Vergleichen in der Konkurrenz: Transnationale Vergleichspraktiken der deutschen und der US-amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie (1870–1940) [1 ed.] 9783666302268, 9783525302262


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Vergleichen in der Konkurrenz: Transnationale Vergleichspraktiken der deutschen und der US-amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie (1870–1940) [1 ed.]
 9783666302268, 9783525302262

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transnationale geschichte band 15

Torben Möbius

Vergleichen in der Konkurrenz Transnationale Vergleichspraktiken der deutschen und der US-amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie (1870–1940)

Transnationale Geschichte Herausgegeben von Michael Geyer und Matthias Middell Band 15

Torben Möbius

Vergleichen in der Konkurrenz Transnationale Vergleichspraktiken der deutschen und der US-amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie (1870–1940)

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Largest Boiler Head in the World (1920–1922), Lukens Steel Company photographs, 72360_1143, Hagley Museum and Library Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1021 ISBN 978-3-666-30226-8

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Thema und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Forschungsverortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

1.3 Kapitalismus, Vergleichspraktiken und Konkurrenz: Zentrale Begriffe und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.4 Fallbeispiel und Untersuchungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . 22 1.5 Quellenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.6 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2 Vergleichshorizonte entstehen: Internationale Vernetzung zwischen Konkurrenz und Kooperation im 19. Jahrhundert . . . . . . 31 2.1 Von der Industriespionage zur fachoffiziellen Studienreise . . . 32

2.2 Technische Vereine zwischen binnenwirtschaftlicher Kooperation und Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3 Leistungsvergleiche und Leistungswettbewerbe: Produktionsstatistiken und ihr Einfluss auf die Konkurrenz . . . . . . 82

3.1 Raumzeitliche Verknüpfungen: Vom nationalen »Haushaltsbuch« zu internationalen Leistungsvergleichen . . . 85 3.2 Der »Markt« als (inter-)nationaler »Wettlauf um Beteiligungsrekorde« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.3 Statistiken als Steuerungsinstrument in der Konkurrenz . . . . 114 4 Produktqualität als Vergleichshinsicht: Fremd- und Eigenbilder in der Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . 132

4.1 Produkttests und Zoll: Wie das Vergleichen in der Konkurrenz den Wettbewerb eingrenzt . . . . . . . . . . . . 133 4.2 Nationale Trademarks als Differenzkategorien des internationalen Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.3 Marketing und Public Relations: Transnationale Konkurrenzvergleiche zwischen Absatzstrategie und Branchen-Propaganda . . . . . . . . . . . . 179

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Inhalt 

5 Orientieren, Anpassen, Angleichen: Produktionstechnik und -kultur als Vergleichshinsicht . . . . . . . . . 216 5.1 Die US -amerikanische Produktionstechnik und

-kultur als Orientierungs- und Zukunftsfolie für deutsche Eisenhüttenleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 5.2 Selbstbestätigung: Leistungsbewertung im »Spiegel« Amerikas 238 5.3 Vergleichen und Angleichen: Die expansive Dynamik von Vergleichspraktiken im Bereich von Produktionstechnik und -kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6 Vergleichen und Herrschen: Arbeitsbeziehungen zwischen Gegen- und Wunschbild . . . . . . . . . 286

6.1 »Amerika« als sozialpolitisches Gegenbild in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 6.2 Wunsch- und Gegenbilder im Anderen: Die industriellen Beziehungen als Vergleichsgegenstand deutscher Fachleute nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . 301 6.3 Die »Alte Welt« zwischen US -amerikanischem Vor- und Gegenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 7 Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 7.1 Vergleichende Selbst- und Fremdbeobachtung . . . . . . . . . . 351 7.2 Wettbewerb einschränken: Instrumentelles Vergleichen . . . . 355 7.3 Die ausländische Konkurrenz als Projektionsfläche . . . . . . . 357 7.4 Vergleichen zwischen Boom und struktureller Krise . . . . . . . 358 7.5 Limitation der Studie und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Archivbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Zeitgenössische Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Literatur und gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380

Danksagung

Das vorliegende Buch ist die leicht gekürzte und überarbeitete Version meiner Dissertation, die ich im August 2021 an der Abteilung Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld eingereicht habe. Sie entstand im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter des seit 2017 bestehenden »Sonderforschungsbereichs 1288: Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern« an der Universität Bielefeld. Dieses Projekt wäre ohne Thomas Welskopp und seine herausragende Expertise nicht zustande gekommen. Als Projektleiter entwickelte er die Grundlage, als Erstbetreuer begleitete er meine Forschung zunächst mit großem Interesse und Hingabe. Bedingt durch längere Krankheit und seinen viel zu frühen Tod konnte er das Ergebnis nicht mehr lesen. Ich verdanke ihm sehr viel. Ich danke Peter Kramper, der das Projekt schon zuvor inhaltlich begleitet und dann in dieser Situation die Erstbetreuung übernommen und mich unterstützt hat. Mein Dank gilt außerdem Werner Plumpe, der das Zweit­ gutachten anfertigte, wichtige inhaltliche Hinweise gab und mir ermöglichte, in seinem Frankfurter Forschungskolloquium vorzutragen. Ich danke Vito Gironda. Er hat nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Konzeptualisierung der vorliegenden Studie geleistet, sondern mich seit dem Studium beraten und gefördert. Ich danke Antje Flüchter, die mich als Sprecherin der zweiten Förderphase des SFB in schwierigen Zeiten unterstützte. Michael E. Geyer und Matthias Middell danke ich, dass sie mein Buch in ihre Reihe »Transnationale Geschichte« aufgenommen haben. Der Sonderforschungsbereich hat die Druckkosten der vorliegenden Publikation dankenswerterweise bezuschusst. Ferner danke ich den vielen Mitarbeiter:innen in den Archiven und Biblio­ theken, die ich in Deutschland und den USA besucht habe und die mir die Forschungsarbeit erleichterten. Die »Bielefeld Graduate School in History and Sociology« (BGHS) war ein wichtiger wissenschaftlicher und sozialer Zusammenhang meiner Promotionszeit. Ich bedanke mich bei Sabine Schäfer stellvertretend für die Geschäftsstelle. Sebastian Voigt danke ich für die Aufnahme als assoziiertes Mitglied in das Graduiertenkolleg »Soziale Folgen des Wandels der Arbeits-

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Danksagung 

welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« (Bochum, München und Potsdam) und die Möglichkeit in diesem Rahmen meine Ergebnisse diskutieren zu können. Ohne die Unterstützung von Kolleg:innen und Freund:innen wäre dieses Buch ein weniger gutes geworden. Ich danke hierbei insbesondere Malte Lorenzen für die gemeinsame Zeit auf dem A4-Flur; Lisa Baßenhoff, Kerrin Langer, Julia Engelschalt und Christopher Schulte-Schüren für fruchtbare Diskussionen innerhalb unserer Arbeitsgruppe. Teile der Arbeit gelesen und kritisch kommentiert haben Malte Lorenzen, Lisa Baßenhoff, Agnes Piezcak, Klaus Schroeder, Marcus Wortmann, Stefan Laffin, Jana Hoffmann, Lisa Janowski und Marie Lemser. Ihnen allen danke ich auch für ihre Unterstützung über das Fachliche hinaus. Besonderer Dank gilt meiner Partnerin Marie Lemser. Sie hat nicht nur einen maßgeblichen Anteil an der Fertigstellung des Manuskripts. Sie hat als Mitstreiterin dafür gesorgt, dass mir die Promotion als eine heitere und schöne Zeit in Erinnerung bleiben wird, die durch die Geburt unserer Tochter Rosa gekrönt wurde. In der Zeit zwischen Einreichung und Verteidigung meiner Arbeit ist meine Mutter Theda Möbius nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Zusammen mit meinem Vater Frank Möbius hat sie mich trotz aller Sorgen, ob aus dem Jungen noch was werden kann, stets unterstützt und Anteil genommen an meinem Werdegang. Ihr ist diese Arbeit gewidmet. Bielefeld im April 2023

1 Einleitung

1.1

Thema und Fragestellung

Im 19. Jahrhundert setzte sich die Idee der freien Konkurrenz als ökonomisches Ordnungsprinzip und Handlungsmodus durch. Aus dieser »institutionellen Revolution« entstand eine Wettbewerbs- und Wachstumswirtschaft.1 Diese Entwicklung blieb nicht auf die Nationalstaaten beschränkt: Das kapitalistische Gewinnstreben und die Idee der freien Konkurrenz kulminierten im Laufe des Jahrhunderts in der ersten Globalisierung.2 Die Medien- und Transportrevolutionen jener Zeit förderten zusammen mit internationalen Patent- und Lizenzabkommen sowie einer zunehmenden Standardisierung weltweite Handelsbeziehungen. Techniker, Ingenieure und Unternehmer vernetzten sich international, tauschten sich über technologische und ökonomische Probleme aus und beobachteten ihr Tun über Ländergrenzen hinweg. Weltausstellungen, offizielle Studienreisen und internationale Expertennetzwerke markierten diese offenen Beobachtungshorizonte. Der friedliche Wettstreit der Nationen sollte dabei den zivilisatorischen Fortschritt zum Wohle aller fördern.3 Der internationale Wettbewerb und die grenzüberschreitenden Wissenskulturen standen jedoch einer nationalen Wirtschafts- und Industriepolitik gegenüber – der Nationalstaat blieb trotz aller weltwirtschaftlichen Verknüpfungen die zentrale ökonomische Ordnungsinstanz.4 Unternehmen und ihre Mitte des 19. Jahrhunderts gegründeten Interessenorganisationen richteten ihr ökonomisches Handeln stets am jeweiligen Staat und seinen ökonomischen Regelungskompetenzen aus. Dies zeigte sich spätestens in konjunkturellen Abschwungphasen und Wirtschaftskrisen oder in einer verstärkt auftretenden ausländischen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt. Dann wurden die Rufe nach staatlichem Schutz für die eigene Wirtschaft, insbesondere in Gestalt von Importzöllen, besonders laut. Das 19. und frühe 20. Jahrhundert stand insofern gleichzeitig im Zeichen der Globalisierung und des Protek1 2 3 4

Wischermann, Die institutionelle Revolution; Nieberding. Marx u. Engels, S. 465 f. Rosenberg, Geschichte der Welt; Rodgers; Mokyr. Stichweh, S. 51 f.

10

Einleitung

tionismus. Die »Zollfrage« war dabei nicht nur zwischen »protektionistisch« und »freihändlerisch« orientierten Staaten handelspolitisch umkämpft. Sie war auch von widerstreitenden ökonomischen Interessen innerhalb der Nationalstaaten beeinflusst und prägte innenpolitische Debatten.5 Diese Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Nationalisierung lässt sich besonders eindrücklich an der Geschichte industrieller Branchen ablesen. Die technologisch anspruchsvolle, kapitalintensive und daher äußerst konjunkturanfällige Eisen- und Stahlindustrie war in besonderer Weise von dieser Dialektik aus weltwirtschaftlicher Integration und Nationalisierung geprägt.6 Noch im frühen 19. Jahrhundert gab es keinen offenen internationalen Austausch über Fragen der Hüttentechnik. Im Gegenteil: Unternehmer und Techniker mussten konspirativ vorgehen, wollten sie sich mit Industrien anderer Länder genauer beschäftigen. Sie versuchten, technologisch fortschrittlichere Werke auszuspionieren oder dort Facharbeiter abzuwerben, um so an das überlegene Produktionswissen zu gelangen. Dagegen schirmten die Unternehmen ihre Produktionsstätten stets vor auswärtigen Besuchern ab. Es galt, das Innere der Werke wie ein Geheimnis zu hüten, um so Wettbewerbsvorteile verteidigen zu können. Dies änderte sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als Unternehmer und Hütteningenieure offizielle internationale Kontakte knüpften, da sie an einen gemeinsamen technologischen Fortschritt unter den Bedingungen der freien Konkurrenz glaubten. So besuchte der deutsche Professor für Eisenhüttenkunde Hermann Wedding (1834–1908) im Jahr 1876 die Weltausstellung in Philadelphia. Dort widmete er sich zunächst den industriellen Werk- und Schaustücken der Ausstellung der US -amerikanischen Hüttenindustrie, um anschließend die dortigen schwerindustriellen Distrikte zu bereisen. Seine US -amerikanischen Fachgenossen empfingen ihn freundlich, halfen ihm, seine Reise­route zu planen, und händigten ihm Karten, Pläne und Schriften über die US -Industrie aus. Die Werksbesitzer wiederum gestatteten ihm bei seinen Besuchen Zutritt in ihre Produktionsbetriebe und gaben ihm relativ bereitwillig Auskunft zu seinen fachlichen Fragen. Die Reise dauerte

5 Palen; Torp, Co.; Conrad; Etges; Reitano. 6 Die Begriffe »Eisen- und Stahlindustrie« bzw. synonym »Hüttenindustrie« markieren im Folgenden den schwerindustriellen Wirtschaftszweig der großbetrieblichen Produktion von Roheisen- und Stahl(vor)produkten in Hochofen-, Gießerei-, Stahl-, Hammerund Walzwerken. Dabei sind die Grenzen zur weiterverarbeitenden Industrie fließend.

Thema und Fragestellung

drei Monate und mündete in einem ausführlichen fachöffentlich publizierten Bericht.7 Gleichzeitig sahen sich die nationalen Industrien trotz dieses internatio­ nalen Austauschs immer wieder von der ausländischen Konkurrenz bedroht, wenn diese ihre Produkte zu günstigeren Preisen oder besserer Qualität anbieten konnte. Branchenvertreter betonten dann öffentlich, dass der Wettbewerb in diesem Fall mit »ungleichen Waffen« geführt werde, weil die Konkurrenz etwa über bessere Rohstoffe verfüge und günstigeren Transportkosten unterliege. Daraus leiteten sie die Forderung ab, der Staat müsse in dieser Situation mit Hilfe eines auf die Konkurrenzprodukte erhobenen Zolls einen »fairen« Wettbewerb gewährleisten.8 Betrachtet man genauer, wie Branchenvertreter seit jener Zeit »ihre« Industrie mit der in anderen Ländern in Beziehung setzten, so wird deutlich, dass sie die eigene Industrie hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte mit der in anderen Ländern verglichen. Das Vergleichen über Ländergrenzen hinweg war dabei ein Signum der Zeit. Friedrich Nietzsche rief im Jahr 1878 das »Zeitalter der Vergleichung« aus. Dessen Kennzeichen sei ein »Durcheinanderfluthen der Menschen«, das ermögliche, dass »die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und nebeneinander durchlebt werden können«.9 Vergleichen war allerdings keineswegs eine wertneutrale Operation. Das zeigen nicht nur die Forderungen nach Schutzzöllen denen häufig ein instrumenteller Vergleich der eigenen Industrie mit der ausländischen Konkurrenz zu Grunde lag. Neben solchen lobbyistisch ausgerichteten Vergleichen war die Beschäftigung von Experten mit den Industrien in anderen Ländern grundsätzlich komparativ ausgerichtet. Charles Kirchhoff (1853–1916), US -amerikanischer Hütteningenieur und Herausgeber der Fachzeitschrift Iron Age, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der eigene Referenzrahmen bei der Analyse der Hüttenindustrien anderer Länder stets präsent sei: »Naturally one is in the attitude of comparing constantly with resources and methods at home, with the inevitable tendency 7 Wedding, S. 328. 8 Wachler, S. 31. 9 Nietzsche, S. 25 f., Zitat: S. 25. Hervorhebungen im Original. Die Klassiker der Theorie der Moderne benannten das Vergleichen ebenfalls als Entwicklungsfaktor moderner Gesellschaften. So betrachtete Michel Foucault die Frühmoderne als Übergang vom Denken in Analogien zur Klassifizierung von Differenz und Identität. Für Luhmann zeichnete sich die Moderne durch das »plötzliche Auftreten eines intensiven und extensiven Vergleichsinteresses« aus: Luhmann, Kultur als historischer Begriff, S. 38.

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12

Einleitung

to view with suspicion as to its merit anything which diverges from known standards and practice.«10 Die Experten analysierten und bewerteten andere Industrien aber nicht nur, indem sie diese hinsichtlich technologischer und ökonomischer Parameter mit der eigenen verglichen – unweigerlich maßen und hierarchisierten die Fachleute die verglichenen Industrien dabei auch. Welchen Zweck verfolgte dieses Vergleichen, was folgte daraus, und welche Bedeutung kam diesen Vergleichspraktiken für das Verhältnis der verglichenen Industrien zu? Die vorliegende Studie knüpft an diesen historischen Zusammenhang einer transnational vergleichenden Selbst- und Fremdbeobachtung an, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Eisen- und Stahlindustrien der führenden Industrienationen und ihr Verhältnis zueinander prägte. Sie geht der Frage nach, welche Rolle transnationale Vergleichspraktiken für die Selbst- und Fremdbeobachtung der deutschen und der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie im strategischen Horizont des internationalen Wettbewerbs spielten und inwiefern das Vergleichen den Wettbewerb beeinflusste. Die Untersuchung erstreckt sich über den Zeitraum zwischen den 1870er und den 1930er Jahren. Dabei untersucht die vorliegende Studie das Vergleichen als voraussetzungsvolle und wirkmächtige soziale Praxis interessegeleiteter Akteure, die dazu dient, die soziale Welt zu ordnen, (um-)zu deuten und zu verändern.11

1.2 Forschungsverortung Die Forschung zur Geschichte der Eisen- und Stahlindustrie hat diese transnationalen Vergleichspraktiken, ihre Rolle und Funktionen bisher noch nicht gesondert untersucht. An dieses Desiderat knüpft die vorliegende Studie an und nähert sich der Forschungsfrage aus drei Perspektiven: Erstens sieht sie sich als Beitrag zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte der Eisenund Stahlindustrie. Lässt man die in diesem Bereich vorliegenden Forschun10 Kirchhoff, Glimpses of the British Iron Industry I., S. 2. 11 Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern« (Teilprojekt A02 »Vergleichen in der Konkurrenz: Die englische, deutsche, amerikanische und französische Eisen- und Stahlindustrie 1870–1990«). Vgl. grundlegend zu dieser Perspektive auf Vergleichspraktiken: Epple u. Erhart, Die Welt beobachten.

Forschungsverortung

gen Revue passieren, zeigt sich, dass die Eisen- und Stahlindustrie vor allem Gegenstand sozial- und wirtschaftshistorischer12, verbands- und interessenpolitischer13 sowie technik-14 und managementgeschichtlicher15 Forschungen ist. Das Vorhaben knüpft an diesen Forschungsstand an und zielt dabei insbesondere auf eine transnationale Verflechtungsgeschichte dieser Schlüsselindustrie der zweiten Industrialisierung. Die internationale Verflechtung in den Bereichen Wirtschaft und Gesellschaft wird in der Forschung bisher überwiegend entlang entpersonalisierter Prozessbegriffe wie in erster Linie »Globalisierung« sowie entlang von Kategorien wie »Transfer« oder »Netzwerk« beschrieben.16 Neuere Studien zur transnationalen Vernetzung wiederum betrachten die Volkswirtschaften der untersuchten Länder oder blenden die Wirtschaft aus, während die Eisen- und Stahlindustrie hierbei in jedem Fall keine Rolle spielt.17 Der internationalen Vernetzung der Hüttenindustrien der wichtigsten industriekapitalistischen Länder widmeten sich bisher in erster Linie technik- und verbandsgeschichtliche Studien, die die technischen Vereine und die (trans-)nationale technologische Kooperation bei der Entwicklung und Optimierung von Herstellungsverfahren thematisieren.18 Die vorliegende Untersuchung bezieht das Handeln der Branchenakteure zentral in die Analyse ein und versteht Vergleichspraktiken als wichtige soziale Triebfeder von Verflechtungs- und Nationalisierungsprozessen. Damit liegt der Studie die Perspektive einer Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte zu Grunde, die kulturgeschichtliche Fragen integriert und nicht länger von einer von Sinndeutungsmustern entkernten ökonomischen Rationalität ausgeht.19 So integrieren Unternehmen und Branchenverbünde nicht nur kulturelle Deutungsmuster in ihr ökonomisches Handeln. Der Blick auf transnationale Vergleichspraktiken in der Eisen- und Stahlindustrie zeigt vielmehr, dass kulturelle Deutungsmuster zentraler Bestandteil von Wett­ 12 Vgl. weiterhin grundlegend die wirtschaftshistorische Darstellung von Feldenkirchen und Kerkhof sowie die vergleichenden sozialhistorischen Studien von Steinisch und Welskopp, Arbeit und Macht. 13 Weisbrod; Tedesco; Maier, Rasch u. Zilt. 14 Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt; Steinisch u. Tenfelde, S. 51–74; Misa; Knowles. 15 Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie; Warren, Big Steel; Reckendrees, Das »Stahltrust«-Projekt; Rees; Fear. 16 Vgl. die globalhistorischen Beiträge in Conrad u. Eckert; Rosenberg, Geschichte der Welt. 17 Berghahn, American Big Business; Jäger. 18 Maier, Rasch u. Zilt; Rasch u. Maas. 19 Berghoff u. Vogel; Welskopp, Unternehmen Praxisgeschichte.

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Einleitung

bewerbsstrategien waren, die die »Nation« als Konstrukt ökonomisch nutzbar machen wollten.20 Bisher sind aus dieser Perspektive auf ökonomische Organisationen als »Werte- und Sinndeutungsgemeinschaften« vor allem einzelne Unternehmen untersucht worden.21 Für die Eisen- und Stahlindustrie ist hierbei besonders Barbara Wolbrings Studie über Krupps Selbstdarstellung, öffentliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Kommunikation dieses Unternehmens im 19. Jahrhundert hervorzuheben. Krupp habe es demnach geschafft, sich durch gezielte und geschickte Öffentlichkeitsarbeit als nationale Instanz zu inszenieren und so das Wohlwollen des Staates zu erlangen. Nicht zuletzt inszenierte Wettbewerbe auf Weltausstellungen dienten dazu, das Streben nach staatlicher Vorzugsbehandlung zu legitimieren.22 Die vorliegende Arbeit schließt an diese Perspektive an, geht dabei jedoch über die Analyse eines einzelnen Unternehmens hinaus und fokussiert stattdessen nationale Branchenverbünde der Eisen- und Stahlindustrie und ihre wechselseitigen Vergleichspraktiken in der Expertenöffentlichkeit  – die schon aufgrund der hohen volkswirtschaftlichen Bedeutung der Branche über bedeutsame Schnittstellen zur allgemeinen Öffentlichkeit verfügte. Damit werden im Folgenden Vergleichspraktiken untersucht, die Fachleute in der Expertenöffentlichkeit der Eisen- und Stahlindustrie durchführten und die sowohl an die eigene Branche (samt der betrieblichen Belegschaften) als auch an den jeweiligen Staat sowie die allgemeine Öffentlichkeit adressiert waren, um den Wettbewerb zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen. Zweitens ist die vorliegende Arbeit als Beitrag zur Geschichte des Vergleichens allgemein zu verstehen. Es liegen bereits mehrere wirtschafts- und unternehmenshistorische Studien vor, die sich den Wahrnehmungs- und Deutungsweisen von Management- und Produktionsmethoden anderer Länder durch deutsche Unternehmer widmen.23 Insbesondere Forschungen zur

20 Vgl. hierzu für die Thyssen-Bornemisza-Gruppe als transnationale »business group« jüngst: Gehlen. 21 Berghoff, Nutzen und Grenzen, S. 181; Wischermann, Unternehmensgeschichte als Kulturgeschichte, S. 13. 22 Wolbring. 23 Vgl. für die Zwischenkriegszeit die Studie von Nolan. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg siehe Kleinschmidt, Der produktive Blick, worin dieser die Rolle transnationaler Wissensbestände für die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen und Staaten betont, mit Blick auf die Leitbildfunktion US-amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden.

Forschungsverortung

sogenannten Amerikanisierung haben Verflechtungsprozesse herausgearbeitet und bieten wichtige Anknüpfungspunkte für die folgende Analyse.24 Auch für die Eisen- und Stahlindustrie sind solche transnationalen Deutungsweisen untersucht worden. Hier hat die Forschung insbesondere die Leitbildfunktion Amerikas in der Zwischenkriegszeit herausgearbeitet.25 Damit überwiegen Studien, die die Zwischenkriegszeit sowie die Zeit nach 1945 behandeln. Außerdem fällt auf, dass die europäische bzw. deutsche Perspektive dabei deutlich überwiegt.26 An diesen Forschungstand knüpft die vorliegende Studie an, legt jedoch einen längeren, in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückreichenden Untersuchungszeitraum zu Grunde und schließt dabei auch die Perspektive auf die US -amerikanische Industrie mit ein. Die vorliegende Arbeit hebt sich darüber hinaus durch den Fokus auf das Vergleichen von den genannten Forschungen zu transnationalen Wahrnehmungs- und Deutungsweisen ab. Sie widmet sich mit dem Vergleichen einem spezifischen Modus der Beobachtung, der in jüngster Zeit in der historischen Forschung immer mehr Beachtung findet. Ausgehend von der zeitdiagnostischen Beobachtung eines von Ratings, Rankings und Wettbewerben geprägten modernen Alltags ist das Vergleichen hierbei als ubiquitäre soziale Praxis zunehmend auch ein Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft geworden. Diese praxeologisch grundierte Forschung betrachtet Vergleichen nicht als invariante Operation, sondern wendet sich der Geschichte und der Kultur dieser sozialen Praxis zu.27 Vergleichen ist aus dieser Perspektive heraus weder objektiv noch neutral, sondern wird vielmehr als sozial und kulturell voraussetzungsvolle, interessengeleitete Tätigkeit betrachtet, die unterschiedliche Phänomene der sozialen Welt bewusst relationiert und

24 Vgl. zum allgemeinen bürgerlichen Amerika-Diskurs Schmidt. Zur »Amerikanisierung« allgemein weiterhin Lüdtke, Marßolek u. Saldern, Amerikanisierung; Becker, Mythos USA. 25 Zur Rolle »Amerikas« als Vor- und Gegenbild aus Sicht deutscher Unternehmer, Manager und Ingenieure der Eisen- und Stahlindustrie zwischen 1900 und den 1930er Jahren: Kleinschmidt, »Amerikanischer Plan«; ders., Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 208–219; Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive. 26 Vgl. für die wechselseitige Wahrnehmung, Deutung und die wechselseitigen internationalen Aushandlungsprozesse im Bereich der Sozialpolitik im transatlantischen Raum im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert: Rodgers. Zur US-amerikanischen kulturellen Abgrenzung von Europa im frühen 20. Jahrhundert siehe Saldern, Amerikanismus. 27 Epple u. Erhart, Die Welt beobachten; Steinmetz, The Force of Comparison; Epple, Erhart u. Grave.

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Einleitung

dadurch historischen Wandel entscheidend antreibt.28 Statt wie in der bisherigen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte die Perspektive allein auf einseitige Wahrnehmungsweisen zu richten, rückt diese Arbeit nun die wechselseitigen Vergleichspraktiken ins Zentrum der Analyse. Dies ermöglicht, Art und Weise sowie Folgen der Selbst- und Fremdbeobachtung als proaktives In-Beziehung-Setzen von industriellen Branchen als Reaktion auf den internationalen Wettbewerbsdruck zu fokussieren. Betrachtet man das Vergleichen als vielgestaltige historische Praxis, so legt dies den Blick auf soziale Konstruktionsweisen frei: Wie, mit Hilfe welcher Mittel, in welchen sozialen Situationen und aus welchen Macht- und Interessenspositionen heraus sammeln Akteure der deutschen und der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie Wissen über die jeweils andere Branche und arrangieren diese zu Vergleichen? Welche intendierten und nicht intendierten sozialen Folgen sind dabei zu beobachten? Insbesondere der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie – das ausgehende 19. und das frühe 20. Jahrhundert – stehen in diesem Zusammenhang für eine Zeit, in der alles mit allem in Beziehung gesetzt werden konnte. Vergleichen und Wettbewerb wurden, das hat Willibald Steinmetz jüngst herausgearbeitet, zu zentralen Handlungsmodi moderner Gesellschaften: Individuen, Institutionen und Nationalstaaten verglichen sich unter den Bedingungen eines offen gedachten Erwartungshorizonts sowohl synchron als auch diachron fortlaufend miteinander. Dies geschah vor dem Hintergrund eines stets mitgedachten Zeitstrahls eines erreichten oder noch zu erreichenden Fortschritts. Dadurch traten die Verglichenen in Wettbewerbe ein, die sich sowohl auf materielle Aspekte wie Produktionszahlen, Wohlstandswachstum oder technische Leistungen als auch auf immaterielle wie politische und moralische Werte beziehen konnten.29 Diese Prozesse sind auch in der Eisen- und Stahlindustrie zu beobachten, und es stellt sich die Frage, inwiefern diese außerökonomischen Vergleichswettbewerbe die transnationale Beobachtung sowie den Wettbewerb selbst beeinflussen. 28 Die sozial- und kulturwissenschaftlichen Klassiker wie Luhmann und Foucault setzten das Vergleichen in ihrer Analyse lediglich voraus. Vgl. dagegen für die Rolle des Vergleichens in der Moderne die theoretischen Beiträge von Bettina Heintz. Exemplarisch: Heintz, »Wir leben im Zeitalter der Vergleichung.«. 29 Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert, S. 45 f. Vgl. zum Vergleichen unter den Bedingungen der Modi von Konflikt und Konkurrenz den theoretischen Abriss von Albert, Engelschalt, Epple, Kauffmann, Langer, Lorenzen, Möbius, Müller, Ringel, Rohé, Rohland, Schulte-Schüren, Weinhauer, Welskopp u. Werron.

Kapitalismus, Vergleichspraktiken und Konkurrenz

Drittens verortet sich die Studie im Kontext der nun seit einigen Jahren anhaltenden Forschungskonjunktur der Geschichte des Kapitalismus.30 Sie versteht sich als empirischer Beitrag zu einem neuen praxeologischen Verständnis des Kapitalismus.31 Im Anschluss an Thomas Welskopp gilt es, »den Kapitalismus aus der Akteursperspektive sichtbar zu machen, ihn als ein Ensemble konkreter Praktiken historisch zu spezifizieren«.32 Kapitalismus und kapitalistische Strukturmuster werden in dieser Sichtweise nicht vom Ergebnis her betrachtet, sondern in ihrer Prozess- und Ereignishaftigkeit historisiert.33 Kapitalismus ist einer solchen sozialtheoretischen Perspektive folgend »nirgendwo anders präsent als in den zum großen Teil institutionalisierten sozialen Praktiken der Akteure.«34 Daran anschließend wird Vergleichen als zentrale kapitalistische Handlung aufgefasst, die den internationalen Wettbewerb der Eisen- und Stahlindustrie begleitet und prägt. Es stellt sich dabei die Frage: Was genau tun Akteure der deutschen und der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie, wenn sie unter Konkurrenzbedingungen ihre nationale Branche mit der jeweils anderen vergleichen?

1.3

Kapitalismus, Vergleichspraktiken und Konkurrenz: Zentrale Begriffe und Hypothesen

Es ist zunächst notwendig, die für diese Untersuchung zentralen Begriffe »Kapitalismus«, »Vergleichspraktiken« und »Konkurrenz« für die Zwecke dieser Arbeit zu definieren und aufzuzeigen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Auf diese Weise soll auf konkurrenzförmiges und transnationales Vergleichen als wichtiges Praxisfeld der Konkurrenz in der Eisen- und Stahlindustrie abgestellt werden. Im Anschluss an praxistheoretisch informierte und praxeologisch ausgerichtete soziologische Ansätze zur Analyse des Kapitalismus soll die Pers30 Vgl. die Forschungsberichte von Priemel; Lenger, Die neue Kapitalismusgeschichte; Voigt sowie den Überblick aus theoriegeschichtlicher Perspektive: Kocka. Schließlich zur historischen Genese des Kapitalismus: Plumpe, W., Das kalte Herz. 31 Vgl. zu diesem Vorhaben die Beiträge von Welskopp, Unternehmen Praxisgeschichte sowie die Beiträge im Themenheft »Praktiken des Kapitalismus« in: Mittelweg 36 26/1 (2017). 32 Welskopp, Zukunft bewirtschaften, S. 86. 33 Vgl. allgemein zu dieser praxistheoretischen Perspektive: Füssel, S. 282; zum »doing capitalism« einleitend: Brandes u. Zierenberg, S. 19. 34 Welskopp, Einleitung und begriffliche Klärungen, S. 3.

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Einleitung

pektive der vorliegenden Arbeit auf das ökonomische Handeln der Akteure gerichtet werden.35 Eine solche Neukonzeptualisierung des Kapitalismus hat auch in der Geschichtswissenschaft Anklang gefunden, wo nun das Akteurshandeln und seine sozialen, institutionellen und kulturellen Bedingungen im historischen Zeitverlauf untersucht werden. Kapitalismus ist einem solchen praxeologischen Verständnis zufolge nicht als »System« oder »Ordnung« zu verstehen, sondern als »Art und Weise« ökonomischen Handelns.36 Das Vergleichen wird dabei als Handlung unter Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz betrachtet. Grundsätzlich ist die »Architektur sinnvoller Vergleiche«, wie sie Hartmut von Sass dargelegt hat, in den Geistes- und Sozialwissenschaften unumstritten: Mindestens zwei Gegenstände  – die comparata – werden miteinander verglichen, so lautet die Grunddefinition. Entscheidend, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der comparata feststellen zu können, ist die Beantwortung der Frage, woraufhin diese überhaupt verglichen werden sollen. Insofern ist eine mehr oder weniger explizit verwendete Vergleichshinsicht – das tertium comparationis – der entscheidende Bestandteil von Vergleichen. Dabei sind auch Vergleiche unter mehreren Hinsichten möglich – in jedem Fall jedoch sind die Kontexte der tertia und der comparata jeweils zu beachten, um entscheiden zu können, inwiefern Vergleiche sinnvoll sind – denn potenziell lässt sich alles mit allem vergleichen.37 Vergleichen wird daran anknüpfend als vielgestaltiges, sozial eingebettetes Akteurshandeln verstanden, als die eigentliche Tätigkeit des Beobachtens, Sammelns, Sortierens, Ordnens, Aneignens, Benennens und Urteilens.38 Keineswegs ist Vergleichen – was ihm als wissenschaftliche Methode zuweilen anhaftet – als neutrale und wertfreie Tätigkeit zu verstehen, sondern es ist laut Angelika Epple und Walter Erhart stets »eingebettet in soziale Praktiken«39. Die Wahl der Vergleichshinsicht – des tertium comparationis – ist somit interessengeleitet, situationsabhängig, konstruiert, mitunter manipuliert und somit in jedem Fall fraglich und umstritten.40 Die Welt zu beobachten bedeutet bereits, sie vergleichbar zu machen, sie den eigenen Maßstäben anzugleichen.41 35 36 37 38 39 40 41

Beckert, Capitalism as a System of Expectations; Streeck. Welskopp, Zukunft bewirtschaften, S. 87. Sass, S. 26–28; Epple u. Erhart, Die Welt beobachten, S. 17 f. Ebd., S. 10. Ebd., S. 8. Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 8.

Kapitalismus, Vergleichspraktiken und Konkurrenz

Im Zusammenhang der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist Vergleichen in erster Linie ein Instrument, um der unkalkulierbaren ökonomischen Zukunft zu begegnen. An dieser muss sich das Handeln aufgrund der zentralen Strukturmerkmale des Kapitalismus stets ausrichten.42 Jürgen Kocka betont in seiner Arbeitsdefinition hierfür insbesondere drei zentrale Merkmale des Kapitalismus: – Dieser beruhe erstens auf individuellen Eigentumsrechten und dezentralen Entscheidungen, die zu Gewinnen oder Verlusten der ökonomisch handelnden Akteure führen. – Zweitens betont Kocka, dass im Kapitalismus eine Koordinierung über Märkte stattfinde: Preise, Wettbewerb, Zusammenarbeit, Angebot und Nachfrage, Kauf und Verkauf – all dies unterliege dem Allokationsmechanismus kapitalistischer Märkte. – Schließlich sei drittens Kapital grundlegend – als (Re-)Investitionen von Ersparnissen und Erträgen, die – in der Gegenwart eingesetzt – in der Zukunft Profite generieren sollen.43 Bezogen auf das Vorhaben der vorliegenden Studie lassen sich hieraus drei Merkmale ableiten, die den Handlungsrahmen der im Mittelpunkt stehenden Akteure der Eisen- und Stahlindustrie bestimmen: erstens das Fehlen eines steuernden Zentrums, zweitens die Konkurrenz sowie drittens das an der Zukunft ausgerichtete Handeln. Daran anknüpfend lässt sich für den Kontext dieser Arbeit die Hypothese formulieren, dass unter den Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise Akteure ihr Handeln an einer schwer kalkulierbaren Zukunft ausrichten müssen. Damit konfrontiert sind Unternehmen bzw. Branchen auf das Vergleichen ihrer Industrie mit der in anderen Ländern angewiesen, um Erwartungsunsicherheiten managen und ihr Handeln orientieren und legitimieren zu können. Ein basaler Zweck in diesem Zusammenhang besteht darin, das eigene Tun durch Vergleichen besser verstehen und bewerten zu können. Es galt, so brachte es der deutsche Ingenieur Friedrich Glaser (1843–1910) im Jahr 1892 auf den Punkt, Studienreisen in die USA zu nutzen, um »der heimischen Technik und Industrie in dem Bilde des wirtschaftlichen Gegners einen 42 Diesen Punkt betonen insbesondere Beckert, Imaginierte Zukunft; Welskopp, Zukunft bewirtschaften. 43 Vgl. für das Folgende: Kocka, S. 9–20. Kockas Arbeitsdefinition beruht auf der Durchsicht der klassischen Begriffsbestimmungen von Marx, Weber, Sombart und Schumpeter.

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Spiegel des eigenen Bildes zu bieten.«44 Der Konkurrenzvergleich diente also dazu, sich selbst zu betrachten, das eigene technische und ökonomische Handeln zu justieren, die eigenen Leistungen und Errungenschaften zu bewerten und sich anhand der Abgrenzung seiner selbst zu vergewissern. Mittels Vergleichen konnte man, so eine daran anschließende Hypothese, andere Industrien als Vorbilder konstruieren, um die eigenen Anstrengungen zu mobilisieren und durch das Orientieren am Vorbild die eigene Wettbewerbsposition zu verbessern. Das Konstruieren von Gegenbildern wiederum diente dem Zweck, das eigene Tun zu legitimieren. Vergleichen war seit dem 19. Jahrhundert eng verbunden mit dem Handlungsmodus des Wettbewerbs. Dies zeigt sich nicht nur, weil es sich im vorliegenden Zusammenhang um den Vergleich miteinander konkurrierender Industrien handeln mochte, sondern weil das Vergleichen selbst den Wettbewerb beeinflusste. Die miteinander verglichenen Industrien traten in Vergleichswettbewerbe ein, die sich vor allem auf Produktionszahlen, technische Leistungen sowie kulturelle Aspekte des Produzierens bezogen.45 In der Eisen- und Stahlindustrie befeuerten diese Vergleichswettbewerbe mitunter den Wettbewerb, so eine weitere Hypothese. Die verbreiteten Nationenrankings ließen etwa die nationalen Industrien in einen Wettbewerb um die höchsten Produktionszahlen treten. Dieser »außerökonomische« Wettbewerb wirkte sich unmittelbar auf die internationale Konkurrenz aus und verstärkte die Tendenz zur Überproduktion. Gleichzeitig konnte das Vergleichen, in instrumenteller Weise eingesetzt, ein Mittel sein, um den Wettbewerb einzugrenzen. Dies zeigt sich bei den Forderungen nach einem Zollschutz gegenüber der ausländischen Konkurrenz, denen in der Regel ein Vergleich der eigenen Industrie mit der vorgeblich oder tatsächlich zu ungleich besseren Bedingungen arbeitenden ausländischen Konkurrenz vorausging. Der Staat sollte in diesem Fall den Schutz der »eigenen« Wirtschaft gegenüber der ausländischen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt garantieren. Ermöglicht wurde dieser protektionistische Lobbyismus durch die erwähnte spezifische Struktur der globalisierten Wirtschaft. Zwar kennt die kapitalistische Wirtschaftsweise kein steuerndes Zentrum; der internationale Wettbewerb und die grenzüberschreitenden Wissenskulturen der Eisen- und Stahlindustrie standen jedoch einer nationalen Wirtschafts- und Industriepolitik spannungsgeladen gegenüber. 44 Glaser, S. 2. 45 Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert, S. 45 f.

Kapitalismus, Vergleichspraktiken und Konkurrenz

Die technologisch anspruchsvolle, kapitalintensive und daher konjunkturanfällige Eisen- und Stahlindustrie war in besonderer Weise von dieser Spannung aus weltwirtschaftlicher Integration und Nationalisierung beeinflusst. Für Zeiten hoher Nachfrage müssen die Unternehmen der Branche ausreichende Kapazitäten bereithalten, während es immer wieder Phasen schwacher Auslastung zu überstehen gilt. Die enorm kapitalintensiven Produktionsanlagen müssen allerdings möglichst stetig ausgelastet sein, um das Anlagekapital amortisieren zu können. Damit ist die Industrie äußerst preissensibel und überaus anfällig für konjunkturelle Schwankungen. Zyklische Überproduktionskrisen, die hier immer wieder »dramatische Formen« annehmen konnten, prägen die Industrie bis heute.46 In dieser Situation, so eine weitere Hypothese der Arbeit, versuchten die Branchenvertreter, die Spannung aus internationalem Wettbewerb und nationalstaatlicher Ordnung für die eigenen wirtschaftspolitischen Ziele fruchtbar zu machen. Diese Konstellation konkurrenzförmiger Vergleichspraktiken im Spannungsfeld von Weltwirtschaft und Nationalisierungstendenzen kann mit der »Soziologie der Konkurrenz« Georg Simmels genauer bestimmt werden. Unter Konkurrenz versteht Simmel eine triadische Konstellation: Mindestens zwei Konkurrenten wirken innerhalb dieser Form des sozialen Kampfes nicht unmittelbar aufeinander ein (wie etwa beim Konflikt), sondern werben indirekt um die knappe Gunst eines »Dritten«.47 Konkurrenz wird damit als Instanz der Vergesellschaftung betrachtet. Sie stellt soziale Beziehungen her, die auf einen Interessenausgleich abzielen – sowohl zwischen Konkurrenten und Dritten als auch zwischen den beteiligten Konkurrenten, die laut Simmel »durch das wechselwirkende Bewußstein« verbunden sind.48 Der Fokus dieser Arbeit liegt damit auf diesem »wechselwirkenden Bewußtsein« der Konkurrenten voneinander. Die umworbenen »Dritten« der Konkurrenz sind im ökonomischen Kontext vor allem potenzielle Kunden bzw. »der Markt«. Jüngere marktsoziologische Forschungen haben im Anschluss an Simmel darauf hingewiesen, dass es darüber hinaus auch »vierte« Instanzen gebe, die den Wettbewerb zu steuern versuchen.49 Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist diese vierte Instanz der jeweilige Nationalstaat und die damit verbundene allgemeine politische Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich eine weitere Hypothese: Die nationalen Branchen der deutschen und der US -amerikani46 47 48 49

Wengenroth, Krisen in der deutschen Stahlindustrie, S. 50 f. Zitat: S. 50. Simmel, passim. Ebd., S. 224. Arora-Jonsson, Brunsson u. Hasse, S. 3.

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schen Eisen- und Stahlindustrie adressieren die Ergebnisse ihrer Konkurrenzvergleiche – meist über die zu ungleich besseren Bedingungen arbeitende ausländische Konkurrenz – an ihren jeweiligen Staat, um etwa wirtschaftspolitische Maßnahmen fordern zu können.50 Insofern ist das Vergleichen innerhalb der Konkurrenz ein wichtiges Instrument eines methodologischen Nationalismus, das auf eine wirtschaftsnationalistische Mobilisierung von Staat und Öffentlichkeit ausgerichtet ist und den Wettbewerb in den nationalstaatlichen Grenzen zu Gunsten »heimischer« Produzenten beeinflussen soll. Weit entfernt vom neoklassischen Verständnis eines Marktes, das durch die Annahme eines harmonischen Verhältnisses von Angebot und Nachfrage geprägt ist, fungiert der internationale Wettbewerb bzw. »der Markt« in der Geschichte der modernen Wirtschaft immer wieder auch als »ideologische Größe«, die von Unternehmen für ihre Kapitalinteressen instrumentell in Stellung gebracht werden kann.51 Dabei ist zu beachten: Vergleichspraktiken variieren im Zusammenhang der Eisen- und Stahlindustrie zwischen einer nach außen – auf eine politisch interessierte Öffentlichkeit – gerichteten und einer nach innen – auf die eigene Branchenöffentlichkeit unter Branchengenossen – orientierten Wirkung – sie sind dabei jedoch unvermeidlich selektiv und propagandistisch.

1.4

Fallbeispiel und Untersuchungszeitraum

Das Konstrukt »Eisen- und Stahlindustrie« umreißt keine konkrete regionale Gruppe von Unternehmen in den beiden untersuchten Ländern. Da in Deutschland die rheinisch-westfälische sowie in den USA die Hüttenindustrie im Raum Pittsburgh eine dominierende Stellung einnahmen, spielen diese regionalen Gruppen in der Darstellung unweigerlich eine herausgehobene Rolle. Es werden in der folgenden historischen Branchenstudie sowohl einzelne Akteure52 (Industrielle, Unternehmer, Manager, Ingenieure und Lobbyisten) als auch deren Netzwerke und Organisationen (technische Vereine und 50 Für Werron, Zur sozialen Konstruktion sozialer Konkurrenzen, S. 258 nimmt das so adressierte »Publikum« der Konkurrenzpraktiken »die Rolle eines Taktgebers der Konkurrenz« ein. Hervorhebung im Original. 51 Welskopp, Einleitung und begriffliche Klärungen, S. 13. 52 Im Folgenden wird bewusst die maskuline Form verwendet, solange es sich um Akteure der ausschließlich männlichen Welt der Eisen- und Stahlindustrie handelt. Darüber hinaus verwende ich eine gendergerechte Schreibweise.

