Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industrieller: Band 122 Mai 1911 [Reprint 2021 ed.] 9783112467688, 9783112467671


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Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industrieller: Band 122 Mai 1911 [Reprint 2021 ed.]
 9783112467688, 9783112467671

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Verhandlungen, Mitteilungen und

Berichte des

Ceutralverduudrs Deutscher Wustrieller. M 122. ^erausgegeben von

Dr. jur. Kchweighoffer, Generalsekretär des (Lentralverbandes Deutscher Industrieller, Berlin W9, Linkstr. 25 (Fuggerhaus). Telephon: Amt VI, Nr. 2527.

Mai 1911.

Berlin 1911. I. Gnttentag, Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H.

Inhaltsverzeichnis. Sitzung -es Ausschusses

Seile 5

Sitzung -er Delegierten

8

Vorfitzender Landrat Rötger . 5, 8, 11, 38, 43, 58, 70, 79, 88 Hngenberg 11 Schweighoffer ............................................................. 12, 39, 43 Wandel 43, 70, 88 Moldenhauer 44 Schmigalla 58 von Lyncker 79 Dilloo 85

Beschlüsse -er Delegiertenversammlung

Liste -er Anwesen-en Ausschutz Delegierte

90, 94 99

99 104

Eentralverban- Deutscher Industrieller.

Sitzung des Ausschusses

am 27. April 1911 ;u Berlin im „Hotel Adlon".

Ter Vorsitzende, Herr Landrat a. D. Rötger, eröffnet die Sitzung abends 6 Uhr. Es berichtet zunächst der Geschäfts­ führer, Herr Regierungsrat a. D. Dr. Schweighoffer, über d,ie Revision der Rechnung des Jahres 1910. Die Rechnungen sind von den Rechnungsrevisoren geprüft und es ist gemäß § 13 der Statuten der Geschäftsführung Entlastung erteilt worden. Der Ausschuß nimmt den Bericht ohne Diskussion zur Kenntnis. In die Kommission zur Prüfung der Rech­ nung des Jahres 1911 werden die Herren Baurat KrauseBerlin, Generaldirektor Winkler- Berlin und Generaldirektor W e r nr i n g h o f f - Dresden wiedergewählt. Zugewählt in den Ausschuß werden die Herren Generaldirektor Geh. Kom­ merzienrat Fromm, Maxhütte bei Rosenberg, und Kommerzienrat K r ö n e r - Kiefersfelden. Auf Anregung des Direktoriums erklärt sich der Ausschuß damit einverstanden, daß der Delegiertenversamm­ lung der Vorschlag gemacht wird, die Zahl der Mitglieder des Direktoriums von 12 bis zu 18 zu erhöhen. Herr Regierungsrat Dr. Schweighoffer gibt sodann zu seinem in der nachfolgenden Delegiertenversammlung abzustattenden Be­ richt über die Reichsversicherungsordnung eine kurze Einleitung, in welcher er ausführt:

6 Die Stellungnahme, die der Centralverband Deutscher In­ dustrieller bisher zu dem Entwurf der Reichsversicherungsordnung in seinen früheren Entschließungen vom 12. April und vom 9. De­ zember vorigen Jahres eingenommen hat, war zwar eine scharf kritisierende, aber doch keineswegs eine ablehnende. Der Central­ verband ging hierbei von der Erwartung aus, daß der Entwurf der Reichsversicherungsordnung, der ja durchweg einer ziemlich abfälligen Kritik unterlegen hat, bei der Beratung in der Kommission doch noch eine Ausgestaltung erfahren würde, die diesen Gesetzentwurf für die Industrie annehmbarer und erträglicher machen würde. Es wurde damals in der Entschließung die Hoffnung aus­ gesprochen, daß in sehr wesentlichen Punkten die scharfen Be­ stimmungen des Entwurfes sowohl in organisatorischer als in materieller Beziehung abgeändert und gemildert werden würden. Diese Erwartungen und diese Wünsche sind zum größten Teil un­ erfüllt geblieben, und es muß daher dieses Ergebnis der Kommissionsberatungen auch die Stellungnahme des Centralverbandes beein­ flussen. Wenn sich somit die Geschäftsführung gestattet, mit Zu­ stimmung des Direktoriums den Delegierten morgen eine Resolution vorzulegen, die ganz erheblich schärfer klingt, als es bisher in den beiden letzten Delegiertenversammlungen der Fall ge­ wesen, so geschieht das aus diesen Erwägungen heraus. Die In­ dustrie wird mit ganz gewaltigen Belastungen und Belästigungen zu rechnen haben, sowohl auf dem Gebiete der Krankenversicherung, wie auf dem Gebiete der Unfallversicherung und Invalidenversiche­ rung und namentlich auch auf dem Gebiete der Organisation der Behörden. Es wurden die einzelnen Sätze der vorgeschlagenen Resolu­ tion verlesen und erörtert. Die vorgenommenen Aenderungen sind meist redaktioneller Art. Sodann wurde zur Beratung des Entwurfs eines Ver­ sicherungsgesetzes für Angestellte übergegangen. Ein­ leitend wies der Vorsitzende darauf hin, daß in einer Vorbesprechung am 4. März d. I. dieses sehr komplizierte Gesetz bereits eingehend be­ handelt worden ist. Es wurden da ausgezeichnete Referate erstattet, die in Heft 121 der Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes vollständig wiedergegeben und bereits in den Händen der Mitglieder sind. Die nunmehr vorgeschlagenen Be­ schlußanträge werden nach Absätzen verlesen und erörtert und schließlich ebenfalls mit einer Anzahl nicht wesentlicher Aenderungen angenommen.

An den Debatten beteiligten sich die Herren: Landrat R ö t g e r - Berlin, Regierungsrat Dr. Schweig hofferBerlin, Kommerzienrat Langen- München-Gladbach, General­ direktor R e u s ch - Oberhausen, Geheimrat Kirdorf- Gelsen­ kirchen, Kommerzienrat M e n ck - Altona, Direktor MüllerNeunkirchen, Generalsekretär B u e ck - Berlin, Professor MoldenHauer- Köln, Justizrat Wandel- Essen, Chefmathematiker Schmigalla - Berlin und die Generalsekretäre und Syndici Dr. Beumer- Düsseldorf, Dr. Tille- Saarbrücken, StumpfOsnabrück, Dr. Dietrich- Plauen. Sodann machte der Vorsitzende noch Mitteilungen über die B u e ck s p e n d e, wie sie tags darauf auch in der Delegiertenversammlung gegeben wurden und aus dem nachstehenden Bericht zu ersehen sind. Der Ausschuß erklärte sich mit den vom Direktorium unterbreiteten Vorschlägen einverstanden. Die Sitzung schloß um 8^ Uhr.

Versammlung der

Delegierten des Gentralverbandes Deutscher Industrieller zu Berlin tm „Hotel Adlon"

am 28. April 1911, vormittags 11 Uhr.

Vorsitzender Landrat Rötger-Berlin: Meine Herren! Ich eröffne die Delegiertenversammlung und heiße namens des Direk­ toriums die Herren Delegierten und unsere werten Gäste, die hier­ erschienen sind, herzlich willkommen. Insonderheit gestatte ich mir, die Herren von der Reichs- und Staatsregierung willkommen zu heißen. Ich hoffe, daß das Interesse, welches Sie durch Ihr Er­ scheinen unseren Verhandlungen schon entgegengebracht haben, im Laufe der Verhandlungen belohnt werden wird.

Meine Herren! Bevor ich in die Erledigung der Tagesordnung eintrete, möchte ich einige wenige Worte der Einleitung zu Ihnen sagen. Wiederum haben wir uns heute mit zwei großen sozialpolitischen Gesetzesvorlagen zu beschäftigen, von denen die eine, die Reichsv e r s i ch e r u n g s o r d n u n g , in der Delegiertenversammlung schon wiederholt in eingehenden Referaten und Debatten behandelt, die andere, das Angestelltenversicherungsgefetz, im Zusammenhang mit der Stellungnahme des Centralverbandes zur Weiterentwicklung der sozialpolitischen Gesetzgebung in der Delegier­ tenversammlung im Herbst des Jahres 1907, deren Ergebnisse für uns programmatische Bedeutung erlangt haben, wenigstens in bezug auf einige grundsätzliche Fragen in die Erörterung und Beschluß­ fassung einbezogen worden ist.

9 Zu beiden Vorlagen ist in dem Centralverband Deutscher In­ dustrieller ein sehr erhebliches Maß von Arbeit, vor allem stiller Arbeit, geleistet worden; unter selbstlosester Mithilfe hervorragender Sachverständiger aus unseren Kreisen ist unsere Geschäftsführung rastlos bemüht gewesen, namentlich während der Verhandlungen der Kommission für die Reichsversicherungsordnung eine unendliche Menge von Kleinarbeit zu bewältigen, um für die Beschaffung von Material zwecks tatsächlicher Information der Gesetzgeber Sorge zu tragen. Und ebenso haben wir mit Hilfe der ausgezeichneten Kräfte in den Kreisen unserer Mitglieder, wie Sie aus dem Heft 121 unserer Mit­ teilungen ersehen haben werden, den Entwurf des Versicherungs­ gesetzes für Angestellte einer sehr eingehenden und, wie wir hoffen dürfen, auch nutzbringenden Untersuchung unterworfen, deren Er­ gebnisse Ihnen in den heutigen Referaten und Befchlußanträgen unterbreitet werden sollen. Ich darf es nicht unterlassen, bei der heutigen Gelegenheit allen den verehrten Herren den warmen Dank des Direktoriums des Centralverbandes Deutscher Industrieller für ihre hingebende, opfer­ willige Mitarbeit auszufprechen, besonders aber möchte ich an dieser Stelle den Dank auch wiederholen, den wir den Herren Referenten im Reichsamt des Innern, den Geheimen Oberregierungsräten Herren Koch und Beckmann schulden für ihre ausdauernde und liebenswürdige Mitarbeit in der Sitzung Dom 4. März, in der wir in siebenstündiger Verhandlung diese Materie mit ihnen erörtern durften. Meine Herren! Nur in solcher stillen, vorbereitenden Arbeit, die von der verständnisvollen, uneigennützigen Mithilfe namentlich der ausgezeichneten Kräfte unterstützt wird, die wir in den Herren Geschäftsführern unserer korporativen Mitglieder haben, können wir das leisten, was wir im Interesse der deutschen Wirtschaftsentwick­ lung zu leisten berufen sind und was wir leisten müssen, um den Centralverband Deutscher Industrieller bet der Bedeutung für unsere Industrie und für das Vaterland zu erhalten, auf die er durch die Leistungen früherer führender Männer gehoben worden ist. Das werden wir uns insbesondere auch zur Richtschnur nehmen müssen bei der Behandlung der Fragen, die in nächster Zeit wieder im Vordergrund des wirtschaftlichen Interesses stehen werden, ich meine in erster Linie die Fragen, die mit dem bevorstehenden Ablaufe der wichtigsten Handelsverträge zusammenhängen. Auf diesem Gebiete ist bereits viel bei uns vorgearbeitet worden; ich beschränke mich für heute auf die Mitteilung, daß die Interessengemeinschaft,

10 in der wir mit der Zentralstelle für Vorbereitung von Handels­ verträgen und mit dem Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands zusammenarbeiten, sich seit längerer Zeit mit Untersuchungen statistischer Art und in wieder­ holten Sitzungen in sehr eingehender Weise mit diesen Fragen be­ schäftigt hat und noch beschäftigt, und daß in Kürze wir auch an weitere Kreise unserer korporativen Mitglieder wegen der Beschaffung der weiteren Grundlagen und Beratung der grundlegenden Fragen herantreten werden. Ich darf namens des Direktoriums der Er­ wartung Ausdruck geben, daß auch auf diesem hochwichtigen Gebiete die Unterstützung unserer korporativen Mitglieder und insonderheit der Herren Geschäftsführer unserer Geschäftsführung in der gleichen Weise zur Verfügung stehen wird. Wenn das der Fall ist, dann werden wir mit vereinten Kräften auch wirklich Ersprießliches für die Industrie leisten können. Nun, meine Herren, treten wir in die Erledigung unserer Tagesordnung ein. Punkt 1 der Tagesordnung:

Abänderung des § 16 der Satzungen. Meine Herren! Das Direktorium des Centralverbandes besteht zurzeit nach dem Wortlaut der Satzungen aus 9 Mitgliedern. Diese Zahl ist durch einen Beschluß einer Delegiertenversammlung vor einer Reihe von Jahren auf 12 Mitglieder erhöht worden. Ur­ sprünglich hatte das Direktorium des Centralverbandes nur 5 Mit­ glieder. Mit Rücksicht darauf, daß in den letzten Jahren der Central­ verband ganz außerordentlich an Ausdehnung gewonnen hat — wir haben eine sehr große Zahl neuer korporativer Mitglieder hinzu­ bekommen — hat das Direktorium es für richtig gehalten, aus freien Stücken, ohne irgendeine Anregung von anderer Seite, in Erwägungen darüber einzutreten, ob es nicht an der Zeit wäre, die Mitgliederzahl des Direktoriums über die Zahl von 12 hinaus zu erhöhen. Wir sind dabei zu der Auffassung gekommen, daß es doch wohl richtiger ist, an eine solche Erhöhung heranzugehen, wenn wir uns davon überzeugen, daß in unseren Kreisen durch die Erwei­ terung, die der Centralverband gewonnen hat, eine ganze Reihe von korporativen Mitgliedern vorhanden ist, deren Interesse in den Kreisen des Direktoriums in nachdrücklicherer Weise zum Ausdruck zu bringen ist, als durch die Fühlungnahme der einzelnen Mitglieder des Direktoriums mit den beteiligten Kreisen möglich ist. Das ist der innere Grund dafür, daß wir Ihnen heute mit Zustimmung des

11 Ausschusses den Vorschlag unterbreiten, eine Satzungsänderung da­ hin vorzunehmen, daß die Zahl bis zu 18 erhöht wird, in der Weise, daß gesagt wird: das Direktorium besteht in Zukunft nicht aus 12 Mitgliedern, sondern kann bis auf 18 erhöht werden. Ich stelle den Vorschlag des Direktoriums zur Diskussion. — Es meldet sich niemand zum Wort. Dann darf ich annehmen, daß die Herren mit diesem Vorschlag einverstanden sind.

Wir kommen nun zu Punkt 2 der Tagesordnung: Wahl von Mitgliedern in das Direktorium. Meine Herren! Augenblicklich ist ein Platz im Direktorium unbesetzt, das ist der Platz, der durch den Tod des Herrn Geheimen Finanzrat Jencke erledigt worden ist. Wir sind augenblicklich 11 Per­ sonen im Direktorium. Wir möchten Ihnen nun heute Vorschlägen, unter Ausnutzung der eben beschloßenen Satzungsänderung eine Er­ weiterung des Direktoriums vorläufig um 3 Personen vorzunehmen. Diese drei Herren sind: an Stelle des Herrn Geheimrat Jencke, welcher mein Vorgänger als Vorsitzender des Direktoriums der Firma Krupp war, den jetzigen Vorsitzenden des Direktoriums der Firma Krupp, Herrn Geheimen Finanzrat a. D. Hugenberg, des weiteren Herrn Geheimen Regierungsrat Dr. Wilhelm von Sie­ mens und den Herrn Geheimen Baurat S ch r e y in Danzig, Vor­ sitzender des Verbandes Ostdeutscher Industrieller. Wir werden in der nächsten Delegiertenversammlung Veranlaffung haben, den Herren noch weitere Vorschläge zu machen; für heute muß es bei diesen drei Herren bewenden.

Ich eröffne die Diskuffion. — Es meldet sich niemand zum Wort. Dann darf ich annehmen, daß die Herren gewählt sind. Herr Geheimrat Hugenberg, darf ich fragen, ob Sie die Wahl annehmen? Geheimer Finanzrat a. D. Hugenberg-Esien: Ich nehme die Wahl mit Dank an. Borsitzender: Dann darf ich bitten, Herr Geheimrat, daß Sie sich mit an unseren Tisch setzen. Die anderen Herren sind leider nicht hier. Von Herrn Geheimrat Schrey habe ich heute morgen einen Brief bekommen, in dem er mir sein Bedauern mitteilt, daß er nicht an der Sitzung teilnehmen könnte.

Nun kommen wir zu Punkt 3 der Tagesordnung: Stellungnahme zu de« voa der Kommissio« des Reichs­ tags für die ReichSversicheruugSorduuug gefaßte» Beschlüffen.

12 Referent ist der Geschäftsführer Herr Regierungsrat Dr. jur. Schweighoffer. Berichterstatter Dr. Schweighoffer-Berlin: Meine sehr geehrten Herren! Der Gegenstand, über welchen Ihnen zu referieren, ich heute zum ersten Male in meiner Eigenschaft als Gefchästsführer des Cen­ tralverbandes Deutscher Industrieller die Ehre habe, die Beschlüsie der Reichstagskommission für die Reichsversicherungsordnung, steht im Verlaufe eines Zeitraumes von noch nicht ganz 5 Monaten bereits zum zweiten Male auf Ihrer Tagesordnung.

Es ist dieses ein außergewöhnliches Vorkommnis, aber die große Tragweite, die die jetzige Reform unserer staatlichen Arbeiter­ versicherung für die weitesten Kreise unserer erwerbstätigen Bevölke­ rung haben wird, macht ein derartiges Vorgehen erforderlich und erheischt es, daß außergewöhnliche Maßregeln ergriffen werden, zum Zwecke des Versuchs, die bedrohten Jntereffen der Industrie und unseres Wirtschaftslebens zu wahren und in Schutz zu nehmen.

Meine Herren! Es ist Ihnen bekannt, daß die zur Vorberatung der Reichsversicherungsordnung eingesetzte Reichstagskommission am 24. März d. I. ihre Beratungen abgeschlosien hat und daß es in der Absicht der maßgebenden Parteien liegt, sofort nach dem auf den 2. Mai d. I. festgesetzten Zusammentritt des Reichstages dieses große Gesetzeswerk im Plenum zur Verbschiedung zu bringen.

Wenn nun auch nach dem, was über die beabsichtigte Art der parlamentarischen Erledigung der Reichsversicherungsordnung bisher in der Oeffentlichkeit bekannt geworden ist, die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß ist, daß die heutigen Beratungen und Beschlüsie des Centralverbandes Deutscher Industrieller auf die Gestaltung der Bestimmungen des Entwurfs noch einen maßgebenden Einfluß aus­ üben werden, so muß es doch für ebenso bedeuffam wie erforderlich erachtet werden, daß die Industrie gerade im jetzigen Zeitpunkte noch einmal ihre Stellungnahme zu diesem großen Gesetzeswerk fest­ legt, damit in späteren Jahren, wenn man das Ueberhasten der sozialpolitischen Gesetzgebung vielleicht auch in anderen Kreisen be­ dauert, seitens des Centralverbandes Deutscher Industrieller der Beweis dafür erbracht werden kann, daß er sich auf dem rechten Wege befunden hat.

Meine Herren! Diese Stellungnahme und die Kritik, die der Centralverband Deutscher Industrieller in den beiden Delegierten­ versammlungen vom 12. April und 9. Dezember v. I. an dem Entwürfe der Reichsversicherungsordnung geübt hat, ist vielfach,

13 sowohl in der Presse als auch letzthin von der Tribüne des Reichstages herab, als eine grundsätzlich ablehnende und negierende bezeichnet worden und wird auch im Anschluß an die heutige Ver­ sammlung voraussichtlich wieder bei den radikalen Parteien die gleiche Beurteilung finden. Demgegenüber möchte ich heute von dieser Stelle aus einmal ausdrücklich darauf Hinweisen, daß es seit der Jnaugurierung unserer ganzen Arbeiterversicherung, seit dem Erlaffe der Allerhöchsten Botschaft des hochseligen Kaisers Wilhelm I. vom 17, November 1881 keine Interessenvertretung gegeben hat, die derart intensiv an der Verwirklichung der Pläne der verbündeten Regierungen mitgearbeitet hat, wie der Centralverband Deutscher Industrieller, und daß sowohl bei der Kranken- und Unfallversiche­ rung wie bei Einführung der Alters- und Invaliden- und jetzt der Hinterbliebenenversicherung der Centralverband von Anfang an stets sein volles Einverständnis mit diesen gesetzgeberischen Maßnahmen sowie seinen Willen der Mitarbeit bekundet hat. Dieser Wille und dieser Geist ist auch heute noch vorhanden; er hat aber niemals dazu verpflichtet, und verpflichtet auch heute nicht dazu, zu allen Be­ stimmungen sozialpolitischer Gesetze von vornherein bedingungslose Zustimmung auszusprechen. (Sehr richtig!) Im Gegenteil, eine freie Meinungsäußerung aus möglichst vielen Beteiligten Kreisen sollte eigentlich den maßgebenden Stellen nur erwünscht sein, und wenn der Centralverband zu dem vor­ liegenden Gesetzentwurf seine Meinung, wie er es bisher gewöhnt gewesen ist, auch dieses Mal freimütig äußert und den gesetzgebenden Faktoren seine aus den täglichen Erfahrungen und der praktischen Auffassung der realen Berhältniffe geschöpften Wünsche und Bedenken unterbreitet, so macht er nicht nur von einem ihm zustehenden Rechte Gebrauch, sondern er erfüllt auch seine Pflicht. Denn es handelt sich bei dieser Neuordnung unseres ganzen sozialen Versicherungswesens nicht nur, wie bei manchen anderen sozialpolitischen Gesetzen, um die Rückwirkung, welche eine jede, die soziale Stellung der Arbeiter beeinflussende Maßregel auch auf die Arbeitgeber ausüben muß, sondern es handelt sich hier um ein Gesetzeswerk, durch welches der Arbeit­ geber selbst in außerordentlich intensiver Weise in Mitleidenschaft gezogen und belastet wird. Meine Herren! Die Hoffnung war daher wohl nicht ganz unberechtigt, daß die von feiten der industriellen Arbeitgeber gestellten Anträge sowohl in den Regierungskreisen als auch bei den bürgerlichen Parteien deS Reichstages die gebührende Beachtung finden würden, anstatt, wie es bei den Kommissionsberatungen wiederholt der Fall

14 gewesen ist — im Gegensatz zu der Ausnahme, welche die aus Ver­ sichertenkreisen stammenden Wünsche durchweg gesunden haben — nur als Aeußerungen einseitig interessierter Personen mit Mißtrauen be­ handelt zu werden. Meine Herren! Die Zeit ist noch nicht allzufern, wo es in gewissen Kreisen für angezeigt galt, diejenigen, welche das meiste und nächste Interesse an der wirtschaftlichen Entwickelung, an dem wirt­ schaftlichen Gedeihen der Nation haben, in wirtschaftlichen Fragen nicht zu hören, geschweige denn ihren Rat zu befolgen. Was sich damals in wirtschaftlicher Beziehung begeben hat, das, meine Herren, wiederholt sich nun, teilweise wenigstens, in sozialer Beziehung. In gewiffen Kreisen gilt es heute nicht bloß als angezeigt, sondern sogar als geboten, diejenigen, welche das nächste, das wärmste, das unmittel­ barste Interesse an der sozialen Entwickelung und dem sozialen Ge­ deihen der Nation haben, in sozialen Fragen nicht zu hören und ihre Aeußerungen zu mißachten. Besonders auffallend in dieser Hinsicht ist es, daß gerade diejenigen Parteien, die nicht laut genug die For­ derung auf Berücksichtigung ihrer Wünsche in allen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragen zu erheben vermögen, die wohl­ begründeten Wünsche anderer auf sozialem und sozialpolitischem Ge­ biete stets als einseitige Unternehmerintereffen perhorreszieren und zu bekämpfen suchen. Ich möchte in dieser Beziehung doch auch meinerseits einmal Kritik üben an dem Verhalten der Kommissionsmitglieder einer liberalen Partei, deren Vertreter, der Abgeordnete Gothein, erst jüngst wieder von der Tribüne des Reichstags herab unsere Be­ strebungen als die Bestrebungen einer „nur einseitige Interessen vertretenden Korporation" charakterisiert hat. Es ist Ihnen wohl allen erinnerlich, daß neben der Sozial­ demokratie in den Jahren 1883/84 und 1889 es die damalige freisinnige Volkspartei gewesen ist, die geschlossen gegen die Kranken- und Unfallversicherung sowie gegen die Jnvaliditäts- und Altersversicherung gestimmt hat und sich der Durchführung der Kaiserlichen Botschaft vom Jahre 1881, die gleichsam die Magna Charta des Rechts der Arbeit und das Programm seiner Durch­ führung bildete, in jeder Weise widersetzte. Diese ablehnende Hal­ tung hat sich nunmehr in ihr gerades Gegenteil verkehrt und es zeigt sich, daß heute die Linksliberalen, wiederum in Gemeinschaft mit den Sozialdemokraten, nicht Maß zu halten wissen in dem Bestreben, die Segnungen des Staatssozialismus weitesten Kreisen zloangsweise zuzuwenden.

15 Meine Herren!

Ich will Sie mit Einzelheiten in dieser Be­

ziehung nicht ermüden. Ich möchte aber doch, schon mit Stücksicht darauf, daß gerade die fortschrittliche Volkspartei eine große Anzahl ihrer Mandate länglich der ihr aus industriellen Kreisen zuteil ge­ wordenen Hilfe verdankt, kurz darauf verweisen, daß die Vertreter dieser Partei bei den Kommisfionsverhandlungen es gewesen sind, die fast in allen Fragen der Ausdehnung der Bersicherungspflicht und der Erhöhung der Leistungen den Sozialdemokraten treue Ge­

folgschaft geleistet haben, die sich als schärfste Gegner der BetriebSkrankenkaffen, deren ungeschmälerte Erhaltung eine einmütige For­ derung der gesamten deutschen Industrie gewesen ist, gezeigt haben und diese wohlbewährte Organisationsform der Krankenversicherung unbedingt zu Fall zu bringen suchten.

Sie sind es ferner gewesen,

die gemeinsam mit den Sozialdemokraten den von den übrigen Parteien gestellten, auf die Beseitigung der sozialdemokratischen Vor­ herrschaft bei den Ortskrankenkaffen abzielenden Kompromißantrag ablehnten, die der Gewährung der mit einer Mehrbelastung von

jährlich 9 Millionen Mark verbundenen sogenannten Kinderzuschuß­ rente in jeder Weise das Wort redeten und vor allem auch in der Arztftage ohne jede Rücksicht auf die Wünsche der Industrie als die eifrigsten Vorkämpfer des Leipziger Aerzteverbandes wirkten.

