, sei auf Diskussionen mit ihm, Fuchs, zurückzuführen. Die fachlichen Qualitäten Barwichs schätzte Fuchs mit »ausgezeichnet« ein, doch sei er ein schlechter Leiter, »der aufgrund der Fülle neuer Gedanken und Ideen ein ganzes großes Kollektiv beschäftigen, aber es durch immer wieder anderen Orientierungen nicht zur zielstrebigen, systematischen Arbeit bringen« könne. Dass die 2. Ausbaustufe nach Beschlussfassung der Kommission Kernenergie nicht gebaut werde, liege nach Fuchs an dem ökonomischen Gutachten, das vom VEB Entwicklung und Projektierung kerntechnischer Anlagen (EPKA) für ein 600 MW Kernkraftwerk 1960 ausgearbeitet worden sei. Selbst für die 1970er-Jahre seien die notwendigen Investitionen für die DDR »noch zu hoch«, für die 1960er-Jahre gar »entschieden zu hoch«. Zu den Mängeln in der Arbeit der Kommission Kernenergie führte Fuchs an, »dass die grundsätzlichen Fragen der Kernenergie nur von Wissenschaftlern eingeschätzt und festgelegt« würden. Er monierte »das Fehlen erfahrener Techniker und qualifizierter Ingenieure, die Erfahrung in [der] Projektierung und

2035  Schreiben von Barwich an Hertz vom 26.10.1961; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 155 sowie BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 173.

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[im] Aufbau großtechnischer Versuchsanlagen haben«. Fuchs erwähnte seine dementsprechenden Erfahrungen in England. Die Sitzung der Kommission Kernenergie fand am 24. November statt. Hierzu einige Punkte: Die Forderungen des EPKA enthielten nicht die gesamten Berechnungen, sondern nur jene, die mit der Sowjetunion beraten werden sollten. Steenbeck hatte den entsprechenden Fragespiegel vorgelegt. Von der Sowjetunion werde eine ablehnende Haltung erwartet. Beim EPKA würden »keine klaren Vorstellungen« hinsichtlich »Umfang, Inhalt und Zweckmäßigkeit von Experimenten am AKW-I bestehen«. Fuchs hatte »in der am 1. Dezember tagenden gemeinsamen Kommission EPKA / ZfK festgelegt, dass vom EPKA bis Anfang Februar 1962 ein Experimentierprogramm ausgearbeitet und dann in gemeinsamer Beratung bestätigt werden« müsse. Fuchs halte »die Linie, das Protokoll 18 durch Rambusch nicht zu unterschreiben, für begründet, da nach seinen Kenntnissen Verbesserungen an neuen Projekten großen ökonomischen Nutzen bringen könnten«. Fuchs bestätigte, »dass die Kompetenz des Kreises Kernenergie« – selbst wenn erfahrene Ingenieure hinzugezogen würden – »keinesfalls ausreicht, um solche bedeutenden und ökonomisch weitreichenden Probleme der Kernenergie zu entscheiden.« Die DDR solle sich unbedingt mit der Sowjetunion konsultieren. »Für eine Konsultation der Perspektive über schnelle Reaktoren« sei Fuchs nicht, »da die vorliegenden Ergebnisse noch unreif und erst in etwa einem Jahr soweit sind, dass man damit als Diskussionsgrundlage auftreten« könne. Offizier Maye bat Fuchs, das Gespräch vertraulich zu halten. Maye schätzte ein, dass Fuchs »einen disziplinierten Standpunkt« einnehme und »bemüht« sei, die Interessen der DDR zu befolgen. Die Forderungen des EPKA betrachte er aber »zu sehr vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt«. In der Einstellung zur Sowjetwissenschaft beziehe er den richtigen Standpunkt, wonach die DDR der »lernende Teil« sei. Die Hinweise sollten der Partei zur Kenntnis gebracht werden.2036 Jahn protokollierte am 15. Dezember eine Unterredung, die er mit Hertz tags zuvor in Leipzig über die Atomenergiepolitik des Wissenschaftlichen Rates geführt hatte. Hertz sei es gewesen, der initiativ in Richtung der Kommissionsmitglieder des Rates geworden sei zwecks Korrektur des Ministerratsbeschlusses zur 2. Ausbaustufe des AKW-I. Der Grund: veränderte Perspektive und der Umstand, dass »eine ökonomische Nutzung der Kernenergie in absehbarer Zeit nicht möglich« sei. Die Experten kamen dann, wie oben berichtet, am 24. November zusammen. Federführend waren hierzu Thiessen und Steenbeck, die die Ansicht vertraten, das AKW-I sozusagen als Versuchsobjekt zu nutzen. Hertz aber habe sich hernach mit der finanziellen Seite befasst und kam zu einer anderen, negierenden Aussage: das AKW-I sei »ein Spielzeug«, »dass Steenbeck als Weihnachtsgabe haben möchte«. Die »jetzige Einschätzung« sei hingegen »realer«, wonach »Versuche zur Erhöhung der Leistung des Kraftwerkes in den nächsten Jahren keinen Sinn« machten. Sinnlos

2036  Abt. VI/2 vom 4.12.1961: Bericht; BStU, MfS, AIM 8234/73, 1 Bd., Bl. 107–110.

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schon deshalb, weil mit dem Reaktor experimentiert werde. Die »von Steenbeck zu erwartenden Ergebnisse« würden »in gar keinem Verhältnis zu den aufgewandten Kosten stehen«. Eine weitere Entwicklung des VEB EPKA sei zwecklos. Auch das Argument, einfach nur Erfahrungen sammeln zu wollen, sei nicht ökonomisch. Das AKW-I sei »eine ausgesprochene Investleiche des Genossen Selbmann«. Andere seien aber auch Schuld, etwa Hager, der die Meinung vertrete, allein aus Prestigegründen müsse das AKW gebaut werden. Auf die insistierte Frage Jahns, ob bei irgendeiner Person, die für den Bau sei, Absicht hinterlegt sei, antwortete Hertz verneinend. Allerdings seien Steenbeck und Rambusch »nicht frei […] von persönlichen Motiven«. Hertz in der wortwörtlichen Niederschrift Jahns: »›Steenbeck mag theoretisch Recht haben wie bei seiner Ultrazentrifuge, aber in beiden Fällen gibt es bisher keine praktischen Ergebnisse.‹« Thiessen hingegen schätzte »er als sehr originellen Phantasten, bei dem mit dem Alter« allerdings »die Originalität« nachlasse »und anstelle dessen der persönliche Ehrgeiz stärker« hervortrete. Hertz plädierte für die Korrektur der falschen Entscheidung, drückte sein Bedauern aus, dass er nicht nah genug an Rompe wohne, anders als im Falle des Duos Thiessen-Steenbeck, die, so in der Interpretation Jahns, er gern zu Abstimmungsfragen gehabt hätte. Überdies sei Hertz »der Überzeugung, dass sich jetzt die Auffassung von Barwich aus dem Jahre 1959 bestätigt« habe. »Er bedauere sehr, dass Barwich immer wieder sachliche Argumente mit persönlichen verknüpft und damit den Wert seiner Argumentation selbst herabsetzt.« Er wolle im Januar 1962 eine »erneute Sitzung der Kommission durchführen, um dabei ganz offen die ökonomische Seite des AKW zu diskutieren und damit eine vernünftige Entscheidung zu erzwingen.«2037 Offizier Maye notierte am 17. Dezember die Positionen Barwichs hinsichtlich der Umgestaltung des AKW-I. Der habe deutlich gemacht, dass der VEB EPKA nicht mehr »in der jetzigen Form« Bestand haben könne. Steenbeck habe »eine unzulässige Ideologie in den Betrieb getragen, demzufolge das AKW-I, 1. und 2. Ausbaustufe, zur Grundlage für den weiteren Ausbau der Kernenergie betrachtet« werde. »Den vorhandenen Widerstand versuchen jetzt Rambusch und Steenbeck durch Forderung nach einer Großexperimentationsanlage AKW-I zu überwinden. Diese Forderung bedeutet Schaffung eines zweiten Zentralinstitutes, was ökonomisch und der Lage entsprechend nicht vertretbar« sei. Diese Tendenz nach einem neuen Programm sei, so Barwich, gefährlich. Rambusch und Steenbeck seien »sich nicht genügend im Klaren über die Basis und Perspektiven der Kernkraftentwicklungen.« Die Perspektive für das AKW-I jetzt festzulegen, sei verfrüht, sie sollte außerdem mit der Sowjetunion abgestimmt werden. »Die künstliche Frisierung des ›Programms‹« sei »ein gemeiner Trick.« Rambusch habe mit seinem Memorandum Hertz überfahren. Barwich habe betont, dass die »Hauptsäulen der Perspektive Kernenergie« das ZfK Rossendorf und das AKW-I seien. »Unter diesem Gesichtspunkt muss auch

2037  BV Leipzig, Abt. VI, vom 15.12.1961: Unterredung mit Hertz; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 175–177.

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die Reorganisation des EPKA und richtige Kaderverteilung erfolgen. Das ZfK ist die Basis der Forschung und das AKW-I die Basis der Technik.«2038 Am 21. Dezember schrieb Barwich seine Stellungnahme zum von Rambusch verfassten Memorandum vom 5. Dezember. Die erste Frage, die Barwich dem Memorandum entnahm, ist jene, ob sich »die Bedeutung der 1. Ausbaustufe durch den Fortfall der zweiten geändert« habe. Barwich schrieb, dass allein die Fragestellung Unklarheit in der Sache bringe. »Die Bedeutung der 1. Stufe ist seit dem Tage des Entstehens des Gedankens, in der DDR einen ersten Schritt in der technischen Kernenergetik zu machen, klar gewesen: ein Versuchskraftwerk für technisch-ökonomische Erprobung eines Leistungsreaktortyps zwecks Gewinnung von Betriebserfahrungen (einschließlich Einarbeitung von Fachkräften, ›Nachrechnen und Kennenlernen‹) und Ermöglichung einer Einschätzung für die spätere Auswahl eines brauchbaren oder optimalen Typs für ein Kernenergieprogramm. Gerade weil die erste Stufe eine solche und nur solche Bedeutung haben kann, war die Zweckmäßigkeit einer zusätzlichen 2. Stufe zu diskutieren und wurde bekanntlich bereits vor 2 1/2 Jahren seitens sowjetischer Regierungsvertreter (Professor Jemljanow und Nikojan) verneint.« Also: »wenn sich diese richtige Auf‌fassung nunmehr bei uns trotz vieler Widerstände einzelner Persönlichkeiten durchgesetzt hat«, bedeute dies nichts anderes als eine Hervorhebung der Bedeutung, die man der ersten Stufe ursprünglich gegeben hatte. Aus ihr, der ersten Stufe, eine »Investruine« zu machen, wäre allerdings der falsche Weg in der Diskussion zu mehreren Wegen: »Die zügige Fertigstellung der 1. Stufe ist die beste Art, wie die DDR einen Entwicklungsbeitrag im sozialistischen Lager leisten« könne.2039 Die Tatsache, schrieb Barwich in einem weiteren Punkt, dass das Kraftwerk »nicht an das Versorgungsnetz angeschlossen« sei, »illustriert am augenfälligsten, dass seine Aufgabe in erster Linie die Durchführung von Betriebsversuchen ist.« Dieses sei bei dem ersten sowjetischen Atomkraftwerk (Obninsk) und dem ersten amerikanischen (Shippingport) ebenso gewesen. Neben anderen, auch technischen Fragen ging Barwich auf die Frage ein, was überhaupt die Sowjets von der DDR erwarteten. Reaktor, Zyklotron, Geräte und Materialien, Ausbildung von Fachleuten, dies alles werde »auf Angebot der Sowjetunion geliefert und für das Kernforschungszentrum Rossendorf angeboten«. Ein Vertrag über ein Atomkraftwerk kam demzufolge auf »Grund des dringenden Wunsches der DDR« zustande, »welchem aus Freundschaft nach längerem Bedenken seitens der SU nachgegeben wurde. Ganz und gar nicht hatte die sowjetische Seite Interesse an der Erweiterung des Kraftwerkbaues durch eine 2. Stufe. Dies war von vornherein klar, wurde aber stets seitens der Leitung des AKK und der Leitung des WTBR ignoriert, um eine

2038  Abt. VI/2 vom 17.12.1961: Aussprache mit Barwich am 13.12.1961 im AKK; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 216–218. 2039  Barwich, Heinz: Stellungnahme zum Memorandum der Kommission Kernenergie vom 5.12.1961; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 180–184, hier 180 f.

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Aufgabenstellung für das Letztere zu« erhalten (vgl. Protokoll der Sitzung des Rates vom 3. Dezember 1959).«2040 Das Problem der DDR war, dass die SED ideologisch dachte, auf Kampagnen und Propaganda setzte. Richtiges und zugleich Unspektakuläres war ihr eine falsche Politik. Es existieren zur Atompolitik verblüffend identische Analogien, etwa das Projekt Interkosmos und die tief verlogene Megabitchipübergabe durch Honecker in Moskau bei Michail Gorbatschow: immer ein Musterschüler sein zu wollen, der besser als der »Lehrer« ist und im Endeffekt genau das Gegenteil erreichend! Ist es am Ende der gleiche Konstruktionsfehler, der Großprojekte der DDR entstehen ließ, die dem Gigantismus und dem Prestige galten? Barwich pointierte: »Die Behauptung, dass die DDR mit dem Bau einer 2. Stufe den Interessen der Sowjetunion entgegenkäme, ist frei erfundene Legende, im Interesse« der Sowjetunion liege »allein die operative Fertigstellung und Ausnutzung der 1. Stufe als Parallel-Versuch zu Woronesh.«2041 Solche Aufgaben also, die die Sowjetunion wünscht, könnten gut in einem Institut wissenschaftlichen Zuschnittes wie dem ZfK realisiert werden, so sinngemäß Barwich. Spitz formulierte er, dass es schade sei, dass das vom WTBR entwickelte Projekt nicht zur Begutachtung der Sowjetunion vorgelegt worden sei: die Antwort wäre interessant gewesen, denn es sei »ein Irrtum, anzunehmen, dass reelle Beiträge am Zeichenbrett und durch Berechnungen erzielt werden können« – wie es eben der WTBR tat.2042 Es ist spätestens mit diesem Dokument offenkundig, dass Barwich störte, ein Störenfried, der die Fassadenwelt der DDR mit voller Wucht durchbrach. Eine letzte, typische Funktionärs-Frage, die Barwich dem Rambusch-Memorandum entnahm und beantwortete, lautete: »Soll man erst die ›neue Aufgabenstellung‹ abwarten und dann reorganisieren oder sofort reorganisieren?« Barwich antwortete pragmatisch: die neue Aufgabenstellung könne nicht die »Projektierungsarbeiten zur rekonstruktiven Verbesserung der ersten Stufe beinhalten«, und da die erste Aufbaustufe »zur Gewinnung praktischer Erfahrungen« diene, die aber das Kollektiv des EPKA nicht voll auslaste, sei »eine Reduktion und eine Umgruppierung der Kader sofort ins Auge zu fassen, die allerdings mit einer völligen Auf‌lösung und Zerstreuung nicht gleichbedeutend ist«.2043 Eine Woche nach der Niederschrift dieser Stellungnahme kam es am 28. Dezember zu einem Meinungsaustausch über Kernkraftwerksfragen mit Jemeljanow und den sowjetischen Akademiemitgliedern Alinohanow und Winogradow. Eine erste Aussprache mit Jemeljanow fand im April 1959 in Moskau statt, eine zweite in Dubna im Mai 1959. Das Resümee hierzu schrieb Barwich dem AKK am 22. Juni 1959. Er sah sich genötigt, dieses nochmals zu zitieren: »Konkrete Pläne für den weiteren Kraftwerksbau sind unangebracht, bis Betriebserfahrungen über die bisher 2040  Ebd., Bl. 181–183. 2041  Ebd., Bl. 182 f. 2042  Ebd., Bl. 183 f. 2043  Ebd., Bl. 184.

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konstruierten Kraftwerke vorliegen. Professor Jemeljanow verfocht leidenschaftlich den Standpunkt, dass nur ein Reaktor des gleichen Typs gegenwärtig gebaut werden sollte. Professor Jemeljanow war auch sehr darauf aus, nachzuweisen, dass es noch kein ernsthaftes Kraftwerk in der Welt gibt, das rein friedlichen Zwecken diene.«2044 Überhaupt ist dies jene Komponente, die Steenbeck arg zu schaffen machte. Die neueren Besprechungen bestätigten, so Barwich, die Gültigkeit dieser früheren Bedenken: »Bedauerlicherweise ist die Richtigkeit des sowjetischen Standpunktes bei uns erst nach vielen Hindernissen anerkannt worden. Noch vor einem Jahr (Wissenschaftlicher Rat vom 10. Dezember 1960) wurde der Bau der 2. Stufe als feststehende Tatsache offiziell bekanntgegeben, obgleich seit langem feststand, dass die Sowjetunion hierzu keine materielle Hilfe leisten würde und damit das Projekt bei der gegenwärtigen Industriesituation der DDR nicht vertreten werden konnte. Gleichzeitig wurde um diese Zeit noch eine großangelegte Studie über die Möglichkeiten des Baues einer 600 MW-Anlage um das Jahr 1970 herum durchgeführt, bei der auch die Kalkulation von Strompreisen eine Rolle spielte. Es war sogar die Rede davon, bis 1980 evtl. eine ganze Reihe von Druckwasserkraftwerken zu bauen. So weit hatte man sich noch bis vor Kurzem von dem alten sowjetischen Standpunkt entfernt. Unter den damals vorliegenden Aspekten wurde die Umbildung des WTBR in den größeren Betrieb EPKA durchgeführt, ohne dass das große Risiko des Fortfalls einer zentralen Aufgabe, auf das der Verfasser derzeit mehrmals hinwies, in Betracht gezogen wurde.«2045 Noch im Dezember 1961 hatte das MfS Hinweise zu Rambusch und zur Lage der Kooperation mit der Sowjetunion bekommen. Danach hätte Rambusch »über die weitere Entwicklung des Betriebes und über die Perspektive auf dem Gebiet der Kernkraftwerke sehr weitgehende Vorstellungen«. Rambusch wolle eine Leistungssteigerung des Kraftwerkes. Die Vorschläge stammten von Steenbeck, der gesagt haben soll: »Wenn wir keine 2. Ausbaustufe haben, müssen wir die Versuche, die wir dort geplant hatten, an der 1. Ausbaustufe realisieren.« Rambusch und Steenbeck hätten den Standpunkt vertreten, »dass Anlagenteile in der DDR neu entwickelt werden« müssten. Rambusch fordere für den EPKA eine Stellenplanerweiterung auf 300 bis 330 Mitarbeiter. »Unter dieser Zahl« sei »seiner Meinung nach eine Arbeit unfruchtbar«. Der Informant des MfS schlug hingegen eine »systematische Reduzierung des Mitarbeiterbestandes« vor, von der Rambusch jedoch »nichts wissen« wollte. »Die Vorstellungen über die Perspektive, über den Aufgabenumfang und den Einsatz von Mitarbeitern« gingen »im Wesentlichen von Professor Steenbeck« aus, der »die Meinung Rambuschs« erheblich beeinflusse. »Auch die vielen Konzessionen, die gegenüber Mitarbeitern gemacht« würden, seien »auf dem falschen ›Humanismus‹« von Steenbeck gegründet.2046 2044  Ebd., Bl. 185. 2045  Ebd., Bl. 186. 2046  HA III/6/P vom 8.2.1962: Bericht am 15.12.1961; BStU, MfS, AIM  8233/73, 1  Bd., Bl. 37–40.

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Obgleich das Memorandum Rambuschs praktisch kassiert sei, müsse man sich, so Barwich, mit den Grundgedanken, die gleichsam zu den Plänen hinsichtlich der 2. Ausbaustufe führten, auseinandersetzen. Ihm ging es darum zu vermeiden, dass man womöglich wieder eine selbstherrliche Linie entgegen der Logik des Fachs fahre! Es ist daran zu erinnern, dass Hertz davon sprach, dass Barwich Gewicht von seinen sachlichen Aussagen nehme, weil er sie verquicke mit persönlichen Dingen: genau dies ist auch hier wieder der Fall, indem er zum Ross auch die Reiter benannte. »Diplomatie« beherrschte er nicht. Also schoss er scharf gegen Rambusch (sowieso) und Steenbeck. Leider, insistierte Barwich, habe es keine tiefere Begegnung Steenbecks mit Jemeljanow gegeben. Jemeljanow stelle, so Barwich, an die Spitze seiner Philosophie zum Kraftwerksbau »seit langem« zwei »Thesen: Wirtschaftlichkeitsberechnungen für Kernkraftwerke« seien »im gegenwärtigen Zeitpunkt keine ernst zu nehmende Arbeit.« Er weigere sich selbst, an solchen Dingen teilzunehmen. Offenbar herrschten in der Sowjetunion ähnliche Verhältnisse (Zwänge) zwischen der Wissenschaftswelt und der Obrigkeit. Weiter Barwich: »Es ist zu hoffen, dass diese These nunmehr auch wirklich von allen Beteiligten in der DDR akzeptiert wird, wie dies seitens der Mitarbeiter des ZfK seit langem vertreten wurde (vgl. z. B. Vortrag Barwich: ›Grundlagen und Perspektiven der Kernkraftwerke‹).« Und zweitens: »Aufgrund der zzt. bestehenden Aufgabenstellung bei der Erarbeitung brauchbarer Kraftwerkstypen ist der Bau von zwei Kraftwerksreaktoren des gleichen Typs nicht zu vertreten.« Es ist jene Auf‌fassung, der auch Alichanow »sehr lebhaft« zugestimmt haben soll. Barwich: »Insbesondere steht diese Aussage in scharfem Widerspruch zu der bei uns bis in die Gegenwart immer wieder aufgestellten Behauptung, als sei eine solche Entwicklung im Interesse des sozialistischen Lagers erwünscht oder notwendig.«2047 Zu dem Vorschlag Steenbecks, eine Weiterentwicklung des Druckwasserreaktors voranzutreiben mittels Rekonstruktion der 1. Ausbaustufe als eine Aufgabe des EPKA, habe Jemeljanow gesagt, dass dies nicht zweckmäßig sei, vielmehr gehe es in der gegenwärtigen Phase einzig um die »Auswahl einer technisch brauchbaren Type«. Sei sie gefunden, sei die Zeit der Verbesserungen und der Weiterentwicklung angesagt. »Selbst wenn es gelänge, den Druckwasserreaktor um zehn Prozent effektiver zu gestalten, wäre dies nicht von Bedeutung. Ein Aufwand von Mitteln in dieser Richtung wäre also demnach nicht zu vertreten.« Barwich kurz: Fertigstellung der 1. Ausbaustufe und nichts weiter. Der für DDR-Verhältnisse wichtigen Frage nach der Weiterbeschäftigung der EPKA-Mitarbeiter widmete Barwich in diesem Papier anderthalb Seiten. Jemeljanow kannte auch dieses Problem von Zuhause, dies sei bei dem Kollektiv des Eisbrechers »Lenin« auch so gewesen. Er halte es aber für schlecht, das Kollektiv auseinanderbrechen zu lassen. »Da die Arbeiten an der 1. Ausbaustufe auslaufen«, so Barwich, »eine neue Projektierungsaufgabe für ein Kraftwerk nicht vorliegt, müsste – sofern nicht der o. g. Vorschlag der Reorganisation durchgeführt 2047  Barwich, Aktennotiz vom 4.1.1962: Meinungsaustausch über Kernkraftwerksfragen mit Jemeljanow, Alinohanow und Winogradow; BStU, MfS, AP 3192/63, Bl. 185–191, hier 187.

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wird, sondern das Kollektiv erhalten bleiben soll – eine andere Aufgabe gefunden werden, die nicht aus dem Gebiet der Reaktortechnik« stamme.2048 Die Erhaltung des Kollektivs als Erfahrungsträger ist an und für sich ein hohes Gut. Die Zentralverwaltungswirtschaft konnte diesbezüglich den Marktwettbewerb nicht ersetzen. Was sie vermochte, war neben der statistischen Lüge eine Trägheit zu statuieren, die sich auch dadurch ausdrückte, dass man hanebüchene Entscheidungen traf, um die vor Ort vorhandenen Arbeitskräfte, die übrigens überall fehlten, weiter beschäftigen zu können. Das geschah bei der 2. Ausbaustufe des AKW-I, beim Flugzeugbau und viel später auch in Bezug auf das Reinstsiliziumwerk bei Dresden. In seiner Zusammenfassung wies Barwich darauf hin, dass die »Meinungsäußerungen der sowjetischen Kollegen selbstverständlich rein persönlichen Charakter« trügen. Man könne sie also auch nicht bindungslos als Anweisung für das eigene Tun betrachten. Den Standpunkt Jemeljanows habe er jedoch »seit langem« zu seinem »eigenen gemacht«.2049 Barwich übergab Offizier Maye am 12. Januar 1962 Unterlagen über die Aussprache mit Jemeljanow am 28. Dezember 1961 sowie eine »ergänzende Stellungnahme zum Memorandum der Kommission Kernenergie vom 5. Dezember 1961«. Der jetzige Weg für die Entwicklung der Kernenergie mit dem AKW-I sei richtig. Er hoffe, dass »die jetzt beschrittene Linie auch konsequent durchgesetzt« werde. Er habe aber seine Zweifel in der Person Steenbeck und insbesondere Rambusch. In Hinblick auf die Unterredung mit Jemeljanow habe es am 23. Dezember eine Zusammenkunft mit Hertz, Steenbeck, Rambusch und Winde gegeben. Allerdings sei, entgegen seiner Erwartung, nicht über das Memorandum gesprochen worden. Man habe ihm gesagt, dass es zurückgezogen worden sei. Steenbeck habe nach der Beratung geäußert, dass die Punkte 3 und 4 ein Missverständnis seien, damit sei die Sache geklärt. Maye: »Barwich teilte auf keinen Fall diese Haltung und Auf‌fassung und erklärt, dass dieses schwerwiegende und durch die Absendung an Karl Mewis regierungsamtlich gewordene Memorandum einfach übergangen und totgeschwiegen wird und sich demzufolge niemand mit der unverantwortlichen Haltung und ›ursprünglichen‹ Auf‌fassung von Steenbeck und Rambusch auseinandersetzt. Mit anderen Worten, die unverantwortungslosen Forderungen von Rambusch und Steenbeck werden geduldet, mit dem Mantel der Nächstenliebe verdeckt, der echte Meinungsstreit unterdrückt und ›solchen Leuten wie Rambusch und Steenbeck weiter freie Hand‹ gelassen.« Barwich schilderte dann detailliert, wie sich Steenbeck ihm gegenüber verleugnet habe und versucht habe, ihn aus zumindest einer Besprechung am 24. November 1961 auszugrenzen. Von Grosse sei er enttäuscht. Er besitze als Staatsfunktionär und Ökonom kein Format, habe auf der Kommissionssitzung Kernenergie »eine so farblose Rolle gespielt«. Zu dieser Zeit war Barwich zwar bereits in Dubna, kam aber gelegentlich zu Sitzungsterminen in die DDR zurück. Maye 2048  Ebd., Bl. 187–189 u. 191. 2049  Ebd., Bl. 190.

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schätzte ein, dass Barwich »ehrlich um die beste Lösung der Kernenergiefrage für die DDR im politischen als auch ökonomischen Sinne bemüht« sei. Er empfahl, »die teilweise Voreingenommenheit« gegenüber Barwich abzubauen und darauf hinzuwirken, dass staatlicherseits ein echter wissenschaftlicher Meinungsstreit geführt werde. Maye empfahl mehrere Schritte zur Evaluierung der Situation.2050 Auch er begriff, dass Barwich Recht hatte. Insgesamt verfestigte sich das Chaos sowohl in der Planung der 1. Ausbaustufe als auch darüber hinaus – national wie in der Kooperation mit der Sowjetunion. Die ausgesprochene Klugheit Jemeljanows und Barwichs schlug nirgendwo tatsächlich durch. Dies wird in der MfS-Akte zu Rambusch2051 deutlich. Der teilte dem MfS am 12. Februar mit, dass die vom VEB EPKA erarbeitete Projektliste (Montageprojekt, Kostenplan etc.) von der sowjetischen Seite »nicht bestätigt« worden sei. Hinzu kam, dass sich der VEB EPKA für Teilaspekte für nicht zuständig hielt. Das Montageprojekt sollte z. B. vom VEB AKW-I ausgearbeitet werden. Beide VEB stritten miteinander über Zuständigkeiten. Die Lage sei, so Rambusch, »unnormal« und »Ausdruck der mangelnden Leitungstätigkeit des AKK«. Belastend für EPKA war, dass der Betrieb die Auf‌lage erhalten hatte, die Belegschaft bis Jahresende um 75 Beschäftigte auf dann nur noch 200 zu reduzieren (Brief von Winde an Steenbeck, der Brief selbst enthielt keine Orientierung in Bezug auf die auszusondernden Berufsgruppen). Rambusch hielt Fabian für das personell größte Problem. Aufgrund des Ministerratsbeschlusses vom 25. Januar 1962 hatte der VEB AKW-I »alle Verträge mit dem VEB EPKA gekündigt« und verlangte nun, »dass alle Projektierungsarbeiten bis Mitte des Jahres abgeschlossen« würden. Es war ein Krieg zweier VEB. Offen war, ob der VEB EPKA alle Nachauftragsnehmer kündigen solle oder nicht. Wenn ja, hätte dies u. a. die Konsequenz der Stilllegung der Baustelle nach sich gezogen. Rambusch forderte demzufolge eine Ausnahmegenehmigung für den Bau des AKW-I. Er sei sehr unzufrieden. »Die Unzufriedenheit« resultiere nach Einschätzung des MfS-Offiziers daraus, dass es »keine gute Zusammenarbeit zwischen den drei genannten Institutionen« bislang gegeben habe. »Jede Leitung« besitze »eine andere Meinung und« versuche »diese auf irgendeiner Art und Weise durchzusetzen«.2052 Das alles wäre obsolet gewesen, hätte man auf Barwich früh gehört. Offizier Bargenda notierte am 28. Februar, dass Steenbeck Ende 1961 eine Kernenergiekonzeption vertreten habe, »die für die Volkswirtschaft der DDR nicht zu vertreten« sei. Er trete auch »aktiv gegen die Unterzeichnung des Protokolls  18 2050  Abt. VI/2 vom 18.1.1962: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 12.1.1962; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 222–226. 2051  Ein am 11.9.1962 mit der Reg.-Nr. XV/4948/62 angelegter IM-Vorlauf. Dieser ist nur der formale Ablageort von Kenntnissen, Mitteilungen und Materialien, die das MfS aus den offiziellen Kontakten mit Rambusch gewann. Eine IM-Verpflichtung war expressis verbis nicht beabsichtigt, in: HA III/6/S vom 10.9.1962: Bericht zu Rambusch; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 17. 2052  HA III/6/P vom 14.2.1962: Bericht zu einer Aussprache mit Rambusch; ebd., Bl. 11–14, hier 11–13.

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auf«. Nach dem Besuch Jemeljanows in der DDR im Dezember 1961 habe er seine Ansichten revidiert. Er sei nun für die Linie des Protokolls Nr. 18 und für die Verkleinerung des VEB EPKA. Man schätze jedoch ein, dass seine Handlungen weiter in gewohnten Bahnen laufen würden.2053 Das Atomenergiegesetz wurde am 28. März verkündet. In der Präambel heißt es, dass die »friedliche Anwendung der Atomenergie« nunmehr »dem gesellschaftlichen und technischen Fortschritt der Menschheit gewaltige Perspektiven« eröffne. »Sie ist notwendig für die rasche Entfaltung des sozialistischen Aufbaus.« Die DDR führe im Verbund mit den anderen sozialistischen Staaten »einen konsequenten Kampf um die Verwirklichung der allgemeinen und vollständigen Abrüstung und somit für das Verbot der Anwendung von Kernwaffen, für die Einstellung aller Versuche mit ihnen, für die Vernichtung aller Bestände an Kernwaffen und das strikte Verbot ihrer Herstellung. Alle Anstrengungen der auf dem Gebiet der Atomenergie arbeitenden Wissenschaftler und Techniker der DDR verfolgen das Ziel, die Atomenergie für friedliche Zwecke zum Wohle der gesamten Menschheit anzuwenden.« Der Abschnitt II, Paragraf 2 und 3, regelte die Organe des Gesetzes. Der Paragraf 2 definierte den Wissenschaftlichen Rat für die friedliche Anwendung der Atomenergie als ein den Ministerrat beratendes Organ (»Er hat diesen in den grundsätzlichen Fragen der Anwendung der Atomenergie zu beraten und ihm Vorschläge für die wissenschaftliche Aufgabenstellung und für die Entwicklung der Kernforschung und Kerntechnik zu unterbreiten.«); der Paragraf 3 deklarierte das Amt für Kernforschung und Kerntechnik (AKK) als »das zentrale Staatsorgan zur Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben und zur Organisierung ihrer Durchführung auf dem Gebiet der Kernforschung und Kerntechnik«.2054 Nur wenig später, am 26. April, beschloss der Ministerrat der DDR weitgehende »Änderungen der Strukturen auf dem Gebiet der Kernenergie«. Hierzu zählte vor allem die Auf‌lösung des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik unter Leitung Rambuschs und der de facto »weitgehende Verzicht auf eine eigene Kernkraft­ entwicklung in der DDR«.2055 Hartmann erinnerte sich, dass die Auf‌lösung auf Vorschlag Rompes zurückging.2056 So unwahrscheinlich ist dies nicht. Ende Mai erhielt das MfS Kenntnis von der Absicht Steenbecks, die Leitung seines Betriebes abzugeben, um sich mehr der wissenschaftlichen Arbeit widmen zu können. In dem Bericht ist vermerkt, dass die Partei mit Rambusch »große Schwierigkeiten« habe. Schwierigkeiten auch, weil Fabian einen parteilosen Bereichsleiter im »jetzigen EPKA« verblieben wissen wollte. Es gab immer wieder Missfallensäußerungen gegenüber Fabian. Indes würden die »im August 1961 vom 2053  HA III/6/P vom 28.2.1962: Bericht; BStU, MfS, AP 2866/87, Bl. 108 f. 2054  Gesetz über die Anwendung der Atomenergie in der DDR. Atomenergiegesetz, in: Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1962, Nr. 3, vom 28.3.1962, S. 47–50, hier 47 f. 2055  Entnommen aus einem Material zur 8. Sitzung der Kommission Kernenergie am 27.4.1962; BArch, DF  I  1/10, 862 sowie aus einem Schreiben von Winde an Mewis vom 2.5.1962; BArch DF I 1/10, 878, in: Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 8. 2056  Vgl. TSD; Nachlass Hartmann, G 33.

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Amt für Kernforschung und Kerntechnik gestrichenen Arbeiten« im VEB EPKA »jetzt durchgeführt«. Die Schuld an der Unterbrechung liege bei Fabian. Dadurch, so Rambusch, sei ein »erheblicher Zeitverlust eingetreten«. Das MfS beabsichtigte, die Parteileitung über dessen Verhalten zu informieren. Das MfS versprach Einfluss zu nehmen, dass Fabian umgesetzt werde.2057 Am 18. September fand eine Aussprache zwischen Offizier Maye und Fuchs statt. Fuchs war allein 1962 in drei Fällen von ausländischen Journalisten nachgefragt worden. Er hatte die Gesprächswünsche abgelehnt bzw. telefonisch knapp auf ihm gegenüber formulierten »Unwahrheiten« reagiert. Er werde »in Zukunft Interviews, besonders Telefoninterviews ablehnen«.2058 Das entsprach auch der generellen Forderung des MfS. Dieser Bericht aber ist vor allem zur Frage der damaligen Situation der Kernforschung interessant. Laut Fuchs hatte der Vorstand des Wissenschaftlichen Rates für zweckmäßig erachtet, »die Kernenergiekommission des Wissenschaftlichen Rates und die Energiekommission des Forschungsrates eng zu liieren«. Beide Kommissionen befänden sich derzeit in »personeller Umbildung«, wobei die neue Besetzung zum Berichtsdatum »noch nicht bekannt« sei. Ziel der Liierung sei die »einheitliche Orientierung auf dem Energiesektor«. Fuchs plädierte für »die Fertigstellung des AKW-I und Beibehaltung des jetzigen AKK bis zur Fertigstellung des AKW-I und den Abschluss des Versuchsbetriebes.« Auch sprach er sich für die Notwendigkeit des Erhalts »eines guten Kaderstammes« aus. Für die »Aufrechterhaltung der Zusammenarbeit zwischen ZfK, AKK und EPKA« sei »die einheitliche staatliche Leitung durch das AKK bis zu diesem o. g. Zeitpunkt zweckmäßig.« Die Aufnahme des AKW in die Energiebilanz halte er »nicht für zweckmäßig«. Über ein Abgabeprogramm könne jedoch ab Betriebsaufnahme verhandelt werden. Zu einigen anderen Diskussionspunkten mit Maye: Der Vorstand des WR hatte festgelegt, den 4-MeV Generator in Miersdorf abzureißen und nicht wieder auf­ zubauen, da dies 1,5 Millionen Mark kosten würde. Ferner beabsichtigte die Parteigruppe des WR, sich demnächst mit dem Einsatz Barwichs nach dessen Rückkehr aus Dubna zu beschäftigen. Fuchs schlug vor, Barwich zum Leiter des AKW-I zu machen oder ihm das ZfK Rossendorf zu unterstellen, das »ähnlich dem Forschungszentrum Adlershof zu dezentralisieren« sei. Die Schwierigkeit aber bestehe darin, dass es kein Institut gebe, da Karl Alexander (Leiter des Bereiches Reaktortechnik und Neutronenphysik im ZfK Rossendorf) den »zuständigen Bereich von Barwich übernommen« habe. In der Einschätzung Mayes über das Gespräch ist festzuhalten, dass er es für »zweckmäßig« und geboten hielt, den Kontakt zu ihm »enger zu gestalten und ihm neben seinem großen Vertrauen zur Partei das Gefühl der Hilfe und Unterstützung zu vermitteln«.2059 Am 21. September wurde Ziert, der zukünftige Parteisekretär der AdW, Offi­ zier Bargenda übergeben. Er und Offizier Weißbach besprachen mit ihm »den 2057  HA III/6/S vom 30.5.1962: Bericht; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 15 f. 2058  HA III/6/S vom 29.9.1962: Bericht; ebd., Bl. 111–114. 2059 Ebd.

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gegenwärtigen Stand der Veränderungen im Bereich Kernforschung«. Ziert war der Auffassung, dass weiterhin »der vorliegende Ministerratsbeschluss als bindend betrachtet« werde. Neue Gedanken würden nicht existieren. Er insistierte, dass es dringenden Handlungsbedarf gebe, »die weitere Existenz des Amtes, AKW, ZfK« zu klären. Ihm sei es »unverständlich«, warum der »Ministerrat die vorliegende Vorlage noch nicht behandelt« habe.2060 Es herrschte also weiterhin Unwissenheit über die Zukunft der Kernforschung und Kernenergetik der DDR, – und Chaos: Im Oktober hatte Rambusch anlässlich einer technischen Konsultation in Moskau den stellvertretenden Minister für Energetik der Sowjetunion um eine Aussprache gebeten. Der teilte ihm mit, dass der Reaktor für die DDR verladen sei. Rambusch äußerte, dass der Reaktor viel zu früh komme und es demzufolge zu Schwierigkeiten auf der Baustelle kommen werde. Der sowjetische Partner »bedauerte« es, »dass die deutsche Seite das erst jetzt mitteilt«. Es sei überhaupt noch nicht klar, wo der Reaktor auf der Baustelle hingestellt werden könne. Der Liefertermin war zu einem Zeitpunkt festgelegt worden (Anfang 1962), als es »noch sehr« viele »Unklarheiten in der Fertigung von Bauteilen« gegeben habe, »die die DDR liefert und die unbedingt vorher eingebaut werden« mussten. Die Fertigung laufe jetzt erst an, also Ende 1962. Für die sowjetische Seite entstanden dadurch Folgeprobleme bei der Disposition der eigenen Kraftwerkserrichtung.2061 Jahn, nun Mitarbeiter der HA III/6/T, hielt aufgrund eines GM-Berichtes am 9. Januar 1963 Folgendes zu Barwich fest. Gegenstand des Berichtes war die Reise Barwichs im September 1962 nach Wien, worüber er dem GM, einem langjährigen Freund, anlässlich der 5. Tagung der ständigen Kommission zur friedlichen Nutzung der Kernenergie im RGW in Dubna erzählt hatte. Dem will er exklusiv mitgeteilt haben, dass ein Mitarbeiter des Gehlen-Apparats zu ihm Verbindung aufgenommen und ihn zum Sowjetunion-Aufenthalt bis 1955 befragt habe. Auch dass über ihn sehr viel bekannt sei, zum Beispiel sei er in Berlin von Apel »als alter Anarchist bezeichnet« worden, wobei er sich nicht denken könne, »woher der Genosse Apel Kenntnis über seine früheren anarchistischen Studien« habe. In diesem Gespräch mit dem GM habe Barwich auch dargelegt, »dass der Marxismus genauso scheitern« werde »wie der Nazismus, weil er den Staat über die Menschen erhebt, die Menschen ausbeutet, ohne die Interessen des Individuums zu beachten.« Barwich soll versucht haben, so Jahn, »diese Behauptung mit einer Schrift zu untermauern, die sein Vater während der Nazizeit verfasst hat und die eine starke antimarxistische Aussage enthält«. Barwich lese aktuell anarchistische Studien und diskutiere hierüber mit dem Physiker Dimitri I. Blochinzew, Mitarbeiter in Dubna. Barwich schaffe »eine Art Kult um den klassischen Anarchisten« Pjotr A. Kropotkin; er suche

2060  HA III/6/S vom 22.9.1962: Bericht von »Karl« am 21.9.1962; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 1, Bl. 272–274, hier 272. 2061  Abschrift eines Berichtes von Klotzer* vom 29.11.1962; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 18–20.

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Abb. 42: Pjotr A. Kropotkins Grab auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau

zusammen mit sowjetischen Kollegen sogar im letzten Aufenthaltsort Kropotkins nach Zeitzeugen.2062 Im Januar 1963 zeigte sich der miserable Bearbeitungsstand noch deutlicher. Rambusch berichtete  – wie es sich in Moskau gezeigt habe  – von fehlenden exakten Berechnungen, die jetzt nachgeholt werden müssten. Auch müsse die BorAnlage »in Übereinstimmung mit der sowjetischen Seite geändert werden, da eine größere Sicherheit gewährleistet werden muss«. Auch die Projektierungsarbeiten für das Heizhaus seien – in der Sowjetunion – gestoppt worden. »Diese Fragen würden nicht stehen, wenn das AKK die vorgeschlagenen Arbeiten nicht gestrichen hätte. Die sowjetischen Projektanten haben für die Arbeiten unseres Projektes sehr wenig Zeit, da sie die 2. Ausbaustufe für das AKW Woronesh projektieren müssen.«2063 Generalleutnant Walter unterrichtete am 7. Februar Oberst Weidauer: »Leider liegt die Besprechung des Barwich mit dem Bundesnachrichtendienst so lange zurück, dass m. E. eine Auswertung in der Presse, wie ich das ursprünglich beabsichtigte, wohl kaum noch infrage kommt. Ich halte es deshalb für notwendig, 2062  HA III/6/T vom 9.1.1963: Bericht von »Peter« am 9.1.1963; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 207 f. Der GM »Peter« war Justus Mühlenpfordt, mit dem Barwich seit 1936 bekannt war. HA III/6/S vom 28.1.1963: Kenntnisse zu Barwich; ebd., Bl. 219 f. 2063  HA III/6/S vom 25.1.1963: Bericht zu einer Aussprache mit Rambusch; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 41 f.

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Barwich unter operative Kontrolle zu nehmen, doch ist es hier besonders erforderlich, völlige Konspiration zu üben, damit Barwich keine Kenntnis bekommt. Unter keinen Umständen halte ich es für richtig, mit seiner Frau zu sprechen. Ich bin davon überzeugt, dass sie dem Barwich jede Unterredung sofort mitteilen würde. Ich halte es für notwendig, die Partei über die Unterredung des Barwich mit dem Bundesnachrichtendienst zu informieren und dabei zu empfehlen, alle Maßnahmen zu ergreifen, damit Barwich in absehbarer Zeit nicht in das kapitalistische Ausland fahren kann. Ich werde diese Frage mit der Sicherheitsabteilung des ZK besprechen.«2064 Laut einem Bericht vom 18. März bat Rambusch um Absprache mit dem MfS zu einer Ministerratsvorlage. Wenn er im Bereich der Kernforschung verbliebe, so Rambusch, »möchte er bei der Realisierung dieses Vorhabens mitarbeiten«. Er sei der Meinung, dass in der Vorlage »zu viel von der Entlassung bzw. Umsetzung der Kader des VEB EPKA gesprochen« werde. »Da zurzeit kein konkreter Überblick besteht, wann die Projektierungsarbeiten abgeschlossen sein werden«, könne »man die Kader jetzt nicht umsetzen. Die im vergangenen Jahr entlassenen 40 Mitarbeiter fehlen jetzt bei der Projektierung (stimmt!).«2065 Barwich bat Offizier Maye für den 2. Mai um ein Gespräch in Berlin. Er befand sich auf einem Zwischenaufenthalt dort und wollte am 3. wieder nach Dubna zurückfliegen. Am Vortag hatte er mit Hertz und Schwabe gesprochen, die ihm mitgeteilt hatten, »dass bei der Forschungsgemeinschaft der Akademie das ZfK Rossendorf nicht mehr als Einheit geführt, sondern in einen Institutskomplex zerlegt werden soll«. Dies gehe von Rompe, Klare und Schwabe aus. Er, Barwich, sei gegen eine Dezentralisierung. Endgültig sei aber noch kein Beschluss geführt worden. Er halte es überdies für zweckmäßig, dass auch er in die Diskussion einbezogen werde. Seine Wahlperiode in Dubna laufe zum 1. Mai 1964 ab. Zu Steenbeck führte Barwich in der Wiedergabe Mayes aus, dass er der Auf‌fassung sei, dass der »zumindest moralisch für das Dilemma um das AKW-I der DDR verantwortlich« sei. »Seine vom Ehrgeiz getriebene Orientierung auf eine zweite Ausbaustufe lenkte von dem Schwerpunkt der ersten Ausbaustufe ab und führte zu den bekannten Differenzen und Erscheinungen. Daraus leitet Professor Barwich ab, dass Steenbeck trotzdem heute besser denn je dasteht (Forschungsrat, Vizepräsident der Akademie), da er alle Schuld auf Fabian, Rambusch und Hofmann als Ausführende abgewälzt hat. Professor Barwich ist der Auf‌fassung, dass Professor Steenbeck wegen seines Ehrgeizes und seiner Großmannssucht eine Gefahr für unsere Entwicklung auf dem Sektor Kernenergie darstellt.« Hinsichtlich der sowjetischen Position in der Frage der Kernenergie, genauer: Jemeljanows Position, gäbe es momentan Unklarheiten. Sorge bereite der DDR der Bezug von Uran. Die Uranaufbereitung sei sehr aufwendig 2064  Schreiben von Walter an Weidauer vom 7.2.1963; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 221. 2065 HA III/6/S vom 18.3.1963: Bericht zu einer Absprache mit Rambusch; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 43–46.

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und der Ausnutzungsgrad in Reaktoren extrem niedrig, nämlich nur zwei bis drei Prozent. Die Kommission Kernenergie habe nach Einschätzung von Barwich »keine klare Perspektive im Auge«. Zum einen würden Fuchs und Steenbeck meinen, dass man in der DDR »gar nichts mehr machen« solle (jedoch das Zuendeführen der ersten Ausbaustufe des AKW-I). Eine zweite Gedankenlinie aber beinhalte zwei andere Wege. Erstens, die »Weiterentwicklung der bekannten Druckwasserreaktortypen«, zweitens »die Entwicklung von Wärmereaktoren für Industrieanlagen« (nicht für Gewinnung von Elektrizität geeignet).2066 Ein weiteres Gespräch Rambuschs mit dem MfS über die Perspektive in der Frage der Kernenergie fand am 28. Mai statt. Grundlage war die in Auswertung des VI. Parteitages im ZK der SED geführte Diskussion über neue Energiequellen. Er hatte ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter für Energie im ZK und unterbreitete den Vorschlag, »ab 1968 mit dem Bau der 2. Ausbaustufe, 200 MW, zu beginnen.« Das Ende der Bauperiode sollte demnach 1970/71 sein. Um 1980 sollte ein zweites Atomkraftwerk mit 600 MW Leistung errichtet werden.2067 Im Juli konstatierte das MfS im Rahmen des zu Barwich angelegten Vorgangs »Professor«, dass »der englische Geheimdienst und der BND großes Interesse« für ihn zeigten.2068 Am 26. Juli berichtete der GM »Peter« Jahn, dass Barwich nicht an den Sozialis­ mus glaube, »weil er im Prinzip gegen die Menschlichkeit« verstoße. Er betreibe seinen »Kult um den Anarchisten Kropotkin« immer noch.2069 Das MfS begann nun fleißig am Feindbild »Barwich« zu stricken. In einer Zusammenfassung der Erkenntnisse zu Barwich hielt Maye am 3. September fest, dass Barwich davon überzeugt sei, dass es unmöglich sei, die kapitalistischen Länder zu überholen, das sei »ein Trugschluss und einfach unmöglich«.2070 Auf Wunsch hin traf sich Barwich mit Maye am 5. Februar 1964 zu einem Gespräch, diesmal im Beisein von Offizier Horst Ribbecke. Ihm ging es um die Frage der Perspektive der Kernenergie für die DDR, aber auch um die Frage seines Engagements hierzu. Er werde ab Juli 1964 wieder die Tätigkeit als Direktor des ZfK Dresden aufnehmen. Er habe sich neben seiner Anleitungsfunktion für die Bereiche Reaktorphysik und Reaktortechnik vorgenommen, sich mit Fragen der Automatisierung und kybernetischen Steuerung von Reaktoren zu befassen.2071

2066  HA III/6/S vom 24.5.1963: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 2.5.1963; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 284–287. 2067 HA III/6/S vom 31.5.1963: Bericht zu einer Aussprache mit Rambusch; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 47 f., hier 47. 2068 Am 2.7.1963 bestätigter Plan zu Maßnahmen zum Vorgang »Professor«; BStU, MfS, AOP 10660/67, Bd. 1, Bl. 42–44, hier 42. 2069  HA III/6/T vom 1.8.1963: Bericht; ebd., Bl. 61–63, hier 61. 2070  HA III/6 vom 3.9.1963: Bericht; ebd., Bl. 78–85, hier 80. 2071  Vgl. HA III/6/S vom 8.2.1964: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 5.2.1964; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 290–293, hier 290.

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Ziert berichtete am 28. Februar über Konflikte, die im Verhalten Rambuschs zur Tagung in Taschkent während der 7. Tagung der Kommission für die fried­ liche Anwendung der Atomenergie zutage getreten seien. Hier habe sich die Gruppe um Rambusch abgekapselt und »in jeder Weise« opponiert; Ziert: »Der Vorschlag unserer Delegation, in Zukunft von der SU komplette Kraftwerksausrüstungen zu beziehen, entsprach nicht den Vorstellungen und sie erklärten sich nicht damit einverstanden, ohne zu beachten, dass diese Maßnahme in der Direktive verankert war und die Delegationsmitglieder dementsprechend auftreten mussten. Der Vorschlag kam von der Plankommission [SPK] und wurde von den Mitgliedern der Delegation insgesamt nicht gebilligt. Er hat auch keine Aussicht, von der SU akzeptiert zu werden.«2072 Nun verlange Rambusch von der SPK, dass sie endlich kundtue, wie sie den Energiebedarf bis 1980 »mit einem Anteil von ca. 2 300 MW aus Kernenergie« zu decken gedenke. Sie solle festlegen, »wie dieser Anteil zu erreichen ist«. Er bestehe ferner »auf seinen Standpunkt, dass es für uns billiger käme, das gesamte Kraftwerk, einschließlich Reaktor, Reaktorgehäuse und Turbinen selbst herzustellen«. Sowohl Ziert als auch die SPK verträten diesen Standpunkt nicht. Die SPK wolle jedoch zunächst die drei Varianten (kompletter Bezug aus der Sowjetunion – Selbstbau mithilfe der Sowjetunion – völliger Selbstbau) gründlich untersuchen und diesbezüglich auch mit der Sowjetunion besprechen.2073 Am 26. August sprach Maye mit Barwich die Teilnahme an der Konferenz der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) in Wien und an der 3. Internationalen Konferenz für die friedliche Nutzung der Atomenergie im September in Genf ab. Er erhielt die klassischen Aufgaben, Tagungsunterlagen zu beschaffen und Personen zu beobachten, u. a. Kersten und Born. Die Delegationsteilnehmer der DDR hatte er zu sichern. Nach seiner Rückkehr werde man dann am 20. September »ein ausführliches Gespräch« führen.2074 Einen Hinweis auf irgendein verdächtiges Verhalten Barwichs enthält dieser Treff‌bericht nicht. Allerdings fertigte Maye noch am selben Tag eine Aktennotiz, die als Botschaft einer Flucht ex nunc durchaus gelesen werden kann, sie heißt: Perspektivlosigkeit. Demnach habe Barwich vertraulich von einer Indiskretion von Eberhard Leibnitz erfahren, wonach »die sowjetische Seite daran interessiert sei, dass die Kernforschung in der DDR völlig zum Erliegen« komme. Leibnitz war unlängst in Moskau zu Verhandlungen über einen Freundschafts­ 2072  HA III/6/S vom 28.1.1964: Bericht von »Karl« am 28.1.1964; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 15–18, hier 16. 2073  HA III/6/S vom 29.2.1964: Bericht von »Karl« am 28.2.1964; ebd., Bl. 19–21, hier 19 f. 2074  HA XVIII/5 vom 7.9.1964: Bericht zum Treffen mit »Hahn« am 26.8.1964; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 301 f. Aufgrund der Nichtmitgliedschaft der DDR in der UNO war die Entsendung einer offiziellen Delegation nicht möglich. Die Konferenz wurde gemeinsam von der UNO und der IAEA zu Fragen der Kernenergetik, gesteuerten Kernfusion und Kernstrahlung durchgeführt. In: SFT, Weiz, (o. D.): Sekretariatsvorlage für die Entsendung von DDR-Wissenschaftlern zur inoffiziellen Verfolgung des Tagungsverlaufes der III. Konferenz für die friedliche Nutzung der Atomenergie vom 31.8.–9.9.1964 in Genf; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 37–43.

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vertrag gewesen. Barwich aber wisse, »dass die sowjetische Seite niemals eine solche Haltung bezieht«.2075 Vom 31. August bis 9. September brach Barwich als Leiter einer zehnköpfigen Beobachtergruppe der DDR zur Konferenz nach Genf auf. Anschließend sollte er, wie geplant, an der Tagung der Atomenergieorganisation in Wien teilnehmen. Am 6. September scheiterte der Versuch der Flucht seiner Frau, seiner beiden Kinder und der Verlobten seines Sohnes. Sie versuchten die Flucht mithilfe gefälschter Personaldokumente. In dieser Quelle ist auch vermerkt worden, dass sich »seine vor Jahren geäußerten Auffassungen zur Kernenergieperspektive« nun »im Wesentlichen bestätigt« hätten.2076 Es ist wahrscheinlich, dass der MfS-Offizier hiermit auch verdeutlichen wollte, dass man doch auf Barwich hätte hören müssen. Am 6. September, einem Sonntag, verließ Barwich die Delegation. Der GI »Werner« hatte am darauffolgenden Dienstag von Steenbeck erfahren, dass Barwich »unter Zurücklassung sämtlicher Konferenzmaterialien und ohne die Hotelrechnung zu begleichen, Genf am 6. September 1964 verlassen« hatte.2077 Ziert erfuhr am 8. September um 23.00  Uhr durch das Außenministerium, dass Barwich die DDR-Delegation verlassen hatte. Man fand heraus, dass er am 6. September letztmalig ein Gespräch mit Steenbeck hatte. Sofort nach Ankunft der DDR-Delegation am 10. September in Berlin-Schönefeld sollte auf Vorschlag des MfS Staatssekretär Herbert Weiz ein Gespräch mit Steenbeck führen. Ergebnis sollte sein, für die DDR-Delegation die Verhaltensweise in der Frage der Flucht Barwichs festzulegen. »Zum gleichen Zeitpunkt« sollten »unter konspirativen Bedingungen die inoffiziellen Mitarbeiter des MfS innerhalb der Delegation« zu Absprachen getroffen werden.2078 Ebenfalls am 8. September sprach das MfS mit Weiz, um ein Gespräch mit Barwich zustande zu bringen. Weiz riet, Rompe ins Feld zu führen, von dem verspreche er sich eventuell wenigstens einen geringen Erfolg, Einfluss auf Barwich zu nehmen. Er sei davon aber nicht überzeugt. Sonst wisse er niemanden zu nennen. Man könne auch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Ständigen Komitees des RGW, Gregor, zur Klärung ins Feld schicken für die erwartete Teilnahme Barwichs in Wien.2079 Einen Plan hierfür fertigte das MfS sofort an.2080 Das avisierte Gespräch von Weiz mit Steenbeck fand statt.2081 Offizier Jahn wurde u. a. beauftragt, Gespräche mit 2075  HA XVIII/5 vom 7.9.1964: Aktennotiz zum Treffen mit Barwich am 26.8.1964; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil II, 1 Bd., Bl. 303. 2076  HA XVIII/5 vom 7.9.1964: Faktenzusammenstellung; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 223–228, hier 223 u. 227. 2077  HA XVIII/5 vom 10.9.1964: Bericht von »Werner«; BStU, MfS, AOP 10660/67, Bd. 1, Bl. 237–239, hier 238. 2078  HA XVIII/5 vom 9.9.1964; BStU, MfS, AIM 12153/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 44 f., hier 44. 2079 Vgl. HA XVIII/5 vom 8.9.1964: Ergebnis der Aussprache mit Weiz; BStU, MfS, AOP 10660/67, Bd. 1, Bl. 214. 2080  Vgl. HA XVIII/5 vom 8.9.1964: Plan zur Kontaktaufnahme; ebd., Bl. 215. 2081  Vgl. HA XVIII/5 vom 9.9.1964: Treffvermerk zum Treffen mit »Karl«; ebd., Bl. 214 f.

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Hertz, Rompe und Schintlmeister zu führen. Es ging vor allem um die Frage, ob sie sich eine Einflussnahme auf Barwich vorstellen könnten.2082 Das Gespräch mit Rompe führte Jahn sofort noch am 9. September. Rompe meinte, dass die Flucht möglicherweise mit der »gegenwärtigen Perspektivlosigkeit der Kernforschung in der DDR« zusammenhängen könne. Auch könnten Indiskretionen seitens Mitarbeiter des Staatssekretariats für Forschung und Technik erfolgt seien. Zu viele Personen hatten Kenntnis darüber erhalten, »Barwich möglichst lange in Dubna zu belassen«. Auch könne ihm sein langjähriger Freund Wittbrodt »die Perspektive unserer Kernforschung übertrieben negativ dargestellt« haben. Rompe zählte jene Personen auf, mit denen Barwich engere Beziehungen gehalten habe: also Hertz, Wittbrodt, Klaus und Irene Gysi, Mühlenpfordt, Hartmann und Bernhard.2083 Noch am selben Tag sprach Jahn mit Hertz, der, anders als Rompe, seinen Schüler charakterlich schwer denunzierte.2084 Ribbecke unterhielt sich nach der Ankunft der DDR-Delegation am 10. September anschließend noch »ausführlich« mit Steenbeck zum Hergang der Flucht Barwichs. Dessen sehr detaillierte Ausführungen zum möglichen Ablauf der Flucht, Arbeitsleistungen und Charakter waren despektierlich.2085 Frühauf, Rompe, Wittbrodt und andere wussten offenbar bereits vor der Flucht Barwichs, dass die DDR den Ausstieg aus der eigenen Kerntechnik bereits plante. Der GM »Liedmann« wusste am 10. September gegenüber Offizier Weißbach von einem Gespräch zu berichten, das Jemljanow mit Steenbeck nach Bekanntwerden der Flucht Barwichs geführt hatte. Während Jemljanow sich davon überzeugt zeigte, dass Barwich »keine Interna verraten würde«, war Steenbeck ganz anderer Meinung: »er schätzte ein, dass Barwich als Wissenschaftler nichts zu bieten habe und er sich deshalb, um bestehen zu können, auch des Verrats von internen und streng geheimen Dingen bedienen« müsse.2086 Das war heftig und entsprach so gar nicht dem Wesen Steenbecks. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass der GM log, oder auch, dass Steenbeck abwiegelte, Barwich also gar schützen wollte. Hertz soll sich nach übereinstimmenden Berichten laut Aktenlage über die Flucht Barwichs heftig »empört« gezeigt haben. Er deutete an, dass er seine Empörung öffentlich machen wolle und hierzu auch Volmer, Steenbeck und Rompe um Solidarität bitten werde, einen öffentlich zu machenden Text mit zu unterschreiben. Er bat auch um Unterredung mit Offizier Jahn. Hertz, so Jahn, zeige sich nervös und bedrückt. Ihn bedrücke der »Vertrauensbruch« durch Barwich. »Es wird vorgeschlagen«, so Jahn am 14. September, dass er selbst »entsprechend dem Wunsch von Professor Hertz an der Unterredung teilnimmt. Es geht nach dem Kommentar von 2082  Vgl. HA XVIII/5 vom 9.9.1964: Vorschlag zur Einleitung politisch-operativer Maßnahmen; ebd., Bl. 222–224. 2083  HA XVIII/5/2 vom 10.9.1964: Unterredung mit Rompe; ebd., Bl. 225 f. 2084  Vgl. HA XVIII/5/2 vom 10.9.1964: Unterredung mit Hertz; ebd., Bl. 227 f. 2085  HA XVIII/5 vom 10.9.1964: Unterredung mit Steenbeck; ebd., Bl. 229–232. 2086  HA XVIII/5 vom 10.9.1964: Unterredung mit »Liedmann«; ebd., Bl. 233–236, hier 236.

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Professor Rompe nicht darum, das MfS als Urheber oder Teilnehmer an Aktionen herauszustellen, sondern Professor Hertz möchte sich für das Vertrauen rechtfertigen, dass ihm mit der ersten Information über Barwichs Verrat entgegengebracht wurde. Deshalb möchte er das MfS von seinen geplanten Schritten unterrichten und sich beraten.«2087 Die überaus harte Reaktion von Hertz kann hypothetisch damit erklärt werden, dass Barwich Mitwisser vieler gemeinsamer Dinge, letztlich auch der angedeuteten Flucht war, er also Angst bekam vor Konsequenzen. Jahn sprach daraufhin am 16. und 17. September mit Hertz. Er sei bereit, so Jahn, sich von Barwich zu distanzieren. U. a »wurde vereinbart«, »persönliche Briefe« an berühmte, im Westen lebende Wissenschaftler wie Hahn, Heisenberg, Meitner, Gerlach und Dirac zu schreiben. Hertz hielt die im Neuen Deutschland erfolgte Notiz zur Flucht, wonach die Wissenschaftler das Verhalten von Barwich »entschieden verurteilt« hätten, »für zu harmlos«. Hertz biederte sich geradezu an, indem er Jahn anbot, dass der sich doch bei ihm informieren könne, wenn es fürderhin um die Einschätzung von SU-Spezialisten gehe, er kenne deren fachliche wie charakterliche Eigenschaften. »Er meinte konkret Professor Hartmann, der nach seinem Wissen mit der Molekularelektronik nicht fertig« werde. Dies war pure Denunziation. Rompes Verhalten in der Sache wurde von Jahn gelobt, der habe »unsere Zielstellung in vorbildlicher Weise« unterstützt. Hertz habe zu Rompe Vertrauen.2088 Dem im Neuen Deutschland verkündeten Grund für Barwichs Flucht, er sei vom amerikanischen Geheimdienst abgeworben worden, schenke Steenbeck keinen Glauben. Diese Meinung hatte er am 17. September gegenüber dem GI »Irene« vertreten. Barwich sei vom Charakter nicht schlecht und in Dubna einfach nicht seinen Fähigkeiten entsprechend gebraucht worden. Wir würden »uns«, so Steenbeck, »zu wenig mit unseren Menschen beschäftigen und vor allen Dingen dann nicht, wenn sie Sorgen und Kummer« hätten. So gesehen sei sein Schritt nicht überraschend gewesen. »Prinzipiell schlussfolgerte er, dass die Verärgerungen vieler unserer Wissenschaftler daher kommen, dass sie sich als nicht verstanden betrachten, oder das Gefühl haben, nicht für voll genommen zu werden.« (Dieser Tenor passt wieder genau zum Wesen Steenbecks, dem Helfenden.) Ferner soll er geäußert haben, dass Wissenschaftler der Akademie »Furcht vor Genossen« hätten »und zwar vor allen Dingen vor Genossen aus dem sogenannten mittleren Apparat«. Er habe gesagt, so der GI »Irene«, dass »automatisch ein Vorhang herunterginge in Gesprächen, wenn Genossen sich dazugesellten«. Diese Genossen, so sei man überzeugt, seien »nur dazu da«, »auszuhorchen und Zuträgerdienste zu leisten«.2089 Zweifellos sagte Steenbeck hier die Wahrheit, instrumentalisierte aber auch den Fall »Barwich« sofort für die Allgemeinheit seiner bürgerlichen Wissenschaftlerkollegen. Robert Jungk veröffentlichte in Die Zeit am 18. September eine erstaunlich präzise Einschätzung. Ein Psychogramm, das Barwich als einen Zeitgenossen schildert, 2087  HA XVIII/5/2 vom 14.9.1964: Zu Barwich; ebd., Bl. 247 f. 2088  HA XVIII/5 vom 18.9.1964: Zu Barwich; ebd., Bl. 258–260. 2089  HA XVIII/5/2 vom 19.9.1964: Bericht von »Irene«; ebd., Bl. 261 f.

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der ganz und gar ungewöhnlich war, einer mit Witz, Esprit, posaunenhafter Musikalität und Offenheit gegenüber allem Denkbaren; Jungk: »In der Wissenschaftlerstadt Dubna, wo ein freierer Ton herrscht als sonst im Ostblock, war das offene Auftreten Barwichs geduldet, ja insgeheim vielleicht von dem toleranten Direktor Blochinzew, der um einen ›neuen Ton‹ bemüht war, sogar begrüßt worden. Seiner Rückkehr nach Dresden sah Barwich schon im Frühjahr mit Unbehagen entgegen. Der ›Kasernenbetrieb‹ in Rossendorf, die Humorlosigkeit der Funktionäre, der Fanatismus seines nächsten Untergebenen Klaus Fuchs (von dem er mir sagte: ›Der ist nun mal ein unverbesserlicher Pastorensohn, und statt des lieben Gottes betet er den Diamat an‹) – all das erfüllte ihn mit dunklen Vorgefühlen. Dennoch hat Barwich nie von ›Flucht‹ gesprochen.«2090 Auf der Sitzung der Klasse für Physik, Mathematik und Technik der DAW am 24. September verkündete Hertz seine Stellungnahme zur Flucht Barwichs, die »in weiten Passagen in scharfen Worten gehalten war«. Er habe verlangt, dass seine Rede protokolliert und Hartke, Präsident der DAW, übergeben werde. Rompe habe berichtet, dass die Auffassung von Hertz allgemein geteilt worden sei. Jedoch: »In Diskussionen traten bei Genossen Wissenschaftlern Tendenzen dahingehend auf, dass die Regierung Barwich als parteilosem Wissenschaftler zu viel Vertrauen entgegengebracht habe.«2091 Erwartungsmäßig »übergab« sich regelrecht Rambusch wegen Barwich. Der sei »ein Ganove« und »ein ausgesprochenes Schwein«, ein »übler Bursche« und »Lump«, der »keine nennenswerte wissenschaftliche Leistung vollbracht« habe. Er sei ein Querulant, der jahrelang »destruktive Politik« und somit »Schädlingstätigkeit« betrieben habe. Der tiefe Hass Rambuschs zeige sich darin, so Offizier Taut, dass der angedeutet habe, »keine Skrupel« zu haben, Barwich »endgültig zum Schweigen zu bringen«. Rambusch habe gesagt: »das Schwein bringt es noch fertig und schreibt ein Buch«. (Was dann auch geschah: Das Rote Atom2092) Der Schaden sei für die DDR jedenfalls hoch, er kenne Personen, Strukturen und Institutionen sowie die Kernenergiepolitik.2093 Rambusch und Hertz wussten, dass Barwich ein Kenner auch ihrer Seelen und ihres Geistes, ihrer »Geschichten« par excellence war. Genau deshalb kochten sie geradezu über vor Wut. Rambusch plädierte indirekt für Mord. Er wusste also, warum er Barwich am liebsten zum Schweigen gebracht hätte. Hanisch studierte Das Rote Atom auf der Suche nach feindlichen Querverbindungen im Sommer 1982. Er exzerpierte seine Fundstellen auf insgesamt sieben Seiten. Hier einige Stellen, die auch Rambusch und andere Funktionäre fürchteten:

2090  Jungk, Robert: Er nahm niemals ein Blatt vor den Mund. Prof. Barwich: Ein Kernphysiker, der die Freiheit suchte, in: Die Zeit vom 18.9.1964, S. 6. Beleg: Barwich: Das rote Atom, S. 189 f. 2091 HA XVIII/5 vom 25.9.1964: Bericht von Maye; BStU, MfS, AOP  10660/67, Bd. 1, Bl. 263 f., hier 263. 2092  Barwich: Das rote Atom. 2093  Vgl. Rheinsberg vom 18.9.1964: Aussprache von Hauptmann Taut, Kader und Sicherheit des AKW, mit Rambusch; BStU, MfS, AOP 10660/67, Bd. 1, Bl. 267 f.

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»Ich griff nun«, so Barwich, »zu dem Mittel, das mir später noch oftmals gegen Parteifunktionäre und stupide Beamte Erfolg brachte: Ich stellte mich noch dümmer, als mir mein Gegenüber zu sein schien«. Oder der Fall des Parteisekretärs Hoffmann am ZfK, der kein Physiker war und Barwich bevormunden wollte. (Zur Erinnerung: Barwich hatte sich bei Selbmann beschwert und dessen Abberufung gefordert.) Barwich: »Ohne Parteisekretär wäre alles viel besser und natürlicher zu regeln gewesen.« Und: »Im Falle eines neuen Parteisekretärs stelle ich folgende Bedingung: 1. Der Parteisekretär verzichtet grundsätzlich auf jede direkte Einflussnahme bei Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern. 2. Er enthält sich jeder Kritik an der Arbeit wissenschaftlicher oder technischer Fachkräfte, deren Fachgebiet er nicht studiert hat. 3. Er veranstaltet grundsätzlich keine Zusammenkünfte von Mitarbeitern des Institutes, auf denen Fragen der wissenschaftlichen Arbeit, der Forschungspläne und der Perspektive behandelt werden, sofern er nicht ausdrücklich dazu vom Institutsdirektor beauftragt wurde. 4. Er verzichtet grundsätzlich darauf, Mitarbeiter während der Dienstzeit zu sich zu bitten und sie über Institutsangelegenheiten und das Verhalten anderer Mitarbeiter mündlich oder schriftlich um Auskunft zu bitten. 5. Das ZK ist bereit, den Wünschen des Institutsleiters bezüglich der Auswahl der Person des Parteisekretärs Rechnung zu tragen.«

Barwich gewann: »Nach langem, hartem Kampf wurde Hoffmann seines Amtes enthoben.«2094 Am 12. Oktober gab Mielke die Zustimmung zu einem Ermittlungsverfahren der HA IX gegen Barwich »wegen Verletzung des Passgesetzes und des Verdachts der Spionage«. Ziel war, einen »Haftbefehl zu erwirken und die Festnahmefahndung einzuleiten«.2095 Im März 1965 gewann der Maßnahmeplan der HA XVIII/5 zur Schaffung von Beweismaterial gegen Barwich an Kontur. Zunächst sollte eine Expertenkommission eingesetzt werden, »die eine Einschätzung über das wissenschaftliche und politische Verhalten« Barwichs vorzunehmen hatte. Insgesamt rund zwanzig Personen wurden auf Eignung zur zeugenschaftlichen Vernehmung geprüft.2096

2094  HIM »Rügen« vom 23.6.1982: Auswertung des Buches »Das Rote Atom«; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 13, Bl. 170–176, hier 170 u. 173 f. Vgl. auch Barwich: Das rote Atom, S. 16 u. 186 f. 2095 HA XVIII/5 vom 13.10.1964: Ermittlungsverfahren gegen Barwich; BStU, MfS, AOP 10660/67, Bd. 1, Bl. 270. 2096 HA XVIII/5 vom 3.3.1965: Maßnahmeplan zum Vorgang »Barwich«; ebd., Bd. 4, Bl. 136–138.

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Die Sowjetunion liefert Kernkraftwerke Am 24. März 1965 fand im Gästehaus des ZK der SED eine Aussprache mit Fuchs zum Stand der Verhandlungen mit der Sowjetunion statt. Entgegen der Festlegung Wyschofskys von der SPK habe es keine weitere Absprache gegeben. Allerdings fand Ende März noch eine Besprechung mit der Sowjetunion statt. Dort seien Schwerpunkte seitens der DDR genannt worden: Die DDR habe sich demnach um die »Federführung« für die »Berechnungen des Uran-Plutonium-Brennstoffzyklusses für Druckwasserreaktoren zur Verbesserung der Brennstoffnutzung und Senkung der Stromerzeugungskosten« bemüht. Nach der Wiedergabe der Worte von Fuchs sei dies eine »ökonomisch klingende Grundformulierung, die scheinbar Kernprobleme« berühre, sich aber »an die Tendenz der Konverterreaktoren in den USA« anlehne, »die im Gegensatz zur sowjetischen Entwicklungstendenz – sich auf den schnellen Reaktor zu orientieren –« stehe. Fuchs drängte auf eine schnelle Entscheidung hinsichtlich des Weges »zwischen den ökonomischen Erfordernissen der DDR (Energie­seite) und der weiteren Festlegung der Forschungsrichtung«.2097 Das Protokoll der Konsultation zwischen der Sowjetunion und der DDR auf dem Gebiet der Entwicklung der Atomenergetik liegt in der Akte ein. Die Konsultation fand vom 17. bis 23. März in Berlin statt. Zur Ergebnisseite: (a) die Sowjetunion erklärte sich bereit, am Bau von AKW mit einer Gesamtleistung von 2 000 MW teilzunehmen. (b) Für das AKW-II käme ein »Wasser-Wasser-Leistungsreaktor« mit einem Druckgefäß und einer Einheitsleistung von 400 MW zum Einsatz. (c) AKW-II sollte in zwei Blöcken aufgebaut werden, nach der ersten Aufbaustufe 400 MW, 1973, und nach der zweiten Ausbaustufe mit 400 MW, also insgesamt 800 MW erzeugen. Die Projektierungsarbeiten sollten 1966 beginnen. (d) Der Typ für das AKW-III, geplante Inbetriebnahme 1979/80, sollte zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt werden. Der Punkt (e)  enthielt plantechnische Fragen, (f)  Kooperationsfragen, (g) stellte jene Arbeiten vor, die die Sowjetunion zu erfüllen hatte, (h) legte die deutschen Anteile fest. Das Protokoll unterzeichneten Petrosjanz und Wyschofsky.2098 Am 9. April fand zu dieser Veranstaltung eine Aussprache zwischen Offizier Maye und Fuchs im ZfK Rossendorf statt, ergänzend und korrigierend ist hierzu festzuhalten: (a) Die DDR werde bis 1972 anteilig zu 60 bis 70 Prozent in der Nähe Demmins ein AKW-II mit zwei Mal 400  MW Leistung errichten. Die Sowjetunion sollte als Generalprojektant fungieren, die DDR als Generalauftragnehmer. Grundlage bildete die Lieferung von zwei thermischen Reaktoren von je 400 MW Leistung durch die Sowjetunion. (b) Die Sowjetunion hatte die DDR eingeladen, »am geplanten Bau eines schnellen Forschungsreaktors ›BOR 60‹« teilzunehmen, »speziell an der Erforschung des Brennstoffzyklus«. Fuchs sah dafür aber keine hinreichende 2097  HA XVIII/5 vom 7.5.1965: Bericht; BStU, MfS, AIM 8234/73, 1 Bd, Bl. 133 f. 2098  Protokoll der Konsultation über die Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der DDR auf dem Gebiet der Entwicklung der Atomenergetik in der DDR; ebd., Bl. 135–140.

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wissenschaftlich-technische Basis. Auch notwendige Investitionsmittel seien dafür nicht vorhanden. Würden sie bewilligt, dauere es zu lange. (c) Die Industrie der Sowjetunion komme den Anforderungen an den Ausbau der Kernenergie nicht nach, da sie dem Ausbau »von Kohle und Wasserkraft« den Vorrang gegeben habe. Selbst würde sie »forschungsseitig die ›schnellen Reaktoren‹ forcieren« für den Weltmarkt-Anschluss 1980 bis 1990. Mit der Lieferung für die eigenen Kernkraftwerke und der Lieferung für das AKW-II sei sie voll ausgelastet. Weitere Kernkraftwerke werde sie nicht an die DDR liefern können (»nicht bereit«). (d) Zu Beginn der Verhandlungen mit der Sowjetunion standen zunächst 2 000 MW im Plan, »die mit Verhandlungsbeginn kurzfristig durch Genossen Wyschofsky, SPK, auf 4 000 MW als Verhandlungsforderung erhöht wurden.« Ursprünglich sollten je 2 000 MW aus Kernenergie sowie auf Salzkohlebasis erzeugt werden; der Salzkristallisationsprozess werde jedoch »in großen Kesseln nicht beherrscht«. Außer AKW-II sei laut Fuchs »die Perspektive Kernenergie nach wie vor völlig unklar«. Zwei entscheidende Fragen wurden hinsichtlich der Entwicklung der Kernenergiegewinnung aufgeworfen: Für die Forschung fehlten circa 40 Millionen MDN Investmittel und der Maschinenbau war zudem kapazitätsmäßig »nicht in der Lage, die Forderungen für ein Kernenergieprogramm (bei 60 bis 70 Prozent Eigenleistung DDR) zu erfüllen«.2099 Ein Gutachten zu, besser: gegen Barwich ist geeignet, den Abbruch der DDReigenen Kernenergieentwicklung zu erklären. Am 25. Juni schloss das Staatssekretariat für Forschung und Technik das Gutachten über seine wissenschaftlich-technische Tätigkeit ab. Der »Gutachterkommission« gehörten Steenbeck (u. a. Vizepräsident der DAW und Vorsitzender dieser Kommission), Schumann (Sekretär des Wissenschaftlichen Rates zur friedlichen Anwendung der Atomenergie in der DDR), Rambusch (Direktor des VEB Atomkraftwerk Berlin), Faulstich (Direktor des ZfK) und Alexander (Leiter des Bereiches Reaktortechnik und Neutronenphysik im ZfK Rossendorf) an.2100 Entsprechend Paragraf 60 Abs. 1 und 3 StGB hatten die Gutachter die Aufgabe, (1) Umfang und Inhalt der Tätigkeit Barwichs in der DDR einzuschätzen, (2) eine Einschätzung seiner Leitungstätigkeit in diversen Gremien zu geben, in denen Barwich mitarbeitete, (3) ferner seine Mitwirkung bei der Entwicklung der Kernenergetik in der DDR einzuschätzen, (4) die Geheimhaltungsgrade in den diversen Tätigkeitsbereichen Barwichs festzustellen; (5) den möglichen Schaden durch seine Flucht einzuschätzen und (6) seine Aufgaben auf internationalem Parkett zusammenzustellen.2101 Im Folgenden einige reduzierte Ausschnitte: Zu (1): Barwich habe die Federführung beim Aufbau der Kernforschung und Kerntechnik in der DDR schlechthin innegehabt, er habe auch gelehrt, eine »Barwich-Schule« aber gebe es nicht. Bei seiner Ernennung zum Direktor des ZfK soll 2099  HA XVIII/5 vom 20.4.1965: Bericht; ebd., Bl. 130–132. 2100 Vgl. SFT: Gutachten über die wissenschaftlich-technische Tätigkeit Barwichs vom 25.6.1965; BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 265–305, hier 265. 2101  Vgl. ebd., Bl. 266.

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seine wissenschaftliche Produktivität im Sinne von »Originalbeiträgen« praktisch eingeschlafen sein. Sein Arbeitsstil sei sporadisch. Zu (2): Seine Leitungsarbeit sei schlecht gewesen. »Sein Vertrauen zur Parteileitung als unterstützendes Organ in der Leitungstätigkeit war gering.« Man habe in handschriftlichen Notizen gefunden, dass er die Partei der Unaufrichtigkeit zeihe, deren drei »Trümpfe« seien: »Mittelmäßigkeit, Aufgeblasenheit, Schönfärberei«. Ab Dubna habe er sich für die Belange des ZfK nicht mehr interessiert, sei abwesend bei Fragen gewesen. Die mehrere Seiten umfassende Beantwortung dieser zweiten Frage ist komplett negativ. Zu (3): Beim Aufbau des AKW-I sei Barwich »der damals einzige kompetente wissenschaftliche Berater« gewesen. Der Wahl des Reaktortyps habe er zugestimmt. »Durch die Errichtung des AKW-I sollte in der DDR die Entwicklung der industriellen Kernenergetik begonnen werden, um der in der Zukunft drohenden Energielücke in der DDR begegnen zu können«. Es steht geschrieben, dass das industrielle Potenzial der DDR und das Fehlen von ausgebildetem Personal nahelegen, die zweite Ausbaustufe nicht in Angriff zu nehmen, sondern stattdessen an der Vervollkommnung des gewählten Reaktortyps zu arbeiten. Damit wurde insistiert, als habe Barwich je anderes behauptet. Obgleich also genau dies die Position Barwichs war, suggerierten die Gutachter: »Von diesem Zeitpunkt ab machte Barwich während seiner ganzen Amtszeit keine durchführbaren bzw. durch wissenschaftliche Bearbeitungen begründeten Vorschläge für die Entwicklung der Kernenergetik der DDR.« Sie warfen ihm Destruktivität vor, auch soll er sich lustig gemacht haben über die Vorstellungen der DDR. Er habe die »Arbeiten des WTBR« dann »nicht nur nicht unterstützt, sondern durch« seine »Vorschläge stark behindert, die eine klare Entscheidung für die Entwicklung der Kernenergetik erschwerte. Eine der Ursachen für Barwichs Auftreten gegen das WTBR / EPKA und gegen eine 2. Ausbaustufe des AKW« liege »in seiner persönlichen Einstellung Professor Steenbeck gegenüber begründet.« B ­ arwich sei »ein Mensch mit ausgeprägtem Geltungsbedürfnis, der danach strebe, als einziger kompetenter Wissenschaftler in der DDR die Fragen der Kernenergetik zu vertreten. Nach Rückkehr von Professor Steenbeck in die DDR konnte Barwich diesen Anspruch nicht mehr aufrechterhalten, da Professor Steenbeck mit der Bildung und Leitung des WTBR beauftragt wurde und dadurch Einfluss auf die Entwicklung der Kernenergie in der DDR nehmen konnte. Hinzu kommt, dass Professor ­Steenbeck bereits aus seiner früheren Tätigkeit in Deutschland und in der UdSSR als Wissenschaftler bekannter und anerkannter war und diese Anerkennung sich auch in einem höheren Gehalt ausdrückte, ein Umstand, mit dem sich Barwich nicht abfinden wollte. Dieser Neid sowie seine Furcht, seine Vorrangstellung und seinen Einfluss in Fragen der Kernenergie zu verlieren oder zumindest teilen zu müssen, äußerte sich bei Barwich weniger in direkten Auseinandersetzungen mit Professor Steenbeck als vielmehr in Angriffen gegen das WTBR und die 2. Ausbaustufe des AKW. Diese Einschätzung wird von allen Mitgliedern der Kommission geteilt.«2102

2102  Ebd., Bl. 267–271 u. 273.

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Barwich und seinesgleichen, gewissermaßen Ulbrichts Notklientel, blieben letztlich doch immer nur Abtrünnige. Wie üblich wurde das Kriterium des Geheimwissens für die Bedeutung der Flucht in solchen Fällen heruntergespielt. Zwar wurde vermerkt, dass Barwich »alle Materialien im Zusammenhang der Kernforschung und Kerntechnik« zugänglich waren, also auch solche mit GVS- oder VS-Stempel, letztendlich aber hätten die USA das fortgeschrittene Wissen. Barwich zählte in der Sache zu den bestinformierten Personen in der DDR, nun aber sei der Schaden begrenzt. Allerdings kenne er viele Interna. Hierin bestehe das größte Schadenspotenzial.2103 So negativ dieses Gutachten auch war, so widersprüchlich steht es auch gegenüber nachgewiesenen positiven Beurteilungen und Einschätzungen wie hinsichtlich Barwichs wissenschaftlicher Arbeit: »Aus seinen persönlichen Notizen [sie sind also dem Gutachterteam vom MfS oder deren Mittelsmännern übergeben worden] geht hervor, dass er sich in seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit gründlich mit den Problemen auseinandergesetzt hat und sich nicht mit halben Lösungen zufrieden gab. Während der Aufbauphase des Instituts hat er die Arbeitsgruppen für Reaktorphysik und Reaktortechnik aufgebaut und den Beginn der wissenschaftlichen Arbeit durch Anregungen und vielfältige Diskussionen befruchtet. Mit wachsender Selbstständigkeit der Mitarbeiter zog er sich jedoch allmählich von der aktiven Beeinflussung der wissenschaftlichen Arbeit dieser Gruppen zurück.«2104 Ein besseres Urteil konnte in jener Zeit des Mangels kaum gefällt werden. Im Umgang mit Mitarbeitern sei Barwich »einfach und jovial« erschienen, er habe keinen Unterschied zwischen »einfachen und leitenden Mitarbeitern« gemacht. Es sei ihm auch äußerst schwergefallen, »nein zu sagen«, er erfüllte einfach die Wünsche. Fachlich sei er gern in den Meinungsstreit getreten, habe auch Kritik zugelassen, nicht jedoch bei Kritik an seiner Leitungstätigkeit und Kaderpolitik. »Den Bemühungen der Parteiorganisation des ZfK, die Leitungstätigkeit durch die Einführung echter kollektiver Beratungen mit den leitenden Mitarbeitern zu verbessern«, hatte Barwich »einen zähen, passiven Widerstand entgegengesetzt.« Das sei »besonders deutlich an den Vorgängen um die Ablösung des ersten hauptamtlichen Parteisekretärs des ZfK, des Gen[ossen] Hoffmann« geworden, »die er durch Einschaltung des ZK erreichte, ohne jemals eine offene Auseinandersetzung mit der gewählten Parteileitung versucht zu haben.« Er habe »harte Forderungen« an eine mögliche Zusammenarbeit mit der Partei gestellt. Die Gutachter verwiesen diesbezüglich an seine Schreiben an Hertz vom 20. Dezember 1957 und Selbmann vom 6. Januar 1958.2105 Es existieren in diesem Gutachten zehn Anlagen, zwei sind nicht als Anhang ausgeführt, sondern mitten im Gutachten eingeheftet. Diese beiden Anlagen, Nr. 2 und 3, sind Dokumente aus der Feder Barwichs. Es ist aus den beiden zu zitieren, zunächst aus der Anlage 2: 2103  Ebd., Bl. 274–276. 2104  Ebd., Anlage 1, Bl. 278 f. 2105  Ebd., Anlage 4, Bl. 285–287.