Fallbeispiel und Untersuchungszeitraum

Branchenverbände) analysiert: wie vergleichen diese Akteure »ihre« Industrie mit der jeweils anderen? Dabei sind die unterschiedlichen Interessenlagen und Handlungsspielräume der einzelnen Akteursgruppen zu beachten, die den vergleichenden Blick lenken bzw. verstellen können. Insbesondere ist davon auszugehen, dass Verbandspolitiker und Lobbyisten in ihrem Tun von den Logiken der Selbstlegitimation und der Selbsterhaltung ihrer Organisationen beeinflusst sind – was durchaus im Gegensatz zu unternehmerischen Interessenlagen stehen kann.53 Allerdings stehen die vergleichenden Äußerungen in einem branchenspezifischen Handlungszusammenhang, der die Interessen wiederum verbindet: Dreh- und Angelpunkt der Analyse ist dabei die internationale Expertenöffentlichkeit, deren wichtigste Medien Fachzeitschriften, internationale Kongresse und Studienreisen sind. Die Studie nimmt mit der deutschen und der US -amerikanischen Eisenund Stahlindustrie zwei im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts technologisch und wachstumsdynamisch aufstrebende Branchen in den Fokus. An diesem Punkt sahen sich die Branchenvertreter in einer gewissen Äquidistanz zur britischen Eisen- und Stahlindustrie. Dies resultierte nicht nur daraus, dass die beiden im Zentrum der folgenden Untersuchung stehenden Branchen die britische nach und nach bezüglich der Produktionszahlen überflügelten. Vielmehr leiteten die deutschen und die US -amerikanischen Branchenvertreter daraus auch ab, dass sie jeweils eine fortschrittliche Industrie vertraten, während sie die britische Industrie als veraltet betrachteten.54 In wirtschaftspolitischer Hinsicht war Großbritannien sowohl für die deutsche als auch für die US -amerikanische Industrie ein Gegenbild. Sie lehnten das britische Insistieren auf freihändlerische Prinzipien ab und vertraten demgegenüber einen protektionistischen Standpunkt.55 Darüber hinaus standen beide dem britischen Plädoyer für marktwirtschaftliche Prinzipien kritisch gegenüber, und beide Branchen tendierten zu statistischen Leistungswettbewerben

53 Plumpe, W., Betriebsräte in der Weimarer Republik, S. 54 f. 54 Diese Sichtweise stand im Zusammenhang des Strebens nach Weltgeltung durch diese beiden jungen Nationen, die sich seit der Zeit um 1890 in einem »Wettlauf um die Moderne« wähnten. Vgl. Mauch u. Patel. 55 Vgl. die vergleichende Analyse des deutschen und des US-amerikanischen Wirtschaftsnationalismus bei Etges; zum angloamerikanischen Wettstreit über die globale Wirtschaftsordnung im 19. Jahrhundert siehe Palen; vgl. zur protektionistischen Interessenpolitik der American Iron and Steel Association Tedesco. Zur Rolle der Eisen- und Stahlindustrie bei der Zollpolitischen Wende des Kaiserreich im Jahr 1879 vgl. Torp, Co., S. 147–177.

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Das Verhältnis zwischen der deutschen, der US -amerikanischen und der britischen Eisen- und Stahlindustrie lässt sich daher schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts als »Triangel« charakterisieren, wie es Volker R. Berghahn für die Großindustrie der drei Länder im 20. Jahrhundert insgesamt herausgearbeitet hat.56 Dieses Dreiecksverhältnis resultierte im Zusammenhang der Eisen- und Stahlindustrie vor allem aus der wichtigen Rolle des britischen Iron and Steel Institute für die internationale Vernetzung. Die besondere Stellung britischer Hüttenfachleute beruhte darauf, dass sie bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein über ein überlegenes praktisches Wissen über die Hüttenproduktion verfügten und dass die britischen Produzenten frühzeitig an einem offenen Erfahrungsaustausch über alle möglichen – insbesondere die technischen und metallurgischen – Aspekte der Produktion von Eisen und Stahl interessiert waren. Die schon in den 1880er Jahren im Ausland stattfindenden Meetings des britischen Instituts, in dem viele deutsche und US -amerikanische Fachleute Mitglied waren, waren ein wichtiges Forum der internationalen Expertenöffentlichkeit. Insofern spielt die britische Industrie ebenfalls eine wichtige Rolle in der folgenden Darstellung. Zu beachten ist dabei allerdings, dass zwar die wechselseitigen Vergleichspraktiken der deutschen und der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Dabei ist aber die Vergleichsintensität unterschiedlich ausgebildet: Während die Hüttenindustrie der Vereinigten Staaten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und nochmals verstärkt Mitte der 1920er Jahre zum zentralen Bezugspunkt deutscher Branchenakteure wurde, waren ihre US -amerikanischen Branchengenossen weitaus stärker mit sich selbst beschäftigt. Ursächlich dafür war, dass die ­ S -Hüttenindustrie ihre Absatzstrategien überwiegend auf den eigenen, U überaus großen Binnenmarkt ausrichten konnte. Währenddessen war die deutsche Industrie seit der »Großen Depression« im Jahr 1873 zu groß für den eigenen, zunehmend kartellierten Binnenmarkt geworden. Insofern betrachteten sich die US -amerikanischen Fachleute weitaus weniger als Teil des internationalen Wettbewerbs als die deutschen. Diese wiederum maßen sich nur zu gern mit der technologisch fortschrittlichen und wachstumsdynamischen Industrie jenseits des Atlantiks, deren Absatzchancen deutsche Branchenakteure faszinierten und um die sie sie beneideten. Aus Sicht US -amerikanischer Indus­trievertreter nahm England aufgrund der ökonomischen 56 Berghahn, American Big Business spricht hier von einer »history of two ›Special Relationships‹ in the 20th century«.

Fallbeispiel und Untersuchungszeitraum

Verflechtung aus kolonialen Zeiten zudem einen wichtigeren Bezugspunkt ein als die deutsche Industrie. Überdies unterschieden US -amerikanische Branchenvertreter auch in Zeiten zunehmenden internationalen Wettbewerbs weniger zwischen einzelnen nationalen Industrien, sondern sprachen verallgemeinernd von »foreign competition«. Der lange Untersuchungszeitraum ist durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs in zwei ökonomische Phasen aufgeteilt: Während die Zeit zwischen den 1870er Jahren und 1914 als Phase offener Vergleichshorizonte gelten kann  – mit einer stetig wachsenden und besonders seit 1895 boomenden Weltwirtschaft –, markiert der Ausbruch des Kriegs zunächst einen Abbruch der internationalen Vernetzung, um schließlich in die überaus protektionistische Zwischenkriegszeit zu münden, die das Ende der Ersten Globalisierungsphase bedeutete, die auch als »Belle Époque« charakterisiert wird.57 Es folgte eine Phase einer krisen- und konfliktbehafteten Re-Nationalisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist zu beachten, dass Nationalisierung und Globalisierung in beiden genannten Phasen vor und nach dem Weltkrieg in einem spezifischen Spannungsverhältnis zueinander stehen: Eine fortschreitende Globalisierung fördert und verfestigt gleichzeitig Prozesse nationaler Abgrenzung in der Wirtschaft.58 Auf der anderen Seite konnte eine transnational ausgerichtete Unternehmensstrategie insbesondere in wirtschaftsnationalistischen Zeiten erfolgreich sein.59 Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich – wie es im Einzelnen herauszuarbeiten gilt – auch in der Vergleichspraxis der untersuchten Eisen- und Stahlindustrien wider. Für die deutsche Eisen- und Stahlindustrie war der Erste Weltkrieg auch in ökonomischer und sozial- wie machtpolitischer Hinsicht eine bedeutende Zäsur. Zwar war sie seit der »Großen Depression« von 1873 von der internationalen Konkurrenz und vom konjunkturellen Auf und Ab geprägt; insgesamt kann sie jedoch in dieser Phase als boomende Branche gelten, die von staatlich abgesicherten Absatzchancen und Verteilungsmustern profitierte und über ein hohes Maß an unternehmerischer Handlungsautonomie verfügte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs änderte sich diese Stellung, und sie ist fortan als strukturelle Krisenbranche zu charakterisieren. Nachdem sich die Industrie schon im Krieg zu sozialpolitischen Zugeständnissen 57 Hobsbawm, S. 34–55. 58 Conrad. 59 Vgl. Gehlen für die aus dem August-Thyssen-Konzern Mitte der 1920er Jahre hervorgegangene August-Thyssen-Bornemisza-Gruppe als transnationale »business group«.

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gegenüber der Arbeiterbewegung gezwungen sah, verschlechterten sich nach dem Weltkrieg auch die Absatzchancen einer hinsichtlich der Produktionskapazitäten in Kriegszeiten weiter gewachsenen Industrie. Währenddessen konnte die US -Industrie nach dem Ersten Weltkrieg endgültig zur weltweit unumstrittenen Leitindustrie avancieren. Allerdings sah sie sich in der Weltwirtschaftskrise von 1929 ebenfalls vor große ökonomische und sozialpolitische Probleme gestellt. Ziel dieser Arbeit ist es nun, über diese ökonomischen und wirtschafts- und sozialpolitischen Zäsuren hinweg die Vergleichspraktiken dieser beiden miteinander verbundenen Industrien zu rekonstruieren.

1.5 Quellenkorpus Das historische Untersuchungskorpus zielt auf die internationale Expertenöffentlichkeit der Eisen- und Stahlindustrie ab; hier fand das Vergleichen unter Konkurrenzbedingungen statt. Den Großteil der Materialbasis bilden die Fachzeitschriften der deutschen und der US -amerikanischen Eisenund Stahlindustrie. Für die US -amerikanische Seite wurde die seit 1867 erscheinende Zeitschrift Iron Age, für die deutsche Seite die 1881 gegründete Fachzeitschrift Stahl und Eisen systematisch ausgewertet.60 Da es sich bei Stahl und Eisen nicht nur um ein wichtiges deutschsprachiges Fachjournal, sondern auch um das Zentralorgan des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute (VDEh) handelt, lässt die Zeitschrift Rückschlüsse auf die Arbeit dieses wichtigen technischen Vereins zu, der die internationale Vernetzung maßgeblich vorantrieb und wie ihre US -amerikanischen Pendants zentrale Triebkraft der internationalen Vernetzung war.61 In den Zeitschriften finden sich insbesondere Reiseberichte, Kongressvorträge, hüttentechnische und wirtschaftspoli60 Für die 1870er Jahre wurde zusätzlich die Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen (ZBHSW) ausgewertet. Weitere deutsche, britische und US-amerikanische Fachzeitschriften der international vernetzten Fachöffentlichkeit wurden in die Analyse einbezogen. 61 Aufgrund der Covid-19-Pandemie war es nicht möglich, die Aktenbestände des VDEh in Düsseldorf einzusehen. Neben der Zeitschrift Stahl und Eisen, in der etwa die Protokolle der Versammlungen veröffentlicht wurden, sind in der Überlieferung des Thyssen-Krupp-Konzernarchivs die entsprechenden Bestände ausgewertet worden. Die Landschaft aus technischen Vereinen und Interessenorganisationen war in den USA räumlich und thematisch nicht so zentralisiert wie in Deutschland und Großbritannien. Um den internationalen Austausch machte sich vor allem das American Institute of Mining and Metallurgical Engineers (AIME) verdient.

Aufbau der Arbeit

tische Analysen und Kommentare sowie statistische Berichte, die von Fachleuten der Branche angefertigt wurden. Neben Artikeln in Fachzeitschriften ist das zeitgenössische Fachschrifttum auch darüber hinaus von Interesse, wenn es darum geht, die internationale Fachöffentlichkeit abzubilden. Insbesondere von US -amerikanischer und britischer Seite entstand eine Fülle von grauer Literatur, dabei handelte es sich oftmals um von staatlichen Stellen in Auftrag gegebenen Reports über die Industrien anderer Länder, die ebenfalls aufschlussreich für das hier vorgestellte Forschungsvorhaben sind. Neben dem Fachschrifttum sind es die Unternehmensarchive, aus denen die Arbeit ihr Material schöpft. Für Deutschland sind dies die Bestände der Gutehoffnungshütte (GHH) in Oberhausen und insbesondere die der Unternehmen Krupp und Thyssen. Vorrangig untersucht wurden intern überlieferte Reiseberichte und Analysen sowie Korrespondenzen der Unternehmens- und Betriebsleitungen, die die US -amerikanische Eisen- und Stahlindustrie thematisierte. Für die US -amerikanische Seite wurde neben den Archiven von Eisen- und Stahlunternehmen, die insbesondere im Raum Pittsburgh ansässig waren, auch die Bestände des American Iron and Steel Institute (AISI) durchgesehen. Schließlich wurden Nachlässe einzelner US amerikanischer Fachleute und Unternehmer berücksichtigt.

1.6

Aufbau der Arbeit

Die folgende Untersuchung ist systematisch entlang von Vergleichshinsichten (tertia) strukturiert, die die wechselseitige Beobachtung der deutschen und der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie im Untersuchungszeitraum prägen.62 Die einzelnen Kapitel sind dabei jeweils chronologisch aufgebaut. Die Darstellung der Vergleichspraktiken deutscher Fachleute ist umfangreicher, da die deutschen Branchenvertreter die US -amerikanische Hüttenindustrie weitaus intensiver beobachteten als umgekehrt. Die deutsche und die US -amerikanische Entwicklung werden zumeist getrennt voneinander abgehandelt, während in den Schlussbetrachtungen die herausgearbeite-

62 Hierbei ist anzumerken, dass die Fachleute die deutsche und die US-amerikanische Industrie als Vergleichsgegenstände (comparata) »global« verglichen, entlang unterschiedlicher tertia wie etwa Produktionstechnik oder Arbeitsbeziehungen. Innerhalb der einzelnen behandelten Problembereiche spaltete sich die Vergleichspraxis in weitere comparata und tertia auf.

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ten Muster der konkurrenzförmigen Vergleichspraktiken kontrastiert und synthetisiert werden. In Kapitel 2 werden zunächst die politischen, institutionellen und soziokulturellen Vergleichsbedingungen der entstehenden internationalen Fachöffentlichkeit dargelegt sowie deren Akteure vorgestellt. Mit Beginn des Untersuchungszeitraums im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten sich neue Vergleichshorizonte geöffnet: Während noch in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts die Industriespionage eine prägende international orientierte Konkurrenzpraxis war, hatten sich in der Folge internationaler Patentund Lizenzabkommen transnationale fachoffizielle Studienreisen von Branchenfachleuten etabliert, und es herrschte weitgehend eine »Politik offener Werkstore« vor. Thematisiert wird, wie Studienreisen und Werksbesuche organisiert wurden und abliefen: Welche konkreten Vergleichspraktiken vollzogen die Fachleute dabei? Es wird nachgezeichnet, wie sich angesichts der an Schärfe zunehmenden Weltmarktkonkurrenz zunächst auf nationaler Ebene unternehmensübergreifende »communities of practice« herausbildeten, die gemeinsam Wissen über die Industrien anderer Länder akkumulierten, teilten und diskutierten. Darüber hinaus wird gezeigt, wie daran anknüpfend im Zuge internationaler Konferenzen und Gruppenreisen konkurrenzübergreifende internationale »communities of practice« entstanden. Der Erste Weltkrieg markierte einen Bruch dieses Austauschs, da die Beteiligten sich nicht länger einer konkurrenzübergreifenden Arbeit im Sinne einer gemeinsamen Zivilisations- und Fortschrittsmission verpflichtet fühlten. In Kapitel 3 stehen die Produktionszahlen als Vergleichshinsicht im Zentrum. Es wird gezeigt, wie sich die in der internationalen Expertenöffentlichkeit verbreiteten numerischen Vergleichspraktiken sowohl auf Konkurrenzwahrnehmungen als auch auf die »reale« Konkurrenzsituation auswirkten. Zunächst wird rekonstruiert, inwiefern raumzeitliche Verknüpfungen das statistische Vergleichen ermöglichten. Numerische Vergleiche – und dabei insbesondere Statistiken – waren erst in zweiter Linie rationale ökonomische Steuerungsinstrumente. Sie etablierten internationale Konkurrenz vielmehr als Leistungswettbewerb um die höchsten Produktionszahlen und den besten Platz im Nationenranking. Der Markt wurde in diesem Zuge mit außerökonomischen Semantiken des sportlichen Wettstreits im Sinne eines »Wettlaufs um Beteiligungsrekorde« besetzt, wodurch statistische Vergleiche die branchenspezifischen Probleme von Überkapazitäten weiter verstärkten. Um der konjunkturellen Schwankungen Herr zu werden, wurden Produktionsstatistiken zudem als Steuerungsinstrumente verwendet. Zwar ging es dabei

Aufbau der Arbeit

auch darum, die ungewisse Zukunft und konjunkturelle Verläufe vorherzusagen, jedoch soll dargelegt werden, inwiefern die Branchen numerische Vergleiche macht- und interessenpolitisch instrumentalisierten, um Markt und Konkurrenz einzuschränken. In Kapitel 4 stehen konkurrenzförmige wechselseitige Vergleiche im Fokus, die die Produktqualität thematisieren. Zum einen wird von der Beobachtung ausgegangen, dass die spezifische Produktstruktur der Eisen- und Stahlindustrie es den Produzenten erschwerte, gerade die Qualität von Vor- und Halbzeug-Produkten herauszustellen. Zum anderen war die Produktqualität überhaupt schwer zu bestimmen bzw. ihre Maßstäbe umstritten, weswegen zwischen Produzenten und Kunden kaum eine geteilte Qualitätsordnung bestand. Aus diesem Grund – und weil Branchenakteure den Markt grundsätzlich als Gefahr von außen betrachteten – versuchten sie mittels einer an der Produktqualität ansetzenden Vergleichspraxis nationale Trademarks zu etablieren. Es ging dabei darum, durch Konkurrenzvergleiche die eigenen Produkte als überlegen darzustellen und Qualität – und nicht den Preis – zum alleinigen Bewertungsmaßstab zu erheben. Darüber hinaus widmet sich das Kapitel dem damaligen Marketing und den Public-Relations-Maßnahmen der Eisen- und Stahlindustrie, die sich als produktionsorientierte Branche schwertat, Werbemaßnahmen einzusetzen, darauf jedoch auch nicht verzichten konnte. Es soll gezeigt werden, inwiefern die Produktqualität in dieser Form (über-)betrieblicher Kommunikation mittels konkurrenzförmiger Vergleichspraktiken debattiert wurde. Kapitel 5 widmet sich dem tertium der Produktionstechnik. In diesem Bereich bedurften die Produzenten der kapitalintensiven Hochtechnologiebranche besonders viel Orientierung. »Amerika«  – wie die Vereinigten Staaten damals bezeichnet wurden – war für deutsche Fachleute in dieser Hinsicht eine Folie. Im Laufe der Zeit und in wechselnden ökonomischen und (betriebs-)politischen Phasen changierte der Status »Amerikas« zwischen dem eines Vor- und dem eines Gegenbilds. Gleichzeitig verglichen die deutschen Fachleute die deutsche mit der US -amerikanischen Produktionstechnik, um die eigenen Leistungen bewerten und das eigene Profil schärfen zu können. Auf US -amerikanischer Seite sind ähnliche Mechanismen und Funktionen der technikspezifischen Vergleichspraktiken zu beobachten. Kapitel 6 handelt schließlich von Vergleichspraktiken, die sich auf Arbeitsbeziehungen und betriebliche Sozialpolitik beziehen. Die reibungslose Produktion hing von der »sozialen Frage« in den Betrieben ab. Daher ist auch in diesem Bereich ein hoher Bedarf an orientierenden Vergleichen zu beob-

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Einleitung

achten. Die auf die sozialen Verhältnisse in den Hüttenbetrieben abzielenden Vergleichspraktiken waren dabei in besonderer Weise vom Zustand in den eigenen Werken abhängig. Außerdem soll in diesem Kontext verdeutlicht werden, wie sehr Vergleichspraktiken als Herrschaftsinstrument dienen konnten, wenn die Fachleute mit ihrer Hilfe und fern der betrieblichen Realitäten Wunschbilder von der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen entwickelten. Der Verweis auf die internationale Konkurrenz war dabei eine zentrale rhetorische Strategie der betrieblichen Herrschaftsausübung. Abschließend werden in einer Zusammenfassung die wichtigsten Untersuchungsergebnisse im Licht der gewonnenen Erkenntnisse diskutiert und die Frage beantwortet, welche Rückschlüsse auf die Geschichte der Eisen- und Stahlindustrie daraus gezogen werden können und welche historischen Entwicklungstendenzen dabei zu beobachten sind.

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Vergleichshorizonte entstehen: Internationale Vernetzung zwischen Konkurrenz und Kooperation im 19. Jahrhundert

Das Vergleichen von Industrien über Ländergrenzen hinweg war keineswegs selbstverständlich. Notwendig hierfür war, dass die Unternehmen in der transnationalen Beobachtung einen ökonomischen Nutzen sahen. Diese Erkenntnis setzte sich im Zuge der internationalen ökonomischen Vernetzung im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend durch. Grundlegend hierfür war die »freie Konkurrenz« und das damit eng verbundene Konzept des »friedlichen Wettstreits der Nationen«. Beide Ideen förderten nicht nur einen regelbasierten Wettbewerb, sondern ließen die Produzenten der Eisen- und Stahlindustrie an den Nutzen eines wechselseitigen Austauschs über alle möglichen Fragen der Produktion und Distribution von Eisen und Stahl glauben. Auf dieser Basis institutionalisierten die Unternehmen zunächst auf nationaler und schließlich auf internationaler Ebene einen solchen Austausch. Sie etablierten eine internationale Expertenöffentlichkeit, die fortan das transnationale Vergleichen in der Konkurrenz ermöglichte. Im folgenden Kapitel soll diese internationale Vernetzung der Eisen- und Stahlindustrie entlang der Institutionen, Medien und Akteure rekonstruiert werden, die damit verbunden waren. Es geht darum, die sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen konkurrenzförmiger Vergleichs­praktiken darzulegen, die in den folgenden Kapiteln 3 bis 6 thematisiert werden. Dabei gilt es zu zeigen, inwiefern die freie Konkurrenz und der daraus abgeleitete internationale Austausch ein stetiges Spannungsfeld erzeugten. Dieses ging einerseits auf das widersprüchliche Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation zurück  – es handelte sich schließlich um einen Austausch zwischen mehr oder weniger direkten Konkurrenten. Damit hing zusammen, dass andererseits auch in der fortgeschrittenen globalisierten Weltwirtschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Konkurrenz vom nationalstaatlichen Bezugsrahmen bestimmt blieb. Die Konkurrenten vernetzten sich zwar international, schlossen sich dabei aber auf nationaler Ebene zusammen: Sie versuchten, als nationale »Produzentencliquen« die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern bzw. sich gegen die ausländische Konkurrenz zu schützen.

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Vergleichshorizonte entstehen

2.1

Von der Industriespionage zur fachoffiziellen Studienreise

In seinen Memoiren schrieb der Industrielle Eberhard Hoesch (1790–1852) über das Jahr 1823: »Die Conjunkturen für das Stabeisen-Geschäft blieben aber schlecht, die engl. Concurrenz drückte die Preise, diese hatte die Pudlings­frischerei eingeführt und konnte billig arbeiten.«1 Hoesch sah sich demnach mit einer überlegenen britischen Konkurrenz konfrontiert, die über fortschrittlichere technische Verfahren zur Herstellung von schmiedebarem Eisen verfügte. In den folgenden Jahrzehnten verzögerte die Dominanz britischen Roheisens und von Schienen aus Puddeleisen, dass die deutsche und die US -amerikanische Eisenindustrie am Eisenbahnboom partizipieren konnten.2 In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war England der unumstrittene Maßstab industriellen Fortschritts. Aus Sicht deutscher Beobachter stellte die englische Entwicklung die industriellen Fortschritte Frankreichs, das seinerseits weiter entwickelt war als die deutschen Staaten, in den Schatten: Die Bewertung der französischen Industrie könne nur »ohne den Maßstab der Vergleichung mit England« erfolgen.3 Tatsächlich hatten alle wichtigen Basisinnovationen des industriellen Schmelzens und Weiterverarbeitens von Roheisen zu schmiedebarem Eisen dort ihren Ursprung. Zwar konnten diese Innovationen verzögert auch auf dem Kontinent im früh industrialisierten Belgien betrachtet werden.4 Jedoch bedeuteten die Reisen in die industriellen Zentren Großbritanniens in den 1820er und 1830er Jahren für deutsche Unternehmer und Techniker »eine Vorschule für die spätere industrielle Tätigkeit in Deutschland«.5 Fast alle Industriellen jener Zeit, die an Saar, Rhein und Ruhr mit ihren Unternehmen die Grundlagen des schwerindustriellen und großbetrieblichen »industrial district« (Alfred Marshal) legen sollten, bereisten britische Industrieregionen.6 Auch in den Vereinigten Staaten gingen die Versuche, Produktivität und Effizienz der frühen Hüttenbetriebe im großbetrieblichen Sinne zu steigern, auf britische Unternehmer zurück;

1 Hoesch AG, S. 31. Vgl. zum Puddelverfahren: Paulinyi, Das Puddeln. 2 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 65. 3 So schrieb der Fabrikant Christian Heinrich Stobwasser (1740–1829) im Jahr 1827. Zitiert nach: Schumacher, S. 112. 4 Vgl. zum Zusammenhang zwischen technologischem Wandel und Handelsbeziehungen der Eisenindustrien Deutschlands, Belgiens und Frankreichs sowie Großbritanniens im frühen 19. Jahrhundert Fremdling, Technologischer Wandel. 5 Schumacher, S. 133. 6 Ebd., S. 45 f., 75 f., 132 f., 164 f., 227 f.

Von der Industriespionage zur fachoffiziellen Studienreise

britische Facharbeiter führten entsprechende Verfahrenstechniken ein.7 Für die Frühphase der industriellen Entwicklung der deutschen und der US amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie galt also: Wollten die Hersteller konkurrenzfähige Produktionskosten erreichen, so mussten sie sich stärker an der britischen Konkurrenz orientieren und einen entsprechenden Technologietransfer anstreben.8 Hier zeigt sich, wie sehr Konkurrenz Produzenten unter Handlungsdruck setzt und dass eine erste Handlungsoption stets darin besteht, sich mit eben dieser – in diesem Fall – überlegenen Konkurrenz zu beschäftigen, ihr nachzueifern. Allerdings widersprach dieser Wunsch deutscher Produzenten, sich mit der Produktionstechnik der britischen Konkurrenz zu beschäftigen, den Interessen der technisch und ökonomisch überlegenen britischen Unternehmen. Folglich kam das Innere britischer Produktionsbetriebe zu Beginn des 19. Jahrhunderts einem Arkanum gleich: Unternehmen hüteten Produktionsanlagen und Verfahrenstechniken, die weitgehend auf der »rule of thumb« beruhten, sehr streng und verweigerten werksfremden Personen generell den Zutritt. Deutsche Techniker mussten sich daher im Rahmen ihrer verdeckten Studien- und Geschäftsreisen heimlich oder getarnt Zutritt zu den englischen Hüttenwerken verschaffen, um Verfahren und Anlagen auszuspähen oder qualifizierte Arbeiter und Techniker abzuwerben. Der britische Staat versuchte zwar gesetzlich gegenzusteuern – in den Biografien deutscher Industrieller der ersten Jahrhunderthälfte finden sich jedoch häufig Episoden über Versuche, diese Verbote zu umgehen. So berichtet Eberhard Hoesch davon, wie er im Jahre 1823 mit Hilfe eines Ortskundigen »mit Mühe und nicht ohne Gefahr« in englische Puddelwerke eingeschleust wurde: »[Ich] entnahm dann gleich, daß mir durch Anlegung derselben Fabriken die Eisenfabrikation gehoben werden könne. Gleich engagierte ich schon Arbeiter daselbst, welche

7 In den USA stießen sie dabei jedoch aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen auf Probleme, die insbesondere geographischer und geologischer Natur waren: Während in Großbritannien Kohle-, Eisenerz- und Kalksteinvorkommen eng beieinander lagen und sich relativ nahe an schiffbaren Flüssen, Küsten und Städten befanden, war dies in den USA in der Frühzeit noch nicht gegeben. Die Erfahrung und das Praxiswissen, das sich bei britischen Fachleuten unter anderen geologischen und geographischen Bedingungen ausgebildet hatte, stießen in den Vereinigten Staaten an ihre Grenzen. Knowles, S. 111–149. Vgl. zur frühen Industrialisierungsphase der deutschen und der US-amerikanischen Hüttenindustrie: Welskopp, Arbeit und Macht, S. 61–79. 8 Ebd., S. 65.

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mir später nachfolgten.«9 Alfred Krupp ging im Rahmen seines Studiums der englischen Produktionskultur sogar so weit, dass er sich auf Englandreisen weitgehend »anglisierte«. Dies wurde gerade auf seiner in den Jahren 1838/39 durchgeführten Reise deutlich: Er kleidete und verhielt sich wie ein englischer Gentleman, reiste dabei unter falschem Namen und versuchte sich auf diese Weise leichter Zugang zu englischen Werken zu verschaffen. Krupps Englandreisen wurden laut Harold James »zu einem entscheidenden und prägenden Erlebnis in seinem unternehmerischen Werdegang«10. Die konspirative Angleichung an örtliche betriebliche und allgemeinkulturelle Gegebenheiten war also für die Akteure dieser frühen Konkurrenzpraktiken paradigmatisch, die auf die heimliche und illegale Übernahme fortschrittlicher Technologien abzielte. Aus der Erkenntnis ungleicher Produktionsniveaus leiteten deutsche Akteure dabei auch unternehmerische Ambitionen ab. Alfred Krupp etwa war davon getrieben, Produkte zu fertigen, die es in qualitativer Hinsicht mit den britischen aufnehmen konnten.11 Im Zuge der »Kommunikations- und Verkehrsrevolutionen« des 19. Jahrhunderts nahm die globale ökonomische Vernetzung zu.12 Innerhalb dieses Prozesses wandelten sich die Wettbewerbsvorstellungen – Konkurrenz wurde nicht länger einseitig als schädlich betrachtet. Triebfeder der »institutionellen Revolution« hin zur modernen Wettbewerbs- und Wachstumswirtschaft war die wachsende Akzeptanz des offenen Wettbewerbs und der Glaube an seine produktive und gemeinwohlfördernde Kraft.13 Ein wichtiger Ausdruck dieser Entwicklung waren die Weltausstellungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts an wechselnden Orten der westlichen Welt stattfanden – erstmalig im Jahr 1851 in London.14 Für den Globalhistoriker Jürgen Osterhammel bedeutete die hier präsentierte »ausgefeilte Taxonomie der Objektwelt«, dass nun erstmals »Natur, Kultur und Industrie in einem großen System vereint«

9 Hoesch AG, S. 31. 10 James, Krupp, S. 51. 11 Ebd., S. 51–53. Alfred Krupp installierte neben einem Netzwerk aus Handelsvertretern in dieser Zeit auch ein Beobachtungs- und Berichtswesen, um sich so dauerhaft über Innovationen in der europäischen Hüttentechnik auf dem Laufenden zu halten. Vgl. ebd., S. 50. 12 Paulmann, S. 383. 13 Vgl. zu diesem institutionellen Wandel zur modernen Wettbewerbswirtschaft: Wischermann u. Nieberding. 14 Vgl. zu den einzelnen Weltausstellungen und ihrer jeweiligen Programmatik den Überblick bei Kretschmer.

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erschienen. Sie ermöglichten gleichzeitig einen »Panoramablick« und die »enzyklopädische Dokumentation« der materiellen Welt.15 Die entsprechend den teilnehmenden Nationen gegliederten Ausstellungen präsentierten dabei Schaustücke aus kunsthandwerklicher und vor allem industrieller Fertigung; viele Basisinnovationen, die für die industrielle Moderne kennzeichnend werden sollten, wurden der breiten Weltöffentlichkeit auf den frühen Weltausstellungen präsentiert. Vor allem lag den Weltausstellungen bereits die Idee der »freien Konkurrenz« und des »friedlichen Wettstreits« der Nationen zu Grunde. Beides war für Zeitgenossen grundlegend für den zivilisatorischen Fortschritt insgesamt. Abram S. Hewitt (1822–1903)  – ein wichtiger Akteur der frühen ­ S -Hüttenindustrie – schrieb im Jahr 1890, diese Ausstellungen U served to break down the jealousies of nationality and to diffuse a better knowledge of industrial processes. Trade secrets, which had been carefully guarded, became common property; manufacturers who had previously regarded themselves as rivals formed bonds of union and ties of friendship, as the results of an intercourse which broke down all prejudices and led them to see that their highest interests would be promoted by the free interchange of experience and ideas.16 Die Weltausstellungen förderten also aus Sicht zeitgenössischer Industrievertreter das wechselseitige Verständnis der Nationen voneinander und verbreiteten das Wissen über (unterschiedliche) industrielle Entwicklungen. Hierdurch sah Hewitt die Grundlagen für einen freien, länderübergreifenden Austausch von Erfahrungen und Ideen geschaffen. Tatsächlich wurden im Zuge der Weltausstellungen unter Beteiligung einer Vielzahl von Experten, Wissenschaftlern und Statistikern wichtige Standardisierungen von Maß- und Gewichtseinheiten oder Währungen sowie die Einführung des Goldstandards vollzogen.17 Internationale Patent- und Lizenzabkommen sicherten den internationalen Austausch seit den späten 1870er Jahren zu-

15 Osterhammel, S. 41. Die auf den Ausstellungen repräsentierte »Welt« bezog sich dabei vor allem auf die westlichen Industrienationen. 16 Hewitt, Iron and labor, S. 1 f. 17 Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert, S. 371 f. Dieser Prozess der Standardisierung war aufgrund der unterschiedlichen Interessen der beteiligten Nationalstaaten durchaus konfliktbehaftet: vgl. Kramper.

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sätzlich ab und ermöglichten somit die breite Vergleichbarkeit der Industrien unterschiedlicher Länder.18 Schon in den Ausstellungshallen der Weltausstellungen zeigte sich, dass internationale Kooperation und Konkurrenz sich keineswegs ausschlossen. Die postulierte Idee der »freien Konkurrenz« sollte schließlich durch den hier ausgetragenen »friedlichen Wettstreit der Nationen« verbreitet und implementiert werden. Durch das angehäufte Wissen und die angestrebte internationale Vergleichbarkeit der Nationen untereinander wurde gleichzeitig das nationale Konkurrenzdenken gefördert.19 Denn die ausstellenden Unternehmen und mit ihnen die jeweiligen Nationen traten auf den Weltausstellungen in Leistungswettbewerbe ein, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausgetragen wurden und die zum Nutzen aller den zivilisatorischen Fortschritt antreiben sollten.20 Für den Zusammenhang dieser Arbeit lässt sich dieser Mechanismus insbesondere an der Weltausstellung in Philadelphia im Jahr 1876 aufzeigen: Die Vereinigten Staaten wollten mit der sogenannten Centennial-Ausstellung nicht nur das einhundertjährige Jubiläum der US -amerikanischen Unabhängigkeit feiern. Darüber hinaus intendierten sie, gegenüber Europa die Botschaft zu vermitteln, dass die USA die Folgen des Bürgerkriegs überwunden und sich unabhängig vom »alten Kontinent« als industriell leistungsfähiges Land entwickelt hatten.21 Tatsächlich war die Ausstellung in dieser Hinsicht erfolgreich und markierte ein wachsendes Interesse europäischer Beobachter an der »Neuen Welt« – ein Interesse, das sich nun explizit auch auf die industrielle Entwicklung bezog. Seit dieser Zeit galten die USA zunehmend als neues kapitalistisches Musterland, das England in dieser Wahrnehmung in den nächsten Jahrzehnten zunehmend ablöste  – und zum präferierten bürgerlichen Ziel des »Reisens in die Moderne« werden ließ.22 Dies galt in besonderer Weise auch für die dortige Eisen- und Stahlindustrie. Mit Hermann Weddings Reisebericht von 1876 rückte diese in den Fokus deutscher Fachleute, nachdem sie in den Jahrzehnten zuvor noch in die europäi-

18 Gilgen. 19 Jäger, S. 9. 20 Vgl. allgemein zur wechselwirkenden Dynamik aus Vergleichen und Wettbewerb im 19. Jahrhundert: Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert, S. 45 f. 21 Kretschmer, S. 99–101, 103. 22 Schmidt, S. 58–81. Zu den frühen Reiseberichten deutscher Hüttenexperten, die im Zuge der Weltausstellung angefertigt wurden, vgl. Kapitel 5.1 dieser Arbeit.

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schen Pionierländer der Industrialisierung gereist waren.23 Wedding war wie vielen seiner europäischen Fachgenossen nicht entgangen, dass sich das »Eisenhüttenwesen Nordamerika’s […] in überraschender Schnelligkeit entwickelt« hatte.24 Während diese vergleichenden Analysen der Fachleute im Folgenden noch vertieft werden, ist mit Blick auf die Weltausstellungen noch ein weiterer, performativer Aspekt zu betonen: Die Eisen- und Stahlindustrie konnte an die nationale Inszenierung anschließen. Sowohl einzelne Unternehmen als auch nationale Branchenverbünde schrieben sich in das nationale Repräsentationsbedürfnis der Staaten ein, die einen möglichst guten Gesamteindruck im Wettbewerb der Nationen hinterlassen wollten.25 Außerdem brachten die Weltausstellungen ein globales Marktpublikum mit sich. Die Friedr. Krupp AG unter der Leitung Alfred Krupps ist das herausstechende Beispiel eines einzelnen Unternehmens, das sehr viel Energie in Leistungswettbewerbe auf Weltausstellungen investierte. Ziel war, durch die Erringung von Preisen patriotischen Stolz in Deutschland zu generieren und so das Wohlwollen der preußischen Staatsbürokratie zu erlangen. Gleichzeitig zielte Krupp darauf ab, mit seiner Ausstellungs-Performance Kunden internationaler Reichweite anzusprechen.26 Das um die Jahrhundertwende nachlassende Interesse des Fachpublikums an den Weltausstellungen zeigte jedoch, dass insbesondere deren technologischer und ökonomischer Nutzen für die Branche zunehmend als begrenzt wahrgenommen wurde. Tatsächlich verschob sich der Austausch nun vorwiegend in fachöffentliche Foren, die im Folgenden noch genauer thematisiert werden. Henry Bessemers (1813–1898) maschinelles Stahlfrischverfahren, das den Durchbruch zur Massenproduktion von Flussstahl bedeutete, war etwa, als es auf der Londoner Weltausstellung im Jahr 1862 präsentiert wurde, dem Fachpublikum bereits seit 1856 bekannt. Insofern erwuchs den Weltausstellungen in den fachtechnischen Medien und Foren eine erhebliche

23 Den Schwerpunkt bildete hierbei eindeutig die englische Industrie. Vgl. etwa Ulrich, Wiebmer u. Dressler; Nasse. Über die Hüttenindustrie europäischer Länder berichteten deutsche Fachleute auch weiterhin, nachdem sie sich seit den 1870er Jahren verstärkt der US-Industrie zuwandten. Vgl. etwa Simmersbach, Die englische Eisen- und Stahlindustrie. 24 Wedding, S. 486. Vgl. außerdem den zeitgleich entstandenen Bericht von Mosler. 25 Kroker, S. 31–40. 26 Wolbring, S. 84–121; James, Krupp, S. 52–54. Vgl. hierzu genauer Kapitel 4.3 dieser Arbeit.

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Konkurrenz beim Verbreiten von Informationen.27 Schon die Weltausstellung in Philadelphia im Jahr 1876 genügte in rein hüttentechnischer Hinsicht den Ansprüchen der Fachleute nicht mehr, weil die ausgestellten Schaustücke zwar außergewöhnliche Produktionsleistungen darstellten, nicht aber den alltäglichen Stand der Produktion repräsentierten.28 Dennoch förderte die Ausstellung in Philadelphia das internationale Vergleichen in der Eisen- und Stahlindustrie nachhaltig. Denn sie markiert einen Wandel der Konkurrenzvorstellungen  – nicht nur innerhalb der U ­ S -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie. Maßgebliche Teile der Branchen waren fortan bereit, ihre Werkstore für Fachbesucher aus anderen Ländern zu öffnen. Lediglich die wirtschaftsnationalistisch ausgerichtete American Iron and Steel Association (AISA) warnte angesichts der weiterhin spürbaren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1873 vor »ausländischen Spionen«, die sich aufgrund der Weltausstellung massenhaft im Land befänden. Es bestehe die Gefahr, dass sich diese in den US -Werken Herstellungsverfahren abschauten und in Kombination mit günstigeren Lohnkosten in Europa günstiger produzierten und damit als »unfaire« Wettbewerber auf dem US -Markt aufträten: »Our manufacturers should guard against giving themselves away to such fellows. International courtesy does not require that they should make fools of themselves.«29 Ursächlich für diese Sichtweise war, dass die AISA Handelspolitik und (Welt-)Marktkonkurrenz als Nullsummenspiel betrachtete. Folglich wollte diese Organisation ausländischen Fachleuten allein die Fortschrittlichkeit der »jungen« US -amerikanischen Industrie präsentieren, wofür man sich auf die Ausstellungshallen der Weltausstellung beschränken sollte. Ein tiefergehender technologischer Austausch war dieser neo-merkantilistischen Position nach nichts weiter als eine freiwillige Preisgabe von Wettbewerbsvorteilen.30 In der Zeitschrift Iron Age, dem in dieser Zeit bereits wichtigsten US ameri­kanischen Fachjournal, wurde die Einschätzung des AISA hingegen

27 Kroker, S. 133–135. 28 Darüber beschwerte sich beispielsweise Wedding, S. 328. 29 O. V., Spies in the Camp, S. 15. 30 James M.  Swank wollte die US-Industrie durchaus propagandistisch inszenieren: »The proposed visit to America of the [British; TM] Iron and Steel Institute was very pleased referred to. He [James M. Swank; TM] hoped the association would welcome the visitors warmly and endeavor by all means in their power to give them a proper impression of the greatness of the iron industry of this country.« O. V., Annual Meet­ ing, S. 13.

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als anachronistisch zurückgewiesen: »The day of trade secrets is pretty much past. It never was possible to keep them, and never will be«. Die Zeitschrift betonte weiter: They [die europäischen Fachbesucher; TM] may learn something worth knowing, but millions would not compensate us for the loss of knowledge which our manufacturers have gained abroad. Moreover, our foreign visitors are not likely to take away with them any important trade secrets, and our manufacturing prosperity does not rest upon so slender a foundation that we need feel profound alarm because foreign competitors are finding out how we do things.31 Die Zeitschrift Iron Age sah damit keine Konkurrenznachteile, die aus dem offenen Austausch erwachsen konnten, da die US -amerikanischen Produzenten aus Sicht des Autors der obigen Einschätzung sowieso ökonomisch auf festen Füßen stünden. In diesen Worten spiegelt sich außerdem die Vorstellung wider, dass die US -Industrie trotz Wettbewerbs Teil eines größeren und gemeinsamen Ganzen der internationalen Eisen- und Stahlindustrie sei. Technische Transferprozesse seien der Beleg für diese erfolgreiche Zusammenarbeit, von der die US -Industrie in der Vergangenheit profitiert habe. Werksbesuche und daraus möglicherweise resultierende Adaptionen von Herstellungsverfahren durch Fachbesucher wurden nun hinsichtlich einer Kosten-Nutzen-Kalkulation nicht mehr als Minderung der eigenen Wettbewerbsposition verstanden, weil der Nutzen nun zunehmend als ein wechselseitiger betrachtet wurde und die US -Produzenten selbst in der Vergangenheit viel von ausländischen – namentlich britischen – Unternehmen, Technikern und Arbeitern profitiert hätten. Darüber hinaus profitierten sie auch von dem Wissen, das in der Expertenöffentlichkeit zusammengetragen wurde: Auch wenn die US -Fachleute weniger zu Studienreisen nach Europa aufbrachen als ihre europäischen Branchengenossen in umgekehrter Richtung, konnten sie doch die europäischen Reisebeschreibungen und Analysen über die eigene Industrie rezipieren.32 Bei der Zeitschrift Iron Age war man sich andererseits bewusst, dass die US -Unternehmen nun, da sie den europäischen Werken in weiten Teilen min31 O. V., Spies in the Camp, S. 15. 32 Vgl. zu diesen Beobachtungen zweiter Ordnung durch Fachleute der US-Hüttenindustrie Kapitel 5.2 dieser Arbeit.

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destens ebenbürtig geworden waren, nicht einfach leichtfertig alle Bereiche ihrer Produktion offenlegen sollten. Über den Zutritt, so wurde im weiteren Verlauf eines Kommentars zur »Politik der offenen Werkstore« vorgeschlagen, könnten die Werke im Einzelfall ja auch selbst entscheiden und den Informationsfluss an ihre Besucher regulieren.33 Tatsächlich entschied in der Praxis vor allem die Stellung der einzelnen Akteure über den Zugang zu Werken sowie über die Frage, ob und wie die Reiseberichte veröffentlicht wurden. International anerkannte Experten, die sich mit den Industrien unterschiedlicher Länder auskannten, publizierten ihre Berichte und Analysen in den technischen Journalen. Hierzu zählten auf deutscher Seite etwa der erwähnte Hermann Wedding (1834–1908) oder der Maschinenbauingenieur Franz Reuleaux (1829–1905)34, Juror bei der Weltausstellung in Philadelphia 1876. Bedeutend in diesem Zusammenhang waren zudem der international besonders angesehene britische Unternehmer und Metallurg Lowthian Bell (1816–1904)35, der US -Statistiker James M.  Swank (1832–1914)36 und Charles Kirchhoff (1853–1916), Herausgeber der Zeitschrift Iron Age. Diese Akteure waren zwar ihrem Nationalstaat und ihrem nationalen Produktionskollektiv verpflichtet – und adressierten in allererster Linie ein nationales Publikum –, sie erreichten darüber hinaus durch die mediale Vernetzung aber unweigerlich auch ein internationales Fachpublikum. Vertreter direkter Konkurrenzunternehmen hingegen fanden weiterhin nicht so leicht Zugang zu Produktionsbetrieben wie Fachleute, die in umfassenden Länderberichten fachöffentlich publizieren wollten. Unternehmensvertreter konnten jedoch im Rahmen des Erwerbs von Patenten und Lizenzen zum Studium konkreter Verfahrenstechniken anreisen. Diese so gewonnenen Informationen wurden gerade nicht in der internationa-

33 O. V., Spies in the Camp, S. 15. 34 Reuleaux löste mit seinen »Briefen aus Philadelphia«, in denen er deutsche Industrieprodukte mit denen anderer Staaten verglich und sie als »billig und schlecht« bewertete, eine nationale Qualitätsdebatte aus. Allerdings nahm er die Leistung der Hütten­ industrie dabei  – bis auf Krupps als militaristisch kritisierte Ausstellung  – explizit aus. 35 Bell verfasste eine Vielzahl explizit vergleichender Berichte, u. a.: Bell, Coal- and IronMines; ders., Report on the Iron Manufacture; ders., The Iron Trade. In Stahl und Eisen wurden die Berichte »aus der Feder einer so angesehenen und kenntnißreichen Persönlichkeit« immer wieder rezipiert. O. V., Die Gefahr des amerikanischen Wettbewerbs, S. 223. 36 Vgl. zu Swank Kapitel 3.3 dieser Arbeit.