Und

es soll nicht unerwähnt bleiben, daß der Sprecher der fortschrittlichen Volkspartei in der Kommission noch die Erklärung abgab, daß er bei den Vorschriften für die Wahlen der Versicherungsvertreter im Plenum entschieden für die Verleihung dieses Wahlrechts auch an die Frauen eintreten werde.

Man

mag

über die Wege,

die

hinsichtlich des notwendigen

Aufbaues der staatlichen Arbeitererversicherung zum Ziele führen, sehr wohl verschiedener Ansicht sein, und es soll niemandem verwehrt werden, die in dieser Hinsicht als zweckmäßig erkannten

Maßnahmen mit Nachdruck zu vertreten. Es muß hierbei aber doch unbedingt verlangt werden, daß im Interesse der Unter­

nehmer sowohl wie der Arbeiter die soziale Fürsorge sich im Rahmen des Erreichbaren hält und daß die Entscheidung über große, die Zukunft der kommenden Geschlechter beherrschende Fragen nicht ledig­ lich vom Standpunkt der augenblicklichen Parteipolitik und Wahltaktik

getroffen wird. (Sehr richtig!) Mit welcher Leichtigkeit man trotzdem

über diese Bedenken bei der Entscheidung der wichtigsten Fragen, auch in Kreisen, bei denen man einen gewissen Grad volkswirtschaft­

licher Kenntnisse hat

der

vorauszusetzen berechtigt ist,

Wortführer

der

hinweggeht, dafür

Fortschrittlichen Bolkspartei,

der Ab-

15 geordnete Dr. Mugdan, letzthin in einer Diskussion mit dem Herrn Staatssekretär des Innern einen wirklich bezeichnenden Beweis erbracht. Es wurde von diesem Herrn bei der Beratung der Vorlage über den neuen Termin für das Inkrafttreten der Hinterbliebenen­ versicherung die Erklärung abgegeben: „Man solle ihn nur gewähren lassen; innerhalb 24 Stunden würde er eine Hinterbliebenenversiche­ rung — die sonst allgemein als ein organischer Bestandteil der Reichsversicherungsordnung anerkannt worden ist — als ein be­ sonderes Gesetz ausarbeiten und sie den Bedürfnissen entsprechend so gestalten, daß sie dann sofort in Kraft tteten könnte." Meine Herren! Dieses Selbstvertrauen in Ehren. Aber als ich diese volltönenden Worte las, mußte ich mich unwillkürlich der Art unseres großen Kanzlers, des Fürsten Bismarck, erinnern, der im Jahre 1882 bei einer Anfrage nach der Ausgestaltung der Unfall­ versicherung die denkwürdigen Worte sprach: „Ich bin hierüber noch nicht mit mir einig, und zwar deshalb nicht, weil ich noch der Be­ lehrung bedarf. Ich bin nicht durch die Weihe der öffentlichen Wahl gegangen und bin deshalb auch nicht in der Lage, über alle Dinge eine feste unabänderliche Meinung rasch in promptu zu haben, sondern ich überlege mir die Dinge, und wie ich in manchen Konzepten über wichttge Sachen viel stteiche, viel ändere und wieder neu arbeite, so ist es auch in diesem Falle." (Bravo!) Die Zeiten haben sich geändert. Die Hast, in der das heutige Leben dahinrollt, hat sich leider auch auf die legis­ latorische Behandlung der wichtigsten Dinge übertragen, und es fragt sich nur, ob unser deutsches Volk und vor allem unsere deutsche Industrie bei dieser Art Gesetzesmacherei eben so gut fahren wird, wie es nach dem alten Bismarckschen, wohlbewährten Rezept der Fall gewesen ist, ein Rezept, dessen Beachtung meines Machtens gerade heutzutage um so notwendiger wäre, als die gesetzgeberischen

Aufgaben, die unser Parlament jahraus, jahrein zu bewältigen hat, von immer schwierigerer und umfassenderer Natur geworden sind. Die Lösung dieser Aufgaben erfordert, falls man denselben gerecht werden will, nicht allein sehr beträchtliche Kenntnisse und Vorstudien in den verschiedensten Disziplinen, sondern ihre Durchdringung und Durcharbeitung verlangt auch so viel Arbeit und so viel Zeit, daß Wohl nur wenige imstande sind, den an sie gestellten Anforderungen m vollem Umfange zu genügen. Es kann daher auch eigentlich nicht wundernehmen, daß sehr oft, wenn das gesetzgeberische JahreSpensirm abgeschlossen ist, sich Richter und Verwaltungsbeamte, welche zur Ausführung der sanktionierten Gesetze berufen sind, in Heller Ver-

17 zweiflung befinden nnd trotz aller Jnterpretationskünste aus den labyrinthischen Vorschriften unserer Gesetzestafeln einen sicheren Ausweg nicht zu erspähen vermögen. Die Folge ist dann, das; von allen Seiten und gerade sehr oft von parlamentarischer Seite, die Schuld hierfür einzig und allein der Regierung in die Schuhe ge­ schoben wird. Daß eine solche Folgeerscheinung auch nach dem Inkrafttreten der Reichsversichcrungsordnung nicht ausbleiben wird, davon bin ich fest überzeugt und ich kann mich hierfür wiederum auf das Zeuguis des Herrn Abgeordneten Dr. Mugdan berufen, der in einer Zentralratssitzung der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine sich dahin aussprach: „Von einer Reform der Arbeiterversicherung in großem Stile könne mit der jetzigen Ausgestaltung der Reichs­ versicherungsordnung nicht die Rede sein. In nicht allzuferner Zeit werde eine neue Reform sich vernotwendigen." Wenn man von dieser Art unentwegter und gesinnungs­ tüchtiger Opposition absieht und die von der Reichstagskommission geleistete Arbeit nicht lediglich durch eine stark getrübte Fraktions­ brille ansieht, dann wird man doch wohl zu der Ueber­ zeugung kommen müssen, daß mit dem jetzigen Ausbau unseres sozialen Versicherungswesens, insbesondere der Einführung der Witwen- und Waisenversicherung, der deutschen Arbeiterschaft wiederum einmal wirtschaftliche und soziale Vorteile dargebracht werden, wie sie die arbeitende Bevölkerung anderer Staaten bisher überhaupt nicht kennt. Meine Herren! Welche Bedeutung in dieser Hinsicht die Be­ schlüsse der Reichstagskommission in der zweiten Lesung, zu deren kritischer Würdigung im einzelnen ich nunmehr übergehen möchte, für die Versicherten haben, das habe ich bereits die Ehre gehabt, Ihnen, soweit es sich um das Gebiet der Unfall- und der Invaliden­ versicherung handelt, in der Delegiertenversammlung vom 9. De­ zember v. I. vorzutragen. Ich bitte deshalb auch, heute hin­ sichtlich dieser beiden Zweige unserer Arbeiterversicherung von einer Wiederholung aller Einzelheiten absehen und mich auf einige ergänzende Bemerkungen beschränken zu dürfen. Ich darf zunächst daran erinnern, daß neben dem Bestreben, den Kreis der unfallversicherungspflichtigen Arbeiterschaft noch über die durch die Regierungsvorlage bereits gebrachte Er­ weiterung hinaus auszudehnen (ein Bestreben, das durch die Ein­ beziehung einer Anzahl bisher nicht versicherungspflichtiger Betriebe, wie Gerbereien, Steinzerkleinerungsbetriebe, Binnenfischerei usw., seine Erfüllung gefunden hat), sich vor allem die Tendenz geltend Lest 122 2

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machte, auch die Einkommensgrenze für die Versicherungspflicht der in gehobener Stellung befindlichen Personen erheblich heraufzusetzen. Dieser vom Zentrum gestellte Antrag, der in der ersten Lesung der Kommission abgelehnt worden war, ist jetzt in der zweiten Lesung angenommen worden, so daß nunmehr alle Betriebsbeamten bis zu einem Jahresarbeitsverdienst von 5000 Mark versichert sein sollen. Meine Herren! Es wird mit diesem Beschlusse ein Prinzip in unsere Versicherungsgesetzgebung hineingebracht, mit welchem der ursprüng­ liche Rahmen unserer Arbeiterversicherung in der bedenklichsten Weise durchbrochen und der Grundgedanke der Allerhöchsten Botschaft vom Jahre 1881, nur denjenigen Kreisen der unselbständig arbeitenden Bevölkerung einen Schutz vor den Notlagen des Lebens zu gewähren, die hiergegen nicht selbst Vorsorge treffen können, gänzlich aufgegeben wird. Wer will es alsdann noch allen andern Angestellten, die nicht der Industrie oder ähnlichen Gewerben angehören, verdenken, wenn auch von ihnen jetzt die Forderung erhoben wird, gleichfalls für einen jeden zufälligen Unglücksfall entschädigt zu werden? Diese immer weitergehende gesetzliche Fürsorge, diese Aus­ dehnung der Zwangsversicherung auf eine Anzahl verhältnismäßig gut situierter Angestellter, deren Einkommen über das Einkommen weiter Kreise, auch der selbständig tätigen Personen hinausgeht, ist meines Erachtens ein ebenso bedenklicher wie gefährlicher Schritt, und dieser Schritt wiegt um so schwerer, als nach einer weiteren Zusatzbestimmung der Kommission selbst verbotswidriges Handeln die Entschädigungspflicht des Unternehmers fortan nicht ausschließen soll. Meine Herren! Die gesetzliche Festlegung einer derartigen Be­ stimmung muß doch sehr erheblichen Bedenken unterliegen, da sie für weniger gewissenhafte Naturen geradezu einen Anreiz zur Uebertretung der zum Schutze der Versicherten erlassenen Vorschriften be­ deutet, und diese moralische Seite des Beschlusses der Kommission ist es, die unbedingt den Protest herausfordert. Daneben ist es sodann aber auch noch die finanzielle Seite der Frage, die bei der Ausdehnung der Unfallversicherungspflicht doch wohl etwas ernster hätte gewürdigt werden sollen, und zwar ganz besonders deshalb, weil nach einem Beschlusse der Kommission in Zukunft die verminderte Anrechnung des Jahresarbeitsverdienstes bei der Feststellung der Rente nicht mehr wie bisher bei 1500, sondern erst bei 1800 Mark beginnen soll. Es tritt hier wieder einmal so recht deutlich zutage, wie sehr diejenigen, denen die Lasten der sozialpolitischen Gesetzgebung nicht an den eigenen Geldbeutel gehen, geneigt sind, dem schaffenden Unternehmertum immer neue

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Lasten auszubürden und wie sehr vom grünen Tisch, dieses Mal nicht der Verwaltungsbehörden, sondern der Parlamente die Auffassung von der unbegrenzten Leistungsfähigkeit der Industrie vertreten wird. Aus der letzten Delegiertenversammlung hat Herr General­ sekretär Bueck bereits darauf hingewiesen, daß im Jahre 1909 bei der nordwestlichen Eisen- und Stahlberufsgenoffenschaft von 24 pCt. der Mitglieder die Beiträge für die Berufsgenoffenfchast nur durch Zwangsverfahren beigetrieben werden konnten, und daß gegenüber dem vorhergehenden Jahre sich dieser Prozentsatz um genau 5 pCt. gesteigert hatte. Wenn das in Zeiten, die man nicht gerade als ungünstig für unsere Industrie bezeichnen kann, der Fall gewesen ist, bei einer Berufsgenoffenschast, die wohl als eine der stärkstfundierten und bedeutendsten angesprochen werden mutz, dann liegt es doch wohl eigentlich auf der Hand, daß diese Verhältniffe bei dm kleinerm Genoffmschaften noch sehr viel ungünstiger liegen und sich mit einer jeden weiteren neuen Belastung zunehmend ungünstiger gestalten müffen, zumal die Gesamtausgaben der Berufsgenoffmschaften von 2,57 Mark auf einen Versicherten und 193,45 Mark auf einen jeden angemeldeten Unfall vom Jahre 1888 sich auf 7,40 bzw. 303 Mark im Jahre 1908 bereits gesteigert hatten. Die Forderung ist daher wohl durchaus berechtigt, daß diegesetzgebendenFaktoren bei der Beschlußfassung üb er derartige Bestim­ mungen nicht immer nur von denjenigen Unter­ nehmern ausgehen,die wohl noch fähig sind,die neuen Lasten zu tragen, sondern in erster Linie die Verhältnisse derjenigen Arbeitgeber berück­ sichtigen, dieamwenig st engün st iginderinRede st ehenden Beziehung situiert sind, damit diese weiten Kreise nicht eines Tages unter einer unerschwinglichen La st zusammenbrechen. (Leb­ hafte Zustimmung.) Meine Herren! Diese Frage der übermäßigen Belastung der kleineren und mittleren Unternehmer hätte wohl eine um so ein­ gehendere Prüfung verdient gehabt, als es genügend bekannt ist, daß die in dm Berufsgenoffenschaften zusammmgeschloffene deutsche Untemehmerschaft neben den Entschädigungsleistungen noch ganbesonders stark bedrückt wird durch die Aufbringung der Zuschläge zu den R e s e r v e f o n d s der Genoffmschaften. Man hatte in den beteiligten Kreisen gehofft, daß bei der jetzigm Reform der UnfallVersicherung gerade in dieser Hinsicht eine fühlbare Erleichterung ge­ schaffen werden würde, zumal bei einzelnm Genoffenschastm die

I*

20 Rücklagen breite eine Höhe erreicht haben, an die bei Schaffung der Unfall-Versicherung niemand gedacht hatte. Diese Hoffnung ist aber leider unerfüllt geblieben. Die Aenderungen, die von den verbünde­ ten Regierungen in den Entwurf heineingebracht worden sind, und die die Zustimmung der Kommission gefunden haben, können zwar theoretisch als Verbesserungen des jetzigen Zustandes anerkannt werden, sie werden aber praktisch, im Gegensatze zu der Absicht, ein langsameres Vorgehen in der Ansammlung der Reservefonds herbeizuführen, für eine erhebliche Zahl von Berufsgenossenschaften und für deren Gesamtheit nur eine noch größere Belastung als nach den bestehenden Vorschriften mit sich bringen. Meine Herren! Ich will Sie hier nicht mit Zahlen und statisti­ schen Ausführungen behelligen und zwar um so weniger, als die rech­ nerische Darstellung, die das Reichsamt des Innern zur Begründung seines Standpunktes in der Kommission gegeben hat, sehr wesentlich abweicht von der von feiten der Berufsgenossenschaften aufgemachten Berechnung, und sich hier kaum ein Ausgleich wird finden lassen. Ich möchte aber doch in Kürze Stellung nehmen zu der Grund­ frage der ganzen Angelegenheit, ob es volkswirtschaftlich zu recht­ fertigen ist, die Gegenwart und die allernächste Zukunft zugunsten einer späteren Zeit und späterer Geschlechter zu belasten, und zwar sehr erheblich zu belasten mit der Anforderung eines Betrages, der für die nächsten 12 Jahre allein auf 435 Millionen Mark, also durch­ schnittlich für das einzelne Jahr auf 36 Millionen Mark berechnet worden ist. Diese Kardinalfrage (man mag im einzelnen zu der rech­ nerischen Darlegung des Reichsamts des Innern sich stellen, wie man will), ob eine solche Belastung der Gegenwart mit Rücksicht auf die Zukunft sich volkswirtschaftlich rechtfertigen läßt, muß meines Erachtens unbedingt verneint werden und ich kann mich hier­ auf die Autorität unseres größten praktischen Volkswirtes, des alten Reichskanzlers Fürsten Bismarck berufen, der bei der ersten Ein­ bringung des Unfallversicherungsgesetzes im Jahre 1881, als von vielen Seiten für die Aufbringung der Beiträge anstatt des Umlage­ verfahrens das Kapitaldeckungsverfahren gefordert wurde, den auch vom Zentralverband mit Festigkeit verteidigten Grundsatz aufstellte, daß „eine jede Zeit für ihre eigenen Bedürfnisse zu sorgen habe." Der Fürst Bismarck äußerte sich damals folgendermaßen: „Wir würden uns an der Gegenwart versündigen, wenn wir jetzt sofort die ganze Last übernehmen würden; wir würden uns an der Möglich­ keit der Einführung versündigen, wenn wir eine soviel größere Last

21 als zur Ausprobierung dieses Systems überhaupt nötig ist, über­ nehmen wollten. Ich will mich darauf beschränken, dieser Behauptung der Sünde an der Zukunft zu widersprechen. Die Sünde an der Gegenwart halte ich für eine Todsünde". Diese Worte basieren auf der volkswirtschaftlich doch allein richtigen Erkenntnis, daß eine jede Fortentwickelung unseres ganzen wirtschaftlichen Lebens wesentlich abhängig ist von der weiteren Entwickelung der bestehenden und der Schaffung neuer produktiver Kräfte. Dazu gehört aber in erster Linie die fort­ schreitende Kapitalbildung und es muß daher ein jedes System als volkswirtschaftlich durchaus verfehlt bezeichnet werden, durch welches der Industrie und dem Gewerbestände in größerem Umfange Kapi­ talien, deren diese Berufsstände zur Fortentwickelung der nationalen Produktion bedürfen, entzogen werden und durch welches die Unter­ nehmer genötigt werden, sich ihre Betriebskapitalien zu einem höheren Zinsfuß zu verschaffen, als die von der Berufsgenoffenschaft anzu­ legenden Deckungskapitalien einzubringen vermögen. (Sehr richtig!) Diese Tatsachen können auch nicht erschüttert werden durch die rechnerischen Darlegungen, die nach dem Berichte über die Kommissionsverhandlungen von feiten der Vertreter der Regierung gemacht worden sind, und nach welchen bereits jetzt bei den gewerb­ lichen Berufsgenossenschaften mit einer ungedeckten Belastung, also einem „Fehlbeträge" von 790,7 Millionen Mark gerechnet werden müßte. Einer solchen „Fehlbetragsrechnung" kann meines Er­ achtens eine große praktische Bedeutung gar nicht beigemeffen werden, da sie doch wohl auf einer gewißen Verkennung des Wesens der staat­ lichen Arbeiterversicherung beruht. Nur dann, wenn man auf diese rein f o r m a l die für die private Versicherung geltenden Grundsätze überträgt, könnte man zu einem so eigentümlichen Verfahren ge­ langen, wie es mit der regierungsseitig dargelegten Fehlbetrags­ rechnung eingeschlagen wird. Eine derartige Uebertragung ist aber zweifellos als fehlsam zu erachten. Bei der privaten Versicherung ist die Größe der Zahl der Mitglieder gänzlich von dem freien Willen der einzelnen abhängig und ebenso ist der Eingang der Beiträge davon abhängig, inwieweit die einzelnen Mitglieder in der Lage sind, die Prämien weiter zu zahlen. Demgegenüber liegen aber die Berhältniffe bei der staatlichen Arbeiterversicherung gänzlich anders. Diese beruht auf dem allein richtigen und hier in erster Reihe bedeutungsvollen Prinzip des Zwanges. Dadurch wird nicht nur der Bestand, sondern, bei irgend normaler Entwickelung der allgemeinen Verhältniße, eine fortgesetzte Zunahme deS Bestandes

22 der Mitglieder gesichert und die Beitragsleistung ist derartig gewähr­ leistet, daß sie schließlich nur mit dem gänzlichen Und dauernden Zu­ sammenbruche des Staates gefährdet sein könnte. Der von der Regierung aufgestellten Fehlbetragsrechnung kann daher meines Erachtens nicht die Wirkung innewohnen, um eine erhöhte An­ sammlung der Reservefonds gerechtfertigt erscheinen zu laffen, und es dürfte angebracht sein, gegen die Höhe der nach den Kommissionsbeschlüsien erforderlich werdenden Zuschläge nochmals von feiten der Industrie energisch Protest zu erheben. Im Vergleich zu diesen, von mir kritisierten Beschlüsien der Kommission über die Ausdehnung der Unfallversicherung und die Ansammlung der Rücklagen, bei denen ich mit Rücksicht auf die grundsätzliche Bedeutung dieser Bestimmungen etwas länger verweilt habe, wird den übrigen Beschlüsien der Kommission auf dem Gebiete der Unfallversicherung vielleicht nicht die gleiche schwerwiegende Bedeutung beizumeffen sein, wenngleich auch unter diesen manche sind, die zu berechtigten Bedenken Anlaß geben. Ich weise nur auf die von der Kommission neu hineingebrachten Zusatzbestimmungen hin, nach welchen für die Dienstordnung der von den Genosienschaften anzustellenden Beamten ganz bestimmte Anweisungen ge­ geben worden sind und vor allem die Anhörung der Angestellten vor dem Erlaß dieser Dienswrdnung vorgeschrieben ist, nach welchen ferner einem Anträge der Fortschrittlichen Volkspartei zufolge zu technischen Aufsichtsbeamten der Berufsgenosienschaften auch früher in den versicherten Betrieben als Arbeiter angestellt gewesene Per­ sonen ernannt werden können, und nach welchen schließlich den beauf­ tragten Mitgliedern des Reichsversicherungsamts jederzeit der Zu­ tritt zu den Betriebsstätten gestattet werden muß, um die Durch­ führung der erlassenen Unfallverhütungsvorschriften festzustellen. Meine Herren! Diese letztere Bestimmung ist so recht wieder ein Zeichen des Geistes, der in vielen Kreisen des Reichstages der Industrie gegenüber vorhanden ist, eines Geistes des Mißtrauens, das in der Tat kaum noch zu verschärfen ist, und man fragt sich wirklich, ob denn bei unseren gesetzgebenden Faktoren die Einsicht nicht mehr vorhanden ist, daß mit solchen und ähnlichen Bestimmungen der Privatcharakter der Industrie vollständig durchbrochen wird und daß mit der immer weitergehenden Expropriation der natürlichen Befugnisse des Fabrikunternehmers die Lust und Liebe desselben an seinem. Werke immer mehr vermindert wird. Eine jede Teilung der Verantwortlichkeit in der Leitung des Betriebes, jede Schwächung der Verantwortlichkeit in der Person des Betriebsunternehmers

23

und ein jedes Hineinziehen fremder, mit der Eigenart des Betriebes in keiner Weise vertrauter Elemente muß diesen Prozeß aber natur­

gemäß beschleunigen und kann nur der Anlaß zu schweren Konflikten

zwischen den Betriebsunternehmern und den zur Aufsicht berufenen beamteten Persönlichkeiten werden. (Beifall.)

Neben der Unfallversicherung ist es vor allem das andere

große Gebiet unserer sozialen Versicherung, die Invaliden­ versicherung, gewesen, auf dem sich bei den Kommissions­ verhandlungen das Bestreben geltend machte, den Kreis der Ber-

sicherungspflichtigen

immer weiter auszudehnen

und vor allem

die Leistungen der Versicherung wesentlich zu erhöhen. Es wurden hierbei zwar die von den Sozialdemokraten gestellten Anträge auf

Heraufsetzung

der

Witwen-

und Waisenrenten,

auf Einführung

dreier neuer Lohnklaflen bei der Invalidenversicherung und auf Herabsetzung des Alters für den Beginn der Altersrente auf das 65. Lebensjahr abgelehnt, Forderungen, deren finanzielle Wirkung

allein in einer jährlichen Mehrbelastung von rund 266 Millionen Mark bestanden hätte und die auch wohl weniger in der Ueber­ zeugung gestellt wurden, daß sie Gesetz werden würden, als vielmehr in der Spekulation auf den guten Eindruck, den solche Anträge, so

kurz vor den Wahlen, auf die Masse der Wähler mach«; würden. Es wurde aber doch mit Unterstützung von feiten der Fortschritt­ lichen Volkspartei und der Sozialdemokraten der Antrag des Zen­ trums angenommen, nach welchem fortan allen Jnvalidenrentnern für ein jedes Kind unter 15 Jahren eine Zuschußrente um ein

Zehntel der Rente gewährt werden soll.