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»a) Die Urteilskraft in politischen und damit in allgemein wirtschaftlichen und ökonomischen Fragen ist zumindest stark infrage zu stellen, wenn der Betreffende als reifer Wissenschaftler mit bereits allen akademischen Graden den Nazis zugelaufen ist. Er ist damit durch das politische Examen vollkommen durchgefallen. Wenn er später zu Einsichten kommt, wenn er später wieder mit den roten Wölfen heult, dann bedeutet das noch lange nicht, dass er über Voraussicht verfügt, die besser ist als die eines Mannes, der stets den geraden Weg der Wahrheit sucht und der Gewissenhaftigkeit gegangen ist und infolgedessen nicht Nazi sein konnte. (3 Eigenschaften sind nie zusammen vorhanden: intelligent, anständig, Nazi).« Und »b) Die Urteilskraft eines erfahrenen guten Mannes basiert tatsächlich auf Beobachtung im Fachgebiet. Man kann nicht wissen, ob Kraftwerke gebaut werden sollen oder nicht, wenn man nie längere Zeit in Fabriken tätig war, [nicht] die Technik wirklich an der Basis miterlebt hat! Das ist keine Frage der Intelligenz, sondern des durch Erfahrung gewonnenen Wissens.«2106 Dass dies so in das Gutachten hineingeklebt worden ist, besagt zweierlei: erstens, dass die Kommission davon ausgegangen sein muss, dass die Zitate unisono belastend für Barwich sind, und zweitens, dass sie überhaupt keinen Begriff von der Urteilskraft besessen haben konnte. Vorsitzender der Kommission aber war Steenbeck! Die Anlage 3 ist mit »Zur Person« getitelt und in Ich-Form gehalten, sie ist ohne Zweifel von Barwich geschrieben. Er zeigt sich hierin absolut sicher, die richtigen Entscheidungen in den oben genannten Fragen getroffen zu haben und bemerkte süffisant: »Warum soll das Urteil der politischen Versager oder der fachlich Ungeschulten richtiger sein als das meine? Warum soll ausgerechnet derjenige, der den Standpunkt der SU teilt, ins Unrecht gesetzt werden? Sollte mein Schreiben an Leuschner fruchtlos bleiben, so bietet sich mir eine viel größere Chance! Die Geschichte des Zusammenbruchs der 2. Stufe wird mir wieder einmal zu weiterem Ansehen verhelfen!«2107 Folgend einige Auszüge aus der Anlage 7 des Gutachtens zur Tätigkeit Barwichs im Rahmen des Kernenergieprogramms. Die Ausführungen vergessen, dass Barwich seine Politik nicht konsequent durchsetzen konnte, der Widerstand gegen ihn massiv war und dass er in Sonderheit mit Steenbeck auch zu Kompromissen geneigt war, weil ein anderer Ausweg nicht sichtbar blieb. Basis der Analyse bildeten 42 Briefe und Schreiben sowie einige Vorlagen und Berichte, zumeist aus der Feder Barwichs. Danach falle »besonders auf«, dass Barwich »ständig gegen das Bestehen des WTBR bzw. EPKA« angegangen sei, »gegen eine 2. Ausbaustufe« gewesen sei und »keine konstruktiven Vorschläge für die Entwicklung der Kernenergie« gemacht habe, obgleich er an »allen entscheidenden Aussprachen über die Entwicklung der Kernenergetik« beteiligt gewesen sei. »Insbesondere« müsse »festgestellt werden, dass Barwich aktiv an der technisch-ökonomischen Begründung für das AKW-I mitarbeitete und bei der Regierungsdelegation (1956) zum Abschluss des Vertrages 2106  Ebd., Anlage 2, Bl. 288. 2107  Ebd., Anlage 3, Bl. 288 f.

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über die Hilfeleistung der UdSSR beim Aufbau des AKW der einzige (damals kompetente) wissenschaftliche Berater war.« Ihm sei also die damalige Begründung für den Bau des AKW vollständig bekannt gewesen. An der Abfassung des Vertrages habe er mitgearbeitet, habe also auch gewusst, dass damit »die Entwicklung der industriellen Kernenergetik begonnen« habe, »um der drohenden Energielücke in der DDR (ab 1970) begegnen zu können«. Hierfür seien zwischen 1956 und 1961 zwei Institute aufgebaut worden. »Für die wissenschaftliche Grundlagenarbeit das ZfK, für die im Vertrag mit der UdSSR festgelegten Arbeiten und Aufgaben das WTBR und eine selbstständige Projektierungsgruppe.« 1961 waren die Arbeitskollektive zusammengelegt worden im Rahmen der Bildung des VEB ZfKA. »Arbeitete bis einschließlich 1960 die Projektierungsgruppe unter weitgehender Anleitung von sowjetischen Spezialisten und führte das WTBR Studienarbeiten über Reaktoren und Atomkraftwerke durch, so änderte sich dies ab 1961 vollständig. Diese Arbeiten waren notwendig, um das ab 1961 auszuführende ›Ausführungsprojekt‹ selbstständig und eigenverantwortlich durchführen zu können.« Barwichs Behauptungen seien deshalb schlicht falsch.2108 Die Gutachter zitierten aus den Ausführungen Barwichs »zur Frage der Entwicklungstendenzen der Arbeiten der Kernenergetik in der DDR« vom 14. Juni 1959: »Die Frage, welche Rolle das WTBR spielen soll, ist überhaupt sehr schwer zu beantworten, da eine entsprechende Organisation, wie aus dem Vorhergehenden zu ersehen ist, zum Bau eines Atomkraftwerkes nicht notwendig ist.« Das »Vorhergehende« habe Barwich dahingehend aufgefasst, »dass in den nächsten Jahren noch keine Konstruktions- und Projektierungsarbeiten« anfallen würden. In seiner Stellungnahme vom 21. Dezember 1961 zum Memorandum der Kommission Kernenergie vom 5. Dezember 1961 und zu Fragen der Absetzung der 2. Ausbaustufe vom 19. Dezember 1961 seien seine Ausführungen »besonders gefährlich«, nämlich »eine Reduktion und Umgruppierung der Kader sofort ins Auge zu fassen«. Dies hätte bedeutet, so die Gutachter, die Arbeiten am AKW-I sofort abbrechen zu müssen. Die Gutachter schrieben: »Die 2. Ausbaustufe wurde von der sowjetischen Seite offiziell im Oktober 1956 bei der ersten Verhandlung über die Realisierung des abgeschlossenen Vertrages (zur Errichtung des AKW-I) vorgeschlagen.« Dies gehe aus einer Beilage Barwichs vom 9. September 1959 zur Vorlage zur Sitzung der Parteigruppe des Vorstandes des Wissenschaftlichen Rates vom 7. Dezember 1962 hervor. Barwich selbst sei Berater bei dieser Verhandlung gewesen. »Aufgrund dieses Vorschlages, der im Januar 1957 offiziell vom Leiter des AKK auf direkte Weisung des damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Selbmann bestätigt wurde, ist das Vor- und Technische Projekt von der sowjetischen Seite ausgearbeitet worden.« Barwichs Behauptung, dass die Sowjetunion »ganz und gar nicht« Interesse an einer Erweiterung des AKW-I habe, wirke »wie eine bewusste Lüge«. »Bei Durchsicht« von vielen der oben bezeichneten Unterlagen bekomme »man den Eindruck«, so die Gutachter, »dass ganz systematisch gegen diese Festlegung und den am 10. März 1960 2108  Ebd., Anlage 7, Bl. 293–298, hier 294.

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gefassten Beschluss des Ministerrates gearbeitet« worden sei. Barwichs einseitige Zitation sowjetischer Kollegen sei offenkundig. Eine persönliche Notiz Barwichs vom 6. Dezember 1962 zeigte, dass die Sowjetunion nicht nur eine zweite, sondern auch eine dritte Ausbaustufe plante. Tatsächlich stand sie im Begriff, dies umzusetzen. Jedoch nicht in oder für die DDR, sondern in Telojarak und Nowo-Woronesh.2109 Die Gutachter zitierten sodann aus der Unterlage vom 14. Juni 1959, in der Barwich gegen die »Frühgeburten« polemisierte: »1. Der Kraftwerksbau wird sich in pausenloser Entwicklung bis zum Jahre 1965 zu einem derart hohen technischen Niveau entwickeln, dass bereits mehrere Reaktortypen einschließlich des fortschrittlichsten, des Brutreaktors, zur Auswahl für die Serienproduktion vorliegen werden. 2. Alle bis dahin gebaute Kraftwerke sind bereits zuverlässige Stromlieferanten und können als erste Stromlieferanten in die Energiebilanz eingesetzt werden. 3. Die Schwierigkeiten für den Aufbau der übrigen zur Kernenergetik notwendigen Nebenanlagen sind nicht größer als die für den Bau der Kraftwerke, da die Technologie bereits festliegt.«

Barwich habe vielmehr den Akzent vor dem Beginn mit einer zweiten Aufbaustufe auf die »Heranbildung von zukünftig einsetzbaren Kadern« und anderen technisch zu lösenden Fragen bezüglich des Reaktorbaus gelegt.2110 Barwich antwortete Hertz am 8. August 1965 anlässlich dessen Geburtstags. Ein Brief, der vor allem zeigt, dass Barwich, menschlich gesehen, Hertz wohl überlegen war. Eine Ohrfeige in höchster Raffinesse – aber voller Wahrheit. Scharfsichtig erkannte er auch, dass Hertz bei der Abfassung des offenen Briefes vom MfS assistiert worden ist: »muss ich schließen, dass an der ›Konzeption‹ Ihres Briefes die obengenannte Stelle [das MfS – d. Verf.] beteiligt war, die Ihnen auch die Westpresse zur Einsicht zur Verfügung« gestellt hat.2111 Hertz antwortete in knappester Form am 2. September von Kloster auf Hiddensee. Er hatte nicht viel mehr zu entgegnen, als dass seine Flucht für ihn eine Enttäuschung gewesen sei.2112 Das war das Ende einer langen Beziehung. Der Spiegel veröffentlichte 1965 in seiner Nummer  44 Auszüge von Aussagen Barwichs vor US-Senatoren. Der Vorsitzende des Senatsausschusses war James O.  Eastland. Die Fragen, die er stellte, zeugten von einem hohen und genauen Wissen der Amerikaner über die Atomforschung der Sowjetunion und der anderen Ostblockstaaten. Es waren insgesamt pikante Fragen. Hier nur einige ausgewählte Antworten Barwichs, die im engen Kontext der Untersuchung stehen: Nein, so Barwich, er könne »in keine Partei eintreten, weil ich für Parteidisziplin nicht geschaffen 2109  Ebd., Bl. 294–296. 2110  Ebd., Bl. 297. 2111 Schreiben von Barwich an Hertz vom 8.8.1965; BStU, MfS, AOP  10660/67, Bd. 9, Bl. 102–115, hier 102. 2112  Vgl. Schreiben von Hertz an Barwich vom 2.9.1965; ebd., Bl. 116.

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bin«. Im Westen mögen viele Wissenschaftler glauben, dass es »im Ostblock zu einer Art Demokratie« kommen könne, das glaube er spätestens seit 1955 nicht mehr. Es werde gewiss zu einer Revolution in der DDR kommen, die in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre von den betroffenen Menschen selbst herbeigeführt werde. Nach einem Zwischenstopp seien er und Kollegen im Juli 1945 nach Suchumi gekommen. Die Wirkungsstätte sei ein umgebautes Sanatorium gewesen, das sei typisch gewesen. Er kam zu Hertz, eine zweite Gruppe sei Ardenne unterstellt gewesen. Das »dringendste Projekt« war die Isotopentrennung gewesen, man strebte an, größere Mengen von Uran 235 herzustellen. Hierzu wurde die Methode der Gasdiffusion angewandt. Die Methode sei nicht noch einmal dort entdeckt worden, sie wurde kopiert. Und zur Frage des Aufbaus einer Atomindustrie in der DDR äußerte er, dass SED-Führungskader »keine Ahnung«, davon gehabt hätten, »was alles dazu nötig war, sie konnten sich nicht die Schwierigkeiten vorstellen, sie hatten keine Ahnung von den notwendigen Investitionen. So befahlen sie mir und meinem Institut unnütze Arbeit, die fruchtlos blieb und bleiben musste – eben Vorarbeiten für Atomkraftwerke, die in Wirklichkeit nie gebaut würden«. Die Zusammenarbeit der Wissenschaftler sei denkbar schlecht gewesen, sie seien »alle etwas isoliert« gewesen, »alle Informationen« seien »erst nach oben gegangen, ehe sie wieder nach unten geleitet« wurden, »Querverbindungen« habe »es nicht« gegeben. »Und an der Spitze sitzt nicht immer ein Mann, der die Dinge richtig sieht, selbst wenn er Wissenschaftler ist. Säße ich ganz oben, würde das ziemlich schwierig für mich sein – so weit vom Schuss, so viele Einzelheiten, das kann nicht gut gehen. Aber in Wirklichkeit wird so verfahren.«2113 Nachträge Der Wissenschaftliche Rat (WR) wurde am 7. April 1966 auf Beschluss des Ministerrates aufgelöst. Hiermit wurden auch jene Teile der Beschlüsse des Ministerrates, »die die Gründe bzw. Umbildung des Wissenschaftlichen Rates« betrafen, »aufgehoben«: also jener vom 10. November 1955 »über Maßnahmen zur Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke« sowie jener vom 19. Dezember 1962, der die Atompolitik grundlegend revidierte.2114 Barwich starb plötzlich am 10. April 1966 in Köln. Der Abschlussbericht der HA XVIII/5 zum Operativ-Vorlauf zu Barwich erfolgte jedoch erst am 7. August 1967.2115 Der dazugehörige Beschluss für das Einstellen des Operativen Vorlaufs 2113  »Jedes Blatt Papier war nummeriert …« Professor Heinz Barwich über die Atomforschung in den Ostblockstaaten, in: Der Spiegel 19(1965)44, S. 160–170, hier 160, 162 f., 165 u. 167 f. 2114  MR der DDR: Beschluss über die Auf‌lösung des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie vom 7.4.1966; BStU, MfS, SdM, Nr. 1687, Bl. 74. 2115  Vgl. HA XVIII/5 vom 7.8.1967: Abschlussbericht; BStU, MfS, AOP  10660/67, Bd. 11, Bl. 97–104.

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vom 4. August 1967 ist inhaltsleer. Was Barwich betrifft, sei das Material »geklärt«.2116 Geklärt? Eine Chiffre? Im Februar 1968 führten die Offiziere Ribbecke und Maye einmal mehr eine Aussprache mit Rambusch zu Entwicklungsproblemen der Kernenergetik in der DDR zur Frage des Einsatzes schneller Brutreaktoren. Die Sowjetunion, so Rambusch, sei wissenschaftlich »auf dem neuesten Stand«. Offen sei die Frage nach dem Stand der technischen und technologischen Entwicklung, man kenne ihn nicht. Das Jahr 1975, wonach bis dahin die Kernkraftwerke mit thermischen Druckwasserreaktoren ausgerüstet sein könnten, sei Illusion.2117 Steenbecks Ernst hinsichtlich des Verbots militärischer Nutzung der Kerntechnik ist unstrittig. Hierin herrscht eine weitgehende Symmetrie hinsichtlich seines Blickes nach dem Westen wie nach Innen. In Bezug auf die Atombewaffnung der Bundesrepublik schrieb er am 2. Juli 1969 einen Brief, der DDR-Regierung zu signalisieren, dass sie »mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« eine solche »bereits jetzt besitzt«. Die kernphysikalischen Zusammenhänge, so ­Steenbeck, seien inzwischen »allgemein so vollständig bekannt, dass eine einsatzfähige Bombe am Schreibtisch berechnet werden« könne. Er beschrieb kurz die wichtigsten physikalisch-­technischen Voraussetzungen hierfür und korrigierte seine frühere Einschätzung von 1956. Da »hielt ich die Gefahr einer eigenen Atombewaffnung Westdeutschlands noch für Utopie. Ich ermöglichte meinen beiden früheren Mitarbeitern, in der Bundesrepublik Fuß zu fassen in der Annahme, dass Isotopentrennung ohnehin ein ganz allgemeines wissenschaftliches Interesse, etwa bei der Verwendung markierter Atome in der chemischen Analyse, besitzt. So gingen diese beiden zunächst zur DEGUSSA in Frankfurt / M.« Steenbeck hatte im Neuen Deutschland vom 2. Februar 1966 bereits darauf hingewiesen, wie simpel die Umstellung von Reaktoruran auf Bombenuran sei. Er erwähnte auch eine Veröffentlichung in der FAZ vom 17./18. Juni 1969, die »das von mir und meinen Mitarbeitern entwickelte Verfahren (die FAZ erwähnt sogar meinen Namen), die Grundlage für das jetzt anlaufende Regierungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Holland zur Errichtung großer Zentrifugenanlagen für die Herstellung angereicherten Urans« ist, nennt. »Nach den in diesem Aufsatz gemachten Angaben besteht sogar vollständige Identität mit dem damaligen Verfahren. Mir sind daher die Möglichkeiten dieses Unternehmens genauestens bekannt.« Zum Schluss wies er darauf hin, dass er seinen früheren Mitarbeitern immer wieder gesagt habe, wie gefährlich ihre Arbeit sei. Nach den von ihnen geschaffenen Grundlagen könne eine für militärische Zwecke erfolgte Nachentwicklung quasi von jedermann geleistet werden. Einer seiner Mitarbeiter habe ihm in diesem Jahr noch geschrieben, dass solange er »in dem Zentrifugenprogramm« arbeite, »kein Deutscher damit 2116  HA XVIII/5 vom 4.8.1967: Beschluss für das Einstellen der VAO; ebd., Bl. 105 f., hier 106. Der Beschluss ist mit Datum vom 10.8.1967 von Ribbecke bestätigt worden. 2117 HA XVIII/5 vom 21.2.1968: Aussprache mit Rambusch am 9.2.1968; BStU, MfS, AIM 8233/73, 1 Bd., Bl. 65–70, hier 65 f.

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Bombenuran« herstellen werde, dennoch sei es »höchste Zeit, den Atomwaffensperrvertrag wirksam werden zu lassen.« Ihn, Steenbeck, beruhige dies nicht.2118 Honecker las das Schreiben bereits am nächsten Tag.2119 Vom 10. Juli 1969 liegt eine mit »Streng geheim« vermerkte Stellungnahme in der Akte ein, mutmaßlich von der HV A verfasst, die die Angaben Steenbecks vom physikalisch-technischer Seite her bestätigte.2120 4.3.2 Flugzeugbau Einleitende Hinweise Der Protagonist der DDR-Flugzeugindustrie, Brunolf Baade, wurde am 15. März 1904 in Berlin geboren. Er starb 1969. Baade machte sein Abitur 1922 am Kaiser-Friedrich-Realgymnasium in Berlin-Neukölln. Das Diplom-Vorexamen legte er 1926 an der Technischen Hochschule in Berlin ab, das Examen an der Technischen Hochschule München 1929. Von 1929 bis 1932 arbeitete er in den Bayerischen Flugzeugwerken, von 1932 bis 1936 in den USA, u. a. bei Fokker. Von 1936 bis 1946 war er als Chefkonstrukteur der Junkers-Flugzeug-und-Motorenwerke Dessau (Ju 287) wieder in Deutschland tätig. 1946 wurde er in die Sowjetunion (Werke in Moskau und bei Kuibyschew, Samara)  geholt. Er kehrte 1954 zurück und erhielt sofort einen hochdotierten Sondervertrag.2121 Fortan leitete er den VEB Flugzeugwerke in Dresden-Klotzsche. Nach dem Ende des Flugzeugbaus wurde Baade per Beschluss des ZK der SED vom 28. Februar 1961 als Direktor des Instituts für Leichtbau eingesetzt. 1965 wurde er Mitglied des Forschungsrates. Baade war redegewandt, intelligent und besaß ein breites Wissen. In Fragen der Technik war er brillant, außerordentlich ideenreich und konnte staunen, eine Eigenschaft, die selten ist. Ähnlich wie Werner Hartmann war er USA-freundlich und hatte lebendige Verbindungen in den Westen. 1955 wurde er Mitglied der SED. Auf dem V. Parteitag wurde er zum Kandidaten des ZK gewählt.2122 Der zweite große Protagonist des Flugzeugbaus in der DDR war Fritz Freytag, geboren am 7. September 1908 in Göttingen. Er studierte von 1931 bis 1935 an der Universität Göttingen. Vor 1945 war Freytag bei Junkers Abteilungsleiter im Ressort Entwurf. 1959 wurde der Diplom-Ingenieur Technischer Leiter und Chefkonstrukteur. Von 1946 bis 1954 war er in der Sowjetunion, bis 1953 in Podbersje, 2118  Schreiben von Steenbeck an Honecker vom 2.7.1969; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 3829, Bl. 1–7, hier 6, resp. 9–15, hier 9, 11 f. u. 14. 2119  Eingangsstempel und Paraphe auf Durchschlag mit Datum vom 3.7.1969; ebd., Bl. 8 f. 2120  Vgl. Stellungnahme vom 10.7.1969; ebd., Bl. 16–20. 2121  Vgl. Vertrag vom 21.9.1954; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 1304/62, Bd. 2, Teil 1 v. 2, Bl. 17 f. 2122  Siehe auch Junghänel, Frank: Das Flugzeug, das es niemals gab, in: Berliner Zeitung vom 3.12.2008, S. 3.

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dann in Sawjelowo. Am 1. Januar 1958 nahm er die Arbeit im VEB Flugzeugwerke Dresden auf. Nicht unerwähnt darf hinsichtlich der hier dargestellten Konfliktlage bleiben, dass er fachlich in der Kritik stand. Der Verfasser kann sich anders als in den Fällen Hartmann, Lauter und Baade kein eigenes, valides Bild hierüber machen, behauptet also nicht, dass die Kritik nicht oder tatsächlich zutreffend ist; etwa zur Einschätzung: »In der Vergangenheit zeigten sich in der Konstruktion der ›152‹ eine Reihe entscheidender Fehler, die ihre Ursachen offenbar in der nicht gründlichen Durcharbeitung und Berücksichtigung aller für die Konstruktion von Flugzeugen notwendigen Voraussetzungen hatten.« Am 9. Mai 1955 wurde Freytag vom Staatssicherheitsdienst angeworben, schaffte es aber, dass die Gespräche mit dem MfS-Offizier in seiner Wohnung stattfanden, woran er seine Frau als Zeugin teilnehmen ließ.2123 Baade und Freytag waren vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges Assistenten unter Heinrich Hertel. Freytag arbeitete am »Höhenbomber« Ju 86 P.2124 Der Aufbau der Flugzeugindustrie in der DDR begann 1954.2125 Ende Juli 1956 verkündete das Neue Deutschland den Aufbruch in eine neue wirtschaftliche Dimension mit der Errichtung der Flugzeugwerft.2126 Bis 1960 verschlang das zunächst verheißungsvolle Unternehmen 1,6 Milliarden Mark.2127 In Dresden-Klotzsche wurde ab 1955 in Lizenzbau die Iljuschin P-14 gebaut; parallel dazu wurde die Entwicklung eines eigenen vierstrahligen Mittelstreckenflugzeuges betrieben; Uwe Müller: »Die Staatliche Plankommission erhoffte hier ein ideales Feld für die Planung des technischen Fortschritts und ließ sich, wie sie später selbst einräumte, von den Flugzeugtechnikern lange über die Erfolgsaussichten des Projektes täuschen.«2128 Arthur Pieck, der Sohn des DDR-Präsidenten und Hauptdirektor bei der DDR-Lufthansa, soll 1958 an Verteidigungsminister Heinz Keßler geschrieben haben, dass die IL 18 »von wesentlich schlechterer Qualität und störanfälliger als die aus der Sowjetunion bezogenen« gewesen sei. Müller beruft sich auf Karl-Dieter 2123  Abt. VI vom 4.11.1959: Auskunftsbericht; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 1304/62, Bd. 1, Teil 1 v. 2, Bl. 28–32. 2124  Vgl. Bericht vom 9.11.1959; ebd., Bl. 33 f., hier 33. 2125  Die Beschäftigung mit dem Flugzeugbau begann bereits vor 1952. In der Flugwelt Nr. 206 vom 11.11.1958, VII.  Jahrgang, ist ein Artikel abgedruckt, der detailliert die Entwicklung der Fakultät für Luftfahrt der TH Dresden wiedergibt. Quelle: ebd., Bd. 2, Teil 2 v. 2, Bl. 203–267, hier 204 f. 2126  Vgl. Ein neuer Industriezweig in der DDR (Flugzeugwerft), in: Neues Deutschland vom 28./29.7.1956, Beilage, S. 3; Hartlepp, Heinz: Moderne Flugzeugantriebe, in Neues Deutschland vom 27./28.10.1956, Beilage, S. 3. 2127  Vgl. Dienel, Hans-Liudger: »Das wahre Wirtschaftswunder« – Flugzeugproduktion, Fluggesellschaften und innerdeutscher Flugverkehr im West-Ost-Vergleich 1955–1980, in: Bähr, Johannes / Petzina, Dietmar (Hrsg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945–1990. Berlin  1996, S. 341–371, hier 348 f. 2128  Müller, Uwe: Mobilität in der Planwirtschaft, in: Schultz, Helga / Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 176–198, hier 188.

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Seifert,2129 wonach die »152« (oder auch »Baade 152«) als das erste deutsche Nachkriegsflugzeug nicht über die Versuchsphase hinausgekommen sei. Der berühmt gewordene Absturz des Prototyps geschah im März 1959. Müller kommt in seiner Studie zu dem Schluss, dass es kein Verbot oder eine Anordnung seitens der Sowjetunion hierzu gegeben habe, sondern allenfalls eigene Absatzinteressen, denen sie folgen wollte. Dies sei auch vor dem Hintergrund der Umstellung von Kapazitäten hinsichtlich der »Abschreckung von Fernbombern auf Raketen« erfolgt.2130 Die Motive der Auflösung der Flugzeugindustrie sind bis heute nicht vollständig geklärt. Dies räumen neben Müller auch Gerhard Barkleit und Heinz Hartlepp sowie Burghard Ciesla ein.2131 Interessant ist jedoch, dass der Befehl  121/61 des Staatssicherheitsdienstes in seiner Präambel ein positives Votum für den Flugzeugbau allgemein abgegeben hatte: »In wenigen Jahren wurden 80 Flugzeuge des Typs IL 14 gebaut«. Dabei sollen diese Flugzeuge »sich auf zahlreichen Flugrouten glänzend bewährt« haben. »Darüber hinaus hatte der Aufbau der Flugzeugindustrie für die Entwicklung des Maschinenbaus und anderer Industriezweige eine große Bedeutung.« Die angeführten Gründe für die Einstellung erscheinen, da sie allgemein gehalten sind, wenig überzeugend, etwa: die »jetzige Entwicklung der Raketentechnik« sowie die »technischen Veränderungen des Flugzeugbaues auf dem Gebiete des Gerätesektors, der Ausrüstung und der Antriebe«, die die »Möglichkeiten« der DDR »weit überschreiten« würden.2132 Da es sich um einen formvollendeten Befehl handelte, der Erich Mielke vorgelegt und auch von ihm unterschrieben worden war, ist folgende handschriftliche Korrektur, was sehr selten in dieser Provenienz vorkam, bemerkenswert (die Korrektur stammt offensichtlich von Mielke selbst). Aus dem Drucksatz: »Das Politbüro unserer Partei beschloss aus diesem Grunde [die oben genannten Veränderungen – d. Verf.] in einer Beratung Maßnahmen zur Auflösung der Flugzeugindustrie«. Es folgte der handschriftlich korrigierte Satz: »Es wurden daher aus diesem Grunde [die oben genannten Veränderungen – d. Verf.] in einer Beratung Maßnahmen zur Auflösung der Flugzeugindustrie« getroffen. Die SED ist als Subjekt der Handlung von Mielke getilgt worden. In diesem Fall scheint Mielke also Wert darauf gelegt zu haben, dass die Anweisung zur Beendigung des Flugzeugbaus aus der Sowjetunion kam. Darüber hinaus zeigt das gesamte tradierte Quellenmaterial, dass das 2129  Seifert, Karl-Dieter: Weg und Absturz der Interflug. Der Luftverkehr der DDR. Berlin 1994, S. 60. 2130  Müller: Mobilität in der Planwirtschaft, S. 189 f. 2131  Vgl. Barkleit, Gerhard / Hartlepp, Heinz: Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952–1961. Dresden 1995, S. 5 u. 16–24. Im Februar 1961 erhielt Außenminister Heinrich Rau in Moskau die Mitteilung, dass das Präsidium des Obersten Sowjets der Auf‌f assung sei, »dass in der DDR die Flugzeugindustrie umgestellt werden« müsse. In der SPK sollen allerdings organisatorische Vorbereitungen schon im Januar eingeleitet worden sein. Ciesla sieht in der Moskauer Note »eine Art Absegnung einer weitgehend in der DDR gereiften Entscheidung«, in: Ciesla, Burghard: Die Transferfalle. Zum DDR-Flugzeugbau in den fünfziger Jahren, in: Hoffmann, Dieter / Macrakis, Kristie (Hrsg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 193–211, hier 208. 2132  MfS, Befehl Nr. 121/61 vom 15.3.1961; BStU, MfS, DSt., Nr. 100307, S. 1–4, hier 1.

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MfS von sich heraus keine Ambitionen hegte, das »Abenteuer« Flugzeugbau zu beenden. Auch volkswirtschaftlich gesehen war die Entscheidung nicht eindeutig positiv, schaut man nur allein auf die Frage der Lage der Spezialisten und der vielen freizusetzenden Angestellten und Arbeiter.2133 Und alles war irgendwie wie überall: Der Werkdirektor des VEB MAB Dresden hatte am 25. Juni 1956 einem Mitarbeiter der Kaderabteilung streng vertraulich mitgeteilt, dass Freytag den Auftrag besitze, bis zum 19. Juni 1956 »eine Übersicht auszuarbeiten, die alle Schwierigkeiten und Forderungen um Hilfe bei dem Flugzeug ›152‹ beinhaltet, ausarbeiten zu lassen.« Ferner habe er bis zu diesem Termin eine Vorverlegung des Termins der »153« um acht Monate zu prüfen. Diesbezüglich war u. a. besonders darauf zu achten, dass der Windkanal nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen werde. Beide Aufgaben seien von Freytag nicht erfüllt worden. Der Bericht enthält eine ganze Reihe weiterer Kritikpunkte.2134 Die Aufzeichnungen zeigen, dass es massive Probleme betrieblicher Art gegeben haben muss (Organisation und Management, Verwaltung und Versorgung). Manch eine Aktennotiz zeugt auch von erheblichen Rivalitäten (sehr ähnlich wie im Fall der Entwicklung der Kerntechnik) zwischen vielen Verantwortlichen, also nicht nur zwischen Baade und Freytag.2135 Während einer Leitungssitzung am 10. Juni 1958 kam die Sprache auch auf das Fluchtgeschehen. Freytag soll gesagt haben: »Durch die Expansionsbestrebungen des Forschungszentrums [der Luftfahrtindustrie] und die dadurch entstehenden Unruhen und Unklarheiten bei einzelnen, vor allem leitenden technischen Mitarbeitern« ist es nicht zu vermeiden, dass es weitere Fluchten geben wird. Diese Äußerung wurde interpretiert als »die Fortsetzung« von Freytags »Kampf gegen die Expansionsgelüste Professor Baades«.2136 Doch in diesen Jahren stand vor allem das Problem der Beschaffung an, es fehlte an allem. Baade hatte bislang den Erwerb von Triebwerken, Halbfabrikaten und Geräten in England favorisiert und umzusetzen versucht, doch scheiterten diese Vorstöße nicht nur an der DDR, die die Schwierigkeiten der eigenen Flugzeugindustrie über Verhandlungen mit der Sowjetunion lösen wollte, sondern auch an Lizenz- und anderen Fragen. Baade war zu Verhandlungen mehrfach in England.2137 Alles spitzte sich auf 1959 zu. Baade informierte am 16. Februar 1959 auf einer Direktionssitzung der VVB Flugzeugbau und in nachfolgenden Beratungen über eine Unterredung mit Walter Ulbricht am 14. Februar. Der hatte ihm von einem Gespräch mit Nikita Chruscht­ schow berichtet. Thema war die Absatzfrage für das Flugzeug »152«. Demnach habe die Sowjetunion den Kauf des Flugzeuges abgelehnt, da es »unwirtschaftlich sei und eine Reihe von technischen Mängeln aufweise«. Chruschtschow habe den Rat gegeben, den Bau der »152« einzustellen. Es werde demnächst »eine sowje­ 2133  Siehe analog bei: Buthmann: Reinstsiliziumwerk Dresden-Gittersee. 2134  VEB MAB Dresden an die Kaderabt. vom 25.6.1956: Zusammenarbeit mit Freytag; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 1304/62, Bd. 1, Teil 1 v. 2, Bl. 3 f., hier 3. 2135  Aktennotiz vom 28.5.1958; ebd., Bl. 10. 2136  Aktennotiz vom 11.6.1958; ebd., Bl. 12. 2137  Zum Beispiel: Bericht vom 10.2.1959; ebd., Bd. 2, Teil 1 v. 2, Bl. 76–78.

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tische Expertenkommission zur Überprüfung der ›152‹ eingesetzt«. Baade sei »sehr aufgebracht« gewesen ob dieser Information und soll gesagt haben, dass mit der Sowjetunion alles abgesprochen war und dass sie es gewesen sei, die verschiedene Teile nicht habe (rechtzeitig) liefern können, sodass sich die Konstruktion und der Bau des Flugzeuges verzögert hätten. Er ordnete an, sämtliche Unterlagen über die Kooperation mit der Sowjetunion und Wirtschaftlichkeitsberechnungen zusammenzustellen.2138 Es ist also festzustellen, dass die Sowjetunion spätestens zu diesem Zeitpunkt Kenntnisse über den wahren Stand um die »152« besessen hatte. Erst kurz darauf, am 4. März, erfolgte der Absturz der »152«. In der Akte »Ikarus« liegen zahlreiche Dokumente über den Absturz der Maschine ein.2139 Die Rekonstruktion des Absturzes kann anhand dieser Ablage realisiert werden, ist jedoch für diese Untersuchung nicht relevant. Hier nur so viel: Ein Bericht einer Kontaktperson (KP) des MfS zufolge habe »die Unfallursache mit dem 100 Meter Platzüberflug im Zusammenhang« gestanden. Hans Cichy besitze ein Schreiben, wonach »Baade die Anweisung des Überfluges in 100 Meter Höhe über den Platz gegeben haben soll«. In der Hauptkommission sei dies bislang nicht Gegenstand der Diskussion gewesen. Hierüber wüssten lediglich fünf Personen und die »sowjetischen Freunde« Bescheid. Die KP vertrat die Meinung, dass diese Genehmigung ursächlich für den Absturz sei.2140 Am 25. Mai berichtete Baade von der 5. Tagung des ZK und über eine Sektionssitzung in Moskau. Demnach sei »die Frage des Absatzes unserer Flugzeuge nach der SU vollkommen unklar, da die SU keine ›152‹ zu kaufen beabsichtigt und den Bedarf an Flugzeugen selbst in der Lage ist herzustellen.« Die DDR müsse sich deshalb sofort um den Absatz ihrer Flugzeuge selbst kümmern. Baade meinte, dass Argentinien, Brasilien, Chile und Kolumbien als Abnehmer infrage kämen. Es sei in den Moskauer Beratungen eindeutig klar geworden, »dass die SU die Fokker Friendship nachbaut«. Er selbst habe das ja auch für die eigene Industrie empfohlen, nur leider »sei« da »kein Weg hineingegangen«. Nun baue die Sowjetunion das Flugzeug »mit allen technischen Daten, die fast vollkommen übereinstimmen«, nach. Er habe dies konkret anhand der technischen Daten den Versammelten mitgeteilt.2141 Baade soll sich regelrecht in Rage geredet haben: »Er brachte unmissverständlich zum Ausdruck, dass sich die SU eben an keine patentrechtlichen Dinge hält und zu halten braucht.« Es könne nicht sein, so Baade in Moskau mit scharfen Worten, dass die Sowjetunion nur immer Forderungen stelle, sie solle selbst endlich »die Hosen 2138  Abt. VI vom 21.2.1959: Bericht über die Informationen Ulbrichts an Baade; ebd., Bl. 128 f., hier 128. 2139  Vgl. TV, Nr. 1, zum ZOV »Ikarus«; ebd., Bd. 1: u. a. sind hierin Baade und Freytag operativ bearbeitet worden. Enthalten ist eine Fülle von Materialien über Flugerprobungen, Pannen und Unfälle, Defizite, in- und ausländischen Beratungen, Verhandlungen und Absprachen, technischen und anderen Abnahmen sowie Prüfungen, Zwistigkeiten und Unstimmigkeiten etc. 2140  Abt. VI vom 10.3.1959: Bericht zum Treffen am 10.3.1959; ebd., Bd. 2, Teil 2 v. 2, Bl. 273. 2141  VVB Flugzeugbau, Kader und Sicherheit, vom 26.5.1959: ebd., Teil 1 v. 2, Bl. 131–133, hier 131.

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mal runter lassen«. Er habe gesagt, dass die »153« trotzdem weitergebaut werde und dass sie ein Erfolg auf dem Weltmarkt werden könne. Man werde auch mit Polen reden. Immerhin denke er, dass die Sowjetunion für die »153« das Triebwerk PTL AJ 20D liefere, sodass die Entwicklung des PTL 018 sofort einzustellen sei. Das Flugzeug »152« werde bis 1965 in einer Stückzahl von 100 gebaut werden. Allerdings seien bislang nur neun Flugzeuge »absatzgedeckt«: drei an die Deutsche Lufthansa (DLH), drei an die NVA und ebenfalls drei nach Ungarn, hier aber liefen noch die Verhandlungen. Abschließend soll er unmissverständlich geäußert haben, dass die Behandlung der DDR-Delegation in Moskau unüblich schlecht gewesen sei. Am 25. Mai fuhr Baade nach Berlin zu Heinrich Rau, Stellvertreter des Ministerpräsidenten, um die Situation zu diskutieren.2142 Das MfS bekam einen Schrecken, als es erfuhr, dass Baade solche Dinge in einer Besprechung gesagt habe, und evaluierte sofort die Situation, um der Gefahr, dass diese Informationen nach außen drängen, begegnen zu können.2143 In Fällen, wo diese Informationsblockade misslang, setzte es das Mittel der Desinformation ein. Dieses wiederum bildete regelmäßig einen guten Nährboden für Verschwörungstheorien. Der GI »Armin« hatte am 8. Juni 1959 die Gelegenheit, mit Baade über dessen Gespräche mit Tupolew zu sprechen. Kern der Aussage Baades zur Absatzpro­ blematik war demnach, dass »die Sowjetunion nach Fertigstellung der Maschine [die »152«] entscheiden« werde, »wie viele sie künftig kaufen« werde »und was evtl. ver­ändert werden« müsse. Beide, der GI und Baade, diskutierten ferner die Frage, welcher Typ gebaut werden sollte, die »152« oder die »153«, und machten eine Rechnung der Wirtschaftlichkeit auf. Da die kalkulierten Daten sich kaum unterschieden, war man sich einig, sich nur auf einen Typ zu konzentrieren. Der GI habe Baade vorgeschlagen, die Entwicklung der »153« einzustellen.2144 Im frühen Herbst 1959 vertrat der technische Direktor Freytag die Meinung, »dass die leitenden technischen Mitarbeiter des Werkes 802 großes Vertrauen zu dem derzeitigen Stand und der weiteren Entwicklung« des Triebwerkes Pirna 014 hätten. Der Konstruktionschef jedoch, Besinger, soll dem deutlich widersprochen haben. Besinger favorisierte die »153« und das Triebwerk 018.2145 Der ZOV »Ikarus«, zu Baade und anderen Personen angelegt, wurde am 9. September 1959 vom Leiter der Abteilung VI, Eduard Switala, eröffnet. Grund war u. a. der Vorhalt, dass durch »ständige Veränderungen« Baades »die Entwicklung und Produktion der Zelle ›152‹ verzögert« worden sei.2146 Der Operativplan zum OV »Ikarus« als Teil des gleichnamigen ZOV vom 13. Oktober zur »Feststellung der Unzulänglichkeiten und Mängel bei der Konstruktion und Produktion des Flugzeuges ›152‹, im Gerätesektor sowie bei der Projektierung der ›155‹« umfasste 2142  Ebd., Bl. 132 f. 2143  Vgl. Abt. VI/1 vom 27.5.1959: Zu Ausführungen Baades; ebd., Bl. 130. 2144  Abt. VI vom 11.6.1959: Bericht zum Treffen mit »Armin« am 9.6.1959; ebd., Bd. 1, Teil 1 v. 2, Bl. 68 f. 2145  Informationsbericht vom 9.9.1959; ebd., Bl. 13. 2146  Abt. VI vom 9.9.1959: Anlegen eines OV; ebd., Bl. 33–35, hier 33.

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alle Standardaufgaben des MfS wie etwa die Aktivierung und Platzierung vorhandener inoffizieller Mitarbeiter in das Umfeld von Freytag und Baade; ein Beispiel: Zu »Baade und Chefkonstrukteur Freytag sind gemeinsam mit dem Stellvertreter für Kader und Sicherheit Vorbereitungen zu treffen, um zu erreichen, dass bei den Genannten zuverlässige GI oder solche Personen als persönliche Referenten eingesetzt werden, die sich für eine Zusammenarbeit mit dem MfS eignen.«2147 Diese »Anschleusung« ging über diese beiden Personen hinaus, sie bezog selbst Kinder und Bekannte, die familiären Kreise sowie Verbindungen zu Dritten ein.2148 Die Vorwürfe, die das MfS erarbeitete, überzeugen keineswegs. Etwa, wenn Baade angeblich aufgrund seiner »antisowjetischen Einstellung« gegenüber den Sowjets Kenntnisse verheimlicht habe und heuchlerisch aufgetreten sei.2149 Das waren, wie wir oben sahen, Standardbehauptungen des MfS gegen meist bürgerliche Wissenschaftler. Natürlich existierten eine ganze Reihe von Mängeln und Versäumnissen, die Baade in einem Schreiben an Cichy auch zusammengestellt hatte. Dieses Schreiben wollte Cichy als Grundlage eines eigenen Schreibens an Freytag nutzen.2150 Die Fakten und Deutungen sollen hier nicht diskutiert werden, da nicht belegt ist, ob das Schreiben auch schlussendlich gefertigt worden ist; auch fehlt eine Gegendarstellung zum Abgleich. Ein späterer Zwischenbericht zum OV »Ikarus« vom 28. Dezember 1960 wies keine substanziell neuen Erkenntnisse hinsichtlich des Bearbeitungszieles auf.2151 Der Vorgang wurde bereits am 15. Juni 1962 eingestellt. Der Grund: Freytag war geflohen und Baade konnte nichts bewiesen werden; gegen die dritte Person wurde ein gesonderter Vorgang angelegt.2152 Baade, so der GI »Schmidt«, Hauptdirektor im Werk, am 28. September 1959, spreche »über die Freunde« im Jargon der DDR-Bürger »immer sehr abfällig«, nicht nur ihm gegenüber, sondern »vor allen Dingen auch zum Teil vor Parteilosen«. Baade moniere, dass die Flugzeugindustrie einfach die Geräte nicht bekomme, aber auch »keine klare Konzeption« besitze, »welche Geräte wir überhaupt aus der Sowjetunion brauchen und einbauen wollen«. Zum Stand um das Flugzeug »152«: Der GI »Schmidt« will Baade zu einer Aussage gedrängt haben, was nun aus der »152« werde, und zwar: »Wir müssen es doch wissen. Kein Mensch kann verantworten, dass wir Maschinen weiterbauen, ohne zu wissen, wie das Flugzeug aussehen wird!« Baade soll daraufhin gesagt haben, dass er selber »sehr große Sorgen habe«. Der GI »Schmidt« will erwidert haben: »Brunolf, wenn diese technischen Daten nicht verändert werden, dann können wir die ›152‹ nicht bauen und müssen offen und ehrlich der Regierung unsere Meinung sagen.« Baade habe dann geantwortet: »›Ja, 2147  Abt. VI/1 vom 13.10.1959: Operativplan zum OV »Ikarus«; ebd., Bl. 47–52, hier 48. 2148  Abt. VI/1 vom 7.4.1960: Zwischenbericht zum OV »Ikarus«; ebd., Bl. 108–115, hier 112. 2149  Ebd., Bl. 114. 2150 Vgl. Schreiben von Baade an Cichy samt Entwurf vom 10.10.1960; ebd., Bl. 144 u. 145–150. 2151  Vgl. Abt. VI/1 vom 28.12.1960: Zwischenbericht zum OV »Ikarus«; ebd., Bl. 163–170. 2152  Vgl. BV Dresden, Abt.  III/4, vom 15.6.1962: Beschluss für das Einstellen eines ZOV; ebd., Bl. 187 f.

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die ›152‹ ist dann nicht verkaufbar.‹« Baade, so der GI »Schmidt«, habe – seitdem der Hauptdirektor der VVB, Cichy, die Sache per Zufall aufgedeckt habe – das Heft des Handelns nicht mehr in der Hand.2153 Freytag und Besinger sprachen sich in einem Schreiben vom 3. Oktober an die Gerätekommission der VVB Flugzeugbau in der Frage der Beschaffung eines Flugsimulators für die »152« für die Umschulung der Piloten sowohl aus ökonomischen als auch aus Sicherheitsgründen aus.2154 Ein Schlüsselbericht über die Situation im Flugzeugbau datiert vom 10. Oktober, er stammt vom GI »Schmidt« an Offizier Ribbecke, Abteilung VI. Der Bericht ist aus der Warte des Hauptdirektors der VVB Flugzeugbau, Cichy, geschrieben und beleuchtete die im Industriezweig konstatierte »mangelhafte Leitungstätigkeit«, die der Berichterstatter in einer »Reihe sehr ernster ideologischer, politischer und ökonomischer Schwächen« verankert sah. Es gebe eklatante Mängel »bei der Überführung von Forschungs- und Entwicklungsaufgaben in die Produktion und technische Entscheidung selbst«. Cichy soll die Ursache hierfür darin gesehen haben, »dass die aus der UdSSR zurückgekehrten Kader ihre Fähigkeiten einerseits selbst überschätzen und darüber hinaus auch Unentschlossenheit in technischen Entscheidungen an den Tag« gelegt hätten.2155 Diese Begründung kann nicht als unbedeutend abgetan werden. Freilich spielt auch eine Verantwortungsabschiebung seitens der VVB vor allem wegen der Mangelwirtschaft eine Rolle. Doch die SU-Spezialisten besaßen tatsächlich einen dominanten Status, der auch negative Wirkung entfaltete. Zum anderen trifft es sicher zu, dass ihnen in der Sowjetunion die Administration weitestgehend abgenommen worden ist. Der Verfasser hat aber vor allem eine dritte mögliche Ursache bemerkt, die nicht nur für Baade und Freytag, sondern ebenso für Barwich und Hartmann und andere galt: sie lebten gewissermaßen in zwei Welten, zugespitzt in der oft gegenwärtigen Frage: gehe ich in den Westen oder bleibe ich. Eine permanente Lokomotion im sozialpsychologischen Feld aller sonstigen Grundgegebenheiten. Als Beispiel der »Unentschlossenheit in technischen Entscheidungen« führte der GI »Schmidt« die Entwicklung des Flugzeugs »152« an. Tatsächlich gab es in Bezug auf die Veränderung der Konfiguration des Rumpfes – aus dem Grund der Ver­ änderung der Zuladung / Passagieranzahl in Funktion der Reichweite und den daraus entstehenden technischen Problemen und ökonomischen Daten – eine mindestens zwei Jahre lang währende interne Diskussion, die nicht in die Entscheidungsebene überführt worden ist. Sprach Freytag von notwendigen Veränderungen bezüglich des Flügelgewichtes, der Schwerpunktverlagerung des Flugzeuges etc., beurteilte Baade oft genug anders oder in Variation dazu. Jedenfalls fiel keine rechtzeitige und 2153  Abt. VI/1 vom 6.10.1959: Bericht zum Treffen mit »Schmidt« am 28.9.1959; ebd., Bd. 2, Teil 1 v. 2, Bl. 134–145, hier 136 u. 139 f. 2154  Vgl. Freytag und Besinger an die Gerätekommission des VVB Flugzeugbau vom 3.10.1959; ebd., Bd. 1, Teil 1 v. 2, Bl. 66. 2155  HA VI vom 10.10.1959: Bericht zum Treffen mit »Schmidt« am 29.9.1959; ebd., Bl. 70–85, hier 70.

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eindeutige Entscheidung. Hierzu existieren in den Akten des BStU hinreichend viele Einzeldarstellungen aus der Feder oder aus dem Mund der beteiligten führenden Kräfte. An der Validität der Summe dieser Berichte kann nicht gezweifelt werden, da sie aus verschiedenen Warten und logisch stringent argumentiert entfaltet sind. Cichy soll wegen der unbefriedigenden Situation eine Überprüfung vor Ort vorgenommen und zum zweiten Gesprächstermin mit den Verantwortlichen am 20. Juni 1959 festgestellt haben: »Die einen sagten, Rumpfverlängerung ist notwendig, die anderen sagten, Rumpfverlängerung ist nicht notwendig.« Baade enthielt sich der Stimme, Freytag plädierte für eine Rumpfverlängerung.2156 Die Frage von Cichy an Freytag, ob das Flugzeug »152« ohne Rumpfverlängerung verkaufbar sei, beantwortete er – nicht ohne zu überlegen – negativ. Cichys Frage, warum er dies nicht aber schon vor sechs Tagen gesagt habe als man sich schon anders entschied, also keine Rumpfveränderung durchzuführen gedachte, soll Freytag geantwortet haben: »Das wissen wir erst seit sechs Tagen selbst, weil wir inzwischen im Werk 801 konkrete Untersuchungen durchgeführt haben«. Die Rumpfverlängerung müsse »unbedingt« geschehen, damit »eine entscheidende Verbesserung der Schwerpunktlage« realisiert werden könne. Dass Freytag dies erst seit sechs Tagen wissen wollte, nahm zumindest der verantwortliche Konstrukteur nicht hin, der behauptete, Freytag wisse dies bereits seit zwei Jahren. Die Debatte soll hitzig verlaufen und dann ins Persönliche abgedriftet sein. Schließlich sprach Freytag in der Frage der Kriterien Sicherheit und Wirtschaftlichkeit von der Notwendigkeit, den Rumpf um einen Meter, Baade hingegen, ihn um zwei Meter zu verlängern. Baade schloss sich letztlich Freytags Forderung an und entschied auf einen Meter Rumpfverlängerung. Cichy nahm anschließend Baade zur Seite und fragte ihn, warum er bei der ersten Besprechung Mitte Juni anders votiert habe. Baade soll geantwortet haben, dass er es »nicht gewusst« habe. Cichy hob gegenüber dem GI »Schmidt« hervor, dass diese Entscheidung nun nicht von den verantwortlichen Wissenschaftlern, also Baade und Freytag, herbeigeführt worden sei, sondern durch die Leitung der VVB, »auf deren Initiative auch die beiden Beratungen stattgefunden« hätten. »Sonst wäre wahrscheinlich diese Frage bis heute noch nicht geklärt gewesen. Die Maschine wäre  – und das steht heute einwandfrei fest  – ohne die erforderliche Rumpfverlängerung aufgrund der sehr ungünstigen Wirtschaftlichkeit und der Zugrundelegung mangelnder Sicherheit nicht verkaufbar gewesen.«2157 War es Angst vor der Entscheidung? Ein weiteres, größeres Problem existierte im vorauseilenden Gehorsam, hier in Gestalt der voreiligen Weitergabe von noch nicht realisierten Daten. Es war für die DDR typisch, da Erfolgsmeldungen permanent erwartet wurden. In diesem Fall wurden die Lorbeeren bereits vor der Ernte verteilt. Was war geschehen? Technocommerz sind bereits jene Katalogdaten des zu verkaufenden Flugzeuges mitgeteilt worden, die am Anfang der Diskussionen gewünscht und hochgerechnet worden 2156  Ebd., Bl. 72. 2157  Ebd., Bl. 72–74.

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waren. So gerieten sie nun in Umlauf, also auch in Richtung Sowjetunion. Aber die angegebenen Daten stimmten nun nicht mehr hinsichtlich der technischen und wirtschaftlichen Kennziffern mit den tatsächlich erreichten überein, ja sie unterschieden sich geradezu fundamental. Etwa in der Frage der Reichweite des Flugzeuges um 500 km zuungunsten der Katalogangaben. Schließlich war das Flugzeug als Mittelstreckenflugzeug konzipiert und angeboten worden und nicht als »Kurzstart-Flugzeug«. Cichy hatte von diesem Umstand zufällig erfahren und sofort Baade um Klärung gebeten. Der lieferte binnen zweier Tage die Bestätigung und teilte »die Bedenken« Cichys. Er hatte festgestellt, »dass derartige Abweichungen zwischen den Angebotsunterlagen und den jetzigen errechneten Unterlagen vorhanden sind, die es nicht gestatten würden, das Flugzeug zu verkaufen«. Baade will von der Weiterleitung der ursprünglichen Daten an Technocommerz nichts gewusst haben. Nun aber gebe es nicht nur bei der neuen Version eine Reichweitenreduzierung von 1 600 auf 750 km, sondern auch solche in Bezug auf Kraftstoffverbrauch und Flughöhe. »Das heißt, es gibt überhaupt keine technische Angabe, die nicht entscheidend abweicht von den Angebotsunterlagen. Mit anderen Worten, Technocommerz ist zurzeit überhaupt nicht in der Lage, irgendwie technische Daten über das Flugzeug zu nennen.« Nach einer eingehenden Besprechung aller Beteiligten einschließlich Technocommerz war man ratlos auseinandergegangen, man hatte keine Lösung für das entstandene Problem gefunden. Man müsse aber weiter diskutieren, hieß es.2158 Sollte die Regierungsspitze dies so oder so ähnlich erfahren haben, dann spricht allein dieser Fakt dafür, dass die DDR das Notsignal auf Halt gestellt hatte, und eben nicht (primär) die Sowjetunion. Die DDR konnte gar nicht anders, als das Projekt beenden. Dass sie dies nicht sofort umsetzen konnte, lag auf der Hand: mannigfaltige Verträge, keine Konzepte für die »Abrüstung« und vor allem der zähe und starre Bürokratismus in der Zentralverwaltungswirtschaft. Über allem aber stand die Angst vor der Blamage und empfindlichen Konsequenzen. Der GI »Schmidt« jedenfalls interpretierte das Verhalten der Führungsspitzen damit, dass »sich das aus der UdSSR zurückgekehrte Kollektiv selbst überschätzt« habe, und das sei nun sehr teuer geworden. Das sei »die Ursache für die Unentschlossenheit in technischen Entscheidungen, die zu schweren Schäden, zu schweren Störungen für den gesamten Arbeitsablauf führen und damit auch die Kräfte in den Betrieben demobilisieren können, wenn das nicht rechtzeitig von der Werkleitung abgefangen wird. Ich meine damit das Flugzeug ›155‹ selbst. Es ist ein Projekt ausgearbeitet worden auf Wunsch der sowjetischen Genossen, das ein Flugzeug vorsah mit einem Abfluggewicht von 8,7 Tonnen mit zwei PTL, mit einer Leistung von 1 250  PS. Da aufgrund der Rücksprache mit den sowjetischen Genossen solche Triebwerke nicht auftreibbar sind, hat das Projektbüro unter Leitung des Leitbüros und [mit] Wissen von Professor Baade, im Einverständnis auch mit Koll. Freytag, ein Projekt über 14  Tonnen Abfluggewicht erarbeitet mit zwei TL  014, mit der Begründung, dass wir dadurch viel Geld sparen und dass wir solch ein Kurzstart2158  Ebd., Bl. 75 f.

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projekt auch absetzen könnten.« Dieses Projekt sei auch in der Konsequenz aus der verzögerten technischen Fertigstellung des Flugzeugs »153« entstanden. Doch die Schmierenkomödie ging weiter, nach insgesamt 30 Stunden Diskussion war herausgekommen, dass letztlich aus Terminfragen heraus es »gar nicht möglich« sei, die »155« in der oben genannten Konfiguration zu entwickeln, »da man es nicht verkaufen« könne. So hatte man die Parameter auch in diesem Falle geändert: etwa das Abfluggewicht von 18 auf 21,5 Tonnen Gewicht erhöht, somit sei das Flugzeug »einigermaßen wirtschaftlich«.2159 Am 14. März 1960 beschwerte sich Baade schriftlich und vehement bei Helmut Wunderlich,2160 Stellvertreter des Vorsitzenden für den Bereich Maschinenbau der SPK (Durchschläge gingen an Apel und Cichy). Einleitend verwies er auf den Fakt der Schaffung der Stellung eines Generalkonstrukteurs Mitte 1959 für die »einheitliche Ausrichtung von Forschung und Entwicklung« in der unmittelbaren Folge »der Zusammenlegung des Sektors Luftfahrt in der SPK mit der Leitung der VVB«. Damit sollte die komplexe Leitung realisiert werden. Besonders sollte die Forschung konzentriert und zum Wissenschaftlich-Technischen Zentrum (WTZ) ausgebaut werden. Baade weiter: Obwohl »das Flugzeug, wie z. B. auch das Auto, einen einheitlichen Komplex darstellt, bei dem alle Komponenten aufeinander abgestimmt sein müssen, und in unserer Luftfahrtindustrie Triebwerke und Geräte ausschließlich für unsere eigenen Zellen entwickelt werden, wurden zur Lösung dieser Aufgabe entgegen dem Vorbild der Automobilindustrie selbstständige Werke, Institute und sonstige Institutionen geschaffen und diese von einer zentralen Verwaltungsstelle ›gesteuert‹«. Diese Zersplitterung kritisierte Baade kurz und bündig aus organisations- und informationstechnischer Sicht, bemerkte auch, dass mehrfache Namensänderungen und Strukturänderungen nicht in der Sache hülfen, sondern allein »die Zusammenfassung aller Einzelbetriebe zu einem VEB Flugzeugbau unter einem Direktor, einem Chefkonstrukteur, einem technischen Direktor für die Produktion, einer einheitlichen kaufmännischen Leitung mit zentraler Beschaffung und Absatz [Hervorhebungen Baade].« Der Vorteil der DDR-Luftfahrtindustrie sei ja gerade der, »dass wir die Auslegung der Triebwerke und der Geräte genau auf die Bedürfnisse der Zelle abstimmen können«. Baade dozierte regelrecht, betonte u. a. den Fakt, dass Forschung und Entwicklung nicht trennbar seien. Im Rahmen der Gründung des WTZ wäre das verwirklicht worden, wenn die Parteileitungen und Leitungen der Werke 801 und 804 (Zellen- und Gerätewerk) nicht dagegen heftig opponiert, Propaganda dagegen getrieben und für eine Lostrennung von Werksteilen plädiert

2159  Ebd., Bl. 78 f. 2160  (1919–1994). 1938–1949 Studium an der Ing.-Schule Chemnitz. 1949/50 Sachbearbeiter in der VVB Werkzeugmaschinen. 1951–1953 Direktor des VEB Vobas Nordhausen. 1953–1958 Minister und Staatssekretär für Allgemeinen Maschinenbau. 1958–1960 Abteilungsleiter und stellv. Vorsitzender der SPK. 1961–1963 Stellv. Vorsitzender des Volkswirtschaftsrates. 1963–1971 u. a. Direktor des VEB Elektrokohle. 1971–1975 Generaldirektor des VEB Carl Zeiss Jena. Ab 1976 im ZI für Sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK.

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hätten. Nunmehr liege ein neuer Entwurf für das WTZ vor, der vorsieht, dass auch Forschungseinrichtungen der TH Dresden integriert werden sollen.2161 Aber das war nur ein Beispiel. Die Zersplitterung grassierte. Baade zählte in seinem Schreiben eine Fülle von Beispielen auf und schlussfolgerte: »Ich habe nicht mehr die Kraft, gegen diese ›neue‹ Struktur zu opponieren, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass sich de facto nichts gegenüber früher geändert hat, wenn man von der zusätzlichen Unterstellung auch der Institute unter die Werkdirektoren absieht und dass man jetzt WTZ sagen wird, obwohl es sich um Werksteile handelt.« Baade betonte in dem Schreiben, dass er gewohnt sei, Disziplin zu halten, aber nunmehr nicht anders könne, als seine Situation zu überdenken, »ob ich unter diesen Bedingungen tatsächlich die Verantwortung für die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit in der Luftfahrtindustrie zu tragen in der Lage bin.« Er pointierte abschließend: »Ich bitte Sie auch zu bedenken, was z. B. der Chefkonstrukteur der Eisenacher Motorenwerke sagen würde, wenn der Leiter der Karosserie-Konstruktion dem Betriebsleiter des Karosseriebaues unterstellt wäre. Und wir wollen ihm auch noch die Forschung unterstellen?«2162 Wofür auch immer, Freytag quittierte am 18. August, vom MfS 500  DM erhalten zu haben.2163 Er war mehrfach zu Fachtagungen und Privatreisen in der Bundesrepublik, vom 11. bis 17. September auch in Zürich zu einer Fachtagung. Wenig später, am 6. Oktober, flüchtete er über Westberlin.2164 Am 12. Oktober lud der Hauptdirektor der VVB Flugzeugbau zu einer Aussprache über die Flucht ein. Als Nachfolger wurde zunächst Besinger beauftragt.2165 Am selben Tag führte das MfS in der Zeit von 20.00 bis 23.45 Uhr ein Gespräch mit Baade über die Flucht und die weitere Perspektive der Flugzeugindustrie. Baade stellte hierbei eine »ganze Reihe von Mängeln« fest, »die nach dem zweiten Flug des Flugzeugs ›152 V4‹ festgestellt« worden seien (Kraftstoffsystem, Klimaanlage, Leitwerk, Steuerung, Landeklappe). Die Flugerprobung könne deshalb frühestens im Februar 1961 fortgesetzt werden. Wahrscheinlich aber erst im März. Baade brachte diese Problematik mit der Leistungsfähigkeit Freytags in Verbindung, aus der Zeit bei Junkers sei es zu ähnlichen Problemen gekommen. Seine Aufgabe, einen Lastensegler zu entwickeln, sei daraufhin eingestellt worden. Baade habe ihn, so das MfS, als Alleinschuldigen hingestellt.2166 Auch im Falle der Flucht Barwichs war die Tendenz zu beobachten, ihm im Nachhinein Schuld an der Misere anzulasten. Anzeichen und Hinweise auf eine mögliche Flucht Freytags gab es. Im Herbst 1959 erhielt der Leiter für Kader und Sicherheit im Forschungszentrum den Hinweis, dass aufgefallen sei, dass die Frau Freytags die Unzufriedenheit ihres Mannes 2161 Schreiben von Baade an Wunderlich vom 14.3.1960; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 1304/62, Bd. 2, Teil 1 v. 2, Bl. 148–153, hier 148–150. 2162  Ebd., Bl. 151 u. 153. 2163  Vgl. Quittung vom 18.8.1960; ebd., Bd. 1, Teil 1 v. 2, Bl. 95. 2164  Vgl. Abt. VI vom 14.10.1960: Republikflucht des Freytag; ebd., Bl. 117–119. 2165  Vgl. Abt. VI/1 vom 12.10.1960: Bericht; ebd., Bl. 104–106. 2166  Abt. VI vom 14.10.1960: Bericht; ebd., Bl. 120–127, hier 121 u. 122 f.

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höchstwahrscheinlich noch schüre. Der ihm dies zutrug, »wollte uns diesen Hinweis nur geben, um uns vor ›Überraschungen‹ zu bewahren«.2167 Im August und September 1960 soll Freytag nicht mehr im Dresdener Klub erschienen sein. Hier hatte er für jeden Sonn- und Feiertag einen Tisch für vier Personen reserviert. Am 11. Oktober kam die Information herein: »Jetzt brauchen wir den runden Tisch nicht mehr zu reservieren, Freytags sind für immer nach dem Westen. Den amerikanischen Straßenkreuzer haben sie am Alex stehengelassen. Das hätte ich nie gedacht. Sie hinterlassen eine Villa, die schon leer 270 000 DM kostet!«2168 Zwei Tage später war auch Hartmann da; der Informant: »Der ganze Tisch grinste hämisch und Professor Hartmann sagte: ›Na, nun ist der runde Tisch wohl jeden Sonntag frei?‹ Ich sagte: ›Ja‹. Und Hartmann: ›Na ja, in zwei Jahren besteht der Klub vielleicht gar nicht mehr, weil alle nach dem Westen sind‹.«2169 Baade führte in der Folge seiner schriftlichen Beschwerde mit Wunderlich ein Gespräch. Wunderlich sprach sich dafür aus, die Flugzeugindustrie einzustellen. Er würde damit die Kapazitätslücke des Maschinenbaus ausfüllen können. Baade teilte diese Auf‌fassung nicht, das Flugzeug »152« sei zellenmäßig in Ordnung, die Mängel abstellbar. Das Flugzeug »155« sei auch gut. Man müsse zunächst nur Konstruktionskräfte von der »155« abziehen und der »152« zuordnen. Ferner gelte es, zu echten Strukturreformen im VEB Flugzeugbau zu kommen.2170 Arbeitskräfte fehlten akut und überall. Immer wieder wurde die Überlastung angesprochen, auch im Zusammenhang mit den Kartoffelernteeinsätzen sonntags, man sei keinen Sonntag mehr zu Hause und die Bauern säßen in den Kneipen und söffen.2171 Es existiert ein harter Hinweis zur Perspektive der Flugzeugindustrie zu dieser Zeit. Demnach hatte Baade in einer Besprechung mit dem Hauptdirektor Cichy mitgeteilt, dass er wisse, dass zumindest die Politbüromitglieder Hermann Matern und Willi Stoph Überlegungen anstellten, »ob man den Aufbau der Luftfahrtindustrie beibehält oder die Luftfahrtindustrie nicht eines Tages liquidiert. Diese Diskussionen« seien »deshalb entstanden, so wurde ihm gesagt, weil ja bisher noch keine Maschine fliegt.« Man könne zwar Flugzeuge des Typs IL 14 ganz gut nachbauen, jedoch reiche die Kraft für Neuentwicklungen nicht aus. Baade entgegnete, dass das noch nicht bewiesen sei. Es gebe einen Beschluss des Politbüros, der die Frage der Auslastung der Kapazitäten der Flugzeugindustrie stellt. Ein Votum für eine Liquidierung sei jedoch darin nicht ausgesprochen. Hermann Grosse (SPK) sei von Bruno Leuschner beauftragt worden, zwei Wege zu sondieren, einmal die Weiterführung der Produktion von Flugzeugen unter minimierten Bedingungen und zum anderen die Liquidierung der Flugzeugindustrie. Vertreter der VVB seien 2167  Forschungszentrum, Abt. Kader und Sicherheit, vom 13.10.1959; ebd., Bl. 86. 2168 Abschrift vom 14.10.1960 eines Berichtes von »Woithe«; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 2554/76, Bd. 6, Bl. 49. 2169  Abschrift vom 24.10.1960 eines Berichtes vom 14.10.1960; BStU, MfS, BV  Dresden, AOP 1304/62, Bd. 1, Teil 1 v. 2, Bl. 150. 2170  Vgl. Abt. VI vom 14.10.1960: Bericht; ebd., Bl. 120–127, hier 121 u. 124 f. 2171  Vgl. MfS vom 20.10.1960: Bericht (vermutlich von »Schmidt«); ebd., Bl. 136–150, hier 144.

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für den ersten Weg. Vom Stand der Ökonomie her gesehen gehe dies aber nicht, da der Mittelaufwand von bis zu einer Milliarde Mark in keinem Verhältnis zu den Absatzzahlen stehe. Schwierig sei die Verhinderung der Flucht von Mitarbeitern (Intelligenz) im Falle der Liquidierung. Sie seien ja mit »Leib und Seele« dem Flugzeugbau verbunden. Es müsse also das Politbüro entscheiden, da hier politische Gesichtspunkte eine Rolle spielten. Man solle daher versuchen, den radikalen Schnitt zu verhindern und wenigstens die »152« weiterbauen, wenngleich eingeschränkt.2172 Baade diskutierte mit leitenden Mitarbeitern der VVB über diese Fragen: »Bei den ganzen Diskussionen stand die Frage der Ökonomie und der von der Luftfahrtindustrie benötigten Forschungs- und Entwicklungsmittel im Vordergrund. Leider wurden auch bei den Diskussionen schon vorher, im Bereich Maschinenbau, die Fragen der politischen Auswirkung zu wenig behandelt. Trotz der Anweisung des Genossen Leuschner, dass darüber strengstes Schweigen herrschen soll und in so einem engen Kreise über diese Fragen gesprochen werden soll, muss festgestellt werden, dass bei allen Entscheidungen durch den Bereich Maschinenbau bei fehlenden Produktionskapazitäten, bei fehlenden Investitionen, bei fehlenden Arbeitskräften, obwohl die Frage der Luftfahrtindustrie in der Perspektive nicht entschieden ist, immer wieder auf die Luftfahrtindustrie zurückgegriffen wird und so versucht wird jetzt schon das ganze Fundament des Industriezweiges zu erschüttern, obwohl ein Beschluss noch nicht gefallen ist. Das geht bereits so weit, dass vor Wochen verantwortliche Funktionäre, wie z. B. der Genosse Lang, Hauptdirektor der VVB Auto, gegenüber dem Hauptdirektor der VVB Flugzeugbau gefragt hat, wann er dann das Werk Karl-Marx-Stadt bekommen kann.« Das Verhalten von Funktionären in der SPK sei deshalb »sehr gefährlich«, da diese Politik die konzentrierte Weiterarbeit an der »152« unterlaufe. Allein vom Aspekt des Fluchtgeschehens her sei schon jetzt eine Verschärfung der Arbeitskräfteproblematik feststellbar, da gegenwärtig bereits der Stand des Vorjahres, was die Anzahl der Fluchten anlange, überschritten sei. Immer mehr Mitarbeiter würden die Frage nach der Zukunft der »152« stellen. Die SPK habe hochgerechnet, dass bei einer Liquidierung circa 30 Personen flüchten würden. In der VVB Flugzeugbau gehe man aber von einem Faktor 10 aus, also von etwa 250 bis 300 Personen. Nun sei die SPK am Zuge, ein erneuter Vorschlag werde zum 25. Oktober erwartet.2173 Am 31. Oktober erhielt das MfS einen Bericht, der die Reaktion Baades über Freytags Arbeitsleistung zum Inhalt hatte, »die viel schlechter« ausgefallen sei als »erwartet«. Man könne noch nicht absehen, »wieviel Dinge noch geändert werden müssen und was man alles noch tun muss, um das Flugzeug überhaupt mit gutem Gewissen fliegen lassen« zu können.2174 Der Einstellungsbeschluss des Politbüros der SED erfolgte am 28. Februar 1961. Das MfS vermutete eine verstärkte Abwerbung seitens des Westens und eine Verun2172  Ebd., Bl. 145–147. 2173  Ebd., Bl. 148–150. 2174  MfS vom 31.10.1960: Bericht; ebd., Bl. 168 f.

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sicherung unter den Beschäftigten. Die Branche beschäftigte 28 000 Mitarbeiter.2175 Von der Schließung waren 24 000 direkt betroffen. Unter dem Codewort »Aktion Technik« befahl Erich Mielke die Bildung eines Einsatzstabes unter Oberstleutnant Switala zum 17. März 1961.2176 Nach dem Aus für eine eigene Flugzeugindustrie gab Wilhelm Hofweber alias IM »Laika« (Kap.  5.2, MfS-Spezial  II, FG  1) vom Zentralamt für Forschung und Technik (ZAFT) dem MfS am 12. April einige Informationen zum Abbau. Demnach hatte der Vorsitzende des Zentralen Arbeitskreises (ZAK) Flugzeugbau, Georg Backhaus, am 11. April in Dresden dargelegt, dass er es für geeignet halte, wenn »[Peter Adolf] Thiessen dem ZAK Flugzeugbau zum Abschluss noch die Aufgabe stellen würde, zu den Vorschlägen der Kommission Raeck (Abbruch, Weiterführung oder Veränderung der Forschungs- und Entwicklungsthemen der VVR Flugzeugbau) Stellung zu nehmen und vorzuschlagen, in welchen anderen ZAK die fortzuführenden Themen überführt werden könnten«. Somit wäre im September »eine repräsentative Abschlusssitzung mit Niveau« möglich, »um die Arbeit des ZAK Flugzeugbau damit abzuschließen.«2177 Backhaus sah insbesondere die Zukunft der Aerodynamiker völlig offen, da die Institute der TH Dresden für Luftfahrt völlig eingestellt würden. »Bei dem neuen Zentralinstitut für Leichtbau gebe es zwar eine Abteilung Strömungstechnik, die sich aber nicht mit Flugzeugbau befasse. Der Windkanal im ehemaligen Salzbergwerk könne nicht ausgebaut und verkauft werden; zu seiner Fertigstellung seien noch etwa 200 000 DM erforderlich«. Backhaus schlug die DAW, das Zentralinstitut für Leichtbau oder auch die TH Dresden vor, »eine Restgruppe für Luftfahrttechnik in Stärke von etwa 40 Köpfen (Wissenschaftler) mit einem Jahresetat von etwa 1,5 Millionen DM zu schaffen. Ein Staat wie die DDR könne es sich einfach nicht leisten, die internationale Technik des Flugzeug- und Raketenbaus völlig zu ignorieren; man müsse sie zum mindesten beobachten.« Backhaus wolle aus diesen und anderen Gründen mit Alfred Baumbach und Thiessen sprechen.2178 Hofweber berichtete am 22. April über Ansichten von Herbert Röhl, Hauptabteilungsleiter im Zentralamt für Forschung und Technik. Anzumerken ist, dass sich aus der Berichterstattung nicht in allen Fällen zweifelfrei erkennen lässt, wem welche Aussage konkret zugewiesen werden kann. Es ist aber offenbar Hofweber, der sagte: »Nach der unvermeidlichen, aber trotzdem für die DDR sehr bedauerlichen Einstellung des Flugzeugbaues scheint nunmehr verstärkt die Einstellung des Baues militärisch und politisch wichtiger Verkehrsmittel betrieben zu werden.« Röhl sei »stets dafür eingetreten, den Bau von Eisenbahngüterwagen in der DDR einzustel2175  Vgl. PB-Beschluss vom 28.2.1961; vgl. Barkleit und Hartlepp: Geschichte der Luftfahrtindustrie. 2176  Vgl. Befehl, Nr. 121/61, vom 15.3.1961; BStU, MfS, DSt., Nr. 100307, S. 1–4. 2177  »Laika« vom 12.4.1961: Restaufgaben des ZAK Flugzeugbau; BStU, MfS, AIM 309/67, Teil II, Bd. 3, Bl. 9. 2178  »Laika« vom 12.4.1961: Aerodynamische Forschung; ebd., Bl. 10.

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len, zugunsten von Import aus befreundeten Ländern.« Jedoch könnte keines der infrage kommenden Länder liefern, sodass bis 1965 ein Defizit von 4 500 Güter­ wagen auflaufe. Röhl habe ferner auf einer Betriebsbesprechung des ZAFT am 25. März 1961 »in einem Zwischenruf vorgeschlagen, den Automobilbau in der DDR einzustellen«. Und am 18. April habe er zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit des Schiffbaus aufgefordert.2179 Schaut man auf das personale Verbindungsschema in der Kernstruktur des ZAFT von Ende 1960, dann besaß Röhl mit 14 wichtigen Synapsen – nach dem Leiter Baumbach mit 19 – die meisten Verbindungen, lediglich eine ging nach außen zu Franz Kienast, dem Direktor des Instituts für Fördertechnik und Baumaschinen der TH Dresden, 1965 Ehrenmitglied des Forschungsrates.2180 Röhl besaß also Einfluss. Auch dieses Papier belegt, dass es einen – zeitnahen und insofern authentischen – monokausalen Auflösungsgrund für den Flugzeugbau nicht gegeben hatte, sondern dass aus wirtschaftlicher Not, dazu zählte gewiss die angespannte Lage auf dem »Arbeitskräftemarkt«, mehr oder weniger alles in der DDR auf dem Prüfstand gestanden hatte. Die DDR stand mitten in einer Wirtschaftskrise und kurz vor dem Mauerbau. Für das MfS war es die Zeit des Übergangs zur sogenannten Störfreimachung von westlichen Handelsabhängigkeiten. Doch auch der Handel mit der Sowjetunion stellte ein Problem dar. In jenem Jahr stockte die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion hinsichtlich des Baus von Elektrolokomotiven. Hofweber zeigte laut MfS »die Unzufriedenheit der Fachleute der DDR über« diese »Zusammenarbeit« auf. Sollte, so das MfS, sein »Bericht den Tatsachen« entsprechen, müsse »schnellstens Abhilfe geschaffen werden«. Probleme bei der Ersatzteillieferung aus der Bundesrepublik ließen laut MfS bereits erkennen, »dass sich der Westen auf eine völlige Lahmlegung des innerdeutschen Handels vorbereitet«. Hofweber berichtete ferner über die am 20. Juni erfolgte »Vorstellung des Staatssekretärs für Forschung und Technik, Herrn Professor Frühauf, im ZAFT«. Zugegen waren u. a. Thiessen und Apel. Apel habe insbesondere »zum neuen Arbeitsstil des Staatssekretariats« gesprochen. Hofweber wertete die Rede »als eine Kritik an der bisherigen Amtsarbeit«. Baumbach und Rudolf Model wurden als Stellvertreter vorgestellt.2181 Kritiker und Anhänger genaueren Rechnens wie Baumbach waren gefährdet. Am 23. Oktober 1962 erfuhr Hofweber über Dritte, dass Staatssekretär Herbert Weiz »angewiesen habe, auf etwaige diesbezügliche Fragen zu antworten, Dr. Baumbach werde nicht wieder in den Vordergrund treten«. Die Pensionierung sei aber erst im Mai 1963 möglich, bis dahin werde er dem Staatssekretär als wissenschaftlicher Mitarbeiter »für besondere Fragen« unmittelbar unterstellt werden. Hofweber zeichnete dem MfS einen neuen Lageplan resp. eine Kräfteverteilung im Staatssekretariat für Forschung und Technik (SFT), Nachfolger des ZAFT, auf, der in die drei Be2179  »Laika« vom 22.4.1961: Äußerungen Röhls; ebd., Bl. 15. 2180  Vgl. Anlage zum Bericht von »Laika« vom 20.12.1960: ZAFT; ebd., Bd. 2, Bl. 285. 2181  Abt. VI/4 vom 22.6.1961: Bericht zum Treffen mit »Laika« am 21.6.1961; ebd., Bd. 3, Bl. 32 f., hier 32.

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reiche Wissenschaft, Organisation / Planung und Internationale Zusammenarbeit strukturiert worden war. Er klassifizierte hierbei in den drei Stufen BaumbachAnhänger – Fortschrittlich – Neutral. Hofweber behauptete, dass Baumbach mithilfe seiner Anhänger weiter die Fäden der Macht in Händen halte. Dies sei geeignet, »die fortschrittlichen Kräfte zu entmutigen«. Er fasste zusammen, dass von »den langjährigen fortschrittlich eingestellten Mitarbeitern des ZAFT« 1961 ein Teil »weggeekelt, ein Teil entlassen und die übrigen so kaltgestellt« worden seien, »dass sie beim Neuaufbau nicht mitwirken« konnten. Summa summarum sei der Fortschritt ins Stocken geraten, »die alten Kräfte« hätten längst wieder »ihre Positionen« gefestigt.2182 Das MfS war im Sommer 1961 damit beschäftigt, Freytag im Westen zu kompromittieren. Man ließ ihm in der Bundesrepublik eine Karte zukommen, auf der neben einem regulären Text auch ein mit Geheimtinte geschriebener Text platziert worden war. Dabei sei die Tinte »so abgestimmt« worden, »dass sich bei Beleuchtung mit der Ultraviolett-Lampe leichte Schriftspuren« abhoben, »die jedoch nicht gelesen werden können«. Die Schrift lasse sich nur mit einem chemischen Mittel lesbar machen und beinhaltete u. a. die Bitte um »Vorschläge über die künftige Zusammenarbeit entsprechend den konkreten Bedingungen, die Sie vorgefunden haben«. Als erste Bitte erwartete der Absender einen ersten Bericht über die erste Zeit im neuen Wirkungsbereich Freytags.2183 So setzte man die Mär in die Welt, Freytag sei vom MfS in den Westen geschickt worden. Menschenschicksale interessierten nicht. Die Aufgabe des Dienstes bestand vor allem darin, den Staat »DDR« zu stabilisieren. 4.3.3 Resümee Am 19. Dezember 1962 vollführte die DDR auf Beschluss des Ministerrates eine jähe Kehrtwende in ihrer Kernenergiepolitik; sie war vor allem ein Bruch in der Grundausrichtung, es selbst schaffen zu wollen. Obwohl die DDR nach 1955 nur über sehr begrenzte industrielle und finanzielle Mittel verfügte, sprang sie kräftig auf den Zug der internationalen Atomeuphorie auf. Dabei verkannte sie, und in dieser Frage sind sich alle Historiker dieses Gebietes einig, dass man vor allem nicht auf allen Gebieten gleichzeitig ein solches Husarenstück vollbringen konnte. Einig ist man sich auch in der Frage der Aushandlungsprozesse hin zum Finale des Ministerratsbeschlusses Ende 1962 als eines permanenten Streits in zahlreichen Räten und Kommissionen. Doch es fehlten zumindest einige Linien in diesem Konflikt. In seiner Betrachtung der Zeit von 1955 bis 1962 sieht Johannes Abele final Max Steenbeck, Karl Rambusch, Bertram Winde und vor allem Klaus Fuchs an vorderster

2182  »Laika« vom 23.10.1962: Zur inneren Lage im SFT; ebd., Bl. 136–139. 2183  Einsatzstab »Technik« vom 28.6.1961: Vorschlag; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 1304/62, Bd. 1, Teil 1 v. 2, Bl. 185 f.