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len Fachöffentlichkeit geteilt, sondern waren allein für den unternehmens­ internen Gebrauch bestimmt.37 Insgesamt verfestigte sich trotz solcher Einschränkungen zu Beginn des Untersuchungszeitraums der Glaube an den wechselseitigen Nutzen einer »Politik offener Werkstore« – insbesondere in den Vereinigten Staaten. Europäische Besucher lobten fortan und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die »Offenheit der Aufnahme von Seiten der Werksbesitzer«.38 Angesicht des weitgehenden Verschwindens von Misstrauen gegenüber Werksbesuchern träumten die Herausgeber der Zeitschrift Iron Age Mitte der 1890er Jahre sogar davon, dass eines Tages die Werkstore nicht mehr mit einem Schloss versehen werden müssten.39 Eine Bedingung hierfür war, dass mit dem zunehmend akkumulierten Wissen über die Industrien anderer Länder auch das Verständnis dafür stieg, dass Technologietransfers komplexe Prozesse sind. So hieß es etwa im Kommentar der Zeitschrift zum Thema Werks­ besuchen: »We understand perfectly that business methods are not the same, and also that while there is the same sharp rivalry there is not the old feeling of distrust of one’s neighbors.«40 Die Möglichkeit von Werksbesuchen war demnach nicht kennzeichnend für ein Nachlassen des Wettbewerbs. Vielmehr ermöglichte das international geteilte und verbreitete Wissen über die Hüttenindustrien anderer Länder im Zusammenspiel mit einem allgemein gestiegenen Wissen über internationale ökonomische Prozesse eine differenziertere Sicht: dass es nämlich nicht so ohne Weiteres möglich sei, Verfahrenstechniken einfach zu kopieren, weil man inzwischen wisse, dass in den einzelnen Ländern jeweils unterschiedliche Produktionsbedingungen zu Grunde lägen.41 37 Alexander Holley (1832–1882), Ingenieur und Pionier der US-amerikanischen Flussstahlherstellung, sandte eine Serie von Untersuchungen über die europäische Hüttenindustrie nur an seine Kunden innerhalb des »Pools« der Bessemer Association. »This is one of a series of papers which I am putting into print, not as a publication, but simply for the convenience of my clients.« Holley, S. 1. Vgl. auch Misa, S. 20 f. Johnstons Nachlass enthält eine Fülle von Berichten über europäische Verfahren zur Panzerplattenproduktion, die auf einem Lizenzerwerb beruhten. Vgl. Hagley Museum and Library, Bethlehem Steel Corp, Executive Officers (Accession 1699), box 27, Archibald Johnston’s Trip to Europe, 1908. 38 Wedding, S. 328; o. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 21. December 1890, S. 36; Puppe, S. 2125. 39 O. V., Should Manufacturers Admit Visitors?, S. 955. 40 Ebd., S. 954. 41 Vgl. zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als tertium von Vergleichspraktiken Kapitel 5 dieser Arbeit.

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Dass besonders innovationsstarker Unternehmen im Zweifel vom Ideal der offenen Werkstore wieder abrückten, zeigt das Beispiel Großbritannien: Der US -Hütteningenieur Alexander Holley, der maßgeblich für die Einführung des Bessemerverfahren in den USA war, schrieb Ende der 1870er Jahre: Bolckow Vaughan & Co. have at last become much embarrassed by c­ onstant visitations, expert and inexpert, and by newspaper reports; they also begin to object to working out the new process for their rivals; hence they have lately made an order that no one can visit their works on any pretend.42 Das britische Unternehmen schien also bei der Frage des Abwägens von Kosten und Nutzen des freien Austauschs aufgrund aktueller Erfahrungen vor allem Nachteile zu sehen. Neben der Stellung der Unternehmen waren es auch wirtschaftliche Krisen und politische Konfliktlagen, die zu einer Anpassung der Werkstorpolitik führten  – was wiederum Auswirkungen auf die Konkurrenzpraktiken hatte. In Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 handhabten US Unternehmen den Werkszutritt restriktiver. Deutsche Unternehmen, die sich insbesondere ab Mitte der 1920er Jahre in ihrer Selbst- und Fremdbeobachtung stark an der US -Industrie orientiert hatten, setzten in Reaktion darauf erneut auf verdeckte Methoden der Konkurrenzbeobachtung, indem sie Fachleute als Angestellte und Hüttenarbeiter getarnt einschleusten.43 Es zeigt sich also, dass Industriespionage auch unter den Bedingungen eines weitgehend freien Austauschs nicht gänzlich verdrängt wurde, sondern insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten oder bei direkten Konkurrenzkonstellationen zwischen Unternehmen reaktiviert werden musste. Die »Politik der offenen Werkstore« begünstigte vor allem, dass sich die offizielle Studienreise endgültig zu einem wichtigen Motor der internationalen Vernetzung und Beobachtung entwickeln konnte. Die Studienreise war aus 42 In diesem Fall konnten Beobachtungen besonders wertvoll sein; sie konnten allerdings erst nach einem anstrengenden Arbeitstag mit von der harten Hüttenarbeit beeinträchtigten Händen zu Papier gebracht werden. Vgl. Hagley Museum and Library, Archibald Johnston Collection (Accession 1770), box 16, folder 3, Holley to Helton, 20.7.1879, S. 1 f. 43 TkA A/5067, Goebel an Bartscherer, 14.5.1929, S. 3–5. Goebel arbeitete als zweiter Schmelzer an einem Siemens-Martin-Ofen bei den Duquesne Steel Works. Hier erlangte er viele wertvolle Einblicke, aber diese besonders ertragreiche Form des »Werksbesuchs« zog wiederum neue Probleme nach sich: »Ich bitte meine schlechte Schrift freundlich zu [!] entschuldigen zu wollen, da meine zarten Hände von der rauhen Arbeit etwas derangiert sind.« Ebd., S. 5.

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den drei zuvor üblichen bürgerlichen Reisetypen entstanden – aus der Bildungs- und Gesellschaftsreise, der Ausbildungsreise und der als Geschäftsreise getarnten Industriespionage.44 Abram S. Hewitts Reisebericht über die europäischen Eisen- und Stahlindustrien entstand noch überwiegend auf Basis der Beobachtungen, die er in den Ausstellungshallen der Pariser Weltausstellung im Jahr 1867 getätigt hatte.45 Hermann Wedding besuchte zwar im Jahr 1876 die Weltausstellung in Philadelphia, konnte darüber hinaus jedoch anschließend durch die maßgeblichen »Eisendistricte« der »nordöstlichen Staaten« reisen und deren Werke besichtigen.46 Weddings 106-seitiger, mit Karten, Skizzen und Statistiken angereicherter Bericht erschien noch im selben Jahr in der Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen und diente dazu, die nordamerikanische Industrie hüttentechnisch in ihrer ganzen Breite zu vermessen, um der deutschen Fachwelt einen ersten »Überblick« über die wirtschaftlichen Bedingungen, Produktionstechnik und -kultur der US -Industrie zu verschaffen. Als »Zweck« der Reise gab Wedding schlicht »das Studium des dortigen Eisenhüttenwesens« an. Er widmete sich den Rohstoffen (Eisenerze und Brennmaterialien, ihr geographisches Vorkommen und ihre Förderung / Verarbeitung), der Roheisenerzeugung (Produktionszahlen, Konstruktion der Öfen, Spiegeleisenöfen, Selbstkosten), der einzelnen Stahlerzeugungsverfahren (Schmiede- und Schweißeisen, Bessemerverfahren, Tiegelgussstahlverfahren). Dabei interessierte er sich besonders für die räumliche Anordnung der Produktionsaggregate in den dortigen Bessemerwerken, den Materialverbrauch und die Zahl der Arbeiter. Wedding zielte mit seinem Reisebericht damit auf eine möglichst umfassende Gesamtschau der vorgefundenen Industrie.47 Die internationale Vernetzung war Ausdruck eines unter Fachleuten der Industrie geteilten Bewusstseins, zu einem großen Ganzen der Eisen- und Stahlindustrie zu gehören. Einerseits war hierfür das Branchenethos der 44 Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 73. Vgl. zur Sozialund Kulturgeschichte des Reisens des europäischen Bürgertums um die Jahrhundertwende: Schmidt, S. 58–81. 45 »In the preparation of this report, in order to bring it within reasonable limits, the general principle has been adopted of attempting only to describe specimens of ­material, machinery, and processes of manufacture, which differ substantially from the experience of the United States«. Hewitt, The Production of Iron and Steel, S. 2. Hewitts veröffentlichter Bericht entstand wie Weddings Aufsatz im staatlichen Auftrag. 46 Wedding, S. 328. 47 Ebd.; siehe zu Weddings Vergleichspraktiken in seinem Bericht hinsichtlich der Produktionstechnik und -kultur genauer Kapitel 5.1 dieser Arbeit.

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»Hüttenmänner« bzw. »iron masters« ausschlaggebend. Die Branchenakteure betrachteten sich insbesondere vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs als einer international über Sozialkapitalbeziehungen vernetzten Gruppe zugehörig.48 Wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, knüpften insbesondere die technischen Vereine Kontakte und organisierten Studienreisen sowohl von etablierten Fachleuten als auch von Nachwuchsingenieuren. Überdies wurde dieses länderübergreifende Branchenethos auf internationalen Tagungen inszeniert und zelebriert. Andererseits und damit eng verbunden sahen die Studienreisenden, dass »die« Eisen- und Stahlindustrien der einzelnen Länder sowie »ihr« Markt ein weltumspannender ökonomisch zusammenhängender Kosmos waren, der den gleichen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterlag. Dies zeigte sich den Zeitgenossen insbesondere in Folge der »Großen Depression« von 1873. Wedding sah sich in den USA unter den weiterhin wirksamen Folgen der Wirtschaftskrise in Deutschland und Europa mit einer »mindestens ebenso ungünstig[en]« wirtschaftlichen Lage auf der anderen Seite des Atlantiks konfrontiert. Er folgerte, »dass die Gründe nicht in einzelnen Einrichtungen[,] sondern in allgemeinen socialen Verhältnissen zu suchen sind«. Wedding sah also die Branche dies- und jenseits des Atlantiks von gleichen bzw. miteinander verbundenen ökonomischen Prozessen beeinflusst und stellte somit fest, dass die wirtschaftlichen Krisensymptome in beiden Ländern »gleichen Ursachen« geschuldet seien.49 Es zeigt sich hier, dass die Weltausstellungen – im Zusammenspiel mit den Studienreisen – die internationale Vergleichbarkeit und das Bewusstsein der Branchenakteure der einzelnen Länder verstärkten, zu einem zusammenhängenden Ganzen »der« Eisen- und Stahlindustrie und »des« Weltmarktes zu gehören.50 Vergleichspraktiken bezüglich verschiedener Aspekte der Hüttenproduktion erschienen auf dieser gemeinsamen Grundlage sinnvoll, um sich technologisch und ökonomisch zu orientieren. Es ist also vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass Weddings Bericht den Beginn einer in unterschiedlichen Konjunkturen verlaufenden, aber konstanten vergleichenden Auseinander-

48 »Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« Bourdieu, 190 f. 49 Wedding, S. 486. Hervorhebungen im Original. 50 Vgl. zu dieser Perspektive auf Wahrnehmungen des Weltmarktes: Bühler u. Werron.

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setzung deutscher Fachleute mit der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie markiert, die im Einzelnen Thema der folgenden Kapitel sein wird. Trotz dieses länderübergreifenden Bewusstseins war die Beobachtungsintensität unterschiedlich ausgebildet – je nach Stellung und Selbstbild der Unternehmen und Branchen in der internationalen Konkurrenz. So waren ausführliche Berichte US -amerikanischer Fachleute über die deutsche Industrie weitaus seltener als andersherum.51 Die relativ niedrige Beobachtungsintensität der deutschen und europäischen Industrie durch US -Fachleute war Ergebnis einer starken Binnenmarktorientierung, die wiederum aus der binnenwirtschaftlichen Verdrängungskonkurrenz, den Zollmauern sowie dem großen US -amerikanischen Binnenmarkt resultierte. Wie in Kapitel 5.2 dieser Arbeit noch zu zeigen sein wird, waren die relative Selbstbeschäftigung und das ihr zu Grunde liegende Selbstbild der US -Branche einem Vergleichsergebnis geschuldet, das sich zu einem Selbstbild verfestigte: Die US -Industrie begriff sich demnach weitaus weniger als Teil der Weltmarktkonkurrenz als etwa die deutsche. US -Produzenten sahen sich dadurch weniger gezwungen, durch transnationale Selbst- und Fremdbeobachtung die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, um auf Exportmärkten bestehen zu können. Das bedeutete jedoch keinesfalls, dass die US -Branche nicht am internationalen Austausch partizipierte: US -Hersteller, die bestimmte Verfahrenstechniken aus anderen Ländern in den USA einführen wollten, waren hierfür ebenfalls auf Studienreisen und Werksbesuche angewiesen. Der Nutzen von Werksbesuchen lag darin, dass Fachbesucher Produktionsanlagen und Verfahrenstechniken im sozialen und räumlichen Zusammenhang beobachten sowie entsprechende Daten und Material zu Produktionstechnik, Materialverbrauch etc. sammeln konnten – insbesondere, wenn es darum ging, technologische Defizite aufzuholen oder technische Verfahren zu übernehmen. Dies war besonders im Bereich der Walzwerkstechnik zu beobachten. Ins51 Erst um die Jahrhundertwende legte Charles Kirchhoff einige umfassende Berichte über die europäischen Industrien vor, die in der Zeitschrift Iron Age erschienen. Diese waren aber bezeichnenderweise in dem Impetus verfasst worden, dass sich die US-Hüttenindustrie trotz Zollschranken und Binnenmarktorientierung nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigen dürfe und die europäischen Industrien genauer beobachten müsse. Vgl. die gesammelten Berichte in Kirchhoff, Notes On Some European Iron Making Districts. Kirchhoff bemängelte etwa, dass die US-Industrie immer noch Großbritannien als wichtigsten Konkurrenten betrachte, während die deutsche Branche sich unbemerkt anschicke, die britische Industrie hinsichtlich der Produktionszahlen zu überholen. Vgl. auch ders., The Iron Industries of Germany [in Forts.], S. 3. Vgl. zu den statistischen Leistungsvergleichen Kapitel 3 dieser Arbeit.

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besondere bei Panzerstahlplatten für den Schiffbau wiesen die US -Unternehmen in den 1880er Jahren Defizite auf. Charles Schwab (1862–1939), zu dieser Zeit noch bei Andrew Carnegies (1835–1919) integriertem Hüttenwerk Homestead Works bei Pittsburgh beschäftigt, war eine zentrale Figur der Einführung der Produktion von Panzerplatten des Unternehmens und später maßgeblich beteiligt am Aufstieg von Bethlehem Steel zum wichtigsten US -Rüstungsunternehmen. Während er schon im Jahr 1886 in diesem Zusammenhang erstmals europäische Werke besuchte, konnte das Unternehmen Carnegie, Phipps and Co. den ersten Vertrag mit der US -Regierung über die Produktion von Panzerplatten für Kriegsschiffe abschließen. Dennoch blieb das Armor Plate Department der Homestead Works aus unterschiedlichen Gründen ein Sorgenkind des Unternehmens: Neben Nachwehen blutiger Arbeitskonflikte waren es produktionstechnische Probleme und konjunkturelle Einbrüche im Jahr 1893, die Schwab, inzwischen zum »General Superintendent« des Werks befördert, immer wieder nach Europa reisen ließen, um zumindest die verfahrenstechnischen Probleme im eigenen Werk lösen zu können.52 Konfrontiert mit den Werken in Sheffield, die in Bezug auf hochqualitative Stähle und aufgrund ihres gut gehüteten Praxiswissens immer noch führend waren, schrieb Schwab an seinen Vorgesetzten Henry Clay Frick: At Sheffield I went through all the Armor Plate works and spent a whole afternoon at Vickers [Limited; TM] a place you know where they never allow visitors and especially Americans […]. Everything so new and strange, but still my thoughts will wander back to old Pittsburgh and our great works and make me look forward pleasantly to the time for returning. Rest assured the cost of this vacation will be repaid many times over. There is big work ahead of us at Homestead [Works; TM] this year yet and I am anxious to get at it.53 Schwab verglich demnach automatisch schon während seiner Beobachtung die englische Herstellung von Panzerplatten mit seinem eigenen Referenzsystem betrieblicher Abläufe, das von »old Pittsburgh« und dem Homestead52 Warren, Industrial Genius, S. 11, 29–80. 53 A&SC University of Pittsburgh Library System, Henry Clay Frick Business Records, 1862–1987 (AIS.2002.06), box 10, folder 2, Charles M. Schwab to Henry Clay Frick, 5.8.1893.

Von der Industriespionage zur fachoffiziellen Studienreise

Werk seines Unternehmens geprägt war. Ihm offenbarte sich im englischen Werk eine Dialektik aus Bekanntem und Anderem bzw. Neuem und Besserem. Diese motivierte ihn, die Produktionsabläufe im heimischen Werk unmittelbar an das britische Vorbild anzupassen. Vergleiche des eigenen Produktionsstands mit der Technik in innovativen Werken erweckten das Bewusstsein für mögliche betriebliche Verbesserungen und ließen die wirtschaftliche Zukunft des eigenen Werks und Unternehmens unmittelbar in einem besseren Licht erscheinen. Damit dienten Vergleichspraktiken, die im Zuge von Werksbesuchen durchgeführt wurden, der technischen und ökonomischen Orientierung in Gegenwart und Zukunft, wodurch der ökonomische Wandel vorangetrieben wurde. Werksbesuche waren ein wichtiger Ort und eine ebensolche Quelle von Inspiration durch die (selbst-)vergleichende Auseinandersetzung mit einer »anderen« Produktionskultur. Der Ablauf von Werksbesuchen und das dabei übliche Sammeln von Daten und Materialien zur werksspezifischen Produktion von Eisen und Stahl waren in den einzelnen Unternehmen ganz unterschiedlich reglementiert und abhängig von der Stellung des Besuchers selbst. Es machte einen Unterschied, ob die Fachleute als Unternehmensvertreter von Konkurrenten oder als staatliche Beamte reisten, ob es sich um renommierte Fachleute oder junge Hütteningenieure auf Studienreise handelte. Selbst wenn Studienreisende nicht Abgesandte direkter Konkurrenzunternehmen waren, mussten sie über Sozialkapital verfügen, Kontakte und Beziehungen im bereisten Land haben, gerade um in die Produktionsbetriebe vorgelassen zu werden. Wedding erhielt bei seiner anlässlich der Weltausstellung 1876 durchgeführten USA-Reise nicht nur Zutritt zu Hüttenwerken, sondern wurde von seinen Gastgebern auch mit schriftlichem Material versorgt. Wie er berichtet, wurde er mit »Kartenwerken, Plänen und Schriften« ausgestattet und erfuhr von Seiten der Werksbesitzer »das Entgegenkommen in Mittheilung aller wünschenswerthen Notizen«, sodass es für ihn möglich wurde, »in einer zu der Ausdehnung des Landes verhältnissmässig kurzen Zeit einen Ueberblick zu gewinnen, auf dessen Grundlage ein Bild von dem gegenwärtigen Zustande der nordamerikanischen Eisenindustrie gegeben werden kann«54. Otto Pufahl, wie Wedding Professor für Hüttenkunde, bezeichnete solche Kontakte als unabdingbare Voraussetzung für den Zutritt zu besonders aufschlussreichen Unternehmen: »Einigen gewichtigen Empfehlungsbriefen, be-

54 Wedding, S. 328.

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sonders aber der großen Güte zweier einflußreicher Herren in der American S­ melter & Refining Co. […] habe ich es zu danken, daß ich Zutritt zu einer großen Zahl hochinteressanter Werke fand.«55 Im Werk angekommen, fanden die Besuche in der Regel unter der Führung von Mitgliedern der Werksleitung statt. Seltener durften sich die Besucher auch frei bewegen, wie es Bernhard Osann berichten konnte: »Ich erhielt morgens meinen Paß und konnte nun, da ich Fachmann war, ohne Führung in den Werken herumstreifen, mich dort aufhalten, wo ich es für angemessen hielt, und auch Fragen an Beamte und Meister stellen.«56 Eine solche kaum reglementierte Besuchspraxis war aber sicherlich die Ausnahme. Besucher sahen sich zudem oftmals mit dem methodischen Problem konfrontiert, wie die getätigten Beobachtungen gesammelt und memoriert werden konnten. Auch diesbezüglich waren die Regularien in den Werken sehr unterschiedlich. Wedding als international anerkannter Fachmann etwa lobte »die reichen Hülfsmittel«, die er »von Seiten des amerikanischen Vereins von Berg-Ingenieuren« erhielt. Die besuchten Unternehmen gaben ihm ebenfalls Auskunft zu seinen Fragen.57 Dies war aber nicht immer und überall der Fall: Überlieferte Notizbücher enthalten häufig sichtlich hastig angefertigte Notizen und Zeichnungen.58 Meist jedoch war es gar nicht erst erlaubt, Notizen, Zeichnungen oder gar Fotografien vor Ort anzufertigen: Zwar durfte Osann wie erwähnt durch das besuchte Werk streifen, »[a]llerdings war es ausgeschlossen, Notizen und Skizzen zu machen, was ja begreiflich erscheinen wird«59. Am Ende der Studienreisen standen meist systematische Reiseberichte, die Werks- und Anlagenbeschreibungen enthielten  – nicht selten mit detaillierten Plänen, Skizzen und Fotografien von Werksanlagen,

55 Pufahl, S. 453. Die persönliche Stellung konnte einen privilegierten Zugang gewährleisten. Dies war für deutsche und US-amerikanische Fachleute gerade in Bezug auf Verfahren hochqualitativer Stahlherstellung britischer Werke von Interesse: In einer Zeit, als Bolckow & Vaughan & Co. ihre Werkstore weitgehend für Besucher geschlossen hatten, erhielt Alexander L. Holley weiterhin exklusiven Zugang: »My relations, however, with Mr. Richards the Gen. Manager, put me on a different footing. I saw as much as I needed to see.« Hagley Museum and Library, Archibald Johnston Collection (Accession 1770), box 16, folder 3, Holley to Helton, 20.7.1879, S. 1 f. 56 Osann, S. 199. 57 Wedding, S. 328. 58 Hagley Museum and Library, Archibald Johnston Collection (Accession 1770), box 21: Calculations & General Notes to Inspection Trips – Foreign. 59 Osann, S. 199.

Von der Industriespionage zur fachoffiziellen Studienreise

die entweder unternehmensintern verwendet wurden oder ihren Weg in die Fachöffentlichkeit fanden.60 Neben den produktiven Effekten von Werksbesuchen berichteten die Branchenakteure also immer wieder von grundsätzlichen methodischen Problemen – diese gilt es bei aller Idealisierung der Politik der offenen Werkstore zu beachten. Hermann Wedding etwa wies darauf hin, dass »trotz der den [!] Amerikaner zum höchsten Lobe gereichenden Offenheit« eine gewisse Passivität auf Seiten seiner Gastgeber vorherrschte. Diese gaben Wedding zufolge höchstens auf Nachfrage Informationen über problematische Aspekte preis und verschwiegen all jene Mängel, »die der Besucher nicht selbst bemerkte«61. Die Unternehmen versuchten sich vor allem in ein gutes Licht zu rücken und möglichst wenig Informationen oder gar Werksgeheimnisse preiszugeben. Damit wurde eine abschließende Beurteilung aus Sicht der Besucher jedoch nicht selten erschwert. Eine weitere häufig angewandte Praxis bestand darin, zwar Verfahrensweisen im Werk zu zeigen und bestimmte Daten zu nennen oder in schriftlicher Form herauszugeben, den Besuchern kontextualisierende Informationen jedoch vorzuenthalten. So problematisierte Erwin Nasse, wobei es für ihn sehr schwierig gewesen sei, die »Fortschritte und Verbesserungen in der [englischen; TM] Stabeisenfabrikation« abschließend zu beurteilen. Denn »häufig dagegen [ist] ein in der einen Beziehung nachweisbarer Vortheil mit Nachtheilen in anderen Beziehungen verbunden«. Der in Nasses Fall aus deutscher Sicht besonders interessante und aus Sicht des englischen Werks besonders problematische Aspekt bestand im »ökonomischen Werth« der verfahrenstechnischen und technologischen Neuerungen. Es war Nasse nicht möglich »die Erhöhung des Geldwerthes des Productes«, also die Selbstkosten, abzuschätzen, weil dies als »Werksgeheimnis« gehütet wurde.62 Werksbesuche bedeuteten unter kapitalistischen Bedingungen und bei allem Nutzen für die Fachleute also keineswegs völlige Transparenz, auch wenn der offene Austausch zwischen Konkurrenten gepflegt wurde. Dies galt insbesondere für so sensible Daten wie Selbstkosten.

60 Vgl. den für die unternehmensinterne Verwendung angefertigten Bericht über Werksbesuche mit Blick auf die Panzerplattenproduktion und die Übernahme europäischer Lizenzen: Hagley Museum and Library, Archibald Johnston Collection (Accession 1770), Notes on Armor Plate 1897, box 18, folder 2a. 61 Wedding, S. 328. 62 Nasse, S. 1 f.

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Neben dem Wettbewerb konnten auch nationale Repräsentationsbedürfnisse den Weg zur Erkenntnis verstellen. Friedrich Glaser problematisierte diesen Aspekt im Zuge der USA-Gruppenreise des VDEh im Jahr 1890 wie folgt: Es tritt auf derartigen Reisen, bei welchen nach einem bestimmten Programm vorgegangen wird, bei welchem die Besucher schon seit Monaten zur bestimmten Stunde erwartet werden und bei welchen die Tugend der Gastfreundschaft sich überall in ihrem vortheilhaftesten Gewande zeigt, sehr leicht eine gewisse Einseitigkeit des Urtheils ein und zwar nach der Seite des Lobes und der Bewunderung. Es ist dieses die natürliche Folge der einem Jeden innewohnenden Dankbarkeit. Diese darf aber nicht in eine Sucht ausarten, das, was uns in so glänzendem Gewande entgegentrat, als die alleinige Norm unseres Urtheils aufzustellen. Das, was den fremden Eisenhüttenleuten geboten und gezeigt wurde, war in der Tat geeignet, in gewissem Maße den Neid derselben zu erwecken und die heimischen Verhältnisse theilweise in ein weniger glänzendes Licht zu setzen. Hier ist daher eine kühle und nüchterne Betrachtung dringend geboten und unter diesem Gesichtspunkte hat [der] Schreiber dieses absichtlich die Veröffentlichung der vorstehenden Reiseeindrücke verzögert; dieselben sollten eben nicht unter dem unmittelbaren Eindruck stehen, welchen die glanzvolle Fahrt auf alle ihre Theilnehmer ausgeübt hat.63 Glaser verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass insbesondere lange vorbereitete Gruppenreisen hinsichtlich des Erkenntnisgewinns problematisch seien, weil sie – ähnlich wie Weltausstellungen – eben keinen Einblick in die alltägliche Produktionspraxis der aufgesuchten Hüttenbetriebe ermöglichten. Darüber hinaus sah Glaser die Urteilsfähigkeit der Besucher getrübt, da man gegenüber den Gastgebern zu Dankbarkeit verpflichtet war. Die Unternehmen nutzten Werksbesuche weniger als Gelegenheit zum hüttentechnischen Austausch, sondern versuchten sie gezielt in den Dienst ihrer Außendarstellung zu stellen. Aus Sicht der technischen Vereine sollten die Unternehmen jedoch nicht den hüttentechnischen Nutzen von Werksbesuchen aus den Augen verlieren und versuchen, ihrerseits vom Wissen der Fachbesucher zu profitieren. Die

63 Glaser, S. 31 f.

Von der Industriespionage zur fachoffiziellen Studienreise

American Foundrymen’s Association vermerkte daher in Empfehlungsschreiben für ausländische Fachleute stets deren hüttentechnisches Spezialgebiet, damit die Werke von deren Expertise durch gezielte und vorbereitete Fragen profitieren konnten. Um Reziprozität gewährleisten zu können, fügte die Association auch an, dass der Besucher sich bereiterklärt habe, im eigenen Unternehmen bei Bedarf ebenfalls Werksbesucher zu empfangen.64 Unternehmen versuchten außerdem, Werbeeffekte durch Werksbesuche zu generieren, indem sie die teils gewaltigen Produktionsanlagen gegenüber ihren Gästen ganz bewusst inszenierten. International als regelrechte Pilgerstätte zu gelten, konnte hierbei hilfreich sein. Der Chefingenieur der Bethlehem Iron Co., John Fritz, dort u. a. verantwortlich für die Einführung des Bessemerverfahrens in den 1860er Jahren, erinnerte sich in seinen Memoiren, dass in der frühen Phase das Stahlwerk in Bethlehem aufgrund seiner Größe und teschnologischen Fortschrittlichkeit als »Mekka« für Fachleute galt und die Stellung eines »unvergleichlichen« Unternehmens innehatte.65 Auch das Beispiel Krupp steht für solche gezielten Selbstinszenierungen. Besonders unter der Leitung Alfred Krupps förderte das Unternehmen bewusst den eigenen, über die deutschen Landesgrenzen weit hinausstrahlenden Mythos. All dies, so sahen es schon zeitgenössische Besucher, diente dem Ziel, sich gegenüber einer breiten Öffentlichkeit stets als integriertes Großunternehmen zu inszenieren, das den gesamten komplexen schwerindustriellen Produktionsprozess gesamtheitlich beherrsche: vom Stück Kohle über die Produktion von Roheisen und die Weiterverarbeitung zu Stahl und Walzprodukten bis hin zum fertigen Endprodukt.66 Den politisch Mächtigen nicht nur des eigenen Landes, sondern auch Gästen wie Fachbesuchern aus

64 »If the American is wise, he will welcome his European visitor and discuss points of practice with him. Both will be the gainers thereby. Those of our members [of the American Foundrymen’s Association; T. M.] who have received foreign visitors with letters coming from this office will have noticed that reference is made to the specialty the visitor is expert in, and that it is advised to take advantage of this. Further, of recent times these letters have contained the clause that the visitor has expressed his willingness to extend reciprocal courtesies in his own plant.« Moldenke, S. 384. 65 »Altogether, they made a fine show, and were for some years a Mecca for the iron men to visit. There was nothing in the world in the way of an iron plant that could be compared with the Bethlehem Works.« Fritz, S. 141. 66 Hagley Museum and Library, Lukens Steel Company records (Accession 0050), box 2040, European Steel Works – Inspection Trip 1928, Part I, Report of Trip of M. J. Conway and J. S. Huston to Steel Plants in Germany, France, Cheko Slovakia [!] and Great Britain, 1928, S. 39.

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der ganzen Welt ebenso Zutritt zu den eigenen Werkshallen in Essen zu gewähren, spielte hierbei eine wichtige Rolle.67 In der Zwischenkriegszeit war dieses Vorgehen bei Krupp weitgehend in die professionelle Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens integriert: Mehrsprachige Mitarbeiter waren für die Werksführungen verantwortlich; Werksfilme informierten über Produkte, Werksanlagen und Unternehmen; Produkte wurden in der eigenen Werksausstellung gezeigt.68 Werksbesuche gezielt in das Marketing der Unternehmen zu integrieren, dafür plädierte die Zeitschrift Iron Age bereits Mitte der 1890er Jahre. Denn stellten die Besucher die betrieblichen Abläufe eines Unternehmens in den Fachzeitschriften in ein gutes Licht, konnten auch mögliche Kunden sicher sein, dass in einem solchen Werk qualitativ hochwertige Produkte hergestellt wurden.69 Die Unternehmen nutzten schließlich besondere Anlässe wie Gruppenreisen in repräsentativer Weise, um sich vor ausländischen Gästen in ein günstiges Licht zu rücken. Bei der Gruppenreise der britischen und deutschen Fachleute durch die USA im Jahr 1890 überreichten die US -Unternehmen ihren europäischen Besuchern Broschüren mit bebilderten Informationen zur Werksgeschichte, zu Produktionsprogrammen und zu den gegenwärtigen Werksdaten.70 Manche Werke inszenierten sich dabei so geschickt, dass die deutschen Besucher hinterher bewundernd feststellten: »Zu den großartigsten Werken auf dem ganzen Erdboden gehören unstreitig die Edgar Thomson Steel Works and Blast Furnaces der Firma ­Carnegie Bros & Co. bei Pittsburg [!].«71 Bei einem späteren Besuch inszenierte sich die gesamte Stadt Pittsburgh als Produktionsverbund von Unternehmen hinsichtlich der Eisen- und Stahlproduktion als mit Abstand produktivste Stadt der Welt, die das Produktionsniveau ganzer Staaten erreicht habe – während sich die Stadt noch Ende der 1860er Jahre als das »neue Sheffield« betrachtete.72 Insofern zeigt sich, dass die Unternehmen und die 67 HAK WA 4/1995, Fremdbesuche bei Fried. Krupp 1882–1905. 68 Hagley Museum and Library, Lukens Steel Company records (Accession 0050), box 2040, European Steel Works  – Inspection Trip 1928, Part I, Report of Trip of M. J. Conway and J. S. Huston to Steel Plants in Germany, France, Cheko Slovakia [!] and Great Britain, 1928, S. 39. 69 O. V., Should Manufacturers Admit Visitors? 70 Phoenix Iron Company. 71 O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 21. December 1890, S. 17. 72 Chamber of Commerce. Hierin finden sich Produktionsstatistiken, die den Pittsburgh District mit ganzen Staaten vergleichen. Vgl. zudem die aufwendige Broschüre über das Programm und die Ausflüge und Werksbesuche Iron and Steel Institute, Visit of

Von der Industriespionage zur fachoffiziellen Studienreise

nationalen bzw. regionalen Branchenverbünde in zweifacher Hinsicht von der »Politik offener Werkstore« profitieren konnten: Zum einen profitierten sie von dem Wissen, das Fachleute in ihren Reiseberichten zusammentrugen und in der Fachöffentlichkeit verbreiteten. Zum anderen ermöglichten Werksbesuche eine marketingstrategische Inszenierung der Unternehmen, die insbesondere ihre Werke und Produktionsanlagen zum Gegenstand hatte.73 Studienreisen und Werksbesuche waren aber nicht nur für die unmittelbar beteiligten Akteure und die Unternehmen bedeutsam. Denn die Reflexionen der Fachleute wurden oftmals publiziert. Insbesondere die Fachzeitschriften waren ein wichtiges Medium der Selbst- und Fremdbeobachtung nationaler Branchen und förderten die Vernetzung des Wissens der nationalen Branchen übereinander. In Deutschland etablierte sich in diesem Zusammenhang die 1881 gegründete Verbandszeitschrift des VDEh Stahl und Eisen recht bald als wissenschaftlich-technisches Zentralorgan der deutschen Industrie – was sie bis heute ist. Sie stellte sich die Aufgabe, »alle wichtigen technischen und wirthschaftlich-technischen Fragen auf dem Gebiete der Eisen- und Stahlindustrie eingehend zu erörtern«, wie es im Vorwort der ersten Ausgabe hieß.74 Von Beginn an spielten hüttentechnische und ökonomische Entwicklungen in anderen Ländern dabei eine zentrale Rolle. Die Zeitschrift war allerdings keineswegs das erste deutsche Periodikum, das über die Entwicklungen in anderen Ländern berichtete: Während in der seit 1854 erscheinenden staatlichen ZBHSW überwiegend mit Hilfe ausführlicher fachoffizieller Reiseberichte von Hüttenmännern im Staatsdienst über die Industrien anderer Länder berichtet wurde, stellte die Zeitschrift Stahl und Eisen die Beobachtung der ausländischen Konkurrenz hinsichtlich Aktualität, Breite und der fachwissenschaftlichen Tiefe auf eine neue Stufe. Schon ihre erste Nummer verdeutlichte die internationale Dimension des wissenschaftlich-technischen Austauschs: Die ausländische Konkurrenz wurde nicht nur hinsichtlich ihrer konjunkturellen Entwicklung beobachtet – darüber hinaus wurden auch in Form von Presseschauen Berichte über aktuelle wirtschaftliche, wirtschaftspolitische und technologische Entwicklungen übersetzt, the Iron and Steel Institute. »In 1867 the Pittsburgh Gazette predicted correctly that the city was likely to become ›the Sheffield of this continent in this particular‹.« Tweedale, S. 228. 73 Vgl. zu den Auswirkungen einer derart ausgeprägten Produktionsorientierung auf das Marketing Kapitel 4.3 dieser Arbeit. 74 O. V., Vorwort, S. 2.

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gebündelt und kommentiert. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere von Vorträgen, Tagungen und neu erschienenen Büchern berichtet. Hinzu kamen längere Analysen der Produktionstechnik und -kultur anderer Länder, die fortan zum Repertoire der bald auch international renommierten Zeitschrift gehörten. Vor allem durch ihren akademischen Stil hob sich die Zeitschrift Stahl und Eisen von den stärker an der hüttentechnischen Praxis orientierten britischen Zeitschriften ab.75 Wie weit das Wissen über Fachleute und Medien zu Beginn der 1880er Jahre bereits vernetzt war, beschrieb der deutsche Hütteningenieur Gustav Klüpfel eindrücklich: Das Decemberheft 1882 von [der Zeitschrift; TM] ›Stahl und Eisen‹ brachte einen interessanten Vortrag von L[owthian] Bell [britischer Metallurg; TM] über die Betriebsresultate schwedischer und österreichischer Holzkohlen-Hochöfen im Vergleich mit denen der großen englischen Kokshochöfen im Cleveland-District. Der verdienstvolle englische Eisenwerksbesitzer [Bell; TM] sucht uns hier an neuen Beispielen die Richtigkeit seiner Hochofen-Theorie nachzuweisen, wie er dieselbe schon vor 14 Jahren in seinen Vorträgen im Englischen Eisen- und Stahl-Institut den Fachgenossen vorgelegt hat. Diese Vorträge wurden bekanntlich schon damals von dem österreichischen Nestor der Eisenhüttenkunde, Peter Tunner, in die deutsche Literatur eingeführt und fanden vielfachen Wiederhall bei französischen, schwedischen und amerikanischen Metallurgen – in Deutschland verhältnißmäßig noch am wenigsten.76 An dieses transnationale Wissen konnte Klüpfel anknüpfen und verfasste auf dieser Basis eine vergleichende Analyse über die Betriebsresultate deutscher und britischer Hochöfen. Somit zeigt sich angesichts des zuvor Diskutierten, dass die zunehmende internationale Konkurrenz und die Wahrnehmung unterschiedlicher Produktionsniveaus nicht länger zu Abschottung und Industriespionage führten  – vielmehr setzte sich auf Basis der Idee der »freien Konkurrenz« der grundsätzliche und institutionell abgesicherte Wille zum hüttentechnischen 75 Vgl. zu den unterschiedlichen Ausrichtungen des Fachschrifttums und der Debattenkultur zwischen praktischer Orientierung in Großbritannien und wissenschaftlicher Prägung in den kontinentaleuropäischen Ländern: Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 22. 76 Klüpfel, S. 654.

Technische Vereine

Austausch durch. Das in der Expertenöffentlichkeit zusammengetragene Wissen über die Industrien der einzelnen Länder ermöglichte die sich entwickelnden transnationalen Vergleichspraktiken somit erst.

2.2

Technische Vereine zwischen binnenwirtschaftlicher Kooperation und Konkurrenz

Transnationales Vergleichen war keineswegs Selbstzweck, sondern hatte einen konkreten Marktbezug. Dieser bestand darin, dass die Produzenten durch kollektive Anstrengungen ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern wollten. Dafür standen vor allem die technischen Vereine, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und sowohl den nationalen als auch den internationalen Austausch institutionalisierten, der fortwährend im binnenwirtschaftlichen Spannungsfeld zwischen Konkurrenz und Kooperation stand. In Deutschland war der am 14. Dezember 1860 gegründete Technische Verein für Eisenhüttenwesen (TVEh) bedeutsam, aus dem zwanzig Jahre später der bekanntere VDEh hervorgehen sollte. Die Gründung stand in Zusammenhang mit der ersten Weltwirtschaftskrise (1857–1861), die die im Zuge des Eisenbahnbaus zunächst boomende Nachfrage jäh einbrechen ließ.77 Darüber hinaus sahen sich die deutschen Produzenten in einer schwierigen Wettbewerbsposition: Für die britische Industrie stellten die zu dieser Zeit noch niedrigen Zollschranken auf dem Gebiet des Deutschen Zollvereins kaum ein Hindernis dar. Aufgrund einer höheren Produktivität und Effizienz konnten sie zu weitaus niedrigeren Preisen produzieren und waren damit den deutschen Werken zu dieser Zeit noch weit überlegen. Diese Wettbewerbskonstellation ließ den Wunsch deutscher Produzenten entstehen, der ausländischen Konkurrenz durch einen binnenwirtschaftlichen Zusammenschluss besser begegnen zu können. Im Oktober 1860 legten die Techniker Leopold Hoesch (1820–1899), Reiner Daelen (1813–1887) und Jakob Kocher (1818–1875) in einem Rundschreiben an deutsche Hüttenwerke ihre Motivation zur Gründung des TVEh dar. Sie warnten darin mit Blick auf die »steigende Konkurrenz des Auslandes« vor einer weiteren »Verschlimmerung« der wirtschaftlichen Lage der deutschen Eisen- und Stahlindustrie. Deshalb sei es »dringend geboten, durch Vervollkommnung der Hüttentechnik und eine umsichtige und verständige Betriebsökonomie die in der Konjunktur 77 Maier, Zilt u. Rasch, S. 9.

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liegenden Nachtheile möglichst zu paralysieren«. Um aber »eine entsprechende Rentabilität des Eisengewerbes wiederzugewinnen, bedarf es mehr als der Bestrebung Einzelner. Nur ein festes und einiges Zusammenwirken der gesamten vaterländischen Eisenindustrie und eine Vereinigung aller Kräfte vermag diese Aufgabe zu lösen.«78 Die deutschen Unternehmen sollten demnach die ökonomische Krise überstehen, indem sie ihre Kräfte bündelten und gemeinsam ihre Konkurrenzfähigkeit verbesserten. Auf der Gründungsversammlung des Vereins wurden sein Zweck und die Praktiken des Austauschs in den Statuten konkretisiert. Der Verein zielte demnach auf die Ausbildung des praktischen Eisenhüttenwesens sowie die Vertretung und Wahrnehmung der Interessen dieser Industriezweige durch Korrespondenz, schriftliche und mündliche Vorträge, durch Besprechung und Sammlung von Erfahrungen, Versuchen, Erfindungen und Verbesserungen in dem Betriebe und der Oekonomie der Eisenhüttenwerke und Förderung des Verbrauchs von Eisen in allen Formen.79 Die deutsche Branche sollte also insgesamt durch eine unternehmensübergreifende nationale Kooperation und einen wechselseitigen Erfahrungsaustausch über technische und absatzspezifische Fragen in der Weltmarktkonkurrenz gestärkt werden. Durch diese Kooperation förderte der Verein die technische Entwicklung und professionalisierte die hüttentechnische Ausbildung.80 Innerhalb dieses Prozesses konnte sich zudem das rheinisch-westfälische Industrierevier weiter entfalten und profilieren, das nun zunehmend als zusammenhängendes sozioökonomisches Ganzes Konturen annahm.81 Das von Seiten der Initiatoren postulierte Ideal einer überbetrieblichen »Gemeinschaftsarbeit« von Konkurrenten innerhalb des Deutschen Zollver78 Zitiert nach: Schrödter, 50 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 4. 79 Ebd. 80 Neue Berufsbilder entstanden; Industriekarrieren, die sich bisher auf technisches Erfahrungswissen stützten, erfuhren eine Professionalisierung; technische Berufe waren zunehmend von akademischer Bildung geprägt. Vgl. zu diesem Prozess Maier. Zusammen mit der Gründung des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) im Jahr 1857 stand der TVEh für die Herausbildung des Berufs des Industrieingenieurs. Diese waren nun unabhängig vom Staatsdienst und emanzipierten sich hinsichtlich ihres gemeinwohlorientierten Selbstbildes zunehmend vom restlichen deutschen Bildungsbürgertum. König; Lundgreen. 81 Vgl. zum komplexen Zusammenhang von industrieller Raumgliederung und Raumbewusstsein in Bezug auf das Rheinland, Westfalen und das Ruhrgebiet: Ditt u. Tenfelde.

Technische Vereine

eins stieß jedoch auf Seiten der Mitgliedswerke zunächst auf Widerspruch. Einige von ihnen fürchteten um die Preisgabe von Wettbewerbsvorteilen. Dieses strukturelle Konkurrenzproblem wurde auch durch das weiterhin noch nicht gelöste Problem der Patentgesetzgebung verstärkt.82 Erst mit dem Reichspatentgesetz von 1877 wurden endgültig die Voraussetzungen für einen (inter-)nationalen Austausch durch einen regelbasierten Wettbewerb geschaffen.83 Die »Gemeinschaftsarbeit« des TVEh kreiste fortan um die Themen der hüttentechnischen Ausbildung, der Forschung und des Patentund Normwesens. Der Austausch deckte dabei viele Aspekte des Eisenhüttenwesens und der Stahlverarbeitung ab und blieb zunächst auf Tagungen und Vorträge begrenzt. Die turnusmäßige Arbeit bedeutender Vertreter in fachspezifischen Kommissionen und Ausschüssen, in denen kontinuierlich und unternehmensübergreifend agiert und deren Ergebnisse publiziert wurden, begann mit der Hochofenkommission im Jahr 1894.84 Die Produzenten tauschten sich jedoch keineswegs nur über anfallende Probleme der Produktion und des Absatzes aus: Von Beginn an waren die technischen Vereine ein Forum des überbetrieblichen Austauschs und der Wissensgenerierung der versammelten Produzenten über die ausländische Konkurrenz. Mit der Gründung des nun stärker verbandspolitisch ausgerichteten VDEh im Jahr 1881 erhielt der technische Verein mit der seit dem 1. Juli des Jahres monatlich erscheinenden Zeitschrift Stahl und Eisen nun jenes zentrale Medium der nationalen »Gemeinschaftsarbeit«, dessen wichtiges Aktionsfeld die Beobachtung der ökonomischen und hüttentechnischen Entwicklungen in anderen Ländern wurde.85 Gefördert wurde diese transnationale Beobachtung durch internationale Tagungen und Gruppenreisen zur Besichtigung der Hüttenindustrien anderer Länder, die die technischen Vereine seit Ende des 19. Jahrhunderts initiierten und organisierten. Insbesondere die im Jahr 1890 durchgeführte gemeinsame einmonatige Reise des britischen Iron and Steel Institute und des VDEh in die Vereinigten Staaten war für diesen Prozess ein bedeutsames Ereignis. Nachdem die US -amerikanischen Hüttenleute in den Jahren zuvor zu Tagungen und Gruppenbesichtigungen nach Europa aufgebrochen waren, hatten amerikanische Branchenvertreter schon zu Beginn der 1870er Jahre eine Einladung in die USA ausgesprochen, die aufgrund des enormen 82 83 84 85

Maier, S. 34–36. Gilgen. Maier, S. 36–39. Vgl. zur Gründung des VDEh aus dem TVEh Maier, Zilt u. Rasch, S. 9–12.