Die nach diesem Kom-

missionsbeschluffe zu erwartende Mehrbelastung wird nach der auf­ gestellten Berechnung jährlich rund 9 Millionen Mark betragen, und es haben demgemäß in den drei höheren Lohnklaffen der Invaliden­

versicherung die Wochenbeiträge gegenüber der schon vorgesehenen Erhöhung um 6, 8 und 10 Pf. noch eine weitere Steigerung um je 2 Pf. erfahren müssen. Es ist dieses somit eine sehr erhebliche Neubelastung, die sich zweifellos schwer fühlbar machen wird, deren

Notwendigkeit aber andererseits durch nichts erwiesen ist und deren

Beseitigung daher auch noch in der Delegiertenversammlung vom 9. Dezember v. I. von dem Vertreter der nationalliberalen Partei, den wir damals unter uns zu sehen die Ehre hatten, als ein unbedingtes Erfordernis bezeichnet wurde. Leider ist dieser For­

derung indessen nicht Rechnung getragen, denn soweit die Kom­ missionsberichte sehen lassen, sind es bei der Abstimmung über die Gewährung

der Kinderrente

lediglich und allein die K o n s e r -

24 vativen gewesen, die eine jede solche Mehrbelastung abgelehnt haben, während der Herr Staatssekretär des Innern sogar die aus­ drückliche Erklärung abgab, daß er sich für die Kinderzuschußrente persönlich im Bundesrat verwenden werde. Meine Herren! Der Herr Staatssekretär hat sich mit dieser Erklärung leider auch auf den Boden derjenigen Parteien der Kommission gestellt, die kein Maß zu halten wußten in der Zu­ weisung materieller Güter an die Versicherten und deren Hauptziel auch bei der jetzigen Reform der Arbeiterversicherung darauf hinaus­ ging, sich in dem, was den Arbeitern alles zuzuwenden sei, zu überbieten. ... Es ist zweifellos etwas sehr Schönes, Wohltaten auszgteilen, aber sich in Wohltaten überbieten, das sollten doch eigentlich nur die tun, die, wenn es an das Zahlen kommt, nicht nur mitraten, sondern auch mittaten. (Lebhafter Beifall.) Meine Herren! Wenn die Mehrheitsparteien in der Kommission diesen, doch zweifellos sehr berechtigten Grundsatz etwas mehr an­ erkannt hätten, dann hätte auch wohl das zweite Buch der Reichs­ versicherungsordnung über die Krankenversicherung eine Gestaltung erfahren, die der Industrie die Zustimmung zu der Reform leichter und freudiger gemacht haben würde. Es muß allerdings mit Genugtuung konstatiert werden, daß der in der ersten Lesung gefaßte Beschluß, nach welchem für die in gehobener Stellung tätigen versicherungspflichtigen Personen die bisherige Versicherungsgrenze von 2000 auf 2500 Mark heraufgesetzt werden sollte, in der zweiten Lesung wieder aufgehoben und die bis­ herige Grenze von 2000 Mark beibehalten worden ist. Dagegen haben sowohl die obligatorischen Regelleistungen, als auch die fakul­ tativ zugelassenen Mehrleistungen der Kassen, letztere insbesondere auf dem Gebiete der Wöchnerinnenhilfe, eine ganz erhebliche Aus­ dehnung erfahren, und es ist in der Kommission von dem Wort­ führer der Fortschrittlichen Volkspartei bereits die Erklärung ab­ gegeben worden, daß er im Plenum dafür eintreten werde, daß auch ein weiterer Teil dieser Wochenhilfe gesetzlich noch als Regelleistung festgelegt würde. Da auch das Zentrum und die Wirtschaftliche Vereinigung dieser Forderung nicht unsympathisch gegenüberstehen, so wird man vielleicht noch darauf gefaßt sein müssen, daß auch hierin die Beschlüsse der Kommission noch eine Verschärfung er­ fahren werden. Aber selbst für den Fall, daß diese Leistungen im Gesetz nur fakultativ bleiben sollten, können alle solche Bestimmungen,

25 weiche es den Krankenkassen in weitgehendem Maße freistellen, ihre Leistungen nach ihrem freien Ermeßen über die gesetzlichen Beträge hinaus zu erhöhen, nicht als bedenkenfrei erachtet werden. Denn abgesehen davon, daß manche der im Entwurf vorgesehenen Lei­ stungen überhaupt über den Rahmen der eigentlichen Kranken­ versicherung ganz erheblich hinausgehen, liegt es doch auf der Hand, daß eine jede Krankenkaffe, die im Gegensatz zu der Praxis, anderer Kaffen in der Beschränkung auf das gesetzliche Maß festbleiben und jene freiwilligen Leistungen ablehnen wollte, sehr bald den Gegen­ stand gehässiger Angriffe bilden und gezwungen werden würde, dem Beispiel der anderen zu folgen. Es würden also somit auch die im Sinne des Gesetzes freiwilligen Mehrleistungen nach dem Ver­ lauf der Dinge stets zu obligatorischen werden und für manche Kaffen alsdann in finanzieller Hinsicht recht fühlbare Kon­ sequenzen nach sich ziehen. Diese Konsequenzen werden aber um so mehr zu befürchten sein, als zufolge des Beschluffes der Kommission der Grundlohn, der den baren Leistungen der Kaffe zugrunde zu legen ist, über die Vorlage der Regierung hinaus von 4 auf 5 Mark allgemein erhöht und auch hier wieder die statutarische Möglichkeit zugelaffen worden ist, diesen Satz noch um weitere Mark, also auf 6 Mark, heraufzusetzen. Diese Vorschrift wird naturgemäß bei den höher gelohnten Arbeitern allgemein eine erhebliche Erhöhung des Krankengeldes herbeiführen und wohl auch die weitere Folge haben, daß mit der Steigerung des Krankengeldes die Neigung zur Simulation und Ausdehnung der Krankheitsperioden, namentlich bei sinkender Kon­ junktur, voraussichtlich sehr wachsen wird. Es unterliegt daher wohl kaum einem Zweifel, daß auch auf dem Gebiete der Kranken­ versicherung die Industrie mit einer recht erheblichen Mehrbelastung zu rechnen haben wird, die meines Erachtens sehr viel weitergehen wird, als gegenwärtig allgemein und namentlich auch von feiten der Regierung angenommen wird. Wenn aber hiernach der deutschen Industrie in finanzieller Hinsicht auch auf diesem Gebiete wiederum neue Opfer abgefordert werden, dann war wohl eigentlich die Erwartung berechtigt, daß man wenigstens in einer anderen Hinsicht, nämlich bezüglich der Betriebskrankenkassen, den Wünschen der Industrie etwas mehr entgegenkommen würde. Meine Herren! Die Gründe, die für die ungeschmälerte Bei­ behaltung der Betriebskrankenkaffen, auch der kleineren und mitt­ leren, sprechen, sind so oft und so eingehend erörtert worden, daß ich

26 glaube, hierauf nicht mehr im einzelnen eingehen zu brauchen. Es steht fest, daß die Betriebskrankenkaffen, die mehr als jede andere Organisationsform der Krankenversicherung sich den Eigentümlichkeiten und Verhältniffen des Fabrikbetriebes anzupaffen vermögen, sich von allen Kaffenarten am besten bewährt haben und trotz ge­ ringerer Beiträge durchweg höhere Leistungen als die andern Kassen gewähren. Es rief daher mit Recht in allen beteiligten Kreisen leb­ hafteste Beunruhigung hervor, als der Entwurf der Reichsversiche­ rungsordnung die Betriebskrankenkaffen dem nur aus theoretischen Gründen aufgestellten Prinzip der Zentralisation in der Kranken­ versicherung zu opfern versuchte. Den vereinigten Bemühungen der konservativen und nationalliberalen Mitglieder der Kommission ist es nun zwar gelungen, gegen die Stimmen der Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten insofern eine Milderung der Regierungsvorschläge herbeizuführen, als die Errichtung neuer Be­ triebskaffen fortan nicht, wie der Entwurf es wollte, von dem Vor­ handensein von mindestens 500, sondern nur von dem Vorhanden­ sein von mindestens 150 und bei landwirtschaftlichen Betrieben 50 Versicherungspflichtigen abhängig sein soll. Aber trotzdem ist eine Bestimmung der Regierungsvorlage auf­ recht erhalten worden, die nicht nur die Quelle steter Streitigkeiten bilden, sondern auch die sämtlichen Betriebskaffen auf eine durchaus unsichere Grundlage stellen wird. Es ist dieses die Vorschrift, nach welcher die Errichtung oder der Fortbestand der Betriebskaffen nur dann zulässig sein soll, wenn hierdurch der Bestand oder die Leistungsfähigkeit vorhandener allgemeiner Ortskrankenkassen und Landkrankenkaffen nicht „gefährdet" wird. Meine Herren! Mit dieser Vorschrift, die um so einschneidender ist, als weder das Gesetz noch die Begründung nähere Auskunft über den Begriff der „Gefährdung" gibt und die Entscheidung hierüber völlig dem freien Ermeffen des Oberversicherungsamts überlassen ist, ist die Axt an die Wurzel der Betriebskaffen gelegt, und die Be­ deutung dieser Vorschrift wird wohl am besten dadurch charakterisiert, daß zufolge des ausdrücklichen Verlangens der Vertreter der Re­ gierung diese Aufforderung für diejenigen Betriebskrankenkaffen keine Geltung haben soll, die für Betriebe des Reichs oder der Bundesstaaten zugelaffen worden sind. Die Behauptung, daß eine Orts- oder Landkrankenkaffe durch die Errichtung einer Betriebskrankenkaffe gefährdet wird, wird wohl stets, namentlich dann, wenn den Kaffen hierdurch gute Risiken darstellende Mitglieder entzogen werden, mit einem Schein

27 der Berechtigung aufgestellt werden können, und sie wird voraus­ sichtlich von denjenigen Ortskrankenkassen auch in jedem Falle er­

hoben werden, die den Betriebskaffen aus parteipolitischen oder ge­ werkschaftlich-taktischen Gründen feindlich gegenüberstehen. Vornehmlich wird aber wohl die Frage der Leistungsfähigkeit

der allgemeinen Orts- und Landkrankenkaffen, wie ja schon in den Bestimmungen des Entwurfs hervorgehoben ist, bei der Beurteilung

der „Gefährdung" immer eine große Rolle spielen.

Wenn z. B. eine

Ortskrankenkasse schlecht verwaltet wird und bei geringen Leistungen hohe Beiträge erhebt, dann liegt für diese Kaffe nichts näher, als

sich durch die Betriebskrankenkaffen als gefährdet zu bezeichnen, und die Industrie darf alsdann als Strafe für die schlechte Wirtschaft der Ortskrankenkaffen keine Betriebskrankenkaffen in deren Bereich er­ richten und kann sogar gezwungen werden, die bestehenden aufzu­ heben. Meine Herren! Daß eine solche Vorschrift ganz unhaltbar und

eine Reform der reichsgesetzlichen Arbeiterversicherung, die derart bewährte Einrichtungen, wie die Betriebskrankenkaffen, zu beseitigen droht, für die Industrie unannehmbar ist, darf wohl mit aller Ent­ schiedenheit ausgesprochen werden, und man sollte sich an den maß­

gebenden Stellen allmählich doch auch darüber klar werden, daß alle derartigen Vorgänge und Bestrebungen, die immer wieder in so einseitiger Weise gegen die

Interessen der Arbeitgeber gerichtet sind, eines Tages die ganze Stellungnahme der Industrie gegenüber

unserer

sozialen

Gesetzgebung

bedingt beeinflussen müssen. (Sehr richtig!) Es soll hiermit, um unseren Gegnern nicht wieder

un­

eine

falsche Deutung an die Hand zu geben, keineswegs gesagt werden, daß die Industrie nicht mehr bereit sein wird, materielle Opfer für ihre Arbeiterschaft zu bringen; aber, meine Herren, wenn man wahrnimmt, mit welcher verhältnismäßigen Leichtigkeit zwischen den Vertretern der Reichsregierung und denjenigen politischen Par­ teien, die der Industrie bisher

nur wenig Wohlwollen bewiesen

haben, Verständigungen über Bedingungen zusammenkommen, durch welche sehr wesentliche Jntereffen der Industrie geopfert werden, dann kann in der Tat den weiteren gesetzlichen Maßregeln in dieser

Richtung nur mit ernster Sorge entgegengesehen werden. Für diese Art der Verständigung zwischen Reichsregierung

und politischen Parteien liefern leider auch die Beschlüsse der Kommission über einen der strittigsten Punkte der ganzen Reichs-

28 Versicherungsordnung, d i c Regelung des rechtlichen Verhältnisses zwischen den Aerzten und den Krankenkassen, einen beredten Beweis. Diese Frage hat in der Ausgleichslesung der Kommission eine Lösung gesunden, die gegenüber den Beschlüssen in der ersten Lesung nur als eine ganz erhebliche Verschlechterung bezeichnet werden kann. Trotz der anerkannt schlimmen Lage, in der sich die Krankenkassen den Aerzten gegenüber befinden, hat sich unter dem Drucke der Generalstreikdrohung des Leipziger Aerzteverbandes die Kommission nicht entschließen können, dem von diesem Verbände ausgeübten Koalitionszwangc durch geeignete gesetzliche Vorschriften entgegen« zutreten. Wenn auch zugegeben werden muß, daß mit dem. Be­ schlusse der Kommission, nach welchem unter bestimmten Voraus­ setzungen die Kassen zur Gewährung eines Barbetrages an die Ver­ sicherten an Stelle der ärztlichen Behandlung zu ermächtigen sind, diesen bei Kämpfen mit den koalierten Aerzten eine gewiße Erleich­ terung verschafft worden ist, so bleibt doch im wesentlichen der gegen­ wärtige schlimme Zustand bestehen, bei welchem die Aerzte in der Lage sind, den Krankenkassen ihre Bedingungen aufzuzwingen. Lb dieser Zustand sich auf die Dauer als haltbar er­ weisen wird, muß die Zukunft lehren. Der knappe Gesetzestext, der neben der von mir erwähnten Vorschrift in der Hauptsache nur noch die Bestimmung enthält, daß die Beziehungen zwischen Krankenkassen und Aerzten durch schriftlichen Vertrag zu regeln sind und daß, falls es die Kasse nicht erheblich mehr belastet, den Kassen­ mitgliedern die Auswahl zwischen mindestens zwei Aerzten frei­ gelassen werden soll, wird in der Praxis wohl noch zu vielen Schwierigkeiten Anlaß geben und der Auslegungskunst breiten Spiel­ raum lassen. T i e Tatsache kann aber jedenfalls nur mit Bedauern konstatiert werden, daß bei dem Kampfe um die Gestaltung dieser Vorschriften die Vertreter eines wissenschaftlichen Berufes sich nicht gescheut haben, zur Durchsetzung ihrer Forderungen das Streikrecht als Waffe zu gebrauchen, und daß in einseitiger Verfolgung wirt­ schaftlicher Interessen völlig unberücksichtigt geblieben ist, wie sehr gerade die Allgemeinheit an dieser Frage beteiligt ist. Meine Herren! Mit um so größerer Genugtuung muß es daher begrüßt werden, daß dieser Gesichtspunkt des Interesses der All­ gemeinheit doch etwas mehr zur Geltung gekommen ist bei den Vor­ schriften über die Verteilung der Rechte und Pflichten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Lrganen der Krankenkassen.

29 Meine Herren! Die bisherige Verteilung dieser Rechte und Pflichten, wie sie gesetzmäßig begründet war, hat — was bei dem Erlasse unseres Krankenversicherungsgesetzes mangels jeglicher Er­ fahrungen auf dem Gebiete dieses sozialen Fürsorgezweiges schlechter­ dings nicht vermutet werden konnte — bei den großen Ortskranken­ kassen zu einer fast uneingeschränkten Herrschaft der Sozialdemo­ kratie geführt und diese staatliche Einrichtung vollständig zu sozial­ demokratischen Erziehungsanstalten und Konventikeln gemacht. Diese Mißstände zu beseitigen, ist stets als ein Hauptziel der Reform der Arbeiterversicherung betrachtet worden und hat gewissermaßen den eigentlichen Ausgangspunkt der jetzigen reformatorischen Be­ strebungen gebildet. Aus diesem Grunde war in dem Entwurf der Regierung in Aussicht genommen, die Stimmrechte und Beitrags­ pflichten zwischen Arbeitgebern und Versicherten gleichmäßig zu teilen, da dieses Mittel als das-geeignetste zur Herbeiführung ord­ nungsmäßiger Zustände in den Ortskrankenkaffen erschien. Dieser Vorschlag der Regierung ist aber sowohl in der ersten wie in der zweiten Lesung der Kommission abgelehnt worden, da die Forderung der Soziaüremokraten, die sogenannten „historischen" Rechte des Arbeiters unangetastet zu lasten, vom Zentrum wie auch von der Fortschrittlichen Volkspartei unbedingt unterstützt wurde. Erst, als von den Vertretern der verbündeten Regierungen bestimmt erklärt

worden war, daß die ganze Reichsversicherungsordnung unannehm­ bar sein würde, falls nicht gesetzliche Vorkehrungen getroffen würden, um künftighin den Mißbrauch der Kaffen für die politischen Zwecke der Sozialdemokratie unmöglich zu machen, entschloß sich das Zen­ trum zu einem Kompromiß mit den beiden konservativen Parteien und den Nationalliberalen, demzufolge eine Reihe von Bestim­ mungen in das Gesetz ausgenommen worden sind, die zur Beseitigung der bisherigen Mißwirtschaft zu dienen bestimmt sind. Es ist zunächst vorgesehen, daß der bedeutungsvolle Posten des Vorsitzenden in den Ortskrankenkaffen nur durch übereinstimmenden Mehrheitsbeschluß beider Gruppen im Vorstände besetzt werden darf und daß, wenn diese Mehrheit etwa auch in einer zweiten Sitzung nicht zustandekommt, das Versicherungsamt einen Vertreter bestellt, der bis zu einer gültigen Wahl die Rechte und Pflichten des Vor­ sitzenden auf Kosten der Kaffe auSübt. Es ist sodann dahin Be­ stimmung getroffen, daß die bei den Krankenkassen aus Mitteln der Kaffe bezahlten Stellen der Beamten und derjenigen Angestellten, für welche die Dienstordnung gift, gleichfalls nur durch überein­ stimmenden Beschluß beider Gruppen int Vorstande vergeben werden

30 können und daß, falls eine Einigung nicht erfolgt, die Anstellung nur auf Grund eines von mehr als zwei Dritteln der Anwesenden gefaßten Beschlußes unter Bestätigung des Versicherungsamts er­ folgen darf. Die Rechts- und allgemeinen Dienstverhältniffe der Angestellten sind ferner durch eine vom Oberversicherungsamt zu genehmigende Dienstordnung zu regeln, durch welche insbesondere über den Nach­ weis fachlicher Befähigung, die Art der Anstellung sowie das Recht der Kündigung und Entlaffung Anordnung getroffen werden soll. Angestellte, die ihre dienstliche Stellung oder ihre Dienst­ geschäfte zu einer religiösen oder politischen Betätigung mißbrauchen, sind vom Vorstande zunächst zu verwarnen und bei Wiederholung sofort zu entlaßen und, was wohl das Wesentlichste ist, der Vorstand der Kaffe kann zu dieser Entlaffung gegebenenfalls von der Auf­ sichtsbehörde angehalten werden. Da schließlich auch noch vorgesehen ist, daß wichtige Satzungsänderungen der Zustimmung der Mehr­ heit sowohl der Arbeitgeber als der Versicherten bedürfen, so wird man anerkennen müffen, daß hiermit weitgehende Vorkehrungen getroffen sind, um der bisherigen Vorherrschaft der Sozialdemokratie in den großen Ortskrankenkaffen ein Ende zu machen und den Ein­ fluß der Arbeitgeber zu verstärken. Meine Herren! Man hätte vielleicht grundsätzlich richtiger ge­ handelt, wenn man an dem ersten Vorschläge der Regierung, den Arbeitgebern und Versicherten gleiche Rechte und gleiche Pflichten zuzuerkennen, festgehalten hätte, und die beschloßene Neuordnung ist vielleicht auch aus dem Grunde nicht ganz bedenkenfrei, weil sich aus derselben ein wesentlicher Schritt von der Selbstverwaltung ab zur Bürokratisierung ergeben wird. Trotzdem aber glaube ich, daß man sich von feiten der Arbeitgeberschaft mit der jetzt getroffenen Regelung doch wohl wird zufrieden geben können, und daß ein Anlaß nicht mehr vorliegt, von hier aus nochmals die Forderung der Durchführung der vollen Halbierung der Rechte und Pflichten zu er­ heben. Bezeichnend dafür, wie auch von feiten der Sozialdemokraten die Bedeutung der neuen Beschlüße eingeschätzt wird, sind wohl jeden­ falls die Ausfälle, in denen sich die sozialdemokratische Presie, vor allem der „Vorwärts", gegen diese Bestimmungen ergeht und in welchen die ganze Reichsversicherungsordnung als ein „Ausnahme­ gesetz" gegen die Arbeiter, als eine Entrechtung derselben durch das aus. Konservativen, Nationalliberalen und Zentrum bestehende

„Scharfmacherkartell" gebrandmarkt wird. Es können diese Auslassungen des „Vorwärts", der leider

31 hierbei in den linksliberalen Blättern immer mehr Sukkurs erhält, wohl nur als ein Grund mehr angesehen werden, um die gesetzliche Festlegung der Kommissionsbeschlüffe unbedingt zu fordern, und es darf wohl angenommen werden, daß die Re­ gierung ihrerseits an dieser Forderung auch bei den Plenar­ beratungen festhalten wird. Die Regierung hat jedenfalls aus diesem Vorgänge sowie auch noch aus weiteren Ergebnissen der Kommissions­ beratungen die Lehre ziehen können, daß sie sich mit Energie und Festigkeit für die Verwirklichung ihrer Pläne ein befferes Funda­ ment schaffte, als dadurch, daß sie sich, wie es sonst zumeist der Fall war, ganz der Führung der Parteien überließ. (Sehr richtig!) So hat sich z. B. die Kommission, wenn auch erst nach heftigen Debatten und Auseinandersetzungen, dem Wunsche der Regierung gefügt, den Landkrankenkaffen eine von derjenigen der Ortskranken­ kaffen wesentlich abweichende Organisation zu geben und auch die Regierungsvorlage insofern wieder herzustellen, als für die in der Landwirtschaft beschäftigten Personen dem Arbeitgeber das Recht verliehen ist, unter bestimmten Voraussetzungen für seine Arbeiter­ schaft die Befteiung von der Versicherungspflicht zu beanttagen. Meine Herren! Gegen diese im Interesse der landwirtschaft­ lichen Unternehmerschaft getroffenen Besttmmungen hat die Jndustrie sicher keinen Einwand zu erheben, sondern erkennt sie als wohlbegründet und berechtigt an. Sie hätte aber demgegenüber er­ warten können, daß man sich, namentlich vom Regierungstische aus, auch der bedrohten Jntereffen der Industrie etwas mehr angenommen und die Vorschriften etwas mehr daraufhin geprüft hätte, ob sie gleichfalls begründet und vor allem, ob sie auch erforderlich waren. Denn, meine Herren, wenn man des öfteren zu einzelnen ver­ schärfenden Anträgen die Bemerkung gehört hat, daß die Anttäge wohl erwägenswert, oder daß sie nicht gerade schädlich, oder daß sie von nicht allzu großer Bedeutung wären, so bekenne ich, daß mit einem derartigen Gutachten der Sache kaum gedient war. Es genügt meines Erachtens, wenn man bestehende und bewährte Ein­ richtungen ändern und durch andere ersetzen will, nicht, daß diese neuen Bestimmungen unschädlich oder nicht von großer Bedeutung sind, sondern es muß alsdann auch der Beweis verlangt werden, daß sie nützlich und unbedingt notwendig sind. Mit dem negativen Nachweis allein wird man sich in solchen Fällen nicht als befriedigt erklären können. Der Nachweis aber, daß die geforderten Ab­ änderungen nützlich oder sogar notwendig wären, ist in sehr vielen, ja wohl den meisten Fällen nicht erbracht worden.

32

So ist, um, von manchem anderen abgesehen, nur drei Be­ stimmungen noch kurz herauszugreifen, im § 412a der Reichs­ versicherungsordnung bestimmt worden, daß satzungsgemäß Ver­ sicherte, die vorübergehend einen geringeren Lohn beziehen, im Falle der Uebernahme des Mehrbetrages oder der Zustimmung von feiten des Arbeitgebers in ihrer alten höheren Lohnklaffe versichert bleiben können. Meine Herren! Diese Bestimmung mag für die Versicherten sehr gut gemeint gewesen sein; für die Kassen ist sie aber keineswegs unbedenklich und technisch auch kaum durchführbar. Da allgemeine Grundsätze sich dafür nicht aufstellen laßen, ob eine Lohnminderung nur vorübergehend ist oder nicht, so wird die Bestimmung nur eine Quelle steter Streitigkeiten sein oder es wird sich in der Praxis um des lieben Friedens willen so gestalten, daß eine einmal erreichte Lohnhöhe dauernd für das Bersicherungsverhältnis maßgebend sein und sich aus diesem Zustand eine die Krankenkaffe schwer schädigende Ueberversicherung ergeben wird. Es ist ferner im § 414 bestimmt worden, daß die Beiträge des Arbeitgebers für einzelne Betriebe durch die Satzung Häher bemessen werden können, insoweit die ErkrankungsgefaHr in dem Betriebe eine erheblich höhere ist. Diese Bestimmung muß doch von feiten dek betroffenen Arbeitgeber als eine harte Ungerechtigkeit empfunden werden, da sie gewisiermaßen eine Strafe dafür festsetzt, daß ein Betrieb nach der Natur der Dinge gesundheitsgefährlicher ist als der andere. Die Billigkeit hätte doch wohl erfordert, daß eine jede Er­ höhung der Beiträge in gleicher Weise wie bisher von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Verhältnis ihrer Beitragsleistung getragen wird. Eine dritte Bestimmung, für die irgendein Nachweis der Not­ wendigkeit in keiner Weise erbracht ist, ist dahin getroffen worden, daß die Kaffe dem wegen Erwerbslosigkeit aus dem Versicherungs­ verhältnis ausscheidenden Versicherten auf Verlangen seinen Anspruch auf die Leistungen der Kaffe zu bescheinigen hat. Meine Herren! Es ist bisher schon eine ständige Klage der Kassen gewesen, daß der dem Versicherten nach erfolgtem Ausscheiden verbleibende Anspruch vielfach von Saison-Gelegenheitsarbeitern und dergleichen in schlimmster Weise zur Ausbeutung der Kaffen benutzt worden ist, da nach sehr kurzer Versicherungszeit der weitestgehende Anspruch auf Unterstützung besteht. Es ist deshalb eigentlich kaum verständlich, daß den Kaffen jetzt auch noch die Verpflichtung auf­ erlegt werden soll, den Ausscheidenden auf Verlangen zu bescheinigen, daß sie noch Ansprüche erheben können, daß also diese noch ganz be-

33 sonders darauf gestoßen werden, daß die Krankenkassen auch als Arbeitslosen-Unterstützungskassen anzusehen sind. Für eine der­ artige Bestimmung fehlt wirklich jeder irgend ersichtliche Grund, und sie sind nur erklärlich aus dem Bestreben politischer Parteien, den Arbeiterkreisen aus parteitaktischen Gründen immer wieder vor Augen zu führen, in welcher Weise man bemüht gewesen ist, ihre Rechte sicher zu stellen. (Sehr richtig!) Dieses Beinühen, dieses Streben, die Wählerschaft der Ar­ beiter mit den für den Augenblick erzielten Erfolgen zu gewinnen, zieht sich auch wie ein roter Faden durch die ganzen Verhandlungen der Konunission über die Ausgestaltung des ersten und sechsten Buches der Reichsversicherungsordnung, welche die Verfahrensvorschriften und dieVorschriftenüber die Organisation der Behörden Betreffen.

Was zunächst die Verfahrensvorschriften anbetrifft, so möchte ich mich darauf beschränken, hier nur kurz zu erwähnen, daß die Zuständigkeit des Versicherungsamts als erstinstanzliche Spruch­ instanz in Rentenstreitigkeiten gemäß den bereits früher gefaßten Beschlüssen der .Kommission auch in der zweiten Lesung abgelehnt worden und den Berufsgenossenschaften diese Kompetenz ver­ blieben ist und daß ferner der Rekurs auf dem Gebiete der Unfall­ versicherung grundsätzlich aufrecht erhalten worden ist. Dagegen hat die Kommission das Interesse der Versicherten dadurch noch stärker wahren zu sollen geglaubt, daß sie eine umfangreichere Mitwirkung des Versicherungsaints als Hilfsorgan im Feststellungsverfahren anordnete und diese Mitwirkung vor allem in dem Einspruchs­ verfahren zur Geltung brachte. Es ist irrt Rahmen dieses Referats nicht gut angängig, die Einzelheiten dieses ganzen Verfahrens hier kritisch zu . be­ leuchten und auf die prozessualen Bestimmungen über die münd­ liche Verhandlung, über das Recht des Versicherten auf persönliches Gehör und auf Einziehung ärztlicher Gutachten, über, Beweismittel usw. hier näher einzugehen. Es kann aber wohl, selbst wenn man nicht nur nach dem Gesetze des Gegensatzes andere Festsetzungen gewünscht hätte, mit vollem Recht behauptet werden, daß sich als das einzige, sicher vorauszusehende Ergebnis der jetzigen Neugestal­ tung des Verfahrens eine sehr wesentliche Verteuerung und Ver­ langsamung der Entschädigungsfeststellung ergeben und daß die Schwierigkeit des Verständnisses und der Handhabung der gesetz­ lichen Vorschriften ganz erheblich vermehrt werden wird.