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Front der Entscheidungsfinder.2184 Von Heinz Barwich und der sowjetischen wissenschaftlichen Position fehlt fast jede Spur. Das ist bemerkenswert. Wir haben oben gesehen, dass eine Historiografie dieses Stoffes ohne substanziellen Rückgriff auf Barwich unmöglich ist. In seinem Wirken ist erst der Grundkonflikt aufgegangen, der nicht auf der Frage basiert, ob an erster Stelle »Brutreaktoren und / oder thermische Reaktoren« stehen sollten, sondern auf jener der Vernunft: was kann die DDR sich »jetzt« leisten, was ist wissenschaftlich vernünftig, was sollte sie nicht tun. Deshalb opponierte Barwich rechtzeitig gegen eine zweite Ausbaustufe, deshalb favorisierte er die sowjetischen wissenschaftlichen (!) Ratschläge. Deshalb bekam er Unterstützung von Gustav Hertz, deshalb schrieb er die Denkschrift. Barwich oder Rambusch, so lautete die Entscheidungsfrage. Rambusch war nicht der Mann der wissenschaftlichen Vernunft. Er wollte für sich und die SED den Ruhm des Sieges, der sich ideologisch gut vermarkten ließ. In gewisser Hinsicht war er hierin Fritz Selbmann ähnlich. Barwich sprach von »willkürlichen Illusionen« Selbmanns. Beide verloren sie den Kampf, übrigens auch Selbmann; übrig blieben jene Einzelkämpfer, die Abele nennt. Zu einem »Titanenkampf« zwischen Barwich und Fuchs, für Storys gut geeignet, kam es nie wirklich. Fuchs und Winde waren Randfiguren. Ohne Expertenwissen kann unschwierig erkannt werden, dass die Ansichten Wassilij S. Jemeljanows und Barwichs nicht nur logisch klar waren, sondern sich auch sachlich glichen. Sie sind plausibel, leuchten unmittelbar ein. Deren Maxime war zwar begrenzt, dafür aber überschaubar, gerade noch für die DDR industriell leistbar, vor allem aber war sie klug, offen und abbruchsfest, heute würde man sagen: nachhaltig. Die SED-Granden jedoch wollten den totalen Durchbruch. Insbesondere Selbmann und Rambusch. Rambusch, als oberster Dienstherr der Kernenergiepolitik seines Landes, entsprach genau jenem Charakterzug der DDR-Funktionäre, die das Geschehen als »Ein-Mann-Verfahren« konzipierten und zu steuern versuchten. Statt wissenschaftlichen Argumenten zu folgen, er hätte es kraft seiner Ausbildung durchaus tun können, vollzog er politisch orientierte Winkelzüge. Barwichs erste wissenschaftspolitische Maxime hingegen lautete: systematisch Erfahrungen sammeln und langfristig denken, alles gegen einen irreparablen Schnellschuss tun. Hierzu zählten auch die Heranbildung von Fachpersonal und die Errichtung von Anlagen zur Erzeugung von Natururan und von schwerem Wasser. In beiden Bereichen, in der Kerntechnik und im Flugzeugbau, existierte eine manifeste Zersplitterung der Kräfte. Eine Konzentration der knappen Kräfte und Mittel gelang nie, da wo sie (oft nur plakativ) versucht worden ist, scheiterte sie. Eine Allokation – Zuweisung von Mitteln und Gütern – fand allenfalls invers statt: in der Nichteinhaltung von Versprechen und in der Untergrabung des Handelns der Macher wie Barwich. Barwichs Urteil über die Lage in der Kerntechnik entsprach den in dieser Untersuchung empirisch belegten Erscheinungen der republikweiten Zersplitterung. Die Zersplitterung der Mittel und Kräfte kann als erster funda2184  Vgl. Abele, Johannes: Kernkraft in der DDR. Zwischen nationaler Industriepolitik und sozialistischer Zusammenarbeit 1963–1990. Dresden 2000, S. 12–19.

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mentaler Fehler in der strukturell, also nicht marktwirtschaftlich konzipierten Wissenschaftspolitik der DDR gezählt werden. Ein zweiter folgte später mit der Akademiereform, die den ersten Fehler nicht nur nicht beseitigen konnte, was sie vorgab tun zu wollen, sondern in der Endkonsequenz gar noch verbreiterte, indem Fachkompetenzen fehlgeleitet, zweckentfremdet und verheerenderweise auch aufgelöst worden sind. Systemisch verbunden mit dieser substanziellen, naturalen Zersplitterung war jene der personalen. Ein überbordendes Konkurrenzdenken und vielfach manifeste persönliche Abneigungen wurden durch ideologische Präferenzen verstärkt. Dabei erwies sich das MfS – hier und zu dieser Zeit in Person Günther Jahns – noch als vergleichsweise intelligent in manchen Hinweisen und Ratschlägen. Doch weder diese noch betriebswissenschaftliches Grundwissen wurde von der SED-Nomenklatura berücksichtigt; von einer führenden »ruhigen Hand« der Zentralverwaltungswirtschaft war rein nichts zu spüren. Das organisierte Chaos herrschte; zur Lösung der festgefahrenen Situation wurde 1962 der siebten noch eine achte Kommission hinzugesetzt. Mit dem Ministerratsbeschluss vom 19. Dezember 1962 geriet die Kernenergiepolitik keinesfalls in ruhigeres Fahrwasser. Letztlich lief es, was die Frage der Steuerung, der Aushandlungsprozesse und nunmehr verschärfend die der fehlenden Kompetenz betraf, so weiter wie bislang. Ab 1968 wurden die DDR-eigenen Entwicklungsarbeiten auf dem Gebiet der Kerntechnik praktisch eingestellt. Von nun an bezog man »schlüsselfertige« Importe aus der Sowjetunion.2185 Doch blieben viele Schwierigkeiten aufgrund mangelhafter Zulieferungen und schlechten Services bestehen. Wolfgang Müller fragt, woran es gelegen haben mag, in einem »so auf Planung ausgerichteten Staat« a priori nicht in der Lage gewesen zu sein, ein solches Programm durchzuziehen. In allen drei Hauptkapiteln ist deutlich, dass sich diese Art von Planung keinesfalls auf produktive und materiale Weise strukturell und organisatorisch niederschlug. Die Antwort lautet von daher lapidar: Es gab keine Planung, die diesen Namen verdient hätte. Die Geschichte der Luftfahrtindustrie ist ohne die Kenntnisnahme des OV »Ikarus« kaum valide beschreibbar. Die zitierten Passagen stellen wesentliche Puzzlestücke für das Gesamtgeschehen dar und legen nahe, dass der Abbruchsgrund zwar auch in der volkswirtschaftlichen Gesamtlage zu sehen ist, was ja mehr oder weniger für alle Groß- und mittleren Projekte der SED zutraf, primär aber in der dramatischen Problemzuspitzung des Industrieunternehmens selbst zu suchen ist. Der Sowjetunion kann nicht grundsätzlich der Abbruch zugeschoben werden, da allein die DDR ihre Leistungszusagen nicht eingehalten hatte. Teilweise war es unverantwortliches Tun (der falsche Verkaufskatalog). Es mag nachvollziehbare Gründe geben, das eigene missglückte Handeln nach außen in die Umstände zu transformieren; in der Sozialpsychologie heißt dies Verantwortungsabschiebung. Doch genügt das so Gefällige nicht einer Historiografie des Geschehens. Wie im 2185  Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR, S. 9.

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Falle der Kerntechnik hatte die Sowjetunion nach allem, was wir wissen, kein Diktat »Ihr müsst« aufgestellt. Eher warnte sie oder stieg aus Verheißungen aus, als sie gewahr wurde, was ihr »Satellit« so anstellte. Die Gegenargumente, die etwa Gerhard Barkleit und der Insider Heinz Hartlepp hierzu anführen, können nicht vollständig überzeugen. Zwar stellte die Sowjetunion in jener Zeit massiv auf Raketentechnik um, womit erhebliche eigene Kapazitäten im Zellenbau frei wurden, doch warum soll das – und vor allem mitentscheidend – für den Abbruch gewesen sein? Ist man nicht selbst für den Absatz eines passenden Flugzeugs verantwortlich? Hat man nicht eigene Anstrengungen für den Markt zu unternehmen (was ja dann auch kurzzeitig geschah)? Muss nicht der Werbekatalog für das Flugzeug stimmen? Der Flugzeugbauer Hartlepp warnt zu Recht, dass man Antworten auf solche Fragen nicht »nur anhand von Dokumenten« geben sollte, »ohne das jeweilige Umfeld genau zu kennen«; Zitat: »Die Gespräche mit Insidern führen teils zu anderen, subjektiv beeinflussten Antworten.«2186 Aber sind die denn (wenigstens in der Mehrzahl) richtig? Nicht nur methodisch gerechtfertigt ist hinsichtlich des Hauptgrunds des misslungenen »Abenteuers Flugzeugindustrie« die Frage nach der Personalie »Freytag«. Großprojekte  – zumal dieser postmodernen Vorzeit  – fielen oder standen eben mit den »großen« Namen. Die sagenhafte, nie zuvor oder danach dagewesene 100-Prozent-Erfolgsquote in der Raketentechnik hinsichtlich der größten Rakete aller Zeiten, der Saturn V, steht eben mit Wernher von Braun in einem direkten Zusammenhang. Nie ließ er sich ins Geschäft hineinreden, keine dieser Raketen explodierte. Er hatte das Sagen, er hatte die Kontrolle und Verantwortung. Blind fices. Was war also mit Fritz Freytag, unterlag er als Chefkonstrukteur nur den miserablen Bedingungen? War seine Flucht Anlass und / oder letzter / eigentlicher Grund für die Auflösung des Flugzeugbaus? War er fachlich zuverlässig? Eines steht fest: mit seiner Flucht war der gesuchte Sündenbock gefunden. Sollte darüber hinaus nicht auch gefragt werden, ob nicht militärisch relevante Flugzeugteile oder gar mehr entwickelt wurde – etwas, was gegen das Waffenkontrollgesetz verstieß? Bestand die Befürchtung, dass Freytag plaudern könnte? Wir wissen es nicht. Es sind jedenfalls mehr Fragen offen als nur jene, die bislang gestellt und beantwortet worden sind. Und die Antwort auf die Frage nach dem »letzten« Abbruchsgrund dürfte kaum auf »in der Summe« lauten. Oft ist es ein kardinaler Grund, ein einziger, einer, der im Augenblick lag. Doch hebt man den Blick über den Tellerrand »Flugzeugbau« im Jahr 1961 hinweg zu anderen wichtigen Gebieten der DDR-Volkswirtschaft, einschließlich der drei oben untersuchten, erblickt man überall ähnliche Grundmuster, die dem – ideologisch verstärkten – Ressourcendilemma gehorchten.

2186  Barkleit und Hartlepp: Geschichte der Luftfahrtindustrie, S. 31.

5  Spezifische Vertiefung Das Studium der Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes lehrt auch, dass die belastende Information über eine Person nicht automatisch zu einer operativen Bearbeitung mit dem Ziel führte, diese Person in ihrem Wirkungskreis einzuschränken oder gar aus ihrer Position zu entfernen. Dies gilt, und das haben wir im Falle Werner Hartmanns und Ernst August Lauters gesehen, auch umgekehrt: kein Beweis war dem MfS oft genug ein Beweis. Dennoch gehorchte dieses Verfahren nicht einer Willkür, sondern war vielmehr Kalkül eines Zweckes. Ein anschauliches Beispiel zeigt der Fall Robert Rompe, über dem eine schützende Hand zu liegen schien. Am 30. April und 16. Mai 1958 hatte Robert Havemann alias GI »Leitz« seinen Führungsoffizier Richter um Gesprächstermine gebeten. Er berichtete zu dieser Zeit personenbezogen, belastend und vertrauenbrechend. Er hatte aus dem späteren Stararchitekten der DDR Hermann Henselmann, mit dem er verwandt war, geradezu herausgepresst, dass im Falle Rompes Republikfluchtgefahr zumindest bestanden habe. Henselmann hatte ihm dies »im Vertrauen« mitgeteilt. Der war geraume Zeit vor der Verkündung des Urteils im KPD-Prozess (von 1954 bis 1956) »in einem besonderen Auftrag« in die BRD gefahren, »um wegen des Prozesses mit dem ihm bekannten Professor Zweigert in Tübingen zu sprechen.« In diesem Zusammenhang habe er mit einem Professor gesprochen, der ihm erzählt habe, »dass sich Professor Rompe auf einem sehr vertraulichen Wege nach Westdeutschland (vermutlich auch Uni Mainz) gewandt und angefragt habe, ob man ihn aufnimmt und ihm eine Professur gibt, falls er nach Westdeutschland« komme. Die Anfrage von Rompe sei durch amerikanische Behörden geprüft und abgelehnt worden mit der Begründung, dass Rompe »angeblich an der Verhaftung und Verurteilung des sowjetischen Professors Timofejew-Ressowski beteiligt« gewesen »sei, der daraufhin zu Zwangsarbeit verurteilt« worden sei. Henselmann habe dies angeblich bislang niemanden erzählt, »da dies« Rompe »Kopf und Kragen kosten könne«. Havemann will Henselmann bedrängt haben, dies »unbedingt den zuständigen Stellen« mitzuteilen. Das MfS erwog sogleich Varianten, dies über Havemann zu provozieren.1 Der Genetiker und Biophysiker Nikolai W. Timofejew-Ressowski, der von 1925 bis 1945 in Deutschland arbeitete und 1940 Mitglied der Leopoldina wurde, war im September 1945 von den Sowjets verschleppt und für zehn Jahren in ein Arbeitslager verbracht worden. Rompe aber blieb unbehelligt (Kap. 4.1.2, Exkurs 6). Besaß das MfS in seiner Schild-und-Schwert-Funktion eine doppelte Optik, anders gefragt: kniff es bei Leistungsträgern, was bei Parteigenossen nicht selten 1  Abt. VI/2 vom 30.4. u. 16.5.1958: Berichte von »Leitz« am 30.4. u. 14.5.1958; BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 2, Bl. 87–90.

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vorkam, auch einmal ein Auge zu? Die Untersuchung zeigt jedenfalls, dass Leistung allein nicht vor Verfolgung schützte. Das MfS war blind in seinem »Rationalisierungswahn« für die sozialistische Idee der SED. Allein am Standort der Mikroelektronik in Dresden sind viele Millionen Mark regelrecht für die destruktiven Abenteuer des MfS verbrannt worden. Kann mit Daniel Hildebrand  – erweiternd – geschlussfolgert werden, dass mit der fortschreitenden Rationalisierung als Missionsauftrag des sowjetischen Imperiums an anderen Stellen Rationalisierungen erschwert wurden, insbesondere in der Beherrschung des Imperiums selbst?2 Fraß sich der »Körper des Sozialismus« selbst auf? Insbesondere das MfS glaubte zutiefst, dass es den Sozialismus rationalisiere und sicherer mache, wenn es Feinde beseitige. Im Bereich der BV Dresden jedenfalls herrschte der Wahn. Der Verfasser hat bei analogen umfangreichen Recherchen für die Wissenschaftsstandorte Berlin, Jena, Leipzig, Potsdam und Rostock nirgends diese Massivität der volkswirtschaftlichen Schädigung feststellen können. In der Dienstbesprechung des MfS am 14. März 1968 zitierte der amtierende Minister Generalleutnant Bruno Beater Walter Ulbricht mit den Worten: Der »Sicherheitsoffizier ist verantwortlich und bestimmt, wer in die Forschung und Entwicklung kommt.«3 Das war eine Binnenansicht, die absolut nicht mit den Hohen Liedern des Sozialismus / Kommunismus zusammenpasste. Die Binnenansicht aber schuf die Sicherheitsarchitektur, und diese die realen betrieblichen und institutionellen Verhältnisse vor Ort. Vor diesem Hintergrund gefragt: War die DDR ein Rechts- oder Unrechtsstaat? Nach Chris Mögelin ist Unrecht wie Recht im Unrechtsstaat als auch im demokratischen Rechtsstaat möglich. Insbesondere ist das konstitutive Element des demokratischen Rechtsstaates, die Unverfügbarkeit des Rechts, im Unrechtsstaat DDR nicht positiv erfüllt wegen »einseitiger Instrumentalisierung durch Politikvorbehalt und Atrophie des Rechts, teilweise Zerstörung der normativen Struktur des Rechts«. Demokratische Verfahren implizieren, so Mögelin, grundsätzlich eine Ergebnisoffenheit des Prozesses.4 Genau dies war in den Verfahren unter Hoheit des MfS nicht gegeben. Allermeist waren sie nicht ergebnisoffen. Vielmehr stand das Ergebnis schon vor Eröffnung des Verfahrens fest. Allein in diesen Fällen war das Handeln des Staates durch seine Organe ein nichtrechtsförmiges Handeln mit dem nahezu zwingenden Ergebnis eines Unrechtsurteils. Insofern begünstigte die DDR staatliches Unrecht »strukturell«. Diese strukturelle Unrechtsbegünstigung 2  Vgl. auch Hildebrand, Daniel: Augusteische Schwelle als Herrschaftsrationalisierung? Zum Verhältnis von Herrschaftsaufwand und politischer Stärke imperialer Herrschaft, in: Münkler, Herfried / Hausteiner, Eva M. (Hrsg.): Die Legitimation von Imperien. Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt / M., New York 2012, S. 131–144. 3  MfS: Dienstbesprechung am 14.3.1968; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, Nr. 1225, Bl. 1–24, hier 23. 4  Vgl. Mögelin, Chris: Recht im Unrechtsstaat?, in: Schultz, Helga / Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 92–112, hier 108 u. 110.

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war überformt durch das Fehlen von Legitimität und Legalität. Rechtsbindung und Rechtsformenzwang waren keine konstitutiven Prinzipien der Rechtsordnung in der DDR. Wegen der fehlenden Merkmale der Legitimität und der Legalität war die Wahrscheinlichkeit von staatlichem Unrecht »besonders hoch«. Mögelin belegt, dass bereits die Rechtsnormen der DDR »die Möglichkeit zu einer willkürlichen Anwendung« boten. Das die DDR überformende positive Recht der DDR hatte »die Aufgabe, die Herrschaft der Arbeiterklasse zu sichern und den« sogenannten, marxistisch-leninistischen »objektiven sozialen Gesetzen zum Durchbruch zu verhelfen«. Das ist in den einschlägigen Fällen der Untersuchung so geschehen. Zwar ist der Begriff des Unrechtsstaates keine juristische Kategorie, doch kann der »Unrechtsstaatsbegriff ein wissenschaftlicher Begriff« sein, »dessen rationale Analyse und Rekonstruktion möglich ist«.5 Die wichtigste »Rechtsquelle« im Rahmen der Untersuchung bildet das Statut des MfS vom 30. Juli 1969.6 Das Statut bildete nach dem »Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit« von 1950 und seinem Vorgängerstatut von 1953 die wichtigste innere rechtsförmige Grundlage für die Tätigkeit des MfS bis zu seinem Ende im Jahre 1989. Es unterlag der höchsten Geheimhaltungsstufe und war nur wenigen Personen bekannt. Ein erstes ungefähres öffentlich zugängliches Wissen über das Aufgabenprofil des MfS konnte dem Kleinen Politischen Wörterbuch entnommen werden, das in zweiter Auflage 1973 in der DDR erschienen war. In dem Artikel sind begriffliche Stichpunkte aufgeführt, die dem geheimen Statut entsprechen. Danach sei das MfS ein Organ des Ministerrates zur Gewährleistung des Schutzes vor Anschlägen imperialistischer Geheimdienste; es habe spezielle Sicherheits- und Rechtspflegeaufgaben für den zuverlässigen Schutz der DDR zu leisten; sein Wirken stehe unter Führung der SED; seine Aufgaben habe es in einem Vertrauensverhältnis zu den Werktätigen und in Zusammenarbeit mit patriotischen Kräften zu erfüllen; sein Wirken sei gegen Spionage, Diversion und Sabotage ausgerichtet und diene der Überwindung feindlicher Einflüsse und der Verhinderung von Staatsverbrechen.7 Wortlaut und Aufbaulogik des Statuts von 1969 zeigen, dass seinen Verfassern bewusst war, inwiefern und inwieweit die Verfassung zu umgehen war. In ihm ist festgelegt, dass das MfS als Sicherheits- und Rechtspflegeorgan die staatliche Sicherheit und den Schutz der DDR zu gewährleisten hatte. Die Verbindlichkeit war aber nicht in erster Linie auf die Verfassung gelegt, sondern erstens auf das Programm der SED und zweitens auf die Beschlüsse des ZK und des Politbüros der SED. Erst an dritter Stelle dieser Aufzählungsreihung erfolgte die Berufung auf die Verfassung, dann auf die Gesetze und andere staatliche Normen. Das MfS war nicht gegenüber der Volkskammer oder dem Obersten Gericht resp. dem Generalstaatsanwalt der 5  Ebd., S. 92, 97 f., 102 f., 110 u. 106. 6  Abgedruckt in: Engelmann, Roger / Joestel, Frank: Grundsatzdokumente des MfS. Berlin 2004, S. 183–188. 7  Vgl. Böhme, Waltraut et al. (Hrsg.): Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin 1973, S. 833.

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Spezifische Vertiefung

DDR rechenschaftspflichtig. Es war nicht nur selbstständiges Organ des Staates, sondern auch Teil des staatlichen Justizwesens der DDR in seiner statutgemäßen Eigenschaft als offizielles Untersuchungsorgan laut Paragraf 88 II Nr. 2 der StPO. Die Durchführung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren erfolgte autark und lag in der Zuständigkeit der HA IX. Das MfS fällte »bereits vor der Einleitung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens eine präjudizierende Entscheidung, von der kein Justizorgan der DDR Kenntnis erhielt«.8 Das Statut von 1969 war das zweite, deutlich explizitere. Am 15. Oktober 1953 hatte der Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, im Auftrag der Volkskammer der DDR für das Staatssekretariat für Staatssicherheit (SfS) ein Statut mit dem höchsten Geheimhaltungsgrad »Geheime Verschlusssache« (GVS) erlassen. Zuvor war am 23. Juli 1953 das MfS auf Beschluss des Ministerrates der DDR zum Staatssekretariat zurückgestuft und in das Ministerium des Innern (MdI) eingegliedert worden. In der Folge der Ereignisse des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 war es die innerhalb des Staatsapparates vielleicht sichtbarste Veränderung, faktisch jedoch wies die Unterstellung unter Innenminister Willi Stoph nur geringe Bedeutung auf, da allein Staatssekretär Ernst Wollweber die Interessen und Sachangelegenheiten seines Dienstes gegenüber der SED-Parteiführung zu vertreten hatte, flankiert durch ein ihm zur Seite gestelltes Kollegium, das am 6. Juli 1954 von der Sicherheitskommission beim Politbüro des ZK der SED etabliert worden war. Das Statut von 1953 trug diesen Änderungen Rechnung. Es benannte drei Pflichten, denen das Staatssekretariat nachzukommen hatte: der Gewährleistung der Sicherheit des Staates, der Festigung der Staatsmacht und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Für deren Realisierung waren ihm umfangreiche Polizei- und andere Rechte wie die Verhaftung von Agenten und sogenannten Diversanten, strafrechtsrelevante Untersuchungen, Methoden der Zensur, Beobachtung und des Abhörens sowie die Errichtung von Agenturen in der DDR, in Westdeutschland und Westberlin eingeräumt worden. Polizeidienststellen und andere Einrichtungen hatten die pflichtgemäße Aufgabe, bei Bedarf das Staatssekretariat bei der Ausübung seiner Aufgaben zu unterstützen. Am 24. November 1955 wurde das SfS auf Beschluss des Präsidiums des Ministerrates wieder zu einem eigenständigen Ministerium ernannt. Das Statut ist aus diesem Anlass nicht novelliert worden. Knapp 14 Jahre vergingen, bis dieser Schritt vollzogen wurde. Wie für das erste Statut mag auch für seine Neufassung die angespannte nationale und internationale Situation der DDR den Impuls gegeben haben. Zum Ausgang der 1960er-Jahre hatten sich die volkswirtschaftlichen Probleme in der DDR erheblich verschärft, die politische Lage blieb hinsichtlich der 1968er Ereignisse in der ČSSR angespannt, auch büßte Walter Ulbricht an Autorität innerhalb der SED-Führungsriege ein. In der Folge bedeutsamer Rechtsakte 1968, des am 12. Januar in Kraft getretenen Strafgesetzbuches (StGB) und der Straf8  Marxen, Klaus / Werle, Gerhard (Hrsg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation. Berlin 2007, S. 596–599.

MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten

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prozessordnung (StPO) sowie der Verfassung vom 6. April, kam es zu zahlreichen gesetzgeberischen und rechtlich-normativen Neufassungen und -regelungen. Hierzu zählen mit an erster Stelle das Statut des MfS, aber auch solche internen Richtlinien des MfS wie die für die Sicherung der Volkswirtschaft bedeutsame Richtlinie 1/69 vom 25. August 1969.9 Allein diese beiden Dokumente zeigen, dass die SED eine effektivere Verankerung des MfS in der Gesellschaft anstrebte. Während das Statut dies allgemein formulierte, indem es von der gesellschaftlichen Einbindung des MfS für den Schutz des friedlichen Lebens seiner Bürger, vom Vertrauen zum Volk und der breiten gesellschaftlichen Basis seines Handelns sprach, zeigt die Richtlinie 1/69 die tatsächlichen, praktischen Absichten, nämlich die Verbreiterung und Qualifizierung der personalen und materiellen Ressourcen des MfS innerhalb der volkswirtschaftlichen Strukturen. Dementsprechend eröffnete das Statut dem MfS mit einem eigenen Paragrafen hinsichtlich der Wahrung des Geheimnisschutzes, der Sicherheit und Ordnung eines seiner künftig wichtigsten Arbeitsfelder. Es war ein Einfallstor. Nicht zuletzt für die Realisation dieser drei Aufgaben erhielt das Statut den Passus der Zuständigkeit für die gesetzgeberischen Vorleistungen, indem es berechtigt und angehalten war, die allfälligen »allgemeinverbindlichen Rechtsnormen« auszuarbeiten. Die Untersuchungen und die operative Vorgangsbearbeitung liefen nicht unabhängig von den Regelungen des Strafprozessrechts und der Justizorgane ab. Die wechselseitige Bedingtheit von Strafprozessrecht und politisch-operativer Arbeit des MfS wurde gelehrt, geübt und täglich angewandt.10 Waren Staatsanwälte zu involvieren, entschied das MfS, welche Erkenntnisse zu übergeben waren und welche nicht. Aufschlussreich ist der Umstand, dass sich die der DDR-Staatsanwaltschaft obliegende allgemeine Gesetzlichkeitsaufsicht nicht auf den Tätigkeitsbereich des MfS erstreckte. Hierzu hatte es bereits im November 1956 eine Vereinbarung zwischen Erich Mielke und Ernst Melsheimer, Generalstaatsanwalt der DDR, gegeben. Andererseits war es Aufgabe des MfS, jene Staatsanwälte, die in die Verfahren einzubeziehen waren, vorab kaderpolitisch zu »bestätigen«, präziser formuliert: auszuwählen. Den durchschlagenden Erfolg dieser normativen Praxis sahen wir oben im Kap. 4.1 im Falle Peter Hartwigs*.

5.1  MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten In den Verdacht zu geraten, Spionage und / oder Sabotage zu betreiben, war in der SBZ / DDR ein Kinderspiel. Der geringste Anhaltspunkt reichte aus. Oftmals waren es nur Zufälle, Banalitäten, Absurditäten, recht selten dagegen ernsthafte Verdachtsgründe. 9  Vgl. Richtlinie Nr. 1/69 vom 25.8.1969: Zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirt­ schaft der DDR, S. 1–17; BStU, MfS, DSt., Nr. 101131. 10  Vgl. Hochschule des MfS, Sektion Rechtswissenschaft: Strafprozessrecht. Potsdam 1987.

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Spezifische Vertiefung

Spionage Im Folgenden sind einige Fälle der Spionage dargelegt, die das breite Spektrum der operativen Arbeit des MfS in diesem Sektor zeigen. Es sei darauf hingewiesen, dass in der Wissenschaftslandschaft der DDR von diesen Geschehnissen durchaus gewusst wurde, schemenhaft zwar, aber gerade deswegen und weil das MfS oft Falschinformationen (operatives Mittel der Desinformation) in das soziale Umfeld streute, bemerkbar in vielerlei Richtung. Beim Studium von Hunderten von Vernehmungen fiel auf, dass signifikant das verwendete Vokabular nicht von den Vernommenen selbst stammen konnte, sondern die Vernehmer die Sprache gleichsam vorgaben, insbesondere hinsichtlich der Selbstbezichtigungen. Es fiel auf, dass diese »Kunstsprache« in jenen Fällen, wo es sich tatsächlich um Spione handelte, weitestgehend fehlte. Hier ging es um Fakten, erpresst wurde weniger. Die echten Spione redeten. Irgendwie schien man sich gar gegenseitig zu respektieren. Das ging bis in die Unterschriftsleistung unter die Vernehmungen; Gerd Karte*: »Das Vernehmungsprotokoll wurde in meiner Gegenwart diktiert. Ich habe es selbst gelesen. Meine Worte sind in ihm zum Teil wörtlich wiedergegeben. Dies bestätige ich durch meine Unterschrift.«11 Das fand sich bei Spionen und Saboteuren, die keine waren, so nicht. Blind auf einem Auge? Hans Joachim Hanisch alias IM »Rüdiger« recherchierte 1978, dass Siegfried Hildebrand »eine aktive Schlüsselfigur der Arbeit imperialistischer Konzerne gegen die DDR« darstellte. Er sei gegenüber der DDR feindlich eingestellt, »noch nach Jahren« eröffne er »fast jeden Brief mit seinem Bedauern der Maßnahmen vom 13. August 1961«. Selbst als CDU-Mitglied habe er eine Bitte der Tageszeitung Union im Juli 1969 nach einem Artikel über die Vorzüge des Sozialismus oder über den aggressiven Charakter der Bundesrepublik oder zu anderen Themen mit dem Hinweis auf Zeitmangel abgelehnt. Das von ihm gesichtete Material zu Hildebrand zeige »in hohem Maße den Tatbestand einer langjährigen Spionage« durch ihn, »unter grobem Missbrauch seiner Stellung als Institutsdirektor, Senatsmitglied der TU Dresden und Mitglied zentraler Gremien des Forschungsrates und Ministerrates der DDR«.12 Nichts davon war wahr. Hildebrand war ein erstklassiger Hochschullehrer, einer der sich rühmen durfte, nicht wenige Schüler gehabt zu haben, die Lehrstühle erhielten. Politisch lag er auf ähnlicher »Wellenlänge« wie Werner Hartmann, obgleich er der SED angehörte. Nicht nur sein Duktus in Bezug auf das Eingesperrtsein ist dem Hartmanns verblüffend ähnlich. So äußerte er einem Siemens-Ingenieur gegen11  Vernehmungsprotokoll vom 23.6.1966; BStU, MfS, AU 747/69, Bd. 1, Bl. 237–255, hier 255. 12  »Rüdiger« vom 4.6.1978: Ersteinschätzung des Materials; BStU, MfS, BV  Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 10, Bl. 6–8.

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über am 11. März 1965, dass auch er es im Herbst 1961 »außerordentlich bedauert« habe, »dass unsere so guten fachlichen und persönlichen Beziehungen durch die politischen Verhältnisse abrupt abgebrochen wurden, obwohl sie doch so fruchtbar für beide Teile gewesen sind«.13 Einer seiner »Meisterschüler« war Paul Wucht*. Es wäre für das Begreifen der Bodenlosigkeit der Vorwürfe, Ermittlungen und Verfahren in den oben behandelten Fällen, in denen es keine belastbaren Verdachtshinweise gab, sinnvoll, einen anderen Fall zu zeigen, wo es an solchen Hinweisen keinesfalls mangelte, die Betreffenden aber vom MfS verschont blieben, zumindest über sehr viele Jahre. Ein überaus signifikantes Beispiel hierfür stellt der Fall Wucht* dar. Leider, weil überaus beeindruckend als Beispiel für Mut, Glück, Erfolg und Scheitern in der DDR, ist dieser Fall aus StUG-Gründen nicht darstellbar. Was ihn für diese Untersuchung interessant gemacht hätte, sind die thematisch relevanten Verflechtungen, die der Akteur gewissermaßen ex ante entfaltet. Alle drei Hauptkapitel sind berührt, auch gab es direkte Verbindungen zu den jeweiligen Hauptakteuren. Das lag allererst an den Spezialkenntnissen und den Arbeitsorten von Wucht*: Hochfrequenztechnik, elektrische Messtechnik, Halbleiter- sowie Atomphysik an den Orten Berlin-Adlershof, Teltow, Frankfurt / O. und Dresden. Wucht* wurde Anfang der 1950er-Jahre an der TH Dresden immatrikuliert, er war hochbegabt, ein junger Mann, der so gar nicht in den Sozialismus passte, einer mit exorbitantem Selbstbewusstsein. Als er immatrikuliert wurde, wollte er sofort in einem höheren Semester beginnen. Das wurde ihm nicht gestattet. Also belegte er jeweils zwei Semester gleichzeitig, das erste und dritte und dann das zweite und vierte. Durchaus ging dies in der DDR, wenngleich extrem selten. Er verkürzte auf diese Weise die Gesamtstudienzeit auf die Hälfte. Er war ehrgeizig, strebsam, alles Tun bei ihm schien im Plural zu stehen. Hildebrand stellte ihm Ende der 1950erJahre ein hervorragendes Zeugnis aus. Doch sein Hinabtauchen in die außeruniversitäre Welt war sofort mit Schwierigkeiten verbunden, da Wucht* eine Liebedienerei gegenüber den sozialistischen Symbolen, Gebaren und Funktionären nicht kannte. Denunziation Im Oktober 1974 hatten sich in Prag Physiker-Kollegen getroffen, die gemeinsam in Jena die Oberschule besucht und anschließend Physik an der Jenenser Universität studiert hatten. An dem Treffen nahm auch ein 1958 geflüchteter Mitschüler teil, der in der Bundesrepublik in der geologischen Forschung arbeitete. Einer seiner ehemaligen Kommilitonen, der in Berlin im Bereich der Kosmosforschung tätig war, plauderte darüber im Institut und es kam, wie es kommen musste. Der Sicherheitsbeauftragte, Günther Bliesener, erfuhr von dem Treffen in Prag. »Teilnehmer« musste ihm sogleich schriftlich einen Bericht geben. Und so kam folgende 13 »Rüdiger«, [1978] (Anlage 37): Kontakte zu republikflüchtigen Personen; ebd., Bl. 55 f., hier 56.

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sogenannte Erstinformation in die Akten: »Im Ergebnis der Grundlagenarbeit im Sicherungsbereich Raumforschung / Interkosmos wurden durch IM Informationen erarbeitet, dass ein im Sicherungsbereich an Interkosmos-Problemen tätiger Wissenschaftler – im Folgenden als ›Teilnehmer‹ bezeichnet – am 5. und 6. Oktober 1974 in Prag an einem Zusammentreffen von DDR-Bürgern mit Bürgern der BRD teilnahm und danach andeutungsweise Bemerkungen machte, dass die Kontakte für ihn einen teilweise undurchsichtigen Charakter trugen.« Ein Fall von Denunziation? Zumindest hätte er aus Erfahrung wissen müssen, was alles aus solch einer Mitteilung hätte entstehen können. Einmal in die Mangel genommen, lagen dem MfS bald Informationen vor, die es als brisant und verfolgungswürdig einstufte. Der offenbar als Organisator dieser Treffen fungierende Kommilitone war der Sohn eines bekannten Jenenser Professors, über den das MfS nur politisch Ungutes gesammelt hatte. Er war Physiker im VEB Carl Zeiss Jena. Der westdeutsche Kommilitone, und das mag »Teilnehmer« irritiert und Angst gemacht haben, der nach eigenen Angaben auf dem Gebiet der Satellitengeologie und Erdressourcenforschung arbeite, hatte durchblicken lassen, »dass er über die genaue Tätigkeit von ›Teilnehmer‹ informiert sei. Er formulierte, ›Teilnehmer‹ handele [arbeite – d. Verf.] mit ›russischen Raketen‹«. Er habe die Angaben angeblich vom englischen Geheimdienst erhalten. Zu Ostern 1975 kam es zu einem weiteren Treffen im erweiterten Kreis in Jena. »Teilnehmer« erarbeitete nun weitere Informationen, Querverbindungen wurden bekannt. So auch zu [A], der bei Zeiss auf dem Gebiet der Laserforschung arbeitete und vom MfS im ZOV »Verschwörer« Ende der 1950er-Jahre operativ bearbeitet worden war, später im Operativ-Vorlauf »Domino« von 1970 bis 1974. Der Verdacht nach Paragraf 100 StGB konnte jedoch nicht verifiziert werden. An dem Treffen in Jena beteiligte sich auch eine Engländerin. Alles in allem Grund genug für das MfS zu behaupten, dass »Hinweise auf nachrichtendienstliche Interessen« an der Interkosmos-Forschung, dem VEB Carl Zeiss Jena sowie der Laserforschung vorlägen. Es folgten Maßnahmen zur operativen Aufklärung seitens der HA XVIII/8 und der OD Zeiss Jena sowie Maßnahmen zur Rekrutierung von »Teilnehmer« als IM.14 Zu den beiden ostdeutschen Teilnehmern am Prager Treffen wurden die OPK »Geologe« und »Ewald« angelegt.15 Dieser Fall gefährdete jedoch nur eine Person, nämlich »Teilnehmer«, plötzlich stand er unter Spionageverdacht. Er wurde für eine IM-Arbeit erpresst, aus der er sich zwar herauswand, jedoch nicht ohne Schaden zu nehmen. Die völlig unbegründeten Verdachtsmerkmale aber dienten dem MfS fortan als positive Belege für Spionage in der Interkosmos-Zusammenarbeit.

14  Vgl. HA XVIII/5 vom 21.4.1975: Information; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 10584, Bl. 40–43. 15  Vgl. HA XVIII/5/3 vom 11.2.1976: Sachstandsbericht zur OPK »Geologe«; ebd., Bl. 62–74, hier 67.

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Bewiesene Fälle Fast in jedem größeren wissenschaftlich-technischen Bereich befand sich zumindest ein Kollege, der in der Vergangenheit bereits einmal im Visier des MfS stand oder gar wegen Spionage bestraft worden war. Letztere verlor das MfS nie aus den Augen. Irgendwelche IM erhielten irgendwann den Auftrag, die betreffende Person wieder einmal zu beobachten, mit ihr zu sprechen und einzuschätzen. So auch der IM »Hans Vogt«, der viele Jahre nach dem Strafvollzug und der Wiedereingliederung Kartes*, 1979, den Auftrag zur Berichterstattung über ihn erhalten hatte, herauszufinden, »mit wem« er versuche, »hauptsächlich ins Gespräch zu kommen?«, und wenn ja, welche Fragen er dabei entwickele.16 Am 19. September 1979 erhielt er zudem die Order, mit ihm in Kontakt zu treten um herauszufinden, »was« er »wegen der Artikel [Fachartikel, für die er keine Imprimatur erhielt – d. Verf.] unternehme«, wo »er sie veröffentlichen« wolle und wie er im Institut auftrete.17 Zwar generierten diese Regelüberprüfungen meist keine Spionagefälle, bildeten aber eine Hauptquelle der operativen Vorgangsbearbeitung in der Breite. Der Fall Karte* ist ein realer Spionagefall. Überführte Spione wie auch DDR-Flüchtlinge verloren in der Regel ihre akademischen Titel, sie wurden ihnen aberkannt.18 Der Wissenschaftler Karte* wurde 1955 promoviert und habilitierte sich Ende 1960.19 Er kam im Februar 1961 in das Fachgebiet Fotogrammmetrie an der Fakultät für Bauwesen der TH Dresden.20 Den Lehrstuhl hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Alwill Buchholtz aufgebaut. Am 15. Oktober 1962 wurde er Mitglied des Zentralen Arbeitskreises (ZAK) für Forschung und Technik für »Geodäsie, Fotogrammmetrie und Kartografie«.21 Die dokumentierten Beweise sind widerspruchsfrei, gegenständlicher Natur (Karten, Behältnisse, Bücher, Codes etc.)22 und umfassen vielfältige Dokumente und Geständnisse. Den Agenten des amerikanischen Geheimdienstes nahm das MfS nicht einfach im Morgengrauen in seiner Dresdener Wohnung fest, holte ihn auch nicht von seiner Arbeitsstelle ab oder lauerte ihn auf der Straße auf. Die Festnahme sollte konspirativ erfolgen, um Unruhe in der Studentenschaft und unter den Profes-

16  BV Potsdam vom 26.1.1979: Instruierung von »Heinz Vogt« am 24.1.1979; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 261/84, Bd. 1, Bl. 84 f., hier 85. Noch einmal erinnert am 6.2.1979, ebd., Bl. 97. 17  BV Potsdam vom 25.9.1979: Instruierung von »Heinz Vogt« am 19.9.1979; ebd., Bl. 130 f., hier 131. 18  Vgl. Lienert, Matthias: Zwischen Widerstand und Repression: Studenten der TU Dresden 1946 bis 1989. Köln, Weimar, Wien 2011. Buthmann: Die politische Geschichte der TH Ilmenau, Kap. 4.2.3. 19  Vgl. Urkunden; BStU, MfS, AU 747/69, Bd. 10, Bl. 130, 151 u. 180. 20  Vgl. SHF vom 24.1.1961: Ernennung; ebd., Bl. 215. 21  Forschungsrat der DDR vom 15.10.1962: Berufung; ebd., Bl. 245. 22  Vgl. Bilder der Gegenstände und Dokumente; ebd., Bl. 288, 290, 297, 303, 305–309, 311, 313, 315–317, 319, 321 f., 324, 326,  f. u.  329 sowie Bd. 15, Bl. 1–30, Bd. 16, Bl. 1–11 u. Bd. 17, Bl. 1–15.

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Spezifische Vertiefung

soren zu vermeiden.23 Der Leiter der HA XX, Paul Kienberg, und der Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen (SHF), Ernst-Joachim G ­ ießmann, dachten sich einen Plan aus, der an Szenarien von Spionagestorys erinnert. Gießmann bildete zum Zwecke der Festnahme in Berlin eine fiktive Arbeitsgruppe, plante die Anforderung von zwei Mitarbeitern aus zwei Hochschulen, die eine Diskussionsvorlage zu einer wissenschaftlichen Besprechung (Pseudoveranstaltung) erarbeiten sollten. Auch der Festzunehmende solle zu dieser Arbeitsgruppe stoßen und in einem Objekt des SHF drei Tage verbleiben. Es wurden Varianten festgelegt: käme der Dresdener mit dem Zug oder mit dem Auto nach Berlin, wollte das MfS ihn unterwegs oder auf den Bahnhöfen Dresden beziehungsweise Berlin verhaften, wenn aber in Begleitung anderer Personen, dann unterwegs zum Objekt in Berlin. Dazu wurde der Dienstwagen des Staatssekretärs mit einem Mitarbeiter der HA III besetzt.24 Dies geschah. Die Festnahme erfolgte in der Leipziger Straße am 16. Februar 1966 um 10.20 Uhr.25 Die Anklage des Generalstaatsanwaltes wegen Spionage erfolgte am 13. April 1967.26 Der Umstand seiner Enttarnung war trivial, wie so oft in echten Spionagefällen. Die HV A hatte aus dem »Operationsgebiet« 1964 rein zufällig den Hinweis auf eine mögliche Deckadresse des amerikanischen Geheimdienstes in Berlin-Steglitz erhalten. Die anschließende Postkontrolle (M-Überprüfung) war erfolgreich. Sofort wurde klar, dass Informationen über Exportaufträge, die Entwicklung von Luftbildkameras, die politische Situation an der TU Dresden, militärische Objekte und Truppenbewegungen in den Westen flossen. Die Texte waren partiell verschlüsselt.27 Eine Überwerbung schloss das MfS aus, da Karte* in diesem Fall »dem amerikanischen Geheimdienst zu viel interessantes Material« hätte liefern müssen, sowie wegen Fluchtgefahr. Der Haftbefehl wurde am 17. Februar 1966 erlassen. Grund Spionage, strafbar gemäß Paragraf  14 StEG.28 Offizier Kriegk von der HA XVIII/5/2 wusste es übrigens bereits am 22. Dezember, dass Karte* »in Kürze« inhaftiert werden würde.29 Das MfS leitete die Spionagetätigkeit aus dessen ablehnender Haltung zu den DDR-Verhältnissen ab.30 Bei der Hausdurchsuchung fanden sich versteckt im Arbeitszimmer diverse Beweismaterialien, u. a. eine Umwertetabelle (Buchstabe – Nummer), drei Filmfolien und ein Geheimnis-Träger31 sowie Abschriften von Mikrat-Texten und Briefen.32 Das MfS schätzte den anerkannten Fachmann als hochintelligent ein, der »aufgrund 23  Vgl. HA II/3 vom 1.2.1966: Vorschlag zur Festnahme; ebd., Bd. 1, Bl. 37–45, hier 43. 24  Vgl. HA II/3 vom 10.2.1966: Aktenvermerk; ebd., Bl. 46 f. 25  Vgl. HA VIII / I vom 16.2.1966: Festnahmebericht; ebd., Bl. 49. 26  Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR vom 13.4.1967: Anklage; ebd., Bd. 11, Bl. 15–25. 27  Vgl. HA II/3 vom 1.2.1966: Vorschlag zur Festnahme; ebd., Bl. 37–45, hier 40. 28  Berlin, Stadtbezirk Mitte, vom 17.2.1966: Haftbefehl; ebd., Bd. 10, Bl. 38. 29  HA XVIII/5/2 vom 22.12.1965: Vermerk; BStU, MfS, AOP 14254/69, Bd. 4, Bl. 44. 30  Vgl. Berlin vom 14.7.1966: Einschätzung zum Verhalten; BStU, MfS, AU  747/69, Bd. 1, Bl. 129 f. 31  Vgl. Bilder 23 bis 33; ebd., Bl. 82–86. 32  Vgl. Mikrat-Texte und entschlüsselte Briefe Nr. 48, 51, 52 und 59; ebd., Bl. 131–135.

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der Erziehung durch seine Eltern bürgerlich-demokratische Ansichten« vertrete »und demzufolge mit der sozialistischen Entwicklung in der DDR in Widerspruch« geraten sei.33 Der Ton dieser MfS-Einschätzung ist milde, beinahe verständnisvoll, er unterscheidet sich krass von dem anderer Fälle, wo die Beweislage konstruiert war. Der Kontakt zum amerikanischen Geheimdienst war 1962 in Wien durch einen ihm bekannten 1962 geflüchteten Wissenschaftler (Paul Kornfeld*) von Carl Zeiss Jena hergestellt worden. Da Karte* sich mit der Absicht getragen hatte zu flüchten, nahm er einen Deal auf »Ausschleusung für Spionagetätigkeit auf Zeit« an. Dieses Verfahren soll laut MfS angeblich auch im Fall von Heinz Barwich34 durchgeführt worden sein. Der amerikanische Geheimdienst soll von Karte* Angaben über »die Entwicklung und Perspektivplanung des VEB Carl Zeiss Jena«, über Exporte, Laser­ entwicklung, Kernforschungsinstitut Rossendorf, Tätigkeit des Forschungsrates, Aus- und Einreisen von Wissenschaftlern, über »die Stimmung unter den Studenten« sowie »militärische Bewegungen« erwartet haben. Nach eigenen Angaben hatte er bis zu seiner Enttarnung 58 Spionageberichte geliefert. Die Leibesvisitation beförderte einen »Bogen präpariertes Papier und zwei Zettel, auf denen die zurzeit benutzten Deckadressen notiert« waren, zutage.35 Er soll »wie die Mehrzahl der bisher bearbeiteten Agenten des amerikanischen Geheimdienstes allseitig eingesetzt« worden sein, etwa »zur Erkundung strategisch wichtiger militärischer Tatsachen wie topografischen Kartenmaterials, [der] Ausrüstung der Armee mit elektronischen und optischen Geräten, Raketenbasen und Radarsystemen sowie zur Sammlung politischer Informationen«.36 Karte* war bei seinen Aufenthalten in Wien, Helsinki, Lissabon und Karlsruhe systematisch in der Geheimdienstarbeit ausgebildet worden (Chiffrieren, Funksendeempfang, Erkennung von Militärfahrzeugen, Abschüttelung von Beobachtern) und musste zweimal den Lügendetektortest über sich ergehen lassen. Er erhielt insgesamt 15 Mikrate mit Anweisungen, versteckt in Fachliteratur, die in Westberlin an ihn aufgegeben worden waren.37 Die Beweise sind im betreffenden Aktenkonvolut (18 Bde., 4 726 Blatt) akribisch dokumentiert, etwa ein Maniküre-Etui mit Versteck, Mikrate in der Schrift »Festsitzung anlässlich der Verabschiedung von Erwin Gigas am 10. Juli 1964 in München« sowie von der HA II/6, Operativgruppe F, entschlüsselte Briefe. Der Brief Nr. 48 berichtete beispielsweise über den Abbruch eines auf Veranlassung der Sowjetunion durchgeführten Forschungsauftrages (Luftbildkamera), die in den Sand gesetzten Kosten betrugen fünf Millionen MDN.38 33  Berlin vom 14.7.1966: Einschätzung zum Verhalten; ebd., Bl. 129 f. 34  HA IX/1 vom 25.5.1966: Sachstandsbericht; ebd., Bl. 193–206, hier 194. 35  HA IX/1 vom 17.2.1966: Streng geheimer Informationsbericht; ebd., Bl. 136–139. 36  Vernehmungsprotokoll vom 15.2.1966; ebd., Bd. 5, Bl. 29–39. 37  Vgl. HA IX/1 vom 25.5.1966: Sachstandsbericht; ebd., Bd. 1, Bl. 193–206, hier 197 sowie HA  IX/1 vom 18.2.1966: Streng geheime Ergänzung zum Informationsbericht vom 17.2.1966; ebd., Bl. 148–154, hier 154. 38  KD Jena, OG Zeiss, vom 25.6.1964: über den Forschungs- und Entwicklungsbereich Bildmess des VEB Zeiss Jena; ebd., Bd. 2, Bl. 285–295.

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Spezifische Vertiefung

Da der SED selten geglaubt wurde, kursierten an der TU Dresden »Zweifel an der Richtigkeit der gegen Karte* getroffenen strafprozessualen Maßnahmen«. In Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft der DDR wurde deshalb vor dem Senat der Universität eine Informationsdarstellung über den Fall organisiert. So wurde seine Verbindung zu einem ehemaligen Major der amerikanischen Luftwaffe aufgezeigt, der in die DDR offiziell einreisen durfte und die Absicht besaß, zu promovieren. Die Ausschleusung mit gefälschten Ausweisen war bereits in Teilen vorbereitet und sollte 1968 erfolgen.39 Kartes* Rechtsanwalt stellte im Januar 1971 den Antrag auf Strafaussetzung auf Bewährung. Sein Mandat hätte demnach im Februar 1971 die Hälfte seiner zehnjährigen Freiheitsstrafe verbüßt.40 Bereits am 2. Juni beschloss das Bezirksgericht Dresden eine Strafaussetzung auf Bewährung ab dem 16. Februar 1971.41 Karte* hatte sich bereits in Erwartung seiner vorfristigen Haftentlassung bei [B] mit der Bitte um Einstellung am 1. Dezember 1970 im Zentralinstitut für Physik der Erde (ZIPE) beworben. Er verwies auf seine Laufbahn, erwähnte aber nicht den Grund seiner Inhaftierung.42 [B] sprach daraufhin mit dem MfS, das festlegte: »Der IM beantwortet den Brief wie folgt: Die Möglichkeit des Einsatzes und der Planstelle wird geprüft. Dann fällt die Entscheidung. Rücksprache mit MfS / H A XVIII/5 und Prüfung einer eventuellen inoffiziellen Nutzung.«43 Karte* wurde zwar eingestellt, aber nicht für Führungspositionen. 1976 beklagte er diverse Benachteiligungen und Behinderungen. Er sei zum einen nicht adäquat seiner Qualifikation eingestuft und zum anderen würden seine Veröffentlichungen schleppend bearbeitet, »es gäbe Verzögerungen von einem Jahr«. Ihm gehe es »um Gerechtigkeit und Anerkennung der Leistungen«. Er bereue »seinen Schritt zum Spion«, er wolle dies wieder gut machen durch Leistung. [B] schien dies zunächst zu befürworten und verwies auf den Fakt, das er wegen seiner Qualifikation, Fähigkeiten und Fertigkeiten eigentlich Abteilungs- oder Bereichsleiter sein müsste. Er erfülle diese Forderungen. »Entsprechend der Mitteilung des Generalstaatsanwaltes und des Rates des Bezirkes, Abteilung Inneres«, sei er »nach der Verbüßung seiner Strafe wie alle übrigen Mitarbeiter zu behandeln. Im ZIPE gäbe es auch einen akuten Bedarf an fähigen« Abteilungsleitern. Dagegen aber spreche, so [B], dass er in einer solchen Funktion internationale Kontakte bekäme und international auch anerkannt würde. »Die staatliche« Leitung habe »jedoch nicht genügend Vertrauen« zu ihm. Ferner würde sich eine solche Funktionsübernahme negativ auf die Mitarbeiter auswirken, da bekannt war, dass er wegen Spionage in Haft war, »ganz davon abgesehen, dass weniger begabte Wissenschaftler als« Abteilungsleiter »abgelöst werden müssten«. In gesellschaftlicher und politischer Hinsicht könne er einfach nicht in einer solchen 39  HA IX/1 vom 25.5.1966: Sachstandsbericht; ebd., Bd. 1, Bl. 193–206. 40  Vgl. Rechtsanwalt vom 22.1.1971: Prüfung auf Strafaussetzung auf Bewährung; ebd., Bd. 13, Bl. 30 f. 41  Vgl. Bezirksgericht Dresden vom 2.6.1971: Beschluss; ebd., Bd. 13, Bl. 20 f., hier 20. 42  Vgl. Schreiben vom 1.12.1970; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2059/80, Teil II, 1 Bd., Bl. 67 f. 43  BV Potsdam, Abt. XVIII / OPG I, vom 15.12.1970; ebd., Bl. 66.

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Funktion Vorbild sein. Der Direktor werde »sich nicht entscheiden« wollen, »da er einerseits die garantierten Rechte des Karte* nicht verletzen und das Institut um ein fähigen Mitarbeiter« bringen, »andererseits« auch nicht eine »Verschlechterung des Betriebsklimas« in Kauf nehmen wolle.44 Am 22. Januar 1977 fragte Karte* am Bezirksgericht an, ob es »irgendwelche Beschränkungen hinsichtlich« seiner »wissenschaftlichen Arbeit« gebe. Hintergrund der Frage war ein Publikationsverbot zu einem Thema, das er »außerdienstlich durchgeführt« hatte und das »in keinem Zusammenhang mit Forschungsarbeiten des Institutes« stand.45 Zur Problematik der Wiedereingliederung: Die gesetzlichen Bestimmungen hierzu waren gut, sie strahlten Fürsorge und Vergebung aus. Doch die gängige Praxis sah oft bedeutend schlechter aus als bei Karte*; ein Beispiel: Der Leiter der Außenstelle Jena [C] des Zentralinstituts für Optik und Spektroskopie (ZOS) favorisierte als seinen Nachfolger [D], der ebenfalls wegen Spionage einsaß. Das MfS aber war dagegen. Es instruierte den Direktor des ZOS, Klaus Junge alias »Fritz«, den Fall zu lösen. Da sich aber »trotz intensiver Bemühungen des IM kein anderer Kandidat für die Nachfolge« anbot, »setzte der IM (nach Einsicht in die ›einwandfreie Kaderakte‹ des [D]) den [D] in Jena kommissarisch als Nachfolger« ein. »Im Anschluss an diese Einsetzung des [D] traf der IM u. a. mit dem Präsidenten der DAW, Professor [Hermann] Klare, in Jena zusammen. Hier erfuhr der IM im allgemeinen Gespräch bei Nennung des Namens [D], dass dieser zehn Jahre wegen Spionage inhaftiert war.« Also führte »Fritz« auf Veranlassung des MfS »ein internes Gespräch mit [C]« und legte »die gehaltliche Einstufung des [D] so niedrig«, dass »dieser eventuell aus eigenem Antrieb von diesem Einsatz zurücktritt«. Parallel organisierte das MfS Maßnahmen zur Ablehnung des [D] auf dem Verwaltungsweg aus Geheimschutzgründen.46 Es folgten die gewöhnlichen, recht einfältigen Maßnahmen der Zersetzung, die im sozialen Mikrobereich ihre Wirkung meist nicht verfehlten. Nach zehn Monaten hieß es: »Nach Aussage des IM ist das Zerwürfnis zwischen [D] und [C] so gewachsen, dass [D] nicht mehr in der Position des Nachfolgers […] belassen werden kann.«47

44  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 17.8.1976: Bericht von »Laser« am 15.8.1976; ebd., Bl. 148–150. 45  Schreiben an das Bezirksgericht Dresden vom 22.1.1977; BStU, MfS, AU 747/69, Bd. 13, Bl. 38. 46  HA XVIII/5/2 vom 7.1.1972: Bericht zum Treffen mit »Fritz« am 3.1.1972; BStU, MfS, AIM 16981/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 93 f., hier 93. 47 HA XVIII/5/2 vom 25.10.1972: Bericht zum Treffen mit »Fritz« am 21.10.1972; ebd., Bl. 102 f., hier 103.

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Spezifische Vertiefung

Ein Spionagefall gleich mehrere Spionagefälle Der Fall Richard Koitzsch ist mit dem Kartes* verbunden. Aufgeflogen ist Koitzsch aufgrund von Angaben Kartes* bei dessen Vernehmungen.48 Beide waren zwischen 1955 und 1961 »fachlich eng verbunden«.49 Koitzsch wurde 1920 in Liebethal, Kreis Pirna, geboren. Er studierte an der TH Dresden von 1946 bis 1950. Anschließend war der Diplom-Ingenieur für Vermessungswesen als Referent resp. Oberreferent bei der KdT in Berlin angestellt. 1953 kam er in die Redaktion der Zeitschrift Vermessungstechnik. Er entwickelte bald starkes Interesse an einer Einstellung in das Geodätische Institut Potsdam (GIP) der DAW. Ihm wurden hervorragende fachliche Fähigkeiten attestiert. Die Kaderabteilung der DAW hatte am 25. Juli 1957 Interesse an eine Einstellung Koitzschs in das GIP in einem Schreiben an die Kaderabteilung des Verlages Technik VEB bekundet.50 Die Einstellung wurde nicht realisiert. Nach anfänglichem Zögern war er 1960 bereit, für das MfS zu arbeiten. Er versuchte spätestens ab 1964 durch Treffverweigerung aus dem inoffiziellen Dienst wieder herauszukommen. Doch die Treffdisziplin verbesserte sich wieder ab 1965. Koitzsch hatte – wie Karte* – Kontakte zu Paul Kornfeld*, beispielsweise anlässlich des X. Kongresses der Gesellschaft für Fotogeometrie im September 1964 in Lissabon.51 Er kannte ihn aus der fachlichen Zusammenarbeit von 1951 bis 1955.52 Koitzsch gab seine Spionagetätigkeit zu, es fanden sich Mikrate in Zeitschriften. Die Geheimdienstmittel umfassten Papierbögen zur Anfertigung unsichtbarer Schriften, Zahlenschlüssel zur Codierung des Alphabets sowie ein Mikroskop.53 Der VEB Verlag für Bauwesen hob den Arbeitsvertrag mit ihm mit Schreiben vom 30. Juni 1966 rückwirkend zum 21. Juni 1966 (Haftantritt am 8. Juni plus elf Tage Urlaubsanspruch) »im gegenseitigen Einvernehmen« auf.54 So wie Karte* zu Koitzsch aussagen musste, geschah es am 17. August 1966 auch umgekehrt. Es begann alles ganz unverfänglich. In einem Gespräch mit Karte* im August 1962 zur bevorstehenden Reise beider noch im selben Monat nach Wien zum Internationalen Geometerkongress teilte Koitzsch ihm mit, dass er wegen Differenzen im Verlag nicht fahren könne, und bat, beste Grüße an Anton Welpe* aus München und an seinen ehemaligen Studienfreund Kornfeld* zu überbringen. Ein westdeutscher Bürger (»Mende«) suchte im Mai 1963 Koitzsch auf und bestellte Grüße von Welpe*. Er betonte, dass er eigentlich im Auftrag Kornfelds* komme. »Mende« deutete an, dass Kornfeld* sich für Koitzsch interessiere. U. a. deshalb, weil er für eine ameri­

48  Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 26.2.1966; BStU, MfS, AU 597/68, Bd. 1, Bl. 26–37. 49  Koitzsch: Niederschrift zu Personen vom 31.1.1967; ebd., Bd. 4, Bl. 206–212, hier 208. 50  Vgl. DAW, Kaderabt., vom 25.7.1953; ebd., Bd. 1, Bl. 192. 51  Vgl. HA XVIII/3/2 vom 1.3.1966: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 38–59. 52  Vgl. Koitzsch: Niederschrift zu Personen vom 31.1.1967; ebd., Bd. 4, Bl. 206–212, hier 210. 53  Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 8.6.1966; ebd., Bd. 1, Bl. 143–160, hier 147–160. 54  VEB Verlag für Bauwesen, Kaderabt., vom 30.6.1966: Aufhebungsvertrag; ebd., Bl. 213.

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kanische Dienststelle arbeite. Die Anwerbung wurde 1964 in Lissabon fixiert.55 Über die Entwicklung der Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Geheimdienst sagte Koitzsch am 22. und 23. August 1966 aus. Demnach habe er vor allem technische Details mitgeteilt, etwa zu den zu diesem Zeitpunkt zugegebenen Fragen in sechs Mikraten; Koitzsch: »Nach dem Erhalt derartiger Zeitschriften zählte ich auf den angegebenen Seiten jeweils die Buchstaben aus, in denen ein Mikrat versteckt sein sollte. Nach einer intensiven visuellen Betrachtung dieser Seite konnte ich bereits feststellen, ob Mikrate darin versteckt waren. Danach feuchtete ich die entsprechende Stelle an und löste das Mikrat mit einem angespitzten Streichholz aus dem Papier heraus. Dann legte ich das Mikrat zwischen zwei Gläser und las es unter Verwendung eines Schülermikroskops.« Das Mikroskop hatte Koitzsch auf seinem Gartengrundstück versteckt. Das sechste Mikrat habe er nicht mehr gelesen, da er (angeblich) beschlossen habe, nicht mehr für den Geheimdienst zu arbeiten. Der amerikanische Geheimdienst hatte nach seinen Aussagen u. a. Interesse zum Verhältnis der sozialistischen Länder zu China, über Verhandlungen der DDR in Sansibar, zur Ablösung Nikita Chruschtschows und zum Außenhandel des VEB Carl Zeiss Jenas. Den Sicherheitsorganen der DDR habe er sich nicht gestellt: »Mir fehlte für diesen Schritt das nötige Vertrauen«.56 Die Mikrate waren in Broschüren gefunden worden wie der Deutschen Geodätischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. In der Broschüre mit dem Titel Geschichte und Bedeutung der internationalen Erdmessung57 fanden sich gleich mehrere Mikrate, in einem hieß es: »Also sag uns umgehend im nächsten Brief […] alles in Bezug auf RGW ist uns wichtig!«58 Dass Koitzsch aussteigen wollte und nicht mehr antwortete, ist anhand von Mikrat-Texten belegt: »Bis jetzt nichts von Dir seit […] Deines dritten Briefes gehört.« Es folgen Hinweise zur Beantwortung, wenigstens zur Bestätigung, dass Mikrate angekommen seien. Und auch wieder neue Aufträge: »Alles über Arbeit mit Laser-Strahlen« und »geheime Baupläne oder Statistik darüber« (zu Photogrammetrischen Geräten).59 Die Verstecke sind gefunden und dokumentiert worden.60 Auch die Code-Blöcke C I 2485 und CI 2487, mit deren Hilfe er seine Berichte verschlüsselte (vgl. Abb. 43).61 Weitere Befragungen ergaben ein umfassendes Bild über die Interessenlage des amerikanischen Geheimdienstes, angefangen von der großen Politik bis hinunter zu interessierenden Personen, etwa Reisekader; das MfS hierzu: »In der Zusammenarbeit mit dem Beschuldigten Koitzsch bestand, wie auch mit 55  Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 17.8.1966; ebd., Bl. 224–235. 56  Vernehmungsprotokoll vom 22. u. 23.8.1966; ebd., Bl. 249–266, hier 253–255 u. 262. 57  Vgl. Völter, Ulrich: Geschichte und Bedeutung der Internationalen Erdmessung, in: Deutsche Geodätische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Reihe C: Dissertationen, Heft 63. München 1963. 58  HA IX/1 an die Abt. 32 vom 9.6.1966: Untersuchung von Broschüren nach Mikraten; BStU, MfS, AU 597/68, Bd. 1, Bl. 269; Abt. 32 an die HA IX/1 vom 24.6.1966: Mitteilung über und Abschrift des Mikrates aus einer Broschüre; ebd., Bl. 270–273, hier 271. 59  Ebd., Bl. 273. 60  Vgl. Skizzen und Fotos von den Fundstellen und Fundsachen; ebd., Bl. 275–282. 61  Code-Blöcke Nr. CI 2485 und CI 2487; ebd., Bl. 289 f.

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dem Zeugen Karte*, seitens des amerikanischen Geheimdienstes ferner besonderes Interesse an der Aufklärung des Personenkreises aus der DDR, der aus beruflichen Gründen Reisen in das kapitalistische Ausland durchführt. Koitzsch wurde beauftragt, derartige Personen zu benennen und zu charakterisieren.«62 In Untersuchungshaft des MfS kam er am 8. Juni 1966, der Haftbefehl wurde vom Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte am 9. Juni ausgestellt. Den Straftatbestand Verbrechen gemäß Paragraf 14  StGB sah der Militärstaatsanwalt mit folgender Begründung als gegeben an: »Der Beschuldigte hat als geworbener und mit speziellen nachrichtendienstlichen Hilfsmitteln ausgerüsteter Agent des amerikanischen Geheimdienstes seit September 1964 auftragsgemäß Tatsachen und Nachrichten ausgeliefert, die im wirtschaftlichen und politischen Interesse sowie zum Schutze der DDR geheim zu halten sind. Bei Zusammenkünften im westlichen Ausland, die unter Ausnutzung einer Dienstreise durchgeführt wurden, und in  – an eine Westberliner Deckadresse des amerikanischen Geheimdienstes gesandten – geheimschriftlichen und teilweise verschlüsselten Briefen verriet er Tatsachen über den Stand der Herstellung neuer topografischer Karten, die Zusammenarbeit der Länder des RGW auf dem Gebiet des Vermessungswesens, die Reise einer Delegation des Ministeriums für Bauwesen nach Sansibar, die Exportbeziehungen des volkswirtschaftlich wichtigen VEB Carl Zeiss Jena in kapitalistische Länder sowie die Volksrepublik China und charakterisierte eine größere Anzahl Wissenschaftler und Ingenieure aus der DDR. Darüber hinaus berichtete er über Meinungen der Bevölkerung der DDR zu nationalen und internationalen politischen Ereignissen.«63 Das Hauptverfahren wurde per Beschluss des 2. Strafsenates des Militär-Obergerichtes Berlin vom 2. November 1966 eröffnet. Die Verurteilung erfolgte am 21. November. Die Hauptverhandlung tagte insgesamt vier Mal. Koitzsch wurde zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Eingezogen wurden: Auto, zehn Mikrofilme, ein Blatt präpariertes Papier, vier westdeutsche Fachzeitschriften, ein Schülermikroskop und eine handschriftliche Abschrift eines Mikrates sowie ein Zettel mit der Deckadresse. Sein Rechtsanwalt hatte eine Reihe von substanziellen Einwänden geltend gemacht, etwa was die topografischen Karten anlangte, die Koitzsch den Amerikanern zuspielte. Die waren veraltet und bereits veröffentlicht gewesen. Das Gericht würdigte diesen und andere Einwände teilweise, vertrat aber den Standpunkt, dass der Angeklagte subjektiv und objektiv Spionage betrieben habe und die von ihm begangenen Verbrechen »im hohen Grade gesellschaftsgefährlich« gewesen seien. Das Gericht wertete strafmildernd, dass der Angeklagte von sich aus die Spionage eingestellt und »besonders aktive gesellschaftliche Arbeit geleistet« habe sowie sofort geständig gewesen sei. Trotz der Abwägung folgte das Gericht dem Antrag der Militärstaatsanwaltschaft auf sieben Jahre Zuchthaus: »Aufgrund der Schwere des Verbrechens und im Interesse des Schutzes des Staates und der Gesellschaft 62  Schlussbericht vom 6.9.1966; ebd., Bl. 356–368, hier 365. 63  Militärstaatsanwaltschaft der DDR, Abt. I A, vom 18.10.1966: Anklageschrift; ebd., Bl. 371– 382, hier 372, 374 u. 382.

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wurde auf eine harte und wirksame Strafe erkannt, die vor allem auch repressiven Charakter« tragen müsse.64 Überführt wurde auch Herbert Henniger, 1911 geboren in Apia auf Samoa (siehe S. 472). Das MfS übergab Hanisch alias IM »Rüdiger« Auszüge aus dessen Akte, damit er sich in die Handlungs- und Denkweise von Spionen versetzen könne zur Entlarvung Hartmanns. Henniger war u. a. Leiter der Forschungs- und Entwicklungsstelle und Technischer Direktor im VEB Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik (WBN) in Teltow. In diesem Fall wurde seine Agententätigkeit zunächst klassisch konstruiert, und zwar denkbar einfach und stereotyp: Henniger hatte Verbindung zu einem Vorstandsmitglied der Steatit-Magnesia-AG (Stemag) in der Bundesrepublik. Die Stemag war eine 100-prozentige Tochtergesellschaft des AEG-Konzerns. Es waren dies oft jene Anfangspunkte, die zu Ermittlungen auf Spionage führten. In seinem Fall beschleunigte und veränderte sein Fluchtversuch die Ermittlungen. Henniger beabsichtigte im April 1964 über Ungarn nach Jugoslawien zu fliehen. Dies misslang, er wurde in Ungarn verhaftet.65 Ein Gesamtszenario, das auf Hartmann übertragen, nicht als weltfremd zu bezeichnen ist. Auch Henniger war von 1946 bis 1952 in der Sowjetunion als sogenannter Spezialist in einem Forschungsinstitut bei Moskau tätig. Im Unterschied zu Hartmann arbeitete er jedoch ab Dezember 1962 als IM und als solcher zufriedenstellend, wenngleich ihm attestiert wurde, zum MfS »noch kein festes Vertrauen« besessen zu haben.66 Seine Aussagen belasteten eine Reihe von namhaften Elektronikern der DDR. Sie erst gaben den Stoff zur Eröffnung des groß angelegten ZOV »Widerstand« und damit die politisch-operative Arbeit gegen nahezu zwei Dutzend Wissenschaftlern, unter ihnen Walter Heinze (TH Ilmenau), Karl Krahl (VEB Keramische Werke Hermsdorf) und Matthias Falter (WBN Teltow).67 Hanischs analytische Tätigkeit und der Fall Tag Hanisch analysierte die angebliche Spionagetätigkeit von Siegfried Hildebrand und Gerhard Schnabel nach der komparatistischen Methode anhand der Aussagen des überführten Spions Helmut Tag vom 18. Dezember 1964. Hierfür übergab ihm das MfS auszugsweise Verhörprotokolle aus der AOP 11771/87 (72 Bände). Tag soll nach Hanischs Auf‌fassung »seit mindestens 1956 den konkreten Auftrag« besessen haben, »latente, indifferente oder der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR ablehnend gegenüberstehende Personen (insbesondere Wissenschaftler und 64  Militär-Obergericht Berlin, 2. Strafsenat, vom 21.11.1966: Verurteilung; ebd., Bl. 386–400. 65  Vgl. HA XVIII/2/3 vom 18.4.1964: Verdacht der Republikflucht; BStU, MfS, AOP 1902/67, TV 1, Bd. 1, Bl. 24 sowie HA XVIII/2/3 vom 23.4.1964: Zur Person; ebd., Bl. 25–29. 66  BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 28.4.1964: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 31–29. 67  Vgl. HA IX/3 vom 1.6.1964: Aussagen über leitende ökonomische, technische und politische Kader der elektronischen Industrie der DDR; ebd., Bl. 269–286.

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Ingenieure)  zu testen, herauszufordern und nach Kontaktaufnahme die Voraussetzungen für eine eventuelle Anwerbung oder für eine gezielte Einwirkung zu erkunden«. Seine Grundthese hierfür sei gewesen, »dass die Wirtschaft der DDR und das ganze System nicht lebensfähig« seien. Hanisch hielt es für beachtenswert, dass diese These auch Hildebrand in den »Chefrunden« vertreten habe (siehe unten). Tag soll dem amerikanischen Geheimdienst Personen genannt haben, die sich, Gruppen bildend, gleichsam vom sozialistischen Leben abschirmten und auf diese Weise einen passiven Widerstand lebten. »Der Widerstand, der von diesen Gruppen« ausgehe, soll laut Tag darin bestanden haben, »dass von der ideologischen Position der Personen dieser Gruppierungen ausgehend eine Ausstrahlung auf ihr berufliches Leben (!) und die Erziehung ihrer Kinder« erfolgte. Bei diesen Gruppierungen handele es sich laut Tag »um Inseln […], die in ihrer Passivität gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR geeignet sind, in Richtung der Angliederung der DDR an Westdeutschland einen gewissen Beitrag zu leisten«. Solche Inseln war Tag angeblich beauftragt, ausfindig zu machen. Der empirische Befund hierzu war dürftig – und in der »Verlängerung« durch Hanisch gar abstrus: Hatte Tag Gruppierungen ausfindig gemacht, die ihre Wurzeln in Tanzclubs hatten, »wofür z. B. ein Unkostenbeitrag von 7,50 Mark pro Person erhoben« worden sei, so entdeckte Hanisch in den Unterlagen zu Siegfried Hildebrand das »Tanzkränzchen Höckner«, für dessen Finanzierung Ende 1963 ein neuer Unkostenbeitrag festgelegt worden war, und zwar auch in Höhe von 7,50 Mark. Dies war Hanisch ein unterstreichungswürdiger Fakt.68 In der Vernehmung am 18. Dezember 1964 berichtete Tag von Kaffeekränzchen, die zu Geburtstagen und Familienfeiern stattfanden. Dass dies Tanzclubs gewesen seien, wie Hanisch behauptete, ist den Worten Tags jedoch so nicht zu entnehmen. Auch hatte Tag angegeben, niemals zugegen gewesen zu sein, wollte aber gewusst haben, dass man sich bei diesen Gelegenheiten über politische Dinge unterhalten habe. Tatsächlich ist das Hanisch vorgelegene Vernehmungsprotokoll äußerst dünn in den Aussagen, darüber hinaus strahlt es große Naivität aus.69 Der in Auerbach geborene Helmut Tag war Agent des US-Geheimdienstes. Es liegen eindeutige, auch materielle Beweise sowie ausführliche Geständnisse vor. Tag war bis 1964 im VEB Infrarotanlagen Oranienburg als Entwicklungsleiter tätig. Er wurde am 28. Juli 1964 festgenommen. Er lieferte Spionageinformationen zu militärischen, politischen und wirtschaftlichen Fragen. Eine Überwerbung wurde nicht vorgenommen, da er »ein überzeugter Feind der DDR« gewesen sein soll. Der Umfang seiner Spionagetätigkeit war derart breit, dass eigens zur Evaluation dieser Tätigkeit eine Kommission des MfS, bestehend aus Mitarbeitern der Hauptabteilungen II, XVIII und IX, gebildet worden war. Parallel dazu wurde im Volkswirt-

68  »Rüdiger« vom 13.2.1980: Analyse und Objektivierung der Aussagen des Agenten Tag; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 11, Bl. 145–149, hier 145 f. 69  Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 18.12.1964; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 3, Bl. 156–174, hier 172.

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Abb. 43: Code zur Textverschlüsselung in der Spionage

schaftsrat eine Expertenkommission gebildet.70 Bei der Nachrichtenübermittlung handelte es sich in der Regel um Codes aus Dreier- oder Fünfer-Gruppen.71 Bis Juli 1964 hatte Tag »mindestens 96 Geheimnisträger angefertigt«, die an mehrere Deckadressen versandt worden sind. Er erhielt 67 Funksprüche, die er mit einem einseitigen Funkgerät empfing. Dies geschah »auf der Funklinie des amerikanischen Geheimdienstes CIA KF 35–14«. Die Empfangszeiten der Sendungen auf den 70  HA II/3 vom 24.5.1965: Auswertungsbericht; BStU, MfS, AOP 11771/87, Bd. 59, Bl. ­88–113, hier 88 f. u. 112. Haftbeschluss vom 29.7.1964; ebd., Bd. 1, Bl. 42. 71  Beispiel in: ebd., Bd. 67, Bl. 369.

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Frequenzen 3.3, 4.5 und 6.9 MHZ waren jeweils Dienstag und Donnerstag um 19.00 Uhr.72 Die Vernehmungen waren in der protokollierten Form äußerst höflich, stellenweise gar kooperativ.73 Auf diese Weise erhielt das MfS valide Kenntnisse über die Technik ausländischer Spionage. Allein die Inhaltsangabe des Gutachtens zeigt, dass dieses weniger ein deskriptives (wie in den Fällen Lauter und Hartmann), denn ein Fakten-katalogisiertes war. Den Gutachtern lagen Materialien und Gegenstände vor (im Bildteil abgelichtet): ein Batterie-Transistorempfänger Typ »Sharp«, ein Batterie-Kofferempfänger Typ Grundig »Standard Boy«, vier Blöcke mit Ziffernfünfergruppen (Chiffrier­material), 36 Blatt mit handschriftlichen Aufzeichnungen sowie 61 dechiffrierte Funk­sprüche.74 Der archivierte Gesamtbestand gehört mit 114  Bänden zu den umfangreichsten des BStU. Tatsächlich existierten auch intensive nachrichtendienstliche Verbindungen zu Siemens, die bis in die 1960er-Jahre reichten.75 Die Verurteilung erfolgte am 18. April 1966 zu »lebenslangem Zuchthaus«. Die Strafe wurde zwischenzeitlich durch Gnadenerlass Ulbrichts auf 15 Jahre reduziert. Der erfolgte am 5. September 1972. Tag erhielt Strafaussetzung auf Bewährung per Beschluss des Bezirksgerichtes am 19. September.76 Die Bewährungszeit lief zwei Jahre und endete am 15. November 1974. Real saß er sieben Jahre ab.77 Tag war lediglich ein Fall von insgesamt 75 Festnahmen unterschiedlicher Beweislage, jedoch allesamt infolge der Feststellung, »dass mehrere Personen aus der DDR mit Geheimschrift an Deckadressen des amerikanischen Geheimdienstes Informationen sandten. Der OV erhielt zunächst den Codenamen »Unbekannt«, später »Hauer«.78 Archiviert, das heißt schlussendlich bearbeitet, wurde er erst am 7. November 1987. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in dem OV 111 Personen mit Haft erfasst, lediglich zu drei Personen lag eine »Nichtstraftat« vor und zu weiteren acht Personen waren die Voraussetzungen für eine Strafverfolgung nicht gegeben.79

72  HA II/1B vom 22.7.1964: Vorführbericht; BStU, MfS, AU 7173/66, Bd. 1, Bl. 16–41, hier 35. 73  Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 20.7.1965, von 8.00–14.00 u. von 12.30–17.30 Uhr; ebd., Bd. 3, Bl. 324–339. 74  Vgl. MfS, Technische Untersuchungsstelle, vom 28.10.1965: Gutachten; ebd., Bd. 28, Bl. 1–27. 75  Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 20.7.1965; ebd., Bd. 3, Bl. 324–339. 76  Vgl. Bezirksgericht Potsdam vom 19.9.1972: Beschluss; ebd., Bd. 39, Bl. 7. Bezirksgericht Potsdam vom 15.11.1974: Beschluss; ebd., Bl. 2 u. 9. Urteilsverkündung und Begründung; ebd., Bl. 10–46. 77  Vgl. Verurteilung vom 18.4.1966; ebd., Bl. 10–46. 78 Vgl. HA II/1B vom 15.3.1960: Sachstandsbericht; BStU, MfS, AOP  11771/87, Bd. 1, Bl. ­231–233, hier 231. 79 Vgl. HA II/5 vom 7.11.1987: Beschluss über die Archivierung des OV; ebd., Bl. 470 f., hier 471. 73 Bde.

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Spionagefälle, die keine waren Gegen Siegfried Hildebrand ermittelte das MfS im OV »Club«, angelegt am 24. August 1965. Die Ermittlungszielrichtung zielte auf Spionage für den US-Geheim­ dienst. Er wurde mit drei weiteren Personen verdächtigt, einem illegalen Club anzugehören.80 Der Hinweis, er könnte Spion sein, kam von Tag, es war der Hinweis auf ein regelmäßiges Kaffeekränzchen.81 Das MfS war der Ansicht, dass Hildebrand und andere Wissenschaftler »einer Gruppierung« angehörten, »die bestrebt« sei, »die gesellschaftliche Vergangenheit fortbestehen zu lassen«. Die sozialistische Lebenswelt wollten sie von sich fernhalten und ein »Eigenleben« führen. Ihnen warf man passiven Widerstand und die Aufrechterhaltung der Westverbindungen vor.82 Ein Auskunftsbericht vom 1. November 1968 resümierte keinen Erkenntniszuwachs in der Ermittlungsrichtung »Spionage«, im Gegenteil, die Verdächtigten wurden entlastet. Eines der »Gruppenmitglieder« verstarb 1966. Dessen Ehefrau nahm daraufhin nicht mehr am Kaffeekränzchen teil. Blieben nur noch der Verdächtige und ein weiterer Wissenschaftler, die am Leben des Dresdener Klubs teilnahmen. In dem Bericht wird eingeräumt, dass es Hildebrands Verdienst war, »dass das Institut für Feingerätebau der TU Dresden zu den profiliertesten Einrichtungen in Europa« zähle. Tags Einschätzung treffe also »für die gegenwärtige Zeit nicht mehr zu«. Auch der andere Wissenschaftler, gegen den ermittelt wurde, galt als »ausgezeichneter Fachmann«. Das MfS hob hervor, dass Tag seine Kenntnisse indirekt bezogen habe.83 Dennoch nahmen zwei MfS-Offiziere Kontakt zu Hildebrand auf. Das Gespräch fand in dessen Arbeitszimmer statt. Der sagte ihnen geradeheraus, dass es das Beste sei, nichts mit den Sicherheitsorganen zu tun zu bekommen. Das Gerede des MfS von der Gefahr der Abschöpfung quittierte Hildebrand mit der Zusicherung, dem Geheimnisschutz Beachtung schenken zu wollen. Der OV wurde am 9. Dezember 1968 eingestellt.84 Ein analoger OV, »Automat II«, wurde am 10. April 1973 angelegt, und zwar in der Ermittlungsrichtung des Paragrafen 107 StGB (Staatsfeindliche Gruppenbildung) gegen den sogenannten Siebenerkreis um Hildebrand. Der Kreis habe sich zum Ziel gesetzt, so das MfS, »die Arbeit der Partei und die Entwicklung der Sektion zu hemmen, sowie die Studenten nicht im Sinne des Sozialismus zu erziehen«.85 Zunächst wolle man prüfen, »welche Möglichkeiten der Feindtätigkeit« die Gruppe an der TU Dresden überhaupt habe, also: »Wirkung auf die Studentenschaft, Verwendung alter Lektionen, Bearbeitung von Forschungsthemen für die Industrie 80  Vgl. BV Dresden, Abt. XX/6, vom 24.8.1965: Beschluss zum Anlegen einer VAO; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 195/69; Bd. 1, Bl. 3 f. 81  Vgl. BV Dresden, Abt. II/3, vom 21.7.1965: Aussagen eines Spions; ebd., Bl. 10–14. 82  BV Dresden, Abt. XX/6, vom 28.7.1966: Sachstandsbericht; ebd., Bl. 17–19. 83  BV Dresden, Abt. XX/3, vom 1.11.1968: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 193–195. 84  Vgl. BV Dresden, Abt. XX/3, vom 9.12.1968: Beschluss; ebd., Bd. 2, Bl. 172 f. 85  BV Dresden, Abt. XX / T U, vom 10.4.1973: Beschluss zum Anlegen eines OV; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4959/81; Bd. 1, Bl. 11 f., hier 12.