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Aufwandes einer solchen Gruppenreise nun erst realisiert werden konnte.86 So kamen Ende September 1890 nach und nach 295 Mitglieder des Iron and Steel Institute gemeinsam mit 142 Mitgliedern des VDEh in New York an und nahmen an der von der amerikanischen Branche organisierten Rundreise teil. Erst Ende Oktober reisten die Europäer wieder zurück. Fachlich waren vor allem die internationale Tagung in Pittsburgh und die anschließende Rundreise in die amerikanischen Industriedistrikte samt einer Fülle von Werksbesuchen wichtig. Während die 4000 Meilen umfassende »nördliche« Tour hüttenindustrielle Anlagen in Michigan, Ontario und der MarquetteRegion ansteuerte, führte die 4300 Meilen lange »südliche« Tour zu den bergund hüttenindustriellen Stätten in den Südstaaten. Diese Gruppenreise stach nicht nur hinsichtlich ihres Umfangs und der aufwendigen Organisation hervor.87 Sie hatte auch große Auswirkungen auf die Konkurrenzwahrnehmung der US -Industrie durch europäische Experten, die die USA nun endgültig als kapitalistisches Musterland und die US -Hüttenindustrie als ökonomisch stark und technisch innovativ betrachteten. Dies zeigte sich auch daran, dass sowohl die britische als auch die deutsche Industrie die einmonatige Reise in ihren technischen Vereinen ausführlich auswerteten.88 In zwei Sitzungen des VDEh im Dezember 1890 und im Januar 1891 trugen die Teilnehmer der Studienreise ihre Beobachtungen vor jeweils etwa 500 Mitgliedern und Gästen zusammen.89 Hermann Wedding hatte selbst an der Reise teilgenommen und maß ihr in diesem Rahmen einen

86 Braun, Von Amerika lernen?, S. 392 f. beschränkt sich auf die deutsche Überlieferung. Zwar waren erst im Jahr 1889 50 Mitglieder des AIME auf Einladung des VDEh zu einer Besichtigungsreise der rheinisch-westfälischen Eisen- und Stahlindustrie aufgebrochen und hatten ihrerseits eine Einladung ausgesprochen. Anders als Braun es hier darstellt, war der treibende Akteur der aufwendigen US-Besichtigungsreise jedoch das britische Iron and Steel Institute, wie es auch aus der unmittelbaren amerikanischen und britischen Überlieferung ersichtlich wird, die außerdem deutlich umfangreicher ist als die deutsche. 87 So erklärte James Kitson, Präsident des Iron and Steel Institutes: »That expedition was in many respects the most remarkable which the [Iron and Steel; TM] Institute ever undertook […]. Alike in the number of visitors, in the extend of territory visited, and in the number of works and mines examined, it was the largest expedition ever undertaken by the Institute, or by any scientific society in Europe.« Kitson, S. 626. 88 Vgl. für die britische Berichterstattung besonders: Iron and Steel Institute, The Iron and Steel Institute in America; Aspinall. 89 O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 21. December 1890; ders., Stenographisches Protokoll der HauptVersammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 11. Januar 1891.

Technische Vereine

»bedeutenden Einfluß […] auf die zukünftige Entwicklung des Eisenhüttenwesens in Deutschland« bei.90 Während die Hüttendirektoren Thielen und Hermann Brauns in ihren Vorträgen den Ablauf der Reise (Thielen) und »Allgemeine Mittheilungen über die nördliche Reise« (Brauns) vorausschickten, widmeten sich weitere Redner einzelnen Aspekten hüttentechnischer Produktion, etwa der »Stahlfabrication« oder dem »Hüttenmaschinenwesen« in den USA . Brauns resümierte in diesem Zusammenhang, dass die Beteiligten von der Studienreise »einen reichen Schatz der Belehrung und Anregung mitgebracht« hätten. Angesichts dieses umfassenden und anregenden Wissensfundus müsse der »altbewährte Grundsatz« gelten: »Prüfet Alles und wählet das Beste«.91 Tatsächlich folgten die Vorträge und Diskussionen diesem Prinzip: Beobachtungen über US -spezifische Aspekte wie die Dominanz des sauren Konverterverfahrens kontrastierten die Anwesenden mit örtlichen Gegebenheiten wie der Rohstofflage und den Löhnen in den Vereinigten Staaten. Darüber hinaus sollte bekanntes Wissen aus älteren Berichten aktualisiert und technische Neuerungen und Innovationen in der deutschen Fachwelt bekannt gemacht werden.92 Die technischen Vereine unterstützten zudem mit Schiff und Eisenbahn durchgeführten individuellen Studienreisen sowohl organisatorisch als auch fachlich.93 Der internationale Austausch sollte fester Bestandteil der Ausbildung von Hütten­ingenieuren werden. So wurden insbesondere von britischen Geldgebern in den Jahren nach der Jahrhundertwende Stipendien an junge in- wie ausländische Hütteningenieure vergeben. Als Ergebnis ihrer Studienreise mussten die Stipendiaten dafür eine umfassende vergleichende Analyse vorlegen, die in Buchform erschien.94 Ein Beispiel war das hoch dotierte »Andrew-Carnegie-Stipendium«. Carnegie hatte dem britischen Iron and Steel Institute, dessen Vorsitzender er zwischenzeitlich war, eine jährliche Summe von 100.000 Dollar zur Verfügung gestellt, um von diesem

90 O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 21. December 1890, S. 12. 91 O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 11. Januar 1891, S. 92. 92 In Bezug auf diesen Wissensstand wird mittels diachroner Vergleiche gefragt, ob sich seitdem etwas verändert habe; ebd., S. 106, 108. 93 Hermann Wedding etwa lobte in seinem Reisebericht von 1876 »die Vorzüglichkeit der von dem unermüdlichen Secretair [des AIME; TM] Neilson entworfenen Reiserouten« Wedding, S. 328. 94 Vgl. für die Zeit nach 1945 lediglich Braun, Von Amerika lernen?

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Geld einen oder mehrere Stipendiaten unter 35 Jahren zu finanzieren, ohne dass Geschlecht oder Nation dabei eine Rolle spielen sollten. Die Wahl des Ziels der Studienreise wurde den Stipendiaten überlassen. Das einjährige Stipendium sollte dem Zweck dienen, gerade ausgebildeten Fachleuten die Möglichkeit für Studien außerhalb der eigenen Produktionskultur einzuräumen. Die Ergebnisse der Studien mussten bei der Jahresversammlung des Instituts präsentiert werden; herausragende Leistungen wurden mit der goldenen Andrew-Carnegie-Gedenkmünze prämiert.95 Das Vergleichen zwischen nationalen Produktionskulturen rückte damit ins Zentrum des internationalen Austauschs. Hierfür war insbesondere das zweijährige Stipendienprogramm der Universität Manchester ein Beleg: Männliche britische Bewerber zwischen 18 und 23 Jahren sollten vor allem Deutschland und die USA bereisen. Einer einjährigen Vorbereitungszeit an der Universität folgte ein Jahr im Ausland. Das Ziel des Stipendienprogramms wurde wie folgt formuliert: It is intended that each scholar shall select some industry, or part of an industry, or some business, for examination and investigate this comparatively in the United Kingdom and abroad. The first year’s work at the University of Manchester is designed to prepare the student for this investigation, and it partly takes the form of directed study, from publications and by direct investigation, of English conditions with regard to the industrial or commercial subjects upon which research will be made abroad in the second year of the scholarship. Finally each scholar must present a report upon the matters that he has had under examination. The reports will as a rule be published.96 Ein Vergleichen (»investigate comparatively«) zwischen der britischen und der jeweils im Ausland besuchten Industrie war den vorzulegenden Studien demnach als wissenschaftliche Methode ausdrücklich zu Grunde gelegt: Es sollte nicht bei intrinsischen Beschreibungen der besuchten Industrieschauplätze bleiben, sondern die Stipendiengeber erhofften sich durch das gezielte In-Beziehung-Setzen der eigenen mit der besuchten INdustrie einen Er95 O. V., Andrew-Carnegie-Stipendium; vgl. aus dieser Schriftenreihe des Stipendiums: Popplewell. 96 Diese Ziele sind von Seiten des Stipendiengebers der Analyse vorausgeschickt. Ebd., S. vii. Hervorhebung TM.

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kenntnisgewinn. Der Brite Frank Popplewell legte als Stipendiat im Rahmen dieses Programms seine einflussreiche Studie über Some Modern Conditions and Recent Developments in Iron and Steel Production in America vor. Ziel seiner Studienreise, die von September 1903 bis April 1904 dauerte, waren die wichtigsten Zentren der Eisen- und Stahlindustrie der Vereinigten Staaten. Drei Monate dieser Zeit verbrachte er als Assistent im Forschungslaboratorium eines Stahlwerks in Pennsylvania, die restliche Zeit mit Werksbesuchen in anderen Unternehmen.97 Die veröffentlichten Ergebnisse sollten nicht nur der Ausbildung des einzelnen Jungingenieurs, sondern auch der britischen Eisenhüttenkunde und damit schließlich auch der britischen Eisenund Stahlindustrie insgesamt zugutekommen. Popplewell konnte seinerseits schon auf eine breite Fachliteratur aus unterschiedlichen Ländern zurückgreifen, während seine Studie selbst ein wichtiger Beitrag zum internationalen Fachdiskurs war.98 In Deutschland wurden vergleichbare Stipendienprogramme erst nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert. 1898 entschied sich der VDEh zwar noch dagegen, junge Ingenieure auf eigene Kosten zu Studienzwecken ins Ausland zu entsenden. Dennoch wurde den Mitgliedern empfohlen, »überall, wo es sich zur Gelegenheit böte, möglichst auf zeitweise Entsendung von fähigen Technikern in das Ausland, namentlich Nordamerika, hinzuwirken«.99 Lediglich im Zeitraum von 1926 bis 1930 konnte der VDEh im Zuge des »Amerika-Werkstudenten-Dienstes« einige Hüttenleute in US -amerikanische Werke vermitteln.100 In der Zwischenkriegszeit wurde es jedoch üblich, dass deutsche Unternehmen junge Hütteningenieure zu mehrmonatigen Aufenthalten in die USA entsandten.101 97 Ebd., S. v, vii. 98 »The Report aims at something more than a description of works visited and of impressions received. In the first place, these have been constantly corrected by reference to the work of previous investigators, and acknowledgement must be made in particular to the Report of the delegation sent to the United States by the British Iron Trade Association, which is embodied in the volume ›American Industrial Conditions and Competition‹ (London, 1902); and to the two Reports of the Mosely Commissions. Dr. Hermann Levy’s ›Die Stahlindustrie der Vereinigten Staaten von Amerika‹ (Berlin, 1905) appeared too late to be largely drawn upon in the present Report«; ebd., S. v f. Für die transnationale Dimension des Fachdiskurses stehen auch die in dieser Zeit aufgestellten Bibliographien, die länderübergreifende Titel verzeichneten: Library of Congress. Division of Bibliography, Select list of books; dass., List of books. 99 Däbritz u. Dickmann, zitiert nach: Braun, Von Amerika lernen?, S. 394. 100 Ebd., S. 396. 101 Vgl. zu den deutschen Reiseberichten insbesondere die Kapitel 5 und 6 dieser Arbeit.

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Die englische Industrie war der Dreh- und Angelpunkt des frühen internationalen Austauschs. Ein wichtiger Motor hierfür war das im Jahr 1869 gegründete Iron and Steel Institute.102 Dessen Gründungsimpuls bestand zunächst in dem Wunsch der britischen Hüttenindustrie, ein regelmäßiges Austauschforum zu etablieren. Hier sollten alle praktischen und wissenschaftlichen Fragen der Herstellung und Verwendung von Eisen und Stahl unter britischen Herstellern diskutiert werden.103 Allerdings blieb es nicht bei diesem nationalen Fokus, wie Bennett Brough im Jahr 1902 rückblickend schrieb: »Soon after the inauguration of the Institute it became clearly apparent that there was an earnest desire among the members to add unreservedly to the general stock of information.«104 Das britische Institut veranstaltete seine Jahrestagung seit den 1870er Jahren nicht nur turnusmäßig im Ausland, sondern nutzte diese Gelegenheiten auch, um persönliches Kennenlernen und Austausch mit Fachleuten anderer Länder zu fördern, die nun ebenfalls an diesen Tagungen teilnehmen konnten. Im Zuge der Veranstaltungen zelebrierten die Teilnehmenden ein länderübergreifendes Branchenethos und versicherten einander, sich dem Projekt des Fortschritts der menschlichen Zivilisation insgesamt verbunden zu fühlen.105 Dementsprechend betonte die Zeitschrift Stahl und Eisen im Nachgang eines Besuchs US -amerikanischer Fachleute in der Industrieregion Rheinland-Westfalen im Sommer 1889: Die wohlthätigen Folgen internationaler Zusammenkünfte sind unleugbar. Jedes Volk klebt mehr oder minder an Vorurtheilen und betrachtet die übrige Welt durch die Brille nationaler Befangenheit … Der Gedanke 102 In Großbritannien bestanden auf der lokalen Ebene schon seit den 1850er Jahren technische Vereine (hier: Manchester Association of Employers, Formen and Draughtsmen), deren publizierte Vorträge sich auch in US-amerikanischen Unternehmens­ archiven fanden. Vgl. Jones; zum Iron and Steel Institute existiert ebenfalls keine Forschungsliteratur. 103 Brough, S. 1, 5. 104 Ebd., S. 5. 105 »These expeditions, through which we meet eye to eye and voice to voice our friendly competitors to discuss the interest and the scientific aspects of the great industry which absorbs us, have been of great personal and national benefit.« So Kitson, S. 641, Präsident des Instituts, über eine Tagung in den USA. Alexander Holley schrieb in diesem Zusammenhang: »The meeting has also given me an opportunity to talk over the matter privately with a number of members, and to get at any objections they may have entertained.« Senator John Heinz History Center, Records of the Carnegie Steel Corporation 1853–1912 (bulk 1869–1890) (MSS# 315), Historical Society of Western Pennsylvania, box 36 b, folder 1, Alexander L. Holley to S. M. Felton, 8.5.1880, S. 3.

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eines regelmäßigen, lebhaften internationalen Verkehrs unter den Eisenund Stahlhüttenleuten der Welt ist jedoch so vortrefflich und von so weittragender Bedeutung, daß es sich wohl verlohnt, demselben näher zu treten.106 Ein erster Nutzen solcher »internationaler Zusammenkünfte« wurde im Abbau nationaler Vorurteile gesehen. Tatsächlich nahm die länderübergreifende Vergemeinschaftung einen wichtigen Teil der internationalen Meetings ein. Dies lässt sich am breiten kulturellen Rahmenprogramm der Gruppenreisen ablesen, in die der fachoffizielle Teil eingebettet war. Nicht ganz grundlos nannte eine Wiener Zeitschrift das britische Institut angesichts seiner »starken Leistungen im Essen und Trinken« spöttisch »Luncheon and Dinner Institute«. Und auch von deutscher Seite musste man zugeben, »daß die materiellen und geselligen Genüsse eine große Rolle bei derartigen Zusammenkünften spielen«. Dieser Aspekt internationaler Gruppenreisen und Fachtagungen war jedoch keineswegs Selbstzweck. Er beschränkte sich auch nicht auf wechselseitige diplomatische Dankesbekundungen im Sinne einer »Erkenntlichkeit für langjährige, in England genossene Gastfreundschaft« oder das »Anknüpfen werthvoller internationaler Bekanntschaften«107. Vielmehr vergewisserten sich die anwesenden Fachleute innerhalb eines solchen Rahmens abendlicher Unterhaltung und insbesondere im Zuge der Tischreden sowohl der internationalen Zusammenarbeit als auch ihrer nationalen Zugehörigkeit. Gleichzeitig wurden historische Verflechtungen der Hüttenindustrie zwischen »alter« und »neuer Welt« thematisiert, da die Vereinigten Staaten seit der gemeinsamen Gruppenreise des Iron and Steel Institute und des VDEh ins Zentrum des internationalen Austauschs rückten. In diesem Sinne richtete der US -Unternehmer und Funktionär Abram S. Hewitt beim Abschlussdinner folgende Worte an die deutschen und britischen Gäste: »You are men who have been engaged in the same great work of advancing civilisation throughout the length and breadth of the world. We have learned our lessons from you.« Weiterhin hoffe er, dass die US -Industrie den Europäern ihre verwandtschaftliche Verbundenheit habe zeigen können (»blood is thicker than water«).108 Damit verwies Hewitt auf den europäischen Ursprung 106 O. V., Der Besuch der amerikanischen Ingenieure, S. 679. 107 Ebd. 108 Iron and Steel Institute, The Iron and Steel Institute in America, S. 484. Gerade in der britischen Überlieferung sind die Tischreden in den »Proceedings« stets mit abgedruckt. Die »special relation­ship« zwischen Großbritannien als »mother country«

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der Vereinigten Staaten und auf das gemeinsame zivilisatorische Projekt. Gleichzeitig thematisierte man im Rahmen von Festivitäten immer auch die nationalen kulturellen Unterschiede, die sich hier in der wechselseitigen Wahrnehmung vorgeblicher nationaler »Charaktereigenschaften« verfestigten. Beim Besuch US -amerikanischer Fachleute in der Industrieregion Rheinland-Westfalen im Jahr 1889 lobten die Gäste die deutschen Gastgeber, als ein US -Vertreter bei einem Dinner »in einer von Humor übersprudelnden Rede, indem er die ›deutsche Gründlichkeit‹ sowohl in betreff der Besichtigungen [von Industrieanlagen; TM] als auch der leiblichen Genüsse pries und zu einem dreimaligen Cheer aufforderte«. Um die Freundschaft zwischen den beiden Branchen und Nationen zu besiegeln, wurde außerdem in »erhebender Weise« des deutschen Kaisers, »des ersten und tüchtigsten ›working man‹ in Deutschland«, und des amtierenden US -Präsidenten Harrison durch einen Trinkspruch gedacht.109 Ein US -amerikanischer Teilnehmer berichtete im Anschluss an diesen Besuch, dass er einige »Yankee-Vorurtheile« ablegen konnte und gleichzeitig nach Ende der Reise »stolzer denn je zuvor« auf seine »amerikanische Bürgerschaft« und gleichfalls auf den »Ingenieursstand« war.110 Insofern wurden sowohl nationale Identitäten als auch die Berufskultur im Rahmen des internationalen Austauschs durch nationale Vergleiche ausgehandelt und stabilisiert. Daran anknüpfend bewerteten die beteiligten Akteure den fachlichen Austausch als unbefangen und fruchtbar. Andrew Carnegie, nach seinem unternehmerischen Rückzug zwischen 1903 und 1905 selbst Präsident des Iron and Steel Institute, betonte nach seiner Teilnahme an einem Londoner Jahresmeeting im Jahr 1884 neben dem hohen Wissensstand der britischen Fachleute des Instituts vor allem »the willingness upon the part of all to report and explain every advance made in the various processes to their fellows«. Weiter schrieb er: »The old idea of trade secrets seems thoroughly exploded, and a free interchange of practice and theory is now seen to be the

der Vereinigten Staaten, die sich ökonomisch inzwischen von der ehemaligen Kolonialmacht emanzipiert und in vielen Bereichen überholt hatten, spielte in den humoristisch eingefärbten Reden eine wichtige Rolle; ebd., S. 474–484. Auch in deutschen Berichten wurden Teile von Redebeiträgen abgedruckt. O. V., Der Besuch der amerikanischen Ingenieure. 109 Ebd., S. 681. 110 O. V., Impressions and Reminiscences, Sp. 158, zitiert nach: ders., An die Kohlen- und Eisenindustriellen, S. 897.

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best for all.«111 Insofern verlängerten die technischen Vereine den Gedanken der »freien« Konkurrenz und des Austauschs, der schon den Weltausstellungen zu Grunde lag, in fachspezifische internationale Expertenforen hinein.112 Nicht zuletzt daraus lässt sich vermutlich die hohe Motivation sowohl der kontinentaleuropäischen als auch der US -amerikanischen Fachleute erklären, bereits kurz nach seiner Gründung Teil des schnell wachsenden Iron and Steel Institute sein zu wollen.113 Von ursprünglich 223 Gründungsmitgliedern stieg die Zahl im Jahr 1890 auf über 1600 an.114 Im Mai 1915 waren von 2083 Mitgliedern 632 ausländische verzeichnet, darunter 101 deutsche, österreichische und ungarische.115 Die ausländischen Fachleute erkannten den weiterhin bestehenden Vorsprung britischer Produzenten im Bereich des verfahrenstechnischen Praxiswissens an und wollten hiervon profitieren, da im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Schriftlichkeit in Bezug auf die Produktionsorganisation in den Betrieben noch kaum ausgebildet war.116 Diese praktische Orientierung spiegelte sich insbesondere in den Diskussionen wider, die während der Meetings des Instituts stattfanden. Das seit 1869 erscheinende Journal of the Iron and Steel Institute (JISI) war ebenfalls von einem lebhaften und »direkten Austausch praktischer Erfahrungen« geprägt, wohingegen sich das kontinentaleuropäische Schrifttum durch eine eher theoretische Ausrichtung auszeichnete, was sich auch im akademischen Schreibstil niederschlug. Tatsächlich hatten die technischen Beiträge in der Zeitschrift Stahl und Eisen die Gestalt wissenschaftlicher Fachaufsätze. Während die kontinentaleuropäische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Materie allerorten gepriesen wurde, orientierten sich

111 Carnegie, Round the World, S. 345 f., Zitat: S. 346. Allerdings verknüpfte er sein Lob mit der Kritik an britischen Produzenten, sich nicht dem US-amerikanischen Schnellbetrieb angepasst zu haben. Der Austausch war damit auch von jenen nationalen Grundsatzdebatten geprägt, die zwischen britischen und US-amerikanischen Fachleuten geführt wurden. Vgl. hierzu etwa o. V., Sir Lowthian Bell. 112 In den 1880er Jahren wurde die Frage des zivilisatorischen Nutzens der Konkurrenz entlang der sozialdarwinistischen Ideen Herbert Spencers, denen etwa auch Andrew Carnegie anhing, im Zuge internationaler Bankette in New York von (inter-)nationalen Eliten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen diskutiert. Siehe hierzu: Werth. 113 Brough, S. 5. 114 Hewitt, Iron and labor, S. 2. 115 O. V., Das Iron and Steel Institute und der Ausschluß, S. 821. 116 Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 22.

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die Produzenten weiterhin am britischen Erfahrungswissen.117 Angesichts dieser – insbesondere in Deutschland – besonders theorielastigen Beschäftigung mit technischen Verfahren fasste der deutsche Hochofenexperte Gustav Klüpfel im Jahr 1883 zusammen: »Fast scheint es, als ob die Vielschreiberei, die in der Eisenhüttenkunde noch vor 25 Jahren so manchen Unsinn zu Tage förderte, […] alle Theorie in Verruf gebracht habe«. Dabei sei ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Theorie und praktischer Erfahrung notwendig: »Zeigen doch die schätzenswerthen Verhandlungen im [britischen; TM] Eisenhütten-Verein«, dass technische Probleme »doch nur durch Richtigstellung der Theorie gehoben werden können. Damit aber die Theorie richtig gestellt werden kann, ist es nöthig, daß die Praktiker ihre Erfahrungen in bezug auf dieselbe austauschen.«118 Klüpfel betont damit, dass Theorie und Praxis für den technischen Fortschritt nicht getrennt werden dürften. Unter den Bedingungen der international vernetzten hüttentechnischen Wissenskultur konnte das Iron and Steel Institute im Bereich des praktischen Fachwissens als Korrektiv für die Theorielastigkeit der deutschen Eisenhüttenkunde fungieren. Darüber hinaus arbeiteten die Fachleute im Rahmen internationaler Meetings auch über Ländergrenzen hinweg gemeinsam an geteilten technischen Problemen der Hüttenproduktion. Fortlaufendes Vergleichen war als Praxis zentraler Bestandteil dieser Zusammenarbeit. Der Präsident des Iron and Steel Institute, James Kitson, fasste Funktionen und Mehrwert der Zusammenkünfte im Jahr 1890 in diesem Sinne wie folgt zusammen: The objects of these international meetings are to enable the members to compare the metallurgical processes adopted in different countries, to investigate the results which attend the more scientific methods of foreign

117 Diese Entwicklung ließ sich auch in Bezug auf akademische Lehranstalten feststellen: »Es entstand der Eindruck, daß auf dem Kontinent versucht wurde, ein empirisches Defizit durch intensivere theoretische Beschäftigung mit den Verfahrenstechniken an etlichen akademischen Lehranstalten, die in Großbritannien kein Pendant hatten, zu kompensieren«; ebd. Dies hatte zur Folge, dass das Fachschrifttum gerade der »rückständigen Regionen« besonders differenzierte und detailliert aufbereitetes Fachwissen enthielt. Vgl. ebd. Die deutschen Fachleute erschienen ihren US-Fachkollegen dagegen als besonders wissenschaftlich orientiert. Thomas M. Drown sprach auf dem Meeting des AIME in Troy von der »love of the Germans for scientific research in practical matters«, American Institute of Mining Engineers, S. 87. 118 Klüpfel, S. 645.

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manufacturers, and generally to keep in touch with the progress of the iron and steel industries throughout the world.119 Diese turnusmäßig stattfindenden Meetings gestatteten durch die dort gehaltenen und diskutierten Vorträge eine fortlaufende Beobachtung hüttentechnischer Entwicklungen in den einzelnen Ländern und vermochten die Verfahrensweisen zu bewerten und zu hierarchisieren. Das britische Institut fungierte damit als Knotenpunkt für das Zusammentragen des internationalen hüttentechnischen Wissens und ermöglichte ein internationales Vergleichen, das als wissenschaftliche Methode für bedeutsam erachtet wurde. Transnationales Vergleichen war zunächst eine omnipräsente Basisoperation bei diesen internationalen Meetings. Bei Vorträgen verglichen die Zuhörenden unweigerlich die präsentierten fachlichen Aspekte aus anderen Ländern mit den eigenen praktischen Erfahrungen. Erst zu den in den Vorträgen und Diskussionen kommunizierten Vergleichen mussten sich die Anwesenden verhalten.120 Die entlang der Ländergrenzen und ihrer jeweiligen Produktionsmethoden durchaus kontrovers geführten Debatten darüber, welche Produktionsmethoden die bessere sei, betrachteten die Beteiligten als fruchtbar. Der Zeitschrift Iron Age galt das Iron and Steel Institute als »a recognized tribunal and parliament of metallurgical science, in which the merits and defects of processes and appliances, of systems and principles, could be threshed out with  a view to the ultimate evolution of truth«121. Solche Zuschreibungen deckten sich mit der betont kosmopolitischen Ausrichtung des Instituts und der am Ideal des Freihandels orientierten britischen Produzenten: In diesem »Parlament«, so die Vorstellung, konkurrierten Ideen und Theorien vor der versammelten internationalen Expertenöffentlichkeit zum »evolutionären« Nutzen aller.122 Allerdings entstand hier eine Spannung zwischen diesem Anspruch an einen gemeinsamen evolutionären Fortschritt, der eine gewisse Entscheidung

119 Kitson, S. 625. 120 Laut Bettina Heintz gibt zwei Arten von Vergleichen: die mental vollzogenen und die kommunizierten, denen eine Anschlusskommunikation folgt und die damit erst sozial wirksam werden. Heintz, Numerische Differenz, S. 164. 121 O. V., The Iron and Steel Institute. Second Meeting in America, S. 1 f. Hervorhebungen im Original kursiv. 122 Brough, S. 5.

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notwendig machte, welche diskutierte national spezifische Methode die bessere ist und den unterschiedlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern. Verlauf und Ergebnis der Debatten, die oftmals Vergleichswettbewerben gleichkamen, waren dabei häufig redundant. So griff der US -Hütteningenieur Alexander Holley bei einem Meeting des American Institute of Mining Engineers (AIME) beispielsweise ein Paper eines britischen Fachmanns über US -amerikanische Trio-Walzwerke auf, das ihm kurz zuvor bei einem Meeting des Iron and Steel Institute in Glasgow untergekommen war. Der britische Fachmann war zu dem Ergebnis gekommen, dass die in britischen Walzwerken bevorzugten Duo-Walzgerüste hinsichtlich Effizienz und Qualität den US -amerikanischen überlegen seien. An dieses britische Vergleichsergebnis knüpfte Holley an und antwortete: »The American mill, which is very different in principle and arrangement from the mill used abroad, appears never to have been understood by foreigners, although many of them have observed its working, during the last fifteen years, in our various iron and steel works.«123 Die ausländischen Fachleute hätten aus Holleys Sicht die US -amerikanische Walzwerkstechnik nicht verstanden, weil sie diese isoliert und nicht im Kontext der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen betrachteten. Zentraler Bestandteil des Vergleichsdiskurses, der im Rahmen internationaler Tagungen geführt wurde, war es folglich, die Vergleichshinsichten zu problematisieren. Diesen Diskurs kennzeichnete schließlich seit den späten 1880er Jahren ein stark gestiegenes Vergleichswissen über die in den unterschiedlichen Ländern herrschenden unterschiedlichen Bedingungen. Daraus resultierte die Erkenntnis, dass das Urteil, welches Produktionsverfahren das beste sei, nicht allgemeingültig sein konnte.124 Trotz dieser Effekte des Vergleichsdiskurses, die auch die Grenzen technologischer Transfers aufzeigten, konnte die Industrie durch internationalen Austausch immer wieder Erfolge verbuchen, von denen alle Beteiligten profitierten. Dies lässt sich insbesondere an der Entwicklung der modernen Stahlwerkskonzeption festmachen – ein Prozess, der Ende der 1860er Jahre einsetzte. Zu dieser Zeit, als die technischen Vereine gegründet wurden, befand sich die Branche an der Schwelle zur modernen Stahlfertigung auf wissenschaftlicher Basis; der Bessemer- und der Siemens-Martin-Prozess

123 American Institute of Mining Engineers, S. 287 f. 124 Vgl. etwa Gayley und darin besonders den Diskussionsbeitrag von Thielen, in: ebd., S. 1017 sowie Kapitel 5 dieser Arbeit.

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hatten gerade erst begonnen, ihr Potenzial zu offenbaren. Noch prägte das »vorindustrielle« Puddelverfahren in den 1870er Jahren weiterhin die Produktion von Eisenbahnschienen. Nun aber wurde es langsam, aber stetig vom maschinellen Konverterverfahren verdrängt. Unternehmer, insbesondere in den Vereinigten Staaten, erkannten zunehmend, dass in der maschinellen Massenfertigung die Zukunft der Branche lag. Notwendig war es jedoch, die Produktionskosten der nun im Vergleich zur Schweißeisenfertigung deutlich kapitalintensiveren Anlagen zu drücken. Schon die Zeitgenossen betrachteten die Vorträge und Diskussionen im Iron and Steel Institute als wichtige Faktoren der internationalen Fortentwicklung dieser vielversprechenden, aber komplexen Technologie der Stahlerzeugung und als Mittel zur Steigerung ihrer Wirtschaftlichkeit.125 So bewertete die Zeitschrift Iron Age in der Rückschau: »Largely through the papers and discussions brought out by the Iron and Steel Institute the attention of the trade was directed to the greater opportunities presented in the development of the new steel making processes.«126 Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel des insbesondere in Deutschland bedeutsamen Thomasverfahrens deutlich aufzeigen: In einem Schreiben aus dem Mai 1880 legt der US -amerikanische Hütteningenieur Alexander Holley dar, wie die länderübergreifende Arbeit an der Verbesserung des Entphosphorisierungsverfahrens ablief. Die ganztägigen Diskussionen beim Londoner Meeting des Iron and Steel Institute im Mai 1880 über die jüngsten Entwicklungen des Thomasverfahrens hatten aus seiner Sicht gezeigt, dass dieses neue Verfahren zum basischen Stahlfrischen erfolgreich durchgeführt worden und äußerst vielversprechend sei. Bei gemeinsam durchgeführten Experimenten bei Bolckow, Vaughan & Co. in Sheffield und beim Hoer¬der Verein war die Entphosphorisierung im Stahlkonverter geglückt, worüber ein Vertreter des letztgenannten Unternehmens in einem Vortrag vor dem Iron and Steel Institute berichtet hatte. Die in den Diskussionen aufkommende Kritik habe laut Holley abgewehrt werden können. Aus diesen Gründen versuchte er nun, sich einerseits weiteres Wissen in Europa über das in den USA gänzlich unbekannte Verfahren anzueignen und andererseits dieses Wissen in den USA zu verbreiten, indem er Kopien der Vorträge verschickte – weil er beobachtet hatte, dass in den USA diese Herstellungsverfahren – anders als in den anderen eisenproduzierenden Län-

125 O. V., The Iron and Steel Institute. Second Meeting in America, S. 1–3. 126 Ebd., S. 1.

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dern – noch keinen Anklang gefunden hatten.127 Diese Episode ist Teil jenes »multilateralen Austauschprozesses«, der die Grundlage der arbeitsteiligen Entwicklung der modernen Stahlwerkskonzeption bildete.128 Dieser arbeitsteilig gestaltete Prozess ging jedoch von einem relativ gleichen Startpunkt aus. Das genannte Beispiel der US -amerikanischen Walzwerkstechnik zeigte dagegen: Hatten sich erstmal komplexe technologische Spezifika in einzelnen Ländern ausgebildet, blieb den Fachleuten nur der bald routinierte Verweis auf die unterschiedlicher wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die auch die technischen Möglichkeiten prägten. Um 1900 hatten sich trotz aller Unterschiede im Einzelnen die hüttentechnischen Produktionsniveaus in den führenden Industrienationen zunehmend angeglichen; der internationale Austausch war weitgehend etabliert. Angesichts dessen resümierte die Zeitschrift Stahl und Eisen im Jahr 1890: Andere Zeiten, andere Sitten! Noch nicht lange ist es her, daß die Völker ihre Fabricationskünste nicht nur gegenseitig, sondern auch deren einzelne Angehörige unter sich ängstlich als Geheimnis hüteten, und heute, wie ein Blick auf das reichhaltige Programm der gastgebenden Vereine lehrt, öffnen sich die Thore zahlreicher Fabriken, während sorgfältig ausgearbeitete Vorträge gleichzeitig über die dort geübte Thätigkeit sich belehrend verbreiten. Sicherlich liegt eine so wesentliche Umgestaltung der Verhältnisse, welcher wir die reißenden Fortschritte unserer modernen Technik verdanken, im Zuge der Zeit, es ist aber auch unzweifelhaft, daß dieselbe durch die Bildung der Vereine und den dadurch bewirkten engeren Verkehr der Fachgenossen in ersprießlicher Weise gefördert wurde.129 Zwar macht die Zeitschrift den internationalen Austausch hier für den technischen Fortschritt verantwortlich. Gleichzeitig klingt scheint hier aber bereits der Verweis auf eine gewisse Routine aus Werksbesuchen, internationalen Meetings und den dort gehaltenen Vorträgen durch. Dieser Eindruck 127 Senator John Heinz History Center, Records of the Carnegie Steel Corporation ­1853–1912 (bulk 1869–1890) (MSS# 315), Historical Society of Western Pennsylvania, box 36b, folder 1, Holley an Felton, 8.5.1880. Über die erfolgreichen Tests berichtete Richard Pink (1880), On Dephosphorisation of Iron in the Bessemer Converter, in: Journal of the Iron and Steel Institute Nr. 1, S. 57–67 für den Hoerder Verein vor dem Iron and Steel Institute. 128 Wengenroth, Technologietransfer als multilateraler Austauschprozeß. 129 O. V., Die deutschen Eisenhüttenleute in Amerika, S. 758.

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verstärkt sich nach der Jahrhundertwende, als dieser enge internationale Austausch von Fachleuten hinsichtlich seines Nutzens zunehmend hinterfragt wurde. So konstatierte etwa Charles Kirchhoff im Jahr 1910: The Fifth International Congress of Mining, Metallurgy, Applied Mechanics and Practical Metallurgy was held this year in June at Düsseldorf, Germany. As compared with the first gathering at Paris in 1878, the attendance of delegates, the high character, variety and scope of the papers, illustrated well the wonderful progress made since then. Now there is an army of trained, scientific observers in close touch with practice where once they might have been counted on the fingers of both hands. An international exchange of experience has developed which is lifting the iron and steel industry to a much higher plane, expressed in better and more uniform quality of products, in enlarged and broadened range of uses, in a more complete utilization of raw materials, in the suppression of waste, in much improved working conditions of labor.130 Der professionalisierte und institutionalisierte Austausch habe zwar ein hohes wissenschaftliches Niveau erreicht, habe sich damit aber auch ein Stück weit selbst überflüssig gemacht. Denn die Produktionsniveaus hätten sich um Zuge des gestiegenen Vergleichswissens angeglichen, da Europa und Amerika inzwischen auch technische Aspekte von der jeweils anderen Seite übernommen hatten, die sie selbst zuvor vernachlässigten. James A. Farrell, kurz darauf Präsident von U. S. Steel, betonte zur gleichen Zeit, dass modern ausgestattete Hüttenwerke – ganz gleich, wo auf der Welt sie existieren mochten – insgesamt kaum noch Unterschiede aufwiesen.131 Tatsächlich waren seit der vor der Jahrhundertwende erfolgten Durchsetzung der Flussstahlfertigung im Konverter- oder Herdverfahren keine wesent­ lichen hüttentechnischen Basisinnovationen mehr hinzugekommen, die das Produktionssystem von Grund auf veränderten und mittels internationaler Anstrengungen wirtschaftlich und praxistauglich gemacht werden mussten. Das über Jahrzehnte akkumulierte Vergleichswissen über unterschiedliche Rahmenbedingungen zeigte schließlich nach der Jahrhundertwende auf, in welchen Bereichen man sich gar nicht länger mit den Industrien anderer Länder beschäftigen musste. Charles Kirchhoff verwies in diesem 130 Kirchhoff, The International Congress, S. 75 f. 131 O. V., Co-operation in International Steel Trade, S. 935.

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Zusammenhang darauf, dass er nicht genauer von der Optimierung von Produktionsprozessen in Deutschland berichten müsse, weil die ökonomischen Grundlagen, insbesondere die Rohstofflage, dort andere seien als in den USA .132 Die Branchenakteure wussten inzwischen, so waren auch deutsche Stimmen zu vernehmen, aufgrund der vielen Berichte und Studienreisen über die länderspezifischen Verhältnisse Bescheid und konnten daher technologische und organisatorische Unterschiede gut einordnen. Eine routinierte Beobachtung führte einerseits und insbesondere in den USA dazu, dass Vergleichsbemühungen nachließen – andererseits mussten nicht länger Grundsatzdebatten über die Bewertung unterschiedlicher Produktionssysteme und -kulturen geführt werden, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts insbesondere das US -amerikanisch-britische Verhältnis prägten.133 Folglich verschoben sich mit diesen vielfach eingeübten Vergleichs- und Bewertungsroutinen schließlich auch die Interessens- und Themenschwerpunkte der internationalen Tagungen: Angesichts wiederkehrender konjunk­ tureller Krisenentwicklungen stellte sich nun vor allem die Frage, ob man in Zeiten international weitgehend angeglichener Produktionssysteme weiter allein versuchen solle, durch technische Optimierungen die Produktionspreise zu drücken. So hieß es in der britischen Zeitschrift Iron and Coal ­Trades Review im September 1910: »Whereas the technical side of iron and steel manufacture has been advanced very greatly in recent years, the ­methods of doing business have undergone no alteration.«134 Man diskutierte nun insbesondere in den angelsächsischen Ländern, ob statt technischer Aspekte nicht vielmehr geschäftliche, ökonomische und wirtschaftspolitische Themen in den Mittelpunkt des internationalen Austauschs rücken sollten.135 Hier offenbarten sich die veränderten Konkurrenzvorstellungen innerhalb der US -Industrie, die einen wichtigen Ausdruck in der Trustbildung der Jahrhundertwende fanden. Der über Produktpreis und Ausstoßzahlen geführte Verdrängungswettbewerb der »cut throat competition«, den insbesondere Andrew Carnegie zum Ideal erhoben hatte, war dem Ideal der 132 Kirchhoff, The International Congress, S. 78. 133 O. V., Verein deutscher Ingenieure. 54. Hauptversammlung, S. 1119. Ähnlich dazu James A. Farrell: »[I]n recent years it has been noticeable that at meetings of the British Iron and Steel Institute, and of German, French, Belgian, Russian and other European technical associations, papers on scientific subjects are not infrequently ›taken as read‹.« Farrell, S. 45. 134 Zitiert aus: o. V., The American Iron and Steel Institute, S. 849. 135 Farrell, S. 45.

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ökonomischen (also nicht mehr nur technischen) »co-operation« zwischen Wettbewerbern gewichen.136 Dies zeigte sich schon an den Themen, die bei Tagungen des 1908 angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise von 1907 gegründeten American Iron and Steel Institute (AISI) besprochen wurden. Auch wenn der Name dieses Instituts seinem britischen Pendant beinahe glich und der Institution einen wissenschaftlichen Anstrich gab, stand hier der Austausch über Business-Fragen zwischen Unternehmern und Managern im Zentrum. Dieser geschäftliche Austausch reichte zwischen 1907 und 1911 unter der Führung des Rechtsanwalts Elbert H. Gary (1846–1927) bis hin zu illegalen Preisabsprachen. US -Branchenakteure versuchten, das propagierte Prinzip der »co-operation« zudem auf internationaler Ebene zu etablieren: Auch international sollte der von dieser neuen Manager-Generation als schädlich betrachtete Wettbewerb durch Organisation eingehegt werden.137 Stattdessen sollte durch Absprachen von Produktionsmargen und Produktpreisen der internationale Wettbewerb gesteuert werden, um Überproduktionen und Preisverfall zukünftig zu verhindern. Gary selbst drückte bei seiner Rede vor internationalen Gästen im Jahr 1910 folgenden Wunsch aus: »Many who are present will live to see the time when the spirit of cooperation shall extend even to the government of the nations of the earth.«138 Auch wenn die Zeitschrift Stahl und Eisen diese in den USA auf Tagungen diskutierten Überlegungen interessiert beobachtete und es auch in Europa in dieser Zeit zu ersten – wenn auch kurzfristigen – internationalen Kartellversuchen kam, so blieben Garys Plädoyers für eine internationale Kooperation, die er während seiner Amtszeit immer wieder vortrug, weitgehend auf

136 Vgl. allgemein zu diesem Prozess von der »Konkurrenz« zur »Kooperation« als hegemonialem Leitbild des US-amerikanischen Wirtschaftsdenkens um 1900: Levy, J., S. 264–307. 137 So beschrieb die britische Zeitschrift Iron and Coal Trades Review den Zweck des Iron and Steel Institute wie folgt: »The American organization aims to bring together the captains of industry, who will discuss matters relating to the trade, with authority to act for their respective companies should occasion arise, and it may be that in bringing together international captains of industry, developments may take place in some such direction. This is thrown out more or less as a suggestion. It is not intended to convey that there is any such idea at present in the minds of those responsible for the organization of the American Iron and Steel Institute. At the same time, more can be done by the co-operation of all nations, than is possible through harmonious working in one country alone.« O. V., The American Iron and Steel Institute, S. 850. Vgl. zur Praxis der Preisabsprachen im Zuge der Gary Dinners: Page. 138 Gary, S. 41.

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Tischreden beschränkt.139 Zu widersprüchlich gestaltete sich auch in dieser Hinsicht das Verhältnis zwischen globalisierter Weltwirtschaft und nationalen Wirtschaftsräumen. Diese Spannung zeigte sich schon allein daran, dass der TVEh nicht nur ein technischer Verein war, sondern in erster Linie eine kollektive Interessenvertretung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie sein sollte. Seit der Weltwirtschaftskrise von 1873 setzte sich auf Seiten der Produzenten der Schwerindustrie in Koalition mit agrarischen Interessen eine protektionistische Lesart durch, wettbewerbsbasierte Probleme in einem wirtschaftsnationalistischen Sinne lösen zu müssen.140 Dass die Hüttenindustrie offen für einen deutlich erhöhten Zollschutz eintrat, war neben dem Wunsch nach einer forcierten Spezialisierung der Vereinsarbeit einer der wichtigsten Gründe für die Loslösung des TVEh vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI). Letzterer begriff sich als Gesamtvertretung des neuen Ingenieursstands und wollte sich nicht (handels-)politisch positionieren. Im TVEh jedoch waren vermehrt wirtschaftsnationalistische Töne zu vernehmen, die für eine Abspaltung eintraten, um so effektiver konkrete schwerindustrielle Interessen

139 O. V., Gary über internationale Verständigung, S. 1519. Eberhard von Bodenhausen (1868–1918), Vorstand und später Aufsichtsrat bei der Friedr. Krupp AG, nahm bei den Tagungen in den USA einen Widerpart zum US-amerikanischen Lob der »co-operation« ein und pries die produktive Kraft der Konkurrenz: »Now with regard to competition, gentlemen, I think this poor lady has been rather badly treated in our meeting of this morning, and I think that there can be said some things about competition which make her appear not quite as bad as she may seem. One thing is quite certain, which is in favor of competition, and that is that we would not be here in this place around these festive tables without competition having gone on (applause). Business all over the world, and in all sorts of things is absolutely identical with competition, and that is so much true and so much a fact that I can safely say that it is so much true and so much a fact that none of the great companies that we have the honor of representing here tonight would have had the standing they now have without competition having made them grow and develop and get strong and healthy, as they had to use their forces and their brains and their elbows to fight their way through. Now, gentlemen, that is simply a law of nature, a law of nature in itself, and a law of nature as it passes through man.« American Iron and Steel Institute, American Iron and Steel Institute Proceed­ ings, S. 110. Vgl. zur großen öffentlichen Aufmerksamkeit des »billionaires dinner« in Deutschland die Sammlung von Presseartikeln in HAK WA 4/1524, Amerikareise von Direktor von Bodenhausen (Internationale Tagung der Stahlproduzenten in NewYork) 1910. 140 Vgl. zur Interessenpolitik im Kaiserreich allgemein: Ullmann, Interessenverbände in Deutschland. Zur Zollpolitischen Wende: Torp, Co., S. 147–177, sowie Kapitel 4.1 dieser Arbeit.

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politisch durchsetzen zu können. So löste im Anschluss an die Zollpolitische Wende von 1879 der TVEh im Jahr 1880 die Verbindung zum VDI, und die Mitgliedswerke gründeten den VDEh als dessen Nachfolgeverein. Dieser war freilich weitgehend ähnlich motiviert wie sein Vorgänger: Er sollte sich dabei nicht auf wissenschaftlich-technische Fragen beschränken, sondern gleichzeitig eine wirkungsvolle Organisation der Interessen der gesamten deutschen Eisenindustrie sein.141 Hierbei waren die intern geführten Debatten des Fachpublikums der Expertenöffentlichkeit nicht immer deutlich von der allgemeinen politischen Öffentlichkeit zu trennen. Dies wird vor allem in den wirtschaftspolitischen Beiträgen der Zeitschriften, insbesondere der Zeitschrift Stahl und Eisen, deutlich. Deren Autoren waren, wie etwa Emil Schrödter (1855–1928), in der Regel verbandspolitisch aktiv und verfügten darüber hinaus häufig über politische Ämter, um die Interessen der Eisen- und Stahlindustrie zu vertreten.142 Wirtschaftspolitische Texte in der Zeitschrift Iron Age und das Wirken der AISA und der Nachfolgeorganisation American Iron and Steel Institute (AISI) weisen auch in den USA diese explizit von Branchenakteuren anvisierten Schnittstellen zwischen Fach- und allgemeiner Öffentlichkeit auf. In der deutschen Eisen- und Stahlindustrie war das Ziel der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit darüber hinaus stärker auf den Weltmarkt ausgerichtet – und damit gleichfalls am nationalstaatlichen Bezugsrahmen. Im Anschluss an die soziologische Weltgesellschaftsforschung zeigt sich insbesondere im deutschen Fall, dass in der Unübersichtlichkeit der globalen ökonomischen Verflechtung der Nationalstaat aus Sicht der Produzenten eine relativ stabile Orientierung bot.143 Es zeigt sich, dass Prozesse der internationalen Vernetzung und der ökonomischen Globalisierung mit Nationalisierungen einhergingen und sich ebenso wechselseitig bedingten wie internationale Kooperation und Konkurrenz. Dagegen waren die technischen Vereine der US -Industrie – wie etwa das 1871 gegründete American Institute of Mining Engineers (AIME) – weniger national exklusiv, sondern stärker am zivilisatorischen Fortschritt ausgerichtet.144 Der Vereinszweck zielte allgemeiner auf den Austausch und die

141 Maier, S. 39–41. 142 Vgl. zu Schrödter: Bleidick, Emil Schrödter und Otto Petersen. 143 Stichweh, S. 51 f. 144 Für die US-amerikanischen technischen Vereine liegt keine substanzielle Forschung vor.