34 Die gleiche Konsequenz wird voraussichtlich auch die von der Kommission in der zweiten Lesung beschlossene Neuordnung der Organisation der Versicherungsbehörden haben. Meine Herren! Sie wissen alle, mit welcher Einmütigkeit von der gesamten Industrie die organisatorischen Vorschläge der Ne­ gierung, insbesondere die Einführung der Versicherungsämter, als verfehlt abgelehnt worden waren und daß in dieser Hinsicht das Wort des Herrn Staatssekretärs, daß in der an der Reichsversichcrungsordnung geübten abfälligen Kritik für ihn eine gewisse Ge­ währ dafür liege, daß die Regierung das richtige getroffen habe, allgemein als sehr wenig zutreffend empfunden worden ist Es wurde daher auch mit besonderer Freude begrüßt, als in der ersten Lesung der Kommission die Vorlage der Regierung sehr wesentlich abgeändert und die hinsichtlich der Einführung und der Zuständig­ keit der Versicherungsämter in dem Entwurf enthaltenen Bestim­ mungen umgestaltet wurden. Diese Freude war nur von kurzer Dauer. Die Kommission hat sich leider bereit finden laffen, in der zweiten Lesung einen Teil ihrer früheren Beschlüße als Kompromißobjekt zu opfern und die Vorschläge der Regierung zu akzeptieren. Wenn auch das Versicherungsamt als „selbständige" Behörde nach dem Wortlaut des Gesetzes nur für diejenigen Bundesstaaten zugelassen ist, in denen nur ein Oberversicherungsamt besteht, so unterliegt es doch wohl kaum einem Zweifel, daß nach der ganzen Regelung des Zuständigkeitsgebiets die unter dem Namen „Ver­ sicherungsämter" den unteren Verwaltungsbehörden angegliederten Abteilungen für Arbeiterversicherung auch in den übrigen Bundes­ staaten aus sich selbst heraus zur Ausdehnung und Selbständigmachung drängen und daß die dem Versicherungsamt zugewiesenen erweiterten Funktionen einer Verstaatlichung der ganzen Reichs­ versicherung immer mehr Vorschub leisten werden. Auch die wenigstens in der ersten Lesung der Kommission mit Konsequenz durchgeführte Einheitlichkeit der Versicherungsbehörden ist nunmehr insofern durchbrochen worden, als für die Betriebs­ verwaltungen des Reichs und der Bundesstaaten sowie für andere Gruppen von Betrieben fortan besondere Ober versicherungsämtcr zugelafsen worden sind und auch der Fortbestand der in der ersten Lesung gestrichenen L a n d e s Versicherungsämter unter gewissen Voraussetzungen gesichert ist. Ferner ist noch in einer anderen sehr wesentlichen Beziehung die Stimmung der Kommission in der zweiten Lesung sehr zu-

35 gunsten der Regierung umgeschlagen. Wahrend in der ersten Lesung beschlossen worden war, daß die sämtlichen persönlichen und sächlichen Ausgaben der Versicherungsämter und auch der Oberversicherungs­ ämter von den einzelnen Bundesstaaten getragen werden sollten, ist nunmehr eine Teilung dieser Ausgaben zwischen dem Staate und den Bersicherungsträgern vorgesehen. Die frühere Ansicht der Kom­ mission, daß die Uebernahme der gesamten Kosten vom Staate nicht nur sachlich gerechtfertigt, sondern auch als ein „nobile officium" der Regierung anzusehen sei, ist demnach leider einer anderen Auffaffung gewichen. Meine sehr geehrten Herren! Wenn man an der Hand dieser soeben von mir skizzierten Bestimmungen nunmehr einen Rückblick wirft auf die Gestaltung, die die Reichsversicherungsordnung nach den letzten Beschlüssen der Kommission erhalten hat, so muß man leider mit Bedauern feststellen, daß die Wünsche, die der Central­ verband Deutscher Industrieller in der am 9. Dezember v. I. ge­ faßten Resolution der Regierung und dem Reichstage unterbreitet hatte, so gut wie gar keine Berücksichtigung gefunden haben, daß vielmehr durch die nach dieser Zeit gefaßten Beschlüsse der Gesetz­ entwurf noch sehr viel ungünstiger für die Industrie geworden ist. Es soll hier nochmals ausdrücklich betont werden, daß die im Centralverband Deutscher Industrieller vereinigte Industrie von Anfang an stets bereit gewesen und auch heute noch ist, die mit der Einführung der Hinterbliebenenfürsorge verbundenen dauernden finanziellen Lasten auf sich zu nehmen und an der Fortentwicklung unserer sozialen Gesetzgebung mitzuarbeiten; es mußte hierbei aber unbedingt zur Voraussetzung gemacht werden, daßdieAufbringungderangefordertenLeistungenineinerdieKapitalskraftunddieLeistungsfähigkeit unserer Industrie schonenden Weise erfolgte und daß aus der Reform unserer Arbei­ terversicherung alle diejenigen Bestimmungen entfernt blieben, welche den der staatlichen Für­ sorge unterliegenden Personenkreis in einer unzulässigen und mit den Grundprinzipien unseres ganzen Versicherungswesens nicht mehr zu vereinbarenden Weise ausdehnen. (Sehr richtig!) In dieser Voraussetzung ist die Industrie bitter enttäuscht worden. Durch die Ausdehnung der Bersicherungspflicht auf alle BetriÄbSbeamten bis zu einem Jahreseinkommen von 5000 Mark, durch die Erhöhung des bei der Feststellung voll anzurech-

36 nenden Jahresarbeitsverdienstes von 1500 auf 1800 Mark, durch die ganz außerordentliche Heraufsetzung der Leistungen der Kranken­ versicherung, durch die Gewährung einer Kinderzufchußrente für Jnvalidenrentenempfänger, durch die erhebliche Verteuerung des Berwaltungsapparats sind der Industrie wiederum Lasten aufgMirdet worden, deren Höhe sich gegenwärtig ziffernmäßig wohl kaum feststellen läßt, die aber die Gefahr immer näherrücken, daß die WettbeweMfähigkeit unserer Industrie mit dem Auslande, das zum großen Teil schon mit Hilfe billigerer Lebenshaltung und niedrigerer Lohne auf dem Weltmärkte eine Vorzugsstellung ein­ nimmt, eines Tages völlig lahmgelegt werden wird. Meine Herren! Es sollte doch eigentlich zu denken geben, daß für eins unserer größten Werke, wie bereits festgestellt worden ist, die Erhöhung der Jnvalidenversicherungsbeiträge für die höchste Klaffe von 36 auf 48 Pfg. allein eine Erhöhung der Gesamtbeiträge für die Invalidenversicherung um 33 pCt. zur Folge haben wird, und eS sollte auch am grünen Tisch unserer Sozialpolitiker eigentlich bekannt sein, daß um den Betrag einer derartigen, der Industrie auf­ erlegten Neubelastung sich unter allen Umständen auch die Selbst­ kosten der Industrie wiederum erhöhen werden und daß, wo die Industrie auf dem Weltmarkt zu konkurrieren genötigt ist, es ihr keineswegs immer möglich ist, dem Preise ihrer Waren den Zuwachs dieser Selbstkosten jedesmal zuzuschlagen. Die Folge ist demnach, daß die nach der Reichsversicherungsordnung erwachsenden neuen Lasten auch wieder den Nettoverdienst der Industrie schmälern werden, damit also auch die Verzinsung des in der Industrie fest­ gelegten Kapitals und damit wiederum die Kapitalskraft der In­ dustrie selbst. Diese Tatsache ist nicht wegzuleugnen und nur der G r a d ihrer Einwirkung und die Frage, inwieweit die Industrie überhaupt noch fähig ist, die immer steigende neue Belastung zu tragen, mag einer Diskussion unterliegen. Wenn die deutsche Industrie bis dahin weiter nichts getan hatte, wie die meisten Herren, die über die Sache im Parlament reden, nämlich „schätzenswerte" Vorschläge zu machen, die nachher entweder sich als unpraktisch oder auch als undurchführbar er­ weisen, dann würde ihr sicherlich die Berechtigung fehlen, irgendwie den Anspruch zu erheben, in erster Linie zur Sache gehört zu werden. Die deutsche Industrie hat aber von jeher den Beweis erbracht, daß

sie für ihre Arbeiter zu sorgen verstanden hat, und zwar nicht nur innerhalb des Rahmens der gesetzlichen Leistungen, sondern vor allem auch durch freiwillige Leistungen, mit denen sie weit

37 über das gesetzliche Maß hinausgegangen ist und vielfach unserer Ge­ setzgebung überhaupt den Weg gewiesen hat. Und, was ich besonders betonen möchte, an diesen Wohlfahrtseinrichtungen für die Arbeiter ist auch in schweren Zeiten, in Zeiten niedergehender Konjunktur, wo nur ein ganz geringer Teil des in der Industrie engagierten Kapitals eine Verzinsung gefunden hat, niemals und nirgends gerüttelt worden. (Bravo!)

Meine Herren!

Das sollten sich doch diejenigen gesagt sein

lassen, die nicht müde werden, der Industrie Mangel an Herz für ihre Arbeiter vorzuwerfen, und ihr mit guten, für sie aber recht billigen Ratschlägen an die Hand zu gehen; das sollte aber auch die Regierung etwas mehr beachten, die diesen Ratschlägen auch jetzt leider wieder so willig Gehör geliehen hat. Meine Herren! Es soll gern zugegeben werden, daß für unsere Reichsregierung bei dieser Stellungnahme das auf das Wohl des Staats und der Gesellschaft gerichtete Streben das leitende Motiv gewesen ist Die Befürchtung ist aber wohl mehr als begründet, daß sich die Reichs­ regierung hierbei über die zu erzielenden Erfolge täuscht und ins­ besondere dann täuscht, wenn sie glaubt, durch derartige Wohltaten, wie sie jetzt in der Reichsversicherungsordnung den Arbeitern wiederum geboten werden, die augenblickliche Stimmung in den Wählerkreisen verändern und sich Anspruch aus Dank erwerben zu können. (Sehr richtig!)

Schon die Aeußerungen der sozialdemokratischen und auch der linksliberalen Presse in der letzten Zeit sollten der Regierung eine Lehre sein, daß dieser Zweck nicht erreicht wird und auch niemals erreicht werden kann. Denn die Regierung mag mit dem, was sie den Arbeitern zuwenden will, bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen; sie wird niemals so weit gehen können, daß sie nicht von demokratischen Wahlagitatoren übertrumpft werden kann, und da eine jede solche Ueberbietung mit einer abfälligen Kritik desjenigen, was die Regierung geboten hat, verbunden sein muß, so wird die Masse der Wähler stets mehr geneigt sein, jenen Leuten zu folgen, als den gemäßigten Parteien und der Regie­ rung, die nicht mehr bieten können, als sie auch zu erfüllen im­ stande sind. (Sehr richtig!) Umsomehr muß daher bei uns die Richtung Bedenken erregen, die — wie ich mir schon eingangs zu kennzeichnen er­ laubte — im Wettlauf mit den radikalen Parteien nur zu sehr bereit zu sein scheint, die berechtigten Interessen der anderen be-

38 teiligten Faktoren bei den Arbeiterversicherungsgesetzen, die Jnteressen der Industrie zu opfern, diejenige Richtung, welche dahin ge­ langt, große, die Zukunft der kommenden Generation beherrschende Fragen von dem Standpunkt der augenblicklichen Parteipolitik und Wahltaktik aus zu entscheiden. Aus dieser Erkenntnis heraus dürfte ein dringender Anlaß gegeben sein, in der heute von Ihnen zu fassenden Entschließung auf das ernsteste nochmals auf die schweren Schädigungen hin­ zuweisen, die die Reichsversicherungsordnung Gewerbe, Handel und Industrie zufügen wird und den verbündeten Regierungen dringend nahezulegen, in gerechter Würdigung der großen Interessen, die auf dem Spiele stehen, den Gesetzentwurf in wesentlichen Punkten noch­ mals einer Umgestaltung zu unterziehen.

Meine Herren! DieimCentralverbandDeutscher Industrieller vereinigte Industrie ist bereit ge­ wesen, ihre Hand zu bieten, um die Reformpläne der Regierung auf dem Gebiete der staatlichen Arbeiterversicherung zu fordern und zu unter­ stützen, aber nicht, wie es jetzt geschehen ist, unter einseitiger Geltendmachung der Interessen der Arbeiterschaft, sondern unter gleichmäßiger Berücksichtigung aller Faktoren, aller Interessen, auch der Interessen der Arbeitgeber, und, meine Herren, man sollte dort draußen sich vor Augen halten, daß eine freudige und überzeugte Zu­ stimmung auch der Arbeitgeber ein unbedingtes Erfordernis ist, wenn dieses große Werk ge­ lingen und dem deutschen Volk zum Segen ge­ reichen soll. (Lebhafter, anhaltender Beifall und Hände­ klatschen.) Vorsitzender: Meine Herren! Ihr Beifall wird dem Herrn Regierungsrat Schweighoffer der schönste Lohn für die Aus­ führungen sein, die er eben gemacht hat.

Ich eröffne nun die Diskussion über den Vortrag. (BueckBerlin: Sollen nicht erst die Anträge verlesen werden?) Die An­ träge liegen den Herren ja vor; aber wenn der Wunsch geäußert wird, können sie ja auch noch einmal verlesen werden. Meine Herren! Ich erhalte soeben ein Blatt, das heute morgen erschienen ist, die heutige Morgenausgabe des „Vorwärts", in der die Resolution abgedruckt ist, die gestern abend in 17 Versammlungen

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hier in Berlin gegen die ReichsverpcherungSordnung angenommen worden ist. Ich mochte diese Resolution verlesen. Freilich werde ich den Schlußsatz weglaffen, der, wie üblich ist, die Aufforderung ent­ hält, der Organisation beizutreten. Die Resolution lautet folgendermaßen:

„Der Entwurf der Reichsversicherungsordnung, der dem wieder zusammentretenden Reichstag zur Annahme vorliegt, beschränkt die ohnehin schon recht spärlichen Rechte der versicherten Arbeiter und Arbeiterinnen in der unerträglichsten Art und Weise. Große Schichten der Bevölkerung bleiben nach wie vor von der Versicherung ausgeschlossen, die Verfolgung der Rechtsansprüche Unfallverletzter sind aufs härteste erschwert, die Witwen- und Waisen­ renten toetbcn auf einen Satz normiert, der zur allerknappsten Lebensnotdurft niemals ausreicht, die Witwenrente soll nur in­ validen Witwen zuteil werden und verliert damit fast jede Be­ deutung für die arbeitenden Klassen. Neben zahllosen weiteren Verschlechterungen der bestehenden Zustände wird die Verwaltung der Krankenkassen und aller Bersicherungsinstitutionen den Arbeitnehmern völlig entwunden. Die hohen Beiträge und Zweidrittelanteil der Arbeiter bleiben, daS Mit­ bestimmungsrecht der Versicherten aber wird in schnöder Weise eskamotiert und an die Behörden ausgeliefert. Mit Entrüstung protestieren die Versammelten gegen den neuen Versuch, die deutsche Arbeiterschaft noch mehr zu entrechten nnb zu vergewaltigen. Die Versammlung ruft alle gerecht und billig denkenden Ele­ mente des Volkes, jeden fteiheitlich Fühlenden zum nochmaligen Protest gegen den schamlosen Entwurf auf, welchen der schwarz­ blaue Block im Bunde mit den Scharfmachern dem deutschen Volke zu bieten wagt" u. s. f. Ich glaube, es ist doch ganz nützlich, daß das hier zur Verlesung gebracht wird, gerade im Zusammenhang mit dem, was der Herr Referent ausgeführt hat. Es perlustriert das ja in ausgezeichneter Weise. Nun bitte ich, den Beschlußantrag zur Verlesung zu bringen.

Dr. Schweighoffer-Berlin (liest): Der Centralverband Deutscher Industrieller hat in seinen in den Delegiertenversammlungen vom 12. April und 9. Dezember 1910 zu dem Entwürfe einer Reichsversicherungsordnung ge­ faßten Entschließungen sich grundsätzlich damit einverstanden er-

40 klärt, daß für die Witwen und Waisen der Arbeiterschaft eine angemessene staatliche Fürsorge herbeigeführt werde, und hat des­ halb den mit der Einführung einer Hinterbliebenen-Versicherung verbundenen finanziellen Lasten rückhaltlos zugestimmt. An dieser Zustimmung hält der Centralverband auch heute noch fest.

Der Centralverband hat mit der in diesen Entschließungen an dem Gesetzentwurf geübten Kritik bestimmte Vorschläge und Anregungen verbunden und damit an seinem Teile zu einer praktisch brauchbaren Aus- und Umgestaltung des Entwurfs bei­ tragen wollen. Er hat endlich während der Verhandlungen in der Reichstagskommission sich bemüht, diese seine Vorschläge und Anregungen den Arbeiten der Kommission anzupassen. Der Centralverband Deutscher Industrieller hat somit den Be­ weis erbracht, daß er, nachdem einmal mit der Regelung der Hinterbliebenenversicherung eine Reform der Arbeiterversicherung verbunden werden sollte, redlich bemüht ist, an der erträglichen Gestaltung dieser Reform positiv mitzuarbeiten, leider ohne den gewünschten Erfolg. Vor dem Beginn der Verhandlungen int Plenum des Reichstages über den Entwurf, wie er sich nun nach den Kommissionsbeschlüssen darstellt, erachtet es deshalb der Centralverband als seine dringende Pflicht, noch einmal seine Stimme zu erheben, um auf die schwerwiegenden Nachteile mit aller Deutlichkeit hinzuweisen, welche für weiteste Kreise des Erwerbslebens aus der Annahme des Gesetzentwurfes in seiner jetzigen Gestalt befürchtet werden müssen.

I. Krankenversicherung.

1. Es muß wiederholt und nachdrücklich Einspruch dagegen erhoben werden, daß die Betriebskrankenkassen, die sich auch im Interesse der Versicherten als die beste Organisationssorm der Krankenversicherung erwiesen haben und eines der wirksamsten Mittel bilden, das Band zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer fester zu knüpfen, nur dann zugelassen sein sollen, wenn und so­ lange sie die maßgebenden Orts- oder Landkrankenkassen nicht „gefährden". Durch diese Bestimmung, die um so einschneidender ist, als weder der Gesetzentwurf, noch die Begründung nähere Auskunft über den Begriff der „Gefährdung" gibt, werden die sämtlichen Betriebskassen aus eine durchaus unsichere Grundlage gestellt, und die Beseitigung dieser Vorschrift muß daher als eine einmütige, unbedingte Forderung der gesamten Industrie be­ zeichnet werden.

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2. Für bedenklich wird weiterhin die vielfache Ausdehnung der Mehrleistungen erachtet, denn die Erfahrung beweist, daß die Möglichkeit, die Leistungen auszudehnen, in der Praxis dazu führt, daß sie tatsächlich auch ausgedehnt werden Es werden also die im Sinne des Gesetzes als freiwillig anzusehenden Mehr­ leistungen nach dem Verlaufe der Dinge stets zu Regelleistungen werden und für manche Kassen, insbesondere mit Rücksicht auf die Erhöhung des den baren Leistungen der Kasse zugrunde zu legenden Grundlohns eine schwere finanzielle Belastung nach sich ziehen 3. Bei der Ausdehnung der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Hausgewerbetreibenden ist den Verhältnissen der ein­ zelnen Industrie- und Gewerbezweige mit hausindustrieller Be­ völkerung ausreichend Rechnung zu tragen.

4. Der Centralverband hat mit Bedauern aus den Kom­ missionsbeschlüssen ersehen, daß die Arztfrage ungelöst und somit der gegenwärtige unerfreuliche Zustand bestehen geblieben ist, bei welchem die Krankenkassen eines genügenden Schutzes gegen­ über den Aerztevereinigungen entbehren. 5. Die Aenderungen, welche die Kommission über die Ver­ teilung der Rechte und Pflichten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Organen der Krankenkassen beschlossen hat, sind als Verbesserungen des bestehenden Rechtszustandes zu be­ trachten. Wenn auch in der beschlossenen Neuordnung infolge der den Aufsichtsbehörden zugewiesenen Befugnisse eine gewisse Beschränkung der Selbstverwaltung der Kassenorgane zu erblicken ist, so können die nunmehrigen Vorschriften doch als geeignet an­ gesehen werden, um der politischen Ausnutzung der staatlichen Einrichtung der Krankenkassen von feiten der Sozialdemokratie ein Ende zu machen und den Arbeitgebern eine positive Mitarbeit zu ermöglichen. II. Unfallversicherung.

1. Gegen die Erweiterung des Umfanges der Unfallver­ sicherung und gegen die Steigerung ihrer Leistungen durch Er­ streckung der Versicherungspflicht auf alle Betriebsbeamten bis zu einem Jahreseinkommen von 5000 M., durch Erhöhung des in vollem Umfange anrechnungsfähigen Jahresarbeitsverdienstes von 1500 auf 1800 M., durch Ermächtigung des Bundesrats zur Einbeziehung von Berufskrankheiten in die Unfallversicherung usw. muß entschieden Widerspruch erhoben werden, um so mehr.

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als bei Aufbringung der Entschädigungsleistungen der Unfall­ versicherung weder das Reich noch die Versicherten in irgend einer Weise beteiligt sind. 2. Auch gegen die Anhäufung übergroßer Rücklagen bei den Berufsgenosienschaften muß der Centralverband nochmals vor­ stellig werden. Durch die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Aufbringung der Zuschläge zu diesen Rücklagen werden der gewerblichen Tätigkeit andauernd gewaltige Kapitalien entzogen, durch welche die Mehrung und Stärkung der produktiven Kräfte des Volkes, in welcher der Centralverband die größte Sicherheit für die Leistungen zum Zwecke der Arbeiterver­ sicherung erblickt, zurückgehalten werden wird. Ohne auf die weiteren, gegen die rein formale „Fehlbetragsrechnung" der Be­ gründung des Entwurfs bestehenden Bedenken hier näher einzu­ gehen, ist der Centralverband der Ansicht- daß auf diesem Gebiete jede Zeit für die Deckung ihrer Bedürfnisse zu sorgen hat, ein Grundsatz, den auch der Staat bei der Deckung seines Bedarfs befolgt. Der Centrawerband muß daher fordern, daß in der Ansammlung der Rücklagen nach dem Wunsche der gewerblichen Berufsgenossenschaften ein langsameres Vorgehen gesetzlich zu­ gelassen wird.

UI. Invalidenversicherung. Der Centralverband muß diejenigen Bestimmungen des Entwurfs mit Nachdruck bekämpfen, welche eine neue und un­ berechtigte Belastung der Arbeitgeber in sich schließen; er rechnet dahin insbesondere die Einführung einer Kinderzuschußrente für alle Jnvalidenrentenempfanger mit Kindern unter 15 Jakren. IV. Verfahren und Bersicheruugsbehördrn.

Der Centralverband spricht endlich sein Bedauern auch dar­ über aus, daß sowohl die Verfahrensvorschriften als auch die Vorschriften über die Organisation der Versicherungsbehörden eine wenig zweckmäßige und in vieler Hinsicht bedenkliche Gestalt erhalten haben. Durch die Schaffung von Versicherungsämtern, deren Notwendigkeit in keiner Weise nachgewiesen ist, wird die Selbstverwaltung der Versicherungsträger schon jetzt eingeschränkt, in der weiteren Entwickelung aber in ihrem Bestände bedroht werden. Ueberdies bringt die Einrichtung des Versicherungs­ amts eine Erschwerung und Verlangsamung des Geschäftsganges, eine Vermehrung der ehrenamtlichen Inanspruchnahme und eine wesentliche Erhöhung der Kosten mit sich. Epdlich wird durch die

43 Beschränkung des Rekurses und die Entwickelung der Zuständig­ keit der Landesversicherungsämter die Einheitlichkeit der Recht­ sprechung auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung auf das Ernsteste gefährdet. Der Centralverband Deutscher Industrieller muß hiernach seine Stellungnahme zu dem Entwürfe einer ReichsversicherungSordnung dahin zusammenfaffen, daß er auch in der jetzigen Ge­ staltung der Vorlage eine unannehmbare Aenderung unserer Arbeiterversicherung erblickt. Unter Außerachtlassung der bis­ herigen Leistungen der Arbeitgeberschaft und der segensreichen Wirksamkeit unserer großen Fabrikbetriebe in sozialer Beziehung sind durch die Kommissionsbeschlüsse den Arbeitgebern neue Lei­ stungen und Belastungen auferlegt, welche schwere wirtschaftliche Beeinträchtigungen nicht nur für die Gewerbetreibenden selbst, sondern auch für die nationale Wirtschaft überhaupt, und nicht zuletzt für die Arbeiterschaft im Gefolge haben werden. Durch die immer fortschreitende Vermehrung der Lasten der Ver­ sicherung wird nicht nur die Ausfuhrmoglichkeit, sondern schließ­ lich auch der Bestand der deutschen Industrie überhaupt in Frage gestellt werden. Der Centralverband Deutscher Industrieller ist der Zu­ versicht, daß es wohl möglich ist, noch in den Plenarberatungen des Reichstags den Gesetzentwurf erträglich zu gestalten; sollte dies nicht zu erreichen sein, so würde der Fortdauer des gegen­ wärtigen Zustandes der Vorzug zu geben sein.

Vorsitzender: Ich eröffne die Diskussion.

Justizrat Wandel-Essen: Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß sich im Abschnitt IV in der viertletzten Zeile ein kleiner Druckfehler befindet. Es muß dort heißen statt „Entwicklung der Zuständigkeit der Landesversicherungsämter": „Erweiterung". Dr. .Schweighoffer-Berlin: Es muß in der Tat „Erweiterung" heißen und die Druckvorlage dementsprechend geändert werden. (Zuruf: Meine Herren, ich glaube, hier liegt noch ein Druck­ fehler vor. In dem Schlußsatz soll es heißen: „Leistungen und Be­

lästigungen", nicht „Belastungen"!)