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usw.« Die ergebnisorientierten Beratungen des MfS, namentlich der Abteilungen IX und XX der BV Dresden, erfolgten wöchentlich.86 Der OV ist ein Beispiel für die absurde Praxis des MfS, einen nachweislich verdienstvollen Wissenschaftler, Hildebrand, noch nach seiner Karriere ins Gefängnis bringen zu wollen. Das gesamte Material ist darüber hinaus ein Paradebeispiel für die selbstredundante Sammelwut des MfS. Da nichts war, was faktisch belasten konnte, sammelte man eben alles, auch die Liste aller in der Sektionsbibliothek vorhandenen wissenschaftlichen Zeitschriften (76 Positionen), die ihn irgendwie betrafen. Aber was sollten die Titel aussagen? Oder die Zahl jener Zeitschriften, die ab 1976 auf Mikrofiches Hildebrand und anderen zur Verfügung standen?87 Hanisch besaß ein Gespür für Verbindungen. Er konstruierte selbst da welche, wo keine waren. Er webte gleichsam Teppiche mit einer erstaunlichen Verflechtungskunst: Der völlig zu Unrecht verurteilte Physiker Bernd Maxal*, »Spezialist für die Schablonenherstellung mithilfe der Elektronenstrahltechnik in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden«, soll, davon zeigte er sich überzeugt, »langjährig als Spion und Saboteur im Auftrage des westdeutschen BND und imperialistischer Konzerne« gearbeitet haben. Er soll »Forschungsergebnisse und Entwicklungstrends, internationale Kooperationsbeziehungen und Importbeziehungen der DDR« verraten und damit »Entwicklungsverzögerungen« begünstigt haben. »Als sein Verbindungsmann zum BND und zu Industrieeinrichtungen der BRD«, so Hanisch, »fungierte der ehemalige Angestellte des AEG-Konzerns, Professor Bernhard Kockel, der ständigen Kontakt zu seinem ehemaligen Vorgesetzten bei AEG, dem Leiter der Süddeutschen Laboratorien Mosbach und Herausgeber der Physikalischen Blätter, Professor Brüche, unterhielt.« Mit Ernst Brüche konstruierte Hanisch einen kommunikativen Knotenpunkt, der ihm geeignet schien, verdächtige Personen in das Spinnennetz seiner Verdachtskonstruktion zu implantieren. Brüche sei ein Revanchist, der »ständig publizistisch gegen die DDR« tätig werde. »Seine publizistische und herausgeberische Tätigkeit und seine Funktion als Leiter physikalischer Laboratorien benutzte er zur Anknüpfung und Aufrechterhaltung von Kontakten zu DDR-Wissen­schaftlern. Die Einschleusung von Maxal* in die AMD und die Lancierung in eine für seine verbrecherische Tätigkeit äußerst günstige Funktion erfolgte unter Ausnutzung persönlicher Kontakte von Professor Kockel zum ehemaligen Leiter der AMD, Professor Hartmann.« Ferner: »Hinsichtlich der Angriffsrichtung, der verbrecherischen Handlungen und der dahinterstehenden Konzerninteressen der AEG stellt der Fall Maxal* eine enge Parallele zum Fall Henniger dar.« Doch das genügte Hanisch nicht, er griff weiter aus: »Eine weitere markante Parallele bildet dabei die Tatsache, dass sowohl Professor Kockel als auch Dr. Henniger engste Kontakte zu Professor Rompe unterhielten. Die entscheidenden 86  BV Dresden, Abt. XVIII/4 u. XVIII/1, vom 13.4.1973: Beratung zum OV »Automat«; ebd., Bl. 60 f. 87  Vgl. BV Dresden (o. D.): Information zur Verfahrensweise in der Bibliothek sowie Informations- und Dokumentationsstelle der Sektion 10, mit Anlage; ebd., Bd. 6, Bl. 48–52, hier 50–52.

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Gutachten für Professor Kockel, die seine Stellung in der DDR aufbauten und festigten, wurden von Professor Rompe angefertigt und Professor Rompe ermöglichte Kockel auch seine offiziellen BRD-Kontakte in Form eines ›Studienaufenthaltes‹ in der BRD und der anschließenden Gastprofessur in Gießen.«88 Das Abenteuer seines Konstruktivismus steigerte sich oft ins Groteske; Hanisch: »In der Vorbereitungsphase der Entwicklungsaufnahme auf dem Gebiet der Mikroelektronik in der DDR, die zeitlich unmittelbar mit dem von Professor Brüche in Mosbach organisierten ›intimen Treffen gleichgestimmter Physiker aus Mitteldeutschland und der BRD‹ im April 1960 zusammenfiel, wurde im Ergebnis einer Beratung in der Staatlichen Plankommission vom 18. Oktober 1960 zu Problemen der Mikromodultechnik und Molekularelektronik die Bildung einer Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der nächsten notwendigen Schritte vorgeschlagen. Auf dieser Beratung drängte Rompe auf sofortige namentliche Benennung der Mitglieder dieser Kommission und schlug seinerseits Henniger und [E] (beide vormals bzw. als Agent AEG-Kontakt!) vor. Im Ergebnis dieses Vorschlages von Rompe arbeiteten in der Folgezeit Hartmann und Henniger in einer Kommission des Forschungsrates zusammen!« Und weiter: »Aufschlussreich ist weiterhin die Tatsache, dass Rompe kurz vor dem genannten Physikertreffen bei Brüche in Mosbach Hartmann die Entwicklung der Mikroelektronik antrug und Hartmann kurz nach diesem Treffen Rompe seine Zustimmung dazu gab. An diesem Treffen in Mosbach hatten u. a. Kockel, Recknagel (ebenfalls vormals AEG) und Bethge, die alle mit Hartmann in enger Verbindung standen, teilgenommen! Es bestanden auch enge persönliche Kontakte von Hartmann zu Brüche direkt.« Und er lieferte den Schuldspruch gleich mit: »In der Phase harter Kritik an der den Entwicklungsbeginn ständig verschleppenden Arbeit von Hartmann seitens des Büros für Industrie und Bauwesen des ZK der SED im Jahre 1964 war es wieder Rompe, der durch Benennung einer völlig ungeeigneten Kommission (Heinze / A EG!, [F]/Freund von Hartmann  – später RF [Republikflucht]! – und Reichel / bei Hartmann promoviert) zur ›Überprüfung der Tätigkeit der AMD‹, die dann tatsächlich auch niemals wirksam wurde, jegliche Konsequenzen von Hartmann abwandte und dadurch Hartmann seine weitere schädigende Tätigkeit ermöglichte.«89 Hanisch zusammenfassend: »Diese hier nur beispielhaft dargestellten Fakten [sic!] weisen auf ein umfangreiches System gezielter feindlicher Arbeit gegen die Mikroelektronik von ihrer Gründung an hin. Das tiefe Wissen von Professor Hartmann um diese Zusammenhänge und die ihm bewusst dabei übertragene Aufgabe, eine möglichst große Anfangsverzögerung zu erzielen, kommt in seiner handschriftlichen Aufzeichnung über ein Gespräch mit Dr. Apel vom 30. September 1964 in der Phase härtester Kritik an seiner Arbeit deutlich zum Ausdruck. Als er befürchten musste, 88  »Rüdiger« vom 15.10.1977: Erkennbare Gemeinsamkeiten und gleiche Angriffsrichtungen in mehreren Strafverfahren und im Wirken von Personen im Bereich E / E ; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 9, Bl. 19–22, hier 19. 89  Ebd., Bl. 21 f.

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dass seine schädigende Tätigkeit durch Untersuchungen des ZK der SED aufgedeckt wird, äußerte er gegenüber Dr. Apel die Worte: ›Bis heute decke ich alles‹ (!) und erwirkte damit die restlose Niederschlagung aller Untersuchungen gegen ihn durch Dr. Apel und seine öffentliche Rehabilitierung!«90 Im Bericht Hanischs vom 16. November 1977 geht es primär um Maxals* angebliche Spionage und Sabotage. Maxal* sei »Ende 1965 von dem mit dem Bundesnachrichtendienst in Verbindung stehenden Professor Kockel [unbewiesene Behauptung – d. Verf.], der 1961 die DDR illegal verlassen hatte, zur Durch­führung von Sabotage- und Spionagehandlungen angeworben worden, nachdem er von ihm unter Nutzung seiner persönlichen Verbindungen zum ehemaligen Leiter des Instituts, Professor Hartmann, bereits 1963 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in dieses Entwicklungsinstitut für die Mikroelektronik lanciert worden war. Kurz vor der erfolgreichen Anwerbung durch Kockel wurde Maxal* in Abwesenheit von Professor Hartmann in die für die Entwicklung der Mikroelektronik strategisch äußerst wichtige und für Sabotage- und Spionagehandlungen ausgezeichnet geeignete Arbeitsgruppe ›Elektronenstrahltechnik‹ umgesetzt. […] Nach Abberufung von Professor Hartmann und öffentlicher Auswertung des Prozesses [gegen Hartwig*] im Institut reduzierte Maxal* aus Furcht vor Entdeckung in Abstimmung mit Kockel seine feindliche Tätigkeit auf Spionagehandlungen.«91 Ähnliche Fälle, so Hanisch, bildeten Alfred Recknagel und Heinz Bethge. Sie hätten wie Kockel 1960 an dem von Brüche organisierten »intimen Treffen gleichgesinnter Physiker aus Mitteldeutschland und der BRD« in Mosbach teilgenommen. Recknagel sei »Mitarbeiter von Brüche und Kollege von Kockel im AEG-Forschungsinstitut Berlin« gewesen. Hanisch nannte noch einen weiteren, ähnlich gelagerten »Fall«, um dann wieder ins Zentrum seiner Verschwörungstheorie zu stoßen: »Eine ganz entscheidende Rolle beim Aufbau von Kockel und bei der Deckung der schlechten Arbeit von Hartmann spielte nachweislich Professor Rompe als Mitglied des Forschungsrates der DDR. Besonders kritisch zu bewerten ist die Tatsache, dass diese Personen – insbesondere Universitätsprofessoren – sich Assistenten gleicher Gesinnung auswählen und dann in Schlüsselpositionen an Universitäten und der Industrie lancieren und damit die Potenzen der alten, noch direkt konzernverbundenen Kräfte vervielfachen und konservieren.« Als Beispiel führte Hanisch den Siebenerkreis »mit seiner ausgeprägten feindlichen Zielstellung« an, »aus dem eine ganze Reihe junger Professoren […] hervorgegangen« sei. Im unmittelbaren Zusammenhang mit Kockel seien bislang »etwa 50 derartige Personen namhaft gemacht« worden, »die fast alle dienstliche oder sogar zum Teil familiäre Bindungen zu den Konzernen AEG und Siemens hatten oder haben und in der Mehrzahl gleichzeitig enge Kontakte zu Professor Hartmann« unterhielten. »Bereits nach ersten, noch unvollständigen Analysen ist im Zusammenwirken dieser Personen ein gut organi-

90  Ebd., Bl. 20. 91  Hanisch vom 16.11.1977: Ergebnisse der Untersuchungen; ebd., Bl. 144–147, hier 144 f.

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siertes System gegen die Entwicklung von Wissenschaft und Wirtschaft der DDR arbeitender Kräfte zu erkennen.«92 Sabotage Der Konstruktivismus des MfS, Schwierigkeiten, Versagen und Mängel konsequent zu subjektivieren, also den Akteuren anzulasten und sie der bewussten Sabotage zu verdächtigen, ist Tatsache. Ihr verdanken wir einem profunden Aktenfundus, der uns nicht nur in die Lage versetzt, die staatlich gefilterten, also faktisch zensierten Überlieferungen infrage zu stellen, sie gleichsam zu dekonstruieren, sondern darüber hinaus auch unter soziologischen und anderen Gesichtspunkten wissenschaftlich zu erforschen. Als Beispiel mag der operative Überprüfungsvorgang (ÜV) zu Horst Gumprecht dienen, dem als Leiter der Planungsabteilung für den Investbereich des Akademiestandortes Adlershof die Verantwortung für das desaströse Investgeschehen zur Last gelegt worden war. Das Interessante an dem Fall ist, dass der ÜV nicht nur die objektive Lage wiederzugeben in der Lage ist, sondern auf dieser gleichsam materialen Ebene zeigt, wie verflochten die Akteure unterschiedlicher Tätigkeit und Profession des Untersuchungsgegenstandes miteinander in der DDR waren. Gumprechts Verbindungen glichen einem Who ist who in der Wissenschaftslandschaft der DDR. Gleich in der Eröffnungsformalie des MfS, dem Beschluss für das Anlegen eines Überprüfungsvorganges vom 29. März 1960, ist vermerkt worden, dass Gumprecht »Anhänger und Vertrauter« von Fritz Behrens und Arne Benary« sei und »in ihre Pläne eingeweiht« sei.93 Allein dieser »Verdacht« war höchst gefährlich. Gumprecht wurde 1922 in Leipzig geboren und studierte dort von 1947 bis 1951 Wirtschaftswissenschaften. Von 1951 bis 1954 sehen wir ihn in der SPK u. a. als Hauptreferenten und Gruppenleiter.94 Am 13. Januar 1960 bekam die zuständige Diensteinheit des MfS heraus, dass Behrens und Gumprecht sogar eng miteinander befreundet seien. So gehörten beide im Freizeitbereich der Sektion Segeln an. Gumprecht war ein lebenskluger Mensch mit einem eher bürgerlichen Lebensstil. In seiner Tätigkeit in der SPK lernte er u. a. den früheren Referenten Bruno Leuschners kennen, der flüchtete. Gumprecht soll einmal mit Bezug auf Benary und Behrends geäußert haben, dass einmal nicht viel gefehlt habe, und sie »hätten alle im Zuchthaus gesessen«.95 Wesentliche Bedeutung zur Einleitung des operativen Überprüfungsvorganges besaß ein Bericht des GI »Architekt« vom 3. Februar, der 92  Ebd., Bl. 146 f. 93  Abt. VI/4 vom 29.3.1960: Beschluss für das Anlegen eines ÜV; BStU, MfS, AOP 613/61; Bd. 1, Bl. 10 f., hier 10. Zu den beiden ökonomischen Denkern siehe: Draheim, Hans-Georg: Fritz Behrens und Arne Benary als kritische Vordenker einer sozialistischen Wirtschaftstheorie, in: UTOPIE kreativ (2002)144, S. 920–932. 94  Vgl. Abschrift vom Personalbogen vom 15.10.1954; BStU, MfS, AOP 613/61; Bd. 1, Bl. 138 f.; Lebenslauf; ebd., Bl. 140 f. 95  Abt. V an VI vom 13.1.1960: Mitteilung; ebd., Bl. 19. Informationsbasis hierzu; ebd., Bl. 20 f.

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davon sprach, dass die Arbeit der Planungsabteilung so schlecht sei, weil sie von Horst Gumprecht geleitet werde, der keinen Perspektivplan erstellt habe.96 In der Folge verdichtete das MfS seine Erkenntnisse.97 Hierzu zählten Vernehmungen, inoffizielle und offizielle Berichte, aber auch Meinungen. Im Februar erfuhr das MfS, dass Peter Adolf Thiessen gegenüber Hermann Grosse umfassende Kritik zum Investgeschehen geäußert habe und bei Ulbricht vorstellig werden wolle.98 Am 1. März fasste das MfS zur Lage auf dem Gebiet des Investgeschehens ein erstes Fazit: »Es kann festgestellt werden, dass es genügend Anzeichen einer unverantwortlichen und gesetzwidrigen Arbeit im Baugeschehen der Forschungsgemeinschaft [der Akademie der Wissenschaften] gibt und dass die weitere Bearbeitung zweckmäßig ist.«99 Ein entsprechender Maßnahmeplan zur unmittelbaren operativen Bearbeitung ­Gumprechts folgte noch mit selben Datum. Hierzu zählten die obligatorischen Maßnahmen »A« (Abhören des Telefonverkehrs) und »B« (Abhören mit Mikrofon)«.100 Ferner wurden die Beziehungen zu Behrens und Benary unter die Lupe genommen. In der Sache verliefen die Ermittlungen ins Leere. Dass er das Gegenteil eines Saboteurs war, haben wir oben gesehen (Kap. 3.4.1). Die Gutachten: Mittel zum Beweis von Sabotage Gutachten spielten im Allgemeinen bei Abschlüssen Operativer Vorgänge (OV) eine eher seltene Rolle. Dies gilt nicht für jene OV, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen. Das ist kein Zufall, denn das MfS benötigte in diesen Fällen konstruierte Urteile aus Mangel an Beweisen hinsichtlich des Sabotage- und ggf. Spionagevorwurfs. Zur Problematik der Gutachten liegen bislang wenige Publika­ tionen vor. Hervorzuheben sind ein grundsätzlicher Anriss des Literaturwissenschaftlers Hans Joachim Schädlich mit dem Titel »Sachverständigen-IM«,101 eine Gutachten-Analyse des Mathematikers Gerhard Cromme, die thematisch zur Untersuchung zählt (Fall Schnabel), sowie ein Beitrag des Philosophen Guntolf Herzberg, dessen Ausführungen zur Gutachtenproblematik im Falle Rudolf Bahros den Blick zum Prinzipiellen hin weitet und für die vorliegende Untersuchung von verifizierender Bedeutung ist (zu beiden Aufsätzen siehe unten). Zur Ergänzung dieser und der folgenden Darlegungen, die allesamt mit den Fachleistungen der Delinquenten zu tun haben, soll zunächst der Blick auf ein Fallbeispiel aus dem Reich der Spionage geworfen werden. 96  Abt. VI/4 vom 4.2.1960: Bericht zum Treffen mit »Architekt«; ebd., Bl. 28–30, hier 28. 97  Beispiel: Abt. VI/4 vom 13.2.1960: Bericht mit einer Kontaktperson; ebd., Bl. 35–37. 98  Vgl. Bausituation in der Forschungsgemeinschaft der DAW, Abschrift vom 28.2.1960; ebd., Bl. 64 f. 99  Geschäftsverteilungsplan für das WS der DAW vom 16.2.1959; ebd., Bl. 85–92, hier 92. 100  Abt. VI/4 vom 16.3.1960: Vorschlag zu den Maßnahmen »A« und »B«; ebd., Bl. 109 f. 101  Schädlich, Hans Joachim: Der andere Blick. Aufsätze, Reden, Gespräche. Hamburg 2005, S. 66–70.

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Noch einmal: Der Fall Tag In diesem Spionagefall war das Gutachten »gegen« Tag nicht zwingend notwendig gewesen. Dennoch wollte man wissen, ob sich auch Hinweise auf Sabotage »erarbeiten« ließen. Hierzu setzte das MfS eine »Expertenkommission« ein, die »über die Geschäftstätigkeit der Zentralen Infrarot-Entwicklungsabteilung (ZEA) Berlin von 1951 bis 1964« zu befinden hatte. Die analytische Tätigkeit der Kommission erfolgte auf der Basis von »sichergestellten Dokumentationen«. In der Kommission wurden sechs Gutachter aus sechs Institutionen wie der Akademie der Wissenschaften und dem Ministerium für Elektrotechnik / Elektronik berufen. Sie besaßen alle eine wissenschaftlich-technische Ausbildung als Ingenieure oder Diplomingenieure. Das Gutachten umfasst 82 Seiten, davon stellen 73 Seiten eine reine Facharbeit über physikalische, betriebs- und volkswirtschaftliche Daten dar. Insgesamt sind sie valide ermittelt und weitestgehend frei von inkriminierten Negativa seitens Tags, wie wir sie im Falle der unten betrachteten Gutachten festzustellen haben. Allein die Schlussfolgerungen der Gutachtergruppe zu Tag sind hinsichtlich der Summe der Erscheinungen zu jenen recht ähnlich. Sie passen somit nicht widerspruchsfrei zu den vorangegangenen 73 Seiten, da sie Behauptungscharakter besitzen. Demnach habe (1)  die Infrarot-Abteilung »ihre Arbeit spontan nach eigenem Gutdünken durchgeführt«, (2) erfolgten die Entwicklungsarbeiten »nicht nach einer systema­ tischen Analyse der volkswirtschaftlichen Schwerpunkte«, (3) sei die »Entwicklung und Produktion von infrarottechnischen Anlagen in der DDR« »zu einseitig auf die Anwendung der Elektroenergie orientiert gewesen«. Alle übrigen zehn Vorwürfe wiesen den gleichen »weichen« Charakter auf.102 Das MfS konstruierte in diesem Fall keine Sabotage, sondern schloss die Expertise mit einer Art Mängelliste ab. Der Fall Hartmann Die Anleitung Hanischs erfolgte durch die HA XVIII/8 unter Offizier Gesang sowie in Zusammenarbeit mit der Abteilung XVIII der BV Dresden unter Offizier Seiler. Seine Gruppe hatte bereits die angebliche Sabotage Hartwigs* »nachgewiesen«. Vier Gutachter aus dem MEE, der SPK und der VVB BuV standen ihm zur Seite. Die Verantwortung über alle oblag Gesang.103 Hanischs Ehefrau wurde am 6. Februar 1974 vom MfS zur inoffiziellen Mitarbeit mit dem Ziel verpflichtet, die Fach-Gutachten zu schreiben. Sowohl die Bezahlung als auch die Verrechnung erfolgte auf »Basis eines Heimarbeitsvertrages mit der AMD«.104 Die Aufgabe war explizit vor102  Gutachten vom 24.2.1966; BStU, MfS, AOP 7173/66, Bd. 38, Bl. 1–82, hier 3–9. 103  HA XVIII/8/3 vom 27.12.1973: Konzeption für die Untersuchung vorliegender Verdachtsgründe einer Sabotagetätigkeit; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 137–146, hier 145 f. 104  BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 6.2.1974; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 25.

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gegeben: »Die operative Arbeit am OV ist so zu gestalten, dass ein Abschlussbericht zu [Hartmann] vorgelegt wird, der eine Nachweisführung der Sabotagetätigkeit beinhaltet. Dieser Bericht mit den dazugehörigen Beweismitteln ist der HA IX und der BV Dresden, Abt. IX, zur Einschätzung zu übergeben. Termin für den 1. Bericht: 30. März 1974«.105 Es ist festzuhalten, dass die »Versuchsanordnung« zur Prüfung auf Sabotage im Falle Hartmanns das Ergebnis eindeutig vorwegnahm, sie ließ kein anderes Ergebnis als den Schuldspruch zu. Es bestand im MfS keinesfalls die Absicht, auf Wahrheit und Richtigkeit zu prüfen. Es ist, wie wir oben sahen, überdies explizit behauptet worden, »dass vonseiten der staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe alle Voraussetzungen geschaffen wurden, damit die volkswirtschaftlich bedeutsame Aufgabe – Entwicklung und Produktion von [Festkörperschaltkreisen] FKS – zu den vorgesehenen Terminen erfüllt werden konnte«. Ein Vorgabenpapier bezichtigte Hartmann des »schuldhaften Handelns« dergestalt, dass er die ursprüngliche staatliche Orientierung von 1964 missachtete, wonach die AMD ein Jahr später labormäßig FKS zu fertigen hatte und bereits »1968 unter Produktionsbedingungen« produzieren sollte.106 Das geschah erst 1971 und vergessen blieb, was er 1965 zu Wolfram Zahn gesagt hatte, nämlich: »jetzt habe ich auch keine« Lösungen mehr, wenn wir die Geräte nicht geliefert bekommen. Zur Erinnerung: Der Westimport einer Laborausrüstung war 1965 fehlgeschlagen.107 Im Gutachten heißt es zum technologischen Aufgabenkomplex, dass dieser »mit seinen sieben Teilaufgaben ausschließlich von der Arbeitsstelle zu realisieren« war. Es sollten »ab 1967 die ersten Labormuster hergestellt und 1969/70 die Produktion aufgenommen werden«. Für 1965 waren u. a. vorgegeben worden die »gezielte Diffusionsdotierung von Silizium unter Verwendung von Mikromasken« und die »Erprobung der Verfahren Aufdampfen, Verdampfen, Diffusion, Kontaktierung im Hochvakuumofen«.108 Hartmann hatte also richtigerweise zunächst die Aufgabe besessen, erst den Zyklus I zu realisieren, dann, möglichst verzahnt phasenverschoben, Zyklus II, also Vereinzelung der Wafer in Chips etc. Der Fachmann erkennt aus diesen Vorgaben und der adäquaten Realisationsabfolge, dass dies hinreichend korrekt von den Gutachtern wiedergegeben wurde. Auch begriff‌lich, wenn an entscheidenden Stellen etwa von Pilotproduktion und eben nicht von Massenproduktion die Rede ist. Doch die von den Gutachtern praktizierte Engführung auf den Zyklus II war falsch, sie diente der beabsichtigten Verurteilung. Diesen Willen des MfS zeigt der Sachstandsbericht vom 15. Mai 1974, wenn er den Zyklus II als »den entscheidenden Prozess zur Herstellung des Finalproduktes« FKS erklärte. Des Finalproduktes ja, aber nicht des Gesamtproduktes »FKS«! 105  Konzeption vom 27.12.1973; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 137–146, hier 146. 106  Ebd., Bl. 141 u. 143. 107  Schreiben von Hartmann an Weiz vom 28.7.1965; ebd., Bd. 17, Bl. 274 f. 108 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 31 f.

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Der Bericht zitiert Hartmann, wonach ein Beherrschen der Technologie »ohne jeden volkswirtschaftlichen Wert bleibt«, wenn der Zyklus I nicht beherrscht wird.109 Genau das ist richtig, Schritt B folgt auf Schritt A und nicht umgekehrt. Besonders offenkundig seien nach Einschätzung des MfS das »Versagen« und die »Sabotage« Hartmanns anhand des Zyklus II, Komplex »Gehäuse«, sichtbar geworden. Eingehend üben sich die Gutachter im Aufzeigen der technischen Problematik und Bedeutung des Komplexes »Gehäuse«. Sie erörtern Fragen der Auswahl des Gehäuses und seiner Entwicklung, die hierfür erforderlichen technologischen Entwicklungsschritte, des Einflusses auf die Qualität, Leistungsparameter und letztlich Ökonomie der Chips, aber auch Fragen der industriellen Passfähigkeit und Nutzerfreundlichkeit. Sie behaupteten, dass zum Zeitpunkt der Auftragserteilung, also am 23. Dezember 1961, die zu verwendenden Gehäuse international bekannt waren und »schnell und leicht zugänglich« gewesen sein sollen. Ein Märchen, auf das einzugehen sich verbietet. Zwar attestierte einer der Berichterstatter Hartmann den korrekten Arbeitsbeginn zum 2. Januar 1962, legte ihm aber gleichzeitig zur Last, den Beginn um 40 Monate verzögert zu haben. Ein Schreiben der VVB BuV vom 7. Juli 1965 an Hartmann, »eine technisch begründete Entscheidung« für flat packages (Flachgehäuse) zu treffen, damit der VEB Elektroglas Ilmenau (EGI) diese entwickeln könne, ließ Hartmann über den hierfür verantwortlichen Abteilungsleiter laufen, dessen Entscheidung er akzeptierte. Bis auf einen technischen Hinweis betreffs des Wärmewiderstandes des Gehäuses habe es keine technische Begründung für den Auftrag gegeben. Hartmann habe angeblich erst am 30. August 1965 den offiziellen Entwicklungsauftrag für EGI ausgelöst.110 Die Entscheidung Hartmanns, die Entwicklung »nicht so schnell« (Notiz T 115/68 vom 11. Dezember 1969) durchzuführen, war im Hinblick auf eine handwerklich gute Leistung in Ordnung, nicht aber in den Augen des MfS, da war dies Sabotage. Es behauptete ferner, dass er die Literaturerkenntnisse weitestgehend ignoriert habe und es daher zu Verzögerungen gekommen sei, und schlussfolgert: Mit dem Starttermin für eine objektiv mögliche Entwicklung vom 2. Januar 1962 und bei einer Entwicklungszeit von drei Jahren hätte das Produkt Anfang 1966 realisiert werden müssen und nicht erst Anfang 1974.111 Eine unglaubliche Behauptung. Der über zweihundert Seiten umfassende Untersuchungsbericht der Gutachtergruppe legte den Fokus auf den Zyklus  II, explizit und ausschließlich unter Punkt 4.2 und 4.3. Der Zyklus I wurde dagegen auf lediglich 14 Seiten abgehandelt (Punkt  4.7.1). Hartmann habe »durch seine nachfolgend im einzelnen belegten Handlungen permanent die Staatsdisziplin dadurch verletzt, dass er die Gesetz darstellenden Staatsplanaufgaben ausgehend von der generellen Zielstellung des Aufbaus der Labor-, Pilot- und Serienproduktion von Festkörperschaltkreisen in109  Vgl. BV  Dresden, Abt. XVIII/1, vom 15.5.1974: Sachstandsbericht zum OV »Molekül«; ebd., Bd. 2, Bl. 190–250, hier 225. 110  Ebd., Bl. 227–229. 111  Ebd., Bl. 232.

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haltlich und zeitlich nicht so untersetzt hat, dass in Übereinstimmung mit den in den einzelnen Jahren vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten (Räume, Kräfte und Mittel) diese Gesamtzielstellung planmäßig erreicht wurde.« In den Ausführungen zum Zyklus II sind Behauptungen über Versäumnisse angeführt, die Standardfrage jedoch, worauf diese Terminversäumnisse tatsächlich beruhten, wurde ausgeblendet. Ein typisches Beispiel für die Argumentationsweise der Gutachtergruppe: »Die vorhandenen Mitarbeiter der Abteilung T wurden in den ersten Jahren von Professor Hartmann nicht vorrangig für die Realisierung von Aufgaben des Zyklus II, sondern zweckentfremdet für Projektierungsarbeiten eingesetzt«. Ihm blieb ja nichts anderes übrig, da es ein Gebot der Stunde war, die gleitende Projektierung zu akzeptieren (siehe S. 438)! Die Gutachter argumentierten, als ob er trotz besseren Wissens bewusst falsch gehandelt habe, wenn sie ihn aus der Feingerätetechnik zitierten, »dass eine der dringendsten Fragen der Elektronik-Technologie in einer hochproduktiven, zuverlässigen und billigen Verbindungs- und Verpackungstechnologie erblickt werden« müsse. Sie suggerierten, dass es ihm bei adäquater »Anleitung, Kontrolle und Abrechnung« möglich gewesen wäre, »den objektiv möglichen und notwendigen Bearbeitungsbeginn« vom 2. Januar 1962 einzuhalten.112 Zum Zyklus I mit den dürftigen 14 Seiten: Die Gutachter räumten eingangs ein, nur »einen groben Soll-Ist-Vergleich« geben zu können. Danach sei auch auf diesem Gebiet die bereits »um [zwei] Jahre verschobene Zielstellung, im Jahre 1967 Labormuster von Festkörperschaltkreisen bereitzustellen, nicht erfüllt« worden. Bemerkenswert ist, dass die Gutachter, nachdem sie nahezu 150 Seiten über den Zyklus II geschrieben hatten, nun vorgeben, dass sie eigentlich keine Zeit hätten und der Zugang zu Unterlagen beschränkt sei, sich mit dem Zyklus I hinreichend intensiv beschäftigen zu können. Übertragen ausgedrückt: sie hatten Zeit und Quellen sich mit dem Zaumzeug, jedoch nicht, mit dem Pferd zu befassen; im Wortlaut: »im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit und unter den Randbedingungen der für diese Untersuchung beschränkten [sic!] Zugänglichkeit zu entsprechenden Dokumenten zu analysieren und zu bewerten«. Grund genug, um sich diesen Abschnitt genauer anzusehen. Es sei offensichtlich, schrieben sie, dass Hartmann für den Zyklus I »von Anfang an wesentlich mehr Entwicklungskapazität für den Zyklus I als für Zyklus II ansetzte«. Damit habe er »die später immer deutlicher sichtbar werdenden Disproportionen« bewusst herbeigeführt und zu verantworten. »Mit dieser zur ›Konzeption‹ erhobenen Desorganisation durchkreuzte Professor Hartmann als Leiter der AMD von Anfang an die zentralen staatlichen Aufgabenstellungen zur beschleunigten Entwicklung von Festkörperschaltkreisen bis zur Produktionsreife, indem er unter dem Vorwand der Schaffung ausgereifter anwendungsbereiter Technologien, die dann die Bauelemente als ›Abfallprodukte‹ liefern würden, die termingerechte Bereitstellung von FKS für die Volkswirtschaft der DDR hintertrieb.« Es handelt sich um pure fachliche Inkompetenz, wenn die Gutachter schrieben: »Während für die 112 Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission; ebd., Bd. 7, Bl. 1–218, hier 68, 70 u. 76.

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Bearbeitung der Probleme des Zyklus II von ihm nur die Struktureinheit T gebildet und beauftragt wurde, wurden für die Bearbeitung der Aufgaben des Zyklus I die sechs Gruppen / Abteilungen F (Schaltungsentwurf), D (Dotierung), C (Chemie), H (Aufdampf- und Maskierungstechnik [Maskentechnik], M (Physikalische Messtechnik), P (Elektrische Messtechnik) mit jeweils etwa gleichem Potenzial wie Gruppe / Abteilung T geschaffen.« Diese Struktur habe er bereits 1961 entworfen und ab 1962 mit Aufgaben untersetzt. »Ein applikativ vorausschauender Entwurf wurde dadurch von Professor Hartmann entsprechend seiner ›Abfalltheorie‹ bewusst verhindert.« Die Ausführungen in diesem Abschnitt entbehren jeglichem fachlichen Verständnis für diese Technologie. Dies drückt sich fatal auch darin aus, dass sie – vermutlich unbewusst – Richtiges einmischten, das bei genauerem Hinsehen Hartmann entlastet hätte; ein Beispiel: es sei allgemein bekannt, »dass die entscheidenden Faktoren eines guten ›Know-hows‹ nicht im Beherrschen von technologischen Einzelverfahren liegen, sondern durch die technologischen Details, ihrer Verknüpfung und ihrer Abstimmung aufeinander gegeben sind.«113 Es ist in dem Gutachten derart infam gelogen worden, dass Mikroelektroniker, hätten sie das Papier zu Gesicht bekommen, aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen wären. Der Fall Schnabel, OV »Entwicklung« Zu diesem Fall hat Gerhard Cromme aus der speziellen Perspektive der Validitätsprüfung der gegen Gerhard Schnabel vom MfS veranlassten Gutachten eine Analyse vorgelegt.114 Es sei bereits an dieser Stelle gesagt: Schnabel betrieb weder direkte noch indirekte Spionage oder Sabotage. Auch ist nicht erkennbar, dass die SED ein primäres Interesse daran gehabt hätte, ihn, ein SED-Mitglied, von seinen beruflichen Positionen zu entfernen. Der OV »Entwicklung« wurde am 25. Februar 1974 mit der Untersuchungsrichtung des Verdachts der Mitgliedschaft in einer staatsfeindlichen Gruppierung115 – des oben dargestellten Siebenerkreises – »qualifiziert« und am 15. Dezember 1981 mit der kruden Ergebniskonstruktion einer »Wiedergutmachung« nicht zuletzt auf Basis einer erpressten Bereitschaft zur IM-Tätigkeit abgeschlossen.116 Der archivalische Abschluss des Vorgangs datiert vom 18. Dezember 1981 und stellt lapidar fest, dass die Straftatbestandsmerkmale des Paragrafen 104 StGB »innerhalb des Tätigkeitsbereiches des Verdächtigten […] nicht in vollem Umfang nachgewiesen bzw. bewiesen werden« konnten. Damit habe eine »strafbare Relevanz nach Paragraf 107 StGB« nicht vorgelegen. Ablage und Vorgangsabschluss würden somit 113  Ebd., 179–181 u. 198. 114  Vgl. Cromme: Ideologiefreie Wissenschaft?, S. 1056–1061. 115  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 25.2.1974: Beschluss zum Anlegen des OV »Entwicklung«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 1, Bl. 4 f. 116  BV Dresden, Abt. XVIII/5, vom 15.12.1981: Abschlussbericht; ebd., Bd. 2, Bl. 166–168.

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»aus rechtspolitischen Erwägungen« erfolgen. Der Vorgang bestand aus 56 Bänden mit 14 183 Blatt.117 Der OV »Entwicklung« steht in einem anlassbezogenen Zusammenhang mit einem »Untersuchungsverlangen« der Dresdener Staatsanwaltschaft vom 6. November 1973. Grundlage des Untersuchungsverlangens war die seit 1972 bestehende Nichterfüllung des »einheitlichen Betriebsergebnisses«. Die Manipulationen bezogen sich vor allem auf Umdatierungen und Umdeklarationen von Finanztiteln im Bereich Forschung und Entwicklung. In dem Untersuchungsverlangen wurden Personen genannt, die in diesem Zusammenhang in Verantwortung oder in Beziehung standen.118 Schnabel war nicht darunter! Der Generaldirektor der VVB BuV hatte am 10. Juli 1974 eine Arbeitsgruppe zur Klärung der Vorwürfe und Fragen der Staatsanwaltschaft eingesetzt, darunter zwei Mitarbeiter der AMD. »Die personelle Zusammensetzung erfolgte bereits auf Vorschlag der BV Dresden, Abteilung XVIII.« Allein die Ermittlungsstrategie war fatal, da sie auf die Schaffung eines Sündenbockes hinauslief, denn das Untersuchungsverlangen der Staatsanwaltschaft hatte ja als Basis den Verdacht der buchhalterischen Manipulationen, und nicht das Versagen oder gar kriminelle Handeln eines leitenden Wissenschaftlers zum Gegenstand. Frech schrieb das MfS: »Der fiktive [sic!] durch den Generaldirektor bestätigte Arbeitsauftrag lautet: Durchführung von Untersuchungen im Industriezweig Bauelemente und Vakuumtechnik mit dem Ziel, Maßnahmen zur Erhöhung der Effektivität von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zur Deckung des Ausrüstungsbedarfes des Ministeriumsbereiches Elektrotechnik / Elektronik und Schlussfolgerungen für die Qualifizierung der Planung und Leitung der Forschungsund Entwicklungsprozesse im VEB Elektromat Dresden, auszuarbeiten.« Nichts hiervon erinnert an die Fragen, die im Untersuchungsverlangen der Dresdener Staatsanwaltschaft aufgeführt sind. Das MfS aber nahm diesen fiktiven Konspirationsmantel und hüllte darin seine originären Aufgaben ein: »Mit der Bildung der Arbeitsgruppe« werde »in Abstimmung mit der HA XVIII/8 seitens der BV Dresden folgende operative Zielsetzung verfolgt: (1.) Befriedigung des Untersuchungsverlangens des Bezirksstaatsanwaltes Dresden; (2.) Erarbeitung eines Gutachtens zur Sabotagetätigkeit des Verdächtigten des OV ›Entwicklung‹; (3.) Personifizierung der vorliegenden sachbezogenen Hinweise auf Manipulierungen zur Planerfüllung und Plangestaltung und Erarbeitung eines Gutachtens gemäß Paragraf 165/171 StGB; (4.) Herausarbeitung von Gesichtspunkten der Verbesserung der Führungs- und Leitungstätigkeit durch den Generaldirektor und den Werkleiter des VEB EMD; (5.) Aufbereitung aller über diese Untersuchungskomplexe hinausgehenden operativen und strafrechtlich relevanten Hinweise.«

117  BV Dresden, Abt. XVIII/5, vom 15.12.1981: Beschluss zur Archivierung; ebd., Bl. 169. 118  Staatsanwaltschaft des Bezirkes Dresden (Az: 2231–30a/73) an den Generaldirektor der VVB BuV vom 6.11.1973: Untersuchungsverlangen; ebd., Bd. 1, Bl. 27–32.

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Angeblich, so ist dem Text zu entnehmen, war dem Untersuchungsverlangen am 15. Januar 1975 nachgekommen worden. Die Punkte 2 bis 5 sollten aber weiter­ bearbeitet werden, dazu musste die legendierte Tätigkeit der Arbeitsgruppe zunächst bis zum 31. Dezember 1975 verlängert werden. Speziell ging es um die Weiterbearbeitung des OV »Entwicklung« und eines anderen, thematisch benachbarten OV.119 Ein Operationsplan der Abteilung XVIII/2 der BV Dresden vom 17. Februar 1975 enthält die Zielstellung der Ermittlungen hinsichtlich des Paragrafen  104 StGB. Handlungen des »Verdächtigten« sollten untersucht werden, »die eine eindeutige Aussage hinsichtlich durch den Verantwortlichen begangener Pflichtverletzungen beinhalten«. Hierzu schickte das MfS neben Hanisch gleich eine ganze Armada von IM in die Spur: »Horst«, »Franke«, »Frank«, »Bayer«, »Hans Müller« und »André«.120 Laut Sachstandsbericht vom 25. Februar 1974 hatte das MfS Kenntnis von Schnabels angeblich staatsfeindlicher Tätigkeit aus einer Vernehmung vom 2. April 1973, die im Zusammenhang mit dem Siebenerkreis stand.121 Der Leiter der BV Dresden, Generalmajor Markert, bat Jahre später, am 5. August 1977, den Leiter der HA IX, Dr. Oberst Fister, Oberstleutnant Dr. Lonitz auch für den OV »Entwicklung« einzusetzen, da dieser in den Vorgängen zu Hartwig*, Hartmann und Maurer* eine »äußerst wertvolle Arbeit in der Bezirksverwaltung Dresden« geleistet habe. Der möge die »Einschätzung des Vorgangsmaterials« übernehmen.122 Nach Auswertung mit Lonitz stand am 20. Januar 1978 das erste Resultat fest, die Ermittlungsstrategie in Anlehnung an die Gutachten zu Hartwig* und Maurer* würden sich im vorliegenden Fall nicht eignen. Es sei »eine eindeutige Kausalität (Handlung – Wirkung, verursacht durch den Verdächtigten) noch nicht erkennbar«. Lonitz gab Ratschläge, wie dies realisiert werden könnte.123 Am 26. Februar 1979 legte die Abteilung XVIII der BV Dresden einen Sachstandsbericht vor. Dessen 53  Seiten enthalten keinen einzigen Beweis in der Ermittlungsrichtung nach Paragraf 104 StGB. Mehr oder weniger ist das Papier eine Kompilation unendlich langer Zitate aus dem Privat- und Berufsleben Schnabels, von Berichten der IM sowie Auslassungen über die Bedeutung der Mikroelektronik und dergleichen mehr. Erst auf der vorletzten Seite (!) kam der Bericht völlig unvermittelt zu neun Vorwürfen: Verzögerte und verschleppte Themenbearbeitung, Falschorientierung, Planung der Arbeit im Widerspruch zu den Forderungen der Sowjetunion, Nichtbeachtung des internationalen Standes in der Mikroelektronik-​ Technologie, Manipulierung der Arbeitsergebnisse, ständige Vortäuschung von 119  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 15.1.1975: Arbeitsgruppe des Generaldirektors der VVB BuV im VEB EMD; ebd., Bl. 89 f. 120  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 17.2.1975: Operationsplan zum OV »Entwicklung«; ebd., Bl. 91–97. 121  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 25.2.1974: Sachstandsbericht zum OV »Entwicklung«; ebd., Bl. 46–48. 122  Schreiben des Leiters der BV Dresden an den Leiter der HA IX vom 5.8.1977: Zur Bearbeitung des Schwerpunktvorganges OV »Entwicklung«; ebd., Bl. 120. 123  Vgl. BV Dresden vom 20.1.1978: Aktennotiz; ebd., Bl. 126.

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Spezifische Vertiefung

arbeitsseitigen Überlastungen, Vertuschung, Falschmeldung und Schönfärberei; negative Beeinflussung Dritter sowie »Festlegung falscher perspektivischer und prognostischer Zielsetzungen«.124 Am 12. Juli 1979 folgte die strafrechtliche Einschätzung durch die Abteilung 4 der HA IX des MfS. Zur Einschätzung lagen in der Hauptsache vor: der obige Sachstandsbericht und ein vorläufiges Gutachten von Hanisch. Das Resultat: »Auf der Grundlage dieser Unterlagen wird eingeschätzt, dass die operative Bearbeitung des Dr. Schnabel das Vorliegen des dringenden Tatverdachtes der Sabotage gemäß Paragraf 104 StGB oder des Vertrauensmissbrauchs gemäß Paragraf 165 StGB oder der Falschmeldung und Vorteilserschleichung gemäß Paragraf 171 StGB nicht erbracht« habe.125 Kausalitätsgeformte Kombinationen der Dresdener »Ermittler« watschte die HA IX regelrecht ab. Die Einschätzung der HA IX kam einem Freispruch erster Klasse gleich; tatsächlich waren die Behauptungen abenteuerlich (etwa die »Kausa­ lität« eines im Jahre 1953 entdeckten Waffenbesitzes mit der Unterstellung, zwanzig Jahre später deshalb gegenüber der DDR feindlich eingestellt zu sein).126 Dem Gutachten von Hanisch wurden eklatante Fehler bescheinigt, so fehlte eine Gesamtübersicht aller Themen, die von Schnabel bearbeitet worden waren. Die generellen Vorwürfe basierten ja nur auf einer Aufgabe von vielen! Zudem sei »wiederholt« von Hanisch »nur auf einen überalterten Arbeitskräfteplan« vom 1. April 1968 Bezug genommen, »ohne die tatsächlich vorhandene Arbeitskräftesituation nachzuweisen und zu berücksichtigen«. Wenngleich die Einschätzung der Schuld-Nachweisführung äußerst negativ im Urteil der HA IX ausfiel, stimmte sie dessen ungeachtet einer weiteren Ermittlung zu.127 Zur Analyse der gutachterlichen Arbeit des MfS durch Cromme. Ihm kommt das Verdienst zu, sich der schwierigen Materie der MfS-Gutachten angenommen zu haben.128 Der Mathematiker analysierte insbesondere zwei Gutachten. Erstens ein 357 Seiten umfassendes »Kompendium« unter Federführung Dr. Rudolf Schneiders129. Dieses Gutachten stammt vom 30. Juni 1974 (eine zusammengefasste Form vom 5. März 1975).130 Die ersten einhundert Seiten des Gutachtens 124  BV Dresden, Abt. XVIII, vom 26.2.1979: Sachstandsbericht zum OV »Entwicklung«; ebd., Bl. 210–264, hier 263. 125  HA IX/3 vom 12.7.1979: Strafrechtliche Einschätzung; ebd., Bd. 2, Bl. 45–61, hier 45. 126  Vgl. Material; ebd., Bl. 47. 127  Ebd., Bl. 53 u. 60 f. 128 Vgl. Cromme: Ideologiefreie Wissenschaft. Der Verfasser hatte die Möglichkeit, mit Cromme eingehend diesen Fall zu diskutieren. 129  Schneider war Direktor für Information und Applikation im VEB Elektronikhandel Berlin. Ein Mann, fernab von den Dingen bei VEB Elektromat Dresden. 130  Vgl. Schneider, Rudolf: Zusammenfassendes Gutachten vom 5.3.1975 über die wichtigsten Faktoren und spezifischen Merkmale, die die Tätigkeit und die erreichten Ergebnisse aus der wissenschaftlich-technischen Arbeit des Leiters des F- und E-Bereiches betreffen; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 47, Bl. 2–51. Vgl. Schneider, Rudolf: Gutachten vom 30.6.1974 über Tätigkeit und Resultate aus der wissenschaftlich-technischen Arbeit des Leiters des F- und E-Bereiches; ebd., Bd. 43, Bl. 2–371.

MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten

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betreffen volkswirtschaftliche, betriebliche und technologische Darstellungen, die mit der eigentlichen Problematik Schnabel direkt nichts zu tun hatten. Die nächsten knapp fünfzig Seiten referieren dann Pflichten Schnabels, etwa als Leiter, sowie berufliche Voraussetzungen und die Darstellung seines Aufgabengebietes. Die anschließenden circa zweihundert Seiten zeigen den Versuch, aus dieser Gemengelage der technischen, technologischen und betriebswirtschaftlichen Sachverhalte eine Schuld zu destillieren. Dem Gutachten attestiert Cromme auf den ersten Blick einen seriösen Eindruck, auch eine Ergebnisoffenheit und das Fehlen eines erkennbaren Schuldvorwurfs. Auch genüge es den formellen Ansprüchen. Auf dem zweiten Blick zeigen sich ihm jedoch folgende Auffälligkeiten im Aufbau und in der Argumentationslinie des Gutachtens: 1. Vertrauensherstellung (Seriosität der Informations- und Faktensammlung); 2. Argumentationsbrüche (hinsichtlich der Verantwortungszuschreibung); 3. Sukzessive Verengung des Blickwinkels. Tatsächlich machte das MfS das Kausalitätsproblem zu schaffen. Eine direkte Schuld an der Mikroelektronikmisere ließ sich aus dem Tun Schnabels nicht herleiten. Was tun? Ein neues Gutachten musste erstellt werden und dafür war keiner besser prädestiniert als Hanisch. Rüde und raffiniert ging dieser an sein schon gegen Hartmann unter Beweis gestelltes Vermögen, Schuldnachweise »erarbeiten« zu können, heran. Er setzte seine Nachweislatte gleich extrem hoch und »bilanzierte« eine Schadenssumme von über 100 Millionen Mark. Cromme stellt fest, dass Widersprüche im Schneider-Gutachten, wonach Schnabels Entscheidungen und Maßnahmen ja Bestandteil der Planabsprachen waren, von Hanisch dergestalt aufgelöst wurden, indem dieser Schnabel Täuschung und Betrug unterstellte. »Die Verantwortung anderer«, so Cromme, wurde »nicht einmal erwogen«, geschweige denn die fehlenden volkswirtschaftlichen sowie wissenschaftlich-technischen Grundbedingungen genannt. Cromme resümiert zutreffend: »Hier wird deutlich, dass Gutachter wie Hanisch keine Randfiguren im Untersuchungsvorgang sind, sondern tragende Säulen.« Da Hanisch mit Fach-, Fakten- und Insider­ kenntnissen glänzen konnte, erweckt(e) das Gutachten für Laien einen seriösen und auch plausiblen Eindruck. Zufrieden mit den Ergebnissen Hanischs, übergaben die Dresdener Tschekisten den Sachstand des OV an die Ermittlungsabteilung des MfS, die HA IX. Hier übernahm den Fall ein Oberleutnant, der, so Cromme: »zerpflückt die Untersuchungsergebnisse der Bezirksverwaltung (BV) Dresden und insbesondere das Hanisch-Gutachten in so gründlicher Weise, dass Schnabel sich kaum einen besseren Verteidiger hätte wünschen können.«131 Das aber darf nicht falsch verstanden werden. Das MfS wollte grundsätzlich auch wissen, was justitiabel war und was nicht. Eine moralische Institution oder ein Bruch in der Institution »MfS« stellte damit dieser Einspruch nicht dar, es war das Geschäft der IX. Die Untersuchung wurde eher noch raffinierter.

131  Cromme: Ideologiefreie Wissenschaft, S. 1060.

1060

Spezifische Vertiefung

1979 schien die Gefahr, in der Schnabel sich unwissentlich befand, nahezu vorüber zu sein, als sich die Dresdener BV entgegen den Einwänden aus Berlin urplötzlich entschloss, Schnabel festzunehmen. Es folgten erniedrigende Verhöre und die Ausübung von Druck, sodass er seine nie begangenen Taten eingestand; Cromme: »Der Inhaftierte bezichtigt sich nunmehr selbst folgenschwerster feindlicher Handlungen und räumt materielle Schäden in Millionenhöhe ein. Das langjährige SED-Mitglied gibt eine ›staatsfeindliche Einstellung‹ zu und geht in seiner erzwungenen Selbstbezichtigung noch weit über die bisher erhobenen Vorwürfe hinaus, indem er auch Geheimnisverrat, Sabotage und die Zugehörigkeit zu einer Gruppierung ›negativ-feindlichen‹ Charakters um Professor Dr. Siegfried Hildebrand einräumt.«132 Das mutmaßliche Link, »Sie gestehen und können mit Entlassung rechnen«, kam natürlich nicht in die Protokolle. Nur so kam es zu seiner Entlassung und zur Einstellung des Verfahrens am 18. Dezember 1981.

Exkurs 14: Suizid oder Mord: Scheufele Andere, ganz gleich ob sie schuldlos und vollkommen aus dem Nichts heraus oder tatsächlich aufgrund einer Schuld inhaftiert worden waren, hatten dieses »Glück« wie Schnabel oft nicht. Dass in ihnen plötzlich der Todeswunsch aufkeimte, mag so selten nicht vorgekommen sein. Die Drohungen gegen sie waren manifest: »Hier kommen sie nicht mehr raus!« So etwas ist nicht hinnehmbar, wenn man nicht weiß wofür. Oder wenn alles unverhältnismäßig war. Mitten aus dem Leben gerissen. Und klopfte einmal der Todeswunsch als durchaus rationale Empfindung an die Tür, dann war alles Weitere nur eine Frage der Umstände, der augenblicklichen Situation. Holm Scheufele mag es am ersten Weihnachtsfeiertag 1980 gegen 21.00  Uhr so erlebt haben, während die Mithäftlinge im Fernsehraum saßen. Der Geodät arbeitete als Wissenschaftler im VEB Kombinat Carl Zeiss Jena in der Abteilung Vermessungsgeräte des Forschungszentrums. Mit kriminaltechnischen Mitteln hatte ihn der Betriebsschutz des Werkes am 4. Dezember »auf frischer Tat beim vorsätzlichen Zerstören einer Fotografie von Erich Honecker, angebracht an der Wandzeitung im Treppenhaus zwischen Erdgeschoss und der 1. Etage des Zeiss-Gebäudes ›Eulenbau‹ in der Schillerstraße in Jena, gestellt«.133 Er hatte die gleiche Tat bereits zwei Wochen vorher begangen, woraufhin ihm der Betriebsschutz eine Falle stellte. Noch am selben Tag wurde er in die Untersuchungshaftanstalt Gera eingeliefert. Zwei Wochen vergingen ohne jede Antwort seiner Gefängniswärter auf seine Fragen. Er hatte das alles schon einmal durchgemacht, damals in der Sowjetunion. Die Bilder

132  Ebd., S. 1061. 133  BV Gera, Abt. IX, vom 5.12.1980: Bericht; BStU, MfS, BV Gera, Abt. IX, Nr. A 17/80, Bl. 13–15, hier 13 f.

MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten

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Abb. 44: Holm Scheufele: Präzision als Leidenschaft

seiner Kriegsgefangenschaft von 1944 bis 1950 glitten an ihm vorüber. Von dort hatte er seine spätere Frau mitgebracht, die aus Pommern als junges Mädchen verschleppt und in einem benachbarten Lager eingeliefert worden war. Aus all dem zog er Konsequenzen, auch jene, nicht in die Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) und die SED einzutreten. Westliche Dienstreisen waren damit für ihn früh erledigt. Seinen Hass auf das Sowjetsystem verbarg er, bis auf solche Momente wie im Treppenhaus. Das MfS ermittelte, fand jedoch nichts. Es recherchierte andere, ungeklärte Fälle von 1979 und 1980, aber die passten nicht so recht ins Bild seiner Tat und seines Charakters.134 Er lebte seinen wissenschaftlichen Beruf. Was aber genau im Verwahrraum 205 an jenem Abend des ersten Weihnachtsfeiertages geschah, wissen wir nicht. Auch Mord kann nicht ausgeschlossen werden. Weder passte der Suizid (laut MfS) zu ihm noch die völlig konspirativ abgelaufene Einäscherung. Seine Frau glaubte nicht an Suizid. Das Weihnachtsfest war ihm heilig.135

134  Vgl. Sonstige Vorkommnisse; ebd., Bl. 11 f. 135  Dies ist auch der Tenor einer Sendung zum Thema »DDR-Krematorium« des ZDF, ausgestrahlt am 26.9.1990, 20.15 Uhr. Der Verfasser dankt Klaus Scheufele, Sohn Holms, für Dokumente und Auskunft.

1062

Spezifische Vertiefung

Weiter zu Schnabel: zu welchen gefährlichen, amoralischen, illegalen, ja kriminellen Methoden das MfS sein »Aussagenmaterial zurechtlegte«, bezeugen allein 56 erpresste Falschgeständnisse,136 wovon hier nur aus einem einzigen zitiert werden soll: Hintergrund der »Erklärung« von Schnabel vom 21. Februar 1980 war ein von Hildebrand ausgefertigtes älteres Gutachten über ihn, in dem dieser ihm »eine positive gesellschaftliche Entwicklung und Einstellung« zur sozialistischen DDR attestiert hatte. Schnabel wurde gezwungen zu leugnen, beugte sich dem Druck und bezichtigt Hildebrand der Lüge: »Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass diese Einschätzung und Beurteilung durch den Professor Hildebrand nicht der Wahrheit entspricht. Professor Hildebrand hat wissentlich und vorsätzlich handelnd, der Wahrheit widersprechend, falsche Darstellungen zu meiner politischen Einstellung abgegeben.« Und ferner: »Mit diesem Gutachten hat Professor Hildebrand versucht, mittels Täuschung und Lüge maßgebliche staatliche Stellen falsch zu beeinflussen und zu falschen Entscheidungen zu führen mit dem Ziel, mich trotzdem in eine Position als Hochschullehrer zu berufen. Für besonders verwerflich halte ich die Darlegungen von Professor Hildebrand zu meinem Eintritt in die SED. Diesen Schritt unternahm ich nicht aus Überzeugung, sondern erst nach Abstimmung und Beratung mit Professor Hildebrand, der mir dazu die Empfehlung gab. Diese Erklärung erfolgt freiwillig und ohne Druck auf meine Person.«137 Die dem MfS wichtigste »Erklärung« lieferte Schnabel am 19. Juni 1980. Im Inhaltsverzeichnis des betreffenden OV-Bandes notierte das MfS: »›Geständnis‹ von Dr. Schnabel; der eingefügte Text ist allerdings mit »Erklärung« überschrieben; Schnabel: »Im Bewusstsein meiner jahrelangen, gegen die DDR gerichteten schädigenden Tätigkeit« und endet: »Diese Erklärung erfolgt freiwillig und ohne Druck und Einfluss auf meine Person.«138 Schnabels Erpressung aber war reine Folter. Cromme stellt fest, dass durch die Gutachten alles Versagen auf eine Person fokussiert wurde, Schnabels Situation im Betrieb und die volkswirtschaftlichen Grundgegebenheiten einfach ausgeblendet worden sind. Der Schaden, an einem idealen, markteingeführten Produkt, hochgerechnet, ging locker in den zweistelligen Millionenbereich. Tausende Seiten, hunderte Arbeitsstunden – und dann ging alles Papier noch nach Berlin und wurde da umgewälzt, kam wieder zurück, das Ergebnis wurde ignoriert, die Dresdener fanden einen Dreh, verhafteten ihn, erzwangen ein Geständnis über Taten, die es nach der Berliner Analyse hätte gar nicht geben können. »Nachdem der Feind gebrochen« war, schreibt Cromme, »kommt es zu einer letzten überraschenden Wendung«. Freispruch, weil die »Handlungen entsprechend der Zielsetzung nicht bewiesen werden konnten.«139 Aber das MfS erhielt auf diese Weise Material gegen Hildebrand. 136  Konvolut der »Erklärungen«; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 4718/81, Bd. 11, Bl. 14–273, u. Bd. 13, Bl. 4–260. 137  Ebd., Bd. 11, Bl. 14–273, hier 81 f. 138  Ebd., Bd. 13, Bl. 4–260, hier 5, 144 u. 151. 139  Cromme: Ideologiefreie Wissenschaft, S. 1061.

MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten

1063

Die Arbeitsbilanz von Hanisch am OV »Entwicklung« lautete am 16. Juni 1977 auf 49 Berichte – allein für den Zeitraum vom 4. bis 16. Juni.140 Der Betrieb Schnabels, der VEB Elektromat Dresden (EMD), war Teil der Dresdener Forschungs- und Entwicklungslandschaft »Mikroelektronik«. Der am 1. Oktober 1961 gebildete Betrieb war Nachfolgebetrieb der VEB Flugzeugwerft Dresden. Zugeordnet war er der Abteilung Elektrotechnik des Volkswirtschaftsrates. Seine Hauptaufgabe bestand u. a. in der Projektierung, Konstruktion und im Bau von technologischen Sonderausrüstungen für die Mikroelektronik. Für die AME resp. AMD war dieser Betrieb als unersetzbarer Zulieferer von Bedeutung. Schnabel wurde am 1. Oktober 1968 eingestellt. Einen Monat später übernahm er die Leitung des Forschungs- und Entwicklungsbereiches. Der Bereich bestand zu diesem Zeitpunkt aus fünf Abteilungen, u. a. Fotolithografie und Reinstraumentwicklung. Ab 1970 bestand der Bereich aus vier Abteilungen: Justier- und Belichtungseinrichtungen, Maskentechnik, Fotorepeater und Labormechanik. 1968 leitete Schnabel die Forschungsgruppe »Technologie« des Instituts. Hildebrand zählte Schnabel 1958 zu seinen »fähigsten Studenten der konstruktiven Fachrichtung«: »Ich lege größten Wert auf Einstellung von Herrn Schnabel als Assistent, da er in seinen Leistungen vorzüglich ist und beste Veranlagungen hat zur wissenschaftlichen Arbeit auf konstruktivem Gebiet.« Auch die Abschlussbeurteilung durch Hildebrand bestätigte ihm wieder »ausgezeichnete Leistungen«. Das Gutachterkollektiv teilte diese und andere positiven Facheinschätzungen Schnabels, obgleich der diese als Lüge bezeichnen musste, um Hildebrand der Falschaussage zu zeihen, nicht mit. Umso mehr bauschte es angebliche Defizite in gesellschaftspolitischer Hinsicht auf, und brachte dies in Gegensatz zu seinem fachlichen Vermögen.141 Um Schnabel zur Strecke zu bringen, studierte Hanisch gar das Buch von ­A lbrecht Charisius und Julius Mader Nicht länger geheim nach Parallelitäten. Er will auf vielen Seiten fündig geworden sein. Zum Beispiel fand er Hinweise zur Rolle Theodor Oberländers, der Verbindungen zu Professoren und Studenten hatte, besonders auch zu Ernst Brüche, wie Hanisch betonte (was aber im Buch nicht behauptet wird). Und er will auch den Beleg für die damals aktuellen »Angriffsrichtungen und Versuche des Eindringens« der Bundesrepublik in die Bereiche »Elektrotechnik / Elektronik, Feinmechanik / Optik, Planung und Leitung, Schwerpunktbetriebe, Zentren der Wissenschaft und Forschung, Kooperationsorgane des RGW« gefunden haben. Und dies, so Hanisch, finde sich »realisiert in sehr vielen Fällen durch ausgewählte, enge Mitarbeiter von Professor Hildebrand«.142 140  Vgl. »Rüdiger«: Treff bericht vom 16.6.1977; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 7, Bl. 301 f., hier 302. 141  Gutachten über die Tätigkeit des Leiters des Forschungs- und Entwicklungsbereiches des VEB Elektromat Dresden bei der Erfüllung seiner Aufgaben auf dem Gebiet der Entwicklung und Konstruktion technologischer Ausrüstungen; ebd., Bl. 321–354, hier 328, 335 f. u. 341–344. 142  »Rüdiger« vom 8.12.1978: Fakten aus dem Buch Charisius / Mader: Nicht länger geheim; ebd., Bd. 10, Bl. 227 f. Charisius, Albrecht / Mader, Julius: Nicht länger geheim. Entwicklung, System und Arbeitsweise des imperialistischen deutschen Geheimdienstes. Berlin 1969.

1064

Spezifische Vertiefung

Der Fall Maurer*, OV »Wissenschaftler« Im August 1975 wurde Hartmut Maurer* »aufgrund des Versuchs des ungesetzlichen Grenzübertritts mithilfe einer Menschenhändlerbande« durch das MfS festgenommen.143 Der Fall wuchs sich aus, da das MfS einen Spionage- und Sabotagefall witterte. Er zeigt, wie gefährlich es werden konnte, mit seiner West-Verwandtschaft über dienstliche Dinge zu plaudern, auch wenn dies nur oberflächlich geschah. Laut Hanisch habe Maurer* »in den Vernehmungen« am 18. und 20. Oktober 1976 ausgesagt, »dass er den 1 : 1-Nachbau des Taschenrechnerschaltkreises U820D nach TI-Vorbild als Prototyp eines hochintegrierten Schaltkreises in MOS-Technik an seinen Schwiegervater, Professor Kockel, bei dessen Aufenthalt in der DDR verraten« habe. Der habe angeblich »sehr großes Interesse« gezeigt und ihn gar beauftragt, »Unterlagen, die den 1 : 1-Nachbau durch die AMD beweisen, zu beschaffen sowie alle weiteren Informationen dazu«. In der Vernehmung hätte Maurer* ausgesagt, »dass er die abfotografierten [unleserlich-] Filme des U820D Ende 1974« an seinen Schwiegervater »übergeben« habe. In einer Vernehmung am 4. Februar 1976 habe er sich erinnert, »dass er einen geöffneten TI-Schaltkreis im Labor […] gesehen« habe.144 In seinem »Geständnis« in der Vernehmung am 13. Oktober 1976 hatte er ausgesagt, »dass er alle ihm zugänglichen Informationen zum Import des japanischen Elektronenstrahlgerätes JE BX-2B (Embargoimport), der Mitwirkung eines Zeiss-Mitarbeiters an der Geräteabnahme und zur Entwicklung eines Elektronenstrahlgerätes im VEB Carl Zeiss Jena in Zusammenarbeit mit der UdSSR an seinen Schwiegervater, Professor Kockel, bei dessen Besuchen in der DDR verraten hat und dass Professor Kockel für diese Informationen sehr großes Interesse zeigte.«145 Die Aussagen waren erpresst. Für die Gutachterarbeit am OV »Wissenschaftler« wurden allein im Zeitraum Juli bis September 1977 296 Berichte geliefert. Auch die Bilanz der anschließenden »Arbeitsgespräche« von Hanisch mit den MfS-Offizieren – darunter auch Lonitz – ist beeindruckend (Tb. 6). Doch auch diese Bilanzen bilden nur die Hochzeit der Befassung mit Maurer* ab. Die Themen zu den Treffs waren u. a.: Prozessvorbereitung, Auftragserteilung zu den Gutachterkomplexen, Abstimmungen zur »Auftretensweise der Gutachter zu den einzelnen Sabotage- und Spionagekomplexen während des Prozesses – Absprache über zusammengefassten gutachterlichen Standpunkt sowie über voraussichtliches Auftreten und Reagieren des Angeklagten«, Kalkulationen zu den Kosten der gutachterlichen Tätigkeit, sowie Absprachen zu »Festlegungen und Verhaltensweisen des Bezirksgerichtes, der Staatsanwaltschaft und des Rechtsanwaltes«.146 143  Vgl. »Rüdiger« vom 30.4.1977: Informationsmaterial zu Erkenntnissen aus den Untersuchungen der Verbrechen des Beschuldigten; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 7, Bl. 292–295, hier 292. 144  »Rüdiger« vom 13.3.1977: Konzeption für Spionagevernehmung; ebd., Bl. 134 f., hier 134. 145  »Rüdiger« vom 12.3.1977: Konzeption für Spionagevernehmung; ebd., Bl. 141–143, hier 141. 146  Treffstatistik von »Rüdiger« vom 30.9.1977; ebd., Bd. 8, Bl. 102–103.

MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten

Datum

Zeitraum

14.09.1977

09.00 bis 16.00 Uhr

15.09.1977

09.00 bis 18.00 Uhr

16.09.1977

09.00 bis 19.00 Uhr

19.09.1977

14.00 bis 19.00 Uhr

20.09.1977

18.00 bis 20.00 Uhr

21.09.1977

18.00 bis 20.00 Uhr

22.09.1977

18.00 bis 20.00 Uhr

23.09.1977

18.00 bis 20.00 Uhr

24.09.1977

12.00 bis 13.00 Uhr

26.09.1977

16.00 bis 17.00 Uhr

27.09.1977

09.00 bis 20.30 Uhr

29.09.1977

19.00 bis 20.00 Uhr

1065

Tabelle 6: Arbeitsgespräche mit dem MfS

Das Gutachten zur »Tätigkeit« Maurers* vom 1. September 1977 umfasst ohne Anlagen 180 Seiten.147 Es wurde von Dietrich Theß (Parteisekretär der AMD) und Karl-Heinz Göbel unter Leitung Hanischs angefertigt.148 Das Hauptaufgabengebiet des Beschuldigten galt als thematisch eindeutig begrenzt. Er befasste sich mit der Herstellung von Schablonen insbesondere mittels der Elektronenstrahltechnologie. Er galt als ausgewiesener Spezialist auf diesem Gebiet und konnte auf nahezu zehn Jahre Praxis verweisen. Sein Studium in Leipzig schloss er 1963 mit einer Diplomarbeit über Feldeffektmessungen an Kadmiumsulfid-Einkristallen ab, die von Gustav Hertz vorgegeben und von Artur Lösche betreut worden war. Die Gutachter schätzten aus Werdegang und Beurteilungen ein, dass er »zu jeder Zeit die fachlichen Voraussetzungen zur ordnungsgemäßen Bearbeitung und Lösung der ihm übertragenen Aufgaben« besessen habe. Nach 35  Seiten ausführlichster Darstellung der Bedeutung der Mikroelektronik für die Volkswirtschaft sowie der Aufgaben und Pflichten des »Verdächtigten« analysierten die Gutachter auf weiteren 117 Seiten »alle Aufgaben«, die Maurer* »im Zeitraum von 1963 bis zu seiner Inhaftierung« gestellt waren »hinsichtlich ihrer termin- und qualitätsgerechten Erfüllung«. Sie konstatieren zunächst die Erfüllung zweier erster Aufgaben bis Mai 1964. Eine dritte Aufgabe von 1963/64 über die Verwendung von Metall-Wechselmasken 147  Vgl. Gutachten (o. D.) über die Tätigkeit des Gruppenleiters in der AMD bei der Erfüllung der ihm zur Bearbeitung und Lösung übertragenen Aufgaben auf den Gebieten der Forschung und Entwicklung sowie der Produktion von Festkörperschaltkreisen; ebd., Bl. 105–294. Datum des Manuskriptes des Gutachtens: 1.9.1977. 148  Vgl. Eintrag auf dem Manuskript vom 1.9.1977; ebd., Bl. 351 f.

1066

Spezifische Vertiefung

habe er unvollendet »einfach abgebrochen«. Mit keinem Wort sind die Gutachter auf den entsprechenden 17 Seiten (mit zahlreichen Rephrasen) der Frage nach den Ursachen nachgegangen. Hanisch hatte natürlich gewusst, dass der Abbruch einer Aufgabe aus verschiedenen, meist notwendigen Dingen erfolgte. Aber die Gutachter behaupteten einfach, dass »die völlige Nichterfüllung« dieser Aufgabe »eine bewusste und beabsichtigte Handlung« Maurers* gewesen sei, die »zur Verzögerung der Entwicklung von Festkörperschaltkreisen« geführt habe und insofern eine »Verletzung ihm bekannter Pflichten« bedeute; dies sei eine »von ihm angewandte Methoden zur Durchkreuzung staatlicher Planaufgaben«.149 Die Gutachter stellten in diesem 17-seitigen Teilabschnitt Behauptungen auf, die sie nicht unterlegten oder bewiesen. Sie konstatierten nur die normgemäßen Berichtspflichten, denen Maurer* angeblich nicht nachgekommen sei. Es ist gut möglich, dass schriftliche Berichte nicht aufgefunden oder von Hanisch bewusst nicht beachtet worden sind; von den mündlichen Berichten an Werner Hartmann fehlt naturgemäß in den Akten jede Spur. Den Gutachtern wurden die Unterlagen aus Arbeitsplatzdurchsuchungen beschafft, also illegal. Damit war keineswegs eine Vollständigkeit gewährleistet. Zu bemerken ist ferner, dass die Gutachter in den Unterlagen entdeckten, dass bereits vor Lieferung des Gerätes aus Ardennes IvA bei AME Versuche mit Tantal-Wechselmasken liefen, die »als ›gut geeignet für diese Durchbruchsart‹ befunden worden waren«. Allein dieser Hinweis zeigt, neben zahlreichen Notaten und Zusammenfassungen von Teilschritten und Experimenten, dass die Aufgabe fachlich-sachlich wohl abgeschlossen und mutmaßlich auch kommuniziert worden ist. Was beweist schon der Satz, wonach die »pflichtgemäße Zusammenarbeit« mit Hartmann »nicht ersichtlich« geworden sei! Sie hätten ja Maurer* und Hartmann befragen können, taten es jedoch nicht! Die Gutachten­ erstellung lief ja konspiriert ab. Übrigens erfolgten laufend Lieferungen von Geräten, Mitteln und Unterlagen über den illegalen Technologieimport, die die Eigen­ entwicklungen beschränkten, plötzlich aussetzten oder veränderten. Dies wurde aus Geheimhaltungsgründen natürlich überhaupt nicht referiert. Aus Sicht des Verfassers ist dieser Teilabschnitt des Gutachtens eine Sorgfaltsverletzung ersten Grades. Nicht anders sind die Teilgutachten etwa zu Aufgaben zur Lackvernetzung durch Elektronenstrahlen sowie die Entwicklung eines Verfahrens zur Schablonenherstellung zu bewerten. Die letztgenannte Nichterfüllung war den Gutachtern gar »ein Schulbeispiel für das Durchkreuzen zentraler staatlicher Planaufgaben mit erheblichen volkswirtschaftlichen Schäden«. Warum aber sein Gruppenleiter bei dieser »völligen Nichterfüllung dieser Aufgabe« nicht eingegriffen hatte, bleibt dem fiktiven Leser des geheimen Gutachtens rätselhaft.150 149  Gutachten (o. D.) über die Tätigkeit des Gruppenleiters in der AMD bei der Erfüllung der ihm zur Bearbeitung und Lösung übertragenen Aufgaben auf den Gebieten der Forschung und Entwicklung sowie der Produktion von Festkörperschaltkreisen; ebd., Bl. 105–294, hier 127, 133, 143 u. 146–148. 150  Ebd., Bl. 159, 163–184, 193–208.

MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten

1067

Jene Aufgaben Maurers* aber, die er erfolgreich abschloss, wie etwa die Präpara­ tion von Molybdän-Halbleiterkontakten oder eine Arbeit zu Kontrollkriterien für Zwischenschablonen, wurden in ihrer Bedeutung geschmälert. Auch hier fand man Negatives wie Zeitverzögerungen oder angebliche oder tatsächlich überhöhte Materialverbräuche, was objektiv im Forschungs- und Entwicklungsprozess nicht vermeidbar war. Hatte Maurer* Aufgaben terminlich erfüllt, wie die »Anpassung der Rechnerprogramme des Elektronenstrahlgerätes zur Lösung AMD-spezifischer Aufgaben«, hieß es lapidar, dass er bezüglich dieser Aufgabe, die angeblich unter »ständiger Kontrolle« eines Kollegen stand, »keinerlei Möglichkeit zur Nichterfüllung« besessen habe. In der Summe aller selbstständigen Arbeiten, außer der ersten, stellten die Gutachter fest, dass »alle diese Aufgaben« durch ihn »völlig ohne jeden Abschluss« geblieben seien.151 Die Gutachter fabrizierten einige Tabellen mit Überblickscharakter zu den einzelnen Aufgaben, bilanzierten diese prozentual und notenmäßig sowie ermittelten abschließend den ökonomischen Schaden, den sie auf 1 347 000 Mark festlegten (Lohnkosten, Grundmittelabschreibungen, Materialverbrauchskosten). Die in diesem Kapitel vorgestellten Gutachten gehorchten immer einem gleichen Strickmuster: Bedeutung der Aufgabe – Aufgaben und Pflichten – angeblich ge­ gebene objektive Bedingungen für die Auftragserfüllung  – vorhanden gewesene internationale Literatur – Referierung der Ergebnisse anhand aufgefundener Unterlagen ohne Reflexion auf Situation und Gründe – Konstatierung der Pflichtverletzungen und damit der Sabotage. Die Gutachten waren unter fachlichen Gesichtspunkten höchst dilettantisch und / oder selektiv sowie unter politischen auf Sabotage zielgerichtet getrimmt. Auch die innere Formhaftigkeit, also jene, die sich auf den jeweils fachlichen Term bezog, und vor allem die Stringenz der Gutachten, war nicht fachgerecht, lediglich die äußere Form wie Aufbau, Umfang, Klarheit der Gliederung sowie Literaturangaben suggerierten den Eindruck eines Gutachtens. Der Aufwand für diese Gutachten war exorbitant, allein die Nachforschungen in Bibliotheken und Archiven, welche Bücher und Zeitschriften die Delinquenten wann gelesen hatten, war enorm; ein Beispiel: »wurde die gesamte« von Maurer* »in der wissenschaftlichen Bibliothek der AMD ausgeliehene und durch aufgefundene Notizen nachweislich gelesene Fachliteratur gesichtet, bewertet und als Anlage zum Gutachten dokumentiert«. Zur Erfassung der ihm »mündlich übertragenen Aufgaben« sei außerdem »eine gutachterliche Tiefenprüfung im ehemaligen Arbeitsbereich« Maurers* durchgeführt worden. Die dem Gutachten beigegebene Anlage zur Bibliotheksarbeit vom 25. Januar 1977 zeigt, dass er ein fleißiger Leser der wichtigsten Literatur gewesen ist.152

151  Ebd., Bl. 185–191, 220–231 u. 264. 152  Ebd., Bl. 288 u. 295–313.

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Spezifische Vertiefung

Zum Vergleich: Der Fall Bahro Zu Rudolf Bahros Werk Alternative verfassten sowohl MfS-Dienstabteilungen wie die HA IX/2 (Oktober 1976) und die Abteilung Agitation des MfS wie auch vom MfS beauftragte Personen staatlicher Institutionen Gutachten. In diesem Fall organisierte die HA XX / OG Vorschläge für externe Gutachter, die vorab auf Sicherheitsrelevanz überprüft worden waren. Die vom MfS ausgewählten Gutachter wurden anschließend »offiziell vom Generalstaatsanwalt der DDR angeschrieben«. Die Gutachter schickten die Gutachten an diesen zurück »wobei«, so Guntolf Herzberg, »sich die Originale nicht zufällig in den MfS-Akten wiederfinden«.153 Die philo­ sophische Analyse sollte – nach Absprache mit dem OibE Günther Jahn (Kap. 4.1 bis 4.3) – von Denkern der AdW geleistet werden: der Philosoph Wolfgang Eichhorn, der Ökonom Harry Maier und der Rechtswissenschaftler Karl-Heinz Röder. Für Bahros Dissertation kamen die Gutachten aus dem »Roten Kloster«, der Hochschule für Ökonomie (HfÖ), und zwar von Klaus Gürmann, Günther Lingott und Günter Söder. Für die politische Wertung im Rahmen der Westveröffentlichung der Alternative wurden Werner Rosenberg und Siegfried Stübner gewonnen. Das MfS gab für die zu erstellenden Gutachten den Ton an und formulierte Fragen vor, die auf von ihr gewünschte Straftatbestände zielten. Also zum Beispiel Paragraf 98 StGB (Nachrichtenübermittlung). Das Verfahren entsprach den oben dargestellten Fällen. Die Ergebnisse der drei Akademie-Gutachter verwundern nicht, wie Herzberg zutreffend kommentiert. Das Werk Bahros sei »weder wissenschaftlich noch konstruktiv«, es sei ein »Konglomerat von Lesefrüchten«, es enthalte »keinen einzigen neuen Gedanken«. Politisch gesehen, so Herzberg, ordne sich das Buch laut Gutachten »mit seiner gesamten theoretischen und politischen Konzeption in die durch imperialistische Einrichtungen betriebene Strategie zur politisch-ideologischen Unterminierung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung ein«. Seine Grundzüge, so Herzberg das Gutachten zitierend, bestünden in »›Angriffen auf den realen Sozialismus, auf die verfassungsmäßigen Grundlagen aller sozialistischen Länder‹«. Bahro verfolge, mit seiner »›Konzeption die Absicht, eine programmatische Plattform für die Organisierung konterrevolutionärer Aktivitäten […] zu propagieren‹, um den ›Sozialismus / Kommunismus von innen heraus zu bekämpfen‹«. Dafür soll er »›systematisch Informationen ausgewählt, gesammelt und für einen spezifischen Zweck aufbereitet‹« haben. Das Urteil wurde somit unmittelbar vorbereitet: »›der Verfasser‹« habe damit »›objektiv und subjektiv imperialistische Einrichtungen‹« im Kampf gegen die DDR »›unterstützt‹«.154 Bahro, so Herzberg weiter, durfte auf diese Gutachten reagieren. Dies kam übrigens in keinem der obigen Fälle in Betracht. Bahro antwortete mit 17 Seiten. Den Text der drei Professoren bewertete er als »›rein politische Polemik‹«. Man habe Zitate aus dem Zusammenhang gerissen und zu einer »›ganz anderen Gesamtposition‹« 153  Herzberg / S eifert: Rudolf Bahro, S. 239. 154  Ebd., S. 239 f.

MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten

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neu zusammengefügt. Der Ton der HfÖ-Gutachter zur Dissertation Bahros sei laut Herzberg noch »weit hysterischer« ausgefallen. Danach waren die häufigsten Wörter »verleumden«, »böswillig« und »anti-«. Deren Kernsatz habe gelautet: »Es handelt sich um eine antikommunistische, konterrevolutionäre, gegen den realen Sozialismus in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern gerichtete Plattform, die direkt und unmittelbar auf die konterrevolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und auf die konterrevolutionäre Veränderung ihrer verfassungsmäßigen Gesellschafts-, insbesondere Staatsordnung gerichtet ist.« Herzberg verweist auf den bemerkenswerten Umstand, dass für die Gutachter der Tatbestand »konterrevolutionär« allein deshalb gegeben war, weil Bahro festgestellt habe, »›dass die seit dem VIII. Parteitag der SED erreichten Erfolge bei der Lösung der Hauptaufgabe […] völlig verschwiegen‹« worden seien. Und »›die Möglichkeit einer realen Kompetenzerweiterung‹ der Werktätigen« galt den Gutachtern als »Rebellion gegen die soziale Organisation der Arbeit«. Dass die Dissertation als VVS (!) erschien, darauf verweist Herzberg, schien »für die Autoren unerheblich zu sein«. Übrigens ein kapitaler Formfehler. Ein drittes Gutachten ist vom Institut für Internationale Politik und Wirtschaft verfasst worden. Ferner existieren noch Gutachten des Politökonomen Dieter Klein (vom 20. September 1977) und des Sozialphilosophen Hermann Klenner, der es dem MfS am 2. Juni 1979 übergab. Alle Gutachten umfassen circa 280 Seiten. Mit Ausnahme von Klenners Gutachten seien alle anderen Gutachten »auf niedrigstem Niveau, weit entfernt von jeder Art wissenschaftlichen Gutachtens« geschrieben worden. Es seien, so Herzberg, »Unterwerfungsleistungen unter die Anforderungen der Staatssicherheit« gewesen, die »nicht die Spur einer fairen Kritik« zeigten und »Bahro jede wissenschaftliche Qualität« abgesprochen hätten. Seine beiden Schriften, Dissertation und Buch, wurden diffamiert; »ihre Feigheit« habe darin bestanden, »dass sie vieles, was Bahro aussprach, auch wussten – sie haben es nicht verteidigt, sondern Bahro als Lügen oder Entstellungen angerechnet«.155 Zu diesem Typus zählt gewiss auch Hanisch, nur übertraf der all die Bahro-Gutachter um Längen an Verlogenheit – und das auf einem wissenschaftlich-technischen Gebiet, auf dem man dies eigentlich für nicht möglich halten mag. Zur Kritik der Sachverständigengutachten (SVGA) Im vorletzten Jahr der Existenz des MfS lagen Forschungsergebnisse zu »Sachverständigengutachten« vor, die kritisch hinterfragt wurden mit Blick auf Richt­linienTreue, Logik des Verfahrens im Rahmen der operativen Arbeit und hinsichtlich der Ansprüche Erich Mielkes. Einigkeit bestand darin, dass »jeglichen Hinweisen nachgegangen werden« sollte und die Aufdeckung von Straftaten infolge der komplizierten Fachmaterie, etwa bei neuen Technologien, schwer sei. Demzufolge wachse 155  Ebd., S. 241 u. 243.