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gemeinsame Akkumulation von Wissen und dessen Zirkulation ab.145 Dafür sprach auch, dass der Verein von Beginn an ausländische Mitglieder – vor allem aus England – führte; es fanden sich hierunter auch Kanadier, Belgier, Franzosen und Deutsche.146 Für diese geringere nationale Exklusivität war insbesondere die stärkere Binnenmarktorientierung verantwortlich. Zwar war insbesondere bis 1900 eine vermehrte Verdrängungskonkurrenz auf dem US -Binnenmarkt zu beobachten.147 Die durch hohe Zollmauern geschützte Branche war jedoch nicht abhängig vom Weltmarkt – anders als die deutsche Industrie, deren kollektive Organisation stets auf eine Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet war. Die US -Industrie verfügte außerdem über eine weit größere Vielfalt an Organisationen als die deutsche; die »Gemeinschaftsarbeit« war folglich weniger in einem wichtigen Verein zentralisiert. Mit der AISA verfügte die Branche etwa über einen lautstarken wirtschaftsnationalistischen und zollpolitischen Propagandaverein, der sich dabei aber weniger um technische Fragen kümmerte.148 Zur gleichen Zeit zeigten sich Risse sowohl im länderübergreifenden Branchenethos als auch innerhalb der internationalen Gemeinschaftsarbeit. Insbesondere die technischen Vereine der US -Hüttenindustrie mussten zunehmend Probleme ihrer Mitglieder bezüglich des Besuchs von Werken in anderen Ländern thematisieren und aushandeln. Kurz vor dem Ausbruch

145 So hieß es in der Satzung von 1873: »The objects of the AMERICAN INSTITUTE of MINING ENGINEERs are to promote the Arts and Sciences connected with the economical production of the useful minerals and metals, and the welfare of those employed in these industries, by means of meetings for social intercourse, and the reading and discussion of professional papers, and to circulate, by means of publications among its members and associates, the information thus obtained.« American Institute of Mining Engineers, S. xvii. Hervorhebungen im Original. Der Verein wurde später in American Institute of Mining and Metallurgical Engineers umbenannt. So hieß es in der Satzung von 1873: »The objects of the AMERICAN INSTITUTE of MINING ENGINEERs are to promote the Arts and Sciences connected with the economical production of the useful minerals and metals, and the welfare of those employed in these industries, by means of meetings for social intercourse, and the reading and discussion of professional papers, and to circulate, by means of publications among its members and associates, the information thus obtained«; ebd., S. xvii. Hervorhebungen im Original. Der Verein wurde später in American Institute of Mining and Metallurgical Engineers umbenannt. 146 Ebd., S. x. 147 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 259. Nach der Konzentrationswelle um 1900 entstand in den USA »eine oligopolistische Konzernstruktur in der Branche«. Ebd. 148 Vgl. zur Geschichte des AISA: Tedesco.

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des Ersten Weltkriegs warfen US -Fachleute ihren deutschen Kollegen eine unfaire Politik bei Werksbesuchen vor. Richard Moldenke etwa, Geschäftsführer der American Foundrymen’s Association, beschwerte sich Anfang Februar 1913 über diesen vorgeblichen Missstand in einem Artikel in der Zeitschrift Iron Age: Während US -amerikanische Unternehmen sich bis dato relativ wenig mit der europäischen Konkurrenz auseinandergesetzt hätten, ändere sich dies nun langsam. Allerdings sahen sich US -amerikanische Industrievertreter laut Moldenke mit einer anderen Kultur von Werksbesuchen konfrontiert: Now, however, that our manufacturers are waking up, they also want to see what the nations which have captured trade that, commercially speaking, should come our way are doing. And when they go to the other side they find fine people, but by no means the open door that characterizes us here for the most part.149 Während europäische Fachleute seit den 1870er Jahren in den USA weitgehend vorbehaltlos von der »Politik der offenen Werkstore« profitieren konnten, gelte dieser freie Zutritt nun, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in die andere Richtung nicht, so der hier formulierte Vorwurf. Insbesondere die deutsche Industrie war Ziel dieser Kritik. John C.  Schmidt, Präsident der Standard Chain Co., erklärte im Jahr 1913 vor dem US -amerikanischen Ways and Means Committee, dass er trotz Empfehlungsschreiben und vielfacher Versuche in Deutschland keinen Zutritt zu Werken erhalten habe.150 Die Zeitschrift Iron Age verwies in einem bissigen Kommentar darauf, dass diese Verweigerung nicht nur wenig gastfreundlich, sondern auch mit Blick auf die US -amerikanische Offenheit und die Geschichte von Technologietransfers als unfair zu bezeichnen sei: The attitude of Germany toward American visitors, in view of the magnanimous treatment here of German visitors in the past decade and longer, and their wholesale appropriation of American ideas, reminds us of a story. A man who needed a wheelbarrow borrowed one frequently from a neighbor until he almost ruined it. The last time he borrowed it he remarked to

149 Moldenke, S. 384. 150 House of Representatives, S. 1311 f., 1343.

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the owner, »Well, I have ordered a new wheelbarrow to be delivered to me tomorrow, and I have decided that then I will neither borrow nor lend.«151 Die in diesem Gleichnis formulierten Anschuldigungen widersprachen den genannten seit 1910 unter der Führung des AISI nochmals verstärkt formulierten Forderungen, internationalen Austausch und Versuche internationaler Kooperation auch in geschäftlicher Hinsicht zu institutionalisieren. Um die Reziprozität aufrechterhalten zu können, schlug Moldenke entsprechende Gegenmaßnahmen vor, die US -Werke ergreifen sollten: Die Werke sollten nur dann Besucher zulassen, wenn diese einwilligten, ihrerseits Gegenbesucher zu empfangen. Ansonsten könne es US -Fachleuten geschehen, dass ihnen trotz Empfehlungsschreiben der technischen Vereine der Zutritt verwehrt werde.152 Zwar sprachen sich hochrangige deutsche Unternehmensvertreter weiterhin für internationale Kooperation und offene Werkstore aus.153 Für den ebenfalls am internationalen Austausch interessierten und davon profitierenden VDEh waren die US -amerikanischen Vorwürfe und das damit einhergehende Bild der deutschen Industrie als unfaire Akteurin der internationalen Fachöffentlichkeit jedoch ein Problem. Daher schrieb Emil Schrödter (1855–1928), geschäftsführendes Vorstandsmitglied des VDEh, eine Gegendarstellung an die Zeitschrift Iron Age. Er ging dabei auf die Vorwürfe von Moldenke und Schmidt direkt ein: Without desiring to present statistics, we can emphatically state that dozens and dozens of Americans have visited us in the last year and have been cordially received by us, the doors of German steel plants being opened wide to them. We can prove that no complaint has come to us from any of our American friends of any denial of admittance to German works. On the contrary, we have before us many letters of thanks which testify to the cordiality with which American friends have been received on the occasion of visits to our plants.154

151 O. V., Closing German Factory Doors, S. 264. 152 Moldenke, S. 384. 153 Vgl. etwa die Bankettreden von Eberhard von Bodenhausen und Eugen Schaltenbrand: American Iron and Steel Institute, Proceedings of the American Iron and Steel Institute, S. 110–113, S. 117. 154 Schrödter, American Visitors, S. 724.

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Schrödter versuchte demnach, die schlechten Erfahrungen der US -Fachleute nicht als repräsentativ für die gesamte deutsche Branche erscheinen zu lassen. Schließlich versprach er am Ende noch, dass es zu keiner grundsätzlichen Schließung der Werkstore in der deutschen Hüttenindustrie für ausländische Fachbesucher kommen werde, und hob die »freundschaftlichen Beziehungen« der beiden nationalen Branchen in der Vergangenheit hervor. Die deutsche Branche insgesamt wollte also – zumindest auf der Ebene des technischen Vereins und der kollektiven Interessenvertretung – nicht auf den internationalen Austausch verzichten, wobei jedoch einige Unternehmen sich dem freien Austausch verweigerten. Wie brüchig schließlich die eingeübte und etablierte internationale Zusammenarbeit in einer international politisch konflikthaften Zeit insgesamt war, zeigte sich spätestens kurz nach der britischen Kriegserklärung an das Deutsche Reich. Die Führung des VDEh diskutierte im August und September 1914 mit den Mitgliedern, ob aufgrund der »frevelhaften Kriegserklärung« Englands ein geschlossener Austritt der deutschen Vertreter aus dem Iron and Steel Institute geboten sei.155 Das Stimmungsbild sprach dabei keineswegs eindeutig zu Gunsten eines Austritts: Einige wenige Mitglieder mahnten, dass man nach dem Ende des Krieges in jedem Fall »auf den kulturellen Gebieten mit den Engländern zu tun haben« werde und dass ein Austritt die »wieder anzuknüpfenden Beziehungen erschweren« werde. Der Krieg wurde aus dieser Sichtweise heraus nur als kurze Unterbrechung internationaler Kooperation betrachtet. Andere Mitglieder wiederum traten dem Ansinnen eines Austritts »mit Entschiedenheit« entgegen. Einerseits, weil sie den Wissensaustausch nicht unterbrechen wollten und andererseits sahen sie sich trotz Kriegs und des dadurch besonders gefragten Nationalstolzes weiterhin der gemeinsamen zivilisatorischen Mission der Eisenhüttenleute verpflichtet.156 Während diese Diskussionen unter den deutschen Fachleuten noch geführt wurden, schuf das britische Institut Fakten und schloss im Mai 1915 die 101 deutschen und österreichischen Mitglieder per Vorstandsbeschluss aus. Das britische Institut begründete diesen Schritt damit, dass sich insbesondere die Deutschen »außerhalb der Grenzen der Zivilisation gestellt« 155 TkA FWH/1570, Emil Schrödter und Fritz Springorum an die in Deutschland lebenden Mitglieder des Iron and Steel Institute, 25.8.1914, Verein Deutscher Eisenhüttenleute, Vorstand 1911–1915. 156 TkA FWH/1570, Emil Schrödter an die in Deutschland lebenden Mitglieder des Iron and Steel Institute, 2.9.1914, S. 1 f.

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hätten und damit außerhalb des knapp vier Jahrzehnte lang beschworenen gemeinsamen Projekts der Eisen- und Stahlindustrie als Speerspitze des Fortschritts standen.157 Mit dem Ende der »Belle Époque« und des bürgerlichen Zeitalters endete der internationale Austausch abrupt, und das einst geteilte Branchenethos wurde nun von politischen und kulturellen Konfliktlagen überdeckt. Die im Anschluss an den Marktsoziologen Harrison White entstehenden länderübergreifenden »tangible cliques of producers observing each other« entstanden zwar als Reaktion auf konkurrenzbasierte Erwartungsunsicherheiten.158 Sie konnten jedoch trotz mancher unternommener Versuche den Wettbewerb nicht auf der internationalen Ebene kooperativ aussteuern. Die deutschen Mitglieder traten zwar Mitte der 1920er Jahre wieder ins Iron and Steel Institute ein.159 Zudem schlossen die Fachleute in der Zwischenkriegszeit erneut an die etablierten Medien und Praktiken des Austauschs wie Fachzeitschriften und fachoffizielle Studienreisen an. Das Vergleichsinteresse war, wie noch zu zeigen sein wird, zumindest auf deutscher Seite ungebrochen – bzw. von neuen ökonomischen Problemlagen neu entfacht. Allerdings hatte der internationale Austausch sich schon seit der Jahrhundertwende verändert und sollte die soziale und ideologische Dichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht wieder erreichen. Insgesamt hat dieses Kapitel gezeigt, wie sich Produzenten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überbetrieblich vernetzten und austauschten – im nationalen wie im internationalen Rahmen. Die Eisen- und Stahlindustrie etablierte auf diese Weise eine internationale Expertenöffentlichkeit. Ausgehend von den Weltausstellungen und der Etablierung fachoffizieller Studienreisen sowie der Akzeptanz der »Politik offener Werkstore« konnten sich Produzenten länderübergreifend gegenseitig relativ genau beobachten. Diesen Prozess kann man im Anschluss an den Sozialforscher Etienne Wenger mit dem Begriff der »communities of practice« charakterisieren. Wenger definiert diese als »groups of people who share a concern or a passion for something they do and learn how to do it better as they interact regularly«160. Dabei 157 O. V., Das Iron and Steel Institute und der Ausschluß, S. 824. Vgl. hierzu auch die harsche Verurteilung des Schritts des britischen Instituts sowie die Gegenpropaganda des VDEh. 158 White, S. 543. 159 O. V., Das englische Iron and Steel Institute. 160 Wenger, Communities of practice. A brief introduction, S. 1; ausführlich ders., Communities of practice. Learning, meaning, and identity.

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schreibt er ihnen drei Charakteristika zu, die das Wirken der Fachleute der Eisen- und Stahlindustrie zunächst im nationalen Kontext sehr gut treffen: – Erstens verfügen »communities of practice« über eine ausgeprägte Gruppenidentität, die über das geteilte Interesse erzeugt wird. Die Mitglieder engagieren sich durch geteilte Kompetenzen für das gemeinsame Arbeitsgebiet, was sie von Nicht-Mitgliedern abhebt. – Zweitens fördern sie ihr Interesse am gemeinsamen Arbeitsgebiet, indem sie sich an gemeinsamen Aktivitäten und Diskussionen beteiligen, Informationen teilen und so einander helfen. – Drittens sind Mitglieder Praktiker und bauen gemeinsam ein Repertoire an Ressourcen auf, etwa von Erfahrungen, Werkzeugen, Interessensartikulationen und Problemlösungsstrategien.161 Damit umreißt Wenger eine intersubjektive Struktur und die unter diesen Bedingungen vollzogenen Praktiken – in diesem historischen Fall: des transnationalen Vergleichens. Der internationale Austausch schuf die Grundlage für das transnationale Vergleichen der Industrien untereinander. In Ergänzung zu Wenger hat der Politikwissenschaftler Emanuel Adler »communities of practice« als soziale Strukturen aufgefasst, die zwischen Akteuren und übergeordneten Makrostrukturen vermitteln und als Triebkräfte sozialen Wandels wirken, indem sie Wissen institutionalisieren und veränderte Praktiken hervorbringen und verbreiten. »Communities of practice« sind dabei nicht auf einen lokalen Rahmen beschränkt, sondern sie existieren auf ganz unterschiedlichen lokalen, regionalen bis hin zu internationalen Ebenen, die mehr oder weniger locker miteinander verbunden sind.162 Auch wenn der Wunsch nach internationalem Austausch auf geteilten technischen und ökonomischen Problemen beruhte – diese Strukturbildungen erfolgten keineswegs friktionslos. Die Sicht auf offene Vergleichshorizonte wurde immer wieder von Interessengegensätzen der nationalen Industrien wie auch einzelner Unternehmen verstellt. Die Strukturmerkmale und Handlungslogiken des Kapitalismus setzten für die beteiligten Akteure im Spannungsfeld zwischen internationalem Wettbewerb und nationaler Interessenpolitik immer wieder Grenzen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, waren die durch die internationale Vernetzung ermöglichten konkurrenzförmigen Vergleichspraktiken Effekt und Motor dieses Spannungsverhältnisses. 161 Wenger, Communities of practice. A brief introduction, S. 1–3. 162 Vgl. im Anschluss an Adler: Epple, Flüchter u. Müller, S. 8 f.

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Leistungsvergleiche und Leistungswettbewerbe: Produktionsstatistiken und ihr Einfluss auf die Konkurrenz

Das statistische und diagrammatische Visualisieren von Informationen, um diese speichern, bearbeiten, weiterreichen und vor allem mit anderen Daten vergleichen zu können, ist eine sehr alte Kulturtechnik.1 Die Genese der modernen Statistik im Sinne eines systematischen Erhebens und Verarbeitens numerischen Datenmaterials zur politökonomischen Steuerung ist dagegen ein neueres und örtlich begrenzteres Phänomen. Sie begann mit den Bestrebungen der »Polizey« des späten Ancien Régime.2 Statistik wurde dann im Zeitalter moderner Nationalstaaten zu einem wichtigen Instrument der (Selbst-)Beobachtung und -Thematisierung von Gesellschaften sowie zum Medium politischer Steuerung und Rhetorik.3 Mit Beginn des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Studie in den 1870er Jahren begannen Staaten statistische Daten im Bereich der politischen Ökonomie zu erheben nun in einem weltweiten Maßstab zu vergleichen. Statistiken gehörten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert neueren geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zufolge »zu den wirkmächtigsten Steuerungsinstrumenten der modernen Welt«. Trotz aller und von Beginn an vorgetragener Kritik, die sie als ungenau, manipulierbar, abstrakt und schwer durchschaubar erscheinen ließ, setzten sie sich als »Ultima Ratio der Argumentation« durch.4

1 Vgl. den zeitlich bis ins europäische Mittelalter zurückreichenden Band von Rendgen u. Wiedemann. 2 Behrisch. 3 Osterhammel, S. 57–62. 4 Bilo, Haas u. Schneider, S. 9. In der Geschichtswissenschaft werden Wirtschaftsstatistiken in neueren Forschungen nicht länger als rein illustrativer Quellenbeleg für vergangene ökonomische Entwicklungen, sondern als historische Quellen eigenen Rechts betrachtet. Vgl. für diese Perspektive grundlegend: Tooze, Imagining national economies; ders., Vermessung der Welt. Jüngst: Crosthwaite, Knight u. Marsh; Bemmann; Bilo, Haas u. Schneider; zu Wirtschaftskurven: Tanner. Statistiken privatwirtschaftlicher Provenienz sind in dieser Perspektive zu Gunsten staatlicher Wirtschaftsstatistik bisher weitgehend ausgeblendet worden; dabei stellt der Blick auf statistische Praktiken von Unternehmen und Wirtschaftsbranchen ein Desiderat der unternehmenshistorischen Forschung dar, das großes Potenzial für eine transnationale Verflechtungsgeschichte von Unternehmen aufweist.

Leistungsvergleiche und Leistungswettbewerbe

Dabei sind Statistiken keineswegs eine neutrale Beobachtungsweise ökonomischer »Wirklichkeit«. Die jüngere soziologische und historische Forschung betont vielmehr die sozialkonstruktivistische Dimension von Statis­ tiken. Die Soziologin Bettina Heintz betrachtet Statistiken demnach als »numerische ›Weisen der Welterzeugung‹«.5 Für den Wirtschaftshistoriker Jakob Tanner prägen »numerische Repräsentationen« allgemein das Bild der Wirtschaft zentral: [S]ie verstärken den Eindruck ›die Wirtschaft‹ sei eine von der übrigen Gesellschaft abgesonderte Wirklichkeit, einerseits ein objektives System, das ›harte Tatsachen‹ produziert, andererseits ein besonders ideosynkratischer Aktor, der seinen Launen oft zu freien Lauf lässt und einmal Arbeitslosigkeit produziert und dann wieder ›Silberstreifen am Horizont‹ aufleuchten lässt.6 Diese »numerischen Repräsentationen« produzieren also in der Vorstellung der Menschen das Bild von einer Wirtschaft als handelnde Akteurin. Darüber hinaus betonte der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, dass Statistiken von ökonomischen Akteuren »gemacht« werden, um der komplexen und schwer steuer- und kalkulierbaren ökonomischen Wirklichkeit Sinn zu verleihen.7 An dieses sozialkonstruktivistische Verständnis knüpft das folgende Kapitel an und betrachtet Statistiken als numerische Vergleichspraktik in der deutschen und US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie. Dabei bildet »Statistik« den Oberbegriff und es sollen weitere Formen quantitativer Vergleiche wie Rankings, Diagramme und einfache numerische Vergleiche unter diesem Begriff betrachtet werden.8 Statistiken zur nationalen Produktion wichtiger industrieller Güter und Grundstoffe spielten innerhalb dieses internationalen Vergleichshorizonts in der globalisierten Wirtschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Insofern überrascht es nicht, dass statistisches Vergleichen in der Expertenöffentlichkeit der volkswirtschaftlich zentralen Eisen- und Stahlindustrie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls bedeutsam

5 6 7 8

Heintz, Welterzeugung durch Zahlen, S. 7 f., Zitat: S. 7. Tanner, S. 129. Tooze, Statistics and the German State, S. 3. Vgl. zu quantitativen Vergleichen und ihrer kommunikativen Eigenwirkung: Heintz, Numerische Differenz. Zur theoretischen Einordnung von Diagrammen vgl. Krämer.

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Leistungsvergleiche und Leistungswettbewerbe

wurde. Die Interessenverbände und technischen Vereine beschäftigten früh Experten, die Daten erhoben und veröffentlichten. Dieses Zahlenmaterial ermöglichte das numerische Vergleichen über Länder- und kontinentale Grenzen hinweg. Hierfür kamen insbesondere Statistiken zu den Ausstoßzahlen von Roheisen und Stahl zum Einsatz: Nationale Branchen konnten ihre Produktionsleistungen nun im Verhältnis zu denjenigen der anderen Länder betrachten und bewerten. In dieser Weise in Beziehung zueinander gesetzt, traten die Branchen in einen Wettbewerb um das Wachstum der Produktionszahlen ein.9 Ein solcher Leistungswettbewerb war jedoch weitgehend losgelöst von marktrationalen Gesichtspunkten von Angebot und Nachfrage und verstärkte die Tendenz einer in der Industrie verbreiteten einseitigen Fixierung auf Ausstoßzahlen, so die zentrale Hypothese. Dieses Kapitel widmet sich diesem Spannungsverhältnis zwischen statistischen Vergleichen und Konkurrenz und rekonstruiert, in welcher Weise statistisches Vergleichen den Wettbewerb zwischen der deutschen und der US -amerikanischen Branche beeinflusste und inwiefern Statistiken gleichzeitig den Wettbewerb steuern helfen sollten. Die folgende Analyse ist entlang dreier Praxisfelder statistischer Vergleiche der untersuchten Eisen- und Stahlindustrien strukturiert: – Erstens stehen statistische Vergleiche im Fokus, die internationale Wettbewerbe um Leistungsprestige zwischen nationalen Branchen befeuerten. – Zweitens wird der damit eng verbundene zeitgenössisch ausgerufene »Wettlauf um Beteiligungsrekorde« analysiert. – Drittens sollen Statistiken als Steuerungsinstrumente untersucht werden, die konjunkturelle Schwankungen vorhersagen und mittels instrumenteller statistischer Konkurrenzvergleiche den Wettbewerb ausschalten sollten. Dabei liegt der Fokus auf der Zeit zwischen dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, als die international ausgerichtete statistische Vergleichspraxis ein zentraler Bestandteil der wechselseitigen Beobachtung wurde.

9 Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert, S. 45 f.

Raumzeitliche Verknüpfungen

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Raumzeitliche Verknüpfungen: Vom nationalen »Haushaltsbuch« zu internationalen Leistungsvergleichen

Wenn man von der Eisen- und Stahlindustrie als einer im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits hochgradig vernetzten Branche spricht, so zielt dies in erster Linie auf die ökonomischen Austauschbeziehungen und ihre materielle Dimension von Kommunikation und Transport ab.10 Innerhalb dieses Prozesses von der historischen Forschung weniger beachtet wurde dabei die Rolle von Statistiken.11 Dabei war internationale Statistik in der Eisen- und Stahlindustrie eine wichtige Triebfeder des Vergleichens in der Konkurrenz. In den Vereinigten Staaten waren die Anfänge der statistischen Bemühungen der Eisen- und Stahlindustrie eng verbunden mit der Geographie des riesigen Landes. Diese enge Bindung war der Notwendigkeit geschuldet, die neu hinzugekommenen Landmassen des nordamerikanischen Kontinents zu kartieren, insbesondere zum Bau der transkontinentalen Eisenbahn. Der Eisenbahnbau befeuerte wiederum die Nachfrage nach Schienen und erschloss gleichzeitig den US -amerikanischen Binnenmarkt.12 Es galt nun innerhalb dieses unübersichtlichen Prozesses Informationen über die weit verstreuten Hüttenwerke zu gewinnen. In diesem Zusammenhang hielt der Politiker und Stahlindustrielle Abram S. Hewitt im Jahr 1856 vor der American Geographical and Statistical Society einen Vortrag mit dem Titel »On the Statistics and Geography of the Production of Iron«.13 Hierin postulierte Hewitt im Anschluss an den US -amerikanischen Statistikpionier James D. B. De Bow (1820–1867): 10 Vgl. insgesamt zu dieser Perspektive globaler transport- und kommunikationstechnologischer Vernetzung im 19. und 20. Jahrhundert: Rosenberg, Transnationale Strömungen. Zu internationalen Handelsbeziehungen der europäischen Eisen- und Stahlindustrien weiterhin Fremdling, Technologischer Wandel. 11 Die folgenden Ausführungen können der frühen Geschichte der Professionalisierung und Institutionalisierung statistischer Praktiken der Eisen- und Stahlindustrie seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht gerecht werden – ein Thema, das der systematischen historischen Erforschung harrt und sowohl Erkenntnisse über die Entstehung des Weltmarktes auf der Ebene der Wahrnehmungen als auch über die Branchenpolitik verspricht. 12 Misa, S. 1–43. Zur Rolle der transkontinentalen Eisenbahngesellschaften vgl. White, Railroaded. Der Nexus aus Geographie und wirtschaftlicher Entwicklung lässt sich bis in die heutige Zeit anhand der US-amerikanischen Geschichtsschreibung zur Frühzeit der Eisen- und Stahlindustrie ausmachen. Vgl. jüngst das wirtschaftsgeographische Vorgehen von Knowles. 13 Hewitt, On the Statistics.

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[S]tatistics are far from being the barren array of figures ingeniously and laboriously combined into columns and tables, which many persons are apt to suppose them. They constitute rather the ledger of  a nation, in which, like the merchant in his books, the citizen can read, at one view, all the results of a year, or period of years, as compared with other periods, and deduce the profit and loss which has been made in morals, education, wealth and power.14 Führe man Statistiken wie ein »Haushaltsbuch«, ermögliche dies laut De Bow also raumzeitliche Verknüpfungen und insbesondere temporale Vergleiche über »Gewinne« und »Verluste« im Zeitverlauf. Diese auf politökonomische Parameter gemünzten Aussagen übertrug Hewitt auf die Eisen- und Stahlindustrie und präsentierte verschiedene Statistiken und Diagramme zu Produktions- und Verbrauchszahlen (pro Kopf und total) der US -amerikanischen sowie zu den Eisen- und Stahlindustrien anderer Industrieländer – bis hin zu einem wohl ersten Versuch, statistisch die Weltproduktion zu erfassen.15 Diesen Überlegungen lag das zeittypische Fortschrittsdenken zu Grunde: Statistiken sollten den Fortschritt entlang der industriellen Produktion messen. Hewitts Materialbasis beruhte allerdings weitgehend auf Schätzungen, weil die Datenerhebung noch weit davon entfernt war, systematisch zu erfolgen.16 Außerdem stellte er Produktionszahlen der verschiedenen Länder aus unterschiedlichen Jahren und sogar Jahrzehnten in Tabellen einander gegenüber, um so über Schätzungen Lücken auffüllen und die ungefähre Weltproduktion für das Jahr 1855 bestimmen zu können (vgl. Abb. 1). Trotz dieser diskutablen Materialbasis förderten die hier dargebotenen Statistiken der (inter-)nationalen Eisen- und Stahlindustrie andererseits den tiefgreifenden Wahrnehmungswandel »zur Abstraktion vom Individuellen und Lokalen, zur Homogenisierung des Partikularen und Heterogenen, zur

14 De Bow, S. 9, zitiert aus: Hewitt, On the Statistics, S. 6. De Bow, der zentral in die Erstellung des US-Zensus involviert war, hatte in erster Linie fortlaufendes statistisches Material über die Bevölkerung im Blick, also zur Bevölkerungszahl mit der Verteilung von Geschlecht, Beruf, Ausbildung etc. Hierüber Zahlen über einen langen Zeitraum zur Verfügung zu haben, musste aus Sicht De Bows im Interesse aller aufgeklärten und zivilisierten Nationen sein. 15 O. V., Mr. Hewitt’s Prophecy, S. 8. 16 Diese instabile Basis seiner Zahlen hielt Hewitt aber nicht davon ab, auch im »Appendix« auf Schätzungen beruhende Statistiken und Verlaufsdiagramme zur US-amerikanischen und zur Weltproduktion anzufügen.

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Abb. 1: Weltweite Produktion von Roheisen im Jahr 1855 nach einzelnen Ländern, 1856.

Abb. 2 Hewitts »Prophecy«: Hochrechnung der zukünftigen weltweiten Roheisenproduktion zwischen 1875 und 1955, 1856.

Denkbarkeit von Zukunft«17. Dies wird insbesondere an einer weiteren Statistik deutlich, in der Hewitt, ausgehend von der errechneten Weltproduktion im Jahr 1855, in Zwanzig-Jahres-Schritten die Weltproduktion der Zukunft für die nächsten einhundert Jahre berechnete und auf diese Weise die Eisen17 Behrisch, S. 22. Behrisch schließt hierbei an Reinhart Kosellecks begriffshistorische Studien über die »Vergangene Zukunft« an. Vgl. hierzu genauer Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit.

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und Stahlindustrie als Wachstumsbranche darstellte, die alle 20 Jahre ihre Produktionszahlen verdoppeln könne (vgl. Abb. 2). Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war es vor allem die AISA, die sich innerhalb dieses gesteckten Rahmens um das systematische und kontinuierliche Sammeln und regelmäßige Veröffentlichen statistischer Zahlen zur US -amerikanischen Industrie verdient machte. Henry McAllister Jr., erster Präsident der Organisation, legte im Jahr 1868 Rechenschaft über die Bedeutung der statistischen Arbeit für die Branche ab. Dabei stellte er den Aspekt der Kartierung in den Vordergrund. Aus seiner Sicht galt es, fortlaufende Daten über die weit verstreuten Hüttenbetriebe im Land zusammenzustellen. Die Erkenntnis, dass das eine wichtige Aufgabe sei, hatte sich zu dieser Zeit auf Seiten der Unternehmen allerdings noch nicht überall durchgesetzt. Beim Zusammenstellen der Zahlen zur Produktion von Eisen und Stahl entlang der einzelnen Industrieregionen war McAllister, wie viele nachfolgende Statistiker auch, auf die Bereitschaft der Unternehmen angewiesen, dass diese die zugesandten Fragebögen zu Produktionszahlen ausfüllten und zurückschickten.18 Die statistischen Praktiken zielten zunächst auf das Zusammentragen von Produktionszahlen einzelner Staaten der USA ab. Aus den (unvollständigen) Zahlen erstellten die Autoren ganz ähnlich wie zuvor Hewitt unterschiedliche Tabellen. Die Produktionszahlen waren etwa nach einzelnen Produktgruppen (Band- und Stabeisen, Nägel, Bleche etc.) und entlang der einzelnen Staaten aufgeführt. Die Tabelle verzeichnete staatenweise die totalen Zahlen sowie die der einzelnen Produktgruppen für das Jahr 1866 (vgl. Abb. 3). Unterhalb der totalen Produktionszahlen führte der Bericht Zahlen im Zeitverlauf an, um etwa Rückschlüsse über das Wachstum bzw. den Rückgang von neuen und alten Produktionsarten zu liefern. Dies bezog sich auf die Herstellung von Roheisen in den einzelnen Staaten und entlang der neueren Entwicklung von der Holz- zur Steinkohle. Außerdem zeichnete sich insbesondere der Bessemerstahl als Wachstumsbereich der Branche ab.19 18 »Owing to the large number of ironworks of various kinds in the United States, and the vast extent of country over which they are scattered, the task of collecting reliable statistical information is by no means a light one. For, while the proprietors of most of the works report with commendable promptness, others do so only after frequent applications have been made. […] Since the beginning of the present year your Secretary has sent blanks for the purpose referred to, to the various ironworks throughout the country – about 1100 in number – and a very large proportion of them have been filled and returned. These have been arranged and tabulated, and the results obtained are herewith submitted.« American Iron and Steel Association, S. 10. 19 Ebd., S. 10–15.

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Abb. 3: Produktion der US-amerikanischen Walzwerke nach einzelnen Staaten, 1868.

Die AISA arbeitete also an einem komplexen »Haushaltsbuch« der US -amerikanischen Branche, in das fortlaufend aktuelle Zahlen eingetragen wurden und das dadurch aus Sicht der Betrachter vielfältige raumzeitliche Vergleiche ermöglichte. In Deutschland setzten solche statistischen Bestrebungen erst später ein. Im Unterschied zur US -Entwicklung initiierten die Unternehmen die überbetriebliche statistische Arbeit selbst. Im frühen 19. Jahrhundert führten sie  – zunächst noch rudimentär  – Buch über unterschiedliche Parameter ihrer Produktion, etwa von Einkauf der Rohstoffe und ihrem Verkauf. Diese Zahlen blieben ein Betriebsgeheimnis. Dies änderte sich erst im Laufe der 1870er Jahre. Nun bemängelten Unternehmensvertreter, dass die deutsche Branche über kein zentrales Organ mit branchenspezifischen Wirtschaftsinformationen bzw. -statistiken verfüge. Im Zuge der zunehmend globalisierten Wirtschaft wuchs auf Seiten der Unternehmen der Wunsch, einen Überblick über die ökonomischen Aktivitäten der eigenen Branche zu gewinnen und das eigene wirtschaftliche Handeln (als Unternehmen sowie als regionaler überbetrieblicher Zusammenschluss) in Relation zu betrachten. Mit der im Jahr 1881 erstmals erscheinenden Zeitschrift Stahl und Eisen konnte die deutsche Branche Abhilfe für diesen Missstand schaffen. Statistische Mitteilungen gehörten neben den technischen und wirtschaftspolitischen Abhandlungen von Beginn an zum zentralen Themen- und Aufgaben-

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feld der Zeitschrift, wodurch eine kontinuierliche statistische Beobachtung der deutschen Industrie entlang ihrer regionalen und interessenpolitischen Gliederungen möglich wurde.20 Den Binnenmarkt bildete die Zeitschrift in der Rubrik »Statistisches« bzw. »Statistische Mittheilungen des Vereins deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller« ganz ähnlich wie in den USA in erster Linie über die Angebotsseite, über die Produktionszahlen der Hochofenwerke sowie über die Gesamtproduktion des vorausgehenden Monats ab. Einzelne Roheisensorten wurden hier entlang der einzelnen Gruppenbezirke des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VDESI), der Zahl jeweils aktiver Werke und ihrer Produktionszahlen für einen zurückliegenden Monat tabellarisch aufgelistet und auch totale Zahlen der Gesamtproduktion aufgeführt. Die Mitgliedswerke schickten dazu ihre Daten an die Zeitschrift, die diese anschließend in die Statistiken überführte; Lücken wurden wie in der US -Statistik um Schätzungen und Hochrechnungen ergänzt (vgl. Abb. 4). Ähnlich wie im Bereich staatlicher Wirtschaftsstatistiken waren die Anfänge des systematischen Sammelns von Statistiken von Seiten der Eisen- und Stahlindustrie zu Beginn des »Age of Economic Measurement« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls chaotisch.21 Grund für die Omnipräsenz statistischer Zahlen war, dass sie im Unterschied zum geschriebenen Wort in besonderer Weise »mobil« waren, wie Bruno Latour betont: sie konnten relativ einfach und schnell über Sprach-, Länder- und Kontinentalgrenzen hinweg »herumgereicht« werden.22 So zitierte beispielsweise die Zeitschrift Stahl und Eisen das neueste Werk des belgischen Statistikers Paul M. Trasenster, jedoch nicht direkt, sondern über den Umweg über die britische Zeitschrift Ironmonger.23 Die Fachzeitschriften waren insofern entscheidend für das kontinuierliche Sammeln und Verbreiten statistischer Zahlen, die sie meist unkommentiert abdruckten.24 Welche Interpretationen ließen diese Zahlen zu? Trotz der ungenauen Zahlen und ihrer kaum überblickbaren Vielfalt halfen nationale Produktionsstatistiken, die einzelnen Eisen- und Stahlindustrien als nationales

20 Vgl. auch Hilz, S. 483–485. 21 Bemmann, S. 243; zum Prozess der Etablierung einheitlicher ökonomischer Mess- und Vergleichsstandards Kramper. 22 Latour, S. 7–13. 23 Vgl. exemplarisch: o. V., Vergleichende statistische Uebersicht. 24 »Very interesting deductions can be drawn from the tables which are here presented, but these are left for our readers.« O. V., The World’s Production, S. 24.

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Abb. 4: Statistische Mittheilungen des Vereins deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller, Stahl und Eisen, 1881.

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Ganzes zu konstruieren. Dies funktionierte ganz ähnlich wie auf der Ebene der volkswirtschaftlichen Wirtschaftsstatistik, die dabei half, »die Wirtschaft« als separat messbares Ganzes zu konstruieren, das sich fortan in der Vorstellung der Menschen von der übrigen sozialen Welt scheiden ließ.25 So erklärte die Zeitschrift Iron Age zu ihren monatlich erscheinenden internationalen Statistiken zur Roheisenproduktion im Jahr 1900: »The monthly statements […] of the producing capacity of the active blast furnaces in the United States keep the iron trade well informed of the rate at which pig iron is being turned out. Nevertheless, it is a great satisfaction to have at the expiration of each half year an official statement of the exact production during that time.«26 Die Zahlen ermöglichten es dem Betrachter, temporal zwischen vorausgehenden und aktuellen Ausstoßzahlen zu vergleichen, woraus sich eine konjunkturelle Entwicklung und die »Produktionsrate« ablesen ließen. Die Zahl am Ende des Monats repräsentierte vor allem »die« US -amerikanische Eisen- und Stahlindustrie als Kollektivsubjekt. Wie Landkarten oder Zensusdaten die Idee der Nation als »vorgestellte Gemeinschaften« (Benedict Anderson) konstruieren halfen, so machten statistische Verknüpfungen auf unterschiedlichen raumzeitlichen Ebenen die nationalen Branchen der Eisen- und Stahlindustrien als Handlungseinheiten vorstell- und lesbar.27 Von dieser Zahlenbasis ausgehend, konnten nun die nationalen Branchen hinsichtlich ihrer Produktionszahlen mit anderen Ländern verglichen werden. Die Zeitschrift Stahl und Eisen schrieb im Jahr 1883 über den Versuch einer Kompilation der Produktionsstatistiken der wichtigsten Industrieländer, diese internationale Verknüpfung sei vor allem deshalb von großer Bedeutung, »[d]a darin alle hauptsächlichen, sich mit der Eisenerzeugung befassenden Länder einbegriffen sind, so gewährt uns dieselbe nicht nur einen übersichtlichen Vergleich über die Thätigkeit der verschiedenen Districte, sondern bietet auch ein gedrängtes Bild über die Gesammt-Production der

25 Tooze, Statistics and the German State, S. 9. 26 O. V., Our Enormous Production, S. 17. 27 Wie sehr die Statistiken von Industriebranchen mit der nationalen Frage verbunden waren, zeigt der deutsche Fall: Die Produktionsstatistiken in der Zeitschrift Stahl und Eisen enthielten die Zahlen des seit 1842 zum deutschen Zollgebiet gehörenden Luxemburg. Damit wurden nationale Grenzen statistisch von wirtschaftlichen überspannt, indem die luxemburgischen Produzenten dem deutschen Binnenmarkt zugerechnet wurden, die freilich unter das Dach des inzwischen im Jahr 1879 wiedereingeführten Zollschutzes fielen. Vgl. Abb. 4.

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Erde«28. Bruno Latour bezeichnete eine solche statistische Praxis anschaulich als »drawing things together«.29 Insbesondere in ihrer tabellarischen Form vermochten sie laut Heintz »heterogene und weltweit verstreute Ereignisse zueinander in Beziehung zu setzen und dadurch den Eindruck eines zusammenhängenden Ganzen zu erzeugen.«30 Die Eisen- und Stahlindustrie erschien in dieser Weise als weltweit zusammenhängendes Ganzes, das sich in nationale Teile gliedert. Die einzelnen nationalen Industrien ließen sich nun mit Hilfe von Statistiken miteinander vergleichen. Während etwa die US -amerikanischen statistischen Kompilationen bereits Zahlenmaterial aus anderen Ländern enthielten, die hintereinander und jeweils für sich aufgelistet wurden, wurde es bald zur üblichen Praxis, internationale Produktionsstatistiken der nationalen Branchen nun auch direkt miteinander in einer Tabelle oder einem Diagramm entlang von Besser-schlechter-Vergleichen zu bewerten – und die Leistungen der einzelnen Länder zu hierarchisieren.31 In einem ersten Schritt boten Produktions- und Konsumstatistiken zunächst die Möglichkeit, die »zivilisierte« von der »unzivilisierten« Welt zu trennen. Der US -amerikanische Statistiker und Unternehmer Abram S. ­Hewitt schrieb im Jahr 1856: »[T]he consumption of iron is a social barometer by which to estimate the relative height of civilization among nations.«32 Auch der deutsche Metallurg Ludwig Beck verband Ende des Jahrhunderts Produktion und Verbrauch von Eisen und Stahl mit dem allgemeinen Fortschritt und erklärte diesen nationalen Ausstoß zum wichtigsten Maßstab für Wohlstand und Macht der Nationen.33 In dieser Funktionsweise deutet sich der wertende und ideologische Charakter von Statistiken bereits an: Die Statistiker des frühen 19. Jahrhunderts zogen dabei eine Linie zwischen den produktionsstarken (sprich: »zivilisierten«) Nationen und den noch nicht oder kaum industrialisierten »great outlying regions of barbarism«34. Diese Regionen waren für Hewitt eines Vergleichs sowie der Einordnung in eine Hierarchie der Zivilisation gar nicht erst würdig. Es wurde folglich üblich, 28 O. V., Vergleichende statistische Uebersicht, S. 475 f. 29 Latour. 30 Heintz, Welterzeugung durch Zahlen, S. 8; Behrisch, S. 22. 31 Vgl. zur Genese unterschiedlicher Formen von Leistungsvergleichen (oben / unten, besser / schlechter, einfach anders): Steinmetz, Above / Below. 32 Hewitt, On the Statistics, S. 13. 33 Beck, Geschichte des Eisens, Bd. 4, S. 3. 34 Hewitt, On the Statistics, S. 13.

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den Fokus dieser transnationalen Branchenvergleiche allein auf die führenden Industrieländer USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Belgien zu richten. Es war auf Basis der Produktionsstatistiken im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert üblich, diese wichtigsten Industrieländer in Nationenrankings einzuordnen. Diese Praxis lässt sich am Beispiel eines Artikels aus der Zeitschrift Iron Age aus dem Jahr 1902 verdeutlichen. Dieser Artikel listete in einer Tabelle jeweils für Roheisen und Stahl die Kennzahlen der Weltproduktion zwischen 1855 und 1900 auf. Diese Tabelle war dabei nach einzelnen Ländern und in Fünfjahresschritten gegliedert. Gerahmt war sie von zwei weiteren Auflistungen, in denen einzelne Länder nach Produktionsleitungen hierarchisiert waren: einmal für das Jahr 1850 und einmal für die neuesten Zahlen von 1900 (vgl. Abb. 5).35 Insofern waren solche Statistiken und Rankings damit nicht bloß deskriptiv. Schließlich wurden hier die Produktionszahlen der Industrien der einzelnen Nationen in einen auch visuell durch das Ranking betonten Leistungsvergleich überführt.36 Diese für das 19. Jahrhundert typischen synchronen und diachronen Leistungsvergleiche erzeugten wiederum Leistungswettbewerbe.37 Im vorliegenden Fall des Rankings der Eisen- und Stahlindustrien der führenden Industrienationen konkurrierten die nationalen Industrien um eine möglichst gute Position im Länderranking.38 Dieser Leistungsvergleich machte darüber hinaus den Wandel im Nationenranking zwischen 1850 und 1900 sichtbar. Mit diesem Vergleich wollte die Zeitschrift Iron Age vor allem das enorm turbulente Wachstum der US -amerikanischen Industrie in diesem recht kurzen Zeitraum verdeutlichen, in dem sie sich an die Spitze des Nationenrankings setzen konnte. 35 O. V., The World’s Production. 36 Vgl. diesen Mechanismus am Beispiel internationaler Hochschulrankings: Brankovic, Ringel u. Werron. 37 »In dem Maße, wie der Erwartungshorizont sich zur Zukunft hin öffnete, maßen sich Individuen, Unternehmen, Verbände, Institutionen, soziale Gruppen und ganze Nationen nicht nur im synchronen Gegenüber, sondern diachron entlang einer zeitlichen Skala schon erreichter und noch zu erreichender Fortschritte. Sie traten in Wettbewerbe ein.« Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert, S. 45 f. 38 Wie in jüngeren soziologischen Untersuchungen zu Rankings betont, erzeugen diese selbst Konkurrenzen: Indem sie erstens einen spezifischen Diskurs über die Leistungsfähigkeit der Branchen bzw. der Nationen förderten, zweitens das Leistungsprestige verknappten sowie drittens eine dynamische Statusordnung zwischen den nationalen Industrien etablierten. Diese drei Faktoren der Konkurrenzerzeugung durch Rankings sind angelehnt an Brankovic, Ringel u. Werron.

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Abb. 5: Die globale Roheisenproduktion 1855–1900 und das Nationenranking, 1902.

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Statistiken fungierten hieran anknüpfend als »rhetorische Figuren im numerischen Dress«, wie es die Ökonomin Deirdre McCloskey bezeichnet.39 Dies gilt in besonderer Weise für Verlaufsdiagramme, die neben Tabellen und Rankings ein häufig benutztes Mittel waren, um den Leistungswettbewerb der Nationen zu visualisieren und daraus eine Wettbewerbsgeschichte abzuleiten. Beim angeführten Beispiel der Nationenrankings (vgl. Abb. 5) konnten Betrachter die Rankings von 1850 mit denen von 1900 vergleichen und feststellen, dass sich die Reihenfolge der Nationen verändert hatte und die USA sich in diesem Zeitraum an die Spitze des Rankings setzen konnten. Verlaufsdiagramme konnten nun in noch anschaulicherer Weise als eine dynamische Wettbewerbsgeschichte visualisieren. Ein solches exemplarisches Verlaufsdiagramm verwendete der US -Fachmann Charles Kirchhoff im Jahr 1900 in einem Artikel über die deutsche Hüttenindustrie.40 Das hier verwendete Diagramm basiert auf Zahlen zur Roheisenproduktion der fünf wichtigsten produzierenden Länder USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Belgien (vgl. Abb. 6). Ausgehend von einer statistischen Tabelle übertrug er die Produktionszahlen der Länder zwischen den Jahren 1884 und 1899 in ein Kurven- bzw. Verlaufsdiagramm: »For the purpose of presenting a comparison of these figures in more striking form, the accompanying diagram has been plotted.«41 Die Kurven als »Figurationen« (Sibylle Krämer) ließen sich nicht nur anschaulicher vergleichen als die reinen Zahlen – dadurch, dass die verschiedenen Linien bzw. Kurven in einem Graphen abgebildet waren, wurden die einzelnen Leistungen unmittelbar diachron vergleich- und somit bewertbar.42 Die abgebildeten Branchen wurden so besonders anschaulich in ein konkurrenzförmiges Verhältnis zueinander gesetzt und es ließ sich aus dieser Figuration heraus eine sich über 15 Jahre erstreckende internationale Konkurrenzgeschichte erzählen.43 Betrachtet man nun diese »Geschichte«, die das Verlaufsdiagramm nahelegt, zeigt sich, dass die Linien von Frankreich und Belgien sich weit unten und damit weit entfernt von den drei weitaus produktionsstärkeren 39 »Statistics […] are figures of speech in numerical dress.« McCloskey, S. 21. 40 Kirchhoff, The Iron Industries of Germany [in Forts.], S. 3. Kirchhoff wurde u. a. an der Bergakademie in Clausthal zum Hütteningenieur ausgebildet. 41 Ebd. Zu beachten ist dabei, dass hier auf ein Umrechnen verzichtet wird: Während die US-amerikanische und britische Industrieproduktion in gross tons angegeben sind, wurden die kontinentaleuropäischen Zahlen in metric tons verzeichnet. 42 »Diagramme zeigen nicht Gegenstände, sondern Verhältnisse zwischen Gegenständen.« Krämer, S. 70. Hervorhebungen im Original. 43 Bemmann, S. 242.