Borfitzender: Es muß heißen „Belästigungen". Meine Herren, eS meldet sich niemand mehr zum Wort. Ich schließe dann die Diskussion und bringe nun die Resolution zur Abstimmung. Wünschen die Herren, daß sie absatzweise zur Abstimmung gebracht wird?

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(Wird verneint.) Oder sind Sie damit einverstanden, daß ich sie gleich im ganzen zur Abstimmung bringe? (Zustimmung), natürlich unter Berücksichtigung der Bemerkungen, die hier gemacht worden sind in bezug auf Beseitigung von Druckfehlern und kleinen Redak­ tionsmängeln. Es wird der Wunsch geäußert, daß die Resolution im ganzen zur Abstimmung gestellt wird. Diejenigen Herren, welche gegen die An­ nahme der Resolution sind, wie sie Ihnen hier vorliegt, bitte ich, sich zu erheben.

Die Resolution ist einstimmig angenommen. Wir kommen nun zu: ft.

4. Der Entwurf eines LersicheruugsgesrtzeS für Angestellte. Herr Professor Moldenhauer, darf ich bitten?

Berichterstatter Professor Or. Moldeuhauer-Köln: Mei ne Herren! Wer den vorliegenden Entwurf eines Versicherungsgesetzes für An­ gestellte richtig verstehen will, muß sich seine Vorgeschichte vergegen­ wärtigen. Diese Vorgeschichte beginnt mit dem Augenblick, als die österreichische Regierung im Jahre 1901 einen Gesetzentwurf über die Pensionsversicherung der Privatbeamten vorlegte. Daß die öster­ reichische Regierung damals einen ganz bestimmten Weg, nämlich den der Sonderversicherung einschlug, erklärt sich ungezwungen daraus, daß Oesterreich bis zum heutigen Tage eine allgemeine Invalidenversiche­ rung nicht kennt, also die Möglichkeit eines Ausbaues der Invaliden­ versicherung auch von vornherein nicht gegeben war, und wir dürfen vielleicht annehmen, daß ohne dieses Vorgehen Oesterreichs, das sich aus den besonderen Verhältnissen Oesterreichs erklärt, niemals in Deutschland dieser unglückselige Gedanke einer Sonderversicherung aufgetaucht und vor allen Dingen auch nicht mit dieser Hartnäckig­ keit verfochten worden wäre. Dieses Vorgehen Oesterreichs schlug sofort starke Wellen nach Deutschland hinüber, wo man sich bis zu diesem Augenblick mit der Frage der Pensionsversicherung der Angestellten fast noch gar nicht beschäftigt hatte. Schon in demselben Jahre traten zahlreiche An­ gestelltenverbände zusammen, und aus diesem Zusammenschluß hat sich dann der Ihnen ja aus der Presse genügend bekannte HauptauSschuß zur Herbeiführung einer reichsgesetzlichen Pensions- und Hinterbliebenenverficherung der Angestellten gebildet, der eine größere Zahl von Augestelltenverbanden umfaßt, die angeblich rund 700000 Mitglieder zählen.

45 Dieser Hauptairsschuß hat nun in den verfloßenen 10 Jahren eine ungemein rührige Agitation entfaltet, in beten Verlauf eS ihm gelungen ist, die Regierung und die politischen Parteien vollständig auf seine Seite zu bringen. Die ReichSregierung hat sich zunächst diesen neuen Ideen gegeniiber vollständig ablehnend verhalten. Es muß darauf hingewiesen werden, daß noch im Dezember 1903 der damalige Staatssekretär des Innern, Graf Posadowsky, erklärte, mit der reichSgesetzlnhen Regelung, die ja die Angestellten bis zu 2000 M., in der Unfall­ versicherung bis zu 3000 M. umfaßt, sei die Frage für die Regierung erledigt. Noch im Dezember desselben Jahres hat die Reichsregierung sich bei Gelegenheit einer weiteren Interpellation sehr zurückgehalten; sie hat sich nur bereit erklärt, die damalige Privatenquete der An­ gestellten bearbeiten zu lasten. Der Umschwung tritt ein im Jahre 1907 nach den Reichstagswahlen, als während der Wahlen seitens der Parteien die weitgehendsten Versprechungen hinsichtüch der Ein­ führung der Angestelltenversicherung abgegeben worden waren, da hat dann zum ersten Male, unter dem Eindruck der Wahlen, als die Angestellten kamen und als Belohnung für ihre Tätigkeit in der Bekämpfung der Sozialdemokratie die Angeftelltenversicherung ver­

langten, die Reichsregierung sich offiziell für eine solche in einem erweiterten Maße ausgesprochen und hat dann im weiteren sich voll­ ständig von dem Hauptausschuß führen laffen. Schon die Denk­ schrift für daS Jahr 1908 zeigt das klar und deutlich, in der damals zum ersten Male von den Hauptbeteiligten, das heißt vom Haupt­ ausschuß gesprochen wird, und noch stärker zeigt sich das in der Be­ gründung zum vorliegenden Gesetzentwurf, in dem die Beteiligten fast vollständig mit dem Hauptausschuß identifiziert werden. Wenn da von den Stimmen der Beteiligten gesprochen wird, so wird stets fast ausschließlich auf den Hauptausschuß verwiesen, der nicht nur eingehend in der Begründung seiner Zusammensetzung nach auf­ geführt wird, sondern besten Vorstandsmitglieder sogar mit Namen, Adresse und Postfach in der amtlichen Begründung erscheinen. Von den vielen Widersprüchen aus wirtschaftlichen Verbänden und seitens der Wiffenschaft ist in dem vorliegenden Entwurf überhaupt kaum die Rede (Sehr richtig!); sie werden als nebensächlich Übergängen, wie auch die Arbeitgeber für die Begründung scheinbar als Beteiligte

nicht in Frage kommen. Es haben auch ausschließlich — daS möchte ich hier zu Btzginn noch einmal hervorheben — vor dem Erscheinen des Gesetzentwurfes Verhandlungen mit dem Hauptausschuß statchrfunden oder, um mich

46 gleich zu korrigieren, das Reichsamt des Innern hat nicht Verhand­ lungen mit dem Hauptausschuß geführt, sondern es hat, wie Herr Geheimrat Koch es neulich ausführte, lediglich dem Hauptausschuß die Möglichkeit geboten, seine Wünsche persönlich im Reichsamt des Innern vorzutragen. (Heiterkeit und Hört! Hört!)

Die Einwirkung des Hauptausschuffes auf die politischen Par­ teien ist eine ganz ähnliche wie auf die Reichsregierung. Die politi­ schen Parteien haben sich von Anfang an stark gemacht für eine der­ artige Angestelltenversicherung und, nachdem einmal ein bestimmter Weg vorgeschrieben war, ohne weiter in die Kritik einzutreten, diesem zugestimmt. Wir haben jetzt aus den Kreisen der politischen Par­ teien ja auch immer wieder gehört, daß es notwendig wäre, möglichst noch in der laufenden Session diesen Gesetzentwurf zu erledigen, erklärlich, weil es heißt, nun wieder vor die Wähler zu treten und Rechenschaft darüber abzulegen, was aus den Versprechungen von 1907 geworden ist.

Eigentümlicherweise hat der Hauptausschuß, der so stark auf die Regierung und die Parteien eingewirkt hat, nicht den gleichen Ein­ fluß bei den Angestellten selbst gehabt. Es haben sich starke Minori­ täten gebildet, die gegen die Auffaffung des Hauptausschuffes zu­ sammengetreten sind, und als man versuchte, jetzt noch schnell eine Demonstration zu Werk zu bringen und einen Deutschen Privat­ beamtentag abhielt, der die Einheitlichkeit der Anschauungen wenig­ stens in den Angestelltenkreisen zeigen sollte, da hat dieser Versuch mit einem glänzenden Fiasko geendet. Sie haben in der Zeitung von dieser Versammlung gelesen, bei der man von vornherein Gegnern der Auffaffung des Hauptausschuffes den Zutritt verwehrte, bei der man erklärte, es würde nur zustimmenden Aeußerungen das Wort gegeben, und bei der. schließlich 2000 Mitglieder die Versamm­ lung verließen, eine neue einberiefen und eine Protesterklärung ab­ gaben. Ich hebe das hervor, weil es immer heißt, die Angestellten wollten diese Form der neuen Versicherung, während tatsächlich unter den Angestellten sehr weite Kreise mit dem Vorgehen des Haupt­ ausschuffes nicht einverstanden sind.

Auf die Arbeitgeber hat der Hauptausschuß keinerlei Einfluß auszuüben vermocht. Die Arbeitgeber haben zu dieser Frage zunächst nur Stellung dahin genommen, daß sie sich einer solchen Angestellten­ versicherung sympathisch gegenübergestellt haben, und insbesondere hat «ine derartige Erklärung arnch der Eentralverband in -feiner Delegiertenversammlung vom 28. Oktober 1907 angenommen.

47 Aber der vorliegende Gesetzentwurf findet in Arbeitgeberkreisen der Industrie und des Handels fast überall eine einmütige Ab­ lehnung. (Sehr richtig!) Selten sind alle diese Kreise so einig ge­ wesen in der Beanstandung einer Gesetzesvorlage. Letzthin hat noch der Deutsche Handelstag in dem Sinne seine Resolution gefaßt. ES sind nur ganz wenige Stimmen der Industrie und des Handels, ganz wenige Handelskammern, die ein anderes Votum abgegeben haben. Woher kommt diese ablehnende Haltung, nachdem man sich doch mit einer Angestelltenversicherung, mit einer Fürsorge für die An­ gestellten, die über das heutige hinausgeht, einverstanden erklärt hat? Wogegen wenden sich die Widersprüche gegen diesen Gesetz­ entwurf? Sie wenden sich einmal dagegen, daß der Kreis der ver­ sicherten Personen so weit gezogen wird, daß Angestellte bis zu einem Gehalt von 5000 M. in die Versicherung einbezogen werden. In seiner eben erwähnten Resolution hat der Centralverband Deutscher Industrieller ausdrücklich erklärt, daß die Versicherung nur die ge­ ringer Besoldeten umfassen dürfe. Das war ja, wie auch vorhin Herr Regierungsrat Schweighoffer erwähnt hat, der leitende Gedanke unserer Arbeiterversicherung, nur da mit Zwang einzu­ greifen, wo den Massen die wirtschaftliche Fähigkeit zur Selbsthilfe fehlt. Sie mag im einzelnen bei diesem und jenem vorhanden sein — der großen Masse der Arbeiter, den unteren Schichten des Volkes hat die wirtschaftliche Fähigkeit in ihrer Gesamtheit sicher gefehlt, sei es, daß sie nicht die Mittel hatten, sei es, daß sie nicht die Kraft hatten, sei es, daß ihnen das Verständnis für die Versicherung ab­ ging, da hat der Staat mit Recht eingegriffen. Aber man war sich damals bei der Vorbereitung der Arbeiter­ versicherung darüber klar, daß jeder Eingrift in die Privatwirtschaft, daß jede Anwendung des Zwanges ein Uebel ist, und daß der Zwang infolgedessen nur mit der allergrößten Vorsicht ausgeübt werden darf. Geht man darüber hinaus, so erstickt man den Trieb zur Selbsthilfe, und das kann, wie warnend einst Graf Posadowsky ausgeführt hat, nur die bedenklichsten psychologischen Folgen für ein Volk haben. (Sehr wahr!) Es hat aber weiter das sehr große Bedenken, daß nun dem einzelnen eine Fürsorge vorgeschrieben wird, wie sie der Staat im Interesse der Gesamtheit für wünschenswert hält, nicht aber wie sie für den einzelnen im besonderen Falle erstrebenswert ist. (Sehr richtig!) Je größer daS Einkommen eine- Menschen wird, um so differenzierter werden seine Bedürfnisse (Sehr richtig!), um so derschiedenartiger muß er auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse bedacht sein, um so unmöglicher ist eine schematische Behandlung. Hier

48 handelt es sich gerade um Kreise, die danach streben werden, sich ein kleines Kapital zu ersparen, die nach einer Selbstandigmächung heute drängen. (Sehr richtig!) DaS ist in weitest Kreisen und in großem Umfange, wie auch die Statistik beweist, auch heute noch der Fall. Aber diesen Persönlichkeiten wird die Möglichkeit zum Selbständig­ werden genommen, wenn man von ihnen so hohe Beiträge für Für­ sorgezwecke verlangt, die oft ganz außerhalb des Bereichs ihrer eigenen Wünsche liegen. Deshalb glaubt der Centralverband, in der Ihnen vorliegenden Resolution gegen diese weitere Ausdehnung des Persicherungszwanges Einspruch erheben zu müßen. Wohl aber war man der Ueberzeugung, daß, da doch seit Einführung der Arbeiter­ versicherung die Kaufkraft des Geldes gesunken ist, eine Erweiterung der Grenze notwendig ist, und man glaubte, daß mit einer Aus­ dehnung bis zu 3000 M. diesen veränderten Verhältnissen genügend Rechnung getragen ist. Der Entwurf will nun die Frage der Versicherung im Wege einer Sonderversicherung lösen, und zwar in der Weise, daß die An­ gestellten, wie gesagt, mit einem Gehalt bis zu 5000 M. einer be­ sonderen Versicherung bei einer Reichsversicherungsanstalt in Berlin unterworfen werden — alle Angestellten ohne Rücksicht darauf, ob sie bereits der Invalidenversicherung unterliegen. Es bleiben also alle Angestellten, die bis zu 2000 M. Gehalt beziehen, in bet In­ validenversicherung und werden gleichzeitig von der neuen Ver­ sicherung erfaßt. Die Versicherung bedeutet demnach für rund 1 300 000 Personen, das ist weit über die Hälfte der Angestellten, eine Doppelversicherung. Das Recht auf freiwillige Versicherung wird nicht gewährt, nur das Recht auf freiwillige Weiterversicherung, und auch das in einen: sehr engen Rahmen, erst dann, wenn mindestens 60 Monatsbeiträge geleistet worden sind, also nach 5 Jahren. Der Grund dafür ist, daß bei der freiwilligen Versicherung die Risikenauslese durchweg sehr ungünstig ist. Ich darf da auf ein Beispiel aus einem anderen Ver­ sicherungszweige Hinweisen. Nach der neuesten großen Statistik der Leipziger Ortskrankenkasse kommen auf 100 Versicherungspflichtige 855 Kränkheitstage, auf 100 freiwillig Versicherte 2860 im Jahr, also über das Dreifache der Krankheitstage der Versicherungspflich­ tigen — ein Zeichen, wie vorsichtig man doch im Rahmen einer Zwangsversicherung gegenüber einer zu weiten Ausgestaltung der freiwilligen Versicherung sein mutz. Die Versicherung soll, wie ertoähnt, in. einer besonderen Reichs­ anstalt erfolgens an deren Spitze ein Direktorium steht, dessen Mit-

49 gl jeder auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser ernannt werden. Beigegeben ist diesem Direktorium ein Verwaltuugsrat, paritätisch

aus den Beteiligten zusammengesetzt, der aus sich wiederum eine,»

Verwaltungsausschuß zur Kontrolle der laufenden Verwaltung aus­

wählt.

Verwaltungsrat und Verwaltungsausschuß werden lediglich

gutachtlich gehört.

Sie haben keinerlei Stimmrecht in irgendeiner

wichtigen Frage.

Als untere Instanzen sollen paritätisch zusammengesetzte Rentenausschüffe wirken — wir werden ungefähr mit 30 im Deutschen Reiche rechnen muffen — und außerdem je sechs Ver­

trauensmänner und zwei Stellvertreter bei den unteren Ver­ waltungsbehörden; das find rund 20 000 Vertrauensmänner (Hört!

hört!), die hier ihre ehrenamtliche Tätigkeit im wesentlichen als Wahlkörper ausüben muffen.

Natürlich ist für eine solche Sonderversicherung auch ein be­ sonderes Streitverfahren einzurichten, und zwar sollen die Entschei­ dungen der Rentenausschüffe angefochten werden können bei neu zu

errichtenden, paritätisch organisierten Schiedsgerichten.

Wir werden

auch ungefähr 30 Schiedsgerichte haben, ferner einen obersten Ge­

richtshof in Berlin, ein Oberschiedsgericht, das ganz selbständig neben das Reichsversicherungsamt tritt, wie überhaupt das Reichsversiche­

rungsamt auf diesem Gebiete vollständig ausgeschaltet ist. Gegen diese Form einer besonderen Versicherung erheben sich nun die Merschwersten Bedenken. Sie beruhen einmal in der großen Schwierigkeit, den Kreis der versicherten Personen zu umgrenzen, festzustellen, wer Privatbeamter und wer Arbeiter ist. Der 8 1 des Gesetze- spricht von Angestellten in leitender Stellung,

Betriebs­

beamten, Werkmeistern und anderen Angestellten in einer ähnlich gehobenen oder höheren Stellung ohne Rücksicht auf ihre Vorbildung.

Sowohl der Ausdruck „leitende Stellung" wie namentlich „ähnliche gehobene Stellung" sind außerordentlich vage. (Sehr richtig!) Wenn

in der Begründung darauf hingewiesen wird, daß hier schon eine

umfangreiche Rechtsprechung deS Reichsversicherungsamts vorliege, so übersieht man, daß es sich da durchweg um eine Abgrenzung nach oben, nicht nach unten gehandelt hat, wo die Dinge viel schwieriger werden. Versuchen Sie nur einmal, in einem Werke festzustellen,

ob die Vorarbeiter, die Monteure und ähnlichen Personen zu den Arbeitern oder zu den Angestellten gehören.

DaS ist ganz unglaub­

lich schwer, und diese Schwierigkeiten gibt e- auf einer ganzen Reihe anderer Gebiete noch, ohne daß ich sie hier im einzelnen anführen will. Die Folge wird sein, daß man in eine große Unsicherheit

Heft im.

50 gerät, wer zu den Angestellten gehört und wer nicht. Die weitere Folge wird sein, daß, da es sich hier um Kreise handelt, bei denen ein fortwährender Wechsel aus der einen in die andere Stellung stattfindet, der eine bald als Angestellter, bald als Arbeiter versichert ist. Das wird wiederum die Wirkung haben, daß noch viel, viel mehr Anwartschaften in der Invalidenversicherung verfallen, als das heute der Fall ist. Wir wissen ja aus der Begründung zur Reichs­ versicherungsordnung, daß über 3 Millionen Versicherungen in der Invalidenversicherung bereits verfallen sind, und nach einer kürz­ lichen Aeußerung des Herrn Geheimrat Beckmann aus dem Reichsamt des Innern, daß nur 47 pCt. der Versicherten die ganze Dauer in der Invalidenversicherung bleiben, daß die übrigen 53 pCt. ausscheiden und durch ihre verfallenden Beiträge den anderen helfen. (Sehr richtig!) Wir würden nun mit einem steigenden Verfallen der Beiträge rechnen muffen, denn wenn der Angestellte über 2000 M. hinauskommt, dann wird er, da jetzt seine Beiträge erheblich höher werden, nicht nur absolut, sondern auch relativ, fast kaum noch in der Lage sein, die ganzen Jnvalidenversicherungsbeiträge aus eigener Tasche zu bezahlen. Er wird also diese Versicherung verfallen lassen, um vielleicht nach einigen Jahren wieder unter die Invaliden­ versicherung zu gelangen. Auch sonst werden wir mit einem starken Verfallen der Bei­ träge rechnen müssen. Ich sagte eben, eine freiwillige Weiter­ versicherung sei nur zulässig, wenn mindestens 60 Monatsbeiträge geleistet sind. Sehr viele scheiden aber vorher wieder aus. Ich erinnere an die weiblichen Angestellten. Nach einer, wenn auch nicht zulänglichen Statistik bleiben von den weiblichen Angestellten noch keine 10 pCt. 10 Jahre in der Tätigkeit, die große Masse heiratet eben und scheidet aus oder tritt wieder in die Hauswirtschaft zurück. Wir können annehmen, daß auch ein großer Bruchteil noch keine 5 Jahre dableibt. Diese Zeit haben die Angestellten dann Bei­ träge zwecklos geopfert, da sie ja rwch gar keine Anwartschaft er­ rungen haben. Ich erinnere weiter an die vielen, die etwa nach bestandenem Examen oder nach einer Tätigkeit im Auslande gleich mit höherem Gehalt angestellt werden und nach wenigen Jahren die Grenze von 5000 M. überschreiten, alle diese haben keine Mög­ lichkeit, durch weitere Entrichtung der Beiträge die Anwartschaft auftechtzuerhalten. Die Beiträge sind auch hier nutzlos aufgebracht. Dazu kommt, daß es sich hier überhaupt vielfach um Gruppen handelt, die auf gleicher wirtschaftlich sozialer Stufe stehen wie die Arbeiter. Nehmen Sie etwa im Geschäft das Ladenmädchen und

51 daneben die geschickte Stickerin oder Näherin oder den Packer, der schließlich nichts anderes tut, als das Ladenmädchen, die die Kartons

herunterreicht und wieder hinaufhebt; da ist nun der eine.einer et«

höhten Zwangsfürsorge unterworfen, während der andere auf den Weg der Invalidenversicherung angewiesen bleibt. Das hatte ich für eine soziale Ungerechtigkeit.

Die Folge wird sein, daß in diesen

Kreisen eine große Unzufriedenheit sich zu entwickeln beginnt, und daß nun die Arbeiterklassen mit aller Energie darauf hinwirken werden, etwas Aehnliches zugebilligt zu erhalten, wie es jetzt die An-

gestellten erhalten. Für diese Sonderversicherung muß man nun eine ganz neue

Organisation schaffen, wie ich sie Ihnen eben geschildert habe, eine Organisation, die einmal sehr viel Geld kostet. Die Begründung

will Ihnen zwar vorrechnen, man käme mit 2 pCt. aus, und neulich ist sogar geäußert worden, man käme mit nur 0,88 pCt. aus. Oester­

reich hat im ersten Jahre gleich 4,59 pCt. verbraucht, und in der Invalidenversicherung sind die Kosten von 6,6 auf 8,3 pCt. gestiegen.

Ich glaube, daß man hier nicht zu sehr Optimist sein darf; im übrigen wird mein Herr Mitberichterstatter ja. auf diese Frage noch näher eingehen. Nur das sei hier schon hervorgehobcn: eine solche Anstalt kostet natürlich sehr, sehr viel Geld, und sie stellt weiter sehr

große Ansprüche an die ehrenamtliche Tätigkeit. (Sehr richtig!) Bon welchen Seiten wird nicht heute schon der Industrielle zu ehren­ amtlicher Tätigkeit in Anspruch genommen, so daß, wenn er allen diesen Wünschen nachgeben will, er kaum noch Zeit für seinen eigenen Betrieb findet (Sehr richtig!), und nun, meine Herren, werden hier wieder 20 000 neue Stellen geschaffen, von denen doch 10 000 allein wieder auf die Arbeitgeber entfallen, abgesehen von den Beisitzern

bei den Schiedsgerichten, bei der Reichsversicherungsanstatt usw. Nun aber kommt das auffälligste. Die Beteiligten sollen die

ganzen Kosten tragen.

Während in Oesterreich noch immer ein be­

scheidener Zuschuß gezahlt wird, zahlt das Reich keinen Pfennig an die Versicherungsanstalt, selbst die Post soll die Renten, die sie heute für die Arbeiterversicherung umsonst auszahlt, für die Angestellten­

versicherung nicht unentgeltlich zahlen dürfen. Die ganze Last liegt ausschließlich auf den Beteiligten, die dafür aber über die Verwaltung

des Vermögens, über die Anlegung desselben kein Wort zu sagen haben; es steht ihnen höchstens die Beschwerde im AufstchtSwege art das Reichsamt des Innern zu. Das ist um so bedenklicher, als nun diese ReichsversicherungSanstatt im großen Umfang das Hypo^ thekengefchäst betreiben soll, denn sonst lassen sich die 3« pCt. Zinsen 4*

52 nicht herauswirtschaften, und als auf der anderen Seite auch bis zu K des Vermögens in gemeinnützigen Veranstaltungen angelegt werden darf, wie Angestelltenwohnungen, Genesungsheimen und der­ gleichen. Berücksichtigt man dabei, daß selbst in der Invaliden­ versicherung der Ausschuß gefragt werden muß und zustimmen muß bei Erwerbung, Veräußerung oder Belastung von Grundstücken, während hier keine derartige Zustimmung verlangt wird, so ist es wohl klar, daß, wie man auch immer zu dem Gesetz sich stellen mag, man gegen diese Bestimmung, die die Rechte und Pflichten so ver­ schieden verteilt, energisch Einspruch erheben muß. Die Analogie mit der Reichsbank, die seinerzeit gezogen worden ist, läßt sich doch auf diesen Fall wirklich nicht übertragen. Wenn wir alle diese Bedenken berücksichtigen, zu denen noch die schwerwiegenden hinzukommen, auf welche meine Herren Mitbericht­ erstatter eingehen werden, dann drängt sich doch unwillkürlich die Frage auf, ob nicht diese Versicherung der Angestellten einfacher und billiger sich auf einem anderen, doch so naheliegenden Wege hätte lösen lassen, dem des Ausbaues der Invalidenversicherung. Da haben wir die Organisation, in der 70 pCt. der Angestellten bereits ver­ sichert sind. Läßt sich nicht durch Einfügung weiterer Lohnklaffen hier ein befferer und einfacherer Weg finden? Die Reichsregierung sucht diesen Gedanken zu entkräften, und ich will auf die von ihr vor­ gebrachten Bedenken kurz eingehen. Sie sind einmal versicherungs­ technischer Natur, indem man befürchtet, daß dann durch die 500 Höchstbeiträge der Grundbetrag der Rente nicht mehr gedeckt werden wird. Das Beispiel, das in der Begründung zur Reichs­ versicherungsordnung dafür angeführt wird, ist ein so ausgefallenes, ein so seltenes, daß ihm keine Beweiskraft zukommen kann. Ich glaube, daß diese Bedenken nicht ernstlich aufrechterhalten werden können. Aber selbst wenn sie bis zu einem gewißen Grade berechtigt wären, läßt eine andere Berechnung des Grundbetrages der Rente diese Bedenken verschwinden. Die Hauptbedenken, die die Begründung zur Denkschrift geltend macht, bestehen darin: Im Rahmen der Ausdehnung der Invaliden­ versicherung ließe sich nicht eine den Wünschen der Angestellten ent­ sprechende Versicherung schaffen. Zunächst die eine Vorbemerkung: Wenn die Reichsregierung an eine Gesetzesfrage herangeht, dann kann und darf nicht die Frage ausschlaggebend sein: was will eine bestimmte Gruppe, und wenn sie auch jahrelang laut und heftig ge­ rufen hat, sondern dann kann nur der Gesichtspunkt ausschlaggebend sein: was frommt dem Gesamtintereffe? Wenn wir aber davon

53

ausgehen, so werden wir finden, daß im Rahmen des Ausbaues der Invalidenversicherung doch auch den Wünschen der Angestellten, so­

weit sie mit Rücksicht auf die Gesamtheit berechtigt sind, Rechnung getragen werden kann. Es handelt sich einmal um die sehr wichtige Frage des Jnvaliditätsbegriffes, beziehungsweise des Begriffs der Berufsunfähigkeit.