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Spezifische Vertiefung

die Rolle des Sachverständigen, »vor allem auf naturwissenschaftlich-technischem sowie kriminalistischem Gebiet bedeutend«. Schwierigkeiten aber gebe es in der Interpretation der beiden Elemente bei der »Gutachtenerstellung«, nämlich im Hinblick auf Kompetenzen zur Ermittlung (auch Befragung der Verdächtigen) gerichtsadäquater Erkenntnisse sowie der »operativen Arbeit«, die grundsätzlich verdeckt zu erfolgen habe. Hier eine Vermischung zu vermeiden, sei dringlich, so der Tenor des Beitrages. Es ist zu zitieren: »Vor allem brauchen wir aber praktikable und theoretisch tragfähige Positionen zur Bedeutung des Gutachtens im Beweisführungsprozess und zur Würdigung des Gutachtens. Dabei müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht selbst in unserer eigenen Argumentation verstricken. Wenn wir begründen, dass wir zunehmend SV einbeziehen müssen, weil wir die komplizierten volkswirtschaftlichen bzw. wissenschaftlich-technischen und technologischen Zusammenhänge nicht mehr ohne entsprechendes Fachwissen überblicken können, dann können wir hier nicht kommentarlos fordern, dass der operative Mitarbeiter bzw. der Untersuchungsführende ›das Beweiswerk von SVGA … festzustellen‹ habe.« Der Autor dieser Kritik an der Forschungsvorlage forderte, dass »die Regimefragen rechtlich sauber und politisch operativ zweckmäßig prinzipiell abgehandelt werden«, das betreffe: »die Anforderung des Gutachtens und die Auswahl der Gutachter«, »die Auftragserteilung an die Gutachter und ihre Belehrung«, »Fragen der Anleitung der Gutachter«, »die Abfassung des Gutachtens« sowie »das Vertreten des Gutachtens vor Gericht«.156 Die BV Dresden legte am 30. März 1973 eine Aktennotiz über den Einsatz ihrer Gutachter-IM »André« und »Rüdiger« für das 1. Quartal 1973 ab, die bereits Elemente dieser späteren Kritik, wenngleich abstrakt, enthält; es ist zu zitieren: »Im Prozess der weiteren operativen Bearbeitung des OV ›Automat‹ wurde durch die Leitung der Abteilung XVIII der BV Dresden, durch die HA XVIII/8 sowie durch die Abteilung IX der BV Dresden der Einsatz von Sachverständigen bzw. Gutachtern vorgesehen. Die Auswahl derartiger Sachverständiger bzw. Gutachter erfolgte nach folgenden Kriterien: – Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit gegenüber dem MfS; – Sach- und Fachkenntnisse auf dem zu untersuchenden Gebiet; – Langjährige Kenntnis über objektive und subjektive Umstände und Bedingungen innerhalb der AMD; – Entsprechende Legendierungsmöglichkeiten gegenüber dem Leiter der Arbeitsstelle hinsichtlich ihres Einsatzes.«157

Vom 15. Juni 1979 stammt ein Dokument, das einen Einblick in die formale Seite der Schulung resp. Einführung eines IM in die Gutachterarbeit gibt. Es handelt sich um den IM »Günter« im VEB EMD, der am OV »Entwicklung« zu arbeiten be­ 156  Ohne Kopfangaben (nach dem 26.10.1988): Zum Entwurf der Forschungsergebnisse »Sachverständigengutachten«; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 16136, Bl. 1–12. 157  Einsatz von »André« und »Rüdiger«; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 2, Bl. 25 f.

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MfS-Spezial I: Spionage, Sabotage und Gutachten

auftragt war. Die ersten Zusammenkünfte fanden im »Objektzimmer Robotron« an fünf aufeinander folgenden Tagen vom 11. bis 15. Juni statt und dauerten insgesamt 15  Stunden. Die Freistellung verantwortete der Generaldirektor des Kombinates für Mikroelektronik Erfurt. Teil nahm auch Hanisch, »ohne dass eine offizielle Dekonspiration beider IM erfolgte«. »Günther« wurde unterrichtet u. a. über die »bisher erarbeiteten Gutachtenkomplexe«, zur »Überprüfung der Kausalität und Komplexität der Beweismittel« einschließlich der »Erarbeitung von Hinweisen zur Suche und Auffindung weiterer Beweismittel«.158 Vom 19. September 1977 liegt eine Grobschätzung der Kosten der Gutachter für den OV »Wissenschaftler« (siehe oben) vor:159 Betrieb / Gutachter

Bruttolohnkosten [Mark]

Dienstreisekosten [Mark]

1 775

Vom IMD: Dr. Hanisch Dr. Theß Dipl.-Ing. Göbel

Schreibarbeiten [Mark]

37 200

1 000

2 800 900

Von der VVB VuB: 1 000

250

2 000

500

Summe

43 900

1 750

Gesamtsumme (1)

47 425

Dipl.-Ing. [G] Vom VEB RWN Dipl.-Ing. [H]

1 775

Gemeinkostensatz 400 % Gesamtsumme (2)

230 000

Tabelle 7: Kosten der Gutachtertätigkeit für den OV »Wissenschaftler«

Da Hartmann mindestens das Doppelte und Schnabel etwa dasselbe »gekostet« haben dürften – ohne die »Prämien- und Zuwendungsmittel des MfS, die Kosten der anderen Inoffiziellen Mitarbeiter und jener des Apparates sowie die betrieblichen Ausfallkosten –, kann aufgrund dieser einfachen Rechnung von einem volkswirtschaftlichen Mindestschaden von deutlich über einer Million Mark ausgegangen werden. Zudem ist bis zumindest 1981 weiter mit hoher Intensität an diesen drei und weiteren (!) Fällen gearbeitet worden.

158  BV Dresden vom 15.6.1979: Treff bericht; ebd., Bd. 11, Bl. 4 f. 159  Vgl. Grobeinschätzung vom 19.9.1977 für den Zeitraum Nov. 1975 bis Aug. 1977; ebd., Bd. 8, Bl. 446.

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Spezifische Vertiefung

5.2  MfS-Spezial II: Mitarbeiter des MfS Den hauptamtlichen, insbesondere aber den hier im Fokus gerückten inoffiziellen Mitarbeitern des MfS aller Couleur, verdanken wir die in summa tiefsten Ein­ blicke in die Räderwerke der Machtorgane, Institute, Betriebe, Gesellschaften und Organisationen.160 Im Folgenden werden einige Fallbeispiele solcher Akteure für Funktionen, Struktureinheiten und Institutionen vorgestellt. Sie alle spielen in den untersuchten Bereichen eine markante Rolle. Die Auswahl dient zwar auch der Ergänzung des oben bereits Ausgeführten, vor allem aber dem Zweck, die Daseinsweise, Aufgabenstruktur und den Charakter dieser Mitarbeiter des MfS näher darzustellen. Die Auswahl ist so getroffen worden, dass sie in ihrer Gesamtheit alle wesentlichen Facetten der inoffiziellen Arbeit beinhalten.161 Darüber hinaus soll der gern geübten Simplifizierung solcher Akteure ein Gegenpol der Bewertung gesetzt werden. Dieses Kapitel widerspricht der Ansicht Romano Guardinis, der sagt, dass wir »wenig Veranlassung« haben, »über den ›Verräter‹ zu sprechen als über etwas, was darüber steht«.162 Denn was über diesen Personen stand, man nenne es Diktatur, Berufsspitzeltum oder das Systemische, ist ohne den Charakter dieser »Werkzeuge« keinesfalls konstitutiv, möglich und auch nicht zu verstehen. Ohne sie wäre womöglich alles nur leblose Struktur, wäre alles rasch und wirkungslos verpufft, die Diktatur wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Wir haben mithin größere Veranlassung über die Spitzel zu sprechen, als über etwas, was sie strukturell oder methodengelenkt unkenntlich macht. Es handelt sich bei den vorgestellten Personen – bis auf den letzten Fall – um inoffizielle Mitarbeiter, deren Arbeit deutlich über die »bloße« Spitzeltätigkeit für das MfS hinausreichte, wenngleich sie mehr als andere inoffizielle Mitarbeiter, statistisch betrachtet, auch im klassischen Sinne spitzelten. Lediglich das Beispiel der Fallgruppe 11 fällt hier heraus. Ihre Aufgaben bestanden vor allem darin, Abweichungen von den vorgegebenen wissenschaftspolitischen Linien der SED zu registrieren und mitzuteilen. Diesen »passiven« Aufgaben waren jene aktiven an die Seite gestellt, die darauf hinausliefen, jene Hinweise der Führungsoffiziere umzusetzen, die in der Regel von der SED oder den Staatsorganen vorgegeben worden waren. An sie waren, wenngleich nicht immer exklusive, so doch meist höhere, zumindest besondere Aufgaben gestellt. Als Beispiel für eine solche anforderungsdeterminierte Integration mag das Auswahlverfahren für den Einsatz der IM »André« und »Rüdiger« als sogenannte Fach-IM im Bereich der Arbeitsstelle für Mikroelektronik Dresden (AMD) 160  Nicht zuletzt zur zutreffenden Kritik der Erfassung und Bewertung der IM siehe Kowalczuk: Stasi konkret. 161  Vgl. Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil  1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Berlin  2001; ders. (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitung für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1998; ders.: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 3: Statistiken. Berlin 2008. 162  Pauluskalender 2014. Freiburg 2014, S. 16.

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im Zusammenhang mit der operativen Bearbeitung des OV »Automat« (siehe Kap. 4.1.2 und 5.1) dienen. Beteiligte Diensteinheiten waren die Abteilungen XVIII und IX der BV Dresden sowie die HA XVIII/8. Die Auswahl der Sachverständigen bzw. Gutachter besaß folgende Kriterien: Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit gegenüber dem MfS; Sach- und Fachkenntnisse auf dem zu untersuchenden Gebiet; langjährige Kenntnisse über objektive und subjektive Umstände und Bedingungen in der AMD; sowie zum Abdecken der Tätigkeit Legendierungsmöglichkeiten gegenüber dem Leiter der AMD.163 Diese Kriterien waren nur bei den IM ›André‹ und ›Rüdiger‹ erfüllt. Daraufhin wurde am 12. Januar 1973 mit dem IM ›André‹ das erste Gespräch geführt. Er wurde global mit dem Untersuchungsgegenstand vertraut gemacht. Der IM erklärte sich bei Freistellung von seinem derzeitigen Aufgabengebiet bereit, eine derartige Untersuchungstätigkeit im Auftrag des MfS durchzuführen. Vier Tage später suchten zwei Offiziere den Leiter der AMD, Werner Hartmann, auf, um ihn in legendierter Form zu informieren, dass man »zur Untersuchung der bisherigen fachlichen Tätigkeit« des Peter Hartwig* an der AMD einen seiner Mitarbeiter benötige. Man habe eine Untersuchungsgruppe gebildet, die »einschlägige Befragungen zum Sachverhalt durchzuführen und dazu auch schriftliche Stellungnahmen, Gutachten und Dokumentationen anzufordern« beauftragt sei. Sich dagegen wehren war völlig zwecklos. Mithilfe der Legendierung war eine Kontaktaufnahme und Trefftätigkeit des MfS mit dem IM in der Arbeitsstelle jederzeit möglich. Mit dem IM führte das MfS am 16., 18. und 22. Januar, 5., 14. und 23. Februar sowie am 2., 5., 6. und 13. März 1973 Treffen durch. Hieran nahmen auch die Berliner Tschekisten Werner Lonitz von der HA IX und Gerhard Gesang von der HA XVIII/8 teil. »Da der IMS ›André‹ mit Wirkung vom 19. März 1973 eine Tätigkeit in der VVB aufnahm, wurde nach erneuter Gesprächsführung mit dem Leiter der AMD am 6. März Hanisch für die Weiterführung der Untersuchungstätigkeit vorgeschlagen und durch diesen bestätigt.164 Welch fulminante Arbeit allein diese beiden Mitarbeiter des MfS im Bereich der AMD leisteten, haben wir oben in den Kap. 4.1.2 und 5.1 gesehen. Eine Arbeit, die nur eine geringe Schnittmenge zu der der klassischen Spitzel besitzt. Woraus folgt, dass die allgemeine Bedeutung der inoffiziellen Mitarbeiter wesentlich höher ist als deren populärer Ruf als Spitzel oder Denunziant suggerieren mag. Fallgruppe 1: NSDAP oder SED, egal! Peter Adolf Thiessen, Vorsitzender des Forschungsrates der DDR von 1956 bis 1965, steht als häufig zitiertes Beispiel für jene Spezies, denen der Übergang vom Goldenen NSDAP- zum SED-Abzeichen offenbar nicht die geringsten Schwierig163  Vgl. BV Dresden vom 30.3.1973: Aktennotiz über den Einsatz von »André« und »Rüdiger« im 1. Quartal 1973 als Fach-IM; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil II, Bd. 2, Bl. 25 f. 164  BV Dresden: Treffs mit dem Fach-IM »Rüdiger«; ebd., Bl. 27.

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Spezifische Vertiefung

keiten machte. Gleichzeitig aber war er ein profunder Kenner des Wissenschaftsbetriebs und als solcher diesem hilfreich. Auch der allgemein recht unbekannte Wilhelm Hofweber alias »Laika« gehört in diese Reihe, jedoch mit dem Zusatz, dass dieser seine Transformation mit der weitestgehenden Beibehaltung des alten Vokabulars zu vollziehen sich in der Lage zeigte. Zunächst wurde auch er – in der Verwaltung »Motorisierung« der Kasernierten Volkspolizei (KVP) – als sogenannter Nur-Wissen­schaftler abgewertet: »Genosse Hofweber ist der typische Intelligenzler, der so mit seiner Technik verbunden ist, dass er alles nur unter diesem Gesichtspunkt sieht.« Er bemängelte, dass die Frage der Technik gegenüber politischen Erwägungen zu kurz komme. »Er hofft nun, dass er das durch seine neue Stellung im Rahmen der KVP wird ändern können.«165 Festzuhalten ist, dass Hofweber für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet hatte und instruiert worden war, über seine nationalsozialistische Vergangenheit zu schweigen (NSDAP-Mitgliedsnummer  45078, seit 1923 Mitglied der alten NSDAP, Träger des Goldenen Ehrenabzeichens der NSDAP, Träger des Blutordens, seit 1934 Sturmbannführer, Ausbildungsreferent der SA-Brigade 86). Wegen des Verdachts der Feindtätigkeit erfolgte am 23. März 1956 »seine Festnahme und Einlieferung in die Haftanstalt« des Staatssicherheitsdienstes. Obgleich der Verdacht nicht bestätigt wurde, musste er die Armee verlassen. Seine »Überwerbung« als Geheimer Informator (GI) »Laika« erfolgte am 4. Mai 1956.166 Als GI »Laika« berichtete er dem Staatssicherheitsdienst über das Innenleben des Zentralamtes für Forschung und Technik (ZAFT). In einem Bericht vom 20. Dezember 1960 über Alfred Baumbach äußerte er, dass der in seiner »neuen Funktion als Amtsleiter« nun »systematisch zur absoluten, unkontrollierten Alleinherrschaft über das Amt« übergegangen sei und sich damit die Basis »zur Ausübung des letztlich entscheidenden Einflusses über den Forschungsrat« geschaffen habe. Baumbach habe mit Fritz Selbmann – der zu diesem Zeitpunkt bereits entmachtet und stigmatisiert war – »maßgebend bei der Gründung des Forschungsrates mitgewirkt«. Hofweber behauptete ferner, dass Baumbach nun das Amt isoliere »und es« so »gegen den Einfluss von Partei und Regierung sorgfältig abschirme«.167 Dieser Bericht denunzierte Baumbach extrem, die Tonart war zerstörerisch, ehrabschneidend und raffiniert. Demnach habe Baumbach eine Lügenmaske angelegt, er erfülle alles pünktlich und ideologiekonform, doch »hinter dieser schwer durchdringlichen Maske« habe er »alle entscheidenden Machtpositionen des Amtes in seine Hand« bekommen.168 Hofweber ging es um den Posten Baumbachs, um Macht. 165  HA I/1 vom 8.11.1955: Bericht von »Gontard« am 8.11.1955; BStU, MfS, AOP 809/56, 1 Bd., Bl. 180 f., hier 180. 166  HA I/1 vom 4.5.1956: Überwerbungsvorschlag »GI«; BStU, MfS, AIM  309/67, Teil  I, Bd. 1, Bl. 12 f. 167  Bericht von »Laika« vom 20.12.1960: ZAFT; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 270–284, hier 270. 168  Ebd., Bl. 271.

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Insgesamt gesehen handelt es sich um eine erstaunliche Wendung des AltNSDAP-Mitglieds, oder anders gesagt, um eine Blaupause seiner Vergangenheit; vor allem auch sprachlich: »Das Wichtigste« sei, so Hofweber über Baumbach, »die Züchtung einer Ideologie des ZAFT-Amtspatriotismus, der alle Werte umkehrt«. Allein dieser Text atmet in unveränderter Form den Machtton nationalsozialistischer Verdrehungspropaganda. Hofweber nannte das ZAFT-Konzept Baumbachs »Heilige Familie«, alles was der tue sei nur Lug und Trug, er führe »die Tradition des früheren Amtsleiters Professor [Werner?] Lange, seines Schwiegersohnes, fort«, erfülle alle äußerlichen Pflichten, doch das sei »alles nur äußerer Schein, denn das politische Leben im Amte ist tot und vom revolutionären Feuer unserer Partei glimmen nur noch einige Funken hier und dort«. So sei es gekommen, dass die Genossen der Betriebspartei-Organisation (BPO) nur noch redeten, wenn sie aufgefordert würden. Lediglich »in der Parteigruppe I«, denn das war seine, herrsche noch »eine gute und offene Diskussion, die aber in Gegenwart Baumbachs«, erscheine der, sofort sterbe.169 Hofwebers Vorstellungen über den Forschungsrat waren SED-konform: Es könne »nicht so sein«, dass Baumbach mit »seinem ZAFT als verborgenen Drahtziehern im Hintergrunde, Regierungsfunktionen übernimmt und die Plankommission mittels Anweisungen dirigiert, die man höflich ›Empfehlungen‹ nennt, sondern es muss so sein, dass die Regierung der DDR im ZAFT ein sachverständiges und von Produktionssorgen freies Organ besitzt, das ihr hilft, die Frage der neuen Technik richtig zu entscheiden, anzuleiten und zu kontrollieren«. Und weiter: »Die Regierung und ihr Organ das ZAFT müssen über dem Forschungsrat stehen und ihn anleiten, nicht aber umgekehrt, wie Baumbach es will.« Die Beratungen des Forschungsrates seien erschreckend oberflächlich und nur deshalb »nicht ganz wertlos«, weil deren Mitglieder hervorragende Fachleute seien. Baumbach soll am 5. Dezember 1960 vor der Parteigruppe I gesagt haben, dass »sich die Methode der ›Mimikry‹, also des verborgenen Arbeitens aus dem Dunkel in vielen Jahren bewährt« habe.170 Sein fünfzehnseitiges Elaborat war geeignet, sollten die vorgesetzten Funktionäre Baumbachs es gelesen haben, dessen Beseitigung einzuleiten. Eine Art MachtPsycho­gramm lieferte er als Anlage mit. In ihm waren gleichsam die »Ringe der Macht«, die »Urfamilie« um Baumbach, dargestellt. Um ihn herum der »engere Kreis der ›Heiligen‹ Familie«, dann ein weiterer Kreis, und zuletzt die Ausgestoßenen, »nicht zur ›Familie‹ gehörigen«.171 Ein Klang der Worte, der an den Siebenten Ring Stefan Georges erinnert und an dessen Selbstinszenierung im Kreis seiner ihn anbetenden Jünglinge. Als Insider beschrieb Hofweber am 17. Januar 1961 die »Probleme, die die Intelligenz beschäftigen«: Bis 1947 soll »ein Großteil der Intelligenz daran« geglaubt haben, »unter sich ziemlich offen seine Ansichten äußern zu können«; bei »sehr 169  Ebd., Bl. 273 f. u. 276–1978. 170  Ebd., Bl. 283. 171  Anlage zum Bericht von »Laika« vom 20.12.1960, ebd., Bl. 285.

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Spezifische Vertiefung

vielen bestand« zudem »eine echte Aufgeschlossenheit gegenüber neuen, fortschrittlichen Ideen. […] Opportunisten« hätten »sich allerdings 1945 sofort die nun Erfolg versprechende Maske aufgesetzt«, man habe sie an »ihren Überspitzungen und an ihrer Inkonsequenz im persönlichen Leben bald erkannt und ausgemerzt«. Ein anderer Teil habe es verstanden, »in die Ideologie des Marxismus-Leninismus hineinzuwachsen und mit ihr mehr oder weniger« zu »verwachsen«.172 Eine Selbstoffenbarung mit Perspektivumkehr, die erstaunlich ist. Doch er war nicht nur über einen Kamm zu scheren: Walter Ulbrichts Neujahrsansprache 1961, so Hofweber, habe zwar zum Verständnis der Lage der Intelligenz einiges beigetragen, sei aber so gut wie nicht gelesen worden. Die meisten Bürger, »darunter auch die Intelligenz«, hätten sich »seit langem aus der öffentlichen politischen Diskussion immer mehr zurückgezogen«, man rede nur noch in engsten, vertrauten Kreisen. »Im Notfalle« gebe man die Zeitungen wieder, jedoch so, dass man vermeide, sich »zu kompromittieren«. Man meide »politische Diskussionen«, weil »persönliche Nachteile« befürchtet würden. »Überall« würden »›Spitzel‹« vermutet, auch sei man »davon überzeugt […], dass die Post zensiert und das Telefon abgehört« werde. Missstände zu benennen, bringe nichts ein. Es sei insgesamt »zu einer staunenswerten Entwicklung der Heuchelei gekommen«. Das zeige sich an den hohen Flüchtlingszahlen, die ohne eine Täuschung der Staatsorgane bis zum letzten Tage unmöglich gewesen wäre. Diese Heuchelei sei seit 1900 in Westeuropa geschult worden.« Seither »sind aber ideelle Werte immer mehr in großen Teilen der Intelligenz verdrängt worden durch das nackte Streben nach hohem Einkommen«. Und: »Für das äußere Verhalten großer Teile der Intelligenz ist die Beantwortung der Fragen entscheidend: Bleibt die DDR unter sowjetischem Schutz oder fällt das Gebiet wieder an Westdeutschland?« Gegenwärtig fragten sich viele Menschen, ob der DDR-Staat auch ihr Staat als Intelligenzler sei.173 Hofweber thematisierte das verlorengegangene Vertrauen: »Um den Weg zum wertvollen Teil unserer Intelligenz zu finden, muss man ihr Vertrauen gewinnen.« Wenn man an die Hiergebliebenen denke, so Hofweber im Sinne Ulbrichts, »dann muss man den [bewährten] Angehörigen der Intelligenz auch ein gewisses Maß an Vertrauen zeigen und versuchen, sie auch in die Verteidigung und den Schutz unseres Staates aktiv einzugliedern, soweit sie dazu bereit sind«. Und weiter, seine eigene Biografie vor Augen: »Nach mehr als 15-jähriger Zusammenarbeit muss auch einmal ein Schlussstrich gezogen werden unter früheren Fehlern und falschen Ansichten.« Es schadeten die alten »üblichen Fragebögen wahrscheinlich viel mehr, als sie heute noch nutzen und es würde genügen, wenn die entsprechenden Angaben für die Zeit von [vor] 1945 beim MfS geführt würden.« Ferner: »Bei der Gewinnung des Vertrauens der Intelligenz spielen Presse, Fernsehen und Rundfunk eine entscheidende Rolle. Durch Fachliteratur, Rundfunk, Fernsehen, Verbindungen 172  Analytischer Bericht von »Laika« vom 17.1.1961: Probleme der Intelligenz; ebd., Bl. 296– 305, hier 296. 173  Ebd., Bl. 297 f.

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und Auslandsreisen erfährt die Intelligenz einen großen Teil von dem, was unsere Presse nicht bringt.« Nicht verstanden werden könne, dass die DDR-Wissenschaftler bei Auslandsdienstreisen so arm erschienen (»arme Leute spielen müssen«); auch die »mühevollen Formalitäten und Laufereien« zur Erlangung von Reisen seien misslich, ebenso das Verbot der Nutzung eigener Pkw: »und das alles auch ins sozialistische Ausland!« Überdies sei die Postbeförderung so langsam wie »zur Zeit der Pferdepost«; ein Brief von Oberfranken nach Berlin brauche bereits zehn Tage. »Die junge und jüngere Intelligenz lehnt sowohl die bürokratische Erschwerung des Zelt-Wanderns, als die moralinsaure Prüderie des Innenministeriums in Fragen der Freikörperkultur […] ab«.174 Zwar habe er lange nichts mehr gehört von Benachteiligungen begabter Intelligenzlerkinder, jedoch davon, dass an der HU Berlin jüngere Genossen das Wort führten. Hofweber nannte sie »Parteiadel«, der sich von den parteilosen Genossen bewusst distanziere und sich somit über sie erhebe. Sie würden für sich das »Vorwärtskommen, Auszeichnungen« etc. »monopolisieren […], was zu Abwehrreaktionen der Parteilosen« unweigerlich führe. Angesichts des Produktivvorsprungs Westdeutschlands frage man sich im ZAFT, was die SED falsch mache. Auch betonte er die unüberschätzbare Rolle des Einflusses der Frauen auf ihre Männer in den Reihen der Intelligenz. Sie sähen stärker »die Mängel der Versorgung und das Fehlen von den ›1 000 Kleinigkeiten‹« als ihre Männer. »Sehr viele« Initiativen zu »Republikfluchten dürften mehr von den Frauen, als von den Männern ausgegangen sein«.175 Fallgruppe 2: Der Fall Hanisch, Verschwörungstheoretiker Deutlich mehr noch als Wilhelm Hofweber war Hans Joachim Hanisch Verschwörungstheoretiker. Überall sah er Verrat, zeichnete im buchstäblichen Sinne des Wortes Linien und Kreise von Abhängigkeiten, Seilschaften und »Beziehungskisten«. Hanisch wurde 1934 in Liegnitz, Bezirk Breslau, geboren. Sein Hochschulstudium absolvierte er an der TH Dresden, Fakultät Elektrotechnik, in der Fachrichtung Schwachstromtechnik von 1952 bis 1958. Seine Diplomarbeit schrieb er bei Matthias Falter. Ein Jahr lang, vom April 1957 bis April 1958, war er als EntwicklungsIngenieur im VEB WBN Teltow sowie anschließend, bis Juni 1962, im VEB HWFO tätig. Seine Bewerbung an Werner Hartmann für eine Arbeitsaufnahme in der AME Dresden sandte er am 13. März 1962 ab.176 Er bestand die Einstellungsprüfung. Am 1. Juli 1962 war Arbeitsbeginn.177 In leitenden Stellungen oder Funktionen war er in der Technische Kontrollorganisation (TKO), im Gutachterausschuss des 174  Ebd., Bl. 299–302. 175  Ebd., Bl. 304 f. 176  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 13.10.1964: Bewerbung vom 13.3.1962; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 4885/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 39. 177  Vgl. Personalbogen Hanisch vom 29.2.1980; ebd., Bd. 2, Bl. 3–12, hier 5.

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Deutschen Amtes für Mess- und Warenprüfung (DAMW) und Hauptausschuss der Kammer der Technik (KdT) tätig.178 Mitglied der SED wurde er am 12. April 1961. Er erhielt u. a. folgende Auszeichnungen: Verdienstmedaille der NVA in Gold am 1. Juli 1974, Ehrennadel für Verdienste im sozialistischen Bildungswesen am 26. November 1974, Verdienstmedaille der DDR am 7. Oktober 1977179 sowie die Medaille für treue Dienste der NVA in Gold am 7. Oktober 1984.180 Der Plan zur Kontaktaufnahme reifte beim MfS Anfang September 1964,181 da er von der HV  A / V/WTA zur Auswertung von wissenschaftlich-technischen Materialien ausgewählt und zur Überprüfung eingereicht worden war. Bereits am 7. September wurde er in seiner Wohnung aufgesucht. Das Gespräch ging über fachliche Dinge. Es wurde ein Treffort für ein nachfolgendes, zu vertiefendes Gespräch vereinbart, auch wurde er zur Verschwiegenheit über das geführte Gespräch belehrt.182 Das nachfolgende Gespräch fand im VEB Wasserwirtschaft »Obere Elbe« in Dresden, in einem Dienstzimmer des MfS statt. Die Werbung zum GI erfolgte am 3. November. Hanisch wählte sich den Namen »Rüdiger«. Zu seinen ersten Aufgaben zählte die Berichterstattung im Falle der operativen Bearbeitung seines Diplomvaters. Dem MfS fiel sofort auf, dass Hanisch »Personen ohne irgendwelche Hemmungen« einzuschätzen sich in der Lage zeigte.183 Die Bestätigung zur Auswertetätigkeit für die HV A erfolgte am 5. April 1965.184 Jene für die sogenannte ZZ-Arbeit folgte am 26. April 1966.185 Der Maßnahmeplan zur Entwicklung des IM »Rüdiger« vom 23. Mai 1969 stand bereits in der Perspektive eines Führungs-IM. Hanisch soll seine IM-Tätigkeit »als eine wesentliche Aufgabe« angesehen haben.186 Diese frühe Einschätzung sollte sich massiv bewahrheiten. Vorschlag, Umsetzung und erste Schritte zur Realisierung eines FIM-Systems erfolgten von Ende 1969 bis zum Frühjahr 1970. Zu dieser Zeit war er unter Hartmann stellvertretender Leiter des Laborgebäudes (Versuchsfertigung). Die zu übernehmenden »inoffiziellen Kräfte« hatten alle ein eigenes Arbeitszimmer, es waren dies die GMS »Menzel« (Leiter der Abteilung Technologie), »Rehak« (Leiter der Abteilung Tiefenstruktur) sowie »Köstner« (Leiter der Abteilung

178  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 14.10.1964: 3. Kontaktgespräch; ebd., Bd. 1, Bl. ­18–21, hier 20. 179  Vgl. u. a. Personalbogen Hanisch vom 29.2.1980; ebd., Bd. 2, Bl. 3–12. 180  Vgl. BV Dresden vom 7.10.1984: Auszug aus Befehl Nr. K 344/84; ebd., Bd. 4, Bl. 127. 181  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 14.9.1964: Antrag auf Genehmigung zur Kontaktaufnahme und Werbung; ebd., Bd. 1, Bl. 12. 182  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 8.9.1964: 1. Kontaktgespräch; ebd., Bl. 13 f. 183  BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 4.11.1964: Bericht über die Werbung; ebd. Bl. 50–55, hier 54 f. 184  Vgl. BV Dresden vom 5.4.1965: Bestätigung; ebd., Bl. 92. 185  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 26.4.1966: Bestätigung für die ZZ »DDR – UdSSR«; ebd., Bl. 93. 186  BV Dresden, Abt. XVIII/4, vom 23.5.1969: Maßnahmeplan zur Entwicklung von »Rüdiger« zum FIM; ebd., Bl. 65–69.

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Elektronische Prüfung und Kontrolle).187 Aus letztlich Abwanderungsgründen von GMS wurde seine FIM-Registrierung am 22. November 1971 wieder storniert.188 Im Vorschlag zu seiner Umregistrierung zum IMV vom 28. Februar 1974 ist festgehalten worden, dass er am 23. August 1972 dem FIM »Achim Weikert« übergeben worden war. Dort wurde er allerdings wegen der umfassenden, zeitraubenden Arbeit an Gutachten (siehe Kap. 5.1, MfS-Spezial I) Anfang 1973 wieder herausgelöst. Die Umregistrierung wurde mit seiner Arbeit an »zwei Nachfolgematerialien« begründet, wofür es einer »gezielten, tiefgründigen und konzentrierten Arbeit« bedürfe.189 Mitte 1973 hatte Hanisch die Funktion als Abteilungsleiter und Stellvertreter des Bereichsleiters der Versuchsfertigung »nach Abstimmung [!] mit den Genossen der BV aufgegeben«. Eine zunächst nur für ein Jahr bilanzierte Freistellung von den regulären, eigentlichen Arbeitsaufgaben erwies sich als nicht ausreichend. Sie musste mindestens für ein weiteres Jahr verlängert werden.190 Nach dieser zweijährigen, tagtäglichen Zusammenarbeit mit dem MfS, der Gutachtergruppe und den »Rechtspflegeorganen« schätzte er ein, dass ihm dies für seine »persönliche Entwicklung sehr viel gegeben« habe. Doch stets wusste er seine Er­ gebenheitsadresse mit weitergehenden Forderungen, die oft genug an Unverschämtheit seinesgleichen suchten, zu verbinden; Hanisch: »Die in dieser Zeit durch Euer Organ erfolgten Anerkennungen der geleisteten Arbeit, die hohe Auszeichnung, die mir zuteilwurde, und besonders die vielen persönlichen Kontakte zu Euren Genossen haben in mir ständig das Bewusstsein um die Richtigkeit unserer gemeinsamen Arbeit vertieft und waren mir entscheidender Halt bei der konsequenten und parteilichen Durchführung der gutachterlichen Tätigkeit in Vorbereitung und Auswertung des Prozesses, trotz oft äußerst widriger Umstände und Anfeindungen seitens staatlicher und gesellschaftlicher Funktionäre in der AMD. Dafür möchte ich Euch an dieser Stelle nochmals danken. Meine anlässlich der Auszeichnung in Berlin gegenüber dem Minister ausgesprochene Bereitschaft, auch weiterhin meine Kraft für unsere gemeinsame Arbeit einzusetzen, war deshalb mehr als nur eine aus diesem erfreulichen Anlass gesagte Höf‌lichkeitsformel, sie erfolgte im vollen Bewusstsein um die Notwendigkeit, den mit dem Prozess gegen Dr. Hartwig* begonnenen Weg konsequent fortzusetzen.«191 Alles andere als zurückhaltend forderte Hanisch über seinen weiteren dienstlichen Einsatz zu entscheiden und gab hierfür folgende Randbedingungen zu beachten 187  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/4, vom 12.12.1969: Vorschlag zur Registrierung eines FIM; ebd., Bl. 70–75. 188 Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/4, vom 22.11.1971: Berichtigungs- und Ergänzungsmitteilung; ebd., Bl. 78. 189  BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 28.2.1974: Vorschlag zur Umregistrierung von »Rüdiger« zum IMV; ebd., Bl. 98–100, hier  99 f. Die Umregistrierung erfolgte registraturtechnisch bereits am 19.2.1974, in: BV Dresden, Abt. XVIII/2, vom 19.2.1974: Berichtigungs- und Ergänzungsmitteilung; ebd., Bl. 101. 190  Schreiben von Hanisch an die BV Dresden vom 27.2.1975; ebd., Bl. 115–118, hier 115. 191 Ebd.

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auf: Demnach müsse seine künftige Tätigkeit eine »maximale Information über Vorgänge in AMD ermöglichen« und einen »maximalen Einfluss auf die Durchsetzung von im Prozessergebnis sichtbar gewordenen notwendigen Veränderungen der Leitungstätigkeit in AMD gewährleisten«. Diese Tätigkeit müsse aber vom Zeitvolumen so definiert sein, dass ihm während der Arbeitszeit genügend Zeit für die inoffizielle Arbeit bleibe. Hierzu führte er seine Befähigungen an und forderte geradezu frech die »Übernahme der Funktion des F / E -Direktors in der neuen vorgesehenen Struktur der AMD«. Da aber dem MfS klar war, dass eine solche exponierte und wichtige Funktion äußerst zeitintensiv war, und damit die inoffizielle Arbeit zwangsläufig zu kurz gekommen wäre, kam man überein, ihm die »Funktion des Leiters des Büros des Leiters der AMD« zu übertragen. Hierzu führte das MfS nach vorausgegangener interner Beratung mit dem amtierenden AMD-Leiter sowie der Kaderabteilung am 10. Januar 1975 ein abschließendes Gespräch. Natürlich ging es auch um die Aufstockung seines Gehaltes auf 2 000 Mark (»Sondergehalt«). Hanisch hatte sich bereiterklärt, die neue Arbeit am 1. Februar 1975 zu beginnen. Die Gehaltshöhe wurde mit »der erhöhten Verantwortung (Betriebsorganisation, juristische Vertretung der AMD mit Zuordnung des Justitiars im Büro) und mit Anerkennung der bisher für AMD geleisteten Arbeit begründet«.192 In diesen Absprachen waren einige wenige führende Personen der AMD oberflächlich involviert. Die ganze Wahrheit über den Einsatz Hanischs wurde ihnen nie gesagt. Es waren immer nur Teilwahrheiten, die am Kern der jeweiligen Aufgabe, die konspiriert war, vorbeigingen. Man sagte widerwillig zu und ließ die Sache soweit es eben ging schleifen. Die Beschwerden Hanischs lassen erkennen, dass es erheblichen Unmut sowohl in der AMD als auch in der VVB BuV über seine neue Position gegeben haben muss. Frech forderte er zum Schluss seines Schreibens: »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr über Berlin diesen Vorschlag [variierter Vorschlag: gleiche Funktion wie die obige, aber anders eingebunden plus Stellvertreter des AMDLeiters  – d. Verf.] unterstützen könntet. Angesichts des Zeitdruckes wäre eine Beratung mit den maßgeblichen Genossen der Leitung der VVB und dem Parteiorganisator des ZK bereits während der Messe in Leipzig sicher möglich, ohne dass vorher bei AMD anderweitige Entscheidungen getroffen würden. In Eurem Einschalten würde ich die mir zugesagte Unterstützung erblicken. Mit bestem Dank.«193 Doch mit Schreiben vom 24. März 1975 war auch diese Variante vom Tisch. Der Leiter der AMD, Ralf Kempe, hatte ihn mit Schreiben vom 4. März einfach zum Leiter der Arbeitsgruppe »Wissenschaftsorganisation« berufen. Das darf als Machtbegrenzung gegen das MfS gewertet werden. Mehr war nicht möglich. Doch Hanisch war Hanisch und der gab niemals auf. Er mag den Händedruck Erich Mielkes immer noch gespürt haben. Also forderte er sofort strukturell-thematische Justierungen zu seinem Aufgabenfeld sowie eine deutliche administrative Kompetenzerweiterung. Seine Funktion müsse »in die erste Leitungsebene (Direktorate)« 192  Ebd., Bl. 116 f. 193  Ebd., Bl. 117 f.

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eingeordnet und diese »verbunden« werden mit der »Stellvertreterfunktion des Leiters der AMD«. Er strotzte nur so von Anmaßung: »Ich bitte um entsprechende Unterstützung.«194 Dass Hanisch in der AMD für das MfS arbeitete, dürfte so gut wie jeder geahnt, manche auch gewusst, weil beobachtet haben. Wie tief und direkt aber, dass konnte gewiss keiner erahnen. Wie üblich in solchen Fällen in Instituten und Betrieben wurde er gefürchtet und deshalb auch gemieden, oder gar mehr noch? Am 25. März 1975 berichtete Hanisch von einer Manipulation an seinem Auto am Vortag. Der Startvergaser unmittelbar über dem Auspuffkrümmer war »soweit vom Vergaser abgeschraubt« worden, »dass Benzingas bei Betätigung der Drosselklappe« ausgetreten sei. Auch der Thermofühler soll »abgeschraubt und aus dem Startvergaser herausgezogen« worden sein. Insgesamt seien vier Schrauben in verschiedenen Ebenen gelöst worden. Auch wusste er andere Auffälligkeiten (Anruf, Telefonverbindungsprobleme) zu melden.195 Die dem MfS gemeldete Sache verlief im Sande. War er gar der Manipulator? Das vermutlich letzte, zumindest tradierte Treffen Hanischs – mittlerweile als IME unter dem Pseudonym »Rügen« – mit seinem Führungsoffizier von der Objektdienststelle (OD) der TU Dresden / Hochschulen fand am 8. August 1989 statt. Er trieb, weil in der AMD nachrichtendienstlich verbrannt, seit Jahren dasselbe kriminelle Spiel an der TU – nun als Sicherheitsbeauftragter. Nichts in diesem Gespräch deutet darauf hin, dass die DDR ihrem Ende entgegen ging. Man war dabei, stupide die Aufträge abzuarbeiten.196 Fallgruppe 3: Sicherheits-, resp. Kontrollbeauftragte197 Bei einem Einstellungsgespräch mit einer Bewerberin für die Kontrollgruppe des Forschungsbereiches (FoB) Geo- und Kosmoswissenschaften, das Viktor K ­ roitzsch alias IM »Geos« (Fallgruppe 8) führte, kam der Sicherheitsbeauftragte des ZIPE, Günther Bliesener, hinzu. Kroitzsch stellte Bliesener kurz vor als jemanden, der für die Kontrolle verantwortlich sei. Nach dem Einstellungsgespräch kam der auf Kroitzsch zu und beschimpfte ihn maßlos: Kroitzsch habe nicht sein gesamtes Arbeitsgebiet genannt, er habe schließlich »weitreichende Aufgaben auch innerhalb der AdW der DDR« zu leisten. Auch habe er ihn nicht vorzustellen, er stelle sich selbst vor und drittens habe er ihn gar dekonspiriert.198 Drei Sätze, die als generelles Psychogramm des Sicherheitsbeauftragten (SibE) dienen können. Ernst August Lauter (Hauptakteur des zweiten Hauptkapitels) wollte Bliesener bereits 194  Hanisch: Zum Einsatz in der AMD vom 24.3.1975; ebd., Bl. 119 f. 195  Schreiben von Hanisch vom 25.3.1975 zu einem Vorkommnis am 24.3.1975; ebd., Bl. 121. 196  Vgl. OD TU / H: Bericht von »Rügen« vom 8.8.1989; ebd., Teil II, Bd. 19, Bl. 166 f. 197  Normative Aspekte in: Buthmann: Hochtechnologien und Staatssicherheit, S. 130–151. 198  BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 11.4.1973; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 2, Fiko, Bl. 151 f.

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1968 entfernen.199 Doch der wehrte sich »entschieden gegen seine Ablösung«.200 Zahlreich sind die Vorbehalte zu Bliesener. Etwa zu seiner Mitreise nach Prag in Interkosmos-Angelegenheiten, als es zwischen Lauter und Bliesener zu einer »großen Auseinandersetzung« gekommen war. »Lauter soll zu Bliesener gesagt haben«, dass er »sich nicht vorstellen« könne, wozu er »mit nach Prag gefahren ist«.201 Alle anderen aber hatten vor Bliesener Angst, manchmal kam das auch in die Akten: »Schmelovsky hat vor Bliesener Angst.«202 Einmal ging der Verdacht in der Belegschaft des Institutes für Elektronik um, dass Bliesener am Wochenende vor dem 3. April 1972 in mehreren versiegelten Zimmern gewesen sei, so auch im Sekretariat Karl-Heinz Schmelovskys und in der VVS-Hauptstelle, jedenfalls in vielen Zimmern. Auch an Panzerschränke habe er sich herangemacht. In die Enge getrieben soll er zugegeben und erklärt haben, dass er nur kontrolliert habe, ob die Fäden fest gewesen seien.203 Sicherheitsbeauftragte waren in der Regel unangenehme Mitarbeiter. Man ging ihnen, wo immer möglich, aus dem Wege. Arbeiteten sie »ordentlich«, so beäugten und bewerteten sie praktisch alles, was ihnen im Institut oder Betrieb unter die Finger kam. Und das war praktisch alles, so der Direktor oder Betriebsleiter ihn nicht ausgrenzte, wie es etwa Werner Hartmann weitestgehend versuchte. Weder die Direktoren noch die Kaderleiter besaßen eine solch komplexe und tiefe Einsicht in sämtliche Belange des jeweiligen Hauses. Ihre dem MfS übergebenen Berichte, Analysen und Kopien von Dokumenten bildeten gleichsam Subarchive aus. Der Sicherheitsbeauftragte des Instituts für Kosmosforschung (IKF), Frithjoff Gentz, benötigte in den Wintermonaten 1989/90 drei volle Monate, um die gehorteten Dokumente und Unterlagen zu beseitigen oder dem MfS zu übergeben. Gut erhaltene, anschauliche Musterakten solcher Sicherheits- oder Kontrollbeauftragten bilden zum Beispiel die IME Günter Pätzold alias IM »Kosmos« vom FoB Kosmische Physik und Kurt Repenning alias »Rainer« von der TH Ilmenau204. Die Sicherheitsbeauftragten waren ab 1968 regelmäßig bei sämtlichen wichtigen Besprechungen, teilweise auch bei Auslandsdienstreisen von Wissenschaftlern präsent. Sie erhielten alle relevanten staatlichen und betrieblichen Dokumente sowie allgemeine Instruktionen, Schulungen und auch immer wieder Vergatterungen zu speziellen Aufgaben oder Aufgabenkomplexen. Zur Veranschaulichung ein Beispiel aus dem VEB Elektromat Dresden (EMD), wo Rolf Mende alias IME »Horst« als Kontrollbeauftragter fungierte. Er erhielt 1976 u. a. folgende Aufgaben im Rahmen einer Einsatzkonzeption, die im Zusammenhang der Gutachtertätigkeit stand: 199  Vgl. HFIM »Böttger« vom 29.4.1968: Monatsbericht Mai 1968; BStU, MfS, TA 549/85, Bd. 1, Bl. 87 f., hier 88. 200  HFIM »Böttger« vom 26.7.1968: Monatsbericht Juli 1968; ebd., Bl. 93–97, hier 94. 201  HFIM »Böttger« (o. D.): Monatsbericht Juni 1969; ebd., Bl. 226–231, hier 229. 202  HFIM »Böttger« vom 27.10.1969: Monatsbericht Oktober 1969; ebd., Bl. 263–269, hier 264. 203  Vgl. HA XVIII/5 vom 26.4.1972: Bericht zum Treffen mit »Dagmar«; BStU, MfS, AIM 11940/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 42–48, hier 48. 204  BStU, MfS, BV Suhl, AIM 1592/90. Explizite Darstellung in: Buthmann: Die politische Geschichte der TH Ilmenau, Kap. 6.3.

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»1. Probleme und Hemmnisse bei der Durchsetzung wesentlicher Aufgaben der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit der UdSSR unter Berücksichtigung des Regierungsabkommens auf dem Gebiet der Elektronik. 2. Probleme und Realisierungsfragen des Planes Wissenschaft und Technik. 3. Entwicklungsprobleme bei der Vorbereitung und Durchführung der sozialistischen ökonomischen Integration. 4. Sicherung der Außenhandelsbeziehungen zum NSW. 5. Aktivitäten multinationaler Konzerne zum Schaden der Volkswirtschaft der sozialistischen Länder, vor allem der DDR. 6. Beachtung aller Hinweise zur Klassenkampfsituation und deren Auswertung zur Erhöhung der Wachsamkeit der Werktätigen im Verantwortungsbereich. 7. Gewährleistung des Geheimnisschutzes und Arbeit mit den Geheimnisträgern. Durchsetzung der ›Anordnung zum Schutz von Staatsgeheimnissen vom 20. August 1974‹. – Auswahl, Erziehung und Schulung der Geheimnisträger; – Durchführung operativer Untersuchungen und Aufgaben, die sich aus der jeweiligen Lage ergeben. 8. Auswahl, Überprüfung und Schulung von operativ interessanten Personenkategorien, wie z. B. Reisekader, Kader für langfristigen Einsatz im NSW und SW, Perspektivkader usw. 9. Mitarbeit des IME in der Kommission zur Bestätigung von dringenden Familien­ angelegenheiten – Ausreise. 10. Mitarbeit des IME in der AG des Generaldirektors zur Untersuchung des OV ›Entwicklung‹ der BV Dresden, Abteilung XVIII. Der Einsatz des Gutachterkollektives erfolgte unter Legende.«205 Dies war jene Gutachtergruppe, die unter Leitung Hanischs stand [Kap. 5.1, MfS-Spezial I].

1980 ist Mende zum Leiter der Inspektion berufen worden. Dies geschah im Zusammenhang mit der Gründung des VEB Zentrum für Forschung und Technologie der Mikroelektronik Dresden (ZFTM), der Nachfolgeeinrichtung der AME resp. AMD. Nicht alle Bände seiner Arbeitsakte sind überliefert, allein die Bände Nr. 1 bis 14 (bis 1986) umfassen 5 304 Blatt.206 Der Fall Günter Pätzold alias IM »Kosmos« belegt exemplarisch, auf welche Weise die SED politische Kommissare mit Geheimdiensthintergrund installierte, die grundsätzlich, und dies im Namen der Sicherheit der DDR, Ineffektivität bewirkten. Auch sein Tun war Raubbau an Ressourcen vielfältiger Art, abzüglich jener Arbeiten, die dem normalen Standard von unpolitischen Sicherheitsbeauftragten gehorchen. Der Fall Pätzold zeigt überdies, wie die SED ihre Wissenschafts- und Sicherheitspolitik interpretierte und was es zwingend bedeutet, wenn diese Quellenart keine Berücksichtigung bei historischen Studien findet. Der überlieferte Aktenbestand ist unabhängig von seiner prototypischen Art in der Frage der SiBe-Funktion von 205  KD Dresden-Stadt, Linie XVIII, vom 24.11.1975: Plan der Zusammenarbeit mit »Horst« für das Jahr 1976; BStU, MfS, BV Dresden, AIM 6674/90, Teil I, Bd. 1, Bl. 124–126, hier 124 f. 206  Vgl. BV Dresden, Abt. XVIII/1, vom 2.9.1986: Veränderungs- und Ergänzungsauftrag; ebd., Bd. 2, Bl. 59 f.

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außerordentlicher Bedeutung für die Rekonstruktion der Geschehnisse auf wichtigen Teilgebieten der Interkosmos-Problematik, in Sonderheit jener Obliegenheiten, die einen Bezug zu Ernst August Lauter aufweisen. Pätzold war SibE für die Institute des FoB Kosmische Physik resp. Geo- und Kosmoswissenschaften. Eine Sekretärin im FoB äußerte einmal, dass es den Mitarbeitern bekannt sei, dass Pätzold sich »alles leisten« könne. Er werde mit den Mitarbeitern des MfS gleichgesetzt, ja, er betone dies sogar selbst.207 Pätzold wurde 1938 in Peterswaldau geboren. Der gelernte Schlosserlehrling beendete 1960 die praktische Arbeit und wurde Instrukteur der FDJ-Kreisleitung Brandenburg. Nach einer dreijährigen Armeezeit von 1961 bis 1963 ging er zurück in die Produktion als Lehrmeister in den VEB IFA-Getriebewerke Brandenburg. Wissenschaftliche Belange waren ihm fremd. Dennoch wurde er 1970 im FoB Kosmische Physik als SibE installiert.208 Zunächst kam er – quasi zur Einschulung – in die vom OibE Günther Jahn geleitete HA AK. Bereits am 1. Mai 1971 wurde er als Leiter der Kontrollgruppe beim Leiter des FoB eingesetzt. Völlig fachfremd, hatte er fortan fachliche Probleme eines recht elitären und differenzierten Forschungszweiges der Physik zu bewerten. Sein Gehalt lag deutlich über dem Durchschnitt der wissenschaftlichen Mitarbeiter, zuletzt kam es nahe an das Gehalt eines Professors heran.209 Fünf Monate nach seiner Funktionsübernahme im FoB beurteilte ihn ein ebenso fachfremder wie er selbst, nämlich der Kaderleiter und GMS Max Becker wie folgt: »In seiner Tätigkeit konzentrierte er sich im Wesentlichen auf das Zentralinstitut für Physik der Erde (ZIPE) und das Zentralinstitut für Astrophysik (ZIAP), wo er unter komplizierten Bedingungen versucht, die politisch-ideologischen Probleme einer Klärung zuzuführen. Seine Hinweise und Kritiken bei der weiteren Durchsetzung der Akademiereform und der Verwirklichung der Wissenschaftskonzeptionen stellen eine wertvolle Hilfe für die staatlichen und gesellschaftlichen Leitungen der Zentralinstitute dar.« Und Becker, der wusste, dass der zu Beurteilende ein MfSMann war, lobte ihn ausgiebig, da er »konsequent die Interessen des Arbeiter- und Bauernstaates« vertrete und für »die Durchführung der Beschlüsse von Partei und Staatsführung« kämpfe. Und er log, wenn er dessen beruf‌liche Herkunft für den akademischen Raum verschönerte: »Bis zu seiner Aufnahme in der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin war Genosse Pätzold im pädagogischen Bereich tätig. Er besitzt den Hochschulabschluss eines Diplom-Lehrers für Gesellschaftswissenschaften. Seit sechs Jahren ist er als Leiter der Kreiskommission der SED-Kreisleitung in Brandenburg zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung tätig.« Den Verantwortungsbereich Pätzolds umriss Becker mit 207  BV Potsdam vom 22.4.1982: Leiter der Kontrollgruppe im FoB GK; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 474/84, Teil II, Bd. 2, Bl. 54. 208  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 7.5.1974: Auskunftsbericht; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII, Nr. 32, Teil I, Bd. 1, Bl. 9–32, hier 10. 209  Vgl. AdW, FoB GK, vom 30.1.1987: Ergebnisse des Leistungsgespräches; ebd., Bl. 50.

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»Ausarbeitung, Koordinierung und Kontrolle der Aufgaben, die dem Leiter des Forschungsbereiches in seinem Verantwortungsbereich aus dem Beschluss des Minister­ rates vom 25. September 1968 über die Grundsätze zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in den Staats- und Wirtschaftsorganen, VVB, VE-Kombinaten und -Betrieben« zukämen. Pätzold beabsichtige, an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften »Walter Ulbricht« zu promovieren.210 Damit sollte in der Akademie eine äußere Gleichstellung bewirkt werden. In den Unterlagen des BStU findet sich ein Beleg für ein einjähriges Studium an der Ingenieurschule für Maschinenbau Magdeburg mit dem Abschluss »Meister« sowie im Anschluss daran wiederum ein einjähriges Studium am Institut zur Ausund Weiterbildung von Lehrmeistern Karl-Marx-Stadt mit dem Abschluss »Lehrmeister«. Es ist nicht klar, ob dies im Direktstudium geschah, da in der Liste der Berufstätigkeiten ab 1. Februar 1963 »Lehrmeister« eingetragen ist. Um 1970 befand er sich in einem Hochschulfernstudium mit dem Abschlussziel als Diplomlehrer für Staatsbürgerkunde bis zur Klasse  12.211 Eine spätere Leistungseinschätzung des Leiters des FoB Geo- und Kosmoswissenschaften, Heinz Kautzleben, vom 5. Oktober 1984 ist derart glanzvoll, wie sie manchem guten Fachmann, zumal wenn der politisch aufgefallen war, nie zuteil wurde; Zitat: »In seiner Eigenschaft als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Ordnung und Sicherheit und Geheimnisschutz in der Leitung des FoB GK hat Genosse Dr. Pätzold mit hohem Verantwortungsbewusstsein und persönlichem Engagement auf diesem Gebiet an den Instituten und Einrichtungen eine wertvolle Hilfe geleistet. Aus seiner analytischen und prognostischen Tätigkeit konnten in der Leitung des FoB in wissenschaftsstrategischer und wissenschaftspolitischer Hinsicht wertvolle Schlussfolgerungen zur Verbesserung der Leitungstätigkeit gezogen werden. Die Aktivitäten des Genossen Dr. Pätzold auf dem Gebiet der internationalen Arbeit verdienen besondere Anerkennung. So wurden z. B. im Ergebnis seiner operativen Anleitung und Kontrolle in Vorbereitung und Auswertung von Auslandsreisen gesellschaftlich wirksame Arbeitsergebnisse erzielt.«212 Da dürfte auch besonders der Umstand gemeint gewesen sein, dass er dienstliche Reisen von Mitarbeitern verhinderte. Nicht nur Kroitzsch alias »Geos« berichtete über den Versuch Pätzolds, selbst einen Institutsdirektor dirigieren zu wollen. Der soll ihn, Kroitzsch, und einen Kollegen zu sich »zitiert« haben und von beiden gefordert haben, auf den amtierenden Institutsdirektor des ZIAP, Gerhard Ruben alias IM »Astronom«, Einfluss dahingehend auszuüben, »damit dieser den Weisungen des Pätzold nachkomme. Gen[osse] Pätzold zeichnete einen Netzplan, in dessen Mitte [X] stand. Er erklärte, dass er einer wichtigen Spionagesache auf der Spur sei. [X] würde im Mittelpunkt stehen. Dr. Ruben hätte seine Weisung nicht befolgt und [X] dienstlich in die ČSSR fahren lassen, wo er seine Westkontakte jetzt abwickelt. [X] hätte sich diese Dienst210  AdW, FoB Kosmische Physik, WS, vom 13.10.1971: Beurteilung; ebd., Bl. 44–46, hier 44 f. 211  Vgl. Personalbogen und Lebenslauf vom 22.4.1970 und 7.5.1974; ebd., Bl. 9–30 u. 31 f. 212  AdW, FoB GK, vom 5.10.1984: Leistungseinschätzung; ebd., Bl. 48.

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reise selbst verschafft und Ruben sollte sie ablehnen, ohne einen Grund dafür zu erfahren.« Die beiden sollten nun mit Ruben reden, nicht aber seinen Namen nennen. Der IM »Geos« hierzu: »Pätzold gibt dem Direktor des ZIAP Weisungen, wer wohin fahren darf und wer nicht, ohne ihm dafür Gründe zu nennen, was recht ungewöhnlich ist.«213 Direktor des ZIAP war Hans-Jürgen Treder von 1969 bis 1982. Ein anderes Beispiel seines Tuns streift den Tatbestand der Vorteilsnahme im Amt. Pätzold hatte vom Direktor verlangt, einen Arbeitsraum für zwei Angehörige des Instituts für Staat und Recht zur Verfügung zu stellen. Er folgte hierin der Bitte seines Doktorvaters. Ruben soll dieser Forderung nicht sofort nachgekommen sein, da dem Institut ohnehin Räume chronisch fehlten. Also lief Pätzold zu Treder. Der reagierte offenbar gar nicht. Kroitzsch riet Pätzold, den Dienstweg einzuschlagen und sich an den Leiter des FoB Gesellschaftswissenschaften zu wenden, der dann mit Heinz Stiller, Leiter des FoB Kosmische Physik, in Verhandlung treten möge. Exakt das geschah. Stiller alias IM »Martin« stimmte zu.214 Auch Ruben berichtete hierüber dem MfS am 10. Mai 1973 und fand die rechten Worte für solche Eigenmächtigkeiten; es ist zu zitieren: »Ich habe versucht, das zu verhindern.« Doch Stiller unterband das normale staatliche Verfahren: »Wir sollen die Leute aufnehmen.« In sechs, teils expliziten Darlegungen schilderte Ruben Pätzolds Gebaren, fünf fingen wie folgt an: »Pätzold nutzt«, »Pätzold maßt« sich an, »Pätzold demonstriert«, »­Pätzold hetzte«, »Pätzold drohte«.215 Nur zwei Monate später beschwerte sich Becker über Pätzold, da der im Zuge des Umzuges des Forschungsbereiches in das Objekt des ZIPE über Bestechungsgeld veranlasst haben soll, »exquisite Möbel« des Forschungsbereiches »in sein Zimmer zu überführen«. Die Mitarbeiter des Hauses hätten dies mitbekommen. Das MfS beschloss, mit Pätzold darüber zu sprechen und von ihm eine schriftliche Stellungnahme abzufordern.216 Das MfS erfuhr von der Ehefrau des IM »Peter«, dass die Mitarbeiter der Sternwarte Babelsberg sicher seien, dass Pätzold für das MfS arbeite. »Als Fakten wurden genannt: Starker Einfluss auf die Entscheidungen der Leitung; Einschalten in Telefongespräche; Befragung einzelner Mitarbeiter, z. B. Teilnehmer der X. Weltfestspiele über Kontakte zu Personen aus Westberlin; Einfluss auf die Vergabe und Belegung von Räumlichkeiten« sowie die »ständige Zusammenarbeit mit dem Parteisekretär«. Das MfS reagierte sofort mit der Aufforderung an den Führungsoffizier Pätzolds, darauf hinzuweisen, dass der mit Pätzold »streng konspirativ zusammenzuarbeiten« habe. »Es ist alles zu vermeiden, was indirekt oder direkt auf Kontakt mit MfS hinweist – auch gegenüber Becker [und] staatlichem Leiter«. Man möge auf ihn hinwirken, dass er sich nicht in Telefongespräche ein213  BV Potsdam vom 17.4.1973: Bericht von »Geos« am 11.4.1973; ebd., Bl. 52. 214  Ebd., Bl. 52 f. 215  BV Potsdam: Bericht zum Treffen mit »Astronom« am 10.5.1973; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 256–258. 216  BV Potsdam, Abt. XVIII / AG I, vom 13.6.1973: Bericht von Becker am 11.6.1973; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII, Nr. 32, Teil I, Bd. 1, Bl. 54.

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schalte.217 Das war Anfang 1974. Auf Leitungsebene kam es bereits 1971 zur faktischen Enttarnung Pätzolds: Am 2. Juni 1971 führte er ein längeres Gespräch mit Stiller über das Auftreten von Ernst August Lauter am 18. Mai. Stiller erwähnte, dass Klaus Rother alias IM »Omega« »ihm gegenüber geäußert« habe, dass er »vom MfS wäre und in dessen Auftrag arbeite«. Rother habe dies von Heinz Neuhoff (siehe unten), »der wiederum durch Professor Kautzleben informiert worden sein soll. Professor Stiller hat durch diese Information die Hauptabteilung [die HA AK – d. Verf.] konsultiert und das weitere Vorgehen in der Leitungsebene zur Zerschlagung des Arguments besprochen.«218 Die gefühlte und gefürchtete Macht solcher Sicherheitsbeauftragten oder Kontrollbeauftragten war allgegenwärtig. Der IM »Roland« berichtete am 9. Februar 1982 über Pätzold: »Bei meinen Mitarbeitern« in der Verwaltung der Dienstleistungseinrichtung Potsdam (VDE), »von denen er ja immer mal etwas braucht, auch für private Belange, hat er einen sehr schlechten Ruf. Sie realisieren seine Forderungen nur deshalb, weil sie Nachteile für sich fürchten. Ansonsten würden sie keinen Finger krumm machen.«219 Anders als von den Chefetagen kam von der Basis Kritik: Im Kollektiv verhalte sich Pätzold »farblos«, zeige eine gewisse Absti­ nenz, schirme seinen Bereich ab, agiere »zu auf‌fällig«, seine Handlungen zielten auf Effekte, er fühle sich als Mitarbeiter der HA AK, er sei »nicht gewillt, sich aktiv an der Lösung gestellter Aufgaben zu beteiligen«. Sein »geflügeltes Wort« sei: »›ich beobachte nur und gebe notfalls Hinweise‹«.220 Arbeiten sollten andere. Promoviert wurde er mit einem Thema der Arbeiterbewegung nach 1945 im Kreis Brandenburg. Ein Wissenschaftler des FoB kritisierte ihn einmal (freilich mit Samthand­ schuhen) gegenüber einem Dritten in einer Angelegenheit, die thematisch von zentraler Bedeutung für die Untersuchung ist: Er greife in Fragen wissenschaftlicher Natur ein, von denen er »aber viel zu wenig versteht«. So komme es zwangsläufig zu Missverständnissen. »Man kann die Probleme von Sicherheit und Ordnung nicht losgelöst vom Inhalt betrachten und er muss sicher einen inhaltlichen Überblick haben und hat ihn auch. Die konkreten inhaltlichen Fragen sollte er aber den Fachleuten überlassen und daraus resultierende Probleme seines Aufgabenbereiches mit den jeweiligen Fachleuten lösen. Er sollte sich aber aus inhaltlichen Fragen heraushalten, das macht er derzeit nicht immer.«221 Er überbetone die für ihn lukrativen Aufgaben. Dazu sei eine Tendenz der Überheblichkeit und Selbstüberschätzung gegeben.222 217  BV Potsdam vom 17.1.1974: Sternwarte Potsdam; ebd., Bl. 55. 218  Ohne Kopfangaben, gez. »Kosmos«; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 11. 219  BV Potsdam vom 11.2.1982: Bericht zum Treffen mit »Roland« am 9.2.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII, Nr. 32, Teil I, Bd. 1, Bl. 56. 220  BV Potsdam vom 26.7.1982: Bericht zum Treffen mit »Erich Arnold« am 26.7.1982; ebd., Bl. 58 f. 221  BV Potsdam vom 6.5.1983: Gespräch am 3.5.1983; ebd., Bl. 63. 222  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 16.11.1976: Einsatz- und Entwicklungskonzeption für »Kosmos«; ebd., Bl. 68 f.

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Spezifische Vertiefung

Während einer sechswöchigen Krankschreibung benutzte Pätzold den Dienstwagen ausgiebig (110 Liter Benzin), nicht zuletzt, um auf die Jagd zu gehen. Er war leidenschaftlicher Hobby-Jäger. Der Vorfall sorgte für Ärger. Einmal mehr löste sein feudal anmutendes Verhalten Diskussionen in weiten Teilen der Belegschaft aus. Das MfS war besorgt: »Es wurde ihm aufgezeigt«, dass er damit »immer wieder den Anschein von Sonderprivilegien und besonderen Beziehungen zu den Sicherheitsorganen« Nahrung gibt.223 Er solle Handlungen unterlassen, die den Eindruck erwecken könnten, dass sie vom MfS autorisiert worden seien. Er »wurde nochmals auf die Vertraulichkeit der Zusammenarbeit mit dem MfS hingewiesen.«224 Aber das MfS benötigte solche Mitarbeiter dringend, allein schon deshalb, weil sie – quasi berufsmäßig rund um die Uhr – alles Mögliche berichteten. So informierte Pätzold am 18. Mai 1975, dass um 20.05 Uhr der Fahrer eines Pkw vom Typ Wartburg mit zwei männlichen Personen aus der Bundesrepublik gesprochen habe: »Der Fahrer bekam von einer Person einen gefüllten Intershopbeutel übergeben. Zwischen den drei Personen fand eine angeregte Unterhaltung statt.«225 Das Geschehen fand auf dem Parkplatz der Raststätte Michendorf bei Potsdam statt. Aus solchen »Zufälligkeiten« entstand oft Gefahr für die Betroffenen. Schwerpunkt der Tätigkeiten Pätzolds im Zeitbereich dieser Untersuchung waren vor allem Fragen, die mit den Interkosmos-Aufgaben zusammenhingen.226 Die Treffs mit ihm fanden alle Woche einmal, mindestens jedoch vierzehntäglich statt. Operativ notwendige Treffen wurden zwischengeschoben. Von der Zusammenarbeit mit dem MfS wussten 1973 explizit Treder, Stiller und Kautzleben.227 Das resultierte aus der Normative seiner institutionellen Integration. Der SibE  – als IM in Schlüsselposition – war staatlich gesehen ein Funktionalorgan und als solches dem Leiter des FoB Geo- und Kosmoswissenschaften »direkt unterstellt«. Anleitung, Aufgabenstellung und Rechenschaftslegung erfolgten durch die HA  AK. Damit sollte seine eigentliche Tätigkeit verschleiert werden. Pätzold verfügte nicht über operative Unterlagen und / oder Materialien des MfS. In seinem Panzerschrank bewahrte er erarbeitete Informationen und »die sogenannten Objektvorgänge, die im Auftrage der Hauptabteilung ›Auswertung und Kontrolle‹ [HA AK] der AdW der DDR geführt« wurden, auf.228 Zu den sehr vielfältigen Aufgaben Pätzolds zählten auch solche, die zu den klassischen der Hauptamtlichen gehörten. Beispielsweise nahm er an konspirativen 223  BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 28.9.1983: Aussprache mit »Kosmos«; ebd., Bl. 79 f. sowie BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 23.8.1983: Verhalten des IME; ebd., Teil II, Bd. 6, Bl. 94. 224  Ebd., Aussprache mit »Kosmos«, Bl. 80. 225  BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 23.5.1972: Bericht von »Kosmos« am 18.5.1972; ebd., Teil II, Bd. 1, Bl. 189. 226  Vgl. Einsatz- und Entwicklungskonzeption vom 16.11.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII, Nr. 32, Teil I, Bd. 1, Bl. 68 f. 227  BV Potsdam, Abt. XVIII / AG I, vom 16.1.1973: Einschätzung zu »Kosmos«; ebd., Bl. 70 f. 228  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 27.6.1975: Kader- und sicherheitspolitische Einschätzung des SiBe / I ME »Kosmos«; ebd., Bl. 74 f.

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Arbeitsplatzkontrollen des MfS teil.229 Sein letzter schriftlich überlieferter Bericht datiert vom 25. Oktober 1989, gegeben in seinem Dienstzimmer, da zu diesem Zeitpunkt die IMK »Leichsenring« nicht mehr benutzt werden konnte. Der MfS-Offizier notierte, dass es Pätzold »schwerfällt, sich auf die neue Situation einzustellen«, die sich in der DDR ergebe.230 An diesem Tag hatte er u. a. berichtet, dass Stiller weitestgehend entmachtet worden sei. Dies soll auf Intervention von Kautzleben und dem OibE Jahn geschehen sein (siehe Kap. 4.2.2).231 Die Geschichte der Einbindung Pätzolds in das System des MfS ist lehrreich, gerade auch, weil sie in Bezug auf Sicherheitsbeauftragte kein Einzelfall ist. Die SibE waren nicht nur von ihrem Gefühl her immer mehr hauptamtliche als nur inoffizielle Mitarbeiter. Das Elitebewusstsein ist ihnen eingegeben worden. Oftmals waren es auch Offiziere im besonderen Einsatz (OibE). Im Bd. 1 des Teils  I der Akte (sogenannte P-Akte) ist mit Datum vom 1. Dezember 1989 vermerkt, dass »im Rahmen der Aktualisierung der P-Akte des IME ›Kosmos‹« Blätter entnommen und vernichtet wurden, die »im Rahmen des Bestätigungsverfahrens sowie zur Aufklärung des OibE realisierten Speicherüberprüfungen einschließlich Formblätter aus nachfolgenden« Sicherheitsüberprüfungen angelegt worden waren.232 Tatsächlich war er als OibE vorgesehen, ist jedoch nicht bestätigt worden. Im Band 2 der P-Akte ist ein Gespräch zwischen dem MfS und Pätzold zum Zwecke der Klärung seiner Bereitschaft vermerkt, in den hauptamtlichen Dienst des MfS zu treten, das am 2. September 1970 stattfand. Pätzold war einverstanden. Zu diesem Zeitpunkt war er Lehrer an der BBS des VEB IFA Getriebewerke Brandenburg.233 Ein weiteres Gespräch fand am 16. Oktober statt, hier ging es um die Eignung als OibE.234 Der Vorschlag zur Einstellung Pätzolds als OibE für den FoB Kosmische Physik erfolgte am 9. September, demnach handelte »es sich um die Wiederbesetzung einer Planstelle eines Offiziers im besonderen Einsatz«. In der Begründung heißt es, dass der FoB »in sich die Forschungskapazitäten der DAW zu Berlin auf den Gebieten der kosmischen, geodätischen, geophysikalischen Arbeit« vereinigt. Hierbei komme der geodätisch-geomagnetischen und astronomischen Arbeit »besondere Bedeutung im Rahmen der Landesvermessung, -erforschung und der Satellitengeodäsie zu«. Einige Forschungsarbeiten seien »von direkter militärischer Bedeutung für die Erhaltung und Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft der DDR«. U. a. wurde darauf 229  Beispiel: BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 28.4.1988: Bericht zum Treffen mit »Kosmos« am 30.3. sowie 20. u. 26.4.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 8, Bl. 159 f., hier 160. 230  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 25.10.1989: Bericht zum Treffen mit »Kosmos« am 19. u. 25.10.1989; ebd., Bd. 9, Bl. 79 f., hier 79. 231  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 25.10.1989: Bericht zum Treffen mit »Kosmos« am 25.10.1989; ebd., Bl. 81. 232  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 1.12.1989: Vermerk; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII, Nr. 32, Teil I, Bd. 1, Bl. 101. 233  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 4.9.1970: Aussprachebericht mit dem Kandidaten; ebd., Bd. 2, Bl. 2–4. 234  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 5.11.1970: Aussprachebericht mit dem OibE-Kandidaten; ebd., Bl. 5 f.

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verwiesen, dass zahlreiche Mitgliedschaften in internationalen Vereinigungen und Institutionen bestünden, »zum Teil historisch entstandene und subjektiv aktivierte, eine Vielzahl wissenschaftlicher Querverbindungen in das kapitalistische Ausland«. Schlussendlich ergebe sich daraus »die Notwendigkeit der Schaffung eines« OibE »im Raum Potsdam, um die Wirksamkeit des Sicherheitssystems im Rahmen der DAW zu gewährleisten«.235 Zur Legendierung des Einsatzes als OibE war vorgesehen (dies war im Falle eines IME für die Position des Sicherheitsbeauftragten grundsätzlich nicht anders): Pätzold werde »über die Abteilung Inspektion [das ist die HA AK – d. Verf.] bei der DAW Berlin als Beauftragter beim Leiter des FoB Kosmische Physik, Gen[ossen] Professor Stiller, für den Potsdamer Bereich eingesetzt.« Stillers Einverständnis lag vor. »Über die Fragen der Attestierung und der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS erhält der staatliche Leiter keine Kenntnis. Gen[osse] Pätzold wird Mitglied der Grundorganisation des Forschungsbereiches.« Der Vorschlag wurde am 10. Dezember 1970 bestätigt. Das Schreiben enthält einen Bestätigungsvermerk vom Leiter der HA XVIII und späteren Stellvertreter Mielkes, Rudi Mittig.236 Doch der Leiter der Hauptabteilung Kader und Schulung, Generalmajor Robert Mühlpforte, bestätigte ihn nicht. Die Begründung hierfür lautete: »Bei dem zurzeit bestehenden Lehrermangel und unter Berücksichtigung des Aufwandes der Ausbildung als Diplom-Lehrer ist ein berufsfremder Einsatz des Genossen Pätzold nicht gerechtfertigt. Die Aufgabenstellung im vorgesehenen Einsatzobjekt entspricht ebenfalls nicht den fachlichen Kenntnissen des Kandidaten.«237 Am Ende blieb nur die Möglichkeit, ihn als IME einzusetzen. 1974 wurde er zur Bestätigung als Reservekader des MfS eingereicht.238 Zum Schluss soll auf einen weiteren Schwerpunkt hingewiesen werden. Es ist jenes Berichts- und Meldewesen zu besonderen Vorkommnissen, das zwischen dem Sicherheitsbeauftragten des ZIPE, also Pätzold, und dem Leiter des wissenschaftlichen Sekretariats, zu dieser Zeit Heinz Neuhoff, wie ein Filter aufgespannt war. Allein diese Zusammenarbeit zeigt einen erheblichen Machtfaktor, der unter ­Honecker die praktische Wissenschaftsausübung zunehmend beeinflusste. Ein Filter, der die Arbeit des MfS erleichterte.239 Die Personalie Neuhoff ist geeignet, auf einen weiteren Zusammenhang hinzuweisen, und zwar den der Registratur als GMS. Etwa bei zwanzig Prozent aller im Untersuchungskontext vorkommenden GMS gibt es erhebliche Zweifel daran, dass sie überhaupt wussten, dass ihre offiziellen Gespräche (auch) unter inoffizieller Warte 235  BV Potsdam vom 9.9.1970: Vorschlag zur Einstellung als OibE; ebd., Bl. 7–12, hier 8. 236  HA XVIII / SB vom 10.12.1970: Bestätigungsvermerk; ebd., Bl. 13. 237  HA Kader und Schulung, AG für OibE, vom 21.12.1970: Kadervorschlag – OibE; ebd., Bl. 14. 238  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / AG I, vom 17.10.1974: Vorschlag zur Bestätigung als Reservekader; ebd., Bl. 15–23. 239 Vgl. BV Potsdam vom 27.5.1971: Monatsbericht Mai 1971; BStU, MfS, BV  Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 5 f.

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abliefen. In der Untersuchung ist fallbezogen darauf verwiesen. Es handelt sich eher um ein Artefakt registraturtechnischer Art, denn als – in der Regel zumindest – gewollter (statistischer) Betrug des betreffenden Führungsoffiziers. Der Fall Neuhoff ist ein Grenzfall. Neuhoff, Jahrgang 1920, war in den 1950er- und 1960er-Jahren im Schuldienst und dort bis hinauf zum Schuldirektor tätig gewesen.240 Ab dem 1. August 1969 übernahm er, für seine ehemalige Umgebung höchst überraschend, im FoB »Kosmische Physik« die Funktion des Kaderleiters. Das MfS kontaktierte ihn sofort und machte ihm klar, dass er eng mit dem MfS zusammenarbeiten müsse. Das war Erpressung. Es half auch nicht, dass er eingestand, »dass er in der neuen Tätigkeit vor ungewohnten und schwierigen Aufgaben stehen« werde. Das MfS will bei ihm keine Abneigung bezüglich einer inoffiziellen Mitarbeit festgestellt haben und beschloss, ihn als GMS zu verpflichten.241 Der Vorschlag zur Werbung erfolgte am 10. September 1969.242 Die Verpflichtung unterschrieb er am 15. September. Ein Deckname wurde nicht vereinbart. Der Text lautete: »Ich verpflichte mich, mit den Genossen des MfS im Rahmen meiner Funktion als Direktor für Kader / Bildung zusammenzuarbeiten«. Von einer Konspiration der allfälligen Gespräche war keine Rede.243 Ab dem 1. September 1970 übernahm er die Funktion des Leiters des wissenschaftlichen Sekretariats des Zentralinstitutes.244 In beiden Tätigkeitsbereichen erfolgte jedoch die Zusammenarbeit mit dem MfS völlig unbefriedigt, er habe Vorkommnisse und Sachverhalte bagatellisiert. Außerdem liege er nicht immer klar auf der Linie der SED. Der GMS-Vorgang wurde am 13. Juni 1972 eingestellt.245 Neuhoff scheiterte wie viele andere auch, weil ihnen Ungerechtigkeiten und Härte einfach nicht gelingen wollten. Einer, dem dies nicht attestiert werden kann, ist Max Becker: Fallgruppe 4: Kaderleiter, der Fall Becker Max Becker wurde 1921 in Alt-Oschatz geboren. Sein Vater verstarb, als er noch kein Jahr alt war. Er »lernte« nach eigener Aussage »frühzeitig in unserer kinderreichen Familie alle Sorgen und Nöte kennen, sodass ich nach meiner Schulentlassung sofort meinen eigenen Lebensunterhalt selbst bestreiten musste«. Nach der 8. Klasse war Becker zunächst für zwei Jahre Landarbeiter. Danach erlernte er das Bäckerhandwerk. In der Kriegsmarine diente er ab 1940 als Koch. Einem kurzen Intermezzo als Bäcker folgte nach dem Kriegsende 1946 die Dienstaufnahme bei der Polizei, wo er 1947 zur Kriminalpolizei wechselte. Bald war er Kriminalstellenleiter. Er machte rasch Karriere. Dies lag an seiner politischen Vergangenheit. Von 1931 bis 1933 war 240  Vgl. Personalbogen; BStU, MfS, BV Potsdam, AGMS 720/72, 1 Bd., Bl. 4–7. 241  BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 10.7.1969: Bericht; ebd., Bl. 13. 242  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 10.9.1969: Bericht; ebd., Bl. 14–16. 243  Verpflichtung vom 15.9.1969; ebd., Bl. 17. 244  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 14.10.1970: Notiz; ebd., Bl. 23. 245  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 13.6.1972: Abschlussbericht; ebd., Bl. 26 f.

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Spezifische Vertiefung

er Mitglied der sozialistischen Arbeiterjugend (Rote Falken) und von 1935 bis 1940 der Deutschen Arbeitsfront. 1946 trat er der SED bei.246 1950 war er bereits Richter beim Amtsgericht Oschatz, ab September 1952 gar Kreisgerichtsdirektor. Weitere zwei Jahre später wurde er zum Leiter der Justizverwaltungsstelle des Ministeriums der Justiz im Bezirk Potsdam ernannt. 1963 und 1964 wurde er zum Direktor des Bezirksgerichts gewählt. Nach einer kurzen Zeit als Justitiar im VEB Geräte- und Reglerwerk Teltow kam er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Lehrstuhl »Geschichte der Rechtspflege« der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft »Walter Ulbricht«. Diesen Lehrstuhl leitete Hilde Benjamin von 1967 bis zu ihrem Tode.247 Am 15. Juli 1970 wurde er Kaderleiter im FoB Kosmische Physik.248 Die Werbung als GMS erfolgte nach einem halben Jahr am 26. Januar 1971. Eine Einschätzung vom 6. April 1973 lobte seine Arbeit, er habe »maßgebend darauf Einfluss genommen, durch das MfS erkannte Mängel auf dem Gebiet der Ordnung und Sicherheit abzustellen«. Am Institut sei er eine progressive Kraft in seinen Funktionen als Kaderleiter und Parteileitungsmitglied. Hingewiesen wurde, dass er zu seiner Zeit am Bezirksgericht Potsdam »Verbindungen zu Genossen unseres Organs« hatte, die gegenwärtig noch hielten.249 Eine Musterbiografie im Sinne der SED. Doch was geschah 1963 und 1964? Warum konnte er so hoch im Bereich der Justiz steigen, so schnell Karriere bei der Polizei machen? War sein Lebenslauf frisiert? Und warum »fiel« er aus der Justiz wieder heraus? Wie wurde er von den Mitarbeitern eingeschätzt? Auf die ersten Fragen geben die eingesehenen Dokumente keine Antwort, auf die letzte dagegen schon. Es existiert ein Bericht über ihn, unterzeichnet mit »Rose«, vermutlich ein Deckname, vom 17. Juni 1973. »Rose« drückt darin sein Unverständnis darüber aus, dass Leute wie Becker, »der ein […]« habe und auch noch »[…] beging, mit der Funktion eines Parteisekretärs im Forschungsbereich ›Kosmische Physik‹ betraut werden« konnte. Den Mitarbeitern sei die Tat Beckers bekannt gewesen. »Rose« erregt sich auch darüber, dass Becker zwei Gehälter bekomme. Zudem habe er »verhältnismäßig hohe Prämien vom Forschungsbereich für die Kaderarbeit« bekommen (dieser Bereich bestand lediglich aus acht Mitarbeitern!).250 »Rose« hatte Zugang zu den Zimmern der Macht im Forschungsbereich, war informiert über die Akteure, kannte sich auch in deren Denken und Charakterzügen aus. Zur normativen Funktion Beckers als GMS ist eine Einsatz- und Entwicklungskonzeption vom 25. August 1976 überliefert. Darin heißt es, dass er seit dem 26. Januar 1970 »auf der Basis der politischen Überzeugung inoffiziell und offiziell mit dem MfS« zusammenarbeitet. Die offiziellen Gespräche wurden aktuell von einem Offizier geführt, die inoffiziellen durch den HFIM »Dieter«. Die Trefffrequenz be246  Potsdam-Babelsberg vom 1.6.1970: Lebenslauf von Max Becker; BStU, MfS, BV Potsdam, AGMS 2106/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 18–21. 247  Vgl. Personalbogen Becker vom 1.6.1970; ebd., Bl. 30–36, hier 34. 248  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / AG I, vom 7.7.1970: Notiz; ebd., Bl. 74. 249  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 6.4.1973: Aktenvermerk; ebd., Bl. 75. 250  Bericht über Becker vom 17.6.1973; ebd., Bl. 78–84, hier 78.