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Abb. 6 Kurvenvergleich der nationalen Roheisenproduktion 1864–1899, 1900.

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Nationen Deutschland, Großbritannien und den USA befanden. Die drei letztgenannten Länder konkurrierten um die führende Position. Neben der diagrammatischen »Nähe« / »Ferne« zwischen den Linien ist zu beobachten, dass sich die Linien der drei anderen Nationen im Zeitverlauf annäherten, auseinandertraten oder kreuzten. Letzteres ist gerade bei den Kurven der US amerikanischen und der britischen Produktion zu beobachten, während die US -Produktion seit Mitte der 1890er Jahre der britischen endgültig »enteilte«. Darüber hinaus leiteten die Autoren der Statistiken in den dazugehörigen Artikeln in den Fachzeitschriften Wettbewerbsgeschichten aus den präsentierten Diagrammen ab, um die eigene Branche als erfolgreiches Entwicklungsmodell zu charakterisieren. Die beiden in den Jahren 1904 und 1911 anlässlich des 25. bzw. 50. Jubiläums der modernen deutschen Eisenund Stahlindustrie verfassten ausführlichen Artikel von Emil Schrödter sind exemplarische Beispiele für ein solch statistisch induziertes Erzählen.44 Schrödter nutzte hierfür diverse Verlaufs- und Säulendiagramme zu Produktionszahlen von Roheisen der drei führenden Nationen und resümierte aus den Vergleichen der drei Länder: »Die Leistung Amerikas ist besonders auffallend und bewundernswert; immerhin dürfen wir auf die Aenderung, die sich in der Stellung Deutschlands im Jahre 1909 gegenüber derjenigen im Jahre 1860 vollzogen hat, mit berechtigter Genugtuung blicken.«45 Die deutsche Leistung stand zwar weit im Schatten der US -amerikanischen; der temporale Vergleich mit den vorausgehenden Jahrzehnten und der Vergleich mit der britischen Entwicklung bot jedoch durch das total und relativ enorme Wachstum eine gewisse Selbstbestätigung für die deutsche Industrie. Schrödter präsentierte anschließend anhand der statistischen Vergleichszahlen eine Geschichte der deutschen Eisen- und Stahlindustrie, die zunächst von der »Blüte im Mittelalter« über einen »empfindlichen Rückschlag« im frühen 19. Jahrhundert verlief. Das ausgehende 19. Jahrhundert markiere nun wiederum den Wiederaufstieg der deutschen Industrie, was sich im erst langsamen und dann rasanten Anstieg der Produktionszahlen von Eisen und Stahl ablesen lasse, während es der deutschen Industrie dabei gelungen sei, die britische Industrie zunächst auf- und schließlich zu überholen.46 Es zeigt sich also auch, dass es in den Jahren um 1900 zur Routine wurde, dass US -amerikanische und deutscher Branchenakteure, das »Überholen« der 44 Schrödter, 25 Jahre deutscher Eisenindustrie; ders., 50 Jahre deutscher Eisenindustrie. 45 Ebd., S. 6 f. 46 Ebd., S. 2.

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Produktionszahlen Großbritanniens (»first industrial nation«) als nationale Erfolgsgeschichte »verspäteter«, aber nun umso erfolgreicher industrialisierter Nationen zu inszenierten. Insbesondere verknüpften die Branchenakteure eine gute Position innerhalb dieser Rankings und Diagramme mit einem hohen Prestige der nationalen Industrien. Das zeigen die zeitgenössischen Interpretationen der Rankings und Diagramme zu den nationalen Produktionszahlen. So formulierte James M. Swank in seiner History of the Manufacture of Iron in all Ages (1884): We are to-day the second iron-making and steel-making country in the world. In a little while we shall surpass even Great Britain in the production of steel of all kinds and we are destined eventually to surpass her in the production of pig iron. We already consume more iron and steel than any other country. These conditions and results are certainly gratifying to our national pride.47 Damit erklärte Swank die statistisch ablesbaren Erfolge der US -Industrie im Nationenranking zu einem Faktor nationalen Stolzes. Die im 19. Jahrhundert ebenfalls stark wachsende deutsche Industrie habe nach einem Artikel in der Zeitschrift Stahl und Eisen im Jahr 1902 angesichts der deutschen Zuwachsraten, »alle Veranlassung […], stolz darauf zu sein, daß im letzten Jahrzehnt die deutsche Roheisenerzeugung fast in gleichem Verhältniß wie die der Vereinigten Staaten zugenommen und die Englands nahezu erreicht hat«.48 Der in diesen beiden Stellungnahmen zum Ausdruck kommende Stolz der beiden untersuchten Industrien bezieht sich allein auf ein nationales Leistungs­ prestige – das dabei allerdings ökonomische Aspekte ausklammert. Die statistische Praxis der internationalen Besser-schlechter-Vergleiche erzeugte nicht nur Leistungswettbewerbe um nationales Prestige. Insbesondere im Umfeld Andrew Carnegies spielten internationale ausgerichtete statistische Vergleichswettbewerbe in den 1880er Jahren eine wichtige Rolle in der täglichen Arbeit. Dies ging so weit, dass diese internationalen Leistungswettbewerbe nicht zuletzt auch die tägliche Arbeit in den Werken selbst

47 Swank, History of the Manufacture of Iron, S. 408. 48 Schwabe, S. 1250. »Pre-eminence in iron and steel exports has always been a source of pride to British manufacturers, and perhaps more so in recent years, as the gap has widened between British iron and steel production and that of the United States or even of Germany.« O. V., Germany Pressing Great Britain, S. 171.

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beeinflussen konnten. So beschrieb eine Unternehmensgeschichte aus den 1940er Jahren die Arbeit und den zu Grunde liegenden Wettbewerbsethos in Carnegies Edgar Thomson Steel Works in den 1880er Jahren wie folgt: From the beginning, the Edgar Thomson Plant was a pace-setter. In four months, [Werksleiter; TM] Captain Bill Jones and his men doubled all previous production records for plants of comparative capacity. When a paper written by him was read before the British Iron and Steel Institute in 1881, the figures in it were greeted with incredulity on the part of the British steelmakers. For in it, Jones calmly announced that America was now the world’s leading producer of Bessemer steel.49 Die Bewunderung, die die »alten«, prestigeträchtigen europäischen Produzenten gegenüber der US -Industrie ausdrückten, wirkte wiederum motivierend auf die US -Produzenten zurück. So schrieb Andrew Carnegie im Jahr 1887 seinem Werksleiter William Jones stolz über britische Reaktionen auf die Produktionszahlen des Hochofens F der Edgar Thomson Steel Works: »My Dear Captain, You see Furnace F’s performance has impressed the highest authority in Britain, Sir Lowthian Bell.«50 Die statistische Vergleichspraxis blieb also keineswegs auf die Expertenöffentlichkeit und lobbyistische Motivationen beschränkt, sondern konnte durchaus die Arbeit in den Hüttenwerken selbst beeinflussen. Jones begriff seine Arbeit als Werksleiter als Teil eines dauernden Wettlaufs um immer neue Produktionsrekorde. Die internationale Fachöffentlichkeit wurde so zum Publikum einer konstruierten Konkurrenz, die sich – trotz der in den 1880er Jahren enorm hohen Profitabilität der Edgar Thomson Works – von rationalen und ökonomischen Gesichtspunkten wie denen des Absatzes ein Stück weit gelöst hatte.51 Folg49 Carnegie-Illinois Steel Corporation (1948), nicht paginiert. William »Bill« Jones’ (1839–1889), Titel »Captain«, verwies auf seinen Status als Bürgerkriegsveteran. Er war bis zu seinem Tod durch einen Arbeitsunfall ein einflussreicher Werksleiter von Carnegies Edgar Thomson Works nahe Pittsburgh. Vgl. jüngst zu Jones die – allerdings eher hagiographisch geratene – Biographie von Gage. 50 Senator John Heinz History Center, Records of the Carnegie Steel Corporation ­1853–1912 (bulk 1869–1890), MSS# 315, Historical Society of Western Pennsylvania, box 4, folder 4: Correspondence Letterbook – Transcriptions – 1887–1889: Carnegie an Jones, 1.4.1887. Carnegie bezog sich hier auf die Publikation von Bell, The Iron Trade. 51 Zwischen Carnegies Werken und Bethlehem Steel wurde die Konkurrenz zusätzlich zwischen einem ökonomisch (Carnegie)  oder hüttentechnisch (Bethlehem) ausgerichteten Management ausgetragen. Vgl. zu dieser vergleichenden Gegenüberstellung:

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lich widersprachen solche mythischen Konstruktionen des Wettbewerbs der schon zeitgenössisch verbreiteten Sicht, Statistiken seien neutral und besonders »rational«. Vor allem verengte sich im Zuge dieser nationalen Vergleichswettbewerbe die Bewertung der Leistung nationaler Branchen auf die reinen Ausstoßzahlen. Diese Entwicklung konnte problematische Auswirkungen haben. Angesichts dessen kritisierte der Technikhistoriker Ulrich Wengenroth das Verfahren, die »industrielle Leistungsfähigkeit und nationale Größe« mit dem »Ausstoß der Hochöfen und Walzwerke« zu verknüpfen. Dies habe zwar die nationalen Selbst- und Fremdbilder bis weit ins 20. Jahrhundert geprägt, führe laut Wengenroth in ökonomischer Hinsicht jedoch zu »merkwürdigen Befunden«: Mit Blick auf die Stahlproduktion »sahen alleine aufgrund dieser Vergleiche viele schon vor dem Ersten Weltkrieg das reiche Großbritannien hinter das deutlich ärmere Deutschland zurückfallen«52, so Wengenroth weiter. Laut der Publizistin Ulrike Herrmann fokussierten sich Teile der Wirtschaftsgeschichte ebenfalls viel zu stark auf die »Abfolge der Superlative« schwerindustrieller Produktionszahlen, um das Wachstum der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert einzuordnen.53 In dieser Verengung der Bewertungsmaßstäbe auf großindustrielle Ausstoßzahlen lag der Grundstein dafür, den »Mythos dieser eigentümlichen wirtschaftlichen Überlegenheit Deutschlands« fortzuschreiben, wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze ebenfalls kritisiert.54 Daraus folgte, so Tooze weiter, dass sich politische und wirtschaftliche Akteure in Deutschland im Leistungswettbewerb des A&SC University of Pittsburgh Library System, Helen Clay Frick Foundation Archives (AIS.2002.06), box 27, folder 4, Reports, September 12, 1891 – May 23 1892: Childs to Henry Clay Frick, 23.4.1892. 52 Wengenroth, Eiffelturm und Coladose, S. 11. 53 Herrmann, S. 14. Herrmann bezog sich in ihrer Kritik auf wirtschaftshistorische »Leistungsschauen« etwa bei Metz, S. 85 f.: »In seiner Roheisenproduktion hatte Deutschland England und 1913 sogar die USA überrundet. In der Stahlproduktion wurde Großbritannien schon 1893 eingeholt.« Die Stahlproduktion fungierte in sozialhistorischen Überblickswerken als Index für wirtschaftliche Entwicklung: »Between 1870 and 1890 iron output in the five main producing countries more than doubled (from 11 to 23 million tonnes), the production of steel, which now became the convenient index of industrialization as a whole, multiplied twentyfold (from half a million to 11 million tonnes).« Hobsbawm, S. 35. Vgl. dagegen die Kritik daran, Basisindustrien als Indikatoren für Vorhersagen und Entscheidungsfindungen heranzuziehen, weil die (Volks-) Wirtschaft damit faktisch mit sich selbst korreliert werde, bei Martino, S. 125. 54 Tooze, Ökonomie der Zerstörung, S. 13.

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20. Jahrhunderts immer wieder auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten sahen.55 Während Produktionsdiagramme einen solchen Wettstreit auf Augenhöhe (zumindest zwischen Erst- und Zweitplatziertem) suggerierten, war das deutsche Volkseinkommen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein höchstens mittelmäßig und weit entfernt vom britischen oder gar US -amerikanischen.56 Doch auch manche Zeitgenossen formulierten Kritik an der einseitigen Ausrichtung der Leistungsbewertung an Produktionsstatistiken. Vor allem britische Beobachter problematisierten die eindimensionalen statistischen Vergleichspraktiken. So druckte die Zeitschrift Iron Age im September 1902 einen Artikel des britischen Sozialisten Samuel G. Hobson (1870–1940) ab. Darin bezog sich Hobson auf das im englischen Sprachraum verbreitete Sprichwort »Comparisons […] are odious«, das darauf abzielte, dass Vergleiche für die Verglichenen schmerzhaft sein könnten.57 Hobson sah das internationale statistische Vergleichen zwar grundsätzlich als notwendiges Instrument der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung an. Er kritisierte jedoch die international dabei gängige Praxis: »It is astonishing what misconceptions arise in the minds of even the most acute observers as to international trade currents and trade magnitudes.«58 Er bemängelte das Verfahren, nur nationale Produktionszahlen zu vergleichen. Im Anschluss an ein Memorandum des British Board of Trade betonte er, dass die industriellen Produktionszahlen für eine valide Beurteilung mit anderen Vergleichshinsichten wie der Bevölkerungszahl und -entwicklung, kombiniert werden müssten.59 Diesem Motto folgend ließ Hobson statistische Tabellen zu den Produk­ tions- und Verbrauchszahlen (Kohle und Roheisen) der einzelnen Länder 55 Ebd., S. 14 f. Laut Tooze wurde Amerika so zum Dreh- und Angelpunkt ökonomischer Vergleiche; es fungierte als Vor- und Gegenbild, was schließlich in die Politik des Nationalsozialismus mündete, dessen Destruktivität nicht zuletzt auf die USA als deutsche Vergleichsfolie zurückzuführen sei. Vgl. ebd., S. 28–32. Siehe zu diesem seit 1890 gesamtgesellschaftlich zwischen dem deutschen Kaiserreich und den USA ausgetragenen »Wettlauf um die Moderne« auch die Beiträge in: Mauch u. Patel. Vgl. zu »Amerika« als deutsches Vor- und Gegenbild Kapitel 5 und 6 dieser Arbeit. 56 Tooze, Ökonomie der Zerstörung, S. 14. 57 Hobson, S. 19. »Toute comparaison est odieuse – comparisons are odious – is another old French proverb, also used in England from the fifteenth century onwards, to articulate the thought that comparisons may be emotionally hurtful to those being compared, or indeed hurtful to reason itself because they treat units as equal or similar that should not be equated in such a way.« Steinmetz, Introduction. 58 Hobson, S. 19. 59 Ebd.

Raumzeitliche Verknüpfungen

und in einzelnen Zeitschritten von 1870 bis 1900 und Aufstellungen zu ProKopf-Zahlen folgen  – inklusive der Berechnung prozentualer Steigerungsraten. Die Wachstumserfolge der deutschen und der US -amerikanischen Industrie brachte Hobson so mit deren größerem Bevölkerungswachstum in Verbindung. Tatsächlich zeigten die von Hobson zitierten Zahlen, dass das Vereinigte Königreich im Bereich der Pro-Kopf-Produktion der internationalen Konkurrenz noch immer ein gutes Stück voraus war. Gleiches galt – ebenfalls in absoluten Zahlen – für den Export.60 Andere Vergleichshinsichten ins Spiel zu bringen, um die Produktionszahlen nicht als alleinigen Bewertungsmaßstab von ökonomischem Erfolg und Misserfolg stehen zu lassen, war ein besonderes Anliegen der britischen Industrie. Denn auf diese Weise ließen sich etwa die Wachstumserfolge der Konkurrenten relativieren. Schon seit den 1870er Jahren kritisierten britische Branchenakteure die US -amerikanische »Tonnenideologie«. Zwar sahen sich die Briten mit wachsendem Wettbewerb konfrontiert, und die Rede vom »British Decline« kam auf. Die britischen Produzenten betonten aber die eigene marktwirtschaftliche Ausrichtung und orientierten sich an der Produktion hochqualitativer Stahlgüter.61 Die im Vergleich zur deutschen Eisen- und Stahlindustrie niedrigen britischen Wachstumsraten der Produktion wurden bis in die Forschung hinein als britische Unterlegenheit bei der technischen Entwicklung und bei den Produktionskosten fehlgedeutet.62 Auch gegenüber den USA dominierten sowohl zeitgenössisch als in Teilen der historischen Forschung quantitative Bewertungsparameter, während die Leistungen der qualitativ hochwertigen Stahlherstellung, insbesondere in Sheffielder Stahlwerken, weit weniger beachtet worden ist.63 Diese einseitigen quantitativ ausgerichteten Deutungen verweisen auf die besondere Evidenz und die soziale Eigendynamik von Produktionsstatistiken.64

60 Ebd., S. 19 f. 61 Tweedale, S. 225. 62 Wengenroth, Unternehmensstrategien in Deutschland, S. 312. Ein Beleg hierfür war, dass der Thomasstahl, den deutsche Produzenten nach England exportierten, von den britischen Produzenten verarbeitet und weiter exportiert wurde. »Das kann aber nur bedeuten, daß die britischen Werke in der Weiterverarbeitung Vorteile gegenüber ihren deutschen Konkurrenten hatten, denen es offenbar nicht gelang, ihren Stahl gleich in der höherwertigen Form als fertiges Walzprodukt im Ausland abzusetzen.« Ebd. 63 Tweedale, S. 225. 64 Heintz, Numerische Differenz bezeichnete diese besondere Eigenwirkung quantitativer Vergleiche als »numerische Differenz«.

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Diese internationale statistische Vergleichspraxis und die daraus resultierende alleinige Fokussierung auf Ausstoßzahlen hatten unmittelbare ökonomische Folgen – sie verstärkten die Tendenz der Eisen- und Stahlindustrie zur Überproduktion. In denselben Artikeln, in denen Emil Schrödter Deutschlands industrielle Aufstiegsgeschichte feierte, beschrieb er gleichzeitig die problematische Seite der Orientierung an quantitativen Parametern der Angebotsseite: »Aber wenn wir auch mit dem höchsten Verbrauche rechnen, so sehen wir doch, daß unsere Erzeugung erheblich, insbesondere seit 1900, dem heimischen Verbrauch vorangeeilt ist.«65 Diese Feststellung untermauerte er mit einem diagrammatischen Kurvenvergleich zwischen der Erzeugung und dem Verbrauch von Eisen zwischen 1880 und 1903 (vgl. Abb. 7). Zwar sah Schrödter – betrachtete er den Anstieg der Verbrauchskurve für sich – diesen als »Beweis für die Steigerung des Wohlstandes der Bevölkerung und die Hebung der Kultur in diesem Zeitraum«. Allerdings war der Verbrauch nicht nur nach 1900 stark eingebrochen; er blieb vor allem für den gesamten Zeitraum konstant und deutlich hinter der Erzeugung der deutschen Produzenten zurück.66 Schrödter benannte mit Blick auf den deutschen Binnenmarkt damit das latente Absatz- und Kapazitäten-Problem der deutschen Branche. Insgesamt wurden international ausgerichtete statistische Leistungsvergleiche verwendet, um das zukünftige Geschehen auf dem Weltmarkt abschätzen zu können. Vor allem jedoch – und trotz mancher zeitgenössischer (Selbst-)Kritik: Die US -amerikanische und die deutsche Eisen- und Stahlindustrie etablierten eine statistische Vergleichspraxis, die Leistungswettbewerbe um die höchsten Produktionszahlen und damit zyklische Überproduktionskrisen befeuerte. Der Wettbewerb wurde in dieser Weise um die höchsten Produktionszahlen ganzer nationaler Branchen und das damit verknüpfte nationale Leistungsprestige ausgetragen, während sich die Eisen- und Stahlindustrie dabei von marktrationalen Gesichtspunkten von Angebot und Nachfrage löste. Die Vergleichspraxis war jedoch keineswegs losgelöst von ökonomischen Rationalitäten: Sie sollte die einzelnen Indus­ trien zu einem wichtigen Faktor und Akteur des internationalen Wettstreits der Nationen machen.

65 Schrödter, 25 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 498. 66 Ebd., S. 497.

Der »Markt« als (inter-)nationaler »Wettlauf um Beteiligungsrekorde«

Abb. 7: Überkapazitäten: Kurvenvergleich Deutschlands Eisenerzeugung und -verbrauch pro Kopf, 1879–1903, 1904.

3.2

Der »Markt« als (inter-)nationaler »Wettlauf um Beteiligungsrekorde«

Die Nachfrage statistisch zu vernachlässigen korrespondierte mit einem in der Branche insgesamt verbreiteten produktions- und ausstoßorientierten Einstellung. Gleichzeitig jedoch waren sich die Branchenakteure bewusst, dass der internationale Markt und die Nachfrage eine knappe Ressource waren. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses konnten Produk-

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tionsstatistiken aufzeigen, welche Industrie sich größere Anteile vom internationalen Markt sichern konnte. So zitierte die Zeitschrift Iron Age im Jahr 1902 britische Rückschlüsse aus dem Vergleich des Produktionswachstums der britischen, der deutschen und der US -amerikanischen Branche: The answer appears to have been more encouraging to the Americans and Germans than to our countrymen, judging from the enterprise with which they have both considerably more than doubled their product within six years, while we have only permitted ourselves to advance by some 50 per cent. […] If past experience and especially that of the last ten years is of any value, the demands of the future are not likely to slacken. We can not but think that the figures we have cited supply much encouragement to both ironmasters and steel manufacturers to go ahead.67 Zwar sah dieser britische Beobachter Grund zum Optimismus angesichts der allgemein wachsenden Nachfrage und der vorhandenen Erfahrungswerte aus vorausgehenden Konjunkturen. Allerdings, so die britische Lesart hier, hatten die US -amerikanische und die deutsche Eisen- und Stahlindustrie deutlich mehr Anlass zu Optimismus, da ihre Wachstumszahlen weitaus größer waren. Es zeigt sich hier, dass unter den Akteuren der Eisen- und Stahlindustrien das Bild eines Marktes als amorphe Nachfragestruktur verbreitet war. Das statistische Vergleichen fungierte hierbei im Anschluss an den Soziologen Tobias Werron als »ein Instrument partikularistischer Weltorientierung«68. Es herrschte demnach die Vorstellung, dass die Welt durch die Knappheit der Güter geprägt sei, in der »jede Nation die ihr zustehenden Güter nur auf Kosten anderer Nationen erlangen« konnte.69 Vor diesem Hintergrund mussten sich aus Sicht der Akteure der Eisen- und Stahlindustrie Unternehmen und nationale Branchen mit einer möglichst hohen Produktion möglichst viele Marktanteile sichern. Der Markt gestaltete sich demnach als ein »Kuchen« oder »Steinbruch«, von dem sich Anbieter ein möglichst

67 O. V., An English View, S. 58. 68 Werron, Knappheitsnationalismus, S. 113. Hervorhebungen im Original. Knappheit sei dabei »als Resultat einer sozialen Vergleichsoperation zu verstehen, die einen angenommenen Umfang von Zugriffsinteressen (Bedürfnissen, Ansprüchen) zu einem angenommenen Umfang von Gütern ins Verhältnis setzt und zu dem Ergebnis gelangt, dass das Ausmaß der Zugriffsinteressen den Umfang verfügbarer Güter überschreitet«. 69 Ebd., S. 114.

Der »Markt« als (inter-)nationaler »Wettlauf um Beteiligungsrekorde«

großes Stück sichern mussten, um im Wettbewerb erfolgreich sein zu können. Besonders eindrücklich wird diese Sichtweise in einem Schaubild einer Broschüre des Stahlkonzerns U. S. Steel aus dem Jahr 1954 vermittelt: Einzelne Produzenten bearbeiten gleichzeitig einen großen Stein, der den Markt repräsentieren soll, mit Spitzhacken und tragen die herausgeschlagenen Stücke gewissermaßen als ihren Marktanteil davon.70 Die Dominanz quantitativer Vergleichs- und Bewertungsmaßstäbe zeigte sich auch dann, wenn die statistischen Vergleichspraktiken fern der Nationenkonkurrenz konkreter auf ökonomischen Wettbewerb um Marktanteile ausgerichtet waren. Auf dieser Ebene beeinflussten außerökonomische Semantiken die Handlungen und ihre Deutungen. So beschrieben US -amerikanische Branchenakteure den binnenwirtschaftlichen Wettbewerb zwischen den Unternehmen im Pittsburgher und Chicagoer Raum in den 1870er und 1880er Jahren als sportlichen Wettkampf. William Jones, Werksleiter der Edgar Thomson Works, verglich gegenüber Andrew Carnegie Ende der 1870er Jahre die harsch geführte Verdrängungskonkurrenz zwischen US -Unternehmen mit einem Pferderennen. Es bestehe lediglich die Gefahr, dass der Jockey das Pferd zu früh zu stark antreibe und damit vorzeitig ermüde. In ähnlicher Weise ineffizient könne das Management (»Reiter«) Mensch und Maschine (»Pferd«) im Wettbewerb (»Rennen«) antreiben.71 Die Wettbewerbssituation im März 1878 beschrieb er wie folgt: »North Chicago started off the year with a magnificent spurt. Yet in February, the E[dgar] T[homson]’s nose appears in front, we beat North Chicago badly and they worked as many days as we did. And as regards economy in production, we are far ahead of them all.«72 Der ökonomische Erfolg und die strukturellen Branchenbedingungen jener Zeit gaben ihm einerseits Recht: Die Carnegie-Werke erzielten in konjunkturellen Aufschwungphasen äußerst hohe Profitraten.73 Anderer70 United States Steel Co., S. 7. 71 Senator John Heinz History Center. Records of the Carnegie Steel Corporation ­1853–1912 (bulk 1869–1890), MSS# 315, Historical Society of Western Pennsylvania, Folder 3, Jones an Carnegie, 24.3.1878, S. 1. 72 Ebd. Vgl. zur Rolle von William Jones und der Edgar Thomson Works bei der Herausbildung eines konkurrenzbasierten, sportlich aufgefassten »esprit de corps« Bridge, S. 107–110. Zu Grunde lag die evolutionistische bzw. sozialdarwinistische Sichtweise Andrew Carnegies, der Konkurrenz als natürlichen Selektionsmechanismus für sämtliche sozioökonomischen gesellschaftlichen Bereiche betrachtete, der zum Nutzen aller das zivilisatorische Niveau zu heben vermochte. Nasaw, S. 221–232. Vgl. zur Rolle sozialdarwinistischen Denkens der US-amerikanischen Elite weiterhin Hofstadter. 73 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 259.

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seits standen diesem Erfolg nicht nur enorme materielle Kosten durch einen immensen Rohstoffverbrauch gegenüber. Aufgrund des harschen Arbeitstempos in Carnegies Werken und den damit verbunden Auswirkungen auf Mensch und Maschinen waren damit auch soziale Kosten auf Seiten der Arbeiterschaft der Hüttenbetriebe verbunden, die sich etwa in der hohen Unfallstatistik ablesen ließ.74 Kunden waren ebenfalls Leidtragende dieser Produktionspraxis: So hatten etwa die Eisenbahngesellschaften mit Brüchen der hastig produzierten Schienen zu kämpfen, deren Fertigungsqualität stark schwankte.75 Die deutsche Industrie war stärker auf Exporte angewiesen als die US Indus­trie, die über einen äußerst aufnahmefähigen Binnenmarkt verfügte. Daher wirkte sich die einseitige Fokussierung der deutschen Industrie auf Ausstoßzahlen stärker auf den internationalen Wettbewerb aus. In den 1880er Jahren bediente sich die Zeitschrift Stahl und Eisen eines Sprichworts, um die wirtschaftspolitische Forderung nach Schutzzöllen zu rechtfertigen: »Ein gemeines Sprichwort sagt, daß, wenn’s Brei regnet, man einen Löffel zum Mitessen haben muß, andernfalls wenig mitbekommt.«76 Mit »Löffel« war der hier legitimierte Zollschutz gemeint; dieser ermöglichte der deutschen Branche bei hoher Nachfrage (»regnender Brei«) »mitspeisen« zu können. Die Nachfrage wird in diesem sprachlichen Bild zwar als endliche, aber nicht als knappe Ressource dargestellt. Darüber hinaus vermittelt das Bild des »Löffels«, dass in der (möglichst hohen) Produktion – und nicht in der Nachfrage – der entscheidende Marktmechanismus gesehen wurde. Hier lag eine Konkurrenzvorstellung zu Grunde, die die Nachfrage ausklammerte: Allein die Produzenten und nicht die Kunden wurden in dieser von einer schiefen Metaphorik getragenen Sichtweise als handelnde Akteure betrachtet. In dem gleichen Artikel sprach der Autor angesichts der schwankenden Nachfrage und der sich abzeichnenden Überhitzung der internationalen Märkte im Jahr 1882 (wofür sie allein die britische Industrie beschuldigten) von einer drohenden »Ueberschwemmung«. Das Bild hatte sich also vom »regnenden Brei« einer hohen Nachfrage, bei der man als Produzent nur aktiv werden musste, zur Überproduktion als »Ueberschwemmung« gewandelt:

74 Vgl. die erstmals systematisch erfolgte statistische Erhebung aus dem frühen 20. Jahrhundert (1907–1908) durch die Sozialexperten des reformistischen Pittsburgh Survey: Eastman. 75 Vgl. hierzu genauer Kapitel 4.3 dieser Arbeit. 76 O. V., Die Lage der deutschen Eisenindustrie, S. 49.

Der »Markt« als (inter-)nationaler »Wettlauf um Beteiligungsrekorde«

Nun sahen sich Branchenvertreter mit einer nicht kontrollierbaren Natur­ katastrophe konfrontiert. Die durch das Handeln der ausländischen Konkurrenz verursachten Marktbewegungen einer schwankenden Nachfrage bezeichnete die Zeitschrift Eisen und Stahl schließlich als »tolle Hexentänze«.77 Insofern erschien der Weltmarkt hier als eine »irrationale« Sphäre, die als von (über-)natürlichen Kräften gelenkt erschien. Dieses irrationale Außen des Weltmarkts übte jedoch einen »bedeutenden, unleugbaren Einfluß« auf die Produzenten auf dem deutschen Binnenmarkt aus, wie der Artikel schließlich feststellte.78 Daraus wurde schließlich der Schluss gezogen: »Im Inlande sollten wir aber das Heft in den Händen behalten und die Verhältnisse vollständig beherrschen.«79 Damit war gemeint, dass die deutsche Branche an ihrer Strategie aus kartelliertem Binnenmarkt und Zollschutz festhalten sollte, um sich der äußeren Bedrohung des Weltmarktes erwehren zu können. Die deutschen Produzenten versuchten, diese kollektive Organisation als rationalen Schutz im eigenen Machtbereich des kontrollierbaren »Innen« gegen das irrationale und gefährliche »Außen« zu legitimieren. Es ging darum, zu verschleiern, dass Kartelle den Unternehmen und Finanziers eine adäquate Verzinsung ihres Investments gewährleisten sollten, indem sie Angebot und Nachfrage durch Produktions- und Verkaufsquoten koordinierten und angesichts schwankender Konjunkturen die Brancheninteressen insgesamt repräsentierten.80 Außerdem galt es, mit Hilfe solcher Konstruktionen des Markts eigene Absatzprobleme sowie den eigenen Beitrag zu internationalen Überproduktionskrisen auf das »Außen« der Weltmarktkonkurrenz zu projizieren. Solche Konstruktionen dienten der Selbstvergewisserung der eigenen Wettbewerbsstrategien und standen im Kontext einer besonders ausgeprägten Krisenwahrnehmung der Branchenakteure, die dauerhaft über die selbst verschuldeten Konjunkturschwankungen klagten, die freilich »viel eher als in den meisten anderen Industrien solch dramatische Formen annehmen« konnten, wie Ulrich Wengenroth betont.81 Diese Entwicklung lässt sich für die Zeit nach 1900 auch in der US -amerikanischen Branche ablesen: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beklagten sich die US -Produzenten nicht nur in Abschwungphasen über die schwankende

77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Fear, S. 236. 81 Wengenroth, Krisen in der deutschen Stahlindustrie, S. 49 f.

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Konjunktur. Das herrschende Motto »steel is either  a prince or  a pauper« sollte nicht länger gelten. Statt allein auf Verdrängungskonkurrenz zu setzen, sollte »Kooperation« das neue Wettbewerbsprinzip werden. Die Produzenten wollten sich überhaupt weniger an binnenwirtschaftlichen Leistungswettbewerben orientieren, sondern den Wettbewerb vielmehr kooperativ steuern.82 Allerdings beendeten Kartelle keineswegs den Wettbewerb, sondern leiteten diesen lediglich um. Es entstand ein Druck zur vertikalen Integration der Unternehmen und zur Diversifikation von Produktlinien, um die syndizierten Produktbereiche umgehen zu können.83 Unternehmen waren durch Kartellierungen also dazu gedrängt, die »economies of scope« zu bedienen. Gleichzeitig förderten sie aber auch weiterhin eine Orientierung an den »economies of scale«. Dessen waren sich schon zeitgenössische Branchenakteure bewusst. So problematisierte Emil Schrödter die Rolle der Kartelle hinsichtlich der Überproduktion wie folgt: Der Einfluß solcher Verbandsbildungen auf die Entwicklung unserer Eisenindustrie muß einem späteren Geschichtsschreiber vorbehalten bleiben. Heute macht es manchmal den Eindruck, als ob der Tatendrang im einzelnen Falle zu stark durch sie angefeuert werde, daß Neu- und Erweiterungsbauten nicht aus dem Bedürfnis erhöhter Nachfrage, sondern als Nebenerscheinung von Verbandsbestimmungen vorgenommen werden, und daß wir durch den Wettlauf um Beteiligungsrekorde in naheliegender Zeit zu Riesenproduktionen kommen, deren Absatz nicht mehr im Bereich der Möglichkeiten zu liegen scheint, mag man auch noch so optimistisch veranlagt sein in Bezug auf die Zunahme in der Aufnahmefähigkeit des Marktes.84 Schrödter benennt hier das Problem des Aufbaus von Überkapazitäten sehr deutlich, auch hinsichtlich der Gründe und der Rolle der Kartelle und Syndikate. Die Forschung hat in diesem Zusammenhang herausgearbeitet, dass die Kartellierung der deutschen Branche »die Orientierung an Produktivitäts82 »It has been said that ›steel is either a prince or a pauper.‹ Under conditions of extreme competition this is inevitable, but experience has proved that with co-operation as the guiding policy steel need not be either a prince or a pauper, and stable conditions may be maintained to the mutual benefit of manufacturer, merchant, consumer and laborer.« O. V., Competition versus Co-operation, S. 1863. 83 Fear, S. 253. 84 Schrödter, 50 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 12. Hervorhebungen im Original.

Der »Markt« als (inter-)nationaler »Wettlauf um Beteiligungsrekorde«

steigerung und Kapazitätserweiterung« gefördert habe, was eine »Entfremdung der Unternehmen von Absatzgesichtspunkten« zur Folge gehabt habe, während man Absatzprobleme den Syndikaten übertrug.85 Die kollektive Organisation der deutschen Eisen- und Stahlindustrie verstärkte ein Problem, das seinen Ursprung in der starken Orientierung an statistisch erzeugten internationalen Leistungswettbewerben und einem Verständnis vom Markt als »Wettlauf um Beteiligungsrekorde« hatte, wie es Emil Schrödter selbst in kritischer Absicht bezeichnete. Dieses Problembewusstseins änderte nichts daran, dass die deutsche Branche versuchte, ihre Überproduktion auf dem Weltmarkt zu verkaufen – und damit die erkannten Probleme selbst verschärfte.86 So schrieb Schrödter, »daß die Werke, um ihre Produktion aufrecht zu erhalten, genötigt waren, in starkem Maße das Ausland aufzusuchen«87. Überhaupt: »Der Absatz dieser großen Produktion ist nur dadurch möglich geworden, daß die deutsche Eisenindustrie den Weltmarkt in steigendem Maße aufgesucht hat.«88 Um im Ausland überhaupt konkurrieren zu können, mussten die Produzenten hierbei wiederum auf Dumpingpreise zurückgreifen, die unter dem Binnenmarktpreis lagen, was allein durch den Zollschutz ermöglicht wurde.89 So entstand ein verhängnisvoller Produktionskreislauf, der noch durch die stetige Produktivitätssteigerung der einzelnen Anlagen verstärkt wurde.90 Die deutschen Produzenten hatten wiedermal »zu viele Eier zum Pudding genommen«, wie es britische Branchenvertreter in Bezug auf die aggressive deutsche Konkurrenz in metaphorischer Eindrücklichkeit bezeichneten.91 85 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 268. 86 Ebd. 87 Schrödter, 25 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 498. 88 Schrödter, 50 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 7. Hervorhebungen im Original. 89 Schrödter, 25 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 499. 90 »Prüft man die Entwicklung unserer Eisenindustrie im einzelnen, so fällt auf, daß unsere Eisenhütten nicht an Zahl zugenommen, sondern im Gegenteil abgenommen haben, und daß der Fortschritt in der Steigerung der Einzelleistungen liegt.« Für die Zukunft sah Schrödter immerhin durch »zulässige Höchstproduktion gegebene Grenzen« der Produktion: »Aber die von mir schon vor einer Reihe von Jahren ausgesprochene Anschauung, daß der ökonomische Effekt der Massenerzeugung mit einer gewissen Produktion seine Grenzen erreichen würde, scheint sich doch zu bestätigen«. Schrödter, 50 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 11. 91 So wird in der Zeitschrift Stahl und Eisen das englische Sprichwort »to over-egg the pudding« zitiert, das in Bezug auf den verschärften deutschen Export als Reaktion auf die deutsche Überproduktion im britischen The Mining Journal angeführt wurde. O. V., Zur Lage der englischen Eisenindustrie, S. 1536.

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Dabei waren sich manche Branchenakteure zunehmend bewusst, dass ihr Verständnis vom Markt Überproduktionskrisen befeuerte. Der Manager und Unternehmer James A. Farrell (1863–1943) problematisierte das Marktverständnis in seiner Branche im Jahr 1910 wie folgt: The world’s market for steel may be likened to a huge reservoir, into which the entire production of the steel mills is poured, and, notwithstanding that it is, so to speak, divided off by bulkheads, you cannot pour into one compartment more than it can hold without its overflowing into other compartments; consequently, any unusual effort to wrest the natural markets from the manufacturer, who, by reason of geographical proximity or political or financial affiliations, is reasonably entitled to them, means that a corresponding tonnage must be disposed of by him elsewhere, in the natural market of his competitors. This would be a form of unnatural aggression which would be as unprofitable as it would be unwise.92 Farrell verwies auf die Grenzen der Aufnahmefähigkeit des Weltmarktes, der häufig als eine unendliche Aufnahmegröße erschien, sich aber in unterschiedliche und national abgegrenzte Märkte gliederte. Das Exportieren erklärte Farrell dabei grundsätzlich zu einem ungebührlichen Ausgreifen nationaler Industrien über ihre jeweiligen »natürlichen« nationalen Einflusssphären hinaus. Angesichts dieses Zustands, der immer wieder zu einem ruinösen Wettbewerb führe, plädierte Farrell, der wenig später Präsident von U. S. Steel werden sollte, für eine internationale Kooperation.93 Farrell verwies hier zudem auf das wiederkehrende Dilemma der globalen Eisen- und Stahlindustrie, das in der fortwährenden Spannung zwischen globalisierter Weltwirtschaft und nationaler Märkte und Wirtschaftspolitikpolitik bestand. Trotz solcher selbstkritischen Töne folgten daraus keine neuen Absatzstrategien. Auch die von Farrell geforderten internationalen Kooperationsbemühungen, um Absatzkrisen und Preisverfall zu verhindern, blieben meist auf Europa beschränkt.94 So wurde von deutscher Seite der Ausweg des »Exportventils« als einzige und quasi-natürliche Lösung angesehen. Man 92 Farrell, S. 47. 93 Ebd., S. 49 f. Farrell übernahm im Jahr 1911 die Leitung U. S. Steels von Elbert H. Gary und sah sich ebenfalls der Idee der Kooperation verpflichtet, die den Wettbewerb durch Absprachen zwischen Wettbewerbern einhegen sollte. Levy, J., S. 264–307. 94 Vgl. etwa für die Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft 1926–1927: Würzler.

Der »Markt« als (inter-)nationaler »Wettlauf um Beteiligungsrekorde«

spiegelte sich dabei immer wieder stolz in den durch Dumpingpreise ermöglichten Exporterfolgen.95 Die britischen Klagen über die aggressive deutsche Konkurrenz und den allgemeinen Preisverfall angesichts internationaler Überkapazitäten wurden zur Kenntnis genommen und als Beleg der eigenen Stärke aufgefasst  – ohne dass sich die deutsche Branche dabei als Mitverursacher dieser ungünstigen Preisentwicklungen betrachtete.96 Stattdessen legitimierte die Zeitschrift Stahl und Eisen immer wieder die aggressive Wettbewerbsstrategie der deutschen Eisen- und Stahlindustrie. So hieß es im Jahr 1912 zur »Stellung der Eisenindustrie im Wirtschaftsleben«: Es ist nach menschlicher Voraussicht nützlich für unsere Volkswirtschaft gewesen, daß die deutsche Eisenindustrie sich für diesen über kurz oder lang herankommenden großen Mehrbedarf des Weltmarktes gerüstet hat. Zu viel Eisen zu erzeugen, ist gewiß vom Standpunkt der Verzinsung der in der Eisenindustrie angelegten großen Kapitalien unerwünscht; zu wenig Eisen herzustellen, ist aber wieder vom Standpunkt der Eisenverbraucher unangenehm. Und wir hätten in diesem Jahre vielleicht bereits alle Schattenseiten des Eisenmangels kennen lernen können, wenn unsere Eisenwerke sich nicht in den letzten Jahren ausgebaut hätten.97 Die Schuld an der Überhitzung der internationalen Märkte gaben die deutschen Produzenten einerseits der ausländischen Konkurrenz; andererseits legitimierten die deutschen Produzenten die eigenen Überkapazitäten als Dienst an Volkswirtschaft und Verbrauchern. Betrachtet man zusammenfassend das Wettbewerbs- und Marktverständnis der Eisen- und Stahlindustrie, so lassen sich im Anschluss an den Soziologen Urs Stäheli diese dezidiert »außerökonomischen« Semantiken als Anleihen an das »Populäre« verstehen. Demnach müsse die Ökonomie für beteiligte Akteure attraktiv sein und dürfe sich nicht nur auf »rationale« Kalkulationen beschränken, sondern müsse sich populärer Anleihen bedienen. Dieser Mechanismus des »Populären in der Ökonomie«, den Stäheli aus der US -amerikanischen Börsenspekulation um 1900 entwickelt, lässt sich auf die Eisen- und Stahlindustrie übertragen.98 Die Semantiken des sportlichen Wettbewerbs, des »Wettlaufs um Beteiligungsrekorde«, Semantiken des 95 96 97 98

Schrödter, 25 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 498. O. V., Zur Lage der englischen Eisenindustrie, S. 1536. Johannes, S. 1981. Stäheli, S. 20.

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»großen Fressens« und des irrationalen und (über-)natürlichen Markts als Naturgewalt oder »Hexentanz« lassen sich hier beispielhaft anführen. Diese Semantiken sollten dem komplexen konjunkturellen Auf und Ab Sinn verleihen und die eigenen Wettbewerbsstrategien legitimieren; das alles war das Ergebnis einer statistischen Vergleichspraxis, die den internationalen Wettbewerb als Leistungswettbewerb konstruierte, der seinen Ursprung im Außerökonomischen hatte, aber in der Überproduktion konkrete ökonomische Folgen nach sich zog. Zwar braucht nach Stäheli die Ökonomie populäre Beschreibungen ihrer Abläufe um zu funktionieren; analog zur Finanzindustrie, die Stäheli im Blick hat, handelte sich die Eisen- und Stahlindustrie durch die beschriebenen außerökonomischen Semantiken »aber gleichzeitig eine große Zahl von Problemen ein […], mit deren Bearbeitung sie unaufhörlich beschäftigt ist.«99 Um diese selbst verursachten bzw. verschärften Probleme zu lösen, sollten Statistiken wiederum das entscheidende Mittel der Wahl sein.

3.3

Statistiken als Steuerungsinstrument in der Konkurrenz

Die Expansion der Eisen- und Stahlindustrie seit Mitte des 19. Jahrhunderts war geprägt von starken konjunkturellen Schwankungen und Krisen, die zum Merkmal der globalisierten Weltwirtschaft im Allgemeinen und der Eisen- und Stahlindustrie im Besonderen wurden. Auf Phasen großer Nachfrage folgte der Ausbau von Kapazitäten, um der hohen Nachfrage genügen zu können, die am Ende der Boom-Phasen in mitunter drastischen Überproduktionskrisen und Preisverfall mündeten.100 In dieser Unsicherheit bestand ein entscheidendes Problemfeld unternehmerischer Planung. So hieß es in der Zeitschrift Iron Age im Jahr 1902: »The problem remains to-day the same as in former periods. Will the world consume the vast increase of steel now being arranged for, or will that increase prove the undoing of those whose energy and enterprise have made possible?«101 Die Nachfrage war schwer vorhersehbar und erschwerte damit im Tagesgeschäft das Abwägen von Investitionsentscheidungen. Hohe Investitionskosten machten die Un99 Ebd., S. 31. 100 Vgl. diese Zustandsbeschreibung für das Jahr 1892 in o. V., Balancing Pig Iron Production, S. 483; zu diesem Strukturmerkmal der besonderen Krisenanfälligkeit der Branche: Wengenroth, Krisen in der deutschen Stahlindustrie, S. 49 f. 101 O. V., An English View, S. 58.