Man hat seitens der Angestellten vielfach das als die Kernfrage des ganzen Problems hingestellt. Die Regierung behauptet, und darin ist ihr ohne weiteres recht zu geben, in einer allgemeinen Invaliden­

versicherung läßt sich nicht als Voraussetzung deS Anspruchs auf die Rente an der Berufsunfähigkeit festhalten, sondern man muß die all­

gemeine Erwerbsunfähigkeit wählen.

Jetzt bitte ich aber, nur die

Definition der Invalidenversicherung und die des Angestelltengesetzes miteinander zu vergleichen. Die Invalidenversicherung und die Reichsversicherungsordnung sagen heute, daß einen Anspruch hat,

wer nicht imstande ist, durch eine Tätigkeit, die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht und ihm unter billiger Berücksichtigung seiner

Ausbildung und seines bisherigen Berufs zugemutet werden kann, ein Drittel desjenigen zu erwerben, was körperlich und geistig ge­ sunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen. Es soll also die bisherige

Ausbildung, die Tätigkeit des Mannes geprüft werden und dann soll festgestellt werden: was kann man einem solchen billigerweise an Tätigkeit heute zumuten, womit doch ganz klar ausgedrückt ist, daß

man einem höher besoldeten Angestellten nicht jede Tätigkeit eineLohnarbeiters zumuten kann.

Was

sagt nun der Entwurf zur

Privatbeamtenversicherung: Berufsunfähigkeit ist dann anzu­ nehmen; wenn die Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Halste eines

körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Aus­ bildung und gleichwertigen Kenntniffen und Fähigkeiten herab­ gesunken ist.

Außer in dem Grade: zwei Drittel und 50 pCt. ist doch

wirklich zwischen diesen beiden Definitionen kein Unterschied

finden.

zu Ich bemühe mich wenigstens seit Monaten, ihn zu finden,

ohne dahinter zu kommen, und wenn es auch möglich wäre, so bin ich der Meinung, daß die Definition des Invalidenversicherungs­

gesetzes den

berechtigten Ansprüchen

der Angestellten vollkommen

gerecht wird. Nun hat man darauf hingewiefen, daß man dm Beginn der Altersrente nicht auf das 65. Lebensjahr herabsetzen könne. Ich muß zugeben, daß auch für die Arbeiter dieS ganz wünschenswert wäre. So lange man für diese die Frage noch zurückstellt, kann man sie

54 meines Erachtens für die Angestellten auch zurückstellen, zumal die Altersrente gegenüber der Invalidenrente ja bei weitem an Be­ deutung zurücktritt. Dann die Frage der Witwen- und Waisenversicherung. Wir haben vorhin gehört, daß die Reichsversicherungsordnung hier an dem gesunden Gedanken festhalt, daß nur die arbeitsunfähige Arbeiterwitwe einen Anspruch auf Rente haben soll. Ist es nun etwas Unbilliges, wenn man dasselbe den unteren Schichten des Angestelltenstandes ansinnt? Das glaube ich nicht. Die Berhältniffe haben sich in den letzten 10, 20 Jahren sehr geändert. Immer mehr Betätigungsmöglichkeiten bieten sich heute der Frau im Mittel­ stände, und wenn sie arbeiten kann, ist sie heute in der Lage, ihr Brot zu verdienen, die Möglichkeiten bieten sich ihr, abgesehen davon, daß bei den Renten, die der Entwurf vorschlägt, die Witwe auch genötigt ist, sich selbst ihr Brot zu verdienen. Nach einer Zusammen­ stellung, die der Kommission des Centralverbandes vorgelegen hat, würde zum Beispiel die Witwe eines gutgestellten Privatbeamten nach 10 Jahren eine Rente von 103,70 M., nach 25 Jahren von 273,48 M. erhalten. Das ist ja das Eigentümliche: Während die Regierung auf der einen Seite sagt, im Rahmen der Invaliden­ versicherung läßt sich nichts Zulängliches bieten, verspricht sie auf der anderen Seite Leistungen, die tatsächlich auch wieder vollkommen unzulänglich sind. Denn darüber müssen wir uns klar werden: eine Rentenversicherung, die wirklich eine vollkommene Fürsorge bedeutet, ist finanziell überhaupt unmöglich zu schaffen. Es kann sich immer nur darum handeln, im Rahmen einer Zwangsversicherung ein Existenzminimum zu sichern (Sehr richtig!), und das ist bei dem Ausbau der Invalidenversicherung, wie sich leicht beweisen läßt, durckiaus möglich. Nun aber — und das ist wohl mit der wichtigste Einwand —: was kostet denn gegenüber der Sonderversicherung der Ausbau der Invalidenversicherung? Es ist zunächst zu berücksichtigen, daß in den Ausbau der Invalidenversicherung natürlich auch die Arbeiter hinein­ bezogen werden müssen. Da erhebt sich die Frage: kostet das auf die Dauer der Industrie nicht viel, viel mehr als die Sonderversiche­ rung? Nun hat man seit Jahren an das Reichsamt des Innern die Bitte gerichtet, doch einmal Berechnungen darüber aufzustellen, nicht, wie sie hier vorhanden sind, wo die Begründung sagt: wenn man die volle Berufsunfähigkeit annimmt und wenn man den Be­ ginn der Altersrente auf das 65. Lebensjahr zurücksetzt und wenn man volle Witwen- und Waisenversicherung gibt, dann kostet das

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viele Millionen, sondern einmal festzustellen: was kostet der Ausbau der Invalidenversicherung, wenn wir etwa bei dem heutigen Prozent­ satz der Beiträge bleiben. Das Reichsamt des Innern hat erklärt, es fehle ihm das Material, und wir haben allerdings nach einer Richtung hin kein Material. Wir wissen nicht genau, wieviel Ar­ beiter sich etwa in der Lohnklaffe 1500 bis 2000 M. und darüber befinden. Man muß hier schätzen, und das habe ich versucht. Ich will auf die Zahlen im einzelnen nicht eingehen. Ich bin aus­ gegangen von den Ergebniffen der Invalidenversicherung, wonach 21 pCt. der Versicherten auf die fünfte Lohnklaffe entfallen. Ich habe dann angenommen, daß 20 pCt. der Arbeiter der Industrie ein durchschnittliches Einkommen von 2000 M. haben. (Zuruf: Zu hoch!) Ich glaube, das ist zu hoch gegriffen. Ich habe aber ganz besonders vorsichtig schätzen wollen. Für diese Arbeiter habe ich einen Zuschlag von 1 pCt. verlangt, unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie ja schon in der Invalidenversicherung versichert sind. Ich komme so, wenn ich die Mehrbeiträge der Angestellten mitberücksichtige, zu einer Mehrbelastung von 48, rund 50 Millionen Mark, während die Sonderversicherung bei den Beiträgen, wie sie der Ent­ wurf vorsieht, der Industrie rund 90 Millionen Mark kostet. (Hort! Hört!) Nun aber werden Sie mir entgegenhalten: das sind ja alles Schätzungen, Schätzungen, bei denen man doch sehr zweifelhaft sein kann, wie sehr man daneben geschätzt hat. Ich habe deshalb versucht, durch Stichproben diese Schätzungen etwas Näher festzustellen. Ich habe an eine ganze Reihe von Werken Fragebogen geschickt und mir die genauen Gehalts- und Lohnverhältniffe angeben lassen, vorzugs­ weise von Werken der rheinischen Industrie, in denen ja doch die Löhne recht hoch sind. Ich darf Ihnen als vorläufiges Ergebnis schon folgendes mitteilen: Bei einer großen Farbenfabrik mit 11,6 Millionen Mark Gehältern und Löhnen würde die Sonder­ versicherung 174 578,40 M. kosten, der Ausbau der Invalidenversiche­ rung bei 2 PCt. Beitrag 41755,10 M., bei 3 pCt. Beitrag für Löhne über 1150 M. 146 479,28 M.; — bei einer großen Maschinenfabrik mit 5 Millionen M. Löhnen und Gehältern würde die Sonderversicherung 88000 M., der Ausbau mit 2 PCt. 26000 M. kosten (hört! hört), selbst mit 3 pCt. nur 71 600 M. Bei einem großen Werk der ver­ arbeitenden, verfeinernden Industrie mit über 9 Millionen M. Löhnen würde die Sonderversicherung 87000 M., der Ausbau 32000 M., bei 3 pCt. allerdings 108440 M. kosten. Bei einem Werk der Papierindustrie mit nahezu 1K Million M. Löhnen: die

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Sonderversicherung 16 627, der Ausbau 2944 M., bei 3 pCt. selbst erst die Hälfte der Kosten der Sonderversicherung, nämlich 8714,19 Mark. Hier spielen die vielen weiblichen Arbeiter schon mit hinein. Bei einer Baumwollspinnerei mit rund 200 000 M. Löhnen und Gehältern: die Sonderversicherung 772 M., der Ausbau 50 M., selbst bei 3 pCt. nur 211 M. Ich habe nur ein größeres Werk aus Rheinland, eine Kupfer­ hütte, gefunden, bei der die Sonderversicherung nahezu 7000 M., der Ausbau etwas über 9000 M. kosten würde, dagegen ein Werk der Stärkeindustrie aus Norddeutschland mit 1 Million M. Lohnen, bei dem die Sonderversicherung 11 000 M., der Ausbau mit 2 pCt. 1200, mit 3 pCt. 4410 M. ausmacht.

Das sind vorläufige Ergebnisse, gewiß, das find erst einzelne Stichproben, die aber doch bei einzelnen Werken mit zum Teil sehr hohen Löhnen zeigen, daß der Ausbau der Invalidenversicherung nicht so gefährlich ist, wie es die Reichsregierung immer darstellt, sondern daß er wahrscheinlich sich noch billiger gestaltet als die Sonderversicherung. Freilich macht das Reichsamt des Innern hier zwei Ein­ wendungen. Es droht einmal mit dem Schreckgespenst aller der vielen, deren Anwartschaft jetzt verfallen wäre und die nun in die Versicherung hineinkommen. Von 3 Millionen, von 6 Millionen ist schon gesprochen worden. Rund 400 000 neue Versicherte kommen in die Versicherung beim Ausbau hinein, denn die Arbeiter sind versicherungspflichtig ohne Rücksicht auf eine Lohngrenze. Es werden vielleicht eine etwas geringere Zahl die Versicherung in Zukunft verfallen lassen, aber man sollte sich auch hier nicht täuschen. Der Verfall rührt zum großen Teil von den weiblichen Personen her, von denen wir annehmen können, daß sie auch bei einem Ausbau der Invalidenversicherung in Zukunft zu einem großen Prozentsatz hei­ raten werden, er rührt her von den vielen Ausländern, von denen, die von hier ins Ausland gehen, und von denen, die die Gehalts­ grenze übersteigen. Ich glaube nicht, daß das in nennenswertem Umfange die freiwillige Weiterversicherung steigern wird. Deshalb bin ich der Meinung, daß die Schätzung von 382400000 M., die Herr Geheimrat Beckmann in der Kommissionssitzung des Centralverbandes Deutscher Industrieller als Belastung hingestellt hat, erheblich zu weit geht, und ich bin persönlich geneigt, der Zahl von 50 Millionen M. den Vorzug zu geben. Ich glaube auch, daß nicht das Richtige, wie häufig, hier in der Mitte liegt, sondern sich

57 meiner vorsichtigen Schätzung, die durch Stichproben unterstützt wird, doch ganz erheblich nähert. Auch über die Reichsbelastung zwei Worte. Darüber geht die Regierung schnell hinweg, indem sie allgemein von einer steigen­ den Belastung spricht. Nehmen wir nun an, daß im Beharrungs­ zustand, jenem sagenhaften Zustand, von dem die Begründungen singen, der aber nie eintritt, auf 100 Versicherte 12 Rentenempfänger kommen, so bedeutet das auf 400000 Versicherte 48000 Rentner. Für diese hätte da- Reich einen Zuschuß von 2 400 000 M. zu zahlen, aber, wie gesagt, erst in weiter, nebelgrauer Ferne. Ganz, ganz langsam wird die Last ansteigen, bis sie die genannte Summe er­ reicht. Das ist aber eine Summe, der, glaube ich, das Deutsche Reich auf die Dauer gewachsen sein wird, auch wenn man die Zufchüsse für die Witwen- und.Waisenversicherung hinzuzählt. Also faße ich mich dahin, zusammen: meine Schätzungen, meine Untersuchungen lasten den Ausbau der Invalidenversicherung, für den ich persönlich ja immer eingetreten bin, als möglich erklären; aber ich will Ihnen eines zugeben: Was ich vorgebracht habe, sind

Schätzungen, find zunächst einzelne Stichproben, die der Ergänzung bedürfen. Deshalb kann unter diesen Umständen der Centralverband nur zu- der Folgerung gelangen: es scheint, als ob hier ein guter Weg sich bietet, denn was man bisher geschätzt und berechnet hat, das stützt die Behauptung. Ts muß jetzt verlangt werden, daß dieser Gesetzentwurf nicht aus Wahlrücksichten in der laufenden Session über das Knie gebrochen und angenommen wird (Lebhafte Zustimmung), sondern daß vor allen Dingen einmal Erhebungen über den Ausbau der Invalidenversicherung angestellt werden, zu denen der Central­ verband gern seine Mithilfe verspricht. Auf Grund dieser neuen Unterlagen möge eine neue Vorlage dem deutschen Volke unterbreitet werden. Es ist doch gar nicht eine solche unglaubliche Eile vonnöten. Denn wenn der Gesetzentwurf jetzt angenommen würde, so träte seine Wirkung doch bei der 10jährigen Karenzzeit erst nach 10 Jahren ein. Ich meine, ein so wichtige« Gesetz bedarf ganz besonderer Ueberlegung, besonderer lleberlegung auch deshalb, weil Oesterreich ja doch, daS kann man sagen, einen Mißerfolg mit seiner Gesetzgebung gehabt hat, weil nach einem Jahre sich die Stimmen mehren, die eine Aenderung fordern, und umfangreiche Gutachten über die No­ vellierung des österreichischen Gesetzes bereits erstattet worden sind. Deshalb ist hier Besonnenheit notwendig, ist ein ruhiges Ueberprüfen aller dieser Vorschläge dringend erforderlich. Dann wird man wohl zu einem Gesetzentwurf gelangen, dem auch die Industrie

58 ihre Zustimmung geben kann. Dem vorliegenden muß sie sie aus den angegebenen Gründen dringend versagen. (Lebhafter Beifall.) Borsitzender: Meine Herren! Ich darf Ihrem Beifall den Dank der Versammlung für die Ausführungen des Herrn Referenten hinzufügen. (Pause.) Lorfitzender: Ich möchte dann Herrn Schmigalla bitten, sein Referat zu erstatten.

Berichterstatter Paul Schmigalla, Chefmathematiker des „Nord­ stern", Berlin: Meine Herren! Nachdem ich am 4. März in der Kommissionsberatung des Centralverbandes Deutscher Industrieller Gelegenheit zur Erstattung eines ausführlichen Referats über die in versicherungstechnischer Hinsicht wichtigen Be­ stimmungen des Entwurfs eines Versicherungsgesetzes für Ange st eilte hatte, welches in Nr. 121 der „Ver­ handlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industrieller" abgedruckt ist, kann ich mich heute Wohl darauf beschränken, die hauptsächlichsten Gesichtspunkte, welche in jenem Referat behandelt sind, kurz zu rekapitulieren und sie, so weit notwendig, zu ergänzen. Bei Kritik der in der zweiten Denkschrift der Regierung ver­ wendeten Rechnungsgrundlagen habe ich zunächst den angenommenen Zinsfuß von 3^ pCt. als voraussichtlich zu hoch bezeichnet; ich habe darauf hingewiesen, daß die einen so hohen rechnungsmäßigen Zinsfuß rechtfertigenden Zinserträgniffe der deutschen Lebensversiche­ rungsgesellschaften für die zukünftige Reichsanstalt nicht vorbildlich sein können, weil die privaten Gesellschaften im Durchschnitt etwa 85 pCt. ihres Vermögens in erstklassigen Hypotheken und nur etwa 4 pCt. in Wertpapieren (den Rest in anderer Weise zu günstigen Zinssätzen) angelegt haben, wodurch sie z. B. in den Jahren 1905=08 eine durchschnittliche Verzinsung ihrer Bestände von 3,83 bis 3.96 pCt. erzielt haben. Die Reichsanstalt soll indesien ausdrücklich einen so hohen Prozentsatz ihres Vermögens nicht hypothekarisch festlegen, andererseits aber mindestens 25 pCt. in Reichs- oder Staatsanleihen investieren, und überdies einen weiteren unbe­ stimmten Teil gemeinnützigen Zwecken dienstbar machen. Es ist hiernach klar, daß sich die Anlagepolitik der Reichsanstalt nicht ledig­ lich in einem einzigen Punkte von derjenigen der Privatgesell­ schaften unterscheiden wird, wie mir damals von dem Herrn Regie­ rungsvertreter entgegengehalten worden ist, sondern daß sie von ihr überhaupt grundverschieden sein wird. Würden z. B.

59 50 pCt. des Vermögens in erststelligen Hypotheken, (zu 4% pCt.), 33% pCt. in Wertpapieren (zu 3% pCt.) angelegt und nur der Rest mit 16% pCt. zu Darlehen an Bauvereine, zur Errichtung von Jnvalidenhäusern, Heilstätten usw. verwendet werden (durchschnitt­ liche Verzinsung etwa 2% pCt.), so wäre selbst bei den heutigen günstigen Zinsverhältnissen unserer Staatspapiere eine durchschnitt­ liche Verzinsung des Gesamtvermögens von nur 3,6 PCt. zu erzielen. Bei einem so geringen Durchschnittszins läßt sich aber auch nach Ansicht der Regierung die Anwendung eines rechnungsmäßigen Diskonts von 3% pCt. nicht verteidigen; ein solcher könnte viel­ mehr nach den Ausführungen auf Seite 134 der Begründung zum Gesetzentwurf nur dann in Betracht kommen, wenn die wirkliche Ver­ zinsung des Gesamtvermögens zwischen 3% pCt. und 4 pCt. liegen würde! Man darf überdies bei der Beurteilung des voraussichtlichen Zinsertrages nicht allein die heutige Lage des Geldmarktes in Be­ tracht ziehen, sondern muß auch einer etwaigen Verschlechterung der Zinsverhältnisse, wie sie bereits wiederholt zu beobachten gewesen ist, Rechnung tragen. Ich erinnere hierbei nur daran, daß die 3%prozentige Reichsanleihe, welche z. Zt. etwa einen Zinsertrag von 3,72 pCt. liefert, in den Jahren 1886 bis 1908, d. h. in 23 jähriger Beobachtung nur während 8 Jahren eine durchschnittliche Ver­ zinsung von mehr als 3% pCt., in allen anderen Jahren dagegen eine niedrigere (bis zu 3,35 pCt.) ergeben hat. Für den 3prozentigen Typ stellen sich die Berhältniffe noch ungünstiger. Jede Steige­ rung des Kurswertes der Staatspapiere — und eine solche wird gerade durch die in Aussicht genommenen Bestimmungen des Gesetzes angestrebt — bringt eine Verschlechterung der Verzinsung ohne weiteres mit sich. Endlich ist zu beobachten, daß die hypothekarische Vermögens­ anlage der Lebensversicherungs-Gesellschaften sich nur deshalb so lukrativ gestaltet, weil sich die Gesellschaften bei der Begebung von Hypothekengeldern vorwiegend auf die großen Städte, die Berliner Gesellschaften z. B. in der Hauptsache auf Berlin, beschränken, wo sie selbst die Möglichkeit haben, die Sicherheit der ihnen angebdtenen Objekte zu prüfen und zu überwachen, mündliche Verhandlungen mit den Darlehnssuchern oder Maklern zu führen, und weil sie über­ haupt das Hypothekengeschäft nach bewährten kaufmännischen Grundsätzen betreiben. Anders werden die Verhältnisse bei der Reichsanstült liegen, die ihre Gelder in ganz Deutschland unter­ bringen soll; dabei will sie sich bei der Entgegennahme von

60 Hypothekenanträgen, bei der Begutachtung, Auskunftserteilung über die Hypothekensucher usw. der Mitwirkung der im Gesetzentwurf vor­ gesehenen Vertrauensmänner bedienen, die eine entsprechende formu­ lierte Anleitung erhalten sollen. Ob diese im Ehrenamt tätigen Herren den Schwierigkeiten des Hypothekengeschäfts voll gewachsen sein und ob sie außerhalb ihres Berufes noch so viel Zeit haben werden, um neben ihren sonstigen Obliegenheiten als Vertrauens­ männer noch die sachgemäße Bearbeitung der komplizierten Hypothekenangelegenheiten zu erledigen, muß billigerweise stark bezweifelt werden. Nach alledem scheint es mir völlig ausgeschlossen zu sein, daß die Reichsanstalt auch nur annähernd den von den privaten Gesell­ schaften erzielten hohen Durchschnittszins bei Anlage ihres Ver­ mögens erreichen wird. Ich halte es daher nach wie vor bei einer Anstalt, der absolute Sicherheit ihrer Rechnungsgrundlägen oberstes Gesetz sein müßte, für einen sehr bedenklichen Versuch, so­ lange die Bestimmungen der §§ 221 und 225 des Entwurfs keine Aenderung erfahren haben, mit einem höheren rechnungsmäßigen Zinsfuß, als etwa 3^ Proz. zu operieren. In zweiter Linie richteten sich meine Einwendungen gegen die zugrunde gelegte I n v a l i d i t ä t s t a f e l, die sich auf die mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Beobachtungen Zimmer­ manns an dem Nichtzugpersonal deutscher Eisen­ bahnverwaltungen stützt. Der Herr Vertreter der Regierung hat jedoch diese Tafel als fiir/bcn vorliegenden Zweck besonders geeignet bezeichnet und an der Hand verschiedener Ergebniffe aus Untersuchungen bei privaten Pensionskaffen den Nachweis zu führen versucht, daß die Invalidität unter den Privatangestellten günstiger als nach dieser Tafel vorausgesetzt verlaufen wird. Ich kann mich indessen dieser Meinung auch nach erneuter Prüfung der Verhältnisse nicht anschließen. Was die damals angeführten neueren Daten anbetrifft, so fehlte zunächst jede Angabe über das Alter der als Beispiel angezogenen Kaffen; daß eine Kaffe, die erst fünf oder zehn Jahre besteht, im Durchschnitt bisher weniger Jnvaliditätssälle aufweist, als nach der oben angegebenen Tafel zu erwarten wäre, ist kein Beweis für die dauernde Anwendbar­ keit der Tafel; dieser könnte erst als erbracht gelten, wenn auch genügend stark besetzte ältere Jahrgänge der Beobachtung unter­ liegen. Dann aber sind auch die angeführten Durchschnittsergebniffe nicht für die Brauchbarkeit der Tafel entscheidend; ein befriedigendes Durchschnittsergebnis kann auch erzielt werden,

61

wenn in den jüngeren Altersklassen weniger, in älteren dagegen mehr (oder umgekehrt) Jnvaliditätsfälle eintreten, als rechnungs­ mäßig zu erwarten gewesen sind. Eine solche Tafel wäre keinesfalls als besonders geeignet anzusehen. Nicht zu unterschätzen ist ferner die Wirkung der in 8 24 des Gesetzentwurfs getroffenen Be­ stimmung, wonach auch Teilinvalidität von mindestens 50 Proz. als Voll invalidität entschädigt werden und endlich so­ gar vorübergehende Berufsunfähigkeit von mehr als halbjährlicher Dauer zum Rentenbezuge berechtigen soll. Weder Teilinvalidität noch vorübergehende Invalidität sind aber bei Kon­ struktion der zur Verwendung in Aussicht genommenen Jnvaliditätstafel berücksichtigt. Nicht unerwähnt möchte ich ferner den Umstand laßen, daß nach Zimmermann auch Karup aus späteren Beobachtungen am Nichtzugpersonal deutscher Eisenbahnverwal­ tungen (1877/89) eine Jnvaliditätstafel konstruiert hat, die im Durchschnitt etwa um 18pCt. höhere Invalidität-wahr­ scheinlichkeiten als die Zimmermannsche Tafel enthält. Dieses Er­ gebnis spricht für die vielfach vertretene Ansicht, daß die Jnvaliditätsgefahr in den letzten Jahrzehnten gestiegen ist. Wenn ich hiernach auch jetzt noch die den Berechnungen zu­ grunde gelegte Jnvallditätstafel als für die in Frage kommenden Zwecke keineswegs als besonders geeignet bezeichnen muß, so möchte ich gleichwohl darauf Hinweisen, daß es eine den hier vor­ liegenden Verhältnißen vollauf genügende Tafel nicht gibt, und daß wegen des Charakters der vorgesehenen Leistungen der Reichsanstalt als steigende Pensionen und wegen der Verquickung der Jnvaliditäts- mit einer Altersrente die durch die Mängel der Jnvaliditätstafel entstehende Gefahr nicht erheblich ist; wohl aber könnte eine Verschiebung der Belastung eintreten, deren finanzielle Wirkung sorgfältiger Untersuchung bedarf, damit eine dauernde Schädigung der Anstalt vermieden wird. Gegen meine Bedenken bezüglich der angewendeten Sterb­ lichkeitstafel für das weibliche Geschlecht hat der Herr Regierungsvertreter den Umstand geltend gemacht, daß die aus den Erfahrungen 1871/81 stammende Tafel ihre Brauchbarkeit bis­ her völlig erwiesen hat. Demgegenüber möchte ich auf einen im Deutschen Verein für Bersicherungswiffenschaft kürzlich gehörten Vortrag des Herrn Regierungsrats Prof. Dr. Rahts vom Kaiser­ lichen Statistischen Amt Hinweisen, wo die neue Sterblichkeit-tafel aus den Beobachtungen der Jahrgänge 1891/1900 konstruiert worden ist. Darin wurde u. a. ausgeführt, daß nach den angestellten

62 Untersuchungen die Sterblichkeit in dem Jahrzehnt 1891/1900 gegen die des vorhergehenden Jahrzehnts (1881/1890) ganz erheb­ lich zurückgegangen ist, während diese letztere nur eine ver­ hältnismäßig geringe Aenderung gegen die Sterblichkeit in den Jahren 1871/81 ergeben hat. Der Rückgang der Sterb­ lichkeit der Bevölkerung, d. h. die Verlängerung der Lebens­ dauer ist also vorwiegend neueren Datums; es ist daher kein Wunder, wenn bei den zum Vergleich herangezogenen Kaffen sich bisher nicht die Notwendigkeit zu einer Aenderung der Rechnungs­ grundlagen ergeben hat, zu der man ja naturgemäß nur ungern schreitet. Ganz anders liegen doch aber die Verhältniffe bei einer erst zu gründenden Anstalt, deren Grundlagen man von vornherein so wählen sollte, daß ihre Sicherheit auch nach den neuesten Ergebniffen der Wiffenschaft außer Frage stände. Besonders schwer­ wiegend fällt hierbei die von Herrn Regierungsrat Dr. Rahts konstatierte Tatsache ins Gewicht, daß auch nach den noch der Be­ arbeitung unterliegenden Ergebnissen des soeben vergangenen Jahr­ zehnts (1901/10) — soweit sie bisher vorliegen — ein noch stär kerer Rückgang der Sterblichkeit zu erwarten ist als bereits im Jahrzehnt 1891/1900 zu verzeichnen war. Mein Hauptbedenken richtete sich indeffen gegen die in der zweiten Denkschrift nur auf 2 Proz. der Beiträge veranschlagten Verwaltungskosten, welche mit Rücksicht auf den in Aussicht genommenen außerordentlich komplizierten Verwaltungsapparat und auf die an und für sich mit reinen Pensionsversicherungen ver­ knüpften, im Vergleich zur Kapitalversicherung ganz erheblich höheren Unkosten nicht als ausreichend angesehen werden können. Auffällig ist vor allem, daß dieselbe Regierung, die noch in der ersten Denkschrift 8 bis 9 Proz. der gegen die jetzigen etwa doppelt so hohen Beiträge für Verwaltungszwecke als notwendig erachtete, sich jetzt auf einmal mit nur einem Achtel des im Jahre 1907 veranschlagten Kostenbedarfs glaubt begnügen zu können. Nun hat ja der Herr Vertreter der Regierung uns seinerzeit den voraussichtlichen Aus­ gabeetat zahlenmäßig vorgeführt; ich muß aber zu meinem Bedauern gestehen, daß ich nach näherer Prüfung ihn nicht als ausreichend dotiert ansehen kann. Er ging von der Annahme aus, daß int vollen Betrieb jährlich 27 000 bis 30 000 Ruhegeld-Anträge und etwa 25 000 Todesfälle zu bearbeiten sein werden, so daß an einem Arbeitstage durchschnittlich 190 Fälle zur Bearbeitung vorliegen würden, welche seiner Meinung nach bequem von 15 Beam­ ten erledigt werden könnten. Diese Argumentation scheint mir

63

nicht richtig zu sein. Wer die Prüfung und Begutachtung von Jnvaliditätsfällen praktisch mitgemacht hat, weiß, welche umfang­ reiche Korrespondenz dabei mit den Versicherten, mit den Aerzten, mit den Schiedsgerichten, mit dem Arbeitgeber usw. zu erledigen ist. Es ist daher meines Erachtens völlig ausgeschlossen, daß tatsächlich durchschnittlich 12 bis 13 Falle täglich von jedem Beamten sorgfältig und sachgemäß bearbeitet werden können.