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trug circa alle zwei bis vier Wochen einmal. Die Trefforte waren seine Wohnung und sein Arbeitszimmer im Dienstobjekt. Die Ehefrau war in Kenntnis gesetzt worden, ihr wurde eine Schweigeverpflichtung abgenommen. Die Berichterstattung erfolgte mündlich, schriftlich und auf Tonband.251 Überliefert ist die Abverfügung zur Archivierung vom 13. Oktober 1980. Zu der Zeit war Becker immer noch Kaderleiter im selben FoB. Als Abbruchgrund ist vermerkt, dass er jederzeit offiziell kontaktiert werden könne.252 Becker berichtete geflissentlich, detailliert, im breiten Spektrum der Möglichkeiten aus der Position des Kaderleiters heraus. So zu Stimmungen im ZIPE und im ZIAP oder auch zu politischen Fragen wie etwa zum zweiseitigen Abkommen über Westberlin.253 Als Kaderleiter lieferte er wertvolle Sofortinformationen an das MfS. Stellenweise sind es nahezu Komplettübernahmen aus Kaderakten, die er dem MfS lieferte, etwa in der folgenden Einleitungsform: »Aus der Kaderakte geht Folgendes hervor: …«254 In den Treffs mit seinem früheren FIM »Gerlach« oder einem Führungsoffizier des MfS, etwa Offizier Schädlich, erhielt er stets Instruktionen zu Anforderungswünschen; ein Beispiel: »Festlegung von Maßnahmen zur Beschaffung der notwendigen Übersichtsmaterialien zur Bearbeitung des Vorganges ›Astronomie‹ und der operativen Personenaufklärung im Zentralinstitut für Physik der Erde. Klärung von eventuellen Möglichkeiten des Einsatzes des GMS zur Bearbeitung des Vorganges und zur Schaffung von günstigen Möglichkeiten der inoffiziellen Bearbeitung der angefallenen Personen im Vorgang.«255 Die Interessen des MfS und Beckers trugen durchaus symmetrischen Charakter: So schlug er dem MfS vor, die Genossin »[X] ins Wissenschaftliche Sekretariat von Professor Stiller einzustellen und für den Postverkehr einzusetzen«. Von ihr mag er sich Informationen erhofft haben. Das MfS wiederum hatte Hinweise bekommen, wonach es gegenwärtig »verstärkte Anzeichen« dafür gebe, dass Institutsmitarbeiter inoffiziell im Westen veröffentlichen würden. Becker war dies nicht bekannt. Also wurde er beauftragt, »eine Überprüfung der Veröffentlichungen am Institut vorzunehmen«. Sollte er fündig werden, möge er erzieherisch wirksam werden und ggf. in einer gesonderten Anweisung auf die Veröffentlichungsordnung hinweisen. Er berichtete über die gesellschaftliche Arbeit am Institut und auch über die »Arbeitsgruppe Interkosmos«, die dem ZIPE angeschlossen war. Insbesondere interessierte sich das MfS für den M / L -Zirkel und in ihm wirkende namentlich benannte Personen. Oft waren die ihm gestellten Aufgaben konkret. So wurde er beauftragt, einen Zimmerbelegungsplan zu erstellen (»Etage – Zimmernummer – welche Mitarbeiter 251  BV Potsdam, Institute, vom 25.8.1976: Einsatz- und Entwicklungskonzeption für Becker; ebd., Bl. 283. 252 Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 13.10.1980: Abverfügung zur Archivierung; ebd., Bl. 303. 253  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / I, vom 8.9.1971; ebd., Bl. 92 f. 254  BV Potsdam, FIM »Gerlach«: Bericht von Becker am 9.3.1971; ebd., Bl. 96. 255  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 25.3.1971: Bericht von Becker am 23.3.1971; ebd., Bl. 97–99, hier 97.

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Spezifische Vertiefung

im Zimmer – Telefonnummer – Angabe des Bereiches, in dem die Mitarbeiter tätig sind«). Zu sämtlichen Kaderaussprachen am Institut sollten die dazugehörigen Berichte dem FIM »Gerlach« übergeben werden.256 Eine Spezial­aufgabe betraf einmal die »Beschaffung der Physikalischen Blätter der Max-Planck-Gesellschaft für Physikalische Astronomie zur Überprüfung der Veröffentlichungen von Dr. Wagner«.257 Solche Aufgaben hatte er, so weit zu sehen ist, stets akkurat erfüllt. Das MfS hatte mit Becker als GMS einen Volltreffer erzielt. Wie oben bereits bemerkt, hörte nicht nur die Stasi als Institution Gespräche ab, sondern auch inoffizielle Mitarbeiter in entsprechenden Positionen. Dass sie dafür ausdrücklich ein Mandat vom MfS erhalten hatten, kann nicht belegt werden. Eher nicht. Auch Sicherheitsbeauftragte durften in der Regel nicht Briefe öffnen, sie wurden ihnen jedoch geöffnet zugänglich gemacht. HFIM »Dieter« hatte sich einmal vom IM »Astronom« einen Brief eines Wissenschaftlers geben lassen, den er geöffnet haben wollte. Sein Führungsoffizier wies ihn jedoch darauf hin, dass »aufgrund des in der Verfassung, dem ZGB und dem StGB verankerten bzw. garantierten Rechts auf Postgeheimnis keine Briefe geöffnet werden dürften. Der Brief wurde ungeöffnet mit den entsprechenden Bemerkungen dem IM ›Astronom‹ zurückgegeben.«258 Am 18. Juli 1972 berichtete Becker über den FoB Kosmische Physik und das Rechenzentrum in Babelsberg. Becker hatte von der Verwaltungsleiterin erfahren, dass an der Telefonanlage des Rechenzentrums 17 Anschlüsse zu Privatwohnungen gelegt sind, die an das Ortsnetz angeschlossen waren. Anhand des Vorwahlsystems sei festgestellt worden, dass monatlich »bis zu 60 Telefongespräche« nach Westberlin und Westdeutschland geführt würden. Sie selbst aber könne nicht feststellen, wer die Gespräche geführt habe. Also erledigte dies Becker, der das Nachweisbuch für Ferngespräche durchsah und acht Personen feststellte, jedoch der Meinung war, dass die Zahl höher liege. Der zuständige Hausmeister, so Becker, höre zudem, das sei seine Ansicht, die Gespräche mit. Das sei eine Gefahr, da er dann über die Forschungspalette des Forschungsbereiches genau Bescheid wisse. Aus dieser Mitteilung Beckers kreierte das MfS sofort eine Aufgabe für Pätzold. Der sollte »eine tiefgründige analytische Untersuchung im genannten Bereich mit nachfolgender Zielstellung durchführen: 1. Überprüfung aller geführten Telefongespräche nach Westberlin und Westdeutschland [sowie die] Herausarbeitung der vorhandenen Verbindungen ins kapitalistische Ausland. 2. Vom IME wird überprüft, inwieweit die vorhandene Telefonanlage Möglichkeiten für das Abhören bietet.«259 Wie »löchrig« die Telefonverbindungen waren, zeigt folgende Anekdote: Tatsächlich geschah es so selten nicht, dass ein Anrufer ungewollt Teilhaber eines Gespräches wurde; »Rose«: »Als ich Dr. Kroitzsch telefonisch zu erreichen versuchte, 256  Ebd. 97 f. 257  Zum Beispiel: ebd., Bl. 99. 258  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 4.3.1976: Bericht zu Treffs mit dem FIM »Dieter« am 6., 13., 19. u. 27.2.1976; BStU, MfS, AIM 7287/78, Teil II, Bd. 2, Bl. 41 f., hier 42. 259  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 18.7.1972: Bericht von Becker am 13.7.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, AGMS 2106/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 194 f.

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hatte ich auf einmal dieses Gespräch in meiner Leitung. Becker legte Kroitzsch mehrere Male nahe, doch endlich den Vertrag für ihn zu machen. Es handelte sich um den Vertrag des Forschungsbereiches, wonach Becker ganz vom Forschungsbereich übernommen wurde. Damit hätte er gut und gerne warten können, bis die Verträge der anderen vom Forschungsbereich übernommenen Mitarbeiter des Zentral­ instituts für Physik der Erde abgeschlossen werden würden. Dieses Gespräch fand an dem Tag statt, als vom Sekretariat des Vizepräsidenten der AdW vergeblich versucht wurde, Kroitzsch zu erreichen. Es fehlten die Planunterlagen vom Forschungsbereich Kosmische Physik. Es war aber der letzte Tag für die Abgabe der Planunterlagen vom Präsidenten der AdW an das Ministerium für Wissenschaft und Technik.«260 Die Frage des Wesens und des Ausdrucks der Macht ist Gegenstand vieler Disziplinen. Auffällig ist in der historischen Literatur, dass der anthropologische Term oftmals abstrakt verkümmert. Das hat auch mit den Quellen zu tun. Jeder, der in die Nähe der Machtausübung gelangte, weiß, dass die folgende Darstellung »Roses« lebensnah ist und Wirkungsräume eröffnete; Zitat: »›Kroitzsch darf auf keinen Fall Leiter des Wissenschaftlichen Sekretariats bei Professor Kautzleben werden. Daraus kann eine Gefahr für Professor Stiller entstehen. Ich habe deswegen die ganze Nacht nicht schlafen können. Professor Stiller macht ja, was ich sage. Kautzleben ist heute auch soweit, dass er nicht mehr ohne mich entscheidet. Ich bestimme hier die Politik.‹ Es ist sicher, dass Becker nicht Professor Stillers Wohl interessierte, sondern sein eigenes. Dr. Kroitzsch könnte bestimmt allerhand über Beckers unrechtmäßige Handlungen aufdecken. Er hätte es wahrscheinlich auch schon getan, wenn er sich damit nicht auch selbst belasten würde.«261 »Rose« besaß eine private Verbindung zu einem Staatsanwalt beim Bezirksgericht Potsdam, von dem er wisse, dass man bei Becker vorsichtig sein müsse, ihm kein Wort glauben solle.262 »Rose« schloss den siebenseitigen Bericht über Becker mit der Frage, »wie vielen Personen Herr Becker durch unwahre Einschätzungen und Berichte Schaden zugefügt« habe, »ohne dass dieselben sich dagegen« hätten »wehren« können.263 In einem Bericht des GMS Becker vom 21. Mai 1974 ist vermerkt, dass sich ein Leiter eines Regiestabes beim Fernsehfunk der DDR gegenüber Wieland Freigang im Zusammenhang mit der Förster-Ausstellung auf dem Telegrafenberg dahingehend geäußert haben soll, einen Film über das Thema Wissenschaft und Kunst im Rahmen der Reihe »Atelier 1974« drehen zu wollen. Der Mitarbeiter des ZIPE, Freigang, sei der Verbindungsmann und der habe längst alle Fäden gezogen. Kaum hatte Becker hiervon Kenntnis erhalten, nahm er Verbindung zu seinem Führungsoffizier auf. Das MfS prüfte sofort, u. a., ob bei der Pressestelle der AdW bereits eine schriftliche Genehmigung vorliege. Auch wurde die HA AK informiert und die Verbindung zum Fernsehfunk hergestellt zum Zwecke der Abforderung einer 260  »Rose«: Bericht über Becker vom 17.6.1973; ebd., Bl. 78–84, hier 79. 261  Ebd., Bl. 79. 262  Vgl. ebd., Bl. 82. 263  Ebd., Bl. 84.

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Regiekonzeption.264 So kam man gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass in dem Film das ZIPE als »Schrittmacher in der Bewegung Wissenschaft und Kunst hervorgehoben« würde und vor allem, dass nicht drei in das Projekt involvierte Personen, darunter Freigang, »als lobendes Beispiel erwähnt« würden.265 Doch in der Bezirksleitung der SED sah man die Dinge anders, nicht aus dem Blickpunkt angeblich negativer Personen, sondern aus jenem gut propagandistisch verwertbarer Ereignisse. Ein Mitarbeiter der Abteilung Kultur der Bezirksleitung war begeistert und sah in der Initiative auf dem Telegrafenberg ein Beispiel auch für andere Institute. Also empfahl seine Abteilung eine Beratung mit Direktoren und Partei­ sekretären anderer Potsdamer Institute. Konkrete Werbeempfehlungen wurden avisiert. Einen Artikel für die Märkische Volksstimme bereitete indes Freigang vor.266 Und im September 1974 plante die Bezirksleitung der SED gar eine Künstleraussprache im ZIPE in Fortsetzung einer durchgeführten Förster-Ausstellung, »die bei der Bezirksleitung sehr gut« angekommen war. 15 Künstler sollten im Oktober daran teilnehmen, Grafiker, Schriftsteller, Maler und Filmemacher. Detaillierteres wisse er, Becker, leider noch nicht.267 Auch in der Sache der Verleihung eines Nationalpreises auf Initiative Max ­Steenbecks, worunter sich ein ZIPE-Mitarbeiter befand, war Becker involviert. Er machte am 24. Februar 1972 gegenüber dem MfS deutlich, dass er keine Schuld trage an der schlechten Kaderarbeit. Diese sei so schlecht, nicht, weil Personen nicht bestätigt worden seien, sondern weil sie nicht hätten bestätigt werden können. Der eine der Wissenschaftler erhielt keine Reiseerlaubnis nach Italien, und der andere, Fritz Krause, Schöpfer der Dynamotheorie kosmischer Magnetfelder, keine Professur. Beide Wissenschaftler, so Becker, besäßen »eine negative Grundeinstellung zur Politik von Partei und Regierung«. Demzufolge sei die Ablehnung beider Personen »in Abstimmung mit unserem Organ« erfolgt. In beiden Fällen, also offenbar vor dem Wirksamwerden der Achse Becker – MfS, vor der sogenannten Überprüfung, habe man ihnen mitgeteilt, dass nichts im Wege stehe, Dienstreise und Professur genehmigt seien. Das MfS: »Der GMS ist der Meinung, dass mit diesen Praktiken keine positive Kaderpolitik durchgeführt werden kann und das zu Widersprüchen zwischen der Kaderabteilung des Instituts und den betreffenden Wissenschaftler führt.«268 Diese Angelegenheit zog Kreise. Auch Pätzold berichtete wiederholt hierüber, so am 15. März 1972. Nicht nur Krause sollte zum Professor ernannt werden, sondern auch Ruben. Treder soll beiden die Professur zugesichert haben. Krauses aber war aus politischen Gründen abgelehnt worden. Treder soll auf die negative

264 Vgl. BV Potsdam, Institute, vom 21.5.1974: Bericht von Becker am 21.5.1974; ebd., Bl. 223–225. 265  BV Potsdam: Bericht von Becker am 22.5.1974; ebd., Bl. 226. 266  Vgl. BV Potsdam, Institute, vom 26.6.1974: Bericht von Becker am 26.6.1974; ebd., Bl. 240. 267  BV Potsdam vom 11.9.1974: Bericht von Becker am 6.9.1974; ebd., Bl. 243. Wieland Förster (1930), bedeutender Künstler der DDR. 268  BV Potsdam vom 24.2.1972: Bericht von Becker am 24.2.1972; ebd., Bl. 184 f., hier 184.

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Entscheidung der Parteileitung mit »Missfallen« reagiert haben: Wenn Krause nicht, dann eben auch Ruben nicht, da Krause besser sei als Ruben vom wissenschaftlichen Profil her. Krause habe bei den Akademiemitgliedern wegen seines Nationalpreises »einen besonderen Rückhalt«. Treder wies auch darauf hin, dass Steenbeck sich für Krause stark machen könnte. Doch Pätzold, Kenner der Arbeiterbewegung in Brandenburg und Hobbyjäger: »Ich habe der Parteileitung empfohlen, ihre Einschätzung über Dr. Krause aufrechtzuerhalten, seine Professur nach wie vor abzulehnen und die des Genossen Dr. Ruben zu befürworten. Ich begründe meine Empfehlung damit, dass die Einschätzung der Parteileitung der Wahrheit entspricht.«269 Fallgruppe 5: FIM- und HFIM-Systeme, der Fall Horn Der 1944 in Brandenburg geborene Burkhard Horn verließ 1960 die Mittelschule und erlernte anschließend den Beruf des Stahlwerkers mit Abitur. 1964 nahm er ein Studium an der Bergakademie Freiberg in der Fachrichtung Metallformung auf, das er 1965 ohne Abschluss beendete. Anschließend studierte er an der Ingenieurschule für Walzwerk- und Hüttentechnik Riesa. Das Studium schloss er 1968 als Ingenieur ab. Ein Jahr zuvor trat er der SED bei. 1972 wurde er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Werkentwicklung im VEB Qualitäts- und Edelstahlkombinat, Stahl- und Walzwerk Brandenburg (QEK SWB) eingestellt. Die Arbeit an sich lag ihm nicht, eher die Kontrolle und Beurteilung anderer. Er legte stets Wert auf seine Erscheinung: Oberlippenbart, Brille, Schlips und oft auch einen Hut wie ihn Honecker trug. Seine Rekrutierung geschah sofort »in der Perspektive eines Sonderauftrages (HFIM)« für den Bereich der Linie XVIII, Volkswirtschaft.270 Zunächst aber wurde er als IM am 28. Dezember 1972 verpflichtet, den Decknamen »Dieter« wählte er sich selbst. In seiner Verpflichtungserklärung schrieb der Studierte: »Ich wurde darüber belehrt, wenn ich die Schweigeverpflichtung brechen sollte, nach den geltenden Gesetzen unseres Staates belangt werden kann.«271 Der Vorschlag zur Einstellung in das MfS als Hauptamtlicher IM erfolgte dann am 24. Januar 1973. Sein geheimdienstliches Arbeitszimmer befand sich in seiner Wohnung und alsbald, was in der DDR ungewöhnlich war, erhielt er einen Telefonanschluss. Schreibmaschine, Panzerschrank und Geld für Möbel folgten. Zur Treffdurchführung mit seinen inoffiziellen Mitarbeitern wurden ihm vier konspirative Wohnungen, sogenannte IMK / K W zugeteilt. Zunächst war vorgesehen, ihn für drei industrielle Betriebe einzusetzen. Die Übergabe seiner Mitarbeiter erfolgte im letzten Quartal 269  BV Potsdam vom 7.3.1972: Bericht von »Kosmos« am 15.3.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 1, Bl. 159–163, hier 162 f. 270  KD Brandenburg vom 5.7.1972: Protokoll über eine Aussprache; BStU, MfS, AIM 7287/78, Teil I, Bd. 1, Bl. 15–19, hier 15; KD Brandenburg vom 21.12.1972: Gespräch mit dem Kandidaten; ebd., Bl. 24 f. 271  Heinz-Burkhard Horn: Verpflichtung vom 28.12.1972; ebd., Bl. 167.

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1973. Insgesamt waren es 20 IM und 14 GMS. Die Zahlen schwankten im Verlauf seiner Tätigkeit nur leicht.272 Seiner Frau wurde zeitnah eine Schweigeverpflichtung abgenommen. Mit 129 Worten ist diese bedeutend länger als seine eigene, die aus 83 Worten bestand. Sie ist auch informativer. U. a. verpflichtete sie sich, die wahre Arbeitsstelle ihres Mannes nicht anzugeben und stattdessen zu sagen, dass er Mitarbeiter beim Vorsitzenden für Planung im Bezirk sei.273 In seinem Arbeitsvertag mit dem MfS wurde als Arbeitsort das Kreisgebiet Brandenburg vereinbart. Er verpflichtete sich, alle Arbeiten zu verrichten, die ihm vom zuständigen Vorgesetzten aufgetragen würden. Für Sonntagsarbeit, Arbeit an Feiertagen, Nachtarbeit wurde »kein Zuschlag entsprechend dem Gesetzbuch der Arbeit gewährt«. Das Arbeitsverhältnis konnte »nur im gegenseitigen Einvernehmen gelöst werden. Bestimmend dafür« war jedoch das MfS. Die Nutzung seines Autos wurde mit einer Kilometerpauschale vergütet. Die Arbeitszeit war recht umfassend veranschlagt, und zwar von 8.00 bis 17.00 Uhr, worin lediglich eine 30-minütigen Pause gestattet war. Darüber hinaus musste er auch Aufgaben lösen, die nach 17.00 Uhr anfielen.274 Ein detaillierter Schulungs- und Arbeitsplan für das erste Jahr enthielt u. a. ein großes Arsenal von erzieherischen Aspekten. Der Inhalt war auf 15 Seiten gegliedert: (1.) Qualifizierungs- und Arbeitsplan, (2.) Aufgaben des HIM, (3.) Aufgaben des HIM in Verbindung mit den Quellen, (4.) Einschätzung des HIM, (5.) »Maßnahmen zur Gewährleistung der inneren Sicherheit und äußeren Abwehr« sowie (6.) Unterstützungsleistungen des operativen Mitarbeiters für den HIM. Einige Ausschnitte aus dem Arbeitsprofil: Zu (1.): Politische Tagesfragen; Parteilehrjahresthemen; monatlich zwölf Stunden nach entsprechendem Schulungsmaterial der Diensteinheit; Qualifizierung des HFIM »zum konspirativen Anlaufen einer IMK / K W« und zu Fragen der »Treffgestaltung«; Erarbeitung von Treffberichten, Fragen der Auswertung und Dokumentation. Lektionen gab es auch zur Gründung, zu den Aufgaben und zur Arbeitsweise des MfS. Im Mittelpunkt standen die Aufgaben der IM als »Kernstück der operativen Tätigkeit«. Der Unterpunkt 1.2 enthielt Ausführungen zur »Rolle der Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Handlung im Prozess der Zusammenarbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern«, in Sonderheit: »Die Motive des Handelns, der komplexe Charakter und der Inhalt von Motiven; die Rolle des Willens als Regulator des Handelns; die Gefühle und ihre Rolle im operativen Handeln und Verhalten«. Im Unterpunkt 1.3 wurden die »Hauptprinzipien der Zusammenarbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern« dargestellt, u. a. mit der Betonung des persönlichen Verhältnisses des IM zum Führungsoffizier und der Aufgabe, »individuelle Besonderheiten« des IM zu berücksichtigen. Der Punkt 1.10 klärte den HFIM über das »Wesen der Straftat 272  Vgl. KD Brandenburg vom 5.7.1972: Protokoll über eine Aussprache; ebd., Bl. 15–19, hier 16 sowie KD Brandenburg vom 24.1.1973: Vorschlag zur Einstellung; ebd., Bl. 147–163, hier 160–162 sowie KD Brandenburg vom 2.1.1973: Bericht über die Werbung; ebd., Bl. 169 f. 273  Vgl. Schweigeverpflichtung vom 15.5.1973; ebd., Bl. 168. 274  MfS vom 1.4.1973: Arbeitsvertrag; ebd., Bl. 174–179.

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in der DDR« auf, belehrte über »Begriff und Eigenschaften der Straftat«, zeigte »die wesentlichsten Unterschiede zwischen Vergehen und Verbrechen« auf und dozierte gleichsam in hoher Ethik über den »sozialen Gehalt der Schuld in der sozialistischen Gesellschaft«. Die relevanten Strafrechtsparagrafen wurden im Unterpunkt  1.13 behandelt, so die »strafrechtlichen Anforderungen an die Landesverratsdelikte und ihre Abgrenzung« von anderen Verratstatbeständen wie den Paragrafen 100 und 106 des StGB sowie der Tatbestand der Spionage in Bezug auf die Paragrafen 213 und 214. Der Punkt 2 umfasste allgemeine Aufgaben des HIM, etwa unter Punkt 2.1: »die Notwendigkeit der Sicherung der sich« in seinem »Besitz befindlichen Unterlagen und Gegenstände«. Unter Punkt  2.2 war die »Erarbeitung von Legenden für personengebundene Aufträge« dargestellt. Der Unterpunkt 2.4 belehrte: »Der hauptamtliche Mitarbeiter ›Dieter‹ ist verantwortlich für die regelmäßige und planmäßige Treffdurchführung mit allen ihm übergebenen Quellen. […] Bei Unregelmäßigkeiten in der Treffdurchführung sind selbstständig Aussprachen vom hauptamtlichen Mitarbeiter ›Dieter‹ mit dem Ziel der Klärung der Ursachen zu führen. Bei Notwendigkeit ist der operative Mitarbeiter hinzuzuziehen. Aussprachen sind grundsätzlich schriftlich festzuhalten.« Der Punkt 2.7 beinhaltete eine durchaus recht restriktive Urlaubsplanung. Die Freiheit, selbstständig den Urlaub zu nehmen, war deutlich eingeschränkt. Der Punkt 2 beinhaltete insbesondere die Frage der Führung und Erziehung der ihm anvertrauten inoffiziellen Mitarbeiter. So der Unterpunkt 3.5, der festschrieb, dass die inoffiziellen Quellen ihre Verantwortung erkennen müssen, »die von der Lösung der Aufgabe abhängt«. 3.6 legte fest, dass eine »schriftliche Berichterstattung zu fordern und durchzusetzen« ist. Schließlich beschrieb der Komplex 6 die Unterstützung »Dieters« durch den operativen Mitarbeiter bei dessen Aufgaben. Einmal wöchentlich sollten ganztägige Arbeitsberatungen mit ihm veranstaltet werden, u. a. zu Fragen seiner politischen Schulung, zur Durcharbeitung der erhaltenen inoffiziellen Berichte einschließlich Analyse und zu Fragen der Treffvorbereitung. Im Programm standen auch die allfällige Informationsübermittlung zu politisch-operativen Schwerpunkten und die Besprechung möglicher persönlicher Probleme des HFIM.275 Am 1. März 1978 erfolgte mit seiner Einstellung als operativer Mitarbeiter in die BV  Potsdam sein nächster Karriereschritt.276 Der Abschlussbericht zu seiner HFIM-Tätigkeit datiert vom 28. Februar 1978. Vordem, am 1. Oktober 1975, war er von der BV Potsdam, Abteilung XVIII, Institute, übernommen worden. Angeleitet wurde er von Offizier Brederlow und vom HIM Ziggel, die für den Untersuchungsgegenstand des zweiten Hauptkapitels relevant sind. Zu seinen zu »betreuenden« Bereichen zählten das Institut für Polymerenchemie Teltow-Seehof (IPOC) sowie die Akademieinstitute ZIPE, ZIAP und ZISTP, darüber hinaus war er für den FoB 275  KD Brandenburg vom 6.3.1973: Schulungs- und Arbeitsplan für den 1.4.–31.12.1973; ebd., Bl. 180–194, hier 180. 276  Vgl. Bericht u. a. zum Einstellungsgrund vom 6.3.1978; ebd., Bd. 2, Bl. 2.

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Geo- und Kosmoswissenschaften Potsdam, aber auch für die Verwaltungs- und Dienstleistungseinrichtung (VDE) Potsdam verantwortlich. Zuletzt nutzte er sechs IMK wie »Kino«, »Meister« und »Gast« sowie sein Arbeitszimmer »See«. Er stand in direkter Arbeitsbeziehung zu 25 inoffiziellen Mitarbeitern, darunter 14  IMV (!), sieben IMS und vier GMS. In thematischer Hinsicht bedeutende inoffizielle Mitarbeiter waren die IMV »Burghardt«, »Gotha«, »Heinz Vogt«, »Walter« »Peter Ermisch« und »Rolf Donath« sowie die IMS »Geos« und »Astronom« und der GMS Becker.277 Ein Mitarbeiter des MfS, von dem hohes Vertrauen gefordert war. Anders als das MfS, das nie Vertrauen schenkte. Allein für sein privates Arbeitszimmer »See« fertigte das MfS für sich drei Nachschlüssel an.278 Wegen der Übernahme Horns in das MfS und die damit verbundene Tätigkeitsveränderung wurde sein Quellenbestand, die Konspirativen Wohnungen sowie die Arbeitsmittel an Jürgen Helbig alias HFIM »Jochen Gränz« übergeben,279 der zum 1. Januar 1977 im Auftrag des MfS am ZIPE die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutsdirektors aufnahm. Das Aufklärungsspektrum zu Personen war gewohnt breit. Es umfasste sämtliche Bereiche wie Arbeit und Freizeit, Beziehungen zu Bekannten, Freunden und Verwandten, temporäre und aktuelle Fragen wie jene nach der Fertigstellung eines Bungalowbaus, zu einer kirchlichen Kleingruppe, zum Besitz von Westgeld bis hin zu Fragen charakterlicher Art.280 Mitte 1976 berichtete er pro Monat durchschnittlich zu zwanzig Personen.281 Nahezu Monat für Monat wurde das Auftrags- und Berichtsspektrum breiter. Allein der Plan für Dezember 1976 umfasste über 80 Einzelpositionen.282 Ihm wurde eine vorbildliche tschekistische Einstellung attestiert.283 Er verpflichtete sich am 1. Mai 1977 »anlässlich des 60.  Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution […] zur qualitäts- und termingerechten Erfüllung des Jahresarbeitsplanes und der daraus abgeleiteten Monatsarbeitspläne«. Des Weiteren verpflichtete er sich, eine »kontinuierliche Treffplanung und -gestaltung« mit sechs Treffs pro Woche durchzuführen, und dabei »je Treff zwei qualitätsgerechte,

277  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 28.2.1978: Abschlussbericht zum FIM-Vorgang »Dieter«; ebd., Bl. 4 f. 278  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 4.3.1976: Bericht zum Treffen mit »Dieter« am 6., 13., 19. u. 27.2.1976; ebd., Teil II, Bd. 2, hier Bl. 42. 279  (1949). Seine hauptamtliche Arbeit für das MfS endete am 31.12.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 474/84, Teil I, Bd. 1, Bl. 5 f. Die Verpflichtung erfolgte am 18.1.1977; ebd., Bl. 11, 12 f. u. 14. Der gelernte Elektromechaniker studierte 1971–1975 an der TH Karl-Marx-Stadt. 1977–1978 Sicherheitsbeauftragter im ZIPE. Seit dem 1.3.1978 HFIM der BV Potsdam, Abt. XVIII. Abt. XVIII vom 12.2.1979: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 15–25, hier 15 f. 280  Vgl. BV Potsdam vom 5.5.1976: Monatsplanung für Mai 1976; BStU, MfS, AIM 7287/78, Teil II, Bd. 2, Bl. 56 f. 281  Vgl. BV Potsdam vom 25.11.1976: Monatsbericht November 1976; ebd., Bl. 84–90, hier 88. 282  Vgl. BV Potsdam vom 24.11.1976: Monatsplanung für Dezember 1976; ebd., Bl. 91–96, hier 92. 283  Vgl. BV Potsdam vom 24.12.1976: Monatsbericht Dezember 1976; ebd., Bl. 97–100.

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politisch-operativ wertvolle Informationen zu erarbeiten«. Diese hatte er »zur Gewährleistung des Informationsflusses wöchentlich« abzurechnen.284 Fallgruppe 6: Maskenspiele, der Fall Felber Wenngleich auf‌fällig ist, dass die ethische Dimension der reinen Fachorientierung bürgerlichen Wissenschaftlern oftmals den Halt, ja, die Gewähr bot, den Fangversuchen der SED und des MfS zu widerstehen, war diese doch niemals eine hinreichende Voraussetzung dafür. Auch ein noch so bürgerlicher Wissenschaftler konnte »fallen«. Etwa Robert Rompe für die SED oder Hans-Joachim Felber alias IM »Karl« für das MfS.285 Felber wurde 1922 in Chemnitz als Sohn des Studienrates Walther Felber geboren. 1949 nahm er an der Universität Leipzig das Studium des Römischen und Kanonischen Rechtes und der Kirchengeschichte auf, 1950 wechselte er die Studienrichtung hin zur Mathematik, Physik und Astronomie. Beide Begabungen zeichneten ihn aus. Dem Theologiestudium ging 1948/49 ein Einjahreslehrgang am Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig voran. Nach Abschluss des naturwissenschaftlichen Studiums ging er 1955 nach Potsdam-Babelsberg an die dort ansässige Sternwarte. 1959 wurde er promoviert. 1963 erhielt er als Leiter der Abteilung Elektronisches Rechnen (später Leiter des Rechenzentrums des ZIAP) die schwierige Aufgabe, den Zeiss-Rechen-Automaten 1 für die Sternwarte betriebsfertig zu machen. In dieser Eigenschaft wurde er 1965 zum Mitglied der Ständigen Kommission für Maschinelle Datenverarbeitung berufen. Das Rechenzentrum befand sich unweit der Sternwarte Babelsberg auf einem Areal, auf dem vielerlei Gebäude und Einrichtungen standen: u. a. die Sternwarte, drei Meridianhäuser, Spiegelgebäude und das EDVA-Gebäude. Ab 1972 war Felber zudem zuständiger Bearbeiter des Grundkalendariums im Auftrag des Büros des Ministerrates und seit 1978 Chefredakteur der Astronomischen Nachrichten. Er war international anerkannter Fachmann der Chronologie und Autor der jährlich erscheinenden Grundkalendarien. Zeitweise war er an der TH Dresden Gastdozent für Himmelsmechanik.286 Er konnte zuletzt auf zahlreiche Veröffentlichungen vielfältiger Couleur blicken, die von einer tiefen Begabung für sein Fach zeugten und gut zu lesen waren.287 Eines seiner Hobbys waren sakrale Bauwerke aller Stilepochen.288 Alle seine Funktionen übte er von der Sternwarte Babelsberg aus, wo er seine gesamte Berufstätigkeit verbrachte. Sah man ihn zu284  BV Potsdam vom 1.5.1977: Verpflichtung; ebd., Bl. 230. 285  Verpflichtungserklärung vom 19.6.1970; BStU, MfS, BV  Potsdam, Abt.  XVIII, Nr. 20, Teil 1, Bd. 2, Bl. 8. 286  Vgl. Lebenslauf vom 14.1.1985; ebd., Bl. 69 u. 71–77. 287  Vgl. u. a. Felber, Hans-Joachim: Über die Wurzeln alter Kalendersysteme, in: horizont (1981)15, S. 28. 288  Vgl. BV Potsdam vom 25.2.1970: Bericht von »Norbert Wiener«; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII, Nr. 20, Teil 1, Bd. 2, Bl. 96 f., hier 96.

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sammen mit dem Nestor der DDR-Astronomie Johannes Hoppe289, konnte man nicht glauben, in der DDR zu sein. Seine Arbeit am Weltkalender erforderten Arbeitskontakte mit dem Vatikan. Zwangsläufig musste er als Reisekader für die westliche Welt eingereicht und bestätigt werden, kam somit also automatisch in das Visier des MfS. Das ermittelte zu ihm spätestens seit 1965 gezielt. 1968 konstatierte es, dass Felber zwar loyal eingestellt sei, jedoch – zumindest in einem Einzelfall – als »negativ zur DDR eingestellt« beauskunftet worden war, einer, der auch privat Westverbindungen unterhalte. Ferner soll er einer kirchlichen Sekte der Anthroposophen angehört haben. Die Gruppe hatte ihren Sitz in Westberlin.290 Felber war beliebt, blieb aber vielen undurchschaubar; Zitat Gerhard Ruben: »Dr. F. ist ein sehr geschickter Mann, der gut mit Menschen umgehen kann. Er ist deshalb bei seinen Mitarbeitern beliebt. Er kann gut Witze erzählen und macht davon des Öfteren Gebrauch (politische Witze?). Vorgesetzten gegenüber ist er sehr vorsichtig. Er würde sich selbst kaum verraten.«291 1969 wurde Felber dem MfS ein Sicherheitsrisiko, da es infolge seiner Kenntnisse über in der DDR installierte oder zu installierende Rechenanlagen wie die des Typs R 300 die Gefahr des Informationsabflusses befürchtete. So war für 1971/72 geplant, in Potsdam »eine BESM 6 aus der UdSSR (geheim)« zu installieren.292 1973 hatte es das MfS dann über IM in Schlüsselpositionen endlich geschafft, ihn von den Rechnern am Standort Potsdam zu entfernen. Am 1. März 1973 fand seine »feierliche Verabschiedung« statt. Er wurde abgeschoben in Richtung Archiv und Literaturstudien.293 Doch zwischenzeitlich warb das MfS Felber an. Ein erstes Kontaktgespräch mit ihm fand am 19. Februar 1970 in der Gaststätte »Havelblick« statt. Das MfS redete von der Bedeutung des Rechenzentrums als sicherheitsrelevantem Objekt. Felber soll sich offen verhalten haben.294 Ein zweites Gespräch fand am 18. Juni statt. Diesmal ging es um die Installation der R 300-Anlage. Felber soll nicht nur die »Notwendigkeit der Absicherung des Objektes« erkannt, sondern auch darauf hingewiesen haben, dass entsprechende sensible Daten im Jahresbericht der Astronomischen Gesellschaft veröffentlicht worden seien. In der Einschätzung vom 19. Juni heißt es, dass seine »Bereitwilligkeit« zur Informationslieferung, die beim ersten Gespräch konstatiert werden konnte, sich im zweiten Gespräch verfestigt habe.295 Am 24. Juni formulierte das MfS den 289  Zu Hoppe siehe Buthmann: Konfliktfall »Kosmos«, passim. 290 BV Potsdam, Abt.  XVIII / Auswertung, vom 4.12.1968: Auskunftsbericht; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII, Nr. 20, Teil 1, Bd. 2, Bl. 80 f. 291  BV Potsdam vom 12.12.1969: Bericht von »Astronom« am 9.12.1969; ebd., Bl. 93–95, hier 93. 292  Ebd., Bl. 94. 293  BV Potsdam: Bericht von »Lutz Werner« am 27.2.1973; ebd., Bl. 101 f., hier 101. 294  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 23.2.1970: Erstes Kontaktgespräch am 19.2.1970; ebd., Bl. 180–182. 295  BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 24.6.1970: Bericht über das erste Kontaktgespräch (I); ebd., Bl. 183 f.

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formal-obligatorischen »Vorschlag zur Verpflichtung«. Es beabsichtigte, ihm die Gefährlichkeit des Gegners und damit »die Notwendigkeit der inoffiziellen Arbeit« mit dem MfS anhand »der feindlichen Handlungen der inhaftierten Geodäten [X] und [Karte*]« – zu Karte* siehe Kap. 5.1, MfS-Spezial I – noch deutlicher zu machen. Ihm sollte auch erklärt werden, »dass das MfS sich auf die Unterstützung der Bevölkerung« stützen müsse. Dabei soll ihm »klar« gemacht »werden, dass seine Zusammenarbeit mit dem MfS auf gegenseitigem Vertrauen« beruhe. Die von ihm abzufordernde Verpflichtung sehe das MfS als »Ausdruck der Bereitwilligkeit und des Vertrauens zum MfS«.296 Als erster Auftrag war vorgesehen, ihn in Richtung Aufklärung der Zeitschrift Computer Weekly einzusetzen, zu deren Redaktion er Verbindung besaß. Sein Auftrag: »Briefliche Information an o. g. Verlag mit dem Hinweis, dass er an dem Versand weiterer Literatur interessiert ist mit der Bitte um Mitteilung, wo weitere Informationen über EDV zu erhalten sind.«297 Felber sollte die Zeitschrift studieren und bemerkenswerte operative Hinweise mitteilen.298 In diesem Zusammenhang gab es nicht nur Verwechselungen und Pannen, sondern auch eine Dekonspiration. Am 3. Dezember berichtete der FIM »Gerlach«, dass Felber den Auftrag »von uns« hatte, die Fachzeitschrift »zu abonnieren«. Dies sei aber misslungen, da die Bestellkarte nicht korrekt ausgefüllt war. So »fiel sie dem IM ›Astronom‹ [Ruben] in die Finger, der uns von diesem Vorkommnis unterrichtete«. Dadurch aber kam es zu einem Gespräch Rubens mit Felber als dessen Vorgesetzten. In diesem Gespräch erzählte Felber, dass er den Auftrag von einem MfS-Mitarbeiter habe (dazu angeregt worden sei), »den er vielleicht auch kenne«. Damit aber wusste Ruben, dass Felber Kontakt zum MfS hatte. Auch Becker wusste, dass Felber Kontakte zum MfS hatte und von daher als zuverlässig einzuschätzen war.299 Obgleich Felber vom MfS den Auftrag erhalten hatte, die Zeitschrift zu abonnieren, wurde sie von der Zollverwaltung der DDR eingezogen, da sie, so der Stempelaufdruck auf dem Bescheid, »nicht in der Postzeitungsliste enthalten« sei »und daher gemäß Paragraf 1 der 5. DB zur Geschenkverordnung zur Einfuhr nicht zugelassen« sei.300 Die Werbung Felbers fand am 29. Juni in seiner Wohnung statt. Die vom MfS formulierte Aufgabenbeschreibung soll er »vollständig« akzeptiert haben. Er hatte schriftlich eingewilligt und sich den Decknamen »Karl« gewählt.301

296  BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 24.6.1970: Bericht über das erste Kontaktgespräch (II); ebd., Bl. 187–193, hier 192. 297  Ebd., Bl. 193. 298  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Astronom« am 1.9.1970; BStU, MfS, VA 48/72, Teil II, Bd. 2, Bl. 4. 299  BV Potsdam: Bericht von »Astronom« am 3.12.1970; ebd., Bl. 24. 300  BV Potsdam: Bericht von »Karl« am 25.4.1972; BStU, MfS, BV  Potsdam, VA  139/75, Bd. 1, Bl. 85 sowie Einziehungs-Entscheid der Zollverwaltung der DDR vom 1.2.1972; ebd., Bl. 86. 301 BV Potsdam, Abt.  XVIII / AG  I, vom 16.7.1970: Werbung am 29.6.1970; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII, Nr. 20, Teil 1, Bd. 2, Bl. 194 f.

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Spezifische Vertiefung

Eine erste Einschätzung seiner inoffiziellen Tätigkeit ist vom 24. März 1971 überliefert. Aus dieser geht hervor, dass die bisherige Arbeit, auch wenn sie erst in den Anfängen steckte, gezeigt habe, »dass er bereit« sei, »auch an Personen zu arbeiten und diese« – und hier zeigt sich die unverblümte »innerbetriebliche« Sprache des MfS – »zu belasten«. Auch wolle man versuchen, »die Quelle in den Blickwinkel des Gegners zu rücken, dazu soll er Kontakte zu Literaturstellen des Rechengebietes herstellen«.302 1973 hatte »Karl« sich bereits eingearbeitet und bewährt. Aus einer Jahreseinschätzung vom 10. Januar ist zu entnehmen, dass man zufrieden mit ihm war. Trotzdem wünsche man sich mehr Eigeninitiative. Das Motiv für seine Zusammenarbeit mit dem MfS sei »nicht ganz klar«. Das MfS vermutete, dass er aus karrieristischen Gründen mitarbeite. »Gelegentlich« zeige »er zu viel Interesse für unsere Arbeit«, indem er indirekte Fragen stelle wie: »›Ist das bei ihnen auch so, oder haben sie diese Schwierigkeiten nicht?‹«. Es entspringe aber, mutmaßte das MfS, wohl nur seiner allgemeinen Neugier und nicht einem Aufklärungsinteresse. Er habe »sehr viele und gute Kontakte im FoB Kosmische Physik, über die er nach Befragen offen berichtet«.303 Felbers Bereitschaft, als IM zu arbeiten und die »Sicherheit« der Rechenanlage zu gewährleisten, hatte nicht genügt, ihn als risikoarm einzustufen. Nichtsdestotrotz bereiste er ab 1974 die Bundesrepublik und berichtete dem MfS fleißig.304 1977 nutzte er eine solche Reise zu zahlreichen MfS-auftragsbedingten Abschweifungen wie etwa zur Universität Göttingen: »An der Universität Göttingen – jetzt 21 000 Studenten – scheinen die eigentlich anarchistisch-maoistischen Kräfte eine Minderheit von 10 Prozent darzustellen. Sie geht äußerst radikal vor, stört Vorlesungsbetrieb, beschmiert Gebäude mit Losungen wie ›Nieder mit der Klassenjustiz‹, ›BRD  =  KZ‹, ›Weg mit Paragraf  218‹, ›Ich habe Gott gesehen, er war ein Weib und sah schwarz aus‹.« Er scheute sich auch nicht, detaillierte Berichte zu seiner in Münster lebenden ersten Ehefrau, zu Sohn und Tochter zu geben. Er berichtete zu allem: zu Erscheinungen im Stadtbild (»In Münster keine Inschriften an den Gebäuden«), zu militärischen Objekten zwischen Hannover und Minden sowie zu Auf‌fälligkeiten aller Art.305 Aber auch er blieb stets unter Kontrolle anderer inoffizieller Mitarbeiter.306 1976 wurde er Burkhard Horn alias HFIM »Dieter« übergeben. Die alten Einschätzungen hatten weiterhin Bestand. Dass der IM »regelmäßig nach dem Treff das Linden-Café in Babelsberg« aufgesucht hatte, war Anlass, ihn verstärkt zu kontrollieren. Ein »operativ relevantes Ergebnis« hatte es aber hierzu nicht gegeben.307 302  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 24.3.1971: Einschätzung zu »Karl«; ebd., Bl. 222 f. 303  Jahreseinschätzung vom 10.1.1973 von FIM »Gerlach«; ebd., Bl. 224 f. 304  BV Potsdam: Bericht von »Karl« am 23.5.1974; ebd., Bl. 107–110. 305 BV Potsdam vom 24.5.1977: Bericht von »Karl« am 19.5.1977; ebd., Bl. 115–119, hier 116–118. 306  Beispiel: BV Potsdam: Bericht von »Walter« am 11.3.1976; ebd., Bl. 111 f. 307  BV Potsdam, Abt. XVIII / I nst., vom 2.9.1976: Einsatz- und Entwicklungskonzeption für »Karl«; ebd., Bl. 227 f.

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Von nun an dominierten personengebundene Aufträge. Diese hielten über seine Pensionierung hinaus an, zum Beispiel 1986, dem Jahr seiner Pensionierung, als ein Einsatz zu einem ehemaligen Mitarbeiter des ZIAP anstand, der nach seiner Übersiedlung im Jahr 1985 in Westberlin wohnte.308 Ein detaillierter Einsatzplan wurde am 9. Juni 1986 verfasst.309 Der Auftrag wurde am 20. Mai 1987 realisiert.310 Felber arbeitete nebenberuflich für die DEFA als Fachberater für Kirchengewänder.311 Diese Tätigkeit gründete »auf seine Kenntnisse in Kirchengeschichte und den kirchlichen Zeremonien«. Er arbeitete vornehmlich mit Regisseuren zusammen. Die Mitarbeit begann in der Regel »bereits bei den Absprachen zum Szenarium«. Substanzieller wurde diese dann bei den Diskussionen zum Drehbuch, »wo er dann konkrete Hinweise zu dem Ablauf der Zeremonien« zu geben hatte. Er soll zu namhaften Regisseuren wie Rainer Simon und Konrad Wolf gute Kontakte besessen haben. Die Absprachen mit den Regisseuren sollen nicht offiziell, sondern auf persönlicher Ebene geführt worden sein.312 Es kam zumindest in einem Fall auch zum Einsatz als Schauspieler, und zwar in dem DEFA-Film »Zünd an, es kommt die Feuerwehr« von Rainer Simon (Regie und Drehbuch) aus dem Jahr 1979, u. a. mit Winfried Glatzeder als Franz Kaden (Hauptmann der Feuerwehr), Rolf Ludwig als Müller (Feuerwehrmann) und Kurt Böwe als Zetsche (Gastwirt des Ortes). Felber spielte den katholischen Pfarrer! Die Uraufführung der Filmkomödie fand am 8. Februar 1979 im Berliner Kino International statt.313 Felber berichtete intensiv, oft sehr belastend, kleinkariert, subtil, Gehörtes, Privates, Vertrauliches, Intimes. Auch Berichte übelster Sorte waren darunter. Er war als IM das, was das MfS sich wünschte: ein skrupelloser Spitzel. Der letzte tradierte Bericht stammt vom 31. März 1989 in der Sache des 1985 nach West­ berlin übergesiedelten ehemaligen Kollegen [Y], der einst Aspirant bei Hans-Jürgen Treder war. Dazwischen liegen mindestens 800 Blatt Papier belastender Art. Die Fülle des Berichteten und Gesprochenen mag um Größenordnungen größer gewesen sein. Seit Ende 1977 berichtete er verstärkt zu [Y].314 Er hatte die Aufgabe, ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen: »Welche Schlösser sind in der Wohnung angebracht; Stand der Dissertation; Pläne des [Y]«;315 ferner: »Durchführung von 308  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 10.10.1986: Einsatz von »Karl« am OAM »Einstein«; ebd., Bl. 230 f. 309  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 9.6.1986: Vorschlag zum Einsatz von »Karl« im Operationsgebiet / W B; ebd., Bl.  232–234. 310  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 6.7.1987: Rückerstattung von Auslagen; ebd., Bl. 235. 311  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 24.6.1970: Bericht über das erste Kontaktgespräch (II) am 19.2.1970; ebd., Bl. 187–193, hier 189. 312  BV Potsdam vom 31.3.1976: Bericht von »Karl« am 30.3.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 139/75, Bd. 2, Bl. 9. 313 Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Zünd_an_es_kommt_die_Feuerwehr; letzter Zugriff: 10.1.2020. 314  Vgl. BV Potsdam: Bericht von »Karl« am 20. u.  23.12.1977; BStU, MfS, BV  Potsdam, VA 139/75, Bd. 2, Bl. 105. 315  BV Potsdam: Bericht von »Karl« am 14.3.1978; ebd., Bl. 112.

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Spezifische Vertiefung

Kontrollgängen nach Dienstschluss, um eventuelle Besuche festzustellen: Wann ist [Y] vor 17.00 Uhr in einer Gaststätte anzutreffen. Sofortinformation, falls das der Fall ist.«316 Sämtliche Sphären des Lebenswandels waren betroffen:317 »Wo hält er sich zu Pfingsten auf.« Und: »Gewohnheiten, Tagesablauf; was macht er an den Wochenenden.«318 »Kontaktierung«, Versuch der »Nutzung der Möglichkeit einer Geburtstagslage«.319 »Versuchen, [Y] in der neuen Wohnung zu besuchen.«320 Er erhielt auch den Auftrag, zum ehemaligen Agenten Gerd Karte* zu berichten: »Wo hat« er »studiert und promoviert, kann er Dr. [Z] kennen.«321 Aber auch zu Treder: Er hatte die Information erhalten, dass für Treder der Posten des Direktors für das Institut für Wissenschaftstheorie vorgesehen war; Felber: dazu sei er »ungeeignet«.322 Als sich die Vermutung erhärtete, legte er nach: Treder verstehe nichts von Wissenschaftstheorie und -organisation.323 Er berichtete detailliert zu Personen des ZIAP, auch wenn sie nur sporadisch in sein Gesichtsfeld gerieten. So zu Personen, die den widerständigen Bereichen zuzuordnen waren. So manch einer von ihnen wird nach der Einsichtnahme in seine Stasiakte gestaunt haben, was und wie ein gewisser IM »Karl« über sie berichtete. Ihn hätte man zuletzt verdächtigt. Felber ist ein Musterbeispiel dafür, dass es keine Sozialisierung – auch kein öffentliches Gebaren – gab, die oder das nicht davor schützte, Spitzeltätigkeit auszuführen. Fallgruppe 7: Spionageabwehr gegen den Westen, der Fall Zappe Voraussetzung für einen Kandidaten für die inoffizielle Mitarbeit bei der Spionageabwehr war, dass er in einem Kreis von Personen platziert war oder werden konnte, die in einem entsprechenden sicherheitsrelevanten Kontext arbeiteten. Hier Mitarbeiter zu finden, erwies sich vergleichsweise als leicht, da die Appellation an die Notwendigkeit der Spionageabwehr ethisch gerechtfertigt schien. Dass sich die praktische Tätigkeit dann oft als eine solche des reinen Spitzelns erwies, konnten die »Probanden« zunächst nicht wissen. Sie glaubten vielmehr den Begründungen ihrer Führungsoffiziere. Einmal im Geschäft, verloren sich Zweifel und Rücksichten rasch. Bei Alfred Zappe324 bedurfte es keiner besonderen Anstrengung ihn zu werben, er schien wie geboren für eine solche Tätigkeit. 316  BV Potsdam: Auftragserteilung für »Karl« am 31.3.1978; ebd., Bl. 128. 317  Beispiel: BV Potsdam vom 1.6.1978: Bericht von »Karl« am 30.5.1978; ebd., Bl. 139 f. 318  BV Potsdam: Auftragserteilung für »Karl« am 30.6.1979; ebd., Bl. 185 f. 319  BV Potsdam: Auftragserteilung für »Karl« am 25.9.1979; ebd., Bl. 207. 320  BV Potsdam: Auftragserteilung für »Karl« am 21.1.1980; ebd., Bd. 3, Bl. 3. 321  BV Potsdam: Auftragserteilung für »Karl« am 24.6.1980; ebd., Bl. 35. 322  BV Potsdam vom 16.11.1982: Bericht von »Karl« am 16.11.1982; ebd., Bl. 194 f., hier 194. 323  Vgl. BV Potsdam vom 16.10.1982: Bericht von »Karl« am 16.11.1982; ebd., Bl. 197. 324  Vom Lebenswandel Zappes und seinen aktiven Mitgliedschaften in NS-Organisationen war das MfS nicht erbaut. Hierzu: HA VII/1 vom 3.8.1963: Bericht; BStU, MfS, AIM 7783/71, Teil I, Bd. 1, Bl. 45 f. Er war keine Autorität auf dem Gebiet der Wissenschaft, besaß jedoch eine tiefe

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Bei seiner Werbung erfolgte sofort der Hinweis auf die Festnahme zweier »Agenten«, darunter Karte*, die Zappe »aus gemeinsamer Arbeit gut« gekannt haben soll. »Ihm«, Zappe, sei »die besondere Bedeutung aller geodätischen, kartografischen, photogrammetrischen und gravimetrischen Materialien für die Spionageabsichten des Gegners« gut bekannt. Das MfS behauptete ohne Nachweis, dass »speziell der amerikanische Geheimdienst starkes Interesse« an Zappe zeige und »bestrebt war bzw. noch ist, mit ihm selbst in Verbindung zu kommen«. Also war man sich einig: »Gerade deshalb hat das MfS ja die inoffizielle Verbindung zu ihm aufgenommen, um gemeinsam zu studieren, wie und mit welchen Methoden möglicherweise der Gegner versuchen wird, mit seiner Person in Verbindung zu kommen. Durch die inoffizielle Verbindung soll in erster Linie erreicht werden, dass gemeinsam ein solches Verhalten seinerseits festgelegt und durchgesetzt wird, dass der Gegner glaubt, mit einer Kontaktaufnahme Erfolg zu haben. Dadurch besteht die Möglichkeit, Pläne und Absichten des Gegners unmittelbar zu erforschen.«325 Abschließend erläuterte ihm das MfS, dass die »Zusammenarbeit mit dem MfS ein großes Vertrauensverhältnis« voraussetze, das »vonseiten des MfS zu ihm vorhanden« sei. »An ihm« liege »es, dieses Vertrauen durch seine Arbeit zu rechtfertigen«. Es sei fürderhin »wichtig, dass alle Vorkommnisse und Probleme beim Treff besprochen werden müssen bzw. von ihm selbst zu berichten sind, weil nur so jedes Missverständnis oder Misstrauen ausgeschlossen werden« könne.326 Der GI erhielt den Decknamen »Heinz Ludwig«. Zappe und andere waren weiland im Zusammenhang mit der Verhaftung Kartes* unter operative Kontrolle gestellt worden, hierzu zählten u. a. die Postzollkontrolle und die Kontrolle der Bankkonten sowie der Einsatz von IM zur Aufklärung der Personen im Dienst- und Freizeitbereich.327 Gerd Karte* hatte während seiner Vernehmung am 7. März 1966 über Zappe Mitteilungen gemacht, die zwar nicht belasteten, jedoch dem MfS genügten, den Hinweisen zu Kontakten in Verdacht geratener Personen nachzugehen. Mutmaßlich hätten die Amerikaner über Paul Kornfeld*, der dem MfS über Vergleichsarbeit bekannt war, Kenntnisse über Zappe erhalten. Er soll vermutet haben, dass sie über Zappe hinreichend Bescheid wüssten.328 Das MfS verstärkte sofort seine Aufklärungsmaßnahmen zu Zappe. Die operativen Untersuchungen verfolgten das Ziel, Zappe »als GI bzw. Überwerbung als GM« zu werben. Insbesondere wurden Tiefenanalysen zu verwandtschaftlichen Verhältnissen eingeleitet.329 Kenntnis über die internationalen Verbindungen seines Faches einschließlich der diesbezüglichen Literatur. Auch opferte er seine Freizeit für die ehrenamtliche Tätigkeit in der KdT, in: HA VII/1 vom 10.11.1966: Vorschlag zur Werbung; ebd., Bl. 193–199. 325  HA VII/1 vom 25.11.1966: Werbung; ebd., Bl. 17–19, hier 17. Zum Interesse des amerikanischen Geheimdienstes: Persönliche Niederschrift vom 6.3.1966; BStU, MfS, AU 747/69, Bd. 4, Bl. 295–305, hier 304. 326  BStU, MfS, AIM 7783/71, Teil I, Bd. 1, Bl. 18. 327  Vgl. HA VII/1 vom 25.2.1966: Maßnahmeplan; ebd., Bl. 66 f. 328  Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 7.3.1966; ebd., Bl. 87–89, hier 88. 329  HA VII/1 vom 16.4.1966: Maßnahmeplan; ebd., Bl. 96–98.

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Spezifische Vertiefung

Der Werbungsvorschlag wurde am 10. November 1966 verfasst.330 Zu diesem Zeitpunkt war Zappe in der »Verwaltung Vermessungs- und Kartenwesen« (VVK) des MdI tätig, wo er am 16. März 1952 begann. Die VVK stand in einem direkten Zusammenhang mit der später beginnenden Interkosmos-Zusammenarbeit der DDR. Zu ihrer diesbezüglichen Einbindung: Die Nutzer der Multispektral­ aufnahmen hatten der VVK ihre Wünsche zu übermitteln. Das ZIPE war dabei Kooperationspartner und »offenbar die einzige Institution«, die die Bearbeitungen der Aufnahmen am MSP 4 auch für die VVK durchführen konnte (durfte).331 Als Mitglied in der Arbeitsgruppe »Grenzmarkierung der DDR« nahm Zappe auch an Sitzungen dieser in der Bundesrepublik teil.332 Hier ging es um Fragen der Setzung oder Versetzung von Grenzsteinen und den typischen Arbeiten bei der Organisierung der Vermarkung.333 Mit Zappe wurden mindestens sechs Kontaktgespräche geführt. Er soll dabei stets seine Bereitschaft gezeigt haben, das MfS zu unterstützen.334 Er sei »ohne Kommentar bereit« gewesen, die fälligen Treffs mit dem Mitarbeiter außerhalb der Dienststelle in einer Konspirativen Wohnung (KW) durchzuführen. Aus Kenntnissen, die ihm das MfS gab, etwa aus Verhören zu Karte*, sei ihm angeblich klar geworden, »dass der amerikanische Geheimdienst starkes Interesse« auch an ihm selbst zeige. Die Wichtigkeit, ihn als inoffiziellen Mitarbeiter zu gewinnen, liege darin, so das MfS, dass er »im Bereich des staatlichen Vermessungswesens für die gesamte Beschickung von internationalen Tagungen und Kongressen verantwortlich« ist. Dadurch sei »er in der Lage, im Interesse des MfS auf die Auswahl der Kader Einfluss zu nehmen«. Er habe Kontakt zu allen leitenden Kadern der Branche (Vermessungs- und Kartenwesen) und darüber hinaus »zu allen Gremien«, die sich mit geodätischen, topografischen, kartografischen sowie photogrammetrischen Fragen beschäftigen würden. Er erhielt mehrere Prämien.335 Erst mit der Jahres­ einschätzung des MfS vom 23. Dezember 1969 konstatierte das MfS, dass es offenbar keine amerikanischen Kontaktversuche zu ihm gegeben hatte.336 In der Auswertung seiner inoffiziellen Arbeit am 9. Juni 1971 wurde festgestellt, dass man mit ihm rundum zufrieden war und keinen Verdacht hegte, dass er womöglich ein doppeltes Spiel spiele oder unehrlich sei. Allerdings, und das ist relativ selten bei der Durchsicht der Aktenführungen zu inoffiziellen Mitarbeitern feststellbar, soll sich Zappe durch ein überdeutliches Bekenntnis zum Sozialismus 330  HA VII/1 vom 10.11.1966: Vorschlag zur Werbung; ebd., Bl. 193–199, hier 198 f. 331  Vgl. Pätzold, FoB GK: Monatsbericht Oktober 1977; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 29/79, Teil II, Bd. 3, Bl. 174–184, hier 180. 332  Vgl. HA VII/1 vom 14.10.1974: Auskunftsbericht zu »Heinz Ludwig«; BStU, MfS, AIM 7783/71, Teil I, Bd. 1, Bl. 239–247, hier 245. 333  Vgl. Protokoll von Zappe; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 192–195. 334  Vgl. HA VII/1 vom 10.11.1966: Vorschlag zur Werbung; ebd., Teil I, Bd. 1, Bl. 193–199, hier 197. 335  MfS vom 8.2.1968: Prämienzahlung; ebd., Bl. 206. 336  Vgl. HA VII/1 vom 23.12.1969: Jahreseinschätzung zu »Heinz Ludwig«; ebd., Bl. 212.

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und Kommunismus die Chancen, um ins Blickfeld des Gegners zu gelangen, selbst verbaut haben: »Er versucht immer und überall, seine Gesprächspartner von den Idealen des Sozialismus zu überzeugen. Dabei ist er nicht selten dogmatisch und wirkt schulmeisterlich. Es gelang bisher nicht, den IM für ein taktisches Vorgehen zu gewinnen, um ihn ins Blickfeld gegnerischer Kreise zu bringen.«337 Zappes Berichtstätigkeit hatte den Charakterzug des Gehorchens. Seine Berichterstattung war brauchbar bis wertvoll (siehe Kap. 4.2). Seine Berichte enthielten oftmals Belastendes. So berichtete er Mitte 1970 auch zu Hans Weise. Er schmeichelte sich regelrecht an ihn heran, lud ihn auch zu einem Familientreff ein. Doch Weise lehnte ab.338 Der Abschluss seiner inoffiziellen Tätigkeit endete erst im 69. Lebensjahr.339 In »feierlicher Form« erhielt er am 29. Januar 1970 das Abzeichen »20 Jahre MfS« mit Urkunde.340 Fallgruppe 8: Trotziger Fleiß, der Fall Kroitzsch Viktor Kroitzsch wurde 1926 in Jelgara / Lettland geboren. Im Krieg, nach dreimonatiger Militärausbildung und Dienst bei der Luftwaffe, wurde er in Frankreich verwundet. Er kam in amerikanische Gefangenschaft. Von 1946 bis 1947 war er als Hilfsdreher und Schweißer in einem Industriebetrieb in Memmingen sowie in Wolfsburg tätig. In Wolfsburg trat er 1947 der KPD bei. In dem Jahr siedelte er in die DDR über, wo er sofort der SED beitrat. 1954 erwarb er das Diplom als Geophysiker und nahm die Tätigkeit in der Akademie der Wissenschaften auf. 1969 wurde er promoviert und avancierte sogleich zum Leiter des Wissenschaftlichen Sekretariats im FoB Kosmische Physik, dem späteren FoB Geo- und Kosmoswissenschaften. 1979 wurde er Leiter der Abteilung »Optische Bildbearbeitung« am Geodätischen Institut Potsdam (GIP).341 Der Vorschlag zu seiner Werbung stammt vom 27. März 1968. Kroitzsch soll laut MfS das Vertrauen der Mehrheit der Wissenschaftler am Institut besessen haben, und »besonders solchen Personen« gegenüber, so das MfS, »die für uns operativ von Interesse sind«. Dies traf zu, denn er galt als sympathisch. Er besaß keine Schwierigkeiten, mit anderen in Kontakt zu kommen. Bereits vor diesem Vorschlag zum IM hatte er der Aktenlage nach als GI »Geos« berichtet. Diese Ungenauigkeit in der Aktenführung der BV Potsdam ist empirisch gesehen nicht ungewöhnlich. In diesem

337  HA VII/1 vom 9.6.1971: Bestandsaufnahme zu »Heinz Ludwig«; ebd., Bl. 227–234, hier 231. 338  Vgl. Bericht von »Heinz Ludwig« vom 9.6.1970; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 16–18, hier 17. 339  Vgl. HA VII/2 vom 2.1.1979: Abschlussvermerk; ebd., Teil I, Bd. 1, Bl. 250 sowie HA VII/2 vom 2.1.1979: Beschluss; ebd., Bl. 251 f. 340  HA VII/1 vom 5.2.1970: Bericht zum Treffen mit »Heinz Ludwig« am 29.1.1970; ebd., Teil II, Bd. 2, Bl. 4–6, hier 4. 341  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 27.3.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 88–100, hier 89–92. BV Potsdam vom 26.1.1965: Kurzbiographie; ebd., Bl. 22 f.

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Spezifische Vertiefung

Fall traf sich das MfS gewissermaßen halboffiziell mit Kroitzsch in der Bezirksleitung der SED. Bereits der erste nachweisbare (Tonband-)Bericht vom 24. September 1966 lautete auf GI »Geos«. Es folgten noch mindestens weitere fünf Berichte, wiederum abgelegt unter GI »Geos«. Mit dem Treffbericht vom 31. März 1967, der eigentlich gar keiner war, wurde aus dem GI plötzlich der IM »Geos«, der Bericht zu diesem Treffen stammt vom 6. Februar 1967. Letztlich war es eine Art von halboffiziellen Gesprächen ohne Konspiration und Verpflichtung. Dennoch führte die BV Potsdam ihn zunächst als inoffiziellen Mitarbeiter. Bis zum Werbungsvorschlag im März 1968 erfolgte keine weitere Ablage solcher Berichte. In dem Vorschlag wurde seine detaillierte Berichterstattung hervorgehoben. Von einer schriftlichen Verpflichtung nahm das MfS Abstand »aufgrund der Mentalitäten des Kandidaten«. Den Decknamen »Geos« habe man gemeinsam ausgesucht.342 Die inoffiziellen »Zusammenkünfte« fanden u. a. in den KW »Bachstelze«, »Feder« und »Kino« sowie zuletzt »Krümel« statt. Grundsätzlich berichtete Kroitzsch auf Tonband, für schriftliche Berichte will er keine Zeit gehabt haben. Der IM wurde wiederholt für seine inoffizielle Arbeit gelobt, besitze aber – und auch das klang oft in den Einschätzungen des MfS an – »eine Vielzahl von Unklarheiten. Teilweise« sei »er voreingenommen«. Das MfS begründete das damit, dass er sich »über die schlechte Information durch unsere Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehsender« beschwere. So im Falle der ČSSR-Ereignisse, wo er keine Konterrevolution sehe.343 1969 war Kroitzsch u. a. im wissenschaftlichen Beirat und in der Leitung des ZIPE tätig, auch war er Mitglied der Parteileitung. Zu dieser Zeit sperrte er sich, zu nahegehende Berichte zu Personen zu verfassen. Das wollte das MfS abstellen, da er als IM-Reisekader vorgesehen war.344 1973 war das MfS über seine Auftragserfüllung weiterhin nicht zufrieden. Auch kam es zu Unregelmäßigkeiten bei der Treffwahrnehmung. Durchaus kann man den Eindruck gewinnen, dass Kroitzsch nicht (immer) unbedingt berichten wollte. Demgegenüber steht aber eine beachtlich hohe Zahl an tradierten Berichten mit teils enormem diskreditierendem Anteil. Er verstehe, so das MfS, »seine Zusammenarbeit mit dem MfS als Parteiauftrag«. Seine »ungenügende Einsatzbereitschaft« – er schiebe gern Zeitmangel oder familiäre Dinge vor – würde jedoch zeigen, »dass er diesen ›Parteiauftrag‹ nicht sehr ernst nimmt«. In seiner Eigenschaft als Leiter des wissenschaftlichen Sekretariats« erhielt »er jedoch umfassende Kenntnis über forschungspolitische Zusammenhänge« und kam zwangsläufig »mit den leitenden Funktionären der AdW zusammen, die er einschätzte«. Das machte ihn wertvoll. Kroitzsch nahm oft kein Blatt vor dem Mund und kritisierte, was zu kritisieren ihm notwendig erschien. Das gefiel seinem Führungsoffizier nicht, wenn es in Richtung SED oder Staat ging; der Führungsoffizier: »Ich konnte ihm dabei 342  BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 27.3.1968; ebd., Bl. 88–100, hier 99. Bericht am 24.9.1966; ebd. Bl. 52–68. 343  BV Potsdam (o. D.): Zur Zusammenarbeit mit »Geos« im Jahre 1968; ebd., Bl. 169. 344  Vgl. BV Potsdam (o. D.): Zur Zusammenarbeit mit »Geos« im Jahre 1969; ebd., Bl. 171 f.

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wiederholt nachweisen, dass er bei seinen spekulativen Erwägungen des Öfteren Gesetzmäßigkeiten des Marxismus-Leninismus verletzt. Eine gewisse pessimistische Grundstimmung ist nicht zu verkennen.« Der Versuch, ihn »für eine Personenkontaktierung zu gewinnen«, scheiterte an seiner »ausweichenden und inaktiven Rolle und Haltung«.345 1976 ist Kroitzsch an das HFIM-Netz »Dieter« (siehe FG  5) angeschlossen worden. Aus der Einsatz- und Entwicklungskonzeption für den IM »Geos« vom 30. August 1976 geht hervor, dass er im Rahmen seiner Funktion keine Möglichkeiten besitze, »potenzielle Gegner zu bearbeiten«. Er soll sich nun regelrecht geweigert haben. Auch weigerte er sich kategorisch, sogenannte Blickfeldarbeit gegenüber einer bestimmten westdeutschen Person zu leisten.346 Seine grundsätzliche Weigerung hierzu war mindestens zwei Jahre alt: Am 20. Mai 1974 hatte er gegenüber seinem Führungsoffizier erklärt, »dass er nicht bereit« sei, »im Interesse einer Blickfeldarbeit offensiv und kompromittierende Forderungen (z. B. an Frau [W]/Westdeutschland) zu stellen. Er sei nicht bereit, [W] um eine Bescheinigung zu bitten, die ihm evtl. eine Reise in dringenden Familienangelegenheiten zu seiner in Westdeutschland lebenden Mutter ermöglicht. Er habe Angst, dass man ihn bei der Einreise in die BRD inhaftiert. Er mag solch ein Risiko nicht«. Der Führungsoffizier hatte ihm daraufhin versprochen, dass das MfS ihn beschütze, auch wurde ihm »der Zusammenhang zwischen Blickfeldarbeit und deren Konsequenzen, Dienstfahrten als Reisekader und mehrmals gegebener Erklärung des IM, die inoffizielle operative Arbeit als Parteiauftrag zu verstehen, erklärt«. Ihm wurde eine Woche Bedenkzeit eingeräumt. Das MfS erwog deshalb 1974, seinen Status als Westreisekader zu stornieren.347 Allerdings existiert auch ein Treff‌bericht vom 23. April 1974, dem zu entnehmen ist, dass »Geos« »nach mehrmaliger Mahnung« angeblich bereit gewesen sei, endlich einen Brief an Frau [W] zu schreiben und auf deren Angebot, ihm drei Ausgaben der Physikalischen Blätter zuzuschicken, einzugehen: »Frau [W] soll drei Exemplare in einen neutralen Umschlag stecken und an die Privatadresse des IM schicken. Die Briefe sollen weiterhin über Deckadresse geschickt werden.«348 Kroitzsch entwickelte sich Anfang der 1980er-Jahre als unumstrittener »Spezialist für multispektrale Farbmischungen und die entsprechenden fotografischen Techniken.«349 Seit 1978 wurde er vom FIM »Jochen Gränz« geführt.350 Er wurde vom MfS erpresst, genutzt, hofiert, nie aber geschätzt. Er war zu selbstbestimmt. 1981 345  BV Potsdam vom 3.1.1973: Zur Zusammenarbeit mit »Geos« seit 1968; ebd., Bl. 174 f. 346  BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 30.8.1976: Einsatz- und Entwicklungskonzeption für »Geos«; ebd., Bl. 191 f. 347  BV Potsdam vom 20.5.1974: Bericht von »Geos«; ebd., Teil II, Bd. 3, MfS-Pag., Bl. 15. 348  BV Potsdam vom 23.4.1974: Bericht von »Geos«; ebd., MfS-Pag., Bl. 82. 349  BV Potsdam vom 28.8.1981: Bericht von »Peter Ermisch« am 26.8.1981; ebd., Teil I, Bd. 1, Bl. 162 f., hier 162. 350  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII: Auskunftsbericht, angelegt am 7.5.1974; ebd., Bl. 196–205, hier 201 u. 205.

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Spezifische Vertiefung

ist ihm gar eine dienstlich veranlasste vierzehntägige Reise nach Libyen vom MfS verwehrt worden.351 Das MfS zahlte ihm seine Weigerungen unnachgiebig heim. Der Abschlussbericht stammt vom 9. Mai 1985. Das letzte Treffen lag ein gutes Jahr zurück. Hierbei kam es zu einer offenen Konfrontation beider Seiten wegen der Ablehnung einer Reise in dringender Familienangelegenheit.352 Mit dem MfS hatte er gebrochen. Vergessen war, dass er am 8. Februar 1974 mit der Verdienstmedaille der NVA in Bronze und nochmals, genau drei Jahre später, in Silber ausgezeichnet worden war.353 Tatsächlich aber muten die unzufriedenen Einschätzungen durch die Potsdamer Tschekisten seltsam an, denn die Berichte von Kroitzsch waren zumindest eine längere Zeit extrem belastend für jene, über die er berichtete. Hierfür gab es letztlich auch die Auszeichnungen. Eines seiner Opfer war Hans Weise, den er mehrfach denunzierte. Etwa 1968, als er erfuhr, dass daran gedacht war, den hervorragenden Fachmann als Wissenschaftsorganisator einzusetzen; Kroitzsch: »Weise wäre fachlich wohl dazu in der Lage, muss aber nach meiner Meinung aus ideologischen Gründen ausscheiden.« Er gab gar seinem staatlichen Ansprechpartner den Weg dazu an: »Sollten sie keinen Einfluss auf Kautzleben haben, müsste man versuchen, vom MfS aus zu verhindern, dass Weise den Posten erhält (Kadermangel).«354 Doch das erübrigte sich, da Weise, als er am 30. August 1968 aus dem Urlaub zurückkehrte, gegenüber der SED-Parteileitung seinen Austritt aus der SED erklärte. Er könne das »Vorgehen in der ČSSR nicht mit seiner Mitgliedschaft in der SED vereinbaren«. Man versuchte hektisch, Weise von seinem Schritt abzubringen, gab ihm Zeit, zu überdenken. Die SED hatte in solchen Fällen stets Angst, dass solche Haltungen und Handlungen bekannt würden. Also sollte er von seiner Funktion als Abteilungsleiter nur »beurlaubt« werden. »Wir«, so Kroitzsch, »können ihn nicht abberufen (nicht befugt dazu). Bei der Neuberufung spätestens in einem Monat« könne »man diese Angelegenheit elegant lösen«. Kroitzsch besprach einige Möglichkeiten und Modalitäten, etwa die Frage der disziplinarischen Bestrafung, ob man den Vorgang propagandistisch kundtun oder besser verschweigen solle. Man wollte auf gar keinem Fall aus Weise einen Märtyrer machen, auch wollte man abwehren, dass andere Abteilungsleiter sich mit ihm solidarisierten und ihre Funktionen aufgaben. Denn damit wurde durchaus gerechnet, da Weise anerkannt und beliebt war; Kroitzsch: »Auch in diesem Falle wären sie sofort ihrer Funktion enthoben worden. Es darf nicht dazu kommen, dass Weise ein Märtyrer im Institut wird.«355

351  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 29.10.1981: Ablehnung der NSW-Einzelreise nach Libyen; ebd., Bl. 93–195. 352  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 9.5.1985: Abschlussbericht zum IMS-Vorgang »Geos«; ebd., Bl. 206 f. 353  Vgl. MfS, Mielke, vom 8.2.1974: Befehl Nr. K 413/74 sowie vom 8.7.1977; ebd., Bl. 210. 354  BV Potsdam vom 16.7.1968: Bericht von »Geos« am 5.7.1968; ebd., Teil II, Bd. 1, Fiko, Bl. o. Pag. 355  BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 2.10.1968; ebd., Fiko, Bl. 65 f.

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Die Diskussionen über Weises Parteiaustritt und Motivation und die erforderlichen Konsequenzen gegen ihn dauerten das ganze Jahr über an.356 Hans-Jürgen Treder hatte ihn trotz Widerstands wieder als Leiter eingesetzt. Doch Kroitzsch blieb gelassen: »In 14 Tagen werden alle Leiter abberufen und dann wieder neu berufen. Weise wird aufgrund [seiner] Aktennotiz nicht wieder dabei sein.« Er sprach sich sogar dafür aus, Weise nicht zusammen mit den anderen abzuberufen, sondern separat: Es möge ihm gezeigt werden, warum!357 Doch Weise blieb Abteilungsleiter. Kroitzsch hatte sich nicht durchsetzen können. Am 14. Januar berichtete er, dass weder Weise noch Kurt Arnold auf die Umstrukturierungsmaßnahmen – die Akademiereform lief auf Hochtouren – im Institut reagieren würden. Und weiter: Weise wisse »zwar noch nicht, dass er keine Abteilung mehr leiten wird, sondern höchstens eine Arbeitsgruppe, was er sicher ablehnen wird«.358 Im April 1969 war Weise immer noch Leiter der Abteilung für geodätische Normale.359 Auch Arnold war im Juni noch Abteilungsleiter im GIP.360 Kroitzsch erhielt vom MfS Order, Arnolds Spaziergänge zu verfolgen. Jedenfalls konnte er dem MfS am 4. Juni Einzelheiten zu dessen »Alleingängen« mitteilen: Verlassen und Kommen durch eine Seitenpforte; ohne Mitteilung an Kollegen; zu unterschiedlichsten Zeiten; an verschiedenen Orten getroffen; immer allein und zu Fuß. Am 21. Mai habe er ihn aus seinem Auto heraus gesehen, circa drei Kilometer vom Institut entfernt. Und dann kam jene Mutmaßung, die das MfS interessierte: das sich dort auf dem Langerwischen Wege, am westlichen Rande, »viele Hindernisse (Schrott, Mauer- und Gebäudereste) befinden« würden, »sodass man hier besonders gut einen toten Briefkasten anlegen könnte.« Er lieferte eine Skizze.361 Solche Mitteilungen genügten dem MfS nicht, es wollte, dass er sich wie ein Hund an die Fersen Arnolds hefte. Er wehrte ab: »Die Ziele seiner Fußmärsche sind mir nicht bekannt; ich habe auch keine Möglichkeit, sie zu erfahren.«362 Es war eine seltsame Mischung aus partieller Verweigerung und eilfertiger Denunziation. Ob es allgemeine Dinge, wie der Protest zweier Mitarbeiter gegen den Abriss der Garnisonskirche in Potsdam, oder Aussagen einfacher Angestellter waren, er berichtete stets, was ihm verdächtig schien. Wie etwa über einen Kraftfahrer, der angeblich »unserem Staat feindlich« gegenüberstehe. Er teilte alles Negative mit.363 Kroitzsch intervenierte auch bei Ernst Brüche, der in der Rubrik »ceterum censeo«

356 Vgl. BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 19.11. u. 17.12.1968, 14.1., 1.4. u. 30.4.1969; ebd., Fiko, Bl. 70 f., 89, 119, 138, 142–145. 357  BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 17.12.1968; ebd., Fiko, Bl. 89. 358  BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 14.1.1969; ebd., Fiko, Bl. 119. 359 Vgl. BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 30.4.1969; ebd., Fiko, Bl. 142–145, hier 142. 360  Vgl. BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 4.6.1969; ebd., Fiko, Bl. 149–151, hier 149. 361  BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 4.6.1969; ebd., Fiko, Bl. 152. 362  BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 1.4.1969; ebd., Fiko, Bl. 139. 363 Ebd.

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im Heft 10/1966 der Physikalischen Blätter 364 eine viel zu laxe Haltung gegen die Atombewaffnung der Bundesrepublik das Wort geredet haben soll. Er wandte sich direkt an Brüche, höflich zwar, aber pro DDR: Man könne »zu den Dingen hier bei uns stehen wie man will (und ich glaube nicht, dass ich Sie verdächtigen darf, Ihnen besonders wohlwollend gegenüberzustehen), aber man kann kaum an der Tatsache vorbei, dass wir hier (unter großen Opfern) einige Konsequenzen gezogen haben«.365 Kroitzsch betätigte sich auch als Tipper für das MfS. Am 24. März 1971 tippte er zum Beispiel Ruben, zu diesem Zeitpunkt amtierender Direktor des ZIAP, denn der »sei bis zur ›Idiotie‹ ehrlich«. Doch der Tipp hatte sich bereits erübrigt. Auch tippte er Wieland Freigang, der habe eine progressive Einstellung: »Freigang entfaltet Initiative, trägt zu progressiven Diskussionen bei und macht aus seiner kritischen Betrachtungsweise keinen Hehl.«366 Kroitzsch fiel oft als Provokateur auf Parteiversammlungen, ML-Schulungen u. ä. ideologischen Veranstaltungen auf. Dies tue er, so Ruben, mit »unorthodoxen« Meinungen und »durch bewusste falsche Behauptungen«. Angeblich wolle er so die »Arbeitskollegen zum Reden« bringen. Ruben meinte zu seinem Führungsoffizier, der zu dieser Zeit auch Kroitzschs war, dass die »ungefestigten« Genossen und Mitarbeiter dadurch »geschockt und verunsichert« würden.367 Jeder schien jeden zu beobachten: Lutz Hannemann alias IM »Heinz Vogt« berichtete am 6. März 1978, dass zwischen ihm und Kroitzsch »ein gespanntes Verhältnis« bestehe. Eine »sinnvolle Zusammenarbeit« lasse das nicht zu. Kroitzsch sei zwar ein guter Fachmann, jedoch kein guter Leiter.368 Und vierzehn Tage später berichtete er u. a., dass Kroitzsch nervlich am Ende sei, unmotiviert Kollegen anbrülle, das Licht über Nacht brennen lasse – und an einem Karabinerhaken gehängt, »eine Unmenge Schlüssel« trage, womit er jede Schrank- und Zimmertüre im Institut öffnen könne. Er fertige sich auch, fehle ihm ein Schlüssel, selbst einfach welche an; Hannemann: »Seit der Ausstellung ›Wieland Förster‹ besitzt Kroitzsch auch den Schlüssel zum Haupteingang des Großen Refraktors des ZIAP. Er wurde von Frau [X] und Frau [Y], beide Mitarbeiter des ZIAP, gesehen, wie er an der Tür schloss (abends). Am 8. oder 9. März 1978 hat sich Kroitzsch ins Anwesenheitsbuch der Fernerkundung eingetragen. Danach hat er 21.40 Uhr das Institut verlassen. Der Hausmeister, Koll. [Z], hat ihn gegen 23.00 Uhr mit dem Auto abfahren hören. Kroitzsch parkt es unmittelbar unter dem Schlafzimmerfenster des Hausmeisters. 364  Vgl. Ceterum censeo, in: Physikalische Blätter 21(1966)10, S. 488. 365  Schreiben von Kroitzsch an Brüche vom 28.12.1966; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 1, Fiko, Bl. o. Pag. 366  BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Geos« am 24.3.1971; ebd., Bd. 2, Fiko, Bl. 29 f., hier 30. Freigang hatte Mühe, sich aus den Fängen des MfS herauszuwinden; siehe Buthmann: Konfliktfall »Kosmos«, S. 174–177. 367 BV Potsdam (o. D.): Bericht von »Astronom« am 4.2.1972; BStU, MfS, BV  Potsdam, AIM 973/85, Teil II, Bd. 2, Fiko, Bl. 86 f., hier 86. 368  BV Potsdam vom 7.3.1978: Bericht von »Heinz Vogt« am 6.3.1978; BStU, MfS, BV Potsdam, VA 261/84, Bd. 1, Bl. 56 f., hier 57.