Statistiken als Steuerungsinstrument in der Konkurrenz

kalkulierbarkeit der kapitalistischen Zukunft für Unternehmer in der Stahlindustrie zu einem besonderen Problem: »One of the first questions that a steel manufacturer asks himself when putting down a new or extending and modernizing an old plant, is that of how far there is likely to be a market for the increased product.«102 Nur eine hohe Auslastung der kapitalintensiven Anlagen ermöglichte die Amortisation der Kapitalanlage. Durch das fortlaufende Sammeln von Produktionszahlen und dem Erstellen von Statistiken hatte die Industrie ein Instrument zur Hand, um die unsichere ökonomische Zukunft kalkulierbarer zu machen. Schließlich konnte durch das fortlaufende Sammeln von Produktionszahlen nun auch diachron zwischen einzelnen Zeitschritten verglichen werden. Ein nächster Schritt bestand darin, aus der vergangenen und gegenwärtigen konjunkturellen Entwicklung Rückschlüsse über die Zukunft zu ziehen. Auf Grundlage dieser Zahlen versuchten Statistiker zu prognostizieren, wie sich die Produktionszahlen der Eisen- und Stahlindustrie in der Zukunft gestalten könnten. Abram S. Hewitt stellte bereits im Jahr 1856 eine viel diskutierte Hochrechnung der Eisenproduktion zwischen seiner Gegenwart und dem Jahr 1955 vor (vgl. Abb. 2). Zu dieser Zeit erschien die Branche aufgrund der zunehmenden Nachfrage beim Eisenbahnbau als wachsende und damit vielversprechende Branche der Zukunft. Er versuchte, dieses Wachstum genauer zu prognostizieren, um diese vielversprechenden, aber keineswegs gesicherten Aussichten der Branche, in der er selbst unternehmerisch tätig war, nun auch numerisch bestimmen zu können. In Schritten von zwanzig Jahren, so Hewitts auf Schätzungen und Hochrechnungen beruhenden statistischen Prognosen, sollte sich die Weltproduktion jeweils verdoppeln: von 14 Mio. t im Jahr 1875 über 28 Mio. t zwanzig Jahre später im Jahr 1895 bis hin zu 192 Mio. t ein Jahrhundert später, im Jahr 1955.103 Bei Hewitts Berechnung, so könnte man mit dem Marktsoziologen Jens Beckert sagen, handelt es sich um eine »fiktionale Erwartung«. Eine solche soll laut Beckert der Ungewissheit der kapitalistischen Zukunft begegnen, und zwar durch einen »Interpretationsrahmen, der eine Situation durch die Imagination von zukünftigen Zuständen der Welt und von Kausalbeziehungen anscheinend beherrschbar macht«104. In Hewitts Prophezeiung wird die Eisen- und Stahlindustrie zu 102 Ebd. 103 Hewitt, On the Statistics, S. 17. 104 Beckert, Imaginierte Zukunft, S. 23. In einem allgemeinen Zusammenhang von Zukunftsvorstellungen haben Rüdiger Graf und Benjamin Herzog den Begriff der »Erwartungszukunft« vorgeschlagen. Diesen kennzeichne, dass man sie »klassischerweise

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einer im Weltmaßstab auf hundert Jahre hinaus durchgehend exponentiell wachsende – und damit zukunftsträchtige Branche beschrieben. In diesem Sinne sollte Hewitts Prognose Investitionsentscheidungen in einer Branche beeinflussen, die aufgrund des statistisch belegbaren Wachstums vielversprechend große Gewinne in der Zukunft erwarten ließ. Hewitt war selbst Unternehmer und konnte sich selbst und der US -amerikanischen Branche insgesamt vergewissern, dass sie vor einer gesicherten ökonomischen Zukunft stand. Die Zeitschrift Iron Age nahm in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Bezug auf Hewitts Prognose. Dabei stellte sie Ende des 19. Jahrhunderts fest, dass diese Prognose der tatsächlich eingetretenen realen Weltproduktion zwar einerseits sehr nahekam.105 Andererseits wurden konjunkturelle Schwankungen und Krisenentwicklungen in Hewitts Berechnung jedoch eingeebnet. Konfrontiert mit diesem Problem versuchte die Zeitschrift Iron Age Produktionsstatistiken auch als Instrument zur Vorhersage konjunktureller Entwicklungen zu etablieren, die gerade auch die Krisen kalkulierbarer machen sollten. So wurden in einem Artikel der Zeitschrift Iron Age von 1911 entlang der Roheisenproduktion der gesamten US -Hüttenindustrie konjunkturelle Krisenverläufe diagrammatisch miteinander verglichen. Der Zeitverlauf nach dem letzten großen konjunkturellen Einbruch im Jahr 1893 (bis 1899) wurde mit dem Krisenverlauf der Jahre nach 1907 (bis 1913, wobei der Graph in der Gegenwart des Artikels im März 1911 endet) in einem Graphen abgebildet (vgl. Abb. 8): Tatsächlich zeigten sich entlang dieses Vergleichssignals einige Ähnlichkeiten in den Kurvenverläufen. Die Frage, die sich aus Sicht der Zeitschrift Iron Age stellte, war, ob die erneute Erholung, die sich seit dem Januar 1911 abzeichnete, von längerer Dauer sein werde. Die Ähnlichkeit der Kurven­ und auch weiterhin in politisch-sozialen Ideologien und Programmatiken, intellektuellen Großentwürfen und Technikvisionen aber auch als Identifikations- und Projektionsfläche individueller Hoffnungen findet. Für sie war die Verbindung von normativ definierter Zielvorstellung, dem Bewegungsindex eines möglichst linearen Fortschritts und vor allem der Erwartungssicherheit des Eintreffens kennzeichnend gewesen.« Graf u. Herzog, S. 504 f. Vgl. zu »Erfahrung« und »Erwartung« als Kategorien in wirtschaftshistorischer Perspektive Jakob, Nützenadel u. Streb. 105 O. V., Mr. Hewitt’s Prophecy, S. 8 f. »It appears, therefore, that 43 years ago a statistical student of the world’s iron industry – at a period, too, when industrial statistics were in their infancy – foretold with remarkable accuracy the world’s future production of pig iron down to the present time.« Zitat: ebd., S. 9; vgl. auch ders., The Hewitt Pig Iron Prophecy, S. 1606 f.

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Abb. 8 Temporaler Kurvenvergleich von Überproduktionskrisen, 1911.

verläufe suggerierte diese Lesart. Nach Auffassung des Autors waren hieraus auch allgemeine Muster von Krisenabläufen ablesbar: Should the parallelism continue with the same degree of regularity as indicated above, an upward movement would be seen in the next few months, to be followed by about six months of irregularity, but with  a declining tendency and then succeeded by an upward movement to a new high record. Another interesting feature of the chart is that the advances and declines, although represented by very different totals, have followed approximately the same percentage basis and thus give some support to the cycle view, which there has been so much of disposition to ignore in a connection with the recovery from the panic of 1907. In spite of the differences in the causes of the panics of 1893 and 1907 and in after-panic influences in the respective periods, there is much in the pig iron production curves suggesting that recovery from one panic has certain phases which may with reason be looked for in the recovery from another.106 106 O. V., Pig Iron Output, S. 824.

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Der Autor versuchte hier, mit Hilfe eines Kurvenvergleichs die weitere Krisen­ entwicklung vorherzusagen. Damit zeigt sich, dass man sich in der Branche zwar mit der Existenz zyklischen Krisen abgefunden hatte, immerhin aber versuchte diese in ihrem Verlauf als kalkulierbares Risiko einzuhegen. Problematischer war es, den Beginn von Krisen vorherzusagen. Hier halfen auch lange statistische Reihen wenig, die man zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesammelt hatte. Die Zeitschrift Iron Age konstatiert im Jahr 1913, dass es schwieriger geworden sei, Krisen vorherzusagen: For many years it was possible to trace a cycle in the American iron trade, whereby events were repeated after  a 20-year interval. The parallelism was so close that it attracted quite general attention. It is interesting to observe that the parallelism disappeared last year. So close was the previous conformity, and so wide has been the recent divergence, that it has become practically impossible for the conformity to be restored. […] It is upon the failure of the market movement of the past two years to coincide with that of 20 years earlier that the breaking down of the cycle is to be predicated, rather than upon the failure of 1913 to bring a panic. From the standpoint of iron market history a panic may be an incident, rather than a governing event, for the course of the market after the panic of October, 1907, followed with considerable closeness the course of the market 20 years earlier, though in 1887 there was no semblance of a panic, but merely a slowing down in industry.107 In der Rückschau zeigte sich zwar, dass Konjunkturzyklen in der US -Industrie in der Regel etwa zwanzig Jahre dauerten. Diese Beobachtung konnte jedoch nicht dabei helfen, Einbrüche genauer vorherzusagen. Eine »Panik« bzw. der Beginn einer Krise blieb aus Sicht auch statistischer Experten ein nicht vorhersehbarer Vorfall. Die Zukunft der ökonomischen Entwicklung der Eisen- und Stahlindustrie blieb insgesamt wenig vorhersagbar. Die Branchenakteure mussten schließlich einsehen, dass sich keine allgemeinen konjunkturellen Gesetzmäßigkeiten aus solch diagrammatischen Vergleichen ableiten ließen.108 107 O. V., The Cycle and the Iron Trade, S. 1291. 108 Vgl. zur begrifflichen Unterscheidung zwischen »risk« und »uncertainty« Knight. In der ökonomischen »rational choice theory« wurde diese Unterscheidung im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend aufgelöst, indem man auch »uncertainties« als kalkulierbar betrachtete. Beckert, Imaginierte Zukunft, S. 75–79.

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Statistiken konnten also nur sehr eingeschränkt im Sinne eines Managements von »Erwartungssicherheiten« dienen.109 Es gelang auch mit statistischen Mitteln nicht, der »anarchy of production«, wie die Zeitschrift Iron Age den Konjunkturverlauf der Eisen- und Stahlindustrie charakterisierte, Herr zu werden.110 Im Gegenteil: Die bereits beschriebene starke Orientierung an Produktionsstatistiken und Leistungswettbewerben sowie »populären« Konstruktionen des »Marktes« verschärften die Lage sogar noch weiter. Um diese weitgehend selbst verursachten Problemlagen managen zu können, setzten die nationalen Branchenverbände wiederum auf eine andere, stärker instrumentell ausgerichtete Form statistischen Vergleichens. Dabei ging es nun weniger darum, wirtschaftliche Entwicklungen vorhersagen zu können. Die ökonomische Ratio dieser spezifischen statistischen Vergleichspraxis lag vielmehr in der Eigenpropaganda begründet: Die nationalen Industrien versuchten in dieser Weise ein wohlwollendes Verhältnis zu ihren Staaten und Öffentlichkeiten etablieren. Dieses Verhältnis wiederum war die Voraussetzung für einen erfolgreichen Lobbyismus. Hierfür musste sich die Eisen- und Stahlindustrien der einzelnen Länder zunächst im Kampf zwischen den wirtschaftlichen Interessengruppen durchsetzen, der innerhalb der industrialisierten Staaten um die zukünftige Ausrichtung staatlicher Wirtschaftspolitik geführt wurde. Statistiken waren in diesem Zusammenhang ein Instrument der Formierung, Artikulation und Legitimation von Interessenspositionen.111 Der deutsche Verbandsfunktionär Joseph Schlink hatte im Zuge der Zolldebatte des Jahres 1879 erkannt, dass es besonders hilfreich war, »mit der Macht der Zahlen und der Tatsachen« die »öffentliche Meinung« vom eigenen Standpunkt zu überzeugen.112 Die Statistiken der AISA waren von Beginn an für den Kampf um die öffentliche Meinung im Zuge von Zolldebatten erhoben worden. Sie kamen in De109 Der Begriff der »Erwartungssicherheit« habe laut Wolfgang Bonß »nichts mit objektiver Gefahrenbeseitigung zu tun, sondern bezeichnet eine spezifische Strukturbildung zur Bewältigung einer prinzipiell unsicheren Zukunft. Erwartungssicherheiten kommen immer dann ins Spiel, wenn es um die Umdefinition von (nicht handhabbarer) Kontingenz in (handhabbare) Komplexität geht«. Bonß, S. 24. 110 O. V., »Anarchy of Production«, S. 619. 111 Tooze, Statistics and the German State, S. 19. 112 Wachler, S. 35. Die Schlussbetrachtungen von Wachlers Bericht, aus denen diese Zitate stammen, wurden vom Verbandsfunktionär Joseph Schlink verfasst. Vgl. zur Interessenspolitik in Deutschland weiterhin Ullmann, Interessenverbände in Deutschland Auch in der soziologischen Forschung gelten quantitative Vergleiche als besonders effizient und geeignet, um Akzeptanz herzustellen. So die These von Heintz, Numerische Differenz.

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battierklubs zum Einsatz und wurden von protektionistisch ausgerichteten Mitgliedern des Kongresses, Regierungsstellen oder Ökonomen konsultiert, um gegen den freihändlerische Standpunkt argumentieren zu können.113 Mit Hilfe statistischer Zahlen versuchte die Eisen- und Stahlindustrie gegenüber der Öffentlichkeit ihre zivilisatorische und nationale Bedeutung zu verdeutlichen. Von Seiten der US -amerikanischen Industrie kam seit den 1880er Jahren die rhetorische Strategie auf, die Produktionszahlen von Eisen und Stahl als volkswirtschaftliches »Barometer« zu etablieren.114 Diese Metapher sollte die herausragende ökonomische Bedeutung von Eisen und Stahl gegenüber anderen Industrien,115 sowie gegenüber konkurrierenden Werkstoffen, beispielsweise Kupfer, betonen.116 Besonders deutlich wird diese Strategie in einem Diagramm aus der Zeitschrift Iron Age in der Januar­ausgabe von 1896 (vgl. Abb. 9): Das Säulendiagramm bildet die jährliche Produktion der US -amerika­ nischen Branche u. a. von Kohle, Stahlbarren und Roheisen ab. Die Größe der Säulen wird maßstabgerecht abgebildet und mit herausragenden Bauwer113 American Iron and Steel Association, S. 29 f. 114 »[T]he condition of the iron trade is always taken as a trustworthy barometer indicating the degree of financial and commercial prosperity prevailing and to be expected.« Senator John Heinz History Center, Records of the Carnegie Steel Corporation 1853– 1912 (bulk 1869–1890), MSS# 315, Historical Society of Western Pennsylvania, box 17, folder 14: I. F. Mead & Co. Weekly Newsletter – The Iron Trade. S. 1; James M. Swank: The Depressed Condition of our Iron and Steel Industries, in: The Bulletin of the American Iron and Steel Association, 8.11.1882, S. 300: »There is no more sensitive trade barometer in this country than our iron and steel industries. For several months before the occurrence of the panic of 1873 the prices of pig iron and bar iron had been steadily falling.« Siehe auch o. V., Will Iron Be the Barometer?, S. 1152 Jakob Tanner verweist darauf, dass diese »Idee, ökonomische Prozesse als meteorologische Vorgänge zu modellieren«, einerseits soziale und ökonomische Prozesse naturalisiere; andererseits leiste diese Metapher laut Tanner »einer Mythologisierung des Marktes Vorschub und stärkte den Glauben an dessen Naturwüchsigkeit und Selbstregulierungskraft.« Tanner, S. 144. 115 Charles Schwab verkündete bei einer Bankett-Rede des Banker’s Club of Chicago am 21. Dezember 1901: »The great steel industry of this country is now first of all. A few years ago cotton was king. King Cotton is now dethroned and King Steel has taken his place.« O. V., President Schwab, S. 26 Ganz ähnlich argumentiert für Deutschland Johannes, S. 1977. 116 O. V., Barometers of Trade, S. 764 f. »Copper has taken an important place in the industrial development of the world, but copper alone creates no energy or wealth. It merely transmits the energy of the engine or water wheel, and the one indispensable part of the dynamo or electric motor is the magnetically charged core of iron«; ders., How the Ironmaster Has Promoted Peace, S. 124.

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Abb. 9: Vergleich Produktionsmenge Kohle, Eisen und Stahl mit der Größe des Mount Washington und bekannter Gebäude, 1896.

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ken der Menschheitsgeschichte, u. a. den Pyramiden von Gizeh, dem Kölner Dom oder dem Washington Monument verglichen. Neben den gewaltigen Säulen nehmen sich die Bauwerke von Weltruhm allerdings allesamt zwergenhaft klein aus. Dieser Eindruck wird durch die Abbildung des 1917 m hohen Mount Washington unterstützt. Dessen sich im Bildhintergrund abzeichnende Silhouette ist nur unerheblich höher als die Produktionssäulen. In dieser vergleichenden Visualisierung transzendieren die riesigen Säulen der schwerindustriellen Roh- und Werkstoffe die Kluft zwischen riesenhaften zivilisatorischen Errungenschaften und den weitaus überlebensgrößeren Monumenten der Natur.117 Außerdem wird für den Betrachter deutlich, wie viele moderne Bauwerke aus dieser Masse aus Eisen und Stahl würden entstehen können, auch um das Niveau menschlicher Zivilisation auch zukünftig weiter heben zu können. Diese Tendenz, Stahl in Abgrenzung zu anderen als den fortschrittermöglichenden Werkstoff zu beschreiben, findet sich bis in die heutige Zeit.118 Ziel dieser Vergleichspraxis war es darüber hinaus, die Interessen der Eisen- und Stahlindustrie mit dem nationalen Gemeinwohl gleichzusetzen. Dies tat die Branche etwa, indem sie sich – durchaus evident – als Garantinnen nationalstaatlicher Rüstungspotenziale stilisierten, wie aus einem Beitrag in der Zeitschrift Iron Age Jahr 1902 hervorgeht: »It is an axiom that no nation can remain or become a world power without the aid of an adequate iron industry.«119 Ein vorderer Platz im Ranking der Nationen bei den Produktionszahlen von Eisen und Stahl wurde hier gleichgesetzt mit einem großen Machtpotenzial des Nationalstaates.120 James Swank verband den ersten Platz im Länderranking sogar mit einer allgemeinen zivilisatorischen

117 »Diagramme sind ›Apparate‹, um Heterogenes so zu homogenisieren, dass etwas Unterschiedenes vergleichbar wird.« Krämer, S. 71. 118 Vgl. etwa den VDEh zur EXPO 2000 in Hannover über die Bedeutung von Stahl als Werk- und Baustoff der Zukunft: Vondran, S. X. 119 Sahlin, S. 7. Der Artikel zitierte hier aus dem britischen Kommissionsbericht von Jeans, S. 509. Dieser wurde nicht zuletzt aufgrund der veränderten Wahrnehmung der US-amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie durch das britische Schwestergewerbe in Auftrag gegeben: Aufgrund der enormen Wachstumszahlen fragten sich die britischen Produzenten nicht nur, welche Auswirkungen dies auf das eigene Geschäft haben könnte, sondern weitergehendes Vergleichen sollte offenlegen, was die qualitativen Gründe und Folgen des US-amerikanischen »Aufstiegs« und des britischen »Abstiegs« waren. 120 Diese Verbindung war (und ist) durchaus üblich, wie nationale Streitkräftevergleiche der Zeit zeigten. Vgl. hierzu Albert u. Langer.

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Führungsposition der USA: »If it be true, as it is recorded in the second chapter of Daniel, that ›iron breaketh in pieces and subdue all things‹, the country which produces and consumes the most iron and steel must take the first rank in extending and influencing the world’s civilization.«121 Im Anschluss an die »Manifest Destiny« postulierte er außerdem, dass sich ihr Motto (»westward the course of empire takes ist way«) auch auf die Eisenindustrie übertragen lasse. Die Eisenindustrie sei schließlich the source and badge of material power, which had its beginning in Asia, and afterwards passed successively to the countries along the Mediterranean, upon the Rhine, and in the north and west of Europe, and thence crossed the Atlantic ocean, now finds a home in the shadows of the Rocky mountains and by the Golden Gate of the Pacific. It has made the circuit of the world.122 Die Blüte der Eisenherstellung sei von ihrem Ursprung in Asien über Europa schließlich in den USA als ihrem Höhepunkt des Fortschritts angekommen. Die Eisen- und Stahlindustrie wurde damit zu einer Trägerin der Ideologie der Manifest Destiny, die eine teleologischen Mission begründete, die kulturellen Vorstellungen der USA zu verbreiten.123 Mit solchen Anspielungen mystifizierte der international angesehene Statistikexperte Swank bewusst den Leistungswettbewerb um Produktionszahlen, lud ihn mit zivilisationsgeschichtlicher Bedeutung auf und leitete daraus gleichzeitig machtpolitische Ansprüche der USA ab. Wenn die Industrien diese nationale Bedeutung betonten, machten sie sich selbst zu einem wichtigen Faktor im Wettbewerb der Nationalstaaten. Dieser wurde nicht zuletzt um Aufmerksamkeit und Leistungsprestige auf der Bühne der Weltöffentlichkeit ausgetragen.124 Die Produktionszahlen von Eisen und Stahl sind seit dieser

121 Swank, History of the Manufacture of Iron, S. 408. Dieser Teil des Psalms aus David 2, 40 wird auch auf dem Titelblatt zitiert und lautet im Ganzen auf Deutsch: »Und das vierte Königreich wird hart sein wie Eisen; denn wie Eisen alles zermalmt und zerschlägt, so wird es auch alles zermalmen und zerbrechen.« 122 Ebd. In der Progressive Era (1896–1916) bezog auch die Zeitschrift Iron Age die »Manifest Destiny« nicht allein auf die Westexpansion und die Urbarmachung der nordamerikanischen Landmassen: »[T]he manifest destiny of the United States is to become the greatest manufacturing country in the world.« O. V., American Manufacturers, S. 613. 123 Vgl. zur Bedeutung der Doktrin der »Manifest Destiny«: Johannsen. 124 Werron, Worum konkurrieren Nationalstaaten?

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Zeit tatsächlich eine wichtige Vergleichshinsicht und Maßstab für die Macht von Nationalstaaten.125 Dabei war es gerade die große volkswirtschaftliche Bedeutung und schiere Größe der Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie, die dafür sorgte, dass sich Branchenvertreter für ihr Handeln rechtfertigen mussten. Dies galt etwa im Zuge der Gründung von U. S. Steel. Diese Trustbildung wurde in der US -amerikanischen Politik und Öffentlichkeit aufgrund möglicher monopolisierender Tendenzen und steigender Verbraucherpreise kritisch betrachtet.126 Für die deutsche Industrie galt im ausgehenden 19. Jahrhundert, dass sie sich stets gegen die ebenfalls mächtigen Agrarinteressen durchsetzen musste. Daher bezeichneten Branchenvertreter die deutsche Eisen- und Stahlindustrie als den »wirkliche[n] Nährstand« und versuchten dies mit statistischen Zahlen zu Produktion und Arbeitsplätzen zu belegen.127 Der synchrone und diachrone Vergleich zwischen nationalen Produktionszahlen von Eisen und Stahl konnte auch gezielt eingesetzt werden, um das Wettbewerbsbewusstsein nationaler Branchen zu verändern. Kirchhoff wollte mit seinem bereits erwähnten Verlaufsdiagramm (vgl. Abb. 6) allerdings nicht allein den US -amerikanischen Aufstieg verdeutlichen, wie es zu jener Zeit in den US -amerikanischen Fachzeitschriften üblich war. Er zog aus dem Vergleich der deutschen Produktionsentwicklung mit denjenigen der anderen Industrieländer den Schluss, dass sich das deutsche Wachstum auf den internationalen Wettbewerb und insbesondere auf die US -Industrie auswirken werde: Germany has steadily developed, and almost simultaneously with us looms up as a power in the world’s markets. During the past three or four years of unexampled industrial activity her ironmasters have been under a tremendous strain to supply her own wants. But it may be doubted whether this growth of home consumption will last very much longer, and then, with her new capacity and equipment, she, too, will put a. heavy pressure upon the world’s markets. 125 In den 1960er Jahren etablierte J. David Singer den bis heute gebräuchlichen »Composite Index of National Capability« (CINC score), dessen »ISPR = iron and steel production of country ratio« einer von sechs Vergleichsparametern zur Bewertung der Macht von Nationalstaaten ist. Renshon, S. 173. Daneben wurde das Bruttonationaleinkommen bzw. das Bruttosozialprodukt seit den 1940er Jahren zum bestimmenden Maßstab des Staatenvergleichs. Speich Chassé. 126 O. V., President Schwab, S. 26 f. 127 Johannes, S. 1978.

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We have become so much accustomed ourselves to a rapid development in output that we do not realize how exceptional is a record like ours. Yet when we contrast Germany’s production of pig iron from year to year with that of our country, Great Britain, France and Belgium, the fact that Germany approaches our development will become manifest.128 Die Bewegungen im Länderranking und die internationale Zunahme der Produktion von Roheisen waren also für Kirchhoff nicht nur eine Frage des Prestiges, sondern sie kündigten einen zukünftig verschärften internationalen Wettbewerb an. Außerdem interpretierte er aus dem Kurvenvergleich, dass die deutsche Industrie aus Sicht der US -amerikanischen eine Konkurrenz der Zukunft sein könne. Der Leistungsvergleich der Produktionsstatistiken diente hier einer auf vergangenen und gegenwärtigen Produktionszahlen basierenden Einschätzungen über die ökonomische Zukunft des Wettbewerbsgeschehens der internationalen Eisen- und Stahlindustrie. Insofern zeigt sich hier in besonderer Weise, dass diese Leistungsvergleiche die Vorstellungen des internationalen Wettbewerbs prägten und Orientierung für ökonomische Handlungen bieten sollten.129 Während Kirchhoff sich mit seinen Interpretationen an eine US -amerikanische Fachöffentlichkeit richtete, nutzten die nationalen Branchen Statistiken vor allem, um eine breitere Öffentlichkeit zu adressieren. Hierbei war die prägendste statistische Vergleichspraxis in instrumenteller Weise die ausländische Konkurrenz zu einer Bedrohung zu stilisieren, um daraus Forderungen für einen Zollschutz ableiten zu können. Dies zeigt insbesondere die Wahrnehmung der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie in Deutschland. Bis zur Jahrhundertwende nahm man die US -Branche zunächst noch nicht als Konkurrenz wahr. Die deutsche (und insgesamt europäische)  Fachwelt staunte seit den 1870er Jahren über das Wachstum der Eisen- und Stahlindustrie der Vereinigten Staaten, machte sich dabei aber noch keine allzu großen Sorgen.130 In den 1880er Jahren stieg dabei die »Aufmerksamkeit des europäischen Schwestergewerbes« durch immer neue Produktionsstatistiken weiter an. »Mit unverhohlenem Erstaunen« verfolgten deutsche Fachleute »das gewaltige Anschwellen der Thätigkeit der ameri128 Kirchhoff, The Iron Industries of Germany [in Forts.]. 129 Knight, S. 243, mit Blick auf Börsendiagramme als Repräsentationen des Marktes: »If the charts did represent something beyond their immediate selves, however, it was ›the market‹ in its totality, even as an omniscient being with a life and a mind of its own.« 130 O. V., Die Gefahr des amerikanischen Wettbewerbs, S. 223.

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kanischen Eisenhütten, welche ihre Production an Roheisen von 4 Millionen Tonnen im Jahre 1885 auf 5,6 Mill. im Jahre 1886 und an Bessemerstahl von 1,7 Mill. auf 2,54 Mill. Tonnen in gleichen Zeiträumen steigerten.«131 Besonders erstaunlich (und beneidenswert) erschien es aus deutscher Sicht, dass die Binnennachfrage ebenfalls und in noch stärkerer Weise wuchs: Und trotz dieser beispiellosen Vermehrung der Production stellen die Statistiken gleichzeitig fest, daß dieselbe der mittlerweile in noch höherem Grade gewachsenen Nachfrage des Landes nicht gerecht zu werden vermochte, daß vielmehr die Einfuhr der Ver[einigten] Staaten an Eisen- und Stahlerzeugnissen im verflossenen Jahre eine größere als in einer langen Reihe von Jahren vorher war.132 Diese jüngsten Entwicklungen ließen trotz der US -Zollschranken nicht nur den deutschen Export von Roh- und Halbfabrikaten (Roheisen, Blooms, Draht und Weißblech) zu, sondern es konnten aufgrund der Preisentwicklung auch Endprodukte, fertig gewalzte Stahlschienen und Stabeisen, in die USA ausgeführt werden. Der US -Markt erschien bis hierher als zusätzliche Absatzchance der deutschen Branche, die sich inzwischen als aggressive Wettbewerberin auf den Weltmärkten etabliert hatte.133 Diese Wahrnehmung änderte sich mit der Jahrhundertwende: Das weiterhin enorme industrielle Wachstum, die rationalisierten Produktionsmethoden und die Konzentrationstendenzen des Kapitals in den USA wurden vom europäischen Bürgertum insgesamt nun zunehmend kritisch beäugt. Die Perzeption der »amerikanischen Gefahr« bestimmte fortan den allgemeinen europäischen Amerika-Diskurs, der immer auch mit kulturellen Deutungsmustern aufgeladen war. Diese »Gefahr« wurde im Kontext der Eisen- und Stahlindustrie um 1900 insbesondere anhand quantitativer Parameter festgemacht.134 Nationalistische Publizisten wie Thomas Lenschau befürchteten auf der Basis statistischer Vergleiche der nationalen Eisen- und Stahlindustrien, dass die »amerikanische Gefahr unabwendbar« sei. Der Inlandsbedarf werde, so das übliche Narrativ, angesichts der riesigen Wachstumszahlen in naher Zukunft gesättigt sein, und aufgrund der ungleich besseren politöko131 Ebd. 132 Ebd. 133 Wengenroth, Deutscher Stahl. 134 Schmidt, S. 130 f.; vgl. auch den Vortrag über die »amerikanische Gefahr« von Prager.

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nomischen Faktoren (Zoll, Produktionskosten, Trustbildung, Kapitalausstattung, Rohstoffe) seien die US -Produzenten folglich eine zukünftig nur schwer zu schlagende Konkurrenz für die deutsche Industrie auf den Weltmärkten. Diese »Gefahr« beschränke sich aber nicht auf Weltmärkte, sondern werde eines Tages auch nicht vor dem heimischen deutschen Markt haltmachen.135 Insbesondere die im Frühjahr 1901 erfolgte Gründung von U. S. Steel war ein Kristallisationspunkt für diese Wahrnehmung. Diese Trustbildung wurde in Europa (und auch in den USA selbst) als riesige Konzentration von Kapital und monopolistischer Marktmacht in der Öffentlichkeit allgemein kritisch betrachtet.136 Während in der Fachöffentlichkeit der deutschen Eisen- und Stahlindustrie trotz der schieren Größe der Blick auf U.  S.  Steel durchaus nüchtern war,137 versuchten Verbandslobbyisten im Zuge der Zollpolitik Ängste zu schüren. Dies zeigte sich vor allem im Zusammenhang von Zolldebatten, etwa in einem Kommissionsbericht über die Vorbereitung zu einem neuen Zolltarifgesetz im Jahr 1903. Hierin wurde festgehalten, dass U. S. Steels Produktionszahlen allein von 16 Millionen Tonnen im Jahr die von der deutschen und der britischen Industrie zusammengenommen erreicht habe.138 In der Folge, um die »Bedrohung« auch genauer beziffern zu können, kontrastierten der Bericht die jüngsten Produktionssteigerungen in den USA mit der »Verringerung unserer Roheisenerzeugung im Jahre 1901«. Der Bericht konstatierte: Bei der enormen Produktionssteigerung Amerikas mußte mit dem verstärkten Erscheinen amerikanischer Erzeugnisse auf dem europäischen Markte und in Deutschland gerechnet werden. Die dortigen mächtigen Gesellschaften würden in dem Augenblicke, in welchem Amerikas Verbrauch und die inländische Nachfrage nachlasse, wofür bereits Anzeichen vorhanden seien, den gesammten Auslandsmarkt mit ihren Fabrikaten überschwemmen und Deutschland die bisherigen Absatzgebiete streitig

135 Lenschau, S. 22. Lenschau greift in seiner Argumentation hauptsächlich auf Produktionsstatistiken der Eisen- und Stahlindustrie als Fallbeispiel zurück. 136 Allerdings hatte der US-Staat Trusts bereits in der Folge des Sherman-Antitrust-Act von 1890 ihrer ursprünglichen monopolistischen Stoßrichtung (beispielsweise durch den Standard Oil Trust) enge Grenzen gesetzt. Seitdem entwickelten sich die Trusts in ihrer Rechtsform hin zu horizontal organisierten Konzernen. Leonhardt, Die Entwicklung der Kartelltheorie, S. 17. 137 Schrödter, Der amerikanische Billionentrust, S. 313; Stahlwerks-Verband, S. 3. 138 Letocha, S. 4524.

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machen. Amerika werde dann in rücksichtsloser Weise seinen Ueberschuß auch nach Deutschland werfen und unsere Roheisenindustrie, falls ihr nicht zumindest der bisherige Schutzzoll gewährt werde, ruiniren.139 Auffällig ist, dass ein weitergehendes Vergleichen der Marktpreise der Produkte oder die Aufschlüsselung derselben nach Selbstkosten, Löhnen und Transportkosten hierbei ausblieb. Auch der Blick auf die Statistik der Ausfuhren von US -Eisenprodukten wurde hier ausgeklammert  – dabei wären diese weitere aussagekräftige Parameter gewesen, um entscheiden zu können, inwiefern hier eine »Bedrohung« bestand. Es wurde lediglich die Metapher einer drohenden »Überschwemmung« durch Überproduktion der US -Industrie bedient. Im Anschluss an die Ökonomin Deirdre McCloskey erscheinen wirtschaftliche Kennzahlen hier als rhetorische Mittel im politischen Diskurs die in den Dienst der Konstruktion einer »Risikozukunft« gestellt wurde, die es zu vermeiden galt.140 Im Zuge dieser Zolldebatte von 1903 wurde die »amerikanische Gefahr« auch im Reichstag verhandelt. Für die Interessen der Schwerindustrie trat Wilhelm Beumer (1848–1929) ein – einer der wichtigsten und einflussreichsten politischen Interessenvertreter der Branche. Er war nicht nur Leiter des volkswirtschaftlichen Teils der Zeitschrift Stahl und Eisen, sondern vertrat seine schutzzollpolitische Positionen nicht zuletzt von 1901 bis 1907 als Abgeordneter im Reichstag. In dieser Position äußerte er sich in einer Debatte am 4. November 1903 zur Frage von Kartellen und Schuttzoll. Seine bzw. die Position der deutschen Schwerindustrie stand hier gegen die Sozialdemokratie, die für die Interessen der Konsumenten und niedrige Verbraucherpreise einstanden. Beumer antwortete auf den Beitrag des SPD -Vorsitzenden August Bebel, der zuvor die von Beumer behaupteten günstigen Produktionskosten in den USA in Zweifel zog: Jawohl, Herr [August; TM] Bebel, billige Production! Haben Sie die Kohlenbergwerke und Erzbergwerke in Amerika gesehen? Haben Sie gesehen, wie dort das Erz zu Tage ansteht, und wie man dort auf der Halde Erze liegen läßt, die man nicht mehr verhüttet, obgleich sie noch eisenhaltiger 139 Ebd. 140 McCloskey; Risikozukünfte »sind befürchtete und gefährliche Zukünfte, die vor allem zu dem Zweck entworfen und prognostiziert werden, um sie vermeiden oder zumindest gegen sie vorsorgen zu können«. Graf u. Herzog, S. 510.

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sind als die 37 procentigen Erze, welche wir verhütten? Die amerikanische Production ist billiger; und wenn nun die amerikanische Production diese Überschüsse auf den deutschen Markt wirft, dann hätten wir die zehnfachen Zölle nöthig, wie sie in dem Zolltarif vorgeschlagen sind (hört! hört! links), wenn uns nicht die Syndicate wenigstens einigermaßen bei den bestehenden oder den zu erwartenden Zöllen diesen Wettbewerb zu einem weniger gefährlichen machten.141 Im Gestus eines überlegenen empirischen Wissens über die US -amerikanische Industrie versucht Beumer hier mit Hilfe indirekter Vergleiche deren Größe und ökonomische Potenz, sowie deren günstigeren Produktionsbedingungen zu belegen. Es galt, die US -Industrie als bedrohliche Konkurrenz darzustellen und er legitimierte vor diesem Hintergrund Kartelle und Zölle als notwendige Schutzmaßnahmen der deutschen Industrie damit die Risikozukunft einer übermächtigen US -amerikanischen Konkurrenz nicht eintreten könne. Als Reaktion auf U.  S.  Steel gründeten deutsche Unternehmen im Jahr 1904 die Deutsche Stahlwerksverband AG.142 Rückblickend hieß es in einer historischen Abhandlung zur Motivation der Gründung dieses langlebigen und gut organisierten Syndikats im Jahr 1904: [Es] tauchte in der Ferne ein neues Gespenst auf in Gestalt einer stark gesteigerten Erzeugung der geschlossen auftretenden amerikanischen Stahlindustrie. Man sprach von großen Verladeeinrichtungen in amerikanischen Häfen, von einer eigenen Schiffsflotte, die auch den europäischen Kontinent versorgen sollte zu Preisen, die der deutschen Industrie verhängnisvoll werden würden usw.143

141 O. V., Über Syndicate, S. 1224. Hervorhebungen im Original. 142 Vgl. zur zeitgenössischen deutschsprachigen Kartelltheorie und den Begriffen »Kartell« und »Syndikat«: Leonhardt, Kartelltheorie und Internationale Beziehungen. Der Deutsche Stahlwerksverband war die größte privatwirtschaftliche Unternehmung des Deutschen Kaiserreichs. Die angeschlossenen Werke produzierten im Jahr 1911 80 % der Gesamtproduktion an Fertigfabrikaten und 57 % der Halbfabrikate in Deutschland. Auf die Betriebe entfielen zusammen 95 % der Rohstahlproduktion. Steinisch, S. 39. 143 Vgl. zu den Gründen allgemein: Stahlwerks-Verband, S. 1–3, Zitat: S. 3.

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Leistungsvergleiche und Leistungswettbewerbe

Hier zeigt sich, dass das Vergleichen mit der US -Industrie sich mobilisierend auf die Wettbewerbsstrategien der deutschen Branche zurückwirkte. Angesichts der Gründung von U.  S.  Steel konnten sich die zerstrittenen Unternehmer der Eisen- und Stahlindustrie im rheinisch-westfälischen Revier zu dieser Form der kollektiven Wettbewerbsorganisation entschließen.144 Der Fingerzeig auf »Amerika« konnte auch nach außen die Wettbewerbsstrategien legitimieren helfen. Die deutsche Branche charakterisierte die US -Industrie mit Blick auf die Trustbildung als »geschlossen« auftretend, die nur darauf warten würde, ihre Produkte zu günstigen Preisen auf den deutschen Markt zu werfen. Diese Strategie gehörte im ausgehenden 19. Jahrhundert realiter bereits zum Repertoire auch der deutschen Industrie. Diese agierte nach Ulrich Wengenroth selbst nach der Devise »competition abroad – cooperation at home« und versuchte, angesichts eines übersättigten deutschen Binnenmarkts und übergroßer Kapazitäten, mit Hilfe von Schleuderpreisen Exporterfolge zu erzielen.145 Dieser Prozess zeigt, dass numerische und statistische Vergleichspraktiken einer Einschränkung des Wettbewerbs im nationalstaatlichen Rahmen dienen und diesen durch den Verweis auf die bereits unfair agierende Konkurrenz legitimieren sollte. Abschließend ist festzustellen: Die Analyse der drei Praxisfelder statistischen Vergleichens der deutschen und der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie führt zu drei Hauptergebnissen: – Erstens etablierten die US -amerikanische und die deutsche Eisen- und Stahlindustrie eine statistische Vergleichspraxis, die Leistungswettbewerbe um die höchsten Produktionszahlen produzierte. Wettbewerb wurde in dieser Weise um die höchsten Produktionszahlen ganzer nationaler Branchen und damit verbunden um nationales Prestige ausgetragen. In der Folge dieses Prozesses entfernten sich die Produzenten von marktrationalen Gesichtspunkten von Angebot und Nachfrage. – Zweitens wurde die branchentypische Zyklizität aus Boom-Phasen und Überproduktionskrisen verstärkt, indem der ökonomische Wettbewerb mit außerökonomischen und »populären« Semantiken aufgeladen wurde. Die mit Hilfe von Produktionsstatistiken zu einem sportlichen Wettstreit umgedeutete wirtschaftliche Konkurrenz ging mit einem Marktverständnis einher, das – zeitgenössisch als »Wettlauf um Beteiligungsrekorde« aufgefasst – wiederum die einseitige Orientierung an Ausstoßzahlen förderte 144 Altmann, S. 42. 145 Wengenroth, Germany: Competition abroad.

Statistiken als Steuerungsinstrument in der Konkurrenz

und darüber marktrationale Gesichtspunkte weiter in den Hintergrund rücken ließ. – Drittens versuchte die Branche Statistiken mit Hilfe diachroner Vergleiche als Prognoseinstrument zur Vorhersage konjunktureller Entwicklungen einzusetzen. Sichere Prognosen über die stets schwankenden Konjunkturverläufe blieben jedoch aus. Darauf reagierte die Branche ebenfalls mit einer statistischen Vergleichspraxis, die die öffentliche Meinung beeinflussen sollte. Es galt die Weltmarktkonkurrenz als bedrohlich für die eigene Branche sowie für die nationale Wirtschaft insgesamt zu stilisieren. Staatlich garantierte Wettbewerbsstrategien bzw. Krisenlösungsstrategien der nationalen Branchen  – insbesondere Schutzzölle und die kollektive Organisation der Produzenten – sollten auf diese Weise gegenüber Staat und Gesellschaft legitimiert werden. Insofern zeigt sich, dass statistisches Vergleichen den internationalen Wettbewerb befeuerte und gleichzeitig eingrenzen sollte.

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Produktqualität als Vergleichshinsicht: Fremd- und Eigenbilder in der Konkurrenz

Um sich im Wettbewerb durchsetzen zu können, müssen Produzenten gegenüber potenziellen Kund:innen die qualitativen Merkmale ihrer Produkte betonen. Eine marktsoziologische Prämisse besagt, dass die Produktqualität aus Sicht der Käufer:innen dabei unbekannt, undurchschaubar und / oder unsicher ist. »Qualität« sei demnach den Produkten nicht inhärent, sondern vielmehr das Ergebnis eines kollektiven Prozesses, in dem Produkten bestimmte Merkmale zugesprochen werden.1 Dieser soziale Prozess ist in der Eisen- und Stahlindustrie besonders bedeutsam und problematisch. Einerseits, weil diese Branche ausgesprochen produktionsorientiert ist und sich daher mit kommunikationsorientiertem Marketing schwertut. Gründe dafür liegen in der spezifischen Produkt- und Kundenstruktur: Die Unternehmen der Branche produzierten vorwiegend Vor- und Halbzeugprodukte sowie Investitionsgüter und konnten sich folglich kaum an Endverbraucher:innen orientieren. Andererseits fällt es sowohl Produzenten als auch Käufern in diesem Marktsegment besonders schwer, eine einheitliche Qualitätsordnung auszubilden: Insbesondere bei Grundstoffen wie Roheisen und Stahl ist die Frage, was »Qualität« ausmacht, schwer zu beantworten und zwischen Anbietern und Käufern umstritten.2 Aufgrund dieser widersprüchlichen Stellung ist das Thema »Produkt­ qualität« ein sowohl zwischen Konkurrenten als auch zwischen Anbietern und Kunden umkämpftes Feld – und wichtiger Gegenstand konkurrenzförmiger Vergleichspraktiken. Vergleichspraktiken waren ein zentrales Mittel, um die Produktqualität in Relation zu bestimmen. Das Kapitel wendet sich der Angebotsseite der Eisen- und Stahlindustrie zu und fragt: Welche Rolle spielten transnational ausgerichtete und konkurrenzförmige Vergleiche, bei denen die Produktqualität als tertium fungierte? Es wird die These vertreten, dass die Eisen- und Stahlindustrie zwar aktive Absatzpolitik betrieb, 1 Beckert u. Musselin, S. 1. 2 Für Beckert, Diaz-Bone u. Ganßmann, S. 30 f. macht dies einen zentralen Aspekt der Ungewissheit kapitalistischer Märkte aus und ist ein systematischer Ausgangspunkt der Wirtschaftssoziologie.

Produkttests und Zoll

indem sie insbesondere mit Marketingstrategien versuchte, die Qualität der eigenen Produkte hervorzuheben. Vor allem versuchten die Branchen nationale Trademarks zu etablieren und so die »Qualität« der eigenen sowie der Konkurrenzprodukte selbst zu definieren, wobei kulturelle Parameter dominierten. Gleichzeitig beabsichtigten die nationalen Branchen, über die vergleichende Thematisierung der Produktqualität in »marktfernen« Bereichen, den Wettbewerb auszuschalten und ihn als kulturellen Konflikt umzudeuten.

4.1

Produkttests und Zoll: Wie das Vergleichen in der Konkurrenz den Wettbewerb eingrenzt

Was »Qualität« konkret bedeutete und was qualitative Standards von Eisen und Stahl sein sollten, war im 19. Jahrhundert hoch umstritten.3 Zwar entwickelten Experten immer mehr metallographische Verfahren und Kategorien, um die Güte von Stählen entlang von Korngröße, Zeilengefüge, Zähigkeit und Reinheit des Stahles bestimmen zu können. Dennoch stellte H. W. Graham noch im Mai 1932 fest, dass die Bestimmung der Stahlqualität umstritten sei: Die Diskussionen fänden »in einer fast technisch-philosophisch zu nennenden Weise« statt. Es herrsche laut Graham weiterhin viel zu wenig Wissen über die genauen Zusammenhänge der einzelnen Stahleigenschaften untereinander. Trotz aller Abnahmeprüfungen kam es etwa bei verbauten Stahlträgern immer wieder zu »geheimnisvollen Bruchursachen«.4 Die Ursachen für die schwer durchschaubare Produktqualität sind im Produktionsprozess zu verorten. Dies lässt sich an der Schienenproduktion in der Expansionsphase der US -amerikanischen Industrie im ausgehenden 19. Jahrhundert zeigen. Zwar garantierten manche Herstellungsverfahren höherwertigeren Stahl als andere. Der Produktionsprozess folgte jedoch eigenen Gesetzen. Nur äußerste Sorgfalt und Präzision, ein hoher Grad an praktischem Erfahrungswissen über den Verfahrensprozess und Ruhe bei 3 Das zeitgenössische Klassifikationsproblem »Stahl« überhaupt als einheitliche und geteilte Kategorie bestimmen zu können, bleibt an dieser Stelle ausgeklammert. Vgl. die Debatte zwischen Eisenbahn und Industrie in Deutschland in: o. V., General-Versammlung. 4 Graham hielt seinen Vortrag über die »Neuzeitliche Auffassung der Stahlqualität« bei einer Versammlung des American Iron and Steel Institute, worüber die Zeitschrift Stahl und Eisen im (übersetzten) Wortlaut berichtete; o. V., American Iron and Steel Institute, S. 856.