Ferner wird dabei über­

setzen, daß meinem Tage ein solcher Fall durch die geführte Kor­ respondenz nicht erledigt ist, daß sich vielmehr ost wochenlang die Ermittelungen,

Untersuchungen usw. hinziehen, so daß das be­

treffende Aktenstück immer wieder von neuem studiert und bearbeitet

werden muß.

Wenn dann jeden Tag noch 12 oder 13 neue Fälle

hinzutreten, so möchte ich stark bezweifeln, daß der betreffende Beamte die ihm zugedachte Arbeit zu bewältigen imstande ist. Dazu kommt noch die Zeit der Beurlaubung der Beamten, der Krank­ heiten usw., wo eingearbeitete Ersatzkräfte vorhanden sein müssen. Ich glaube nicht zu hoch zu greifen, wenn ich annehme, daß m i n bestens 30 Beamte allein zur Erledigung der Schäden erforder­

lich sein werden. Wo bleiben aber die Beamten, welche diejenige Kor­ respondenz besorgen, welche z. B. beim Ausscheiden eines Angestellten

aus der Versicherungspflicht, bei Verheiratung von weiblichen An­ gestellten, bei der Vergebung von Hypotheken, im Verkehr mit den Ersatzinstituten, mit der Reichspost, den Beitragsstellen, den privaten

Lebensversicherungsgesellschaften usw. erforderlich ist? Ob die 130 für die Kontenführung vorgesehenen Beamten aus­ reichen werden, ist ebenfalls fraglich; ich weiß ja zwar nicht, welche Obliegenheiten diese Beamten zu erfüllen haben werden, nehme aber an, daß es sich dabei um Buchhalter, Kaffenbeamte, Hypothekenbeamte und Registerbeamte handelt, die auch die Abrechnungen der einzelnen

Arbeitgeber nachzuprüfen und zu buchen haben.

denke,

daß bei meiner Gesellschaft,

Wenn ich nun be­

die bei einer Jahresprämien­

einnahme von etwa 25 Millionen Mark für die gleichen Zwecke etwa 50—60 Beamte tätig sind, obwohl es sich nur in den seltensten Fällen um monatliche Prämienzahlungen handelt, so glaube ich, daß die Reichsanstalt bei einer Beitragseinnahme von jährlich 150 bis

200 Millionen Mark und

den ausschließlich monatlichen Abrech­

nungen mit den verschiedensten Stellen nicht mit weniger als 200 bis 250 Beamten für die soeben aufgezählten Arbeiten auskommen wird. Archiv-, Registratur- und Expeditions-Beamte sind überhaupt in der

seinerzeit gegebenen Etatsübersicht nicht berücksichtigt worden; ebenso wurden Kosten für die RentenauSschüffe, die Schiedsgerichte und

64

Oberschiedsgerichte sowie die Reichspost nicht in Rechnung gestellt. Ferner sind anscheinend die allen Beamten zustehenden Wohnungsgeldzuschüffe und Pensionen nicht mit in die Berechnung einbezogen worden; auch muß stark bezweifelt werden, daß die höheren Beamten nur mit den gegenwärtigen Gehältern der Staatsbeamten angestellt werden sollen. Ich halte es für völlig ausgeschloffen, daß für diese Gehälter tüchtige Kräfte aus der Praxis zu gewinnen sein werden, die aber doch nach den Aeußerungen des Herrn Vertreters der Re­ gierung berufen werden sollen. Endlich wird doch an die Spitze des neuen Reichsamts ein Präsident und ein Vizepräsident gestellt werden, deren Bezüge sich etwa nach denjenigen der entsprechenden Reichsbeamten (40000 bzw. 24 000 M.) richten werden. Auch in Oesterreich sind ja sowohl den leitenden Beamten der Penfionsanstalt als auch denen der Landesstellen besondere Vergütungen gewährt worden. Allein für die Besoldung dieses Beamten­ heeres würden nach meiner Schätzung jährlich mindestens 2 Millionen Mark erforderlich sein. Es bleibt dann bei 2 pCt. Verwaltungskosten noch etwa jährlich 1 Million Mark übrig, die zur Beschaffung der Bureauräume, zur Bestreitung der Reisekosten, zum Ersatz der baren Auslagen von etwa 20 000 Vertrauensmännern, für Arztkosten, Schiedsgerichte, Oberschiedsgerichte, für die Post­ verwaltung usw. ausreichen sollen.

Dabei darf nicht außer acht gelaßen werden, daß die Reichs­ anstalt nach Zulaffung der bestehenden privaten Pensionskaffen als Ersatzinstitute einerseits neue, mit erheblicher Mehrarbeit verknüpfte Aufgaben zu bewältigen haben wird, deren Kosten von der Regierung noch nicht in Ansatz gebracht worden sind, andererseits aber eine Schmälerung ihrer eigenen Beitragseinnahmen und damit eine Kür­ zung der ihr sonst daraus zur Verfügung stehenden absoluten Un­ kostenbeiträge erfahren wird. Meine Herren! Ich glaubte. Ihnen die hauptsächlichsten Be­ denken gegen die Rechnungsgrundlagen nochmals besonders vor Augen führen zu müffen, da von der Art des Unterbaues in erster Linie die Dauerhaftigkeit des projektierten Gebäudes abhängt. Bei den folgenden Ausführungen, welche die Bestimmungen des Gesetz­ entwurfs über die Leistungen und die Beitragszahlung kritisieren, will ich mich auf die Hervorhebung der hauptsächlichsten

Mängel des Gesetzes beschränken:

1. Die Wartezeit von 120 Beitragsmonaten ist nicht nötig und auch auf Grund der aufgemachten ver-

65 sicherungstechnischen Berechnungen nicht erforderlich. Es ge­ nügt die Festsetzung einer festen KarenMit von 10 Jahrein 2. Eine Kürzung der Jnvalidenpension für den Fall, daß sie zusammen mit einer etwaigen Rente aus der reichsgesetzlichen Arbeiterversicherung das Durchschnitts­ gehalt übersteigt, ist für die Versicherten nachteilig und überdies durch die angestellten Berechnungen nicht zu moti­ vieren. Eine Kürzung sollte erst dann erfolgen, wenn beide Renten zusammen das zuletzt bezogene Gehalt, eventuell auch 90 pCt. dieses Gehaltes oder das im Durchschnitt der drei letzten Jahre, keinesfalls aber das ganz erheblich nied­ rigere, auf die ganze Bersicherungsdauer bezogene Durchschnittsgehalt übersteigen. Be­ züglich der Witwen- und Waisenrenten wären entsprechende Aenderungen der jetzigen Bestimmungen vorzusehen. 3. Die Altersrente muß unter allen Umständen vom 65. Lebensjahre ab in volle rHöhe gewährt werden. Die Beiträge, welche der Angestellte und der Arbeit­ geber zahlen, sind unter dieser Voraussetzung berechnet, und es ist kein Grund einzusehen, warum eine Hinausschiebung des ohnehin für viele Berufskategorien schon allzuweit hinaus­ geschobenen Beginns der Altersversorgung und eventuell eine nach den jetzigen Bestimmungen in der Regel erforderlich werdende Kürzung der Alterspension erfolgen soll. 4. Für weibliche Angestellte genügen die bisher vor­ gesehenen Mehrleistungen (Beginn der Pensionsanwartschaft nach 60monatlicher Karenzzeit, Rückzahlung der eigenen Bei­ träge beim Tode nach Ablauf der Karenzzeit vor Bezug einer Rente und im Falle der Verheiratung, Witwen- und Waisen­ renten) bei weitem nicht, um ihre Heranziehung zu den für sie wegen des Fortfalles der Witwen- und WaisenpensionsAnwartschaften viel zu hohen Beiträgen zu recht­ fertigen. Ich komme auf diesen Punkt noch später zurück. Ein für die weiblichen Angestellten in erster Linie wertvolles Aequivalent wäre ein früherer Beginn der Altersrente, etwa beim 60., möglichst schon beim 55. Jahre. 5. Die Rückzahlung der Beiträge im Falle der Verheiratung von weiblichen Angestellten müßte auch bei Verheiratungen vor Ablauf der Wartezeit er­ folgen, zumal es sich ja immer nur um die eigenen Beiträge der Angestellten handest; der vom Arbeitgeber bezahlte Teil

Heft irr.

66

verbleibt in solchen Fällen im Besitz der Anstalt, ohne daß diese eine Gegenleistung dafür zu erfüllen hätte. 6. Beim Ausscheiden eines Versicherten aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung soll nach den gegenwärtigen Bestimmungen nur dann eine Rück­ zahlung der von ihm selbst entrichteten Beiträge stattfinden, wenn mindestens 60 Monatsbeiträge geleistet sind, und wenn er alsdann eine ähnliche Tätigkeit wie die der Versicherungs­ pflicht unterliegenden Personen auf eigene Rechnung ausübt. Diese Beschränkung der Rückzahlungsverpflichtung ist durchaus ungerecht. Das eventuelle Auftreten negativer Reserven beim Aus­ scheiden junger Angestellter in den ersten Bersicherungsjahren nach ihrem Eintritt in die versicherungspflichtige Beschäftigung hat mit Rücksicht darauf wenig Bedeutung, daß es sich um eine Z w a n g s Versicherung handelt, daß das Ausscheiden gerade jugendlicher Personen sehr selten vorkommen wird, und weil den wenig zahlreichen Fällen des Ausscheidens jüngerer Per­ sonen die sicherlich weit häufiger eintretenden Fälle des Aus­ scheidens von Angestellten in mittleren oder höheren Jahren gegenüberstehen, in denen der Reichsanstalt ein Gewinn ver­ bleibt. Es wäre daher notwendig, die vorgesehene Rückzahlung jederzeit und ohne Rücksicht auf den Grund des Ausscheidens aus der versicherungspflichtigen Beschäf­ tigung eintreten zu taffen, also auch bei denjenigen durch die jetzigen Bestimmungen besonders hart getroffenen Angestellten, welche vor Ablauf der KarenMit wegen Erreichung der obersten Einkommensgrenze aus der Bersicherungspflicht ausscheiden und weder die Möglichkeit haben, die Versicherung fortzusetzen, noch den bereits erworbenen Anspruch durch Weiterzahlung einer Anerkennungsgebühr aufrechtzuerhalten. 7. Ich habe nirgends Bestimmungen darüber finden können, ob etwa bei Angestellten, die aus irgendeinem Grunde aus der Versicherungspflicht unter Rückerstattung ihrer eigenen Bei­ träge ausscheiden, später aber wieder versicherungspslichtig werden, die Wartezeit von neuem zu laufen beginnt oder ob die früher bereits zurückgelegte Zeit angerechnet wird. Mit Rücksicht darauf, daß die Beiträge des Arbeitgebers auf alle Fälle der Reichsanstalt verbleiben, müßten sie in dem Falle der Wiederaufnahme der Versicherung dem Angestellten sowohl hinsichtlich ihrer Zahl (zwecks Verringerung oder gänzlicher

67 Vermeidung einer neuen Wartezeit) als auch hinsichtlich ihrer Höhe (zwecks Vergrößerung der neuzuerwerbenden Anwart­

schaften) wieder gutgebracht

werden.

Die Aufnahme

dies­

bezüglicher präziser Bestimmungen in das Gesetz wäre zweck­ mäßig. 8. Wünschenswert wäre die Anrechnung der aktiven Militär di en st zeit auf die Höhe der Pensionen, um

Angestellte, welche ihrer gesetzlichen Dienstpflicht nachgekommen sind, nicht schlechter zu stellen als andere, die der Militärpflicht nicht zu genügen brauchten und daher ohnedies hinsichtlich ihres

Fortkommens beffer daran sind als jene.

Ob die Reichsanstalt

aus eigenen Mitteln in der Lage sein wird, die fällig werdenden

Pensionen solcher Angestellten um denjenigen Betrag zu er­ höhen, den sie im Falle ihrer Weiterversicherung während ihrer Militärdienstzeit in der zuletzt innegehabten Einkommensklaffe

erworben hätten, muß allerdings be­ Dagegen könnte in solchen Fällen der Staat

als Pensionsanspruch

zweifelt werden.

eingreifen; meines Erachtens wäre es kein unbilliges Ver­ langen, vom Staat, der zu den Renten der Arbeiter einen festen jährlichen Zuschuß von 50 M. gewährt, zu fordern, daß er denjenigen Angestellten, die ihm als Soldaten treue Dienste geleistet haben, zum mindesten den finanzieren Nachteil erseht, den sie andernfalls hinsichtlich ihrer Pensionsansprüche der­

einst erleiden müßten. 9. Endlich wäre eine möglichst kulante Ausgestaltung der Be­ stimmungen über die Anrechnung der zurückgelegten Dienstzeit als Privatangestellter anzustreben, indem gegen Nachzahlung

der

erforderlichen Prämienreserve

jederzeit,

nicht nur

während der ersten 3 Jahre des Bestehens des Gesetzes, die Rückdatierung der Versicherung um eine beliebige An­ zahl von Dienstjahren gestattet wird. Dabei wäre es den Angestellten freizustellen, ob sie auf Grund einer ärztlichen Untersuchung gleichzeitig die Wartezeit abkürzen

resp, ganz

vermeiden wollen, oder ob die Wartezeit für sie in vollem Um­ fange laufen soll. Um den Angestellten eine solche Rück­

datierung zu ermöglichen, wäre endlich die Nachzahlung der Prämienreserve und des Zinsentganges in beliebigen

Raten zuzulasien. Die in Aussicht genommenen Beiträge sind sogenannte Durchschnittsbeiträge, d. h. sie werden ohne Rücksicht auf das Alter



68 der Versicherten in gleicher Höhe erhoben. Wenn diese in der Sozial­ versicherung allgemein übliche Beitragsfestsetzung auch verhältnis­ mäßig einfach ist, so darf doch andererseits nicht verkannt werden, daß es sich bei der Privatangestelltenversicherung um eine FürsorgeEinrichtung handelt, welcher nicht nur wegen der Höhe der in Aucsicht genommenen Beiträge, sondern vor allem, weil diese Beiträge von den Angestellten und Arbeitgebern allein, ohne Zuschuß seitens des Staates, aufgebracht werden, eine ganz besondere Stellung ge­ bührt. Ts bedeutet zweifellos eine große Ungerechtigkeit, die jungen Angestellten zu einem erheblich höheren als für sie tatsächlich erforder­ lichen Beitrag heranzuziehen, um dafür die in älteren Jahren Bei­ tretenden zu entlasten. Auch wird der starre Schematismus, welcher unverheiratete Angestellte zwingt, Beiträge für eine für sie vielleicht niemals in Frage kommende Witwen- und Waisenversicherung zu entrichten, welcher kranken Personen eine Beitragslast aufbürdet, obwohl sie niemals Nutzen davon haben werden, welcher weibliche Angestellte zur Zahlung derselben Beiträge zwingt, welche ihre männlichen Kollegen aufbringen, eine dauernde Zufriedenheit in den Kreisen der Privatbeamten nicht erzielen. Die ermittelten Beiträge sind nun unter Berücksichtigung der nach der Berufszählung von 1895 sich ungefähr er­ gebenden Altersgruppierung der gegenwärtig für die Ver­ sicherung in Frage kommenden Personen berechnet, wobei zwar eine einigermaßen zutreffende durchschnittliche Prämie für den A n fangsbestand, nicht aber auch für die später eintretenden An­ gestellten gefunden worden ist, für welche wegen ihres vorwiegend jüngeren Beitrittsalters ein kleinerer durchschnittlicher Beitrag aus­ reichend wäre. Gleichwohl ist eine spätere Reduktion der Beiträge kaum zu erwarten, da der gegenwärtige Durchschnittsbeitrag unter der Annahme eines für alle Angestellten gleichen Gehalts be­ rechnet ist. In Wirklichkeit haben aber zweifellos die mittleren unb höheren Altersklassen im Durchschnitt ein größeres Einkommen als die jüngeren; daher kommt der Durchschnittsprämienberechnung für jene Altersklaffen in Wirklichkeit ein relativ größeres Gewicht zu als angenommen ist, was eine Erhöhung des zurzeit festgesetzten Durch­ schnittsbeitrages zur Folge haben müßte. Die Regierung rechnet nun damit, daß hierbei die allmähliche Verjüngung des Durch­ schnittsalters einen Ausgleich schaffen wird. Für die männlichen Angestellten allein ergibt sich eine Durch­ schnittsprämie von 7,48 pCt. gegen 6,02 pCt. bei den weiblichen An­ gestellten; in letzterer stecken bereits 0,66 pCt. des Gehalts als

69 S icherheitszuschlag für erhöhte Jnvaliditätsgefahr und 0,62 pCt. für die in Aussicht genommenen Mehrleistungen an weibliche Angestellte; ohne diese Zuschläge würde sich der Durchschnittsbeitrag für weibliche Angestellte auf nur 4,74 pCt., d. h. auf noch nicht zwei Drittel des Beitrags für männliche Angestellte stellen. Die Differenz von 2,74 pCt. des Gehalts bezw. die nach Abzug des Beitrags für die der Mehrleistungen immer noch verbleibende Differenz von 2,12 pCt. des Gehalts darf aber unmöglich mit der erhöhten Jnvaliditätsgefahr der Frauen motiviert werden, entspräche sie doch einer Erhöhung des Zeitwertes der Jnvalidenpensionsanwartschaften der weiblichen An­ gestellten um etwa 70 pCt.! Der Nachweis für die höhere Jnvalidi­ tätsgefahr des weiblichen Geschlechts ist bisher überhaupt noch nicht erbracht worden. Die in der Begründung zur Reichsversicherungs­ ordnung gegebenen Jnvaliditätswahrscheinlichkeiten beziehen sich auf das der staatlichen Jnvaliditäts- und Altersver­ sicherung unterstehende weibliche Arbeitspersonal, von dem ein großer Teil in Fabriken, Hütten und Walzwerken und ähnlichen gefährdeten Betrieben beschäftigt und bei dem daher eine höhere Jn­ validitätsgefahr ohne weiteres zu erklären ist. Woher aber für Bureau­ beamtinnen, Verkäuferinnen, Privatlehrerinnen, Schreibmaschinen­ damen und ähnliche dem neuen Gesetz unterstehende weibliche Be­ rufskreise eine wesentlich erhöhte Jnvaliditätsgefahr kommen soll, ist mir nicht recht verständlich; man muß dabei auch berück­ sichtigen, daß die zugrunde gelegte Jnvaliditätstafel, die übrigens seinerzeit auch aus Beobachtungen an weiblichem Material konstruiert worden ist, für die einer sehr hohen Jnvaliditätsgefahr unter­ liegenden männlichen Angestellten — Grubenbeamte, Reisende, Schiffspersonal u. a. — ausreichen soll, und für weibliche Personen soll sie nun auf einmal nicht ausreichen? Selbst wenn aber die Jnvaliditätsgefahr des weiblichen Geschlechts nach den zu sam­ melnden Erfahrungen ungünstiger als bei den männlichen An­ gestellt,en verlaufen sollte, so ist wegen der steigenden Pensionen, um die es sich hier handelt, und wegen der Ergänzung der Invaliden­ rente mit einer Altersrente die Gefahr von Verlusten für die Reichs­ anstalt gering. Keinesfalls darf aber wegen der „möglicherweise" erhöhten Jnvaliditätsgefahr der Frauen den weiblichen Angestellten gleich eine Erhöhung der Beitragslast um mehr als 2 pCt. des Ge­ halts aufgebürdet werden. Diese außerordentliche Mehrbelastung, die in Wirklichkeit nur dazu dient, um die männlichen Angestellten zu entlasten, bedeutet meines Erachtens eine ungerechte Härte gegen die weiblichen Angestellten. Da jedoch andererseits eine verschieden-

TO artige Festsetzung des Beitrags für männliche und weibliche An­ gestellte aus Zweckmäßigkeitsgründen nicht in Frage kommen kann, sollte den letzteren, wie schon vorhin erwähnt, ein ausreichendes und zweckmäßiges Aequivalent in Gestalt eines frühzeitigeren Beginns ihrer Altersversorgung gewährt werden. (Beifall.) Borfitzeuder: Meine Herren! Ich darf im Namen der hier ver­ sammelten Herren dem Herrn S ch m i g a l l a für seinen Vortrag den Dank der Versammlung aussprechen. Ich bitte nun Herrn Justizrat Wandel, das Schlußreferat zu halten. Berichterstatter Justizrat Wandel-Essen: Meine Herren! In der Kommission, die der Centralverband Deutscher Industrieller zur Besprechung des Entwurfes eines Versicherungsgesetzes für An­ gestellte zusammenberufen hatte, war es bei meinem Referat über den neunten Abschnitt des Gesetzentwurfs meine Aufgabe, die Vor­ schriften dieses Abschnittes bis in alle Einzelheiten hinein zu er­ läutern und kritisch zu betrachten. Selbst an nur redaktionellen Mängeln der Bestimmungen des Entwurfs durste die damalige Kritik nicht achtlos vorübergehen. Heute kann es sich natürlich nicht um einen so ausführlichen Bericht handeln, sondern es kann nur in Frage kommen, den wesentlichsten Inhalt meiner früheren Aus­ führungen, die Ihnen ja inzwischen gedruckt zugegangen sind, in aller Kürze wiederzugeben. Daneben möchte ich die Veränderungen in der Sachlage besprechen, die inzwischen eingetreten sind, und das­ jenige Material vorbringen, das mir erst nach meinem ersten Referat zugegangen ist. Der neunte Abschnitt des Gesetzentwurfes beschäftigt sich, wenn ich von den weniger wichtigen Vorschriften absehe, mit der Frage, in welcher Weise die staatliche Angestelltenversicherung sich zu den b e st e h e n d e n Fabrik-, Seemanns- und ähnlichen Kassen, zu den Knappfchaftsvereinen und Knappschaftskaffen und zu den Ver­ sicherungsverträgen mit privaten Lebensversicherungs­ unternehmungen stellen soll. Das Verhältnis zu den Fabrik-, Seemanns- und ähnlichen Kaffen soll nach dem Gesetzentwurf in der Hauptsache so geregelt werden, daß diese Kaffen die gesetzlichen Versicherungsleistungen auf ihre statutenmäßigen Pensionen anrechnen dürfen unter der Voraus­ setzung, daß die gesetzlichen Versicherungsbeiträge für die Kaflenmitglieder aus den Kaffenmitteln entrichtet werden. Da nun die gesetz­ lichen Beiträge im großen Durchschnitt 7 pCt, des Gehalts betragen.

zahlreiche Pensionskassen aber nur 6 pCt. oder gar noch weniger an

Beiträgen der Mitglieder und Firma zusammen erheben, leuchtet

es ohne weiteres ein, daß für diese Kaffen die vom Entwurf vor­ gesehene Regelung vollständig versagt.

Es muß dabei noch beson­

ders betont werden, daß bei derartigen Pensionskaffen mit gerin­ geren Beiträgen, als sie der Gesetzentwurf vorsieht, dennoch erheblich

höhere Leistungen festgesetzt sind, als der Entwurf in Aussicht stellt. Bei einem Teil der Pensionskaffen mit so geringen Beiträgen sind die Pensionen sogar rund dreimal so hoch wie die vom Gesetzentwurf vorgesehenen Renten.