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Informationen über die Zwischenzeit konnte der IM nicht machen, nimmt aber an, dass er Kontrollgänge auf dem Telegrafenberg macht.«369 Fallgruppe 9: Präsente, der Fall Stiller Heinz Stiller mag über sich selbst zerstritten gewesen sein, er hatte Talent zur Wissenschaft, Lust zum Organisieren und eine Begierde zur Macht. Letztlich führten diese drei Bestrebungen zu einer Art von Selbstzerstörung, in deren Folge dem Wissenschaftsbetrieb und zahlreichen Wissenschaftlern erheblicher Schaden zuteilwurde. Aus einer Beurteilung der Abteilung XVIII der BV Potsdam vom 7. November 1977: »Besonders interessiert ist Professor Stiller an der politisch-ideologischen Durchdringung der Wissenschaftsstrategie.« Ferner habe er »eine eindeutige, klare Position zur sicherheitspolitischen Problematik und zum MfS. Professor Stiller unterstützt aktiv die Arbeit des MfS«.370 Diese Einschätzung erfolgte im Rahmen seiner Nominierung zur Kaderreserve des ZK der SED, Abteilung Wissenschaften.371 Die Einschätzung traf voll zu. Bereits 1962 saß er wissenschaftspolitisch fest im Sattel und übte sich in Gestaltungsfragen. So hatte er die »Vorstellung«, das Geodätische Institut und das Geomagnetische Institut zu einem Geophysikalischen Institut zu vereinen. Horst Peschel, aber auch Hans-Ulrich Sandig,372 lehnten dies ab. Dass hier bereits das MfS mitagiert haben dürfte, legt der anschließende Satz im Bericht vom 21. Juni 1962 nahe: »Damit wollte Dr. Stiller erreichen, dass Karl Reicheneder von seiner Funktion entbunden wird.« Reicheneder sei nicht in der Lage, konzeptionell wissenschaftspolitische Vorstellungen zu entwickeln. »Deshalb darf er für die wissenschaftlichen Arbeiten nicht die ausschließliche Macht haben. Er ist unentschlossen und oft feige, wenn es geht, bestehende Vorstellungen durchzusetzen.« Ferner: Kurt Arnold »müsste zur Sternwarte Babelsberg versetzt werden«; er könne dort forschen, ohne einen Einfluss auf das Institut ausüben zu können. »Allgemein besteht im Institut die Ansicht, Dr. Arnold ist ein berühmter Mann, leistet eine ausgezeichnete wissenschaftliche Arbeit und hat deshalb auch gesonderte Rechte (Narrenfreiheit).«373 Reicheneder schütze besonders die sechs Mitarbeiter der Bibliothek des 369  BV Potsdam vom 30.3.1978: Bericht von »Heinz Vogt« am 29.3.1978; ebd., Bl. 60 f. 370  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 7.11.1977: Kaderauftrag Nr. 941/R; BStU, MfS, HA XX, AP 68426/92, Bl. 31 f., hier 31. Auch BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil I, 1 Bd., Bl. 105 f. u. 110 f. 371  Vgl. MfS vom 6.12.1977: Kaderreserve des ZK der SED, Abt. Wissenschaften; BStU, MfS, HA XX, AP 68426/92, Bl. 33. 372  (1909–1979). Astronom. Examen bei Werner Heisenberg. 1956 Professor für Geodätische Astronomie. Mitwirkung am Geophysikalischen Jahr. Vielfältige Funktionen. Quellenhinweis: Sandig, Hans-Ulrich: Astronomische Messkunst im Geophysikalischen Jahr, in: Jenaer Rundschau 3(1958)6, S. 170–173. 373  BV Potsdam, Abt. III/4, vom 21.6.1962: Bericht; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 2051/80, Teil I, 1 Bd, Bl. 44–47, hier 45 f.

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Geomagnetischen Instituts, diese seien jedoch sehr negativ eingestellt und hätten eine bürgerliche Einstellung. Arnold habe »ganz offen« erklärt, »dass er gegen unsere Gesellschaftsordnung« sei. Beide, Reicheneder und Arnold, sollten später im Zuge mannigfaltiger Wechsel tatsächlich ihre Positionen verlieren (siehe S. 650). Die SED und das MfS versuchten, wie oben gezeigt, auch die Machtstrukturen in der Raumforschung grundlegend zu verändern; Zitat Stiller in der Wiedergabe des MfS: »Das gesamte Astrophysikalische Institut kann aufgrund der negativen Haltung von Johann Wempe als negative Gruppierung eingeschätzt werden.«374 1966, zum Zeitpunkt seiner Werbung, war Stiller just Leiter des Instituts für Geodynamik in Jena geworden, das 1954 aus dem Institut für Bodendynamik und Erdbebenforschung hervorgegangen war. Es befasste sich mit einem recht breiten Spektrum verschiedenster Aufgaben, zu denen auch die Erdbebenvorhersage und die Feststellung von Atombombenversuchen zählten. Der Anteil der Grundlagenforschung war aktuell recht hoch und zeigte sich vor allem in der Kooperation mit dem Institut für Angewandte Geophysik in Freiberg, dem VEB Geophysik Leipzig und der VVB Erdöl-Erdgas Gommern im Bezirk Magdeburg. Das Institut besaß mit dem seismologischen Hauptobservatorium in Moxa eine Außenstelle. Nicht wenige Aufgaben unterlagen der Geheimhaltung, so eine geheime Tiefenbohrung, die, so Stiller gegenüber dem MfS, 17  Millionen MDN kosten werde. Damit könnte man, meinte er kritisch, die Kosten für die Kernenergiewirtschaft fünf Jahre lang bezahlen.375 Die werbende Diensteinheit, die Abteilung XVIII, hatte bereits seit 1960 Kontakt zu ihm: Er sei damals für die HV A »zur Absicherung eines GM im Operationsgebiet« eingesetzt worden. Nach der Lösung dieser Aufgabe habe die HV A der Abteilung gestattet, mit ihm zusammenzuarbeiten. In der Zusammenarbeit mit der HV A habe er »unbedingte Ehrlichkeit und Treue bewiesen«.376 Geworben wurde er am 28. Januar 1966 unter dem Decknamen »Martin«. Eine schriftliche Verpflichtungserklärung ist ihm nicht abgenommen worden. Stiller war West-Reisekader. Wegen erheblicher beruflicher Lasten und der Tatsache, dass mit ihm eine offizielle Gesprächsebene existierte, wurde der Vorgang am 29. September 1980 abverfügt.377 In seinem Lebenslauf vom 25. März 1956 ging er mit keiner Silbe auf seine Eltern, geschweige seinen Vater ein.378 Im von ihm unterschriebenen Personalbogen vom selben Datum steht bei seinem Vater Fritz Stiller unter überwiegende Tätigkeit bis

374  BV Potsdam, Abt. III/4, vom 23.2.1963: Bericht; ebd., Bl. 48–50, hier 49 f. 375  Vgl. BV Gera, KD Jena, vom 27.5.1966: Aussprachebericht; ebd., Bl. 51–55. 376 BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 28.1.1966: Vorschlag zur Werbung eines GI; ebd., Bl. 64–67. 377  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 13.1.1966: Beschluss für das Anlegen eines IM-Vorlaufs; ebd., Bl. 8 f.; BV  Potsdam, Abt.  XVIII, vom 9.5.1974: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 13–19, hier 13 f. u. 19; BV Potsdam, Abt. XVIII/2, vom 29.9.1980: Abschlussbericht zum IMS-Vorgang »Martin«; ebd., Bl. 163. 378  Vgl. Lebenslauf vom 25.3.1956; ebd., Bl. 72 f.

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1945: Kaufmann.379 Das hatte, weil er verschwieg, dass sein Vater KZ-Aufseher war (siehe S. 57), zwischenzeitlich Ärger für ihn gegeben. Sein Staatsexamen (Diplomprüfung) absolvierte er bei Gerhard Fanselau weiland vom Institut für Meteorologie und Geophysik der HU Berlin 1956 mit »Sehr gut«. Überhaupt waren alle Teilnoten mit »Sehr gut« bewertet worden.380 Von 1956 bis 1959 war er an der HU Berlin im Prorektorat für wissenschaftliche Aspirantur tätig, 1959 bis 1961 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geomagnetischen Institut. Promoviert wurde er 1959, fünf Jahre später habilitierte er sich. Der SED trat er 1950 bei.381 Am 5. April 1975, er war nunmehr seit Längerem in Potsdam, stellte die Abt. XVIII / ​Inst. der BV Potsdam fest, dass Stiller immer »noch Kontakt zur HV A« unterhalte. So im März, wo neben dem HV A-Mitarbeiter auch ein Offizier von der Abteilung 5 der HA XVIII involviert war. Sein Führungsoffizier, Brederlow, hatte diese Information – samt Zweck der Unterredung (Kadervorschläge für eine NVA-Forschungsaufgabe) – durch gezieltes Fragen herausbekommen.382 Die Arbeit für die HV A sei aufgrund seiner NSW-Reisetätigkeit wieder aufgenommen worden, hieß es.383 Brederlow konnte dies natürlich nicht gefallen. Stiller war überdies auch Auswerter der SWT / V der HV A; es ist aus dem Text der Wiederholungs-Bestätigung vom 13. August 1980 zu zitieren: »Die wissenschaftlich-technischen Unterlagen werden durch unsere Beauftragten im MWT – WTZ 3 an den Vorgenannten übergeben, ohne dass dabei der unmittelbare Zusammenhang zum MfS bekannt wird.«384 Das war Usus so. Stiller war ein genau und intelligent berichtender IM. Seine Darstellungen und Psychogramme zu Personen waren rasierklingenscharf. Nur einige Wortbeispiele pars pro toto, hier zu einem Reisekader: »von sich eingenommen«, »sehr empfindlich«, »sehr eitel«, »geckenhaftes Aufgeputztsein«, »ständig Informationen sammelt«, »weil er Angst hat«, »seine politische Einstellung ist auf alle Fälle negativ, nur äußert er diese aufgrund seiner Feigheit nicht«, gebe »bedeutend mehr Geld« aus als er »verdient«.385 Kurz nach seiner Werbung, am 15. Juli 1966, berichtete er über die Situation in Jena und speziell über Max Steenbeck. In der Frage der »Schaffung eines guten Verhältnisses zwischen den staatlichen und parteilichen Organen und den Akademieinstituten« am Standort Jena sei seit vielen Jahren »nicht allzu viel passiert«. Als einen Grund nannte er, dass Steenbeck »ein außerordentlich starker Individualist« sei und somit zu geringes Interesse bei ihm an anderen Fragen herrsche. Die Bedingungen zu einer engeren Kooperation der Institute mit der Universität seien sehr günstig, weil sie »direkt dicht nebeneinander« lägen. Aber auch hier zeig379  Vgl. Personalbogen vom 25.3.1956; ebd., Bl. 68–71, hier 68. 380  Vgl. Prüfungszeugnis vom 26.3.1956; ebd., Bl. 74. 381  Vgl. Kurzbiographie vom 12.7.1966; ebd., Bl. 80 f. 382  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII / Inst., vom 16.4.1975: Aktennotiz zu »Martin« vom 5.4.1975; ebd., Bl. 102. 383  Vgl. BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 13.10.1975: Aktennotiz zu »Martin«; ebd., Bl. 104. 384  BV Potsdam vom 13.8.1980: Wiederholungs-Bestätigung; ebd., Bl. 108 f., hier 108. 385  BV Potsdam, Abt. XVIII/4, vom 28.1.1966: Zur Person [X]; ebd., Teil II, Bd. 1, Bl. 40 f.

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ten sich angeblich kaum Fortschritte. Stiller: Es sei eine Kultstellung der Direktoren feststellbar, die sich träfen, aber eine »offene Diskussion« bleibe auf der Strecke. Stiller bezog sich hierbei auf die erstmals stattgefundene Direktorenkonferenz. Diese Kultstellung werde »insbesondere von Professor Steenbeck geradezu gefördert«.386 Praktisch alle namhaften und weniger namhaften Wissenschaftler wusste er negativ zu zeichnen, ob politisch aufgefallene oder dem SED-Regime hörige. Er machte keinen Unterschied. Hob er die unzweifelhaften Leistungen eines Wissenschaftlers hervor, konterkarierte er diese meist politisch negativ.387 Seine »Expertisen« in Form von Psychogrammen wurden insbesondere von der Führung der HA XVIII eingefordert. In einem solchen Fall waren die Fragen zu den Personen in sechs Komplexen formuliert; hier ein Auszug: »1. Einschätzung der wissenschaftlichen Perspektive. […] 3. Verhalten während seiner Reisen nach Westdeutschland und anderen kapitalistischen Ländern. […] 5. Politische Einstellung. Wie kommt diese Einstellung in seinem persönlichen Auftreten und seiner Tätigkeit zum Ausdruck?«388 Stillers Karriereflug, längst gebremst und angefochten, endete spät: Die BV Potsdam meldete dem Leiter der HA XVIII/5, Johannes Neuß, am 6. Juni 1989, dass sich der Zustand Stillers »permanent verschlechtert« habe. Es gebe in seinem Umkreis bereits »erhebliche Diskussionen«, die bis ins Ausland ausstrahlten.389 Fallgruppe 10: OibE, der Fall Horst Fischer 390 Horst Fischers Art zu berichten war anders als jene Stillers, sie war kleinlich, penibel, den Blick auf das Wesen eines Menschen hatte er nicht. Er besaß hingegen eine Lust an der Beobachtung an sich; ein Beispiel: Paul Görlich (siehe oben), einer der profiliertesten Wissenschaftler der DDR, »geht zum Konferenzsaal und versucht, um 9.25 Uhr zu telefonieren, findet kein Telefon und geht zurück zum Pförtner. Ich gehe ihm bei seiner Rückkehr zufällig entgegen. 9.27 Uhr: wir begrüßen uns, mit der Bemerkung, ›meine Gattin kennen Sie ja auch‹. 9.28  Uhr: beide in der 386  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 18.7.1966: Bericht zum Treffen mit »Martin« am 15.7.1966; ebd., Bl. 57 f. 387  Vgl. BV Potsdam, Abt.  XVIII/4, vom 1.11.1966: Bericht zum Treffen mit »Martin« am 21.10.1966; ebd., Bl. 61–63, hier 62. 388  HA XVIII/5/3 vom 17.7.1967: Einsatz von »Martin«; Forderung von Oberst Mittig; ebd., Bl. 71. 389  BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 6.6.1989: Information; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 15066, Bl. 59. Fundierte Erkenntnisse hierzu in: BV Potsdam, Abt. XVIII, vom 18.5.1989: Information; ebd., Bl. 60–63. 390  (1931). Studierte 1952/53 an der WPU Rostock Flugzeugbau und 1953–1958 an der Universität Leningrad Physik. 1964–1970 am PTI resp. Zentralinstitut für Elektronenphysik. 1970–1989 Leiter der Kontrollgruppe im MWT. IM 1965–1970. 1969 Mitglied der SED-Kreisleitung der DAW. Fischer wurde am 22.3.1983 zum Dr. sc. nat. »aufgrund seiner hervorragenden wissenschaftlichen Befähigung auf dem Gebiet der Kosmostechnik« habilitiert. Vorsitzender der Prüfungskommission war Heinz Stiller. BStU, MfS, KuSch, Nr. 5398/90, 1 Bd.

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Telefonkabine unmittelbar am Imbissstand, die ich gut beobachten konnte. […] Er stand am Kabinenfenster und beobachtete die äußeren Vorgänge und verdeckte somit die gesamte Innensicht. Gegen 9.35 Uhr geht er zum Hörer und telefoniert. Sie steht daneben. Die gesamte beleuchtete Kabine ist sichtbar. 9.40  Uhr: Ende des Telefongespräches. […] 9.48  Uhr: Sie geht wieder telefonieren und ruft ihn 9.50 Uhr in die Kabine. 9.55 Uhr: Ende des Gespräches. Ich begebe mich nach oben in den Saal, Görlich und Gattin folgen mir. 9.57 Uhr erreichen mich beide am Saaleingang […] 10.00 Uhr: Er geht zur Dolmetscherkabine. 10.05 Uhr begrüßt er Kortum, und verbringt die Wartezeit auf seinem Platz. 10.10 Uhr Eröffnung durch Trumbold. 10.23  Uhr Beginn des Vortrages von Görlich. 11.00  Uhr Ende des Vortrages […]. 11.13 Uhr sowjetischen Wodka und Limonade. 11.20 Uhr nächster Vortrag von Görlich, sprach mit niemandem und nahm wieder seinen alten Platz ein. 12.00 Uhr Ende des Vortrages. […] 12.05 Uhr ein Herr nähert sich und bittet um eine Unterredung.«391 Es war oft banal: »Ich lief [X] bis zum Hoteleingang nach, gleich zur Toilette, die sich kurz vor dem Hoteleingang befand. Nachdem ich also bereits auf der Toilette war und dann schon meinen Platz eingenommen hatte im oberen Geschoß zum Mittagessen, kam dann auch Professor Görlich in das obere Geschoß, um zu Mittag zu speisen. Kurz vor der Abfahrt wollte Professor Görlich das Gespräch fortsetzen und wollte mir ein weiteres Beispiel über das Verhalten von Professor Rompe berichten.« Zu Beginn der Westreise hatte Görlich geklagt, dass Rompe »ihm überall Schwierigkeiten bereite«, er »müsse alle Arbeiten, die er begonnen habe, wieder von vorne anfangen«.392 Horst Fischer hatte bereits 1962 Kontakt zum MfS. Zu dieser Zeit war er Referent für Physik im Wissenschaftlichen Sekretariat (WS) der Forschungsgemeinschaft.393 Es existiert diesbezüglich ein Bericht der HA III/6/T vom 7. November, der Angaben Fischers zu Themen der Halbleitertechnik in der DDR machte; so zu Arbeiten im PTI, zum HHI, zum Institut für Reinststoffe, zum Institut für Gerätebau, zur Arbeitsstelle für Tieftemperaturphysik, zum Institut für Halbleitertechnik Teltow und zur AME Werner Hartmanns. Auch berichtete er zum geophysikalischen Sektor, speziell zum Geodätischen Institut: »Am 13. November wird Gen[osse] Fischer diese Fragen mit dem Dr. Stiller und Rotter beraten, um die Politik betreffs dieses Instituts festzulegen.«394 Zu dieser Zeit kam es auch zu einem intensiven Kontakt mit Hans Wittbrodt (siehe oben vielfach). Noch früher, 1960, berichtete Fischer dem MfS Details von Planungen und Vorgängen bezüglich der Investvorhaben hinsichtlich des Aufbaus eines Institutes für Radioastronomie.395 Fischer berichtete 391  Abschrift vom 27.7.1967 eines Beobachtungsberichtes von »Jansen«; BStU, MfS, AIM 3459/70, Teil II, Bd. 1, Bl. 148–151, hier 148 f. 392  HA XVIII/5/2 vom 26.10.1965: Bericht zum Treffen mit »Jansen« am 22.10.1965 und Tonbandabschrift vom 28.10.1965; ebd., Bl. 6 u. 7–10, hier 7 f. 393  Vgl. HA III/6/T vom 7.8.1962: Unterredung mit Fischer; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 12 f. 394  HA III/6/T vom 7.11.1962: Unterredung mit Fischer; ebd., Bl. 9 f. 395  Vgl. HA VI/4 vom 24.9.1960: Unterredung mit Fischer; ebd., Bl. 18–21, hier 18.

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bereits zu dieser Zeit sehr detailliert, sodass dies vermutlich der Grund war, ihn für die inoffizielle Arbeit zu gewinnen. Der Vorschlag, ihn als IM zu werben, wurde am 17. August 1965 zu Papier gebracht. Als Verantwortlicher für den Gerätesektor der DAW kam er nicht nur zu vielen erst- und zweitrangigen Kontakten in der DAW, er erhielt auch mit dieser Thematik einen originären Einblick in eines der problematischsten (Mangel-)Felder der Akademie. Zudem, so das MfS, habe Fischer »gute Möglichkeiten«, den »Hauptbeschuldigten« Görlich aufzuklären.396 Die Verpflichtung zum IM mit dem Decknamen »Jansen« erfolgte am 19. August 1965.397 Eine Einschätzung des MfS vom 16. August 1965 zeigt Fischer, wie er weitestgehend übereinstimmend von seinen Zeitgenossen auch gesehen worden ist: nämlich außerordentlich »stark« auf Rompe fokussiert, »den er überaus« schätzte und auch in allem unterstützte. Und weiter: »Er ist in der wissenschaftlich-organisatorischen Arbeit ein aktiver Typ, dem es nicht liegt, nur Weisungen durchzuführen; er ist im Gegenteil bestrebt gewesen, die Linie im Bereich Physik der Forschungsgemeinschaft aktiv mit zu beeinflussen. Dabei neigt er zu einem managerhaften Arbeitsstil und taktiert stark, um evtl. Gegenspieler kaltzustellen. Diese Arbeitsweise hatte auch Einfluss auf die Parteiorganisation im Wissenschaftlichen Sekretariat […], deren Leitungsmitglied und zeitweise 1. Sekretär Gen[osse] Fischer war. Mit einigen Vertrauten, zu denen insbesondere [Y] gehörte, bestimmte er die Linie in der Parteiarbeit.«398 Promoviert wurde Fischer am 11. Januar 1968 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität.399 Er war kein Wissenschaftlertyp. Ihn zu verstehen und richtig einzuordnen, bedarf des Blickes in seine frühe Berufszeit. Fachlich völlig unbekannt, kannte er bald jeden. Wer lancierte ihn so früh? Unabhängig von seinem Status als Mitarbeiter des Rompe-Instituts schloss – vertreten durch »den Ständigen Stellvertreter des Vorsitzenden« – die Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute mit ihm am 31. März 1964 einen Vertrag, der in den Fachbereichen Physik »die Aufgaben eines Wissenschaftlichen Mitarbeiters des Büros der Fachbereiche« beinhaltete. Die Aufgaben waren im Kern Manageraufgaben hinsichtlich der »Entwicklung wissenschaftlicher Geräte und Messtechnik«, Aufgaben, die eine hohe Kommunikations- und Reisedichte erforderlich machten.400 Man kann vermuten, dass dies auf Rompe zurückgegangen sein dürfte. Oder einen sowjetischen Hintergrund? Beiden gemeinsam war ein asketisches Aussehen, beide hatten sowjetische Ehefrauen, beide waren Managertypen. Die Tätigkeit in Rompes Institut hatte er erst am 1. April 1964 aufgenommen.401 Eine Karriere, die Fragen aufwirft.

396  HA XVIII/5/2 vom 17.8.1965: Vorschlag zur Werbung eines IM; ebd., Bl. 37–41, hier 37. 397  Vgl. Verpflichtungserklärung vom 19.8.1965; ebd., Bl. 43. 398  HA XVIII/5/2 vom 16.8.1965: Einschätzung zu Fischer; ebd., Bl. 44. 399  Vgl. EMAU Greifswald vom 22.1.1968; ebd., Bl. 77. 400  Vertrag zwischen der Forschungsgemeinschaft und Fischer vom 31.3.1964; ebd., Bl. 78–80. 401 Vgl. WS der Forschungsgemeinschaft, Kaderabt., vom 31.3.1964: Aufhebungsvertrag; ebd., Bl. 93.

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Aus einer handschriftlichen Aufstellung zu Verwandten und Bekannten fallen völlig unterschiedliche Charaktere, ja »Typen« auf: Heinz Bethge (Halle) dienstlich und privat; Hans-Joachim Fischer (Rahnsdorf) – und selbst der geheimnisvolle Paul Wucht* (Kap. 5.1, MfS-Spezial I), beide hätten fachlich gemeinsame Auf‌fassungen, seien sich privat nähergekommen.402 Besaß Wucht* von daher seine Unantastbarkeit? Fischers Verbindungen zu bürgerlichen Topwissenschaftlern waren auch in der Breite erstaunlich zahlreich, u. a.: Rompe, Frühauf, Bernhardt, Mollwo, Leibnitz, Treder, Peschel, Lucke, Faulstich, Bethge und Görlich.403 Der Vorschlag, ihn »als Kader zur personellen Ergänzung« für das MfS zu führen, stammt vom 28. Januar 1969. Damit konnte er im Bedarfsfalle als Hauptsachbearbeiter in der HA  XVIII/5 eingestellt werden.404 Einen Tag zuvor fand das Abschlusstreffen mit ihm als GI »Jansen« statt. Ihm wurde mitgeteilt, dass er am 2. Februar »zur Anmeldung des MfS kommen« müsse. Das war der Tag seiner Einstellung in das MfS.405 Am 20. Februar wurde der aus einem GI-Vorgang entwickelte IMV-Vorgang »Jansen« eingestellt. Die Einstellung in das MfS erfolgte zum 1. Februar.406 Die formalen Angelegenheiten erledigte sein letzter Führungsoffizier. 1974 wurde er zum Hauptmann befördert. In der hierfür notwendigen Beurteilung heißt es, dass Fischer sich »besondere Verdienste« bei der »Absicherung der zweiseitigen wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit [sogenannte ZZ-Arbeit] zwischen der UdSSR und DDR, vor allem auf dem Gebiet Interkosmos« erworben habe.407 Fortan sah man ihn oft in der Nähe von Herbert Weiz oder mit hohen Aufgaben des MWT befasst. So war er Teilnehmer einer Wissenschaftler-Delegation unter Leitung Max Steenbecks nach Moskau vom 31. März bis 9. April 1975. Hier ging es vor allem darum, Vorstellungen zu konkreten Kooperationsmöglichkeiten auf »wissenschaftlich und wirtschaftlich besonders wichtigen Gebieten« zu kreieren. Zur Delegation zählten u. a. Claus Grote als Generalsekretär der AdW sowie Eberhard Leibnitz und Fritz Lange. Er selbst fungierte als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Weiz. Eingeladen hatte der Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR und Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Wissenschaft und Technik beim Ministerrat der UdSSR, Wladimir A. Kirillin. Auf dem Besuchsprogramm standen das Institut für hohe Temperaturen der AdW der UdSSR, das 402  Vgl. Handschriftliche Liste zu Verwandten und Bekannten (o. D.); ebd., Bl. 98–105. 403  Vgl. HA XVIII/5/2 vom 15.11.1965: Bericht zum Treffen mit »Jansen« am 12.11.1965; ebd., Teil II, Bd. 1, Bl. 11 f. 404 HA XVIII/5 vom 28.1.1969: Kader zur personellen Ergänzung; ebd., Teil  I, 1  Bd., Bl. 109–113. 405 HA XVIII/5/2 vom 3.2.1970: Vermerk zum Treffen mit »Jansen« am 27.1.1970; ebd., Teil II, Bd. 1, Bl. 234. 406  Vgl. HA XVIII/5/2 vom 20.2.1970: Beschluss zum Einstellen eines IM-Vorganges; ebd., Teil I, 1 Bd., Bl. 144 f. 407  HA XVIII/5 vom 4.11.1974: Vorschlag zur Beförderung; BStU, MfS, KuSch, Nr. 5398/90, 1 Bd, Bl. 95.

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Kurtschatow-Institut für Atomenergie des Staatlichen Komitees für die Nutzung der Atomenergie der UdSSR und das Institut für physikalische Probleme der AdW der UdSSR.408 Zu diesem Zeitpunkt zählte Fischer sozusagen zum personalen Inventar der Wissenschaftspolitik der DDR. Wo er aufkreuzte wurde auf hoher Ebene verhandelt, über Geheimprojekte gesprochen oder an Topthemen wie Interkosmos gearbeitet. Stereotyp hieß es in den MfS-Protokollen, hier zu militärischen Arbeiten im Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie (ZOS) der AdW: »Alle Aktivitäten des ZOS mit der SU werden über den Gen[ossen] Horst Fischer koordiniert.«409 Es war im Zusammenhang mit der Ernennung zum OibE von Anfang an geplant, ihn im Rahmen des »Aufbaus und der Entwicklung der Zentren [der] wissenschaftlich-technischen Großforschung« einzusetzen. Hier sollte er maßgeblich helfen, die »Kontroll- und Inspektionsarbeit zur Durchsetzung von Sicherheit und Ordnung in den Großforschungszentren der DDR bei koordinierter Zusammenarbeit mit dem System der Sicherheitsbeauftragten auf Linie« zu entwickeln. Sein Arbeitsrechtsverhältnis wurde entsprechend mit dem Büro des Ministerrates abgeschlossen. Das MfS musste daher nicht für die »Besoldung« aufkommen. Sein Einsatz erfolgte »in Abstimmung« mit Weiz.410 Unmittelbar vor seiner Einstellung war Fischer im ZI für Elektronenphysik unter Rompe beschäftigt. Der beurteilte bei dessen Abschied nicht seine fachlichen Qualitäten, sondern parteipolitische Aspekte.411 Spätestens 1977 wurde dem MfS klar, dass Fischer Eigeninteressen verfolgte. War er möglicherweise ein KGB-Mann? Die HA XVIII/5 notierte am 2. November, dass Fischers Engagement »zeitweise so weit« führte, »dass er Aktivitäten entwickelt, die über seine Kompetenzen hinausgehen und die Leitungstätigkeit der verantwortlichen Kräfte im staatlichen oder wissenschaftlichen Bereich beeinträchtigen«.412 Das zeigte sich insbesondere auf dem Gebiet der Interkosmos-Steuerung ab Mitte der 1970er-Jahre. Es war oft so, als bestimme er die Handlungsoptionen. Er verstand es, seinen Stand auf diesem Gebiet bis in die 1980er-Jahre zu halten. Noch 1984 heißt es im MfS, dass Fischer sich »besondere Verdienste […] um die erfolgreiche Interkosmos-Arbeit in der DDR erworben« habe.413

408 Ergänzungsschreiben zu Expertenberichten anlässlich einer Wissenschaftler-Delegation unter Leitung Max Steenbecks nach Moskau vom 31.–9.4.1975; ArchBBAW, Nachlass Steenbeck, Nr. 365, 1 S. 409  HA XVIII/5 vom 25.3.1987: Bericht zum Treffen mit »Fritz«; BStU, MfS, AIM 16981/89, Teil II, Bd. 3, Bl. 68–70, hier 70. 410  HA XVIII/5 vom 12.1.1970: Einsatzvorschlag; BStU, MfS, KS 5398/90, 1 Bd., Bl. 52 f., hier 53. 411  Vgl. ZI für Elektronenphysik, Rompe, vom 11.11.1969: Beurteilung; ebd., Bl. 84 f. 412  HA XVIII/5 vom 2.11.1977: Beurteilung; ebd., Bl. 101 f., hier 101. 413  HA XVIII/5 vom 17.9.1984: Beurteilung; ebd., Bl. 108 f.

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Fallgruppe 11: Grenzfälle, Laitko414 Hubert Laitko, geboren 1935 in Spremberg und bis heute immer noch publizierend, ist nicht nur als Historiograf der Wissenschaftspolitik und -geschichte der DDR von Interesse, sondern auch in einem ganz spezifischen Sinne, nämlich in seiner Rolle als IM »Marquardt«. Laitko wurde am 17. Mai 1978 von der HA XVIII/5 geworben. Seine Einsatzrichtung war nahezu komplett nach dem Westen hin ausgerichtet. Hier war sein »Forschungsobjekt« insbesondere das Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IGW) Erlangen, samt seinen Wissenschaftsforen. Generell berichtete er über vielfältige Wissenschaftsbelange im Westen, insbesondere der Bundesrepublik, so über das Europäische Forum der Wissenschaftler 1980 in Hamburg. Seine Berichterstattung ist frei von jenen Spitzel-Hässlichkeiten, die in dieser Untersuchung zur Sprache kommen. Von 1953 bis 1955 studierte Laitko an der Karl-Marx-Universität Leipzig, es schlossen sich zwei Jahre mit journalistischen Aufgaben, eine Art Volontariat an; anschließend studierte er bis 1959 an derselben Universität weiter. Der Grund für die Unterbrechung lag in seinem Fakultätswechsel von der Journalistik zur Philosophie. Anschließend erntete er den Lohn eines überaus fleißigen, talentierten Absolventen: Aspirant, Assistent, dann Oberassistent von 1960 bis 1969 für marxistisch-leninistische Philosophie an der HU Berlin. Ab 1967 leitete er dort die Fachgruppe Erkenntnistheorie. 1969 begann seine eigentliche Karriere am Institut für Theorie, Organisation und Geschichte der Wissenschaft (ITW) der AdW im Bereich der Wissenschaftsgeschichte. Ab Januar 1973 leitete er die gleichnamige Abteilung.415 Der IM-Vorgang zu Laitko wurde von Offizier Peter Schnabl von der HA XVIII/5/ OG am 18. Mai 1978 angelegt.416 Seine Akte ist frisiert worden. Wann das geschah und warum, kann kaum geklärt werden. Die diesbezüglichen Fakten: Der Auskunftsbericht, angelegt am 7. Mai 1985, enthält nicht den Klarnamen, jedoch seine Personenkennzahl (PKZ), die ebenso wie seine Wohnadressen, ausradiert worden ist. Nicht ausradiert wurden seine sämtlichen Tätigkeiten, chronologisch geordnet.417 Das Formblatt »Beschluss über das Anlegen eines IM-Vorganges« wurde am 4. Mai 1981 neu ausgefüllt. Der erste Beschluss datierte vom 18. Mai 1978 auf einem analogen Formblatt, es enthält keine Spalten für die echten Personendaten. Im Beschlussvorgang vom 4. Mai 1981 ist in der Rubrik »Index über Personen« eine Person maschinenschriftlich eingetragen worden: Name, Vorname und PKZ. Dieser Eintrag ist ausradiert worden. Die Radierung erfolgte recht oberflächlich, unprofes414  Hubert Laitko schrieb dem Verfasser am 31.1.2019: »Nach gründlicher Kenntnisnahme der auf meine Person bezogenen Passagen bestätige ich die sachliche und historische Korrektheit der Darstellung, so weit ich sie zu beurteilen vermag. – H. Laitko«. 415  Vgl. HA XVIII/5 vom 7.5.1985: Auskunftsbericht; BStU, MfS, AIM  25686/91, Teil  I, Bd. 1, Bl. 13–17; Schreiben von Kröber an Laitko vom 10.1.1973; ebd., Teil II, Bd. 1, Beifügung Bd. 2, Bl. 33. 416  Vgl. HA XVIII/5 vom 18.5.1985: Beschluss; ebd., Teil I, Bd. 1, Bl. 7. 417  Vgl. HA XVIII/5 vom 7.5.1985: Auskunftsbericht; ebd., Bl. 13–17.

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sionell. Erkennbar blieb u. a. der erste Buchstabe, das L des Namens. Alle anderen Buchstaben passen räumlich genau auf seinen Namen, auch die erkennbaren Reste. Ebenso passen die Reste der PKZ auf seine: 0-(vermutl. 3)-0-4-hinreichend genau lesbar das Ziffernpaar 35.418 Es ist zweifelsfrei sein Geburtsdatum: 03.04.1935. Der Bericht über die Werbung stammt vom 19. Mai 1978.419 Der Vorschlag zur Werbung erfolgte am 26. Oktober 1977.420 Die Verpflichtungserklärung vom 17. Mai 1978 liegt mit herausgeschnittenem Namen und herausgeschnittener Unterschrift vor.421 Laitko arbeitete bereits vor seiner IM-Tätigkeit für die HA XVIII/5 als Kontaktperson (KP) »Hubert Laitko« mit der HV A zusammen.422 Bis zum 2. Juni 1978 existierte zu ihm eine Doppelregistrierung. Die HV A-Registrierung wurde zugunsten der HA XVIII/5 gelöscht, allerdings mit folgender Regelung: »Ihre Diensteinheit [die HA XVIII/5 – d. Verf.] ist einverstanden und unterstützt den von uns geplanten Einsatz von Professor Hubert L. als Reisekader in das nichtsozialistische Ausland. Bei diesen Einsätzen tritt das MfS dem Reisekader gegenüber nicht in Erscheinung. Die Einsätze erfolgen unter einem wissenschaftlichen Dach. Bei der Unterstützung der Reisetätigkeit durch Ihre Diensteinheit ist dieser Umstand besonders zu beachten.« Diese Regelung erfolgte nach mehreren Gesprächen beider Seiten, das letzte fand am 1. Juni 1978 statt.423 Es kann nicht gesagt werden, ob diese Einsätze sich mit jenen, die von der HA XVIII/5 geleitet wurden, deckten, und wenn ja, inwiefern und zu welchen Anteilen. Tatsache ist lediglich, dass es wenige Monate später, am 15. November 1978, zu einer Vereinbarung gekommen war, die zumindest die Überreichung von operativen Materialien zu IM-Einsätzen vorsah.424 Empirisch gesehen, mit Blick auf die zahlreich tradierten IM-Berichte, kann es keinen Zweifel an der Urheberschaft geben. Laitko tätigte diese Reisen, er sprach mit den Personen, von ihm stammten das Wissen und die Diktion seines Denkens und Schreibens. Er berichtete zumindest bis in den Revolutionsherbst 1989 hinein.425 Er nahm an Werkstattgesprächen und Tagungen des IGW statt, es gab rege Verbindungen und intensive Berichterstattungen zu Mitarbeitern des IGW. Dinge und Sachverhalte, die nur er berichten konnte. Im August 1989 lieferte er einen Bericht über seine Teilnahme am XVIII.  Internationalen Kongress für Wissenschafts418  Vgl. HA XVIII/5/OG vom 4.5.1981: Beschluss über das Anlegen eines IM-Vorganges; ebd., Bl. 9. 419  Vgl. HA XVIII/5/OG vom 19.5.1978: Werbung; ebd., Teil  II, Bd. 1, Beifügung Bd. 2, Bl. 8–11. 420  Vgl. HA XVIII/5/4 vom 26.10.1977: Vorschlag zur Werbung; ebd., Bl. 150–157. 421 Vgl. Handschriftliche Verpflichtungserklärung vom 17.5.1978; ebd., Beifügung Bd. 3, Bl. 144. 422  Vgl. HA XVIII/5/4 vom 23.10.1975: Treff bericht; ebd., Beifügung Bd. 2, Bl. 2. 423  HV A, Arbeitsgruppe K, vom 2.6.1978: Schreiben an den Leiter der HA XVIII/5; ebd., Bl. 102. 424  Vgl. HV A, Arbeitsgruppe K, vom 23.7.1980: Schreiben an den Leiter der HA XVIII/5; ebd., Bl. 242. 425  Vgl. HA XVIII/5 vom 5.10.1989: Bericht zu innenpolitischen Problemen; ebd., Beifügung Bd. 4, Bl. 33–35.

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geschichte zur Thematik »Wissenschaft und Staat« in Hamburg und München. Ein Auszug: »Eine etwas traurig stimmende Feststellung […] Die früher übliche elementare Kameradschaft unter den Vertretern der sozialistischen Länder, die sich auf derartigen Kongressen immer zeigte […] hat sich praktisch aufgelöst. […] Von sowjetischer Seite gab es keine Versuche, dieses frühere Verhältnis zu erneuern. Die sowjetischen Teilnehmer haben dort distanziert ihr eigenes Programm verfolgt.«426 An den Erlanger Werkstattgesprächen nahm Laitko regelmäßig – aktiv – teil.427 Zu den Aufträgen des MfS betreffs des IGW existiert beispielsweise die Einsatzkonzeption vom 27. März 1984.428 Das IGW beschäftigte sich in den 1980er-Jahren mit dem Projektthema »Die Entwicklung der Wissenschaften in der SBZ / DDR seit 1945«. Das Thema kam auf dem X. Erlanger Werkstattgespräch vom 5. bis 8. November 1981 auf die Tagesordnung.429 Methodisch wollten die Erlanger »den noch unzureichend ausgereiften Ansatz der allgemeinen Problemtheorie durch die Einarbeitung handlungs- und interaktionstheoretischer Erkenntnisse und Gesichtspunkte für die Analyse der Wissenschaftsentwicklung und -steuerung fruchtbar« machen. Im Text heißt u. a: »Eine wesentliche Prämisse des problemtheoretischen Konzepts ist die Annahme von der kognitiven und sozialen Interdependenz zwischen Wissenschaft, Politik und problembetroffenen gesellschaftlichen Handlungsbereichen im arbeitsteiligen Lösungshandeln. In den Spannungen und Diskrepanzen dieses Interdependenzgefüges sehen wir die Auslöser für den Funktionswandel der Wissenschaften, der von der zeitgeschichtlichen Wissenschaftsforschung zu analysieren ist.«430 Laitko wies das MfS darauf hin, dass es vonnöten sei, geeignete Mitarbeiter für die Arbeitsgespräche – da das IGW sicherlich nach solchen in der DDR Ausschau halten werde – sorgfältig auszusuchen, damit die »Interessen der DDR« entsprechend gewahrt würden. Man habe darauf zu achten, dass versucht werde, »die Wissenschaftsentwicklung in der DDR in diesem Projekt aus bürgerlicher Sicht« darzustellen. Laitko schlug hierfür seinen Institutsdirektor Günter Kröber und Herbert Hörz vom Zentralinstitut für Philosophie für je ein Thema sowie für weitere zwei Themenbereiche sich selbst vor.431 426  HA XVIII/5 vom 21.8.1989: Auszug aus dem Bericht von »Marquardt« vom 11.8.1989; ebd., Bl. 71 f. 427  Burrichters »Grundlegung der Historischen Wissenschaftsforschung«, erschienen 1979, basiert auf Vorträgen und Diskussionen des VI. Erlanger Werkstattgesprächs, an dem auch Laitko teilgenommen hatte und dessen Vortrag somit in diesem Band Aufnahme fand. Das war für DDR-Wissenschaftler der geisteswissenschaftlichen Provenienz eher unüblich; vgl. Burrichter, Clemens (Hrsg.): Grundlegung der Historischen Wissenschaftsforschung. Basel, Stuttgart 1979. 428  Vgl. HA XVIII/5/4 vom 27.3.1984: Einsatz- und Entwicklungskonzeption für den Reisekader-IM »Marquardt«; BStU, MfS, AIM 25686/91, Teil II, Bd. 1, Beifügung Bd. 2, Bl. 5–7. 429  Vgl. Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IGW) an der Universität Erlangen-Nürnberg an das Institut für Theorie, Organisation und Geschichte der AdW (ITW) vom 16.9.1981; ebd., Beifügung Bd. 1, Bl. 54. 430  IGW, September 1981: Diskussionspapier; ebd., Bl. 55–57, hier 55 f. 431  HA XVIII/5/OG vom 16.6.1981: Bericht von »Marquardt« am 16.6.1981; ebd., Beifügung Bd. 3, Bl. 73.

6  Geschichte und Aktualität: ein Schlusswort Alle vier Gebiete der Untersuchung, die Raumforschung in Berlin und Potsdam sowie die Mikroelektronik-Technologie, Kerntechnik und Flugzeugindustrie, alle in Dresden, zeigen Szenarien, die nicht nur temporär, sondern durchgängig von erheblichen Meinungsverschiedenheiten über den jeweils einzuschlagenden Weg geprägt waren. Zur einvernehmlichen Lösung zwischen den Akteuren der Institutionen und den Vertretern der Staatsmacht resp. den Parteifunktionären kam es in allen vier Fällen nicht. Kontroversen, die zu Brüchen und Abbrüchen, zu Umstrukturierungen und Spaltungen sowie zu Fluchten, Hausverboten und Amtsenthebungen führten. Alle Geschehnisse waren Ausdruck hoher Politik, es waren zentrale und nicht periphere Belange. Die Entscheidungen wurden von den jeweils höchsten Stellen direkt unter Walter Ulbricht resp. Erich Honecker getroffen, ob pro oder contra: Günter Mittag und Erich Mielke, Fritz Selbmann und Rudi Mittig, Herbert Weiz und Alfred Kleine. Und diese Entscheidungen trafen auf jene, die die erste Reihe in Wissenschaft und Technik darstellten: Werner Hartmann, Ernst August Lauter, Heinz Barwich und Brunolf Baade. Und zwischen diesen beiden Lagern agierte die Spezies der ersten Wissenschafts-Manager des Landes: Erich Apel, Max Steenbeck und Robert Rompe. Ihrer aller Geschichte ist der Stoff dieser Untersuchung. Die Eigenentwicklungen der Kerntechnik und Flugzeugindustrie endeten jäh. Der strategische Wechsel in der Entwicklung der Kerntechnik setzte 1962 ein. Von 1968 an bezog die DDR ihre Kernkraftwerke komplett von der Sowjetunion. Die Flugzeugindustrie endete bereits 1961 mit ihrer Auf‌lösung, selbst der Segelflugzeugbau wurde 1964 stillgelegt. Der letzte Rest, die Produktion von Flugzeugmotoren für die IL  14, wurde 1965 gestoppt. Die Mikroelektronik-Technologie vollzog 1974 einen Paradigmenwechsel, weg von der dominierenden Eigenentwicklung hin zum massiven illegalen Technologietransfer. Die Raumforschung – Inbegriff der Geodäsie, Meteorologie, Atmosphären- und solar-terrestrischen Physik sowie Satellitentechnik – räumte ihren bis 1972 durchaus weltführenden Platz zugunsten von gerätetechnischen Dienstleistungen für das medienträchtige Interkosmos-Programm. Diese beiden Gebiete prosperierten nach der Vollstreckung der (verdeckten) Eingriffe, wie es nach den Verheißungen der SED hätte sein müssen, keineswegs. Im Gegenteil: einen Zusammenhang dieser vier Geschehnisse mit strategischen Fehleinschätzungen der SED und den damit verbundenen heftigen volkswirtschaftlichen Krisen räumte sie nie ein. Es ergeben sich für die vier untersuchten Gebiete in der obigen Reihenfolge, als die Brüche resp. Kehren initialisiert worden sind, folgende Jahreszahlen: 1962 – 1961 – 1972 – 1972. Die großen Krisenjahre der DDR lagen um 1960/61 und 1970/71. Alle vier Geschehnisse wurden kaschiert. Nach außen hin erfolgte Desinformation und im Innern ermittelte das MfS gegen die führenden Akteure mit dem Verdacht auf Sabotage und Spionage. Die SED brauchte Sünden-

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böcke, das MfS schuf sie. Bei keinem der Geschehen war erkennbar, dass das MfS der jeweiligen Misere hätte abhelfen können oder wollen. Den eigentlichen Gründen war es nie nachgegangen. Komplex, ganzheitlich und langfristig dachte es nicht. Im Falle der Mikroelektronik und Raumforschung war es mindestens Mitgestalter der Kehren. Allenfalls kleinere Momente in Bezug auf die Flugzeugindustrie deuten in Richtung einer Hilfestellung des Dienstes, etwa hinsichtlich einer temporären Stützung Barwichs durch Offizier Günther Jahn. Im Laufe seiner Lebenszeit wurde der Staatssicherheitsdienst zunehmend auch Chronist der Entwicklungen, da er grundsätzlich alles Mögliche erkundete, analysierte und beschrieb sowie sammelte und speicherte. Das militärisch organisierte und geführte Organ erhöhte seinen eigenen, aber mithin auch den gesamtstaatlichen Verschriftungsgrad deutlich. Dies zeigt sich eindrucksvoll im Falle der Beschaffung für die Mikroelektronik-Technologie. Gemeinsam mit dem Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) von Alexander Schalck-Golodkowski wurden für schätzungsweise mehr als zehn Milliarden DM auf zum Teil abenteuerlichsten Wegen Geräte, Aggregate und ganze Technologie-Anlagen für die Industrie beschafft. Die entsprechenden Unterlagen sind, sieht man von kaum nennenswerten Einzelüberlieferungen einmal ab, in den staatlichen Archiven nicht überliefert. Hingegen ist die Aktenlage zu diesem vielleicht weltweit einmaligen Akt des illegalen Transfers mit vielen zigtausenden von Schreiben aller Art, Reise- und Verhandlungsberichten, Logistikdarstellungen, Rechnungen und Geheimdienstberichten bis hin zu Betriebsregimen, Schemata und Zeichnungen der Aufstellungsräume der beschafften Anlagen in den betreffenden Institutionen in den Beständen des BStU überliefert. Als verstreutes, aber gut recherchierbares Riesenkonvolut wartet die konkrete Geschichte des illegalen Technologietransfers immer noch auf eine umfassende Dokumentierung des Geschehens. So hält sich bis heute trotz einiger kleinerer Studien immer noch hartnäckig die Mär von einer größtenteils eigenen Entwicklung der Mikroelektronik-Technologie. Die Geschichte einer betonten Eigenentwicklung endete jedoch mit der Entfernung Hartmanns im Jahr 1974. Der Staatssicherheitsdienst war in den Fällen Kerntechnik und Flugzeugindustrie eher Beobachter denn Teilhaber an den beiden Abbruchgeschehen. Knapp zehn Jahre später, in der Mikroelektronik-Technologie und Raumforschung, war er bereits Mitgestalter, gewissermaßen der personalpolitische Chirurg. Die Zeiten des nur »zu- und abhörenden« Begleitens und der punktuellen Eingriffe war mit dem Sturz Ulbrichts endgültig zu Ende. Als hinreichend zuverlässig erkennbare SED-Kommandogeber gegen die fachliche Macht der vom Staat eingesetzten Hauptakteure (Hartmann, Lauter und Barwich) können in der Mikroelektronik Günter Mittag und Otfried Steger, in der Raumforschung Heinz Stiller und Herbert Weiz, sowie in der Kerntechnik Karl Rambusch und Bertram Winde festgestellt werden. Bei der Flugzeugindustrie kann ein solcher Funktionär nicht erkannt werden, es hat ihn vermutlich auch nicht gegeben. Hochrangige Fürsprecher der Flugzeugindustrie, Kerntechnik, Mikroelektronik und Raumforschung waren, wenngleich temporär gewichtet, Walter Ulbricht, Horst Sindermann, Erich Apel und Günter Prey. Die

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eigentlichen Vollstrecker, die Chirurgen, im Sinne der »Faktenerarbeitung« gegen die verantwortlichen Instituts- und Betriebsleiter waren in der Mikroelektronik Hans Joachim Hanisch sowie in der Raumforschung Heinz Stiller und Wolfgang Böhme. Für die Kerntechnik und Flugzeugindustrie ist eine zielgerichtete steuernde und / oder zersetzerische Tätigkeit von Spitzen-IM des Dienstes nicht nachweisbar, aber auch nicht wahrscheinlich. Die Geschichte der DDR-Volkswirtschaft, und zu ihr zählen Wissenschaft, Forschung, Technik und Technologie, war nicht nur eine Geschichte von Abbrüchen und Brüchen, sondern ebenso eine der permanenten Aufbrüche, Umstrukturierungen, Reformen sowie Begriffs- und Namensänderungen. Die damit verbundene Fluktuation in Führungspositionen war enorm. Ein mit diesem Trend nicht übereinstimmendes Ergebnis der Untersuchung ist, dass die handelnden Personen, die die jeweilige Linie der SED verkörperten, aber auch jene Mitwirkenden des Staatssicherheitsdienstes, weitestgehend dieselben geblieben sind. Es ist nahezu verblüffend, wie sehr die die Institutionenpolitik bestimmenden SED-Funktionäre, gewissermaßen die Parteisoldaten im operativen Tagesgeschehen, den Geschehnissen gleichsam vorauseilten. Hierfür stehen beispielhaft Lotar Ziert und Werner Schauer. Für den Staatssicherheitsdienst ist hier insbesondere Oberstleutnant Professor Günther Jahn zu nennen, da er nicht nur bürokratisch, sondern vor allem auch operativ tätig wurde. Dieses Phänomen manifestiert jenen Aspekt, den Alfred Schellenberger in seinen Lebenserinnerungen mit der »Hierarchie der Unfähigen« umschreibt, entstanden aus der Auswahl »bewährter Genossen«. Die Kreativen, die des »unkonventionellen Denkens« befähigten, blieben auf der Strecke oder resignierten. Sie wurden regelrecht niedergerungen. Das Zurückgreifen der SED auf »bewährte Genossen« führte dazu, dass die unfähigen Kader »anschließend verhindern« konnten, dass ihnen überlegene Personen in Funktionen gelangten. »Diese Hierarchie der Unfähigen«, so Schellenberger, »reichte bis in die höchsten Staatsämter, sodass die dort getroffenen ›Entscheidungen‹« eben oft nicht fachgemäß ausfielen. »Am Ende der DDR-Periode war jeder verdächtig, der zu kreativem, unkonventionellem Denken befähigt war.«1 Damit geriet die DDR zwangsläufig in Agonie. Die Untersuchung hat diesen Lebensbefund eines Forschers nicht nur empirisch-analytisch verifiziert, sondern verbreitert, erhärtet und vertieft. Will man die Eingriffe des Staatssicherheitsdienstes als »rationale« Konflikt­ lösungsversuche sehen, dann sind es solche gewesen, die darauf ausgerichtet waren, die der SED nicht genehmen – bürgerlichen – Personen, denen sie zutiefst misstraute, zugunsten von SED-Genossen auszutauschen. Das ist agitatorisch, normativ und empirisch hinreichend gut tradiert. Dieses Geschehen war in der DDR, wie in der Untersuchung gezeigt, auf hoher Ebene des politischen Handelns geradezu mafiös ausgeprägt. Der Metatheorien bedarf es demzufolge nicht, um zu ergründen, woran die DDR zugrunde ging. Sicherlich nicht an der idealen Konstruktion der

1  Schellenberger: Forschung unter Verdacht, S. 12 f.

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Zentralplanwirtschaft, die es praktisch nicht geben konnte, weil nicht funktionieren kann, was dem Leben nicht abgeschaut ist. Folgende Erkenntnisse haben sich in der Untersuchung sowohl in den Haupt- als auch Nebenkapiteln durchgängig gezeigt: – die Zersplitterung der Kräfte: gleiche Aufgabenstellung an verschiedenen Orten; – massive – ideologisch verstärkte – Ressourcenkonflikte und -probleme: Stornierungen; – ein Handlungschaos: unkoordinierte, miteinander konkurrierende Entscheidungsträger; – tendenzieller Fall der Grundlagenforschung: zugunsten von Produktion und Konsumtion; – verpuffende intellektuelle Kommunikation: Machtzunahme der anonymen Entscheider; – Ausdifferenzierung des Handelns: Lösungskaschierung durch Kommissionen und Räte; – parasitäre Effekte des Geheimdienstes: enorme Kosten und Störung der Betriebsabläufe; – massive Zerstörung des Vertrauens: durch künstlich erzeugtes Misstrauen; – Sturm auf die Festung »Wissenschaft«: die Vollendung des alten Zieles. Als ein verheerendes Kapitel der Kommandowirtschaft in der DDR sieht Carl-Heinz Janson das willkürliche Eingreifen der Organe der SED. Das ist ohne Zweifel zutreffend, aber die Untersuchung zeigt auch, dass auf allen vier Gebieten zunächst ungefähre Machtgleichgewichte herrschten. Es war bis an das Ende der Regierungszeit Ulbrichts gewiss keine reine Kommandowirtschaft. In ihr gab es Spielräume und Aushandlungsprozesse, in denen sich Wissenschaftsmanager dezidiert durchzusetzen vermochten. Gleichwohl scheiterten sie in der Folge meist an den zu geringen Realisationsmöglichkeiten und an den mittleren Funktionären, jenen realitäts- und fachfremden Kräften, die nur eines zu beherrschen schienen – um es mit Berthold Brecht zu sagen: den Weg zu den Fleischtöpfen, ohne dass sie jemals selbst im Leben produktiv aufgefallen wären. Es waren Zeitgeistritter, die wussten, was Oben, im Schemenhaften, gut ankam und belohnt würde. Doch im Endeffekt trifft Jansons Urteil auch für die Ulbricht-Zeit zu, denn die Kommandos wurden ja erteilt, ob von diesen »kleinen«, oft »widerlichen« Leuten (so Lauter), den 1. Sekretären der Bezirksleitungen der SED oder ob von Günter Mittag, Erich Honecker oder Erich Mielke. Was von dieser Seite zu den Aushandlungskämpfen führte, war eher die Folge eines fernen Kommandos, als etwa der Wille zum Finden des einzig gangbaren Weges zum Erfolg. Idealisten wie Max Steenbeck, die beständig die Quadratur des Kreises, besser: der beiden Seiten versuchten, konnten nur scheitern. Selbst in reinen Sachfragen, der Grundlagenforschung zum Beispiel. Die Förderung der Grundlagenforschung ist ein hohes Gut. Ihre Eindämmung verhindert automatisch Erfindungen und damit Innovationen. Grundlagenforschung hat originär mit Großzügigkeit zu tun. In Zeiten knapper Kassen ist sie stets

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erstes Opfer. Die Periode der großen Innovationszeit des Siemenskonzerns, als zu ihm nicht wenige Wissenschaftler dieser Untersuchung wie Hartmann und Barwich zählten, ging nach der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders rasch zu Ende. Der Konzern übte sich bald mehr in der Funktion einer Bank als in seiner alten Rolle. Dies wurde weiland politisch gefeiert. Die Weltführerschaft ging verloren. Erst seit Ende der 1990er-Jahre versucht Siemens eine Rückbesinnung, investierte über 800 Millionen Euro in sogenannte Start-ups, in kleinen Gründungseinheiten mit überdurchschnittlich viel Freiheit in der Festlegung von Themen der Grundlagenund angewandten Forschung und Entwicklung. In neuerer Zeit stimmen die Zahlen wieder optimistisch. So sollten bis Ende Herbst 2016 circa »4,8 Milliarden Euro für Innovationen ausgegeben werden, rund 300 Millionen Euro mehr als zuletzt«.2 Man hatte leidvoll erfahren müssen, was es bedeutet, Kreativität, Großzügigkeit und Freiheit in der Forschung eingeengt zu haben. Und man lernte daraus. Dass Staaten vor allem an Ideologie zugrunde gehen, dafür steht das Lehrbeispiel »DDR«. Eines der wesentlichen Aspekte hierin betrifft die Forschungsfreiheit. Zu ihr zählt die faktische Selbstbestimmung in fachlichen Angelegenheiten, und zwar ohne Kommissionen und Aufsichtsräte. Voraussetzungen sind unabdingbar die Bildung und die Existenz unverbürokratisierter Forschungsräume. Der echte, beseelte Forscher verträgt keine Hineinrede und kein Apportiergehabe. Er benötigt großzügige Bewegungsfreiheiten und Bedingungen der Kommunikation. Er will in Ruhe gelassen werden, man soll sie, wie es einmal Erich Apel sagte, nicht mit dem ganzen sonstigen Pipapo belästigen. Und dem jungen Forscher muss, wenn er sich in der Fachwelt einen Namen zu schaffen anschickt, umgehend Macht für eine, besser: seine Forschungslinie gegeben werden. Er bedarf keiner Oberaufsicht, die ihr parasitäres Dasein mit Verwaltungshandeln legitimiert. Wie das einmal funktionierte, lehrt die Betriebs- und Konzerngeschichte von Siemens, AEG und anderen großen Institutionen. Und genau dieses, das auch sozial Erlernte, vermochten die bürgerlichen Wissenschaftler in der DDR weder abzulegen noch weiterzuführen. Hier erklärt sich auch deren heute geradezu frech anmutende Ablehnung der SED (und des MfS) im eigenen Betrieb. Ob Kurt Mothes oder Erich Thilo, Werner Hartmann oder Heinz Barwich, SED-Funktionären verging bei ihnen das Lachen. Mithin sind beinahe zahllos jene Beispiele in der Untersuchung, die in der kategorial angelegten Widerstandsforschung große Schwierigkeiten bei der Einordnung bereiten unter der Thematik: das widerständige Verhalten bürgerlicher Wissenschaftler vor allem in Sach- und Personalfragen. Die Untersuchung dürfte für die Fortführung der alten Debatte »Was ist politischer Widerstand?«, reichlich Anregung und Diskussionsstoff bieten.3 Aus Geschichte muss gelernt werden können. 2  Peitsmeier, Henning: Siemens beschwört den Erfindergeist, in: FAZ vom 9.12.2015, S. 22. 3  Hinzuweisen ist hier auf Halbrocks empirisch vertiefte Diskussion in Anschluss an Detlev Peukerts Diktum, wonach es äußerst schwierig ist, sichere Grenzlinien zu finden. Vgl. Halbrock, Christian: »Freiheit heißt, die Angst verlieren«. Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock. Göttingen 2015, S. 163–165.

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Von einem wünschenswerten – auch unter den modernen Bedingungen notwendigen – Zustand ist unsere heutige europäische Forschungssituation weit entfernt, und dies nicht nur auf dem Gebiet der physikalisch-technischen Wissenschaften. Der Biochemiker und ehemals Vorsitzende des Schweizer Technologie- und Wissenschaftsrats Gottfried Schatz kritisiert grundsätzlich die Wissenschaftspolitik Westeuropas, wobei seine zentralen Feststellungen haargenau ex post auch auf die DDR zutreffen und in der Untersuchung expressis verbis thematisiert sind. Seine Frage, warum »sich so viele unserer Forschertalente nicht voll entfalten« können, sieht er ganzheitlich, nämlich in den Prinzipien und Praktiken der bürokratischen Vernetzung, der Forschungsförderung, ihrer Bewertung sowie in der forschungspolitischen Sprach- und Begriffsbildung. Vor allem drei Punkte wolle man heute nicht anerkennen. »Erstens: Grundlagenforschung ist inhärent elitär. Zweitens: Fundamentale wissenschaftliche Entdeckungen verdanken wir fast stets einzelnen Talenten. Drittens: Diese Talente entfalten sich am besten, wenn sie ihre Forschung selbst bestimmen können.« Schatz stellt insbesondere bei den forschungspolitischen und politischen Entscheidungsträgern einen erheblichen »Mangel an politischem Mut« fest. Wissenschaftsadministratoren würden Entscheidungen über Grundlagenforschung treffen, ohne jemals selbst Grundlagenforschung ausgeübt zu haben. »Sie übersehen, dass gerade die besten Forscher sich nicht gerne in administrativ oder politisch motivierte Programme zwängen lassen; dass sie meist am produktivsten sind, wenn sie ihrem Forscherinstinkt folgen und ihre Individualität entfalten können«.4 Genau davon erzählt diese Untersuchung. Wir können dies deutlich im Falle Lauters und der Geschichte der Raumforschung nachempfinden. Auch heute existiert diese »Raumforschung«, wenngleich, ähnlich wie in der DDR, unter ausdifferenzierten Bedingungen. Es sind Gebiete, die in der Raumfahrt ihren natürlichen Platz besitzen, jedoch mit deren ideologischen Diskreditierung (warum Weltraumfahrt?) und den immer enger werdenden finanziellen Spielräumen ihren hohen natürlichen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellenwert einbüßen. Aber es sind nicht nur Grundsatzerfahrungen aus der Zeit der DDR oder aus der neueren Geschichte der Bundesrepublik, sondern sie sind im Falle der modernen Meteorologie bereits älter. Friedrich Lauscher schreibt 1928: »Strahlungsforschung ist heute unmittelbar wichtig. Zwar sollte ein ›Laiengericht‹ sich wohl nicht kompetent fühlen, über den Wert von Beobachtungen zu urteilen, die keinen augenblicklichen Erfolg auf das menschliche Leben haben, solange es sich nicht der merkwürdigen Zusammenhänge bewusst ist, die Beobachtungen früherer Zeit Anteil an allgemein wichtigen Entdeckungen späterer Jahrhunderte gewähren. […] Als Römer ›in die Sterne guckte‹, ahnte niemand, dass er einmal dazu mit verhelfen werde, Schiffbrüchigen durch Radiopeilung das Leben zu retten und weitesten 4  Schatz, Gottfried: Hemmschuhe der Forschung. Unsere vergeudeten Talente: Die europäische Wissenschaftspolitik setzt fragwürdige Mittel ein, um den Erkenntnisgewinn zu fördern, in: FAZ vom 24.1.2001, S. 56.

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Kreisen durch den Rundfunk Bildungsmöglichkeiten zu erschließen. Das Problem der Energievermittlung durch Strahlung ist jedoch in mancher Hinsicht aktuell, und zahlreiche Untersuchungen der Sonnenstrahlung und damit zusammenhängender oder verwandter Erscheinungen, teils Beobachtungsreihen der Einstrahlung von Sonne und Himmel sowie der (unsichtbaren, infraroten) Ausstrahlung von Wärme vom Erdboden gegen die Atmosphäre, teils speziellere Erforschungen der optischen Eigenschaften von Luft, Wolken und Erdoberfläche bilden einen wesentlichen Teil der augenblicklichen Fortschritte in der Erkenntnis der Physik der Erde.«5 Reinhard Böhme und Kollegen, die diese Bemerkungen fanden, selbst Meteorologen von Rang, schlussfolgern heute: »Leider ist die mehr als achtzig Jahre alte Botschaft bei der Mehrzahl der Entscheidungsträger in der Forschungspolitik noch immer nicht angekommen. Viel zu stark dominiert der unmittelbare und schnell zu realisierende finanzielle Mehrwert die Forschungsförderung. Das mag eine Zeit lang gutgehen, auf lange Sicht hingegen lässt die Vernachlässigung der zweckfreien Grundlagenforschung jedoch auch den Output der anwendungsorientierten Forschung immer spärlicher werden. Ist vielleicht daraus zu erklären, warum wir immer noch keine brauchbare neue Technologie zur Energieversorgung jenseits der fossilen Energiequellen entwickelt haben? Sind wir deshalb immer noch nicht weiter ins Weltall vorgedrungen, wie es die Utopien vergangener Jahrzehnte für unsere Zeit schon längst vorgesehen hatten?«6 So redeten Wilhelm Messerschmidt und Ernst August Lauter auch, bis sie in der DDR »verstummten«. Der gesamtphysikalische Zustand, den wir unter dem heutigen Begriff der Meteorologie vermessen, ist international gesehen, initiativ von Lauter herausgebildet und zum Kanon geworden. Mit dem Projekt und Prinzip SESAME wies er den Weg zu einem heute gültigen anthropologischen Umwelt- und Klimaverständnis, und er wies zugleich auch auf dessen enorme politische Bedeutung hin. Ein Name, der in der jungen Geschichte der Humanökologie fehlt. Sein Einsatz ist einst in Wissenschaftlerkreisen der östlichen (Sowjetunion, Polen, ČSSR) wie auch westlichen (USA, Großbritannien, Bundesrepublik) Welt erkannt und honoriert worden. Eine ganzheitliche Forschungsphilosophie, die die SED und das MfS desavouierte, und zwar dermaßen effektiv, dass sie von der DDR-Oberfläche geradezu nachhaltig verschwand. Die postume Anerkennung seiner Leistung wird erst, so ist zu hoffen, mit der Drucklegung dieser Untersuchung beginnen. Lauter hatte am Ende seiner »Entmachtung« nicht nur die Reisefreiheit zu den internationalen Gremien verloren, sondern allererst seine ohnehin spärlichen Finanztitel. »Wissen muss heute ›messbar‹ sein – und das möglichst nach den Kriterien, die sich in der Wirtschaft bewährt haben. Diesem Primat der Nützlichkeit muss sich aber vor allem die zunächst zweckfreie Grundlagenforschung entziehen, soll sie als solche dauerhaft existieren.«7 Das schreiben jene oben zitierten Meteorologen 5  Böhm, Auer, Schöner: Labor über den Wolken, S. 70 f. 6  Ebd., S. 71. 7  Ebd., S. 11.

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vom Sonnblick-Observatorium in Österreich in unserer Zeit. Es ist weltweit das einzige Observatorium, das seit 1886, zunehmend modernisiert, ununterbrochen Messreihen zu Parametern und Fakten der Atmosphäre, quasi im Sinne Lauters aufnimmt. Es stand mehrmals finanziell vor dem Aus. Die neueren Observatorien mit ähnlich komplexer Forschungsphilosophie werden noch viele Jahre des Messens benötigen, um überhaupt zu ähnlich belastbaren Trendaussagen zum sogenannten Klimawandel zu kommen. Der Aktualpolitik jedenfalls gefallen wissenschaftlich fundierte Aussagen eher nicht, sie eignen sich weder für Tagespolitik noch für Tageszeitungen. Trotz der politischen Anfechtungen des Sonnblick-Observatoriums in seiner neueren Geschichte, weil eben nicht alle Ergebnisse politisch gefallen, hat es die »›schöne neue Forschungswelt‹ von Haus aus limitiert.« Genau das gelang Lauter nicht. Er scheiterte. Nicht aber, weil er zu schwach war oder überhaupt keine Mitstreiter in Wissenschaft und Staat gefunden hätte, sondern weil das parasitäre Organ, das MfS, ihn seiner Mittel und Möglichkeiten beraubte. Und genau dies bezeichnet den Unterschied in den Gesellschaftssystemen, bei dem die Aktualitätsbeziehung eine ihrer Anomalien besitzt.

7 Anhang 7.1 Abkürzungsverzeichnis »A« Maßnahme »A«: Abhören des Telefonverkehrs »B« Maßnahme »B«: Abhören mit Mikrofon A. G. Aktiengesellschaft ABAO Allgemeine betriebliche Organisationsanweisung ABF Arbeiter- und Bauernfakultät ABI Arbeiter- und-Bauern-Inspektion Abt. Abteilung Abt. 26 Telefonkontrolle, visuelle und akustische Überwachung Abt. 32 Operativ-technische Mittel, ab 1960 innerhalb des → OTS Abt. 34 1971 aus der → Abt. 32 gebildet Abt. III Abteilung der Linie → HA III Abt. M Abteilung M: Postkontrolle Abt. V Abteilung: Kultur, Opposition, Nachfolgeeinrichtung → HA XX Abt. VI Selbstständige Abteilung VI: Vorläufer der HA XVIII/5 Abt. VIII Abteilung der Linie → HA VIII Abt. XIX Abteilung der Linie → HA XIX Abt. XV Abteilung XV: HVA-Struktur in den → BV Abt. XVIII Abteilung der Linie → HA XVIII Abt. XVIII / Inst. Abteilung XVIII / Institute: Sicherungsbereich resp. AG Institute (der AdW) Abt. XX Abteilung der Linie → HA XX Abt. VII Abteilung der Linie → HA VII Abt. X Internationale Beziehungen AdW Akademie der Wissenschaften der DDR AEG Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft AfK Amt für Kerntechnik AG Arbeitsgruppe; Arbeitsgebiet; Astronautische Gesellschaft der DDR AG I Arbeitsgruppe Institute AGMS Archivierte GMS-Akte → GMS AIM Archivierter IM-Vorgang → IM AKG Auswertungs- und Kontrollgruppe AKK Amt für Kernforschung und Kerntechnik AKR Ausbildungs-Kern-Reaktor (der TH Dresden) AKS Automatisches Kartografisches System; Arbeitsstelle für kosmische Strahlung (Halle) AKW Atomkraftwerk AMD Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden, auch AM Dresden → AME AME Arbeitsstelle für Molekularelektronik ANS American Nuclear Society AOP Archivierte Operative Personalakte → OV AOPK Archivierte → OPK AP Allgemeine Personenablage APL Akademieparteileitung APO Abteilungsparteiorganisation (der SED) ArchBBAW Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

1136 ASMW ATA ATS AU AUOS AWF

Anhang Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung → DAMW Eine Werkstatt-Einrichtung Applications Technology Satellit Archivierter Untersuchungsvorgang Automatische Universal-Orbital-Station Akademiewerkstätten für Forschungsbedarf

BArch Bundesarchiv BBS Betriebsberufsschule Bd. / Bde. Band, Bände BDI Basis – Diffusion – Isolation Bdl. Bündel BFW Bund Freiheit der Wissenschaft BGL Betriebsgewerkschaftsleitung Bl. Blatt BMR Büro des Ministerrates der DDR BND Bundesnachrichtendienst BPL Betriebsparteileitung BPO Bezirksparteiorganisation BRD Bundesrepublik Deutschland BStU Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik BuV VVB Bauelemente und Vakuumtechnik BV Bezirksverwaltung ca. circa CAD Computer Aided Design CAPAV Komitee für atmosphärische Probleme von Luftraumfahrzeugen CAS Kommission für Atmosphärische Wissenschaften CD Compact Disc CDI Collector – Diffusion – Isolation CdS Cadmiumsulfid CdSe Cadmiumselenid CDU Christlich-Demokratische Union CIA Central Intelligence Agency CIC Counter Intelligence Corps CIG Comité International de Géophysique CKB Chemisches Kombinat Bitterfeld CMOS Complementary Metal-Oxide-Semiconductor COSPAR Committee on Space Research (Internationales Komitee für Weltraumforschung) CSGT Komplementäre Silicon-Gate-Technologie CS-Kronen Tschechoslowakische Währung ČSR Tschechoslowakische Republik ČSSR Tschechoslowakische Sozialistische Republik CZ Carl Zeiss DAG DAL DAMW DASR DAW DB

Deutsche Astronautische Gesellschaft Deutsche Akademie der Landwirtschaftswissenschaften → AdL Deutsches Amt für Mess- und Warenprüfung → ASMW Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften »Walter Ulbricht« Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin Dienstbesprechung; Durchführungsbestimmung

Abkürzungsverzeichnis DDR Deutsche Demokratische Republik DEFA Deutsche Film-AG Ders. Derselbe DGG Deutsche Geophysikalische Gesellschaft DIA Deutscher Innen- und Außenhandelsbetrieb DIB Deutsche Investitionsbank Dies. Dieselbe DIN Deutsche Industrienorm DLH Deutsche Lufthansa DM Deutsche Mark DNB Deutsche Notenbank DPA Deutscher Personalausweis DPG Deutsche Physikalische Gesellschaft DRAM Dynamic Random Access Memory DSF (Gesellschaft für) Deutsch-sowjetische Freundschaft DSt. Dokumentenstelle DTL Diodentransistorlogik DVf V Deutsche Verwaltung für Volksbildung DVL Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt DZfPh Deutsche Zeitschrift für Philosophie e. V. eingeschriebener Verein ebd. ebenda EBT VEB Elektronische Bauelemente »Carl von Ossietzky Werk« Teltow EDSTE (Thermosphärenforschung) EDV Elektronische Datenverarbeitung EDVA Elektronische Datenverarbeitungsanlage EGI VEB Elektroglas Ilmenau EMAU Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald EMD VEB Elektromat Dresden EPD Elektroprojekt Dresden EPKA VEB Entwicklung und Projektierung kerntechnischer Anlagen ERTS Earth Resources Technology Satellites ESEG Einheitliches System der Elektronik und des Gerätebaus ESER Einheitliches System der elektronischen Rechentechnik ESG Evangelische Studentengemeinde ESRO European Space Research Organization et al. et alii (und andere) etc. et cetera EU Europäische Union EUV Extremes Ultraviolett-Licht (extreme ultraviolet) evtl. eventuell F 22 Karteikarte: Vorgangskartei f. folgend F / E Forschung und Entwicklung FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FBS (Studie des Aufbaus von Sonneneruptionen) FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund FDJ Freie Deutsche Jugend FG Forschungsgemeinschaft; Fallgruppe FiKo Filmkopie

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Anhang

FIM Führungs-IM → GHI FKE Forschungsstelle für Kosmische Elektronik FKS Festkörperschaltkreis FoB Forschungsbereich fol. Folioblatt Fr. Franken Frankfurt / M. Frankfurt am Main Frankfurt / O. Frankfurt an der Oder FSU Friedrich-Schiller-Universität Jena FWE Funkwerk Erfurt → KFWE GARP Global Atmospheric Research Program GAW Global Atmosferic Watch GBl. Gesetzblatt Ge Germanium GeWi Gesellschaftswissenschaften ggf. gegebenenfalls GHI Geheimer Hauptinformator, ab 1968 → FIM GI Geheimer Informator, ab 1968 → IMS; Geomagnetisches Institut GIP Geodätisches Institut Potsdam GK Geo- und Kosmoswissenschaften GKP Geheimschrift-Kontaktpapier, Geheimschrift-Kopierpapier GM Geheimer Mitarbeiter, ab 1968 → IM, IMB, IMF, IMV GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GMS Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit GO Grundorganisation GOC Geophysikalische Observatorium Collm GOI Staatliches Optisches Institut (Leningrad) Gulag Glawnoje uprawleniije isprawitelno-trudowych lagerej i kolonij (Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien) GVS Geheime Verschlusssache HA Hauptabteilung HA I Hauptabteilung I: Abwehrarbeit in NVA und Grenztruppen HA II Hauptabteilung II: Spionageabwehr HA III Hauptabteilung III (1952–1964 Vorläufer der HA XVIII); ab 1983 Funkaufklärung, Funkabwehr HA IX Hauptabteilung IX: Strafrechtliche Ermittlungen (Untersuchungsorgan) HA V Hauptabteilung V: Kultur, Opposition HA VI Hauptabteilung VI: Passkontrolle, Tourismus, Interhotel HA VII Hauptabteilung VII: Bereich Inneres, MdI, Volkspolizei, Strafvollzug HA VIII Hauptabteilung VIII: Beobachtung, Ermittlung HA XIX Hauptabteilung XIX: Verkehr, Post, Nachrichtenwesen HA XVIII Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft HA XVIII/2 Abteilung 2 der HA XVIII: Anlagenbau, allgemeiner Maschinen-, Schwer­ maschinen-, Werkzeugmaschinen- und Fahrzeugbau HA XVIII/3 Abteilung 3 der HA XVIII: Metallurgie, Kohle und Energie, Geologie sowie Leichtindustrie HA XVIII/5 Abteilung 5 der HA XVIII: Institutionen der Wissenschaft und Technik HA XVIII/8 Abteilung 8 der HA XVIII: MEE, die Kombinate VEB Carl Zeiss Jena, ­Robotron Dresden, Mikroelektronik Erfurt sowie der Handelsbereich 4 (Bereich Kommerzielle Koordinierung)

Abkürzungsverzeichnis HA XX HA XX/1

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Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund Abteilung 1 der HA XX: Gesundheitswesen, zentrale Organe des Staatsrates, MAA, Justizministerium, Oberstes Gericht HA XX/2 Abteilung 2 der HA XX: Feindliche Erscheinungen aller Art, Untergrundtätigkeit, Hetze, Verbrechen im Faschismus, Zentralrat der FDJ HA XX/3 Abteilung 3 der HA XX: Sport, GST HA XX/6 Abteilung 6 der HA XX: MfPF HA XX/7 Abteilung 7 der HA XX: Kulturpolitik, Presse- und Verlagswesen, Rundfunk und Fernsehen, Kultur HA XX/8 Abteilung 8 der HA XX: Volksbildung, Hoch- und Fachschulwesen HA XX/9 Abteilung 9 der HA XX: ehemals HA XX / OG HA XX / OG Hauptabteilung XX / Operationsgebiet HA AK Hauptabteilung Auswertung und Kontrolle (des MfS in der Akademie) HF Hochfrequenz HfE Hochschule für Elektrotechnik Ilmenau HFIM Hauptamtlicher Führungs-IM → FIM HfÖ Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst HFR Hauptforschungsrichtung HHI Heinrich-Hertz-Institut HICOG Allied High Commission Germany (Hohe Alliierte Kommission der Siegermächte in Deutschland) HIM Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter HL Halbleiter HMD Hydro-Meteorologischer Dienst der UdSSR HO Handelsorganisation Hrsg. Herausgeber HU Berlin Humboldt-Universität Berlin HV Hauptverwaltung HV A Hauptverwaltung Aufklärung HVD VEB Hochvakuum Dresden HWFO VEB Halbleiterwerk Frankfurt / O. IAE IAEA IAEO IAF IAG IAGA IAMAP IAPSO IAU IBD IBM IC ICA ICSU IE IFA IFE IfG IfH IGJ

Institut für Atomenergie »I. W. Kurtschatow« Internationale Atomenergieagentur Wien Internationale Atomenergie-Organisation International Astronautical Federation International Association of Geodesy International Association of Geomagnetism and Aeronomy International Association of Meteorology and Atmospheric Physics International Association for the Physical Sciences of the Oceans International Astronomical Union Investbank Dresden International Business Machines (Corp.) integrated circuit (IC-Entwurf) International Congress on Acoustics International Council of Scientific Union Institut für Elektronik Industrieverband Fahrzeugbau Institut für Festkörperphysik und Elektronenmikroskopie (Halle) Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Institut für Hochenergiephysik Internationales Geophysikalisches Jahr

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Anhang

IGW Institut für Gesellschaft und Wissenschaft an der Universität Erlangen IHP Institut für Halbleiterphysik IHT Institut für Halbleitertechnik Teltow IIASA International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg, Österreich IK Interkosmos IKF Institut für Kosmosforschung IKI Institut für Kosmosforschung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR IM Inoffizieller Mitarbeiter IMB Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung → IMF und IMV IMD Institut für Mikroelektronik Dresden IME Inoffizieller Mitarbeiter im bzw. für einen besonderen Einsatz IMF Inoffizieller Mitarbeiter der inneren Abwehr mit Feindverbindung zum Operationsgebiet, ab 1979 IMB IMG Institut für Meteorologie und Geophysik IMK / K W Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens / Konspirative Wohnung, auch IMK / K W IMS Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung eines Verantwortungsbereiches; Internationales Programm zur Untersuchung der Magnetosphäre IMV Inoffizieller Mitarbeiter zur Bearbeitung von unter Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen, ab 1979 → IMB Inst. Institut(e) INT Institut für Nachrichtentechnik IOS Institut für Optik und Spektroskopie IPC Institut für Physikalische Chemie IPOC Institut für Polymerenchemie Teltow IpS Institut für physikalische Stofftrennung Leipzig IPW Institut für Politik und Wirtschaft IQSY International Years of the Quiet Sun IR Infrarot IRI International Reference Ionosphäre IsI Institut für stabile Isotope (Leipzig) IZMIRAN Institut für Erdmagnetismus, Ionosphäre und Verbreitung von Radiowellen ITW Institut für Theorie, Organisation und Geschichte der Wissenschaft IUCSTP Inter-Union Commission on Solar Terrestrical Physics IUG Internationale Union für Geografen IUGG International Union for Geodesy and Geophysics IvA Institut von Ardenne IWP Industrielle Warenproduktion JAGK

Jugendarbeitsgruppe KOSMOS

K Kriminalpolizei Kap. Kapitel KAPE Kommission der Akademien der Wissenschaften sozialistischer Länder für wissenschaftliche Untersuchungen mit Hilfe künstlicher Erdsatelliten KAPG Kommission der Akademien der Wissenschaften sozialistischer Länder für die multilaterale Bearbeitung des komplexen Problems »Planetare Geophysikalische Forschungen« KD Kreisdienststelle KdT Kammer der Technik KFWE VEB Kombinat Funkwerk Erfurt → FWE KG Kommanditgesellschaft

Abkürzungsverzeichnis

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Kg Kilogramm KGB Komitet Gosudarstvennoy Bezopasnosti (Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR), auch KfS KKK Kaderkarteikarte KKW Kernkraftwerk KL Kreisleitung (der SED) km Kilometer KME VEB Kombinat Mikroelektronik Erfurt KMU Karl-Marx-Universität Leipzig KoKo (Bereich) Kommerzielle Koordinierung; Koordinierungskomitee (für Interkosmos) KP Kontaktperson; Kommunistische Partei KPD Kommunistische Partei Deutschlands KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KPKK Kreisparteikontrollkommission (der SED) KS Archivmaterial der HA Kader und Schulung → KuSch KSG Katholische Studentengemeinde KSZE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KÜL Komplexe Überführungsleistung KuSch Kader und Schulung (Organisationseinheit im MfS) → KS KVP Kasernierte Volkspolizei KW Konspirative Wohnung; Kilowatt; Kernkraftwerk KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft KWH VEB Keramische Werke Hermsdorf KZ Konzentrationslager L Leiter L 4 Gebäude des Institutes für Elektronik (IE) Larch Landesarchiv LFM Leipziger Frühjahrsmesse LPS Landesparteischule LSD Laserradar LSI Large Scale Integration M. Main m. E. meines Erachtens m. W. meines Wissens M / L Marxismus / L eninismus, auch ML MAA Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten → MfAA MAB VEB Maschinen- und Apparatebau, hier: Flugzeugentwicklungswerk 801, MAB Dresden MAP Mittleres Atmosphärisches Forschungsprogramm MD Meteorologischer Dienst der DDR MdI Ministerium des Innern MDN Mark der Deutschen Notenbank MDZ Methodisch-diagnostisches Zentrum ME Mikroelektronik MEE Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik MeV Megavolt MfAA Ministerium für Auswertige Angelegenheiten → MAA MfC Ministerium für Chemie MfG Ministerium für Gesundheitswesen MfNV Ministerium für Nationale Verteidigung

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Anhang

MfPF Ministerium für Post und Fernmeldewesen MfS Ministerium für Staatssicherheit MfS-Pag. MfS-Paginierung MGB Ministerstwo Gossudarstwennoi Besopasnosti → KGB MGU Lomonossow-Universität Moskau (transkribiert) MHD Meteorologischer und Hydrologischer Dienst der DDR, dto. der UdSSR MHF Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen Mio. Million MKF-6 Multispektralkamera für die Fernerkundung der Erde MLU Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg MLZ Multilaterale Zusammenarbeit MMKI Mathematik, Mechanik, Kybernetik und Informationsverarbeitung MM-Technik Mikro-Modul-Technik MNOS Metal-Nitrid-Oxid-Semiconductor-Technology MNV Ministerium für Nationale Verteidigung MONSEE Weltweites Beobachtungsnetz von Observatorien MOS Metal-Oxide-Semiconductor (Metall-Oxid-Halbleiter) MPG Max-Planck-Gesellschaft MPI Militärpolitische Informationen; Max-Planck-Institut MPID Militärpolitischer Informationsdienst MR Ministerrat MSP Multispektralprojektor MW Megawatt MWel Megawatt, (elektrische Leistung) MWT Ministerium für Wissenschaft und Technik n. nicht NARVA Glühlampenwerk in Berlin. Name zusammengesetzt aus N für Nitrogenium, AR für Argon und VA für Vakuum NASA National Aeronautics and Space Administration NATO North Atlantic Treaty Organization ND Neues Deutschland NDPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NfD Nur für den Dienstgebrauch n-HL Leitfähigkeit des HL auf Basis freier (negativer) Elektronen NIC (neutrales und ionisiertes Atmosphärengas) NIÖ Neue Institutionenökonomie NKFD Nationalkomitee »Freies Deutschland« NKGG Nationalkomitee für Geodäsie und Geophysik der DDR NKWD Narodny Kommissariat Wnutrennich Del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) NOAA National Oceanic and Atmospheric Administration NÖS Neues Ökonomisches System NÖSPL Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung Nr. Nummer NS Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSGT N-Kanal-Si-Gate-Technologie NSW Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet NVA Nationale Volksarmee