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Produktqualität als Vergleichshinsicht

der praktischen Arbeit konnten hohe Stahlqualitäten gewährleisten. Das für die Schienenproduktion in den USA prägende Bessemerverfahren ermöglichte im Unterschied zum langsameren Siemens-Martin-Verfahren zwar das schnelle Produzieren allerdings litt darunter die Sorgfalt: After all, this Bessemer process is an ocular process only. It is not exact. It cannot be made exact. A workman stands and looks at the colour of the sparks. If he is careless – if he is tired, the whole batch of rails may be flawed. The open-hearth process is slower and much more accurate. It is like a cook making soup and tasting it every now and then until it is right.5 Den Stahlkochern blieb diese Zeit zum »Probieren«, um eine gewisse Stahlgüte garantieren zu können, jedoch nicht. Folglich gestand ein Geschäftspartner Andrew Carnegies, dass die Produktqualität im Zweifel der Menge geopfert werde: »No truthful steel-maker can deny that we are too likely to sacrifice quality to tonnage […]. There is steel turned out when there is  a rush of orders that is not good enough to use«. Die Produktion von Eisenbahnschienen ermöglichte der US -Industrie seit Ende des Bürgerkriegs hohe Gewinne, gerade wenn die Unternehmen gleichzeitig schnell und viel zu möglichst günstigen Preisen produzierten und so in das »race for tonnage« um tunlichst große Marktanteile bei enorm hoher Nachfrage einstiegen. Auf Seiten der US -amerikanischen Produzenten entwickelte sich hieraus ein zwiespältiges Verhältnis zur Produktqualität, wie A. C. Dinkey, Präsident von Carnegies Unternehmen, festhielt: »We are trying all the time to make better steel […]› I know of only one steel work in this country that isn’t trying to beat its record.«6 Die quantitativen Gesichtspunkte hoher Ausstoßzahlen gewichtete man in der nach den Prinzipien des »Schnellbetriebs« arbeitenden Branche höher als ein ruhiges Arbeiten, das eine gewisse Produktqualität gewährleisten mochte. Kurzum: Insbesondere in Zeiten großer Nachfrage galt für die US -Produzenten sowie für die Eisenbahngesellschaften als Abnehmer das Motto »Mehr ist besser«.7 5 Zitiert nach: Casson, S. 360. 6 Zitiert nach: ebd. 7 Der theoretische Physiker Philip W.  Anderson hat am Beispiel der Aussage »More is different« darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, die Kategorien »Qualität« und »Quantität« voneinander zu trennen. Anderson. Für ökonomische Zusammenhänge, wo es darum geht, den Gewinn zu mehren, gilt dies umso mehr. Vgl. zum Wettlauf um Beteiligungsrekorde Kapitel 3.2 dieser Arbeit.

Produkttests und Zoll

Für die Eisenbahngesellschaften als Kunden bedeutete die Verdrängungskonkurrenz der Stahlwerke zwar niedrige Preise und schnelle Lieferungen. Gleichmäßig erscheinende Massenprodukte wie Eisenbahnschienen entpuppten sich jedoch in Benutzung oftmals als qualitativ schwankend und als wenig langlebig. In einem Vortrag »Ueber Walzwerkbetrieb in den Vereinigten Staaten« problematisierte der deutsche Fachmann Johann Puppe vor dem Iron and Steel Institute in Leeds im Oktober 1912 die zu jener Zeit häufig gemeldeten Schienenbrüche in den USA . In der daran anschließenden Debatte diskutierte Puppe mit dem britischen Fachmann Andrew Lamberton die Gründe. Während Puppe auf »den erhöhten Verkehr auf den amerikanischen Bahnen« hinwies und beklagte, dass die US -Schienen trotzdem nicht schwerer bzw. stabiler gemacht seien und es daher falsch sei »die Schuld an den Schienenbrüchen allein dem Material zuzuschreiben«, hatte Lamberton eine andere Erklärung: Er verortete die Ursachen der Schienenbrüche in den Schienenprofilen und vermutete, dass die britische »Doppelkopfschiene« die nachhaltigere sei, weil sie – anders als die in den USA (und auch überall sonst) übliche Flachfußschiene – »eine bessere Materialverteilung aufweise«.8 Es war also schon unter Experten umstritten, warum die Schienen brachen und ob es überhaupt eine Material- oder doch eher eine Verarbeitungs- bzw. Formfrage der Schienen war. Für die Kunden galt dieses Problem umso mehr. Für sie war es unmöglich, anhand der Produkte vorherzusagen, welche Schienen brüchig sein mochten. Es fällt auch auf, dass von »englischen« oder »amerikanischen« Schienen gesprochen wurde. Tatsächlich wurde weniger über einzelne Unternehmen als vielmehr über nationale Qualitätsmerkmale diskutiert. Um der Ungewissheit etwas entgegensetzen zu können, versuchten die Fachleute, Differenzkategorien entlang nationaler Zuschreibungen zu entwickeln. Insofern diskutierten Fachleute die häufig vorkommenden Schwachstellen bei Eisenbahnschienen über nationale Produktvergleiche. Diese Beispiele zeigen, dass es in der Eisen- und Stahlindustrie schwerfiel, eine zwischen Produzenten und Kunden gültige Produktqualität zu definieren und eine einheitliche Qualitätsordnung auszubilden. Eine solche ist aus marktsoziologischer Sicht die Voraussetzung dafür, dass sich der »Markt« als dauerhafte soziale Struktur etablieren kann. Insbesondere im Bereich der gleichförmigen Grundstoffe fiel es den Produzenten schwer, mit ihren Produkten qualitativ aus der Masse der Anbieter herauszustechen. Eine solche Ordnung von Qualitätsunterschieden ermöglichte es jedoch, direkte 8 O. V., Iron and Steel Institute, S. 1923.

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Produktqualität als Vergleichshinsicht

Konkurrenz zu vermeiden und den Markt als System von Nischen zu einer dauerhaften sozialen Struktur zu verstetigen.9 Von dieser marktsoziologischen Bestimmung ausgehend war der »Markt« der Eisen- und Stahlindustrie aufgrund der dargelegten branchenspezifischen Gründe und ihrer als gleichmäßig wahrgenommenen Vorprodukte sehr instabil. Die Qualitätsordnung zwischen Produzenten und Kunden der Eisen- und Stahlindustrie war kaum einheitlich, sondern latent umstritten. Davon zeugen nicht zuletzt stetige Debatten zwischen Produzenten und Kunden, die nicht nur über die Kategorien der Produktgüte, sondern auch über die Art und Weise von Produktprüfungen stritten.10 Aus Sicht der Produzenten ergaben sich angesichts dieser instabilen und umkämpften Qualitätsordnung Handlungschancen; sie konnten sich diese instabile Qualitätsordnung in instrumenteller Weise zu Nutze machen. So stellte die AISA Ende der 1870er Jahre Statistiken von US -amerikanischen Eisenbahngesellschaften zusammen, die belegen sollten, dass die von ­ S -Herstellern produzierten Schienen aufgrund ihrer längeren Haltbarkeit U den europäischen überlegen seien.11 Besonders häufig griff die US -Branche zu Produktvergleichen, als sie sich nach der Jahrhundertwende stärker an der Produktqualität orientierte. So führte der Metallurg E. F. Cone für die Fachzeitschrift Iron Age eine vergleichende Untersuchung deutschen und US -amerikanischen Panzerstahls durch. Anlass war der Bruch des Ruderrahmens des Post- und Passagierschiffs »Prinzess Irene« des Norddeutschen Lloyd. Dieser Schaden musste in den USA repariert werden, wodurch es möglich wurde, das deutsche Schadstück mit US -Panzerstahl zu vergleichen. Der US -Metallurg kam zu dem Schluss, dass der US -Stahl qualitativ hochwertiger sei als der deutsche – bezeichnenderweise zog er das Urteil weniger aus den hier durchgeführten metallographischen Vergleichstests selbst, sondern aus der nicht weiter belegten Behauptung, dass bei amerikanischen Schiffen solche Brüche sehr selten seien.12 Solche auf eine Fachöffentlichkeit ge9 Beckert, Diaz-Bone u. Ganßmann, S. 30 f. 10 Vgl. hierzu etwa den »Bericht der zur Revision der Classifications-Bedingungen für Eisen und Stahl eingesetzten Commission und Berathung des von derselben vorgeschlagenen Gutachtens«, in dem die Debatten zwischen deutschen Eisenbahngesellschaften und Hüttenwerken über einheitliche Klassifikationen und Qualitätsprüfungen abgedruckt sind sind. O. V., General-Versammlung. 11 Swank, History of the Manufacture of Iron, S. 335. 12 Cone, S. 789. Fritz Lürmann reagierte in der Fachzeitschrift Stahl und Eisen auf Cones Test. Er warf dem US-Experten nicht nur mangelnde geographische Kenntnisse vor, weil er den in Böhmen hergestellten Ruderrahmen für deutschen Stahl hielt, sondern

Produkttests und Zoll

richteten Vergleiche sollten entlang konkreter Beispiele die eigene nationale Trademark stärken. Über nationale Trademarks versuchten nationale Produktionskollektive darüber hinaus direkt die Kaufentscheidungen von Kunden auf dem Binnenmarkt im eigenen Sinne zu beeinflussen. Der hochqualitative, meist aus Tiegelguss gefertigte Werkzeugstahl war hierfür ein beispielhaftes Marktsegment. Ein Artikel der Zeitschrift Iron Age führte Beispiele für importierte fehlerhafte Werkzeuge an, die aus dem für diesen Zweck weniger geeigneten Siemens-Martin-Stahl gefertigt waren. Der Verfasser des Artikels schloss daraus: Now, […] if there is anyone who reads this article and who thinks he is obliged to use imported tool steel, let him write to me personally and I will tell him half a dozen concerns that will give him as good or better steel at a lower price. If it were possible to establish inspection laws, similar to the pure food laws, governing the importation of tool steel, the gullible American consumers would be protected from the invasion of the wily Frenchmen or those who bring open hearth steel over here and try to sell it for crucible tool steel at or near the crucible tool steel price.13 Der hier formulierte Wunsch, den für Lebensmittel und Medikamente bereits staatlich gewährleisteten Verbraucherschutz auf Kunden der Stahlindustrie auszuweiten, sollte vor allem helfen, den Etikettenschwindel der ausländischen Konkurrenz in Bezug auf die verwandten Stahlsorten und die daraus abgeleiteten (zu hohen) Preise der Konkurrenz aufzudecken. Es galt, die Kaufentscheidung der Kunden zu beeinflussen, indem die Produzenten vorgaben, den heimischen Markt sowie das nationale Gemeinwohl vor minderwertigen ausländischen Produkten schützen zu müssen. Anhand von Endprodukten wie Werkzeugen ließ sich einfacher und nachvollziehbarer die Produktqualität thematisieren als etwa bei Stahlschienen. Der Schutz der eigenen Industrie

auch die Vergleichsmethode: »Es muß entschieden zurückgewiesen werden, wenn ein beliebiges, gebrochenes Gußstück dazu benutzt wird, um in solcher Weise ein bestimmtes Urteil zu fällen.« Lürmann, Deutscher und amerikanischer Stahl, S. 751. 13 O. V., Improvement in the Quality, S. 49. Der hier erwähnte Pure Food and Drug Act war ein im Jahr 1906 unter Theodore Roosevelt verfasstes Verbraucherschutzgesetz, das die US-Verbraucher vor täuschenden Etiketten und Inhaltsangaben auf Arzneimitteln und Nahrungsmitteln schützen sollte.

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Produktqualität als Vergleichshinsicht

vor der vorgeblich unlauter agierenden ausländischen Konkurrenz durch den Staat als Garant eines »fairen« Wettbewerbs war hier der Grundgedanke. Diese Forderung nach Qualitätstests war jedoch nur ein vorgeschobenes Argument, um die Konkurrenz einzuschränken. An institutionalisierten Qualitätstests waren die Produzenten der Eisen- und Stahlindustrie in der Regel gerade nicht interessiert. Besonders offen formulierte dies Andrew Carnegie. Er schrieb Mitte März 1883 einen verstimmten Brief an einen Manager einer Eisenbahngesellschaft, worin er metallurgische Qualitätstests von Stahlschienen strikt ablehnte: »I hear you want tests which will interfere with our working operations. Can’t you take some pieces of rails we make every day – test them and if they suit you, specify we shall furnish rails equally good?«14 Die Kunden sollten ihre Kaufentscheidung also allein am Produkt ausrichten und vor allem die Produktionsabläufe im »Schnellbetrieb« der Schienenproduktion nicht stören. Die Produzenten sprachen sich erst dann für staatlich beaufsichtigte Qualitätstests aus, wenn sie sich in einer unterlegenen Position im Wettbewerb wähnten oder die eigene Wettbewerbssituation als unbefriedigend empfanden. Dabei wollten sie aber selbst die Kontrolle über die Untersuchung behalten und ein für sie selbst positives Ergebnis als punktuell einsetzbares, der jeweiligen Situation entsprechendes wirtschaftspolitisches Argument nutzen. Ziel war es, dies- und jenseits des Atlantiks, einen weitergehenden staatlichen Schutz gegenüber der als bevorteilt stilisierten ausländischen Konkurrenz zu erhalten. Besonders eindrücklich zeigt das Fallbeispiel eines Zusammenschlusses mehrerer deutscher Hochofenwerke im Nachgang der »Großen Depression« von 1873, inwiefern Unternehmen der Branche versuchten, die instabile Qualitätsordnung produktiv für sich zu nutzen, um den Wettbewerb auf dem jeweiligen Binnenmarkt auszuschalten. Für die rheinisch-westfälischen Hochofenwerke war der internationale Wettbewerb in der Folge der anhaltenden Wirtschaftskrise spürbar schärfer geworden, da die europäischen Unterneh-

14 A&SC University of Pittsburgh Library System, William J.  Gaughan Collection (AIS.1994.03), box 2, folder 1: Carnegie an Borcasen, 15.3.1883. Noch 65 Jahre später, im September 1948, bezogen sich zwei hohe Manager der operativen technischen Werksleitung der im Jahr 1872 von Carnegie gegründeten Edgar Thomson Works bei Pittsburgh auf diesen »couragierten« Brief. In einem nostalgischen Ton wird darin auf die »gute alte Zeit« verwiesen, als US-Unternehmer sich noch nicht an der Kundschaft orientieren mussten. Vgl. A&SC University of Pittsburgh Library System, William J. Gaughan Collection (AIS.1994.03), box 2, folder 1, H. L. Brindle an William C. Oberg, 6.10.1948.

Produkttests und Zoll

men ihre Überproduktion verstärkt im Ausland zu verkaufen suchten.15 Die deutsche Eisen- und Stahlindustrie, so zeigte sich bereits zu diesem Zeitpunkt, hatte eine Größe angenommen, die sie für konjunkturelle Schwankungen besonders anfällig machte.16 Neben dem allgemeinen Nachfragerückgang litten die Hochofenwerke unter dem zunehmenden Bedeutungsverlust des Puddelprozesses, was mit einem drastischen Rückgang der Nachfrage nach Weißeisen einherging.17 Diese spezifische Form des Roheisens eignete sich weder zum Gießen noch zum Frischen in den neuen Konvertern und konnte damit nicht im an Bedeutung gewinnenden Bessemerverfahren verwendet werden.18 Aus diesen Gründen – und weil zusätzlich der Markt für (Bessemer-)Massenstahl bereits hoffnungslos überhitzt war – versuchten deutsche Hochofenwerke, die einst das Weißeisen produziert hatten, seit Beginn der 1870er Jahre ihre Produktion umzustellen und auf den wachsenden Markt für sogenanntes »graues Roheisen« (Gießereiroheisen) zu drängen, das Ausgangsstoff zur Herstellung verschiedener Gusseisensorten war. Allerdings bestimmten die englischen und schottischen Hochofenwerke mit preisgünstigen und / oder qualitativ hochwertigen Produkten dieses Marktsegment. Mit geringen Selbstkosten (Rohstoff- und Transportkosten) machten sie der deutschen Konkurrenz zu schaffen, sodass ihr Anteil am deutschen Markt rund 50 % betrug.19 Die Gießereien Nord-, West- und Süddeutschlands bezogen ihr Roheisen traditionell aus Großbritannien – und sahen auch keinen Grund dafür, die Anbieter zu wechseln.20 Die neu in diesen Markt eintretenden deutschen Hersteller von Gießereiroheisen wollten sich in dieser Situation nicht mit ihrem wenig erfolgreichen Markteintritt zufriedengeben  – und kritisierten die deutschen Abnehmer. Josef Zerwes, Direktor der Friedrich Wilhelms-Hütte (FWH), sprach den deutschen Kunden ab, ihre Kaufentscheidung auf der Basis »neutraler« Gesichtspunkte getroffen zu haben. In einem Anfang April 1877 verfassten Brief an Carl Lueg, Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte (GHH), beklagte Zerwes auf Seiten vieler deutscher Kunden herrschende »Vorurteile« gegenüber dem neuen rheinisch-westfälischen Gießerei-Roheisen. Die Abnehmer stützten ihre Kaufentscheidung, so Zerwes, auf »traditionelle Ansichten oder auf alte 15 16 17 18 19 20

Torp, Co., S. 148. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 264–268. Ledebur, S. 95. Kerl, S. 39. Wachler, S. 1 f. Beck, Geschichte des Eisens, Bd. 5, S. 528, 989.

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Produktqualität als Vergleichshinsicht

Lehrbücher« und weniger auf ein ergebnisoffenes und fortlaufendes Vergleichen zwischen in- und ausländischen Konkurrenzprodukten.21 Die deutschen Werke reagierten auf dieses Absatzproblem, indem sie mittels instrumenteller Vergleiche versuchten, die Bewertungskriterien von »Qualität« selbst zu bestimmen.22 Dieses Vorgehen bedurfte jedoch eines propagandistischen Deckmantels, und daher initiierte Zerwes zusammen mit weiteren betroffenen Unternehmen – neben der GHH und der FWH waren der Hoerder Verein, Phoenix, die Dortmunder Union und die Niederrheinische Hütte beteiligt – eine »Vergleichende Qualitäts-Untersuchung rheinischwestfälischen und ausländischen Giesserei-Roheisens«. Trotz eines neutralen Anstrichs sollte diese »unter amtlicher, staatlicher Kontrolle« durchgeführt werden.23 Die beteiligten Unternehmen forderten vom deutschen Staat, die Rolle eines Garanten für einen »fairen« Wettbewerb einzunehmen, und verschleierten so die eigenen Interessen. Es gelang Zerwes aufgrund seiner geschickten politischen Arbeit, staatliche Stellen von der Notwendigkeit einer solchen Vergleichsuntersuchung zu überzeugen.24 Auf Anordnung des Handelsministers sollte diese zwischen August und November 1877 durch den Hütteninspektor Richard Wachler und unter Aufsicht des Geheimen Bergrates Hermann Wedding in den Werkshallen der an der Untersuchung unbeteiligten Essener Union durchgeführt werden.25 Auch wenn alle Beteiligten auf staatlicher »Neutralität« insistierten, war von Beginn an klar, welches Urteil der deutsche Staat als »neutraler Schiedsrichter« sprechen würde. Noch während der Untersuchungen verkündeten die Produzenten erste Ergebnisse, die günstig für das deutsche Roheisen ausfielen, und plädierten dafür, diese Ergebnisse bereits öffentlichkeitswirksam einzusetzen.26 Mehr noch: Schon lange, bevor Wachler seine ersten Versuche durchführte, stand das endgültige Ergebnis weitgehend fest. Die vergleichende Untersuchung sollte durchgeführt werden, so formulierte es Spiritus Rector Josef Zerwes bereits in seinem ersten Brief von

21 TkA FWH/1227, Zerwes an Lueg vom 4.4.1877, S. 32. 22 Laut Heintz, »Wir leben im Zeitalter der Vergleichung.«, S. 315 beruhe jede Bewertung auf einem Vergleich, was »folglich auf Probleme stößt, wenn die Vergleichskriterien unklar oder kontrovers sind oder es schwer fällt, das zu Vergleichende entlang dieser Kriterien einzustufen«. 23 TkA FWH/1227, Zerwes an Lueg, 4.4.1877, S. 32. 24 Vgl. die Korrespondenzen Wachlers mit staatlichen Stellen in: tkA FWH/1227, S. 46–63. 25 Wachler, S. 1–5. 26 TkA FWH/1227, Zerwes an Merkems, 18.10.1877, S. 44.

Produkttests und Zoll

Anfang April 1877, »damit die bestehenden Lehrbücher als veraltet erklärt und damit in offizieller Form die Vorzüge und Nachteile« deutschen Gießereiroheisens gegenüber dem der europäischen Konkurrenz »dargestellt und wechselseitig abgewogen werden«27. Noch deutlicher formulierte es Lueg in seinem Antwortschreiben drei Tage später. Ziel der Untersuchung sei es, »das ausländische Eisen, [!] soweit als tunlich vom [deutschen; TM] Markte zu verdrängen«.28 Zu diesem Zweck setzte die vergleichende Untersuchung des deutschen auf der einen und des schottischen und englischen Roheisens auf der anderen Seite die »Qualität« als tertium ein. Wie in den 1870er Jahren in der Branche allgemein üblich bestimmte Wachler die Qualität vor allem über die Bruchfestigkeit: Proben der unterschiedlichen Sorten beschrieb er darüber hinaus in vergleichenden Gießversuchen hinsichtlich ihrer empirisch beobachtbaren Eigenschaften.29 Wie erwartet konnte Wachler in seinem Abschlussbericht festhalten: Die Untersuchungen auf die relative und absolute Festigkeit der zu vergleichenden Roheisensorten haben auf’s Entschiedenste die vollständige Ebenbürtigkeit des rheinisch-westfälischen Gießerei-Roheisens mit den besten schottischen Marken in dieser Beziehung dargethan, die anerkannt beste schottische Marke Coltneß No. 1 ist vielfältig von rheinisch-westfälischen Marken an Festigkeit übertroffen worden, so daß das Ergebniß der Festigkeits-Untersuchung entschieden zu Gunsten der heimischen Industrie ausgefallen ist.30 Damit stützte Wachlers Untersuchung die Prämisse von Zerwes und Lueg, dass die deutschen Kunden nicht entlang des Maßstabs der Produktqualität entschieden haben konnten. Das auf mobilisierenden Vergleichen be27 TkA FWH/1227, Zerwes an Lueg, 4.4.1877, S. 34. 28 So schrieb es bereits Lueg in seiner Antwort auf die erste Initiative Wachlers am 7.4.1877, in: ebd., S. 34. 29 Vgl. zum genauen Ablauf: Wachler, S. 6 f. Ludwig Beck betonte, dass das Bessemerverfahren die Eisen- und Stahlindustrie insgesamt zu einer genaueren chemischen Untersuchung der Roheisensorten zwang, sodass das Testen der Bruchfestigkeit in den folgenden Jahren zunehmend durch chemische Analysen verdrängt wurde. Dies wirkte sich auch auf die Qualitätsbestimmung des Gießereiroheisens aus, das man nun nach seinen einzelnen chemischen Bestandteilen bewertete und an der zweckgebundenen Erzeugung ausrichtete. Beck, Geschichte des Eisens, Bd. 5, S. 526 f. 30 Wachler, S. 26.

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ruhende und vorbestimmte Ergebnis sollte nicht nur für sich stehen und so Kaufroutinen der deutschen Kunden aufbrechen. Wachler versuchte noch weitere Punkte aufzuführen, um die Fähigkeiten der deutschen Produzenten zu untermauern. So breitete er in seinem Abschlussbericht nicht nur die »wissenschaftliche« Methodik, den Ablauf und das Ergebnis seiner Analyse aus, sondern er stellte auch detailliert die sechs an der Untersuchung beteiligten deutschen Werke in ihrer anlagetechnischen Ausstattung vor.31 Wachler schrieb in seinem Bericht, »daß die materielle Lage der Hochofenwerke Rheinlands und Westfalens alle Bedingungen in sich birgt, welche erforderlich sei, um ein Gießereiroheisen von vorzüglicher Qualität in stets gleichbleibender Beschaffenheit auf Jahrzehnte hinaus zu produzieren«.32 Die hervorgehobene Wissenschaftlichkeit der Untersuchungsmethode sollte der aufwendigen und kapitalintensiven technischen Ausstattung der Hochofenwerke in nichts nachstehen und belegen, dass die deutschen Produzenten nicht nur unter Testbedingungen, sondern auch kontinuierlich zur Produktion qualitativ hochwertigen Roheisens in der Lage waren. Spätestens an dieser Stelle wird die kaum verhohlene Werbefunktion von Untersuchung und Bericht gegenüber den deutschen Abnehmern deutlich – in einer Zeit, als sich die Hüttenindustrie insgesamt schwertat mit Werbemaßnahmen und auch hier die Produktionsanlagen inszenierte. Die beteiligten Unternehmen konnten in diesem produktionsorientierten Umfeld in dem die Vorstellung verbreitet war, dass Werbung möglichst »sachlich« sein musste, die Ergebnisse der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« als »neutrales« Gütesiegel in Werbeanzeigen verwenden.33 Es blieb nicht bei »wissenschaftlichen« Untersuchungen. Vielmehr bildete das erfolgreiche Bestehen des deutschen Roheisens in der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« den Ausgangspunkt einer Erzählung über eine prosperierende Zukunft der deutschen Unternehmen. So schrieb Wachler in seinem Bericht: Wenn das heimische Gießereiroheisen sich erst einen größeren Markt erworben, viele unbegründete Vorurtheile nach und nach geschwunden und der Konsument die Ueberzeugung gewonnen, daß deutsches Gießereieisen ganz regelmäßig von vorzüglicher Qualität erblasen wird, dann 31 Ebd., S. 6–16. 32 Ebd., S. 16. 33 Vgl. Kapitel 4.3 dieser Arbeit.

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wird für die heimische Gießereiroheisen-Industrie voraussichtlich auch eine bessere Aera beginnen, wird eine erfolgreiche Konkurrenz mit den schottischen Marken ermöglicht und dem heimischen Produkte eine ihm gebührende Stellung auf dem kontinentalen Roheisenmarkte geschaffen werden.34 Die Untersuchung und das staatliche Eingreifen waren damit Garanten einer neuen »Ära« der deutschen Hochofenwerke. Sie sollte helfen, eine »imaginierte Zukunft« zu konstruieren, die Jens Beckert jüngst als Strukturmerkmal der kapitalistischen Wirtschaftsweise herausgestellt hat. Die Untersuchung war in dieser Hinsicht Teil einer »Politik der Erwartungen«, die darauf zielte, innerhalb der Konkurrenz die Erwartungen »Dritter« – hier: des Staates und der Kunden – zu beeinflussen und damit die Erwartungsunsicherheiten einzugrenzen. Die Macht der Branche war hierbei nicht unerheblich, da sie davon ausgehen konnte, dass ihre volkswirtschaftliche Bedeutung es zum staatlichen Interesse werden ließ, private Investitionen und damit auch Arbeitsplätze zu schützen.35 Wachler entwarf im Zuge dieses Erwartungsmanagements ein volkswirtschaftliches Szenario, sollten der deutsche Staat und die deutschen Kunden weiterhin bei der ausländischen Konkurrenz kaufen. Denn es hatte sich gezeigt, dass mit der staatlich verbrieften Feststellung der qualitativen Gleichwertigkeit des deutschen und britischen Roheisens die deutschen Kunden noch nicht überzeugt und das britische Roheisen noch längst nicht vom Binnenmarkt verdrängt war. Wachlers Abschlussbericht stand aufgrund dieser aus Sicht der deutschen Hochofenwerke weiterhin unbefriedigenden Entwicklungen nicht für sich, sondern ihm sind die von Joseph Schlink verfassten wirtschaftspolitisch grundierten »Schlussbemerkungen der vereinigten rheinisch-westfälischen Hochofenwerke zu den Resultaten über die vergleichenden Qualitätsuntersuchungen« angefügt.36 Hierin werden Gründe und volkswirtschaftliche Folgen dafür angeführt, dass die britische

34 Wachler, S. 16. 35 Beckert, Imaginierte Zukunft, S. 132–135, 139. 36 Wachler, S. 31–35. Schlinks Autorschaft wird an dieser Stelle verschwiegen, vgl. den mit der Autorschaft Schlinks versehenen Abdruck der Schlussbetrachtungen: Schlink, Schlußbemerkungen. Vgl. zu den Wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Anschauungen des Hütteningenieurs und Verbandspolitikers Joseph Schlink: Braun, Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Anschauungen.

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Konkurrenz weiterhin überlegen war. Schlink beobachtete in der Folge der Vergleichsuntersuchung zwar »unzweifelhafte Beweise für das Verschwinden der früher bestandenen Vorurtheile gegen das heimische Produkt«. Hierfür spreche ein wachsender Absatz im In- und Ausland.37 Insofern habe sich die aufwendige Untersuchung gelohnt. Gleichzeitig musste Schlink eingestehen, dass die positiven Effekte auf Seiten der rheinisch-westfälischen Produzenten »nicht in dem Maße, wie man billiger Weise erwarten mußte«, eingetreten seien.38 Grund hierfür war jener Preismechanismus, den die Produzenten in ihrer Vergleichsuntersuchung zwar ausblendeten, dem sie im »realen« Wettbewerb aber kaum entkommen konnten. Der Wettbewerb verschärfte sich sogar im Nachgang der Untersuchung noch, weil die »kapitalmächtigere Konkurrenz des Auslandes« und dabei nicht nur die englischen, sondern auch die schottischen Werke die Preise ihres »Qualitäts-Roheisens« nun »gewaltig reduzirten«. Ein Lamento der deutschen Produzenten über diese neue Situation ließ nicht lange auf sich warten: Die Werke könnten auf Dauer nicht mit diesen Preisen mithalten und seien sogar grundsätzlich in ihrer Existenz bedroht.39 Die deutschen Hersteller inszenierten sich nun in doppelter Hinsicht sowohl als Opfer einer unfairen Preiskonkurrenz als auch der Zirkulationssphäre des Marktes allgemein. Die Existenzbedrohung sollte gegenüber dem deutschen Staat ein Alarmsignal sein.40 Insofern versuchten die deutschen Hochofenwerke nicht nur durch die Konstruktion positiver »imaginierter Zukünfte« die Erwartungen des Staates zu beeinflussen, sondern sie drohten mit der Rücknahme ihrer Privatinvestitionen und damit mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen. Auffallend ist dabei, dass in der Vergleichsanordnung der Produktpreis nicht nur gegenüber den qualitativen Merkmalen eine untergeordnete Rolle spielte. Wachler unterteilte das britische Roheisen im Vorfeld der Untersuchung lediglich in zwei Preis- bzw. Produktgruppen: in ein teureres schottisches Roheisen, das von höherer Qualität geprägt sei und ein günstigeres englisches von geringerer Qualität. Die deutschen Werke hatten sich angesichts der englischen Überproduktion und der unschlagbar günstigen Preise dazu entschieden, eher mit dem höherwertigen schottischen Roheisen zu konkur-

37 Wachler, S. 31. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 32. 40 Vgl. zu dieser Stellung der Akteure gegenüber dem »Markt« hinsichtlich seiner statistischen Konstruktion Kapitel 3.2 dieser Arbeit.

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rieren.41 Trotz dieser Fokussierung blieb eine weitergehende Berechnung, ob ein solcher Markteintritt auf der Ebene der Preise und der Kostendeckung sich in ökonomischer Hinsicht überhaupt lohne, aus. Die vergleichende Qualitätsuntersuchung sollte stattdessen dabei helfen, den Markteintritt mit Hilfe des deutschen Staates abzusichern, damit die einst gehegten und (noch) nicht eingetretenen Renditeerwartungen eintreten konnten. Während Wachler die Produktpreise in seiner Vergleichsuntersuchung ausgeblendet hatte, thematisierte Schlink sie nun in seinen »Schlußbemerkungen«. Die günstigeren britischen Preise wurden dabei nicht für sich betrachtet, sondern in Beziehung zur Vergleichshinsicht der politökonomischen Rahmenbedingungen gesetzt: Die Eisenproduktion eines Landes hängt ab von dem Vorkommen an Erzen und Kohlen, von der Entfernung der Gewinnungsorte beider Rohmaterialien und von der Möglichkeit eines lohnenden Absatzes. Selten begünstigt die Natur ein Land so wie Großbritannien, wo alle Grundbedingungen für die Entwickelung der Eisenindustrie sich in den denkbar vortheilhaftesten Verhältnissen begegnen.42 Daraus schloss Schlink: »Nirgends in der ganzen Welt kann so billig produzirt werden, wie im Cleveland-Bezirk Englands.«43 Und auch »[i]n Schottland herrschen […] ungewöhnlich glückliche Transportverhältnisse«44. Namentlich führte Schlink hierfür insbesondere die im Vergleich zu Deutschland weitaus besseren britischen Frachtverhältnisse sowie die nah an schiffbaren Flüssen und am Meer gelegenen Werke an, die überdies über bessere Rohstoffe verfügten.45 Hier, bei den ungleich besseren Rahmenbedingungen – und damit explizit nicht in der Produktionssphäre –, verortete Schlink die Gründe für die britischen Markterfolge. Daraus folgte aus seiner Sicht, dass englische und schottische Märkte die Preise für Gießerei-Roheisenprodukte bestimmten, während in der gegenwärtigen britischen Situation Produktionskosten – Frachtgebühren der Eisenbahn sowie die Löhne – sogar noch sänken. Die britische Industrie produziere zu viel für den eigenen Binnen-

41 Wachler, S. 1 f. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 34. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 33.

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markt, während die deutsche Industrie nicht zu viel produziere, sondern der Binnenmarkt zu wenig aufnehme.46 All diese Aspekte stünden dafür, so folgerte Schlink weiter, dass die deutschen Produzenten unter rein marktspezifischen Gesichtspunkten nicht mit dem britischen Roheisen konkurrieren könnten. Darüber hinaus verzichte der deutsche Staat im Gegensatz zu den anderen wichtigen eisenproduzierenden kontinentaleuropäischen Ländern auf einen Zollschutz gegenüber der überlegenen britischen Konkurrenz. Folglich, so argumentierte Schlink weiter, löse Deutschland das britische Problem der Überproduktion. Schließlich sei Deutschland, als größter Abnehmer und beinahe allein keines Schutzes seiner vaterländischen Eisenindustrie genießend, sämmtlichen Folgen der gewaltigen Ueberproduktion des kolossal wohlhabenden, durch natürliche Verhältnisse begünstigten Inselreiches ausgesetzt. Die Ueberschwemmungen eines fremden Landes leiten wir absichtlich auf unsere eigenen Fluren, während die klügeren Nachbarn sich gleichsam durch Dämme und Deiche dagegen schützen.47 Die Folgen dieser »schutzlosen« Auslieferung der deutschen Produzenten gegenüber der »übermächtigen« Konkurrenz spürten nicht nur die deutschen Hochofenwerke, sondern auch die deutschen Verbraucher. Wenn sich die deutschen Gießereien mittel- und langfristig mit der niedrigeren Qualität des englischen Roheisens begnügten, »dann ist es keine Frage, daß Deutschland künftig allein auf die Einfuhr ausländischen Gießereieisens angewiesen und [sich] demnächst mit Beseitigung der inländischen Konkurrenz auf Gnade und Ungnade der Preisstellungen Englands anheimgeben wird«48. Schlink entwarf in diesen Worten die Risikozukunft eines britischen Monopols, das ein britisches Diktat der Preise auf dem deutschen Markt zur Folge habe, worunter nun auch die deutschen Kunden leiden müssten. Während Wachlers »wissenschaftliche« Vergleichsuntersuchung sich explizit auf das tertium »Qualität« beschränkte, thematisierte Schlink in seiner »Schlußbemerkung« die Produktpreise deutschen und britischen Roheisens in komplexen Ver-

46 Ebd., S. 32 f. 47 Ebd., S. 33. 48 Ebd., S. 32.

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gleichen, in denen er die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen am höchsten gewichtete. Hiervon ausgehend konnten staatliche Maßnahmen gefordert werden, um wieder »faire« Wettbewerbsbedingungen herzustellen: »Wir haben den Beweis durch Zahlen zu führen gesucht, daß Deutschland eines Zollschutzes für seine Roheisenindustrie Großbritannien gegenüber nicht entbehren kann, ebenso wie durch Zahlen bewiesen worden ist, daß unser Gießereiroheisen qualitativ seinem Rivalen ebenbürtig ist.« Darüber hinaus hätten die Ausführungen »die unumstößliche Thatsache, daß die Produktionskosten deutschen Roheisens weiter zu reduziren der Hochofentechnik ganz und gar unmöglich ist«, erwiesen, woraus sich für Schlink ergab, wie unausweichlich ein deutscher Zollschutz sein müsse.49 Insofern ist die »Vergleichende Qualitätsuntersuchung« der rheinisch-westfälischen Hochofenwerke Teil des in den 1870er Jahren aufkommenden Wirtschaftslobbyismus und ein Zeichen, dass sich der zollpolitische Wind im Deutschen Reich seit Mitte des Jahrzehnts zu drehen begonnen hatte, was 1879 schließlich in die »Zollpolitische Wende« mündete.50 Damit wird deutlich, dass diese von Seiten der beteiligten deutschen Hochofenwerke durchgeführte instrumentelle Vergleichspraxis weniger direkt auf die deutsche Kundschaft zielte, sondern neben den zuständigen staatlichen Stellen und politischen Entscheidungsträgern gleichzeitig die politische Öffentlichkeit in Deutschland als »vierte« Instanz der Konkurrenz adressierte. Dafür standen nicht nur Schlinks wirtschafts- und verbandspolitisch grundierte »Schlussbemerkungen«. Schon bevor Wachler seine Untersuchungen überhaupt abgeschlossen hatte, schrieb Zerwes im Oktober 1877 an ein Aufsichtsratsmitglied der FWH, dass hier »günstige Resultate« zu erwarten seien. Konkret bedeute dies: »[D]ie Sache wird ganz unzweifelhaft großen Erfolg haben, aber es muß auch der Staub überall aufgewirbelt werden und die einmal angezogene Glocke muß weit hinaus schallen und darf nicht verstummen.«51 Dieses lobbyistische Staubaufwirbeln besorgte unter anderem Zerwes in den folgenden zwei Jahren selbst, indem er Reichstagsabgeordnete anschrieb und mit Hilfe der durch die »Vergleichende Qualitätsuntersuchung« gesammelten Argumente vom protektionistischen Standpunkt zu überzeugen versuchte. Außerdem übergab er Abgeordneten, die im Dienste des Protektionismus 49 Ebd., S. 34. 50 Vgl. zur »zollpolitischen Wende«: Torp, Co., S. 147–177. 51 TkA FWH/1227, Zerwes an Merkems, 18.10.1877, S. 44.

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standen die Ergebnisse als Argumentationshilfen für Reichstagsdebatten. Es ging dabei abermals darum, die Sonderinteressen der Hochofenwerke mit den Interessen des Gemeinwohls gleichzusetzen.52 In den 1870er Jahren mussten sich Befürworter des Schutzzolls gegen freihändlerische Positionen durchsetzen. Auch hierfür ist die Geschichte der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« ein Beleg. Das Streben der Befürworter eines Schutzzolls inszenierte Schlink in seinen »Schlussbemerkungen« als selbstloses Wirken gegen eine »verführte« Öffentlichkeit. Er betonte: »Die öffentliche Meinung ist gewöhnlich nur zu sehr geneigt, Schlagwörtern zu folgen und sich von denselben leiten zu lassen; die Macht der Zahlen und Thatsachen ist aber so überwältigend, daß eine baldige Umkehr auf dem betretenen abschüssigen Pfade strenge gefordert und bestimmt erwartet werden muß.«53 Mit den erwähnten »Schlagwörtern und unfertigen Ideen« diskreditierte Schlink den Wirtschaftsliberalismus; diesem gelte es nicht länger »kolossalen Aufwand an Kapital, Intelligenz und saurem Schweiß des Volkes« zu opfern.54 Schlink versuchte dieses durch die deutschen Produzenten bzw. das gesamte deutsche Volk erbrachte »Opfer« volkswirtschaftlich zu beziffern, um der Öffentlichkeit mit konkreten Beispielen vor Augen zu führen, welchen Schaden der Freihandel verursachen könne und welche protektionistische Wirkung der Zollschutz dagegen verspreche. Zunächst rechnete er anhand eines deutsch-englischen Selbstkostenvergleichs vor, warum ein Zollschutz nötig sei: dieser sollte die »durch die natürlichen Verhältnisse bedingten Vorzüge« Englands ausgleichen. Wenn dies geschehe, so rechnete er weiter vor, und die deutschen Werke den deutschen Markt dadurch beherrschten, so könnten diese fünf bis sechs Millionen Zentner Roheisen zusätzlich produzieren, wofür 30 bis 40 Hochöfen von Nöten wären.55 Diesen großen Chancen stellte er die vorgeblichen Gefahren des Freihandels gegenüber, indem er am Ende seiner Zahlenreihen die wirtschaftspolitische Ausrichtung mit dem Auskommen der deutschen Arbeiterschaft verknüpfte:

52 Vgl. die Korrespondenzen in tkA FWH/1227, S. 58 f., 63. Siehe die Protokolle der Kommission in Deutsches Reich / Eisen-Enquête-Kommission. Vgl. zu dieser Gleichsetzung von allgemeinen Interessen mit denen der Eisen- und Stahlindustrie mittels instrumenteller statistischer Vergleiche Kapitel 3.3 dieser Arbeit. 53 Wachler, S. 35. 54 Ebd., S. 34. 55 Ebd.

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Wenn das radikale Manchesterthum behauptet, daß unter den dargestellten Umständen die deutschen Gießereiroheisen-Industrie einer hinlänglich gesunden Grundlage entbehre, daher nicht lebensfähig und deren Untergang notwendig sei, so würden mit einem Federzuge Millionen, welche in Berg- und Eisenwerken angelegt sind, geopfert und hier darf man zu Recht wohl fragen, wie wir künftig die darbenden Arbeiter der Kohlen- und Eisenindustrien beschäftigen oder in welches Land diese auswandern sollen.56 Die freihändlerische Sichtweise, wonach diejenigen Produzenten, die sich nicht im Marktkampf behaupten können, im schlimmsten Fall bankrottgehen müssen, setze aus Schlinks Sicht die wirtschaftlichen Grundlagen beträchtlicher Teile der deutschen Wirtschaft aufs Spiel. Während also die freihändlerische Position sich mit »unfairen« Wettbewerbsbedingungen zufriedengebe und den Schaden für das nationale Gemeinwohl in Kauf nehme, setzte Schlink hier das übergeordnete Wohl von Kapital und Arbeitern gleich, das gleichermaßen gefährdet sei. Ohne Zollschutz, so ein weiterer Aspekt der entworfenen »Risikozukunft« eines »ungezügelten« Wettbewerbs, drohe die Verarmung breiter Schichten der deutschen Arbeiterschaft. Schlink konnte an das in Deutschland verbreitete Unbehagen an der Zirkulationssphäre des Marktes anschließen und den Staat als Garant des Schutzes der ökonomischen Lebensgrundlage der deutschen Nation inszenieren. Die deutschen Produzenten handelten und argumentierten in einem soziokulturellen Umfeld, das diese Strategie begünstigte. Im industrialisierten Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts herrschte eine – auch im Vergleich zu anderen Industrienationen – besonders ausgebildete Orientierung an der Produktionssphäre. Arbeiter:innen identifizierten sich mit ihrer Arbeit und ihrem Beitrag zum Produktionsprozess, während sich etwa britische Arbeiter:innen mehr auf die von ihnen hergestellte Produkte bezogen. Die Folge war, dass hierdurch auch die Zirkulationssphäre des Marktes auf britischer Seite weniger abstrakt erschien, während sich antikapitalistische Kritik in Deutschland vor allem an der Marktsphäre entzündete.57 Die deutschen Eisen- und Stahlunternehmen waren ebenfalls von einer solchen Orientierung geprägt. Sie wählten »Qualität« als alleiniges tertium der Vergleichsuntersuchung, um den Kunden den Akt der Produktbewer56 Ebd., S. 34 f. 57 Biernacki.

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tung bzw. der als »unfair« und »irrational« aufgefassten Marktsphäre, auf die man zudem keinen Einfluss hatte, zu entziehen. Mit Hilfe der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« sollte das Vergleichen und Bewerten der Produktqualität vielmehr bereits in der eigenen, »beherrschbaren« Produktionssphäre stattfinden. Der deutsche Staat sollte dabei  – freilich in verdeckter Weise – zum steuernden Zentrum der nun nicht mehr »freien« Konkurrenz werden und damit die unternehmerischen Risiken der Hochofenwerke minimieren.58 Der von Schlink als »radikales Manchesterthum« diskreditierte Wirtschaftsliberalismus musste angesichts der zollpolitischen Debatten, die Mitte Mai 1879 begannen, insbesondere im Reichstag bekämpft werden. Hierfür sandte Zerwes die Ergebnisse der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« sowohl an politische Gegner als auch an Minister. In einem Begleitschreiben an den Minister der preußischen Staatsbahnen Eugen Richter untermauerte Zerwes nochmals mit Blick auf die ergebnisoffene Reichstagsdebatte die Notwendigkeit der Verdrängung des englischen Roheisens vom deutschen Markt: Der nationalen Arbeit muß der ihr gebührende und höchst notwendige Schutz durch die jetzt schwebenden Reichstagsverhandlungen wiedergegeben werden und ganz besonders darf die deutsche Hochofenindustrie nicht länger schutzlos bleiben, wenn sie nicht von der durch wesentlich günstigere Vorbedingungen besser situierten Konkurrenz Großbritanniens total unterdrückt werden soll. Daß der in dem neuen Tarife vorgesehene Roheisenzoll von 10 Mark pro 1000 kg keineswegs, wie es von Gegnern desselben hervorgehoben wird, zu hoch gegriffen, daß er vielmehr wenigstens in dieser Höhe absolut notwendig ist, wenn die bessernde Hand mit Erfolg an das eigentliche Fundament unserer Eisenindustrie gelegt werden soll, geht aus den […] [in der Denkschrift; TM] angegebenen Produktionskosten einer Seits [!] und aus der Verschiedenheit der Transportkosten anderer Seits [!] evident hervor.59 58 Vgl. zur begrifflichen Unterscheidung von kalkulierbaren »economic risks« und unkalkulierbaren »eonomic uncertainties«: Knight. 59 TkA FWH/1227, Zerwes an Maybach, Mai 1879, S. 62. Zerwes führte darüber hinaus das von Sidney G. Thomas entwickelte Stahlfrischverfahren an, wodurch »den deutschen Hochofenwerken eine neue Krisis droht, die ganz unabwendbar, aber in ihren Folgen allerdings noch nicht zu übersehen ist«. Das hier erwähnte Thomasverfahren sollte entgegen Zerwes’ entworfener Risikozukunft für den Durchbruch der deutschen Branche zu einer Stahlherstellerin mit eigenem Profil werden, weswegen die deutsche

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Nur ein von der Eisen- und Stahlindustrie geforderter Zollschutz könne die »nationale Arbeit« vor einer wesentlich »besser situierten Konkurrenz« schützen  – auch hier wird über den Vergleich der »Vorbedingungen« der deutschen und britischen Industrie die Industriebranche mit dem Gemeinwohl gleichgesetzt. Minister Albert von Maybach – zuständig für die Preußische Staatseisenbahn – ließ sich insofern auf diese Argumentation ein, als er versprach, auch in Zukunft solche staatlich beaufsichtigten Qualitätsuntersuchungen zu fördern. Er verlieh in seinem Antwortschreiben vom 24. Mai 1879 jedoch gleichfalls der Hoffnung Ausdruck, dass die deutschen Hochofenwerke nun außerhalb von Testanordnungen ebenso gleichbleibend hohe Qualitäten liefern könnten. Die Produkte müssten auch im Tagesgeschäft den britischen ebenbürtig sein.60 Maybach formulierte hier einen zentralen Vorwurf, den schon der preußische Handelsminister im Vorfeld der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« gegenüber den hieran beteiligten Werken geäußert hatte, und forderte eine »fortlaufende Kontrolle« des Gießerei-Roheisens, statt nur eine »einmalige Prüfung« durchzuführen. Schließlich, so Minister von Maybach, richtete sich »der Hauptvorwurf der Konsumenten gegen die wechselnde Beschaffenheit des inländischen Gießerei-Roheisens im Gegensatz zu der immer gleich bleibenden