Daß alle diese Kaffen mit Beiträgen von

weniger als 7 pCt. den vom Entwurf vorgesehenen Weg nur unter ganz enormen Beitragserhöhungen obet Pensionsherabsetzungen be­ schreiten können, bedarf keines Beweises. In meinem ersten Referat

habe ich aber auch gezeigt, daß eine solche Beitragserhöhung oder Pensionsherabsetzung auch bei allen anderen mir bekannten Pensions­ kaffen eintreten müßte, wenn der im Entwurf vorgesehene Weg in das Gesetz ausgenommen würde, und darunter befanden sich Kaffen,

die jetzt schon 10, ja sogar 15 pCt. an Beiträgen erheben!

Und unter

diesen waren auch solche, deren versicherungstechnischer Aufbau erst

ganz neuerdings vom Kaiserlichen Auffichtsamt für Privatversicherung nachgeprüft worden war und in jeder Beziehung einwand­ frei ist. Die Bestimmungen des Gesetzentwurfes über die Pensions­ kaffen würden also, wenn sie Gesetzeskraft erlangten, viele Tausende von Angestellten aufs schwerste schädigen, die jetzt Pensionskaffen angehören, die im Verhältnis zu den Beiträgen außerordentlich viel mehr leisten, als das einer staatlichen Versicherung möglich ist. Aus

diesem Grunde ist es begreiflich, daß in den Kreisen der Mitglieder der Werkspenstonskaffen der Gesetzentwurf eine große Beunruhigung hervorgerufen hat und daß von den verschiedensten Seiten Eingaben an das Reichsamt des Innern und den Bundesrat gerichtet wurden, die die Zulaffung von Ersatzinstituten verlangten, da sonst durch

die Einführung der staatlichen Angestelltenversicherung die Existenz vieler bestehender PensionSkaffen bedroht und ihre Mitglieder aufs empfindlichste geschädigt würden.

Ein Teil dieser Eingaben hat sich

dabei auf ausführliches Zahlenmaterial von schlagender Beweiskraft gestützt. So konnte es denn nicht ausbleiben, daß das Reichsamt des Innern die Notwendigkeit erkannte, die Vorschriften des Gesetz­ entwürfe- über die Werk-pensionskaffen dahin abzuändern, daß

unter bestimmten Bedingungen Ersatzinstitute zugelaffen werden

können. Diese Bedingungen, die das Reichsamt des Innern nach anscheinend offiziösen Zeitungsnachrichten in den abgeänderten

72 Gesetzentwurf ausgenommen hat, decken sich im allgemeinen mit den­ jenigen, die ich in den Leitsätzen zu meinem Referat vom 4. März aufgestellt habe, die ihrerseits wieder sich an die in Oesterreich gelten­ den gesetzlichen Vorschriften und an die Vorschläge der zweiten amt­ lichen Denkschrift anlehnen. Bevor ich auf die jetzt vom Reichsamt des Innern geplanten Be­ dingungen für die Zulaffung von Ersatzinstituten näher eingehe, möchte ich kurz die Frage zu beantworten suchen, wie es denn über­ haupt möglich war, daß in dem Gesetzentwurf die Zulaffung von Ersatzinstituten gänzlich abgelehnt wurde, obwohl doch bei ruhiger Prüfung gar nicht übersetzen werden kann, daß durch ein solches Ver­ fahren viele Tausende von Angestellten aufs schwerste geschädigt werden. Die Antwort auf die eben aufgeworfene Frage dürfte Wohl in erster Linie darin zu erblicken sein, daß auch in diesem Punkte der Verfaffer des Gesetzentwurfes die Wünsche des „Hauptausschuffes zur Herbeiführung einer staatlichen Pensionsversicherung der Privat­ angestellten" ohne weiteres als eine maßgebliche Richtschnur ange­ sehen haben. Es ist dabei bemerkenswert, daß die ersten Leitsätze dieses Hauptausschuffes, welche am 1. März 1903 aufgestellt wurden, ausdrücklich wünschten, daß Angestellte, die bei einer vom Kaiserlichen Auffichtsamt zugelaffenen Kaffe versichert sind, von der Zugehörig­ keit zur staatlichen Pensionsanstalt befreit werden sollen, falls diese Kasse mindestens die Leistungen der staatlichen Anstalt gewährt. Dieser Wunsch wurde auch in den Leitsätzen des Hauptausschuffes vom Januar 1904 wiederholt. Im Oktober 1907 erst verließ die Siebenerkommission und dann der Hauptausschuß diesen Stand­ punkt, indem sie nunmehr forderten, daß vom Zwange einer all­ gemeinen Staatsversichcrung die Zugehörigkeit zu privaten Lebens­ versicherungen nur dann befteien solle, wenn es sich um Kaffen han­ delt, die von öffentlichen Körperschaften eingerichtet und geleitet sind und den Versicherten mindestens die gleichen Rechte und Ansprüche gewähren wie die staatliche Einrichtung. Dieser seit Oktober 1907 vom Hauptausschuß festgehaltenen Forderung wollte jedoch die Denkschrift des Reichsamts des Innern vom Juli 1908 nicht nach­ geben, sondern sie sah eine Reihe von Normativbestimmungen für die Zulaffung von Ersatzinstituten in ähnlicher Weise vor, wie sie sich im österreichischen Gesetz finden. Wenn trotzdem der Gesetzentwurf die Zulaffung von Ersatzinstituten gänzlich ablehnt, so ist das neben dem Einflüsse des Hauptausschuffes wohl auch auf die Bestrebungen der österreichischen Allgemeinen Pensionsanstalt für Angestellte auf Neuregelung der Ersatzinstitutsfrage zurückzuführen. Daß die Be-

73 gründung unseres Gesetzentwurfes sehr einfach bemerkt, in Oester­ reich seien mit der Zulaffung von Ersatzinstituten schlechte Erfah­ rungen gemacht worden, ohne hinzuzufügen, worin denn eigentlich die schlechten Erfahrungen bestehen sollen, ist allgemein bekannt. Sucht man in dem Geschäftsbericht der österreichischen „Allgemeinen Pensionsanstalt für Angestellte" über das Jahr 1909 nach Material, das als Beweis für die erwähnte Behauptung gelten könnte, so findet man, daß die Zahl der Uebertritte zu Ersatzeinrichtungen 24 256, dagegen die Zahl der Uebertritte von Ersatzeinrichtungen nur 341 betrug. Die große Zahl der Uebertritte zu Ersatzeinrichtungen er­ klärt sich aus den zahlreichen Neugründungen von solchen, die geringe Zahl aber der Uebertritte von Ersatzeinrichtungen beweist mit un­ übertrefflicher Deutlichkeit, daß die Mehrarbeit, die durch die Zu­ laffung von Ersatzinstituten für die staatliche Anstalt erwächst, praktisch überhaupt nicht ins Gewicht fällt, wenn man die Zulaffung nur solcher Versicherungseinrichtungen vorsieht, die bei Inkrafttreten der Zwangsversicherung bereits bestehen. Was die deutschen Ver­ hältnisse anlangt, so wäre es jedenfalls eine maßlose Uebertreibung, wenn man behaupten wollte, daß die Staatsanstalt erheblich ge­ schädigt werden würde, wenn ihr die im Verhältnis zur Gesamtheit doch nur sehr wenig zahlreichen Mitglieder von Betriebspensions­ kassen entzogen werden, denn nach der Enquete von 1903 gehörten den Betriebspensionskaffen nur 6,1 pCt. der männlichen und 1 pCt. der weiblichen Versicherten an. Die neuerdings, von einer den Pensionskaffen feindlichen Seite aufgestellte Behauptung, durch die Herausnahme der Mitglieder der Werkspensionskaffen aus der Reichsanstalt werde diese „zu einer Art Reservoir aller schlechten Risiken"*) werden, kann bei sachlicher Prüfung nicht ernst genommen werden, zumal auch in Zukunft die Firmen, welche Betriebspensions­ kaffen unterhalten, ihre Angestellten in erster Linie nach der Tüchtig­ keit und nicht danach auswählen werden, ob sie in bezug auf ihre körperlichen Eigenschaften, das Alter der Frau und die Zahl der Kinder als gute Risiken für die Pensions- und Hinterbliebenenversicherung anzusehen sind. Also die Rücksicht auf die Existenzfähig­ keit der staatlichen Versicherungsanstalt kann die Zulaffung jeden­ falls der bereits bestehenden Kaffeneinrichtungen nicht verbieten. Wenn die österreichische Pensionsanstalt jetzt das Gesetz bezüglich der Ersatzinstitute in derselben Richtung abändern will, die unser Gesetz­ entwurf einschlägt, so ist dabei zu beachten, daß in Oesterreich gegen*) Dr. Günther in der Deutschen Techniker-Zeitung vom 8. April 1911.

74 wärtig bereits über die Hälfte aller versicherten Privatangestellten Ersatzeinrichtungen angehört. Im übrigen hat sich auch die öster­ reichische Pensionsanstalt die Begründung ihrer Forderungen bezüg­ lich der Ersatzinstitute außerordentlich leicht gemacht. Der größte Teil der Mängel, die sie an dem jetzigen Zustand zu tadeln findet, würde wahrscheinlich ohne weiteres verschwinden, wenn der unhalt­ bare Zustand beseitigt würde, daß in Oesterreich versicherungspflich­ tige Angestellte als versichert gelten, ganz gleichgültig, ob für sie Bei­ träge entrichtet werden oder nicht. Abgesehen hiervon hat die öster­ reichische Pensionsanstalt in ihrer umfangreichen Denkschrift die Frage überhaupt nicht ernsthaft erörtert, ob durch den von ihr vor­ geschlagenen Weg nicht vielleicht ein großer Teil der bisher ersatz­ versicherten Personen schwer geschädigt wird. Die österreichischen Er­ fahrungen können also in keiner Weise als Argument gegen die Zulaffung bereits bestehender Versicherungseinrichtungen verwendet werden. Was nun die Bedingungen betrifft, unter denen das Reichsamt deS Innern jetzt Werkspensionskaffen als Ersatzinstitute zulaffen will, so suchen sie in der Hauptsache folgende vier Forderungen zu erfüllen: 1. Die Kaffenleistungen müssen den gesetzlichen Leistungen min­ destens gleichwertig sein; auch muß den Kaffenmitgliederu ein Rechtsanspruch auf die Kasienleistungen und bei der Verwal­ tung und bei der Entscheidung über die Gewährung von Kaffen­ leistungen eine den gesetzlichen Vorschriften entsprechende Mit­ wirkung eingeräumt werden. 2. Die Kaffen müssen die sämtlichen versicherungspflichtigen An­ gestellten eines Arbeitgebers ohne Auswahl der Risiken aus­ nehmen, und die Erfüllbarkeit der gesetzlichen Leistungen muß

dauernd gewährleistet sein. 3. Die Beiträge der Arbeitgeber zu den Kaffen müssen mindestens den gesetzlichen Arbeitgeberbeiträgen gleichkommen. 4. Durch einen Stellenwechsel darf die Aufrechterhaltung einer Anwartschaft in Höhe der gesetzlichen Versicherungsleistungen nicht in Frage gestellt sein. Diese vier Forderungen werden bei sachlicher' Prüfung als not­ wendige, aber auch als ausreichende Bedingungen für die Zulassung von Ersatzinstituten anerkannt werden müssen. Trotz dieser grund­ sätzlichen Zustimmung glaube ich aber bezüglich der Durch­ führung der letzten eben genannten Bedingung eine abweichende Ansicht vertreten zu sollen. Beim Uebertritt eines Versicherten Von

75 einem Ersatzinstitut zur Reichsversicherungsanstalt soll nämlich nach dem Vorschläge des Reichsamts des Innern dem Versicherten zu­

nächst nur eine Bescheinigung über seine bisherige Mitgliedschaft bei dem Ersatzinstitut ausgestellt und die Abrechnung zwischen dem Ersatzinstitut und der Reichsversicherungsanstalt bis zum Eintritt

des Versicherungsfalles, also bis zum Eintritt der Invalidität oder

des Todes unter Zurücklaffung rentenberechtigter Hinterbliebener hinauSgeschoben werden; es erscheint aber zweckmäßiger, daß sofort

beim Uebertritt eine Abrechnung zwischen den beteiligten Versicherungseinrichtungen durch Ueberweisung derjenigen Prämien­ reserve stattfindet, die zur Uebernahme der gesetzlichen Anwartschaft

erforderlich ist.

Welche Vorzüge diese Regelung vor der von dem

Reichsamt des Innern jetzt gewünschten hat, ist ausführlich dargelegt worden in einer Eingabe des hier in Berlin bestehenden Aus­ schusses vereinigter Betriebspensionskafsen an den Bundesrat. Ich möchte daraus hier nur zwei Punkte hervor­ heben: 1. Bei dem vom Reichsamt des Innern jetzt vorgeschlagenen Weg

müßte eine Kasieneinrichtung, die einen Mitgliederwechsel von beispielsweise 10 pCt. hat, schon nach 10 Jahren die gleiche Zahl von früheren wie von vorhandenen Mitgliedern in ihren

Büchern führen und bei ihren Bilanzen berücksichtigen, und >

schließlich würde die Zahl der so zu führenden ehemaligen Mit­ glieder das Vielfache des vorhandenen Mitgliederbestandes er­

reichen. 2. Wenn nach Vorschlag des Reichsamts des Innern die Ueber­ weisung der Prämienreserve bis zum Eintritt des Versiche­ rungsfalles hinausgeschoben wird, so wird die Pensionskaffe hinsichtlich der Pensionierung

reichsgesetzlich versichert war, schränkt.

eines Mitglieds, das

in

früher

ihrem freien Ermessen be­

Denn natürlich wird die Reichsanstalt die Prämien­

reserve nur dann auszahlen, wenn sie selbst den Versicherungs­ fall als gegeben erachtet. Die Pensionskaffe wird also unter Um­

ständen in die Lage kommen, entweder auf die nach ihrer An­

sicht gebotene Pensionierung oder auf die Prämienreserve ver­ zichten zu müffen. Eine solche Beschränkung der Pensions­ kaffen in ihrer freien Entschließung erscheint aber bedenklich, weil es gerade einer der wichtigsten Vorzüge der Betriebs­

pensionskaffen ist, daß sie die besonderen Umstände des Einzel­ falles in weitergehendem Maße berücksichtigen können, als das bei einer staatlichen Anstast möglich ist.

76 Sie sehen, daß die jetzige Stellung des Reichsamts des Innern zu der Frage der Ersatzinstitute mit den Wünschen der bestehenden Pensionskaffen grundsätzlich übereinstimmt, und daß die noch vor­ handene Meinungsverschiedenheit lediglich eine Zweckmäßigkeitsfragc betrifft, also hoffentlich auch noch beseitigt werden kann. Für die Zulaffung als Ersatzinstitut kommt aber, wie die er­ wähnte Eingabe betont, sicherlich nur ein Teil der jetzt bestehenden Pensionskaffen in Betracht, und die übrigen können höchstens als Zuschußkaffen erhalten bleiben. Hinsichtlich der Zuschußkaffen schließt sich die Eingabe des Ausschuffes vereinigter Betriebspensionskaffen der Forderung an, die ich in meinem ersten Referat aufgestellt habe, daß die Regelung in ähnlicher Weise erfolgt wie im § 52 des Jnvalidenversicherungsgesetzes und im § 1307 des Entwurfes einer Reichsversicherungsordnung. Dort wird nämlich den Zuschußkaffen das Recht gegeben, die reichsgesetzlichen Bezüge auf die Kaffen­ leistungen ganz oder teilweise anzurechnen, dafür werden aber die Zuschußkaffen verpflichtet, die Beiträge entsprechend herabzusetzen, falls nicht die jetzigen Beiträge auch weiterhin zur Deckung der der Kaffe verbleibenden Leistungen erforderlich sind. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß diese Bestimmungen den bestehenden Pensions­ kaffen bei den durch die Einführung der staatlichen Versicherung erforderlich werdenden Satzungsänderungen eine weit größere Be­ wegungsfreiheit geben als die Regelung des Entwurfs; die Kaffen sind in der Lage, in jedem einzelnen Falle den für die Kassenmitglieder vorteilhaftesten Weg zu wählen. Uebrigens ist in der Begründung des Gesetzentwurfes kein Wort darüber enthalten, wes­ halb man die Frage der Zuschußkaffen jetzt anders regeln will, als man es beim Jnvalidenversicherungsgesetz für zweckmäßig hielt. Was die Knappschaftsvereine und Knappschaftskaflen angeht, so will der Gesetzentwurf sie in ähnlicher Weise behandeln wie die Be­ triebspensionskaffen. Nur insofern sind sie besser gestellt, als durch den § 14 Ziffer 3 des Entwurfes der Bundesrat ermächtigt wird, Angestellte in Betrieben, für die eine Invaliden- und Hinterbliebenenverforgung bereits durch landesrechtliche Vorschriften ge­ regelt ist, für versicherungsfrei zu erklären. Die Knappschaftsvereine sind ja bekanntlich landesrechtlich geregelt, und sie könnten daher mit der im § 14 des Entwurfes vorgesehenen Regelung vollständig ein­ verstanden sein, wenn sie die Gewißheit hätten, daß der Bundesrat diese Vorschrift bei allen Knappschaftsvereinen zur Anwendung ge­ langen lassen wird. Nach der Begründung des Gesetzentwurfes wird dies aber nur bei denjenigen Knappschaftsvereinen geschehen, die nach

77 der Ueberzeugung des Bundesrats hinreichende Sicherheit für die dauernde Erfüllbarkeit der den Angestellten zu gewährenden Lei­ stungen bieten. Für die übrigen Knappschaftsvereine würde dann die im § 369 vorgesehene Regelung Platz greifen, die im wesentlichen mit derjenigen übereinstimmt, die der Gesetzentwurf für die privaten Pensionskaffen plante. Ebenso wie für diese privaten Pensionskaffen wird deshalb auch für viele Knappschaftsvereine die Frage auf­ geworfen werden müssen, ob sie überhaupt weiter bestehen können. Also auch hier bedroht der Gesetzentwurf die Existenz bewährter, ja vielfach altehrwürdiger Kaffeneinrichtungen, die bisher zur Zu­ friedenheit und zum Segen ihrer Mitglieder wirken konnten. Des­ halb muß gefordert werden, daß das Reichsgesetz die auf staatlicher Grundlage beruhenden Knappschaftsvereine, die dauernd unter der Aufsicht der Landesbehörden stehen, allgemein als Ersatzinstitute anerkennt, wenn ihre Leistungen den im Gesetz festzustellenden im wesentlichen wenigstens gleichkommen. In dieser Richtung bewegen sich denn auch die Bestrebungen sowohl der Knappschaftsvereine als auch des Steigerverbandes, und es ist zu hoffen, daß diese Be­ mühungen von Erfolg gekrönt sein werden. Ich komme nun zu dem letzten Punkt meines Referats, nämlich zu der Behandlung, die die Versicherungsverträge mit privaten Lebensversicherungsunternehmungen im Gesetzentwurf gefunden haben. Ich darf hierbei daran erinnern, daß der Abschluß einer Lebensversicherung, durch welche ein Angestellter für sein Alter und seine Hinterbliebenen zu sorgen sucht, einen anerkennenswerten Akt der Selbsthilfe darstellt und daß diese Selbsthilfebestrebungen der Angestellten vielfach von den Arbeitgebern durch Zuschüsse zu den Lebensversicherungsprämien unterstützt werden. Nicht selten sind auch die Fälle, daß Arbeitgeber bei der Einrichtung einer Pensions­ fürsorge für ihre Angestellten, statt der Gründung einer Pensions­ kaffe oder der Versicherung von Invaliden- und Hinterbliebenen­ renten bei irgendwelchen Versicherungsanstalten, dem Abschluß von Kapitalversicherungen den Vorzug geben, ja es fehlt sogar unter den Sozialpolitikern nicht an Stimmen, die diese Art für die eigentlich moderne Methode der Pensionsfürsorge erklären. In meinem früheren Vortrag habe ich Beispiele von großindustriellen Unter­ nehmungen erwähnt, die auf diese Weise die Pensionsfürsorge ge­ regelt haben; hier sei weiter noch die Firma F. Schichau in Elbing genannt, bei der, wie ich höre, 400 bis 500 Beamte auf insgesamt 4 bis 5 Millionen Mark versichert sind. Der Gesetzentwurf verkennt nun auch keineswegs, daß eine gewiffe Rücksichtnahme auf diejenigen

78 Angestellten geboten ist, welche Lebensversicherungsverträge ab­ geschlossen haben und dafür zum Teil sehr erhebliche Aufwendungen machen. Der Entwurf will deshalb auf Antrag diejenigen An­ gestellten von der Zwangsversicherung befreien, die nachweisen können, daß sie bei Veröffentlichung des Gesetzes bereits eine Lebens­ versicherung abgeschloffen hatten und daß beim Inkrafttreten des Gesetzes ihre LÄbensversicherungsprämie mindestens dem gesetzlichen Versicherungsbeitrag gleichkommt, soweit dieser von dem Angestellten selbst zu tragen ist. Es sind also die Fälle, in denen der Arbeitgeber keinen Zuschuß, zu den Lebensversicherungsbeiträgen der Angestellten zahlt, in befriedigender Weise geregelt. In diesen Fällen hat nämlich der Arbeitgeber nur die auf ihn entfallende Beitragshälfte an die Reichsversicherungsanstalt zu zahlen, und dem Versicherten werden dafür die gesetzlichen Leistungen zur Hälfte gewährt. Was aber die Lebensversicherungen angeht, zu denen der Arbeit­ geber bisher Zuschüffe gezahlt hat, so soll er nach dem Gesetzentwurf berechtigt sein, diese Zuschüffe um den gesetzlichen Arbeitgeberbeitrag zu kürzen. Die Reichsversicherungsanstalt soll dann auf Antrag des Versicherten die ihr vom Arbeitgeber eingesandten bisherigen Zu­ schüffe an die privaten Versicherungsunternehmungen abführen. Dieses komplizierte Verfahren hat, wie die Begründung des Gesetz­ entwurfes ausführt, den Zweck, den Versicherten vor finanziellen Verlusten zu schützen. Dieser Zweck könnte jedoch nur dann erreicht werden, wenn die Abführung des Arbeitgeberbeitrages an die Lebens­ versicherungsgesellschaft den Erfolg hätte, daß dem Versicherten die Anwartschaft aus dem Lebensversicherungsvertrag unverkürzt er­ halten bleibt. Das soll aber nach dem Gesetzentwurf nicht der Fall sein, denn die Forderung aus der Lebensversicherung soll zu dem­ jenigen Teil, welcher dem gekürzten Betrage der Arbeitgeberzuschüffe entspricht, an die Reichsversicherungsanstalt rechtsverbindlich ab­ getreten werden. Hierfür soll dann dem Versicherten eine Anwart­ schaft auf Ruhegeld und Hinterbliebenenrente in einer gewissen Höhe gegeben werden. Das Nähere über die Ausführung dieser ver­ wickelten Vorschriften wird bezeichnenderweise der Bestimmung des Bundesrats überlassen. Ob dem Bundesrat die Lösung dieser Auf­ gabe gelingen wird, mag dahingestellt bleiben. Es ist aber wohl erwähnenswert, daß einer der bedeutendsten Versicherungsmathema­ tiker, nämlich Direktor Dr. Höckner in Leipzig, erklärt hat, er habe sich vergeblich bemüht, eine befriedigende Lösung dieses Pro­ blems zu finden. Mag diese Umrechnungsaufgabe nun auch gelöst werden, wie sie wolle, auf keinen Fall kann es bei diesem Verfahren

79 gelingen, den Versicherten unter allen Umständen vor finanziellen Verlusten zu schützen, was doch ausdrücklich als Zweck dieser Vor­ schriften angegeben wird. In allen denjenigen Fällen nämlich, in denen die Anwartschaft auf Ruhegeld und Hinterbliebenenrente dem Versicherten weniger wert ist, als der mit ihr rechnerisch gleichgesetzte Teil der Anwartschaft aus dem Lebensversicherungsvertrage, erleidet der Versicherte offenbar einen finanziellen Verlust. Nehmen wir etwa das Beispiel eines Junggesellen, der für keine Angehörigen zu sorgen und deshalb nur eine Altersrentenversicherung oder eine Kapitalversicherung abgeschloffen hat, so ist eS klar, daß für ihn die Anwartschaft aus seinem Lebensversicherungsvertrage erheblich wert­ voller ist, als die ihr rechnerisch gleichzusetzende Anwartschaft auf Ruhegeld und Hinterbliebenenrente. Wenn man also diejenigen Angestellten, für deren Lebens­ versicherung der Arbeitgeber einen Zuschuß leistet, wirklich vor Schaden bewahren will, so muß man in das Gesetz eine Vorschrift aufnehmen, nach der auch die Arbeitgeber von der gesetzlichen Bei­ tragspflicht befreit sind, wenn sie zu den Lebensversicherungen ihrer Angestellten Zuschüffe mindestens in Höhe der gesetzlichen Beiträge leisten. Meine Herren! Die ihrem Umfange nach geringen Vorschriften des neunten Abschnitts des Gesetzentwurfs sind durch ihren Inhalt außerordentlich bedeutungsvoll, weil sie, wenn ich von den landes­ rechtlichen Knappschaft-vereinen absehe, da- Verhältnis der Angestelltenversicherung zu den Fürsorgeeinrichtungen betreffen, die durch die Selbsthilfe und die Opferwilligkeit von Unternehmern und Angestellten geschaffen worden sind und deren möglichst ungeschmä­ lerte Erhaltung gerade im Jntereffe der Angestellten dringend zu wünschen ist. Diesem Zwecke sollen die Forderungen dienen, die ich eben aufgestellt hacke und die in dem Ihnen vorgelegten Beschluß­ antrag enthalten sind. Ich kann deshalb Ihnen diesen Beschluß­ antrag nur zur Annahme empfehlen. (Beifall.) Borsitzeuder: Auch Herrn Justizrat W a n d el möchte ich namens der Versammlung verbindlichsten Dank für seinen Borträg aus­ sprechen.

Ich bitte nun, daß, bevor wir in die Diskussion über die drei Vorträge eintreten, der Beschlußantrag, der Ihnen unterbreitet wird, zunächst einmal verlesen wird.

Herr von Lynder, bitte, wollen Sie den Antrag verlesen. RegierungSaffeffor Dr. Freiherr vou Ltzucker-Berlin (liest):

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„Zkschli»t