Abkürzungsverzeichnis

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o. ordentlicher o. g. oben genannt o. D. ohne Datum o. Pag. ohne Paginierung OA Organisationsanweisung OAM Operatives Ausgangsmaterial OD Objektdienststelle OfS Offizier für Sonderaufgaben OG Operationsgebiet, Operativgruppe OibE Offizier im besonderen Einsatz OIF Observatorium für Ionosphärenforschung Warnemünde OMGUS Office of Military Government for Germany (U. S.) – Höchste Verwaltungseinrichtung der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland / Berlin OPK Operative Personenkontrolle OREOL Sowjetisch-französischer Technologiesatellit, 1981 OSL Oberstleutnant ÖSS Ökonomisches System des Sozialismus OTS Operativ-technischer Sektor (Organisationseinheit im MfS) ÖTV Ökonomisch-technische Versorgung OV Operativer Vorgang PA Personalakte, auch P-Akte; Personalausweis PH Pädagogische Hochschule PAGEOS Passive Geodetic Satellite P-Akte Personal-Akte PB Politbüro p-HL Leitfähigkeit des HL auf Basis frei beweglicher (positiver) Löcher PiD Politisch-ideologische Diversion Pkw Personenkraftwagen PKZ Personenkennzahl PM Fourierspektometer für Satelliten und Sondeneinsatz (Code-Bezeichnung) PSGT P-Kanal-Si-Gate-Technologie PTI Physikalisch-Technisches Institut (Berlin, Jena) PTL Propellerturbinenluftstrahltriebwerk PTR Physikalisch-Technische Reichsanstalt PZA Postzollamt PZF Postzollfahndung QEK SWB

VEB Qualitäts- und Edelstahlkombinat, Stahl- und Walzwerk Brandenburg

RAM Random Access Memory RCTL Resistor Capacitor-Transistor Logic Ref. Referat Reg.-Nr. Registratur-Nummer resp. respektive R-Flucht Republikflucht, auch RF RFR Rossendorfer Forschungsreaktor RFT Radio- und Fernsehtechnik; Rundfunk- und Fernmeldetechnik RFZ Rundfunk- und Fernsehtechnisches Zentralamt RGW Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe RIAS Rundfunk im amerikanischen Sektor RRR Rossendorfer Ringzonenreaktor

1144 RTL RWN

Anhang Resistor Transistor Logic VEB Röhrenwerk Neuhaus

S. Seite SA Sturmabteilung SAE Sowjetische Antarktisexpedition; Sachaktenerschließung (des BStU) SAPMO Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR SAW Sächsische Akademie der Wissenschaften SB Sicherheitsbeauftragter → SiBe SBG Satellitenbeobachtungsgerät SBL Stadtbezirksleitung SBZ Sowjetische Besatzungszone Schlüpo Schlüsselposition (→ IM in eine solche) SCOSTEP Special Committee on solar-terrestrical Physics SDAG Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft SdM Sekretariat des Ministers SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SED-KL SED-Kreisleitung SESAME Struktur und Energetik der Strato- und Menosphäre SEV Sekundärelektronenvervielfacher SfH Staatssekretariat für Hochschulwesen (bis 1957) SfS Staatssekretariat für Staatssicherheit (vom 23.7.1953 bis 24.11.1955) SFT Staatssekretariat für Forschung und Technik SG Satellitengeodäsie SHF Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen Si Silizium SiBe Sicherheitsbeauftragter Slg. Sammlung SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland SMF VEB Spurenmetalle Freiberg / Sa. SMT Sowjetische Militär-Tribunale Sp. Spalte SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPG Strahlenschutzprüfgerät SPK Staatliche Plankommission SPR Sowjetischer Röntgenpolarimeter SRAM Statische → RAM SS Schutzstaffel StEG Strafrechtsergänzungsgesetz StGB Strafgesetzbuch STP Solar-terrestrische Physik StPO Strafprozessordnung StS Sternwarte Sonneberg StUG Stasi-Unterlagen-Gesetz SU Sowjetunion UdSSR SV Sachverständige(r) SVGA Sachverständigengutachten SW Sozialistisches Wirtschaftsgebiet SWT Sektor Wissenschaft und Technik (Organisationseinheit der HV A) TA Teilablage Tb. Tabelle

Abkürzungsverzeichnis

1145

Te Tellur Tgb. Tagebuch TGL Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen TH Technische Hochschule TI Texas Instruments TKO Technische Kontrollorganisation TrafoRö VEB Transformatoren- und Röntgenwerk »Hermann Matern« TSD Technische Sammlungen Dresden TTL Transistor-Transistor-Logik TU Technische Universität TÜ Technische Überwachung TV Teilvorgang eines ZOV u. und u. a. unter anderem, unter anderen UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken → SU → Sowjetunion UGGI Union für Geodäsie und Geophysik UK Unterkommission UKHA Koordinierendes Gremium in Zusammenarbeit mit den Fachgruppen des NKGG UKW Ultrakurzwelle UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Uni Universität UNO United Nations Organization UPL Universitätsparteileitung URSI Union Radio Scientifique Internationale USA United States of America, auch US UV Untersuchungsvorgang; Ultraviolett (Spektralbereich) ÜV Überprüfungsvorgang v.l.n.r. von links nach rechts VA Vorlaufakte; vorläufig archiviert VAO Vorlaufakte operativ VbE Vollbeschäftigten-Einheit VD Vertrauliche Dienstsache VDE Verwaltung der Dienstleistungseinrichtung VDI Verein Deutscher Ingenieure VE Volkseigener(s) Betrieb resp. Kombinat VEB Volkseigener Betrieb Verf. Verfasser VF Versuchsfertigung vgl. vergleiche VKP(b) Vsesojuznaja Kommunisticeskaja Partija (bolsevikov), (Kommunistische Allunionspartei der Bolschewiki) VP Volkspolizei VS Verschlusssache vs. versus VVB Vereinigung Volkseigener Betriebe VVK Verwaltung Vermessung und Kartenwesen VVS Vertrauliche Verschlusssache VWR Volkswirtschaftsrat

1146

Anhang

WB Westberlin WBN VEB Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik WD Westdeutschland WES Wetterbildempfangsstation WF VEB Werk für Fernsehelektronik (Berlin) WIB Wissenschaftlich-industrieller Betrieb WK Wissenschaftskonzeption WMO Weltorganisation für Meteorologie (World Meteorological Organization) WO Wissenschafts-Organisation WPU Wilhelm-Pieck-Universität Rostock WR Wissenschaftlicher Rat WS Wissenschaftliches Sekretariat WT Wissenschaft und Technik WTA Wissenschaftlich-technische Auswertung / Wissenschaftlich-technische Aufklärung WTB Wissenschaftlich-technisches Büro WTBR Wissenschaftlich-technisches Büro für Reaktorbau WTK Wissenschaftlich-technischen Konzeption WTR Wissenschaftlich-technische Revolution; Wissenschaftlich-Technischer Rat WTZ Wissenschaftlich-Technisches Zentrum WWER Wasser-Wasser-Energie-Reaktor WWR-S Wassergekühlter Forschungsreaktor z. T. zum Teil ZAFT Zentrales Amt (Zentralamt) für Forschung und Technik ZAIG Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (Organisationseinheit im MfS) ZAK Zentraler Arbeitskreis ZDF Zweites Deutsches Fernsehen ZEA Zentrale (Infrarot-)Entwicklungsabteilung ZfI Zentralinstitut für Isotopen- und Strahlenforschung der AdW ZfK Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf ZFT Zentrum für Forschung und Technologie ZFTM Zentrum für Forschung, Technologie und Mikroelektronik ZFW Zentralinstitut für Festkörperphysik und Werkstoffforschung ZGB Zivilgesetzbuch ZI Zentralinstitut ZIA Zentralinstitut für Automatisierung ZIAP Zentralinstitut für Astrophysik ZIC Zentrales Informationsinstitut der chemischen Industrie ZIfE Zentralinstitut für Ernährung ZIK Zentralinstitut für Kernforschung ZIMET Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie ZIPC Zentralinstitut für physikalische Chemie ZIPE Zentralinstitut für Physik der Erde ZISTP Zentralinstitut für solar-terrestrische Physik ZK Zentralkomitee (der → SED) ZKI Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse ZMD VEB Forschungszentrum Mikroelektronik Dresden ZOS Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie ZOV Zentraler Operativer Vorgang ZPKK Zentrale Parteikontrollkommission (der SED) ZZ Zweiseitige Zusammenarbeit (DDR-UdSSR) zzt. zur Zeit

Personenverzeichnis

1147

7.2 Personenverzeichnis Nicht veröffentlichungsfähige Personen sind pseudonymisiert und mit Sternchen* versehen. Abalkin, Leonid  286, 330 Abele, Johannes  1021 f. Abramov (UdSSR)  485 Abrassimow, Pjotr A.  605 Abusch, Alexander  299 Adam, Theo  388, 448, 468 Adorno, Theodor W.  342 Albrecht  803, 907 Albrecht, Erhard  95, 99, 141–143 Albrecht, Jochen  575 f., 579 Alexander, Karl F.  414, 542, 954, 985, 997 Alexandrow, Alexander D.  89, 91 Alexandrow, Anatoli P.  750 f., 769, 771 f., 777, 781, 822, 827, 892 Alinohanow (UdSSR)  979 Anderl, Sibylle  92 Antonow, Alexej K.  611 Apel, Erich  108–110, 163, 190 f., 253, 284, 289, 319, 326, 344, 353 f., 358, 391, 395 f., 400, 402–404, 409, 411, 414, 419, 423 f., 426, 428, 430–436, 438–440, 442–444, 447 f., 456 f., 459–463, 469–474, 568, 596, 611, 698, 918, 941, 952–954, 958, 964 f., 968, 986, 1015, 1020, 1047 f., 1127 f., 1131 Aquin, Thomas v.  81 Ardenne, Manfred v.  22, 56, 78, 96, 104, 123, 229, 231–233, 266, 319, 325, 345, 362, 375–377, 379–382, 387 f., 414, 424, 437 f., 446, 602, 921, 927, 929, 931, 936, 938, 948, 1003, 1066 Arnold, Kurt  650, 697, 704 f., 715, 1113, 1115 f. Asser, Günter  93 Augustine, Dolores L.  27 Auth, Joachim  410, 414, 479, 568, 589 Baade, Brunolf  408, 1005 f., 1008–1018, 1127 Backhaus, Georg  1019 Bahro, Rudolf  258, 290, 456, 1050, 1068 f. Baier, Anette  346 Balajew (UdSSR)  843 f. Bargenda (MfS)  763, 983, 985 Barkhausen, Heinrich  175 Barkleit, Gerhard  14, 22, 232, 927, 1007, 1024 Bartels, Günter  389, 416, 426 f., 561 Barthel, Kurt (Kuba)  185 Barwich, Heinz  25, 31, 51, 75, 96, 152, 190 f., 253, 266–268, 305, 332, 359, 362,

382 f., 385, 408, 414, 446 f., 462, 469, 570, 592, 602, 916–922, 926, 928–941, 943, ­946–962, 964–975, 977–983, 985–995, 997–999, 1002–1004, 1012, 1016, 1022, 1035, 1127 f., 1131 Bäßler (MfS)  486, 490 f., 500 Bauer, Leo  334 f., 407 Baumbach, Alfred  244, 418, 1019–1021, 1074 f. Beater, Bruno  65, 408, 798, 1026 Beck, Ulrich  12, 49 Becker, Hans  359 f., 364, 366 f., 369, 600 Becker, Max  56, 119, 121, 227 f., 239, 778, 894 f., 899, 1084, 1086, 1091–1096, 1100, 1103 Becker, Richard  356, 931 Beckmann, Johann  586 Behrens, Friedrich (Fritz)  49, 79, 130, 259 f., 266, 285, 339, 1049 f. Beloussow, Wladimir W.  652 Benary, Arne  130, 259 f., 264, 266, 1049 f. Benjamin, Hilde  1092 Berg, Hermann v.  258, 469 f. Berger, Wolfgang  108 Bernhard, Fritz  934, 938, 951, 992 Bernhardt, Karl-Heinz  821, 823, 891, 894, 1121 Bernicke, Hubertus  404, 410, 412, 414, 418 f., 461 Berthold (MfS)  377 f., 430 Bertsch, Heinrich  177, 309–311, 314–316 Besinger, Joseph  1010, 1012, 1016 Bethge, Heinz  69 f., 168 f., 200, 211, 214 f., 371, 445, 557, 735, 1047 f., 1121 Beyer (AWF)  691 Beynon, William J.  647 Biedenkopf, Kurt  353 Biermann, Wolf  105, 116 f., 348 Bilkenroth, Georg  309 f. Birke (MfS)  550 Bischoff, Karl-Heinz  706–708, 727, 740, 763, 799, 803, 807, 821, 856, 862, 864 Blagonrarow, Anatoli A.  675, 834, 841, 843 f., 848, 852 f. Bliesener, Günther  699, 717, 724, 729 f., 739–741, 807, 853, 856, 1031, 1081 f. Bloch, Ernst  25, 130, 226 f., 313, 337, 341 f., 936

1148

Anhang

Blochinzew, Dimitri I.  986, 994 Blumenberg, Hans  23, 30 f., 98 f. Bobeth, Wolfgang  164 Böer, Karl W.  646 Boghossian, Paul  29 Bohm, David J.  91 Böhm, Wilhelm  9 Böhme  448, 463 Böhme, Hans-Joachim  600 Böhme, Herbert  392, 395, 398, 426, 506 Böhme, Reinhard  1133 Böhme, Wolfgang  208, 344, 630, 646, 660, 663, 666 f., 682, 691, 694, 697, 700, 721, 731–733, 750–752, 755, 768–772, 777, 779–781, 787–790, 803, 810, 816 f., 819, 822–824, 827 f., 830 f., 834 f., 838 f., 845 f., 848, 850 f., 853–855, 857–859, 861, 871, 874–876, 880, 882–884, 889, 891–893, 907, 910, 1129 Bohr, Niels  71, 122 Bois-Reymond, Emil du  83 Bolz, Lothar  94 Bonhoeffer, Karl-Friedrich  64 Bönninger, Karl  140 Bönt, Ralf  51 Bormann (MfS)  598 Born, Hans-Joachim  602, 921, 923 f., 928, 932, 934 f., 938 f., 990 Born, Max  83 f., 95 f., 123 f., 291, 923 Borriss, Heinrich  140 Boulanger, Jurij D.  633, 652, 695, 697, 791 f., 837, 860, 866, 872, 879 Bourdieu, Pierre  49 Böwe, Kurt  1105 Bowholl, Sidney A.  672, 848 Braun, Wernher v.  1024 Bräutigam, U.  688–690 Brecht, Bertolt  131, 1130 Brederlow (MfS)  57, 714, 850, 901, 1099, 1117 Breidbach, Olaf  31 f. Breschnew, Leonid I.  287, 301, 589 Bridgman, Percy W.  16, 235 Brockhoff, Klaus  457 Brüche, Ernst  55 f., 123, 148, 479, 489, 535, 604, 1046–1048, 1063, 1113 f. Bruns, Erich  653 Bruyn, Günter de  105 Bucha, Václav  872 f. Buchheim, Wolfgang  671, 735 Buchholtz, Alwill  1033 Buchwald, Eberhard  48, 76 Budach, Lothar  326

Buhr, Manfred  26 Bulgakow, Sergei N.  55 Bull, Günter  742, 878 Bulrukow, Wladimir*  866 f. Bumm, Helmut  602 Buschinski, Waldemar  248, 700, 711, 718, 724, 730, 739–742, 751 f., 761, 764, 914 Büttner, Günter  723, 726, 738, 740, 750, 763, 795, 805, 822, 867, 875 Carnap, Rudolf  82, 167 Cayce, Edgar  81 Charisius, Albrecht  1063 Chors, Eberhard  467 Chruschtschow, Nikita S.  130 f., 395, 397, 448, 918, 967, 972, 1008, 1039 Cichy, Hans  1009, 1011–1015, 1017 Ciesla, Burghard  1007 Comte, Auguste  126 Correns, Erich  229 f., 310 Cremer, Lothar  686 Cromme, Gerhard  1050, 1055, 1058–1060, 1062 Crüger, Herbert  335 Curtius, Julius  602 Daene, Herbert  620, 665, 682, 697, 700, 736 Dahlem, Franz  143 Damm (MfS)  491 Dautcourt, Georg  753 Dehlinger, Ulrich  80 Delp, Alfred  342 Dewey, Robert  310, 314 Dieckmann, Johannes  395 f. Dieminger, Walter  722 f., 754 Dirac, Paul  83, 993 Dobaczewska (Polen)  764 Doehring, Karl  509 Doetsch, Gustav  754 Döhling (MfS)  550, 552, 560 Dönitz, Karl  602 Döpel, Robert  929, 931 Dörfel, Günter  356 Döring, Johannes  162 Drefahl, Günther  136, 444 Droysen, Johann Gustav  31 Dubinin, Nikolai P.  134 Duncker, Hermann  79 Dymschitz, Alexander L.  112 Eastland, James O.  1002 Eckardt, Alfred  414, 930, 948, 972

Personenverzeichnis Eichhorn, Wolfgang  1068 Einbruch, Erich*  870–872, 880 Einstein, Albert  81, 83 f., 91, 116, 355, 685, 974 Eisenkolb, Friedrich  310 Elstner, Claus  713 Emeljanow, Wassilij O.  948–950 Emmel, Hildegard  20, 34, 59, 80, 114, ­136–144, 298, 301 f., 323 Engels, Friedrich  49, 84, 81, 88, 94 f., 119, 135, 151, 156, 304 Ephraem der Syrer  614 Epping, Walter  137 Erdmann (ZK)  969 Erdmann, Kurt  276 f. Ertel, Hans  177, 295, 310 f., 622 Etzioni, Amitai  26 f. Fabian, Wolfgang  969, ­983–985, 988 Falckenberg, Günther  623 f., 641 Falter, Matthias  363, 410–413, 418, 434, 436, 441, 463, 479, 1041, 1077 Fanselau, Gerhard  645, 656, 663, 677 f., 687, 697, 1117 Faraday, Michael  51, 151, 260 Farner, Donald S.  729 Faulstich, Helmuth  410, 414, 479, 932, 956, 973, 997, 1121 Fedin, Konstantin A.  95 Felber, Hans-Joachim  1101–1106 Felber, Walther  1101 Felix, Willi  52 Felske, Dieter  841, 843, 853 Fest, Joachim  50 Feuerbach, Ludwig  54 Feyerabend, Paul  92, 166 Feynmann, Richard  604 Fey, Peter  478 Field, Noel  406 f. Fischer (MfS)  550, 552, 560 Fischer, Ernst  119 Fischer, Hans-Joachim  47, 489, 683, 700, 711 f., 720, 772, 776, 779, 790 f., 806 f., 814, 816, 818 f., 823 f., 836, 843, 862, 874, 884, 890 f., 896, 899, 902, 904–908, 913 f., 1121 f. Fischer, Horst  224, 254, 256, 573, 650, 776, 807 f., 892, 896–898, 901, 907, 1118–1120, 1122 Fister, Rolf  1057 Fjodorow, Jewgeni K.  768 Fleischer, Helmut  290

1149

Florenski, Pawel  55 Fock, Wladimir A.  89, 91 Fogarasi, Béla  89 Fomferra, Heinrich  351 Fontane, Theodor  605 Forgber, Günther  527 Forgbert, Erhard  127 Förster, Wieland  1096, 1114 Foucault, Michel  27, 45, 49 Franzke (ZfK?)  943 Freigang, Wieland  1095 f., 1114 Freisler, Roland  52 Freundlich, Herbert  64 Frevert, Ute  342, 344 Freytag, Fritz  1005 f., 1008–1014, 1016–1018, 1021, 1024 Friedman, H.  848 Friedrich, Walter  149, 301 f., 920, 948 Frings, Theodor  143 Fröhlich, Friedrich  658 Frühauf, Hans  175, 177, 184, 189, 191, 223, 231–233, 265, 305, 310 f., 314–316, 362, 384, 410, 419, 424, 430, 438, 442, 444, 465, 568, 674, 734, 849, 936, 992, 1020, 1121 Fuchs, Klaus  150, 152, 164, 414, 580, 872, 918, 932, 943 f., 946, 952, 956 f., 961, 967–969, 972 f., 975 f., 985, 989, 994, 996 f., 1021 f. Fühmann, Franz  348 Fuhrmann, Heinz  451, 479, 483, 485, 487, 495, 505 f., 526, 563 Fürnberg, Louis  131, 144 Gadamer, Hans-Georg  208 Gagarin, Juri  101 Gallinger  924 Gallwitz, Hans  66 f. Gambetum, Diego  346 Garte, Dieter  567, 587 f. Gattner, Klaus-Dieter  260 Gatzke, Johannes  612 Gauck, Joachim  43 Gaus, Günter  42 Geerdts, Hans-Jürgen  141 f. Gehlert, Siegfried  562 Gentz, Frithjoff  1082 George, Stefan  1075 Gerlach, Heinz  567 Gerlach, Walther  75, 602, 924, 993 Gesang, Gerhard  545, 550, 552, 560, 564, 1051, 1073

1150

Anhang

Giddens, Anthony  60, 62, 348 Gießmann, Ernst-Joachim  316, 444, 1034 Girnus, Wilhelm  21, 116, 126 f., 141, 227, 316, 339 Girnus, Wolfgang  21 Gladitz, Benno  731, 753, 800, 807 Glaser, Erika  408 Glatzeder, Winfried  1105 Glöde, Peter  697 Glustschenko (UdSSR)  298 Göbel, Karl-Heinz  1065, 1071 Goethe, Johann Wolfgang v.  135 f., 141 f., 151, 302 Gorbatschow, Michail  277, 979 Göring, Hermann  602 Gorki, Maxim  135 Görlich, Paul  168, 178, 184, 255, 278, 308, 310, 316, 414, 422, 437, 580, 700, 1118–1121 Goßens, Hans  137 f. Gotsche, Otto  302 Gott, Karel  538 Gotto, Bernhard  343–345 Gregor (RGW)  991 Gregory, J. B.  851, 854, 857, 874, 880 Grell, Friedrich A.  78 Gropp, Rugard O.  83 f. Groppe, Carola  49–51 Gröschel, Manfred  112 Groscurth, Georg  64 Grosse, Hermann  265, 413 f., 423 f., 430, 444, 448, 462, 918, 943, 952, 960, 964 f., 982, 1017, 1050 Grossmann (Fairchildbüro in Stuttgart)  475 Großmund, Bärbel*  145 Grote, Claus  120, 124 f., 218, 788, 824, 826, 828, 831, 834 f., 838–846, 848 f., 863, 865, 881, 888–890, 892, 894, 921, 1121 Grotewohl, Otto  375, 379 f., 395, 947, 967, 1028 Grotrian, Walter R.  292 f., 620 Grundmann, Walter  58 Grünert, Werner  510 Guardini, Romano  98, 1072 Gummel, Hans  314 Gumprecht, Horst  263–266, 1049 f. Guntau, Martin  21 Günther, Manfred  637 Gürmann, Klaus  1068 Gutmann, Gernot  260 f. Gysi, Gregor  325 Gysi, Irene  992

Gysi, Klaus  94, 494, 992 Haber, Fritz  64 Hachenberg, Otto  279, 636, 638, 640, 698, 777, 856 Hachenberger, Dieter  473 f., 552, 560, 566 Haeckel, Ernst  83 Hager, Kurt  9, 13, 17, 78, 121, 152, 195, 199, 222 f., 234, 259, 322, 339 f., 396, 444, 542, 608, 698, 734, 755, 871, 894, 928, 943 f., 977 Haggerty, Patrick E.  478 Hahn, Otto  96, 237, 299, 484, 923, 993 Hamel, Georg  356 Hämel, Joseph  75 Hampe, Eckard  926 Hanemann (MfS)  550, 552 Hanisch, Hans Joachim  55 f., 154, 307, 350, 390, 400, 405, 410, 412, 414, 418–422, 424 f., 427 f., 431, 433 f., 436, 438, 440, 445, 447–449, 461, 463 f., 467 f., 474, 476, 479, 481 f., 489, 493, 495 f., 498, 501, 505, 516 f., 519, 521, 527, 530 f., 534, 537, 543 f., 546, 548–550, 552, 554, 557, 559–562, 564, 567–569, 571 f., 576–583, 585, 590, 598–603, 605, 610, 779, 934, 994, 1030, 1041 f., 1046–1048, 1051, 1057–1059, 1063–1066, 1069, 1071, 1073, 1077–1081, 1083, 1129 Hannemann, Lutz  1114 Harich, Wolfgang  86, 258, 332, 342 Harig, Gerhard  359, 932 Harnack, Karl G. A. v.  64, 197 Harris, Chauncy D.  729 Hartke, Werner  127, 138, 140, 158, 183, 189, 193, 195, 202, 222, 226, 229, 295, 314 f., 317, 444, 580, 994 Hartlepp, Heinz  1007, 1024 Hartmann, Renée Gertrud  353 f., 517, 525, 538, 575, 577, 606 Hartmann, Werner  25 f., 31, 33, 36 f., 44, 47, 49, 54, 56, 71, 76, 80, 98, 108 f., 150, 153 f., 162 f., 165–168, 173, 183, 190 f., 208, 223, 226, 233, 242, 253, 258, 264, 266 f., 271, 273, 278, 284–286, 288–290, 298, 307, 322–324, 332, 342, 344, 347–350, 353–372, 374–406, 408–436, 438–469, 472–501, 505–538, 540–548, 550–612, 619, 649, 653, 711, 721, 757, 776, 916, 918, 922, 926, 928, 930, 932, 934 f., 938, 940 f., 951, 960, 962, 965, 967, 972, 984, 992 f., 1005 f., 1012, 1017, 1025, 1030, 1041, 1044,

Personenverzeichnis 1046–1048, 1051–1055, 1057, 1059, 1066, 1071, 1073, 1077 f., 1082, 1119, 1127 f., 1131 Hartwig, Peter*  521, 523 f., 533, 539, 544 f., 550–552, 554, 556–560, 562–564, 568 f., 578, 583–585, 590, 597 f., 601–604, 1029, 1048, 1051, 1057, 1073, 1079 Hauke, Matthias*  407 f. Haustein, Heinz-Dieter  59, 259 f., 276, 300, 316, 323 f., 330 f., 479, 527 Hautefeuille, Abbé Jean de  685 Havemann, Robert  34, 52, 63 f., 80, 82, 84 f., 91–96, 115–118, 123, 128 f., 159, 189, 194, 226, 233 f., 244, 336–339, 407, 657, 917 f., 923 f., 927, 932 f., 935 f., 1025 Hefele, Peter  257 Hegel, Georg W.  54, 91, 225 Heidenhain, Johannes  714 Heidorn, Günter  59, 69 Heinemann, Manfred  10, 294 Heinitz, Walter  470 Heinrichs, Wolfgang  339 Hein-Weingarten, Katharina  20 f., 638, 712, 811, 914 Heinze, Rudolf  415, 451, 462 f., 465–467, 475, 479–482, 484, 492, 494 f., 499, 502, 506 f., 511, 520, 525, 606 Heinze, Walter  453, 463, 479, 1041, 1047 Heisenberg, Werner  55, 71, 80–82, 89, 96, 122, 671, 685, 938, 993, 1115 Helbig, Jürgen  1100 Held, Max  293 Helmholtz, Hermann L. v.  83, 126 Henke, Klaus-Dietmar  22 Henniger, Herbert  414, 472, 1041, 1046 f. Henning, Jochen  540, 559, 567 Henninger, Gerhard  348 Henselmann, Hermann  1025 Herforth, Lieselott  358 Hering, Constantin  974 Hermaszewski, Miroslaw  675 Hermlin, Stephan  72, 79 Herneck, Friedrich  59, 82–84, 87, 91, 116, 126–131, 333, 336–339 Herrmann (MfS)  584 f., 939 Herrmann (MWT)  175, 693 Hertel, Heinrich  1006 Hertz, Gustav  56, 75, 79, 96, 113, 227, 229, 231, 266, 303–306, 308, 356, 358, 364, 384, 393, 414, 424, 435, 479, 489, 580 f., 588 f., 602, 671, 921 f., 928–932, 935–938, 946, 948, 952, 955–957, 960, 962,

1151

964–966, 968, 970–974, 976 f., 981 f., 988, 992–994, 999, 1002 f., 1022, 1065 Herz, Heinz  113 f., 304 Herzberg, Guntolf  258, 290, 349, 1050, 1068 f. Heuer, Kurt  127, 285 Heym, Stefan  116 Hilbert, Fritz  572, 673, 675 f., 681, 707, 711, 713, 739, 742, 877, 897, 914, 956 f. Hildebrand, Daniel  1026 Hildebrand, Siegfried  54, 61, 71, 184, 561, 602 f., 1030 f., 1041 f., 1045 f., 1060, 1062 f. Hillig, Rolf  478 f., 482 f., 499, 511, 517, 520, 531, 599 f. Hippel, Arthur R. v.  154 Hitler, Adolf  267 Hoenow (AMD)  424 Hoffmann, Alfred  937–939, 995, 999 Hoffmann, Heinz  872 Hoffmann, Horst  331 Hoffmeister, Cuno  641, 647 Hofmann, Rudolf  115 f. Hofmann, Ulrich  216 f., 256, 704, 807 f., 912, 988 Hofweber, Wilhelm  246 f., 1019–1021, 1074–1077 Hogan, C. L.  582 Hölderlin, Friedrich  9 Hollax, Eberhardt  331, 714 f., 822 Hollmann, Hans E.  602 Hollstein, Hans  406 Holzmüller, Werner  304 Honecker, Erich  7, 9, 15, 18, 27, 31, 34, 62, 72, 74, 103 f., 190, 245, 253, 281, 295, 300, 316, 319, 321–326, 329–331, 340, 343, 347, 409, 510, 525 f., 597, 601, 610 f., 684, 711, 739 f., 742, 786 f., 808, 979, 1005, 1060, 1090, 1097, 1127, 1130 Honecker, Margot  74 Hoppe, Johannes  680, 682, 697, 1102 Hörig, Günther  467 Horn, Heinz-Burkhard  1097, 1100, 1104 Hörnig, Johannes  13, 52, 117, 195, 340, 704 Hörz, Herbert  80, 152, 1125 Houtermans, Fritz G.  356, 602 Hultqvist, Bengt  709 Hund, Friedrich  55, 96, 116, 671 Huppert, Hugo  101 Huth, Heinz  677 Iffarth, Konrad  416 Illner, Arthur  350

1152

Anhang

Jackisch, Gerhard  682 Jager, Cornelis de  844, 848 Jäger, Friedrich W.  656, 665, 682, 697 Jahn, Günther  33, 36, 57, 177, 190 f., 216, 231–233, 256, 268, 284, 313, 319, 382, 395 f., 400, 430, 693, 744–748, 793, 800 f., 892, 894, 914, 920, 935 f., 938–941, 952 f., 955, 964, 966–969, 976 f., 986, 989, 991–993, 1023, 1068, 1084, 1089, 1128 f. Jahn, Horst  190 Jähn, Sigmund  675, 911 f. Jánossy, Lajos  91 Janson, Carl-Heinz  13, 28, 110, 117, 295, 300, 325, 330, 354, 953, 1130 Jaspers, Karl  129 Jemeljanow, Wassilij S.  605, 978–984, 988, 992, 1022 Joachim, Ralf  164 f., 323, 627, 673 f., 720, 816, 827, 877, 881, 885, 892, 896 f., 899, 902, 906–908 Joffe, Abram F.  93 Johannes vom Kreuz  342 Johnson, (R. E.)  854 f., 857 Jordan, Pascual  56, 122 Jordanow, Lubomir  104 Jungclaussen, Hardwin  421 f. Junge, Klaus  282, 754, 907, 1037 Junghans, Bernd  322 Jungk, Robert  993 f. Kaden, Franz  1105 Kahl, Joachim  132 Kairies, Heinz  33, 233, 310, 408, 919, 928 f., 931–934 Kallmann Hartmut  64 Kaluza (AMD)  461 f. Kalweit, Werner  164 Kant, Immanuel  54, 80, 83, 225 Kantorowicz, Alfred  139 Kantorowitsch, Leonid  287 Kaplan, Joseph  693 Karasek (MfS)  396 Karte, Gerd*  321, 653, 713, 716, 1030, 1033–1038, 1040, 1103, 1106–1108 Kasakin (UdSSR)  259 Kaul, Friedrich Karl  576, 578 Kautzleben, Heinz  19 f., 228, 658, 673 f., 677, 697 f., 700, 704, 714, 732, 735, 814, 843, 860, 866, 872 f., 878–880, 884 f., 887, 889 f., 896–898, 900 f., 907, 1085, 1087– 1089, 1095, 1112

Kedrow, Bonifati  95 f. Keil, Gerhard  541 f., 954 f. Keilson, Margarete  944 Keldysch, Mstislaw W.  697, 812, 866 Kemnitz, Werner  326 Kempe, Ralf  416, 446, 558 f., 569, 1080 Kempe, Volker  673, 700, 711, 717, 726, 779, 799, 801, 816 Kempke, Arwed  162 Kersten, Martin  48, 990 Keßler, Heinz  1006 Kienast, Franz  1020 Kienberg, Paul  1034 Kienle, Johann G.  176, 227, 299, 619 f., 640 Kilby, Jack  466 Kirillin, Wladimir A.  329, 500, 1121 Kittsteiner, Heinz D.  103 Klare, Hermann  105–107, 158, 168, 189, 195, 198 f., 206 f., 212 f., 217, 222 f., 228–231, 239, 251, 311, 314, 319, 681 f., 691, 704, 725, 779, 799, 830, 834, 838, 843, 883, 887, 889, 892–894, 896, 988, 1037 Klaus, Georg  123, 128, 130 Kleiber, Günther  426, 498, 526 Klein, Dieter  1069 Klein, Fritz  22 Kleine, Alfred  480 f., 585, 871, 876, 882, 1127 Kleinpeter (UNO)  853 Klemm, Horst  57, 211, 724, 730, 743 f., 746–748, 784, 793, 797–801, 807, 838, 864, 892 f., 912 Klemperer, Victor  112 Klenner, Hermann  1069 Klepel (MfS)  193 Klotz, Manfred*  218–220, 321, 705 f., 715 f., 726, 732, 763 f., 772 f., 776, 783, 792 f., 802 f. Knaut, Dieter  751 f., 755, 763, 768–771, 789, 795, 799 f., 810, 817, 822–824, 829, 831, 845 f., 850, 854 f., 859, 861, 867, 871 f., 876, 883, 891–893 Knoll, Peter  390 f., 396, 940 Knuth, Robert  674, 691, 700, 706, 718, 723, 759, 780, 787, 803, 841, 843, 851, 853, 893, 902, 906 f., 911 Kockel, Bernhard  55 f., 75, 306, 604, 936, 938, 962, 1046–1048, 1064 Köhler, Eberhart  463 Köhler, Roland  370 Köhler, Rudolf  104 Kohlmey, Gunther  260, 339 Koitzsch, Richard  321, 713, 1038–1040

Personenverzeichnis Kolesničenko, Ivan S.  291 Kolesnikow, Geroj A.  533 Kolman, Ernst  117 Költzsch, Peter  685 Kondratjew, Kirill J.  727, 740 Kopfermann, Hans  75 Koppehl, Thomas  343 f. Kornfeld, Paul*  1035, 1038, 1107 Koroljow, Sergej  358 Kortüm, Friedrich  645 Kortum, Herbert  175, 410, 1119 Koschke (MfS)  852 Kosel, Gerhard  444 Koselleck, Reinhart  11 Kosing, Alfred  86 f., 119 Kovalevsky, Jean  705 Kovdonjenko (UdSSR)  758, 761 Kowalczuk, Ilko-Sascha  10, 21, 341, 350 f., 405, 612 Kraatz, Helmut  314, 316 Krahl, Karl  414, 437, 441, 463 f., 466, 1041 Krause, Fritz  212, 1096 f. Krauss, Werner  295 Krebs (WPU Rostock)  138 f. Krenkel (MfS)  436, 438 f., 446 Kriegk (MfS)  186, 316, 1034 Kröber, Günter  1125 Kroitzsch, Viktor  121, 125, 158 f., 211–213, 254 f., 285, 449, 678 f., 698, 700, 704 f., 725, 731, 734, 738, 1081, 1085 f., 1094 f., 1109–1114 Krolikowski, Werner  141–143, 323, 426, 438, 447, 449, 463, 499, 532, 612, 641 Kropotkin, Pjotr A.  51, 986 f., 989 Krushkow, W. S.  112 Kuczynski, Jürgen  34, 78 f., 109, 124 f., 168, 199, 228, 231, 258–260, 271 f., 337, 361, 541 f., 870, 872, 880 Kuhn, Hans  270 Kuhn, Thomas  166 f. Kuntsche (ZK der SED)  403, 444 Kunze, Heinz Rudolf  17 Kunze, Paul  359, 948 Künzel, Horst  697 Kupfer, Dietrich  526 Lahusen, Christiane  22 f., 36, 606 Laitko, Hubert  8 f., 14, 21 f., 45 f., 152, 155, 190, 283, 298 f., 1123–1125 Lamberz, Werner  894 Lambrecht, Carl  641 Lambrecht, Hermann  641, 647

1153

Landau, Lew D.  92 Landwehr, Achim  44 Lange, Fritz  62 f., 407, 414, 437, 803, 1121 Lange, Werner  358 f., 1075 Lanius, Karl W.  183, 208, 414, 691, 729, 807 Lassalle, Ferdinand  135 Lässig (ZfK)  955, 967, 969 Last, Otto  350 Lau, Ernst  281 Laue, Max v.  83, 86, 96 Lauscher, Friedrich  613, 1132 Lautenschläger, Hans  690 Lauter, Ernst August  20, 31, 38, 124, 158, 170, 183, 192, 195, 199 f., 208–210, 212 f., 222 f., 248, 251, 254, 256, 286, 290, 307, 328 f., 331, 344, 586, 589, 613–618, 622–625, 630, 633–635, 640–642, 644, 646–649, 651–663, 665–688, 690–694, 696–702, 704–715, 717–743, 746, 749–752, 754–772, 774–785, 787–806, 808–896, 898, 900, 903–906, 909 f., 913–916, 918, 960, 1006, 1025, 1044, 1081 f., 1084, 1087, 1127 f., 1130, 1132–1134 Leber (URANIA)  133–135 Lehmann, Erich  466, 468, 552, 567, 584 f. Leibnitz, Eberhard  150, 189, 193, 227, 229 f., 234, 242, 250, 313, 319, 349, 437, 444, 894, 929, 935, 990, 1121 Leithäuser, Gustav  635–637 Lenard, Philipp  57 Lenin, Wladimir I.  49, 78, 83, 85, 87–90, 107, 119, 128, 135, 336, 338, 350, 612 Lepke, Gerda  104 Leupold, Wolfgang  191 Leuschner, Bruno  425, 462, 920, 944, 971 f., 1000, 1017 f., 1049 Levallois, Jean-Jaques  738 Lewin, Kurt  51 Ley, Hermann  123, 152, 616 Lindenberger, Thomas  22 Lingott, Günther  1068 Linnemann, Gerhard  326 Lippmann, Hans  75, 389, 559 f., 607 f. Locke, Kurt  567 Löffler, Kurt  348 Lohmann, Karl  177 Lonitz, Werner  360, 394, 417, 441, 467, 470, 550, 552, 560, 564, 578, 584–586, 588, 590–597, 601, 607, 1057, 1064, 1073 Lorenz, Erwin  717 Lösche, Artur  248, 303 f., 309, 479, 589, 700 f., 1065

1154

Anhang

Lucas (MfS)  115 Lucke, Otto  245 f., 642–644, 647, 649 f., 655 f., 658–663, 665, 669 f., 674, 697, 816, 913, 1121 Ludwig, Rolf   1105 Luft, Irmgard  133 f. Luhmann, Niklas  346, 351 Lungershausen, Wolfgang  415, 530, 536, 539, 544, 552, 557 f., 571, 575 f., 589, 601, 610 Lunze, Klaus  359, 384, 421 Lüscher, Edgar  41 Lyssenko, Trofim D.  128, 296–298 Mach, Ernst  59, 82, 91, 126, 128, 130, 338 Macke, Wilhelm  232, 359, 931, 948 Mader, Julius  1063 Mai, Karl  126 Maier, Harry  59, 258, 272 f., 275, 278–280, 282 f., 286–290, 323 f., 1068 Málek, Ždenék  224 Malichew (UdSSR)  931 Malycha, Andreas  21 Mandelstam, (Sergei?)  788 Marek, Karl-Heinz  627, 674, 716, 765, 911 Markert, Rolf  433, 562, 1057 Markowitsch, Erich  437, 444, 932 Marx, Karl  49, 54, 78, 94, 119, 135, 151, 225, 258, 276, 304, 541, 589 Massewitsch, Alla G.  649 f., 672, 763–765, 856 Matern, Hermann  955, 1017 Mattheuer, Wolfgang  104 Maurer, Hartmut*  601–604, 690, 1057, 1064–1067 Maxal, Bernd*  1046, 1048 May, Walter  63 Maye, Johannes  320, 404 f., 970, 972, 976 f., 982 f., 985, 988–990, 996, 1004 Mayer, Hans  140, 341 McNamara, Robert  509 Mecklinger, Ludwig  345 Meier, Felix  38 Meier, Klaus  21 Meinel, Hermann  683–686 Meitner, Lise  993 Melsheimer, Ernst  1029 Mende (westlicher Geheimdienst)  1038 Mende, Rolf  1082 f. Mendel, Gregor  296 Mendelsohn, Kurt  52 Menzel, Richard  376, 379, 381 Mercier, (A.)  753

Messerschmidt, Wilhelm  66 f., 656, 663, 674, 686, 913, 1133 Messner, Reinhold  76 Mewis, Karl  982 Meyer (DAW)  295 Michel (MfS)  430, 433 Mielke, Erich  9, 42, 112, 223, 306, 404, 568, 577, 593, 611, 698, 834, 838, 872, 894, 967, 995, 1007, 1019, 1029, 1069, 1080, 1090, 1127, 1130 Mierau, Fritz  55 Mierau, Sieglinde  55 Mieth, Hans-Jürgen  905 Migulin (UdSSR)  890 Mikojan, (Anastas?)  931 Misztal, Barbara  346 Mitschurin, Iwan W.  296 f. Mittag, Günter  13, 108, 110, 152, 222 f., 241, 262, 277, 323–326, 330, 354, 409, ­4 42–444, 448, 450, 459, 461, 463, 470, 472, 474, 498, 522, 545, 560, 568, 585, 610 f., 739 f., 742, 755, 871, 1127 f., 1130 Mittag, Rudolf  928 Mittenzwei, Werner  22 f., 79, 321, 606 Mittig, Rudi  223, 472, 490 f., 505, 545, 577, 585, 593, 598, 626, 678, 729, 732, 762, 795, 798, 894, 1090, 1127 Mitzenheim, Moritz  58 Mocek, Reinhard  257, 616 Model, Rudolf  1020 Modrow, Hans  597, 599, 601 Mögelin, Chris  1026 f. Möglich, Friedrich  56, 86 f., 116, 149, 236 f., 239, 362, 406 Mohaupt (DAW)  193 Möller, Fritz  692, 727 Mollwo, Ludwig  663, 665, 675, 682–684, 698, 1121 Montag, Gerhard  326, 783 Moore, Gordon  367 f. Morgenthal, Josef  37 f., 470 Moritz, Helmut  19 Mothes, Kurt  34, 66 f., 69, 190, 194, 200, 226, 298, 311, 314–316, 1131 Mückenberger, Erich  306 Mühlenpfordt, Justus  75, 349, 414, 492, 580, 925, 929, 933 f., 938, 987, 992 Mühlpforte, Robert  1090 Müller   932 Müller, Erwin W.  360, 535, 570, 580, 582 Müller, Joachim  140 Müller, Karlheinz  223, 282

Personenverzeichnis Müller, Rudolf  444 Müller, Uwe  1006 f. Müller, Vincent  259 Müller, Wolfgang  916, 920–922, 925 f., 928, 932, 970 f., 1023 Müller-Mertens, Ekhard  337, 339–342 Mundt, Wolfgang  121, 173, 202, 619, 858–861, 872 f., 878–880, 896, 901, 908, 910 Musiolek, Peter  339 Mutang, Peter*  940

1155

Obayashi, T.  856 Oberländer, Theodor  1063 Oertel, Dieter  717, 720, 724, 732, 737, 739, 806 f. Oertel (MfS)  566 Omeljanowski, Michail E.  128 Ostwald, Wilhelm  59, 83, 126, 128 Otterbein, Georg  149, 638, 640

Pätzold, Günter  57, 119, 734 f., 778, 801, 837, 859, 873, 880, 890, 895 f., 899, 901, 910 f., 1082–1090, 1094, 1096 f. Pätzold, Kurt  22 Pauli, Wolfgang  83 Pauling, Linus  124 Paulus  98 Peiter, Hermann  8 f., 17, 20, 37, 148, 255, 283 Pernter, Josef M.  630 Perwuchin (UdSSR)  931 Peschel, Horst  164, 444, 634, 650, 653, 687 f., 690, 695, 698, 770, 866, 878–880, 890, 1115, 1121 Peschel, Manfred  164 Peter, Matthias  344 Petőfi, Sándor  233 Petrosjanz (UdSSR)  996 Petrow, Boris N.  749, 756, 761, 771, 782 f., 812, 819, 844, 901 Pfaffe, Herbert  680 Pfau, Hans  712 f., 717–720, 722 f., 726–731, 733, 735 f., 738, 740–742, 750, 753, 763, 772, 788, 797, 800, 803, 805, 807, 816, 913 Pfetsch, Frank  7, 51 Pfüller, Siegfried  410, 414, 418 f., 451, 481, 493 Philipps, Horst  647, 649 Pieck, Arthur  1006 Pieck, Wilhelm  100, 293 Pieper, Josef  25 f., 273 Planck, Max  81, 83, 116, 355, 424, 616, 685 Plato  225 Plog, Karsten  322 Polanyi, Michael  15, 64, 254 Pommerin, Reiner  22 Ponomare``v, Boris N.  291 Pöschel, Hermann  428 Pose, Heinz  359, 929 f., 973 Preisendörfer, Peter  346 Prey, Günter  207, 251–253, 319 f., 782, 840, 842, 871, 1128 Priester, Wolfgang  856 Puschkow, Nikolai W.  652, 657, 709 Pyka, Ewald  585, 593

Panster, Klaus  867 Papapetrou, Achille  116, 753 Paris, Ronald  104 Parsons, Talcott  8 Parthey, Heinrich  93 Parthier, Benno  194 Parthier, Christiane  194 Patent (UdSSR)  112 f.

Raeck (Kommission Flugzeugbau)  1019 Rambusch, Karl  96, 243, 284, 382, 385–387, 394 f., 397, 399 f., 405, 414, 438, 918 f., 923 f., 928 f., 932, 934, 936, 938, 940, 943 f., 946, 952–955, 960–971, 973 f., 976–990, 994, 997, 1004, 1021 f., 1128 Ramsauer, Carl  77 Rapacki, Adam  947

Naumann, Robert  126 f., 339 Neef, Ernst  735 Nelles, Johannes  230, 444 Nendel, Karl  465–467, 473, 478, 582, 606 f. Nernst, Walther  62 Neubert (MfS)  510 Neuhoff, Heinz  1087, 1090 f. Neumann, Alfred  801 f. Neumann, Karl-Heinz  660 Neuß, Johannes  1118 Newton, Isaac  685 Neye, Walter  50 Nichtweiss, Johannes  114 Niederhut, Jens  694 Nikojan (UdSSR)  978 Nippel, Wilfried  31 Nitschke (MfS)  944 Nöckel (MfS)  470 Noll, Dieter  105–107 Nötzoldt, Peter  218 Nowikow, Nikolai  780 Noyce, Robert N.  466, 468, 478 Nushdin (UdSSR)  298

1156

Anhang

Rapoport, Samuel M.  183, 229, 444 Raschke, Ehrhard  727, 740, 752 Rau, Heinrich  462, 1007, 1010 Rauch, Georg v.  135 Rawer, Karl  706, 754, 756, 815, 858 Recknagel, Alfred  55, 232, 359, 574, 1047 f. Reichardt, Walter  359 Reichel, Rudolf  445 f., 463 f., 478 Reichelt, Hans  306 Reicheneder, Karl  650 f., 1115 f. Reichert (MfS)  935 Reichert, Mike  24, 920 f. Reintanz, Gerhard  840 Rekus, Johannes  317 Remek, Vladimir  675 Repenning, Kurt  1082 Rexer, Ernst  410, 602, 928, 935 f., 951, 972 Ribbecke, Horst  194, 268, 320, 371, 376–378, 557, 840, 854, 989, 992, 1004, 1012 Richter (MfS)  116, 935, 1025 Richter, Bernhard  248, 383, 602, 928, 951 Rienäcker, Günther  264, 311, 313–316, 679 Ripperger, Tanja  347 Ritchie, Ron  526 Röder, Karl-Heinz  1068 Roederer, Juan G.  728, 826, 867 Roesler, Jörg  261–263 Röhl, Herbert  1019 f. Roitzsch, (Werner?)  967 Rompe, Robert  15, 49, 56 f., 75, 79, 82, 85 f., 92 f., 116, 118, 152, 161–163, 168 f., 172, 175, 185, 187 f., 190, 193–195, 197, 200, 203 f., 206, 208, 226, 229, 231, 240, 248, 250, 255, 267, 270–272, 283, 295, 298, 305, 308–310, 313, 324 f., 362, 365 f., 404–410, 412–414, 418 f., 422, 424, 430, 434, 437 f., 442, 444–446, 448, 460, 463 f., 467, 479, 498, 568, 580 f., 588 f., 598 f., 602, 610, 636, 642, 649, 661, 663, 671, 674 f., 690 f., 693, 697, 707, 729, 734, 748, 807, 883, 886, 919 f., 927 f., 932, 936, 948, 951, 953, 960, 962–965, 968, 973, 977, 984, 988, 991–994, 1025, 1046–1048, 1101, 1119–1122, 1127 Ronneberger, Gerhard  465 Rosenberg, Werner  1068 Rosenfeld, Léon  116 Rosenthal, Walter  64 f. Rothe, Erich  356 Rother, Klaus  1087 Rotter, Friedrich  633 f., 647, 649 f., 652, 654, 658, 688, 690, 735, 1119

Ruben, Gerhard  75, 119, 159, 658, 682, 731, 750, 752, 777, 787 f., 808, 814, 837, 1085 f., 1096 f., 1102 f., 1114 Rücker, Günter  348 Rudert, Werner  293 Russel, Bertrand  124 Rust, Bernhard  77 Saar, Heinrich  335 Sabrow, Martin  43–45, 103, 107, 712 Sacharow, Andrei D.  840, 842, 847, 850 Sachse, Christian  85, 102, 122, 154 f., 300 Sagdejew, Roald S.  906 f. Sahl, Hans  46 Sandberg, Helmut  116 Sandig, Hans-Ulrich  1115 Sandig, Helmut  178 Sattler (MfS)  193, 392, 395 Sauber, Friedrich*  907 Saweyers (WMO, CAS)  835 Schädlich (MfS)  1093 Schädlich, Hans Joachim  1050 Schalck-Golodkowski, Alexander  1128 Schallreuter, Walter  85 Schatz, Gottfried  1132 Schauer, Lothar  120, 150, 360 Schauer, Werner  186, 375–382, 384 f., 926, 931, 1129 Scheler, Manfred  499 Scheler, Werner  134, 148, 906, 914 Schellenberger, Alfred  40, 53, 60, 71, 77, 159, 429, 1129 Scheufele, Holm  1060 f. Schick, Rudolf  150 Schintlmeister, Josef  248, 305, 358, 414, 921, 926, 929, 934, 938, 943, 952, 964, 992 Schirmer, Wolfgang  234 Schlegel, Wolfgang  359, 510, 604 Schleifstein, Josef  91 Schlesier (Vakutronik)   394 Schmalfuß, Karl-Heinz  302 Schmelovsky, Karl-Heinz  150, 210, 573, 644, 646, 648, 656, 663, 669 f., 672–674, 680, 682, 690 f., 697, 700, 706, 711, 717–721, 724, 726, 733, 737, 739, 741–743, 753, 763, 778 f., 785 f., 788, 793 f., 797, 807, 816, 841, 843, 905, 907–909, 912, 1082 Schmidt (Kontrollbeauftragter)  559 Schmidt, Karl-Heinz (Astronom)  663, 697 Schmidt, Karl-Heinz (Auslandsabteilung)  193, 640, 662, 666, 672, 692 f.

Personenverzeichnis Schmidt, Karl-Heinz (Verwaltungsleiter, HHI) ​ 779, 784, 793, 799, 848 Schmidtke (MfS)  550, 552, 560, 564 Schmollack, Jürgen  99 Schmutzer, Ernst  735, 752 f. Schnabel, Gerhard  603 f., 1041, 1050, 1055– 1060, 1062 f., 1071 Schnabl, Peter  1123 Schneider, Hans  477, 501, 508 f., 514, 517, 519, 528, 530, 532, 537 f., 565, 570, 577 Schneider, Rudolf  1058 Schnitzler, Karl-Eduard v.  122 Schober, Hans-Heinz  189–191, 244, 267 Schokin, Alexander I.  485, 535, 546 Schön, Hans-Dieter  699 Schöpf, Hans-Georg  735 Schottky, Walter  356 Schramm (bfi-Elektronik)  465, 467, 475–477 Schramm, Manuel  12, 21, 281 f., 345–347 Schröder  248 Schröder, Karl  925 Schrödinger, Erwin  91 Schubert, Horst  519 Schult, Erwin  199, 208–210, 717, 719, 724, 726, 730, 735, 739 f., 742 f., 749, 754, 778 f., 784 f., 787, 793 f., 799 f., 806 f., 816, 819, 829, 864, 896, 910 Schultz, Helga  41, 43, 103 f. Schulze, Reinhart  410 Schumann, Günter  932, 967, 973 f., 997 Schumpeter, Joseph A.  275, 279, 287 Schürer, Gerhard  152, 611, 881 Schütz, Wilhelm  602 Schwabe, Kurt  358, 414, 442, 444, 449, 580, 932, 952, 956 f., 961, 963 f., 966, 972, 988 Schwanbeck, Günt(h)er  387, 390 f., 396 Seeliger, Rudolf  187 Ségal, Jakob  336, 338 Seghers, Anna  113, 331 Seibt, Gustav  50 Seifert, Karl-Dieter  1007 Seiler (MfS)  430, 500, 550, 552, 560, 564, 1051 Selbmann, Friedrich (Fritz) W.  173–176, 230 f., 267, 284, 310, 314, 386, 388, 390–392, 400, 923, 925, 928, 931, 934, 939, 951, 953, 961, 977, 995, 999, 1001, 1022, 1074, 1127 Shan, Chang Chih  397 Shulin (UdSSR)  839 Siedentopf, Heinrich  253 Siemens, Werner v.  49, 288

1157

Silver (USA)  708 Simon, Beate  509 Simon, Rainer  1105 Sindermann, Horst  329 f., 461, 881, 1128 Singer, Hans  123, 335, 340 Söder, Günter  1068 Solschenizyn, Alexander I.  600 Sommer (MfS)  430 Sommerfeld, Arnold  76 f. Spaemann, Robert  29, 53 f., 100, 343 Spahn, Ilse  825 Spänkuch, Dietrich  819 Spitzner, Omar  444 Sprenger, Klaus  697, 756–758, 806, 829, 843, 868 Stahlmann, Richard  350 Stalin, Josef W.  12, 84, 88, 94 f., 97, 111 f., 114, 124, 130, 132, 259, 293, 300, 338, 350, 384, 469 f., 612 Stamm, Hans  586 Stanek, Josef  568 Stange, Thomas  20, 39, 921 Stark, Johannes  57 Starke, Helga  292 f. Steenbeck, Max  41, 49, 56 f., 72–75, 78 f., 92, 96, 103, 109 f., 132–136, 146–148, 156 f., 163–166, 168, 175 f., 179–183, 186–191, 194, 203, 206, 222–230, 233 f., 244 f., 247, 249 f., 255, 271, 279 f., 299 f., 308–311, 317 f., 329, 362, 370 f., 386, 414, 437, 442, 444, 462, 479, 489, 528, 552, 573, 575 f., 580 f., 601 f., 625, 650, 704, 730, 918, 921, 926–933, 939 f., 942 f., 948, 950, 952 f., 956–958, 960 f., 964–967, 973, 976 f., 980–984, 988 f., 991–993, 997 f., 1000, 1004 f., 1021, 1096 f., 1117 f., 1121 f., 1127, 1130 Steger, Otfried  344, 461, 466, 481–485, 487, 489, 491 f., 495, 499–501, 510 f., 527, 535, 537, 548, 599, 1128 Steiner, André  107–111 Steiniger, Peter A.  339 Steinitzer  194 Stelzmann, Volker  104 Stern, Fritz  45 Stern, Leo  65, 68, 195 Stern, Victor  85, 122 f. Sternberg, Klaus  335–338 Steudel, Hans  602 Steudel, Heinz  226 Stiller, Fritz  1116 Stiller, Gerhard  749

1158

Anhang

Stiller, Heinz  56 f., 164, 213, 228, 254, 542, 650, 658, 690, 697 f., 702, 704, 724 f., 730 f., 735, 743, 746, 771, 776–778, 783–785, 787 f., 792–794, 797, 800 f., 803, 807, 810, 813 f., 824, 840, 842 f., 845, 850, 859, 863 f., 867, 870, 879–881, 883–885, ­889–897, 899, 901, 904–910, 913, ­1086–1090, 1093, 1095, 1115–1119, 1128 f. Stiller, Werner  542 Stolze (MfS)  471 Stoph, Willi  74, 151, 181 f., 317, 329, 358, 380, 384, 389, 433, 481, 577, 579, 584, 718, 724, 739 f., 742, 755, 784, 927–929, 975, 1017, 1028 Straube (KMU Leipzig?)  96 Strauss, Martin   57, 84–92, 97, 116, 122 f., 135, 166 f., 235 f., 239, 270 f., 291, 336 Stroux, Johannes  149, 313 Stubbe, Hans  34, 175, 190, 296–299, 302, 306, 444, 729 Stubenrauch, Klaus  191, 706 f., 762, 771, 781–783, 787 f., 803, 812 f., 819, 901, 914 Stübner, Siegfried  1068 Stude, Sebastian  934 Stündel, Dieter  603 Süß, Walter  8 Switala, Eduard  33, 47, 70, 232, 399 f., 408, 919, 935, 938, 1010, 1019 Sydow, Werner  276 Szilárd, Leó  974 Tag, Helmut  1041–1045, 1051 Tandler, Agnes  24, 177, 281 Taubenheim, Jens  645, 647, 656, 663, 665, 674, 697, 706, 728, 742, 817–819, 825, 864, 866, 873, 878, 880, 884, 896, 907, 915 Täumer  697 Taut (MfS)  994 Taut, Heinrich  129, 338 Taylor, John  63 Tembrock, Günter  48, 298, 340 Teuchert, Hermann A.  140 Teupser, Christian  803 Teweles, Sidney  789, 791 Theß, Dietrich  481, 599, 1065, 1071 Thiel, (Rainer?)  338 Thiessen, Klaus  516 Thiessen, Peter Adolf  56, 150–153, 175, 177, 181, 183, 191, 227, 229, 234, 244, 264 f., 304 f., 309 f., 427, 430, 437, 442, 444–446, 457, 463, 580, 602, 921, 929–932, 939, 952, 960, 965, 973, 976 f., 1019 f., 1050, 1073

Thilo, Erich  54, 173, 176, 200, 226 f., 233, 239 f., 244, 265, 295, 298, 309–315, 433, 1131 Thümmler, Fritz  956 Timofejew-Ressowski, Nikolai W.  56, 1025 Tjul’panov, Sergej  112 Tomicas, Walter  105 Torricelli, Evangelista  630 Treder, Hans-Jürgen  49, 79, 85, 113, 158, 183, 208 f., 211–213, 248, 254 f., 331, 620 f., 730, 734 f., 753, 777–779, 784–788, 807, 810, 814, 883, 907, 1086, 1088, 1096 f., 1105 f., 1113, 1121 Treßelt (MfS)  931, 934 Tripphahn, Bodo  652 Trumbold, Harry  1119 Tschäpe, Rudolf  119 Tse-tung, Mao  396 Tzschoppe, Werner  115, 339 Ulbricht, Walter  7, 14, 17 f., 27, 34, 42, 55, 62, 72, 74, 108, 111, 122, 146, 151 f., 163, 190 f., 206, 211, 234, 237, 240, 243, 253, 262 f., 279–281, 284, 291, 295 f., 299 f., 302, 305, 312 f., 316, 318 f., 321–324, 326, 330 f., 333, 343, 351, 358, 375, 380, 384, 387, 395 f., 407, 409, 417, 431, 433, 486, 491, 495, 500, 507, 510 f., 518, 526 f., 593, 610, 684, 698, 920, 925, 927, 944, 949, 952, 955, 957, 964, 967, 969, 973, 999, 1008, 1026, 1028, 1044, 1050, 1076, 1085, 1092, 1127 f., 1130 Ullrich, Siegfried  717, 719, 724, 763, 785, 793, 807 Valniček (ČSSR)  706 Verner, Paul  323, 526, 775 f. Vieweg, Richard  288 Villain, Jean  113, 256–258 Vogel, Heinrich  94, 146, 616 Vojta, Günter  248 Volland, Hans  706, 856 Vollstädt, Heiner  803 Volmer, Max  229, 310, 356, 602, 921, 931, 992 Wagener, Hans-Jürgen  41, 43, 46, 103 f. Wagner (GIP)  656, 658 Wagner, Christian-Ullrich  212, 663, 697, 700, 706, 713, 718, 721, 724, 728, 736, 756, 758, 762, 776, 780, 804, 815, 817, 839, 841, 844, 853, 864, 913, 1094 Wallis, Günter  656, 665, 686

Personenverzeichnis Walter, Otto  47, 313, 399, 404, 967, 987 Walzel, Fred  320 Wandel, Paul  407 Warburg, Otto  63, 96 Warnke, Johannes  688 Watznauer, Adolf   735 Wawilow, Sergei I.  236 Weber, Mathias  59 Weber, Max  45, 64 f., 133 Wehrs, Nikolai  509 Weick, Karl  25 Weidauer, Herbert  312 f., 387, 987 Weidensporn, Karl*  213, 215–217, 220–222, 241, 929, 933, 938 Weigt, Gerhard  22 Weimer, Victor  612 Weinberg, Steven  92 Weise, Hans  713 f., 1109, 1112 f. Weiss, Carl Friedrich  602, 921, 925, 928, 930, 935 f., 938, 948, 951, 972 Weiss, Paul  451 Weiß (ZK der SED)  558 f. Weiß, Peter U.  344 Weißbach, Dieter  763, 829, 985, 992 Weißkopf, Victor F.  81, 621 Weißmantel, Christian  372, 479, 586, 589, 605 Weiz, Herbert  13, 152, 182, 191, 195, 199, 222–224, 249, 251, 319, 329, 345, 437, 442, 444, 447 f., 461, 463, 518, 572 f., 575, 625, 665, 681, 691, 693, 706 f., 717, 721, 724, 733, 735, 737, 742, 755, 761, 777 f., ­780–782, 787 f., 793, 806, 813, 823, 830, 834, 838, 841 f., 845–847, 854, 871, 881, 887 f., 893 f., 897, 901, 991, 1020, 1121 f., 1127 f. Weizel, Walter  56, 86, 406 Weizsäcker, Carl Friedrich v.  68–70, 81, 671, 924 Wekker, Rudi  419, 430, 435, 437, 439 f., 442, 444, 462 f. Welk, Ehm  616 Welpe, Anton*  1038 Wempe, Johann  620, 641, 647–649, 656, 665, 682, 1116 Wenzel, Richard  33, 381, 651 Werestschetin (UdSSR)  771, 819 Werner, Heinz  567 Westphal, Wilhelm  71, 355 f.

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Wettengel, Ilja  902 Wetz, Franz Josef  31 Wetzel, Klaus  211, 350, 944–946 Wieczorek, Ludwig  185 Wiendieck, Gerd  26 Wiese (Raumforschung)  697 Wiese, Peter  332–336, 342 Wieynk, Ralf  909, 911 Winde, Bertram  242 f., 419, 423, 427, 430 f., 444, 582, 928, 931 f., 942 f., 952, 954, 957, 961, 967, 970, 973, 982 f., 1021 f., 1128 Winogradow (UdSSR)  979 Wittbrodt, Hans  189–191, 264–268, 386, 407, 717, 724–726, 728–730, 737, 739–741, 749, 753, 763, 770 f., 773, 778 f., 793 f., 797, 799, 803, 806 f., 816, 857, 920, 928, 932, 943, 992, 1119 Wittbrodt, Wilhelm  266 Wolf (MdI)  700 Wolf, Konrad  1105 Wolf, Markus  152, 749, 967 Wollweber, Ernst  302 f., 407, 1028 Wucht, Paul*  1031, 1121 Wunderlich, Helmut  1015, 1017 Wyschofsky, Günther  320, 444, 932, 996 f. Zahn, Wolfram  465, 475–477, 483, 547, 1052 Zaisser, Wilhelm  47, 292 Zapfe, Hermann  323, 904–908, 911 f. Zappe, Alfred  321, 650, 653, 681, 687 f., 694 f., 738, 1106–1109 Zehm, Günter  340–342 Zeiler, Friedrich  383, 389, 936–938, 953, 968 Ziche, Frank  31 f. Ziert, Lotar  193–197, 199, 209 f., 242 f., 256, 393, 698 f., 727, 729, 732, 940, 942 f., 985 f., 990 f., 1129 Ziggel, Siegfried  1099 Zillmann, G.  730 Zimmer, Harro  777, 851 Zimmermann, Gerhard  698, 707, 717–719, 726, 728, 730, 733, 739 f., 753, 778, 784, 793 f., 800 f., 806 f., 827, 905, 907, 915 Zippe, Gernot  921 Zweigert, (Konrad?)  1025 Zweiling, Klaus  122 f. Zwicky, Fritz  268 f.

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Anhang

7.3 Decknamenverzeichnis »Achim Weikert«  1079 »Agronom«  702 »Alexejew«  374 »André«  491, 496, 533 f., 539, 552, 1057, 1070, 1072 f. »Annekathrin«  218, 321, 705 »Anton«  268 »Architekt«  265, 1049 »Armin«  1010 »Astronom«  119, 731, 1085, 1094, 1100, 1103 »Bachstelze« (IMK/KW)  1110 »Bayer«  1057 »Bernd«  120 »Bernhard«, zuvor »Elektronicus«  47, 772, 790, 799, 874, 883, 913 »Beumann«  388 »Biene«  239 »Böttger«  699, 717, 719 f., 724, 736, 754, 807 »Buch«  114 »Buchholz«  579 »Burg«  70 »Charlotte«  799 »Christian«  731 »Christina«  911 »Dagmar«  199, 717, 864 »Dieter« (HFIM)  1092, 1094, 1097, 1099, 1104, 1111 »Dietrich«  717, 806 »Dingeldein«  185–188 »Dora«  374 »Dresden«  331 »Dschungel«  909 »Edith«  929 »Elektronicus«, später »Bernhard«  s. dort »Erhardt«  320 »Erich Arnold«  1087 »Erlkönig«  697 »Feder«  1110 »Federow«  375 »Feld«  793 »Frank«  1057 »Franke«  1057 »Fritz«  282, 1037

»Georg«  107 »Geos« 108, 121, 213, 449, 678, 1081, 1085 f., 1100, 1109–1111 »Gerlach«  212, 255, 725, 773, 1093 f., 1103 »Glaß«  463 »Gontard«  1074 »Gotha«  1100 »Günter Martin«  115 »Günter Weiß«  129 »Hahn«  919 f., 940 »Hans«  667, 694, 751, 772, 799, 830, 834, 837, 854 f., 883 »Hans Müller«  1057 »Hans Torna«  714 »Harald«  660 »Heide«  127 »Heinz Ludwig«  321, 653, 738, 1107 »Heinz Vogt«  1100, 1114 »Horst«  1057, 1082 »Ines Wagner«  565 f. »Inge«  298 »Irene«  226 f., 314, 993 »Jansen«  1120 f. »Jochen Gränz« (HFIM)  1100, 1111 »Karl«  193, 196 f., 393, 698, 940, 1101, 1103 f., 1106 »Karl Wagner«  186, 375, 377 f., 380, 384 f., 926 »Kiewski«  374 »Kino« (IMK/KW)  1100, 1110 »Klaus-Dieter«  107 »Klaus Stephan«  720, 877 »Kosmos«  57, 119, 734, 778, 1082 f., 1089 »Köstner«  1078 »Krümel« (IMK/KW)  1110 »Kupfer«  402 f., 409 »Kurt«  243 »Laika«  1019, 1074 »Laser«  714, 901 »Leitz«  96, 118, 924, 936, 1025 »Leo«  945 »Licht« 855, 883 »Liedmann«  992 »Lorenz«  514

Decknamenverzeichnis »Lowkatsch« (KGB)  866 »Lutz Werner«  1102 »Mai«  608 »Marianne«  698 f., 799, 883, 896 »Marquardt«  1123 »Martin«  56, 697, 806, 913, 1086, 1116 »Menzel«  1078 »Messing«  526 »Meyer Peter«  909 »Mohr«  542 »Müller«  163, 183, 211, 242 f., 349 f. »Nichtraucher«  882 »Nobi«  269 »Norbert«  699 f., 772, 799 »Norbert Wiener«  1101 »Omega«  1087 »Paul Hoppe«  904 »Paul Rose«  320 »Pavel«  712, 718, 726, 736, 772, 799, 913 »Peter«  374, 987, 989, 1086 »Peter Ermisch«  1100 »Petra«  310 »Planitz«  217 »Rainer«  1082 »Rehak«  1078 »Reinhard Frank«  867 f., 875 »Reinhardt«  394 f. »Rembrandt«  374, 936 »Richter«  488, 514 f., 517 f., 525, 564 »Roland«  1087

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»Rolf«  465, 475, 477 »Rolf Berger«  560 »Rolf Donath«  1100 »Romanze«  107 »Rose«  771, 774, 1092, 1094 f. »Rosengarten« (IMK/KW)  926 »Rüdiger«, später »Rügen«  55, 390, 488, 533, 539, 569, 610, 934, 1030, 1041, 1070, 1072 f., 1078 »Saale«  465 »Schmidt«  1011–1014 »Schreiber«  107 »Schubert«  426, 429, 435, 462, 488, 553 »Seidel«  699 »Senftleben«  213 »Sommer«  413 »Sperling«  698 »Stern«  282 »Stratosphäre«  674 »Theo«  434, 486–488, 492, 494 f. »Tobak«  266 »Ulli«  216 »Walter«  1100 »Weiß«  707, 763, 799 »Werner«  991 »Wirth«  144 »Wismut«  120 »Woithe«  388, 399 »Zündkerze«  378, 385 f., 388 f., 391, 394, 398 f.

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Anhang

7.4  Rechtenachweis zu den Abbildungen Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35 Abb. 36 Abb. 37 Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44

Feingerätetechnik. Technisch-Wissenschaftliche Zeitschrift für Feinmechanik, Optik und Messtechnik sowie für Gütekontrollfragen in der metallverarbeitenden Industrie 16 (1967), H. 2 (Februar), Titelseite BArch, Bild 183-2003-0612-500/Laupenmühlen BStU, MfS, BV Halle, AOP 3557/69, Bd. 20, Bl. 5 BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. XX, Nr. 1004, Bl. 4 Nachtexpress / Fleischer Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann Privatbesitz Lothar Schauer, Markdorf BArch, Bild 183-H0528-0027-001/Franke BArch, Bild 183-F0418-0001-055/Kohls SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Roger Rössing & Renate Rössing BArch, Bild 183-33793-0007/Siegert BArch, Bild 183-F0418-0001-017/Kohls BArch, Bild 183-68233-0002/Schaar Privatbesitz Renée Hartmann, Dresden Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann BStU, MfS, ZAGG, Fo 55, Bild 4 Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann Helios Postkartendienst Glindow, Werder Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. XVIII, Nr. 13, Bl. 83 Privatbesitz Renée Hartmann, Dresden Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden, Nachlass Hartmann Fotogramm aus Bild der Wissenschaft (1970) 9, S. 862. Hier wurde eine rechteckige »Verletzung in der Größe von 1 bis 2 mm 2 gefunden; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 38, Bl. 40 BStU, AOP 2554/76, Bd. 8, Bl. 307 BStU, AOP 2554/76, Bd. 21, Bl. 41 Privatbesitz Dieter Garte, Dresden Getraud Grieshammer, Schöneiche Privatarchiv des Autors BArch, Bild 183-1988-0907-006/Sindermann Privatarchiv des Autors Handskizze auf Grundlage der topografischen Übersichtskarte N-33-XXV (Neuruppin); BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 37 Monika Schulz-Fieguth, Potsdam Beobachtungsbericht vom 3.11.1972, BStU, MfS, AOP 5217/77, Bd. 3, Bl. 127 Eckard Zobel, Altglienicke BArch, Bild 183-48859-0001/Wittig BArch, Bild 183-T0709-0156/Link BStU, MfS, AIM 2753/67, Teil I, 1 Bd., Bl. 310 BStU, MfS, AOP 10660/67, Bd. 9, Bl. 272 BStU, MfS, AU 7173/66, Bd. 29, Bl. 26 Privatbesitz Klaus Scheufele, Mechelroda/Linda

Rechtenachweis zu den Abbildungen

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Wir danken allen Rechtegeberinnen und Rechtegebern für die freundlich erteilten Abdruckgenehmigungen. In Fällen, in denen es nicht gelang, Rechteinhaber an Abbildungen zu ermitteln, bleiben Honoraransprüche gewahrt.

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Anhang

7.5 Literaturverzeichnis Zeitungsartikel 70. Geburtstag, in: Neues Deutschland vom 4.5.1955, S. 4. Anderl, Sibylle: Forschung über Wahrheiten, in: FAZ vom 20.4.2013, S. N 5. Ardenne, Manfred von: Deutsche Kernphysik, in: Neues Deutschland vom 7.12.1955, S. 3. Atomwissenschaftliche Beratung in Dresden, in: Neues Deutschland vom 2.9.1955, S. 1 f. Bovenschulte, Marc / Gaus, Olaf: Die Kapitalisierung des Wissens. Erkenntnisgewinn unter Begründungsdruck: Wem nützt, wer versteht die Forschung?, in: FAZ vom 13.9.2000, S. 56. Der philosophische Opportunist. Ost-Berliner Soziologen-Fehde, in: Der Tagesspiegel vom 19.12.1957, S. 4. Demougin, Dominique: Planwirtschaft an den Universitäten. Der deutsche Rückstand gegenüber Amerika hat weniger mit unzureichenden Leistungsanreizen für Professoren als mit mangelnder Autonomie zu tun, in: FAZ vom 15.7.2000, S. 15. DDR-Atomenergie, in: Neues Deutschland vom 12.11.1955, S. 1. Ebbinghaus, Frank: Der Preis der Forschungsfreiheit, die sie meinten. Taten deutscher Wissenschaftler innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft während des Dritten Reiches und danach: Ein Forschungsbericht, in: FAZ vom 29.1.2002, S. 49. Ein neuer Industriezweig in der DDR (Flugzeugwerft), in: Neues Deutschland vom 28./29.7.1956, Beilage, S. 3. Ein Werk mit großer Zukunft, in: Sächsische Zeitung vom 26.10.1961. Erster Kongress der KdT, in: Neues Deutschland vom 4.12.1955, S. 1. Flöhl, Rainer: Weniger Forschungsbürokratie? Programmbudgets für die Leibniz-Gemeinschaft / Größere Flexibilität angestrebt, in: FAZ vom 2.10.2002, S. N1 f. Friedrich, Walter: Wissenschaft in einem geeinten Deutschland, in: Nationalzeitung vom 31.1.1954, S. 7. Frühauf, Hans: Industrie-Elektronik, in: Neues Deutschland vom 4./5.8.1956, Beilage, S. 3. Genosse Erich Apel gestorben, in: Neues Deutschland vom 4.12.1965, S. 1. Grote, Claus: Kein x-beliebiges Institut, in: Neues Deutschland vom 17.5.2002. Hartlepp, Heinz: Moderne Flugzeugantriebe, in: Neues Deutschland vom 27./28.10.1956, Beilage, S. 3. Herz, Heinz: Die Rolle der Intelligenz im Sozialismus, in: Ostsee-Zeitung vom 24.1.1957. Honecker, Margot: Der gesellschaftliche Auftrag unserer Schule, in: Berliner Zeitung vom 19.10.1978, S. 3 u. 6. Junghänel, Frank: Das Flugzeug, das es niemals gab, in: Berliner Zeitung vom 3.12.2008, S. 3. Jungk, Robert: Er nahm niemals ein Blatt vor den Mund. Prof. Barwich: Ein Kernphysiker, der die Freiheit suchte, in: Die Zeit vom 18.9.1964, S. 6. Kempermann, Gerd: Freiheit, die wir meinen. Naturwissenschaftler wollen und müssen unabhängig sein – man lässt sie nur meist nicht, in: FAZ vom 10.1.2003, S. 39. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Der Tanker schlingert, in: TAZ vom 20.4.2016, S. 15. Neubauer, Hans-Joachim: Exil und Wissenstransfer. Remigranten an deutschen Universitäten, in: FAZ vom 1.3.2000, S. N 5. Neuer Präsident der DAW, in: Neues Deutschland. Beilage vom 26.2.1956, S. 3. Neues über die Luft. Meteorologie beteiligt, in: Freiheit vom 24.9.1976, Wochenendbeilage »blick«, S. 10. Peitsmeier, Henning: Siemens beschwört den Erfindergeist, in: FAZ vom 9.12.2015, S. 22. Plog, Karsten: Vorfahrt für die Ideologie. Wissenschaftler in der DDR: Höchste Produktivkraft oder Gehilfen der Arbeiterklasse? – Kritik an Ulbricht, in: Die Zeit, Nr. 8, vom 25.2.1972, S. 54. Rosenthal, Walter: Die Helmholtzifizierung der deutschen Wissenschaft, in: FAZ vom 3.4.2013, S. N 5.

Literaturverzeichnis

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Schatz, Gottfried: Hemmschuhe der Forschung. Unsere vergeudeten Talente: Die europäische Wissenschaftspolitik setzt fragwürdige Mittel ein, um den Erkenntnisgewinn zu fördern, in: FAZ vom 24.1.2001, S. 56. Schluss mit Spionage und Sabotage! Maßnahmen zur Minderung der Spannungen in Deutschland, in: Neues Deutschland vom 10.2.1956, S. 1. Schröder, Richard: Nachdenken über die DDR, in: FAZ vom 31.8.2004, S. 6. Schubert, Horst: Der feste Boden unter den Füßen. Wie ein Wissenschaftler zu den wichtigsten Erkenntnissen seines Lebens kam, in: Beilage Nr. 26 der Tageszeitung »Freies Wort« vom 30.6./1.7.1972, S. 2. Schubert, Horst: Der Weg aus der Leere. Porträt über Nationalpreisträger Professor Dr.-Ing. habil. Werner Hartmann, in: Beilage Nr. 19 der Tageszeitung »Freies Wort« vom 8.5.1971. Staadt, Jochen: Dritte Geige. Polizeiarbeit in der frühen DDR, in: FAZ vom 4.3.2004, S. 7. Taut, Heinrich: Marxistische Philosophie ist unvereinbar mit revisionistischen Auf‌fassungen. Bemerkungen zu den Ansichten des Dozenten Dr. F. Herneck, in: Neues Deutschland vom 18.12.1957, S. 4. Teschner, Gertraud: Zum 100. Geburtstag Stalins, in: Berliner Zeitung vom 22./23.12.1979, S. 10. Toptschijew: Nutzung Atomenergie, in: Neues Deutschland vom 9.3.1955, S. 6. Trauer um Erich Apel, in: Neues Deutschland vom 5.12.1965, S. 1 u. 3. Ulbricht, Walter: Referat auf der 11. Tagung des ZK der SED, in: Neues Deutschland vom 18.12.1965, S. 3–11. Vor 50 Jahren an der Rudower Chaussee: Start für die akademische Forschung, in: Adlershofer Zeitung, Nr. 77, 9/2000, S. 8. Wir gingen freiwillig, in: Hamburger Abendblatt vom 4.2.1956, S. 1. Wissenschaftlich-technische Räte, in: Neues Deutschland vom 7.8.1955, S. 3. Wissenschaftlicher Rat für Atomenergie, in: Neues Deutschland vom 12.11.1955, S. 2. Zeitungsinterview anlässlich des 100. Geburtstages Einsteins, in: Der Morgen vom 10./11.3.1979, S. 7.

Aufsätze, Broschüren und Bücher Abalkin, Leonid: Über die Aufarbeitung der geschichtlichen Erfahrung in der sowjetischen Wirtschaft, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 41(1988)2, S. 120–128. Abele, Johannes: Kernkraft in der DDR. Zwischen nationaler Industriepolitik und sozialistischer Zusammenarbeit 1963–1990. Dresden 2000. Absolventen für das Jahr 2000, in: URANIA 30(1967)3, S. 8–15. Amberger, Alexander: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR. Paderborn 2014. Améry, Jean: Unmeisterliche Wanderjahre, in: Scheit, Gerhard (Hrsg.): Améry, Jean. Werke. Bd. 2. Jenseits von Schuld und Sühne. Stuttgart 2002. Amos, Heike: Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949–1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat. Münster 2003. Anonyme Verfasser: Aus dem Leben eines Berufsrevolutionärs. Erinnerungen an Richard Stahlmann. Gedruckt: Offizin Andersen Nexö, jedoch nur im MfS »verteilt«. Leipzig 1986. Anthologie: Windvogelviereck. Schriftsteller über Wissenschaften und Wissenschaftler. Berlin 1987. Augustine, Dolores L.: Red Prometheus – Engineering and Dictatorship in East Germany, 1945–1990. Cambridge 2007. Baberowski, Jörg / Patel, Kiran Klaus: Jenseits der Totalitarismustheorie? Nationalsozialismus und Stalinismus im Vergleich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57(2009)12, S. 965–972. Bahro, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Berlin 1990. Barkleit, Gerhard / Dunsch, Anette: Anfällige Aufsteiger. Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in Betrieben der Hochtechnologie. Dresden 1998.

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Angaben zum Autor Reinhard Buthmann, Dr. phil., DDipl.-Ing., Dipl.-Betriebswirt (VWA), geboren 1951 in Altentreptow. Studium der Technischen Optik in Jena, der Gerätetechnik des Elektroingenieurwesens in Dresden, der Betriebswirtschaft in Berlin sowie der Philosophie, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Psychologie an der FernUniversität Hagen. 2012 Promotion an der Leibniz Universität Hannover. Von 1976 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kosmosforschung der Akademie der Wissenschaften, von 1992 bis 2017 Mitarbeiter des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen der ehemaligen DDR, insbesondere im Bereich Bildung und Forschung. Themenbezogene Veröffentlichungen: Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms. Berlin 1997; Die Objektdienststellen des MfS (MfS-Handbuch). Berlin 1999; Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des MfS in Wissenschaft und Forschung der DDR. Berlin 2000; Die Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung (MfS-Handbuch). Berlin 2003; Konfliktfall »Kosmos«. Die politische Geschichte einer Jugendarbeitsgruppe in der DDR. Köln, Weimar, Wien 2012 sowie Aufsätze zur Lebenswelt der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz und zur Empirie und Theorie widerständigen Verhaltens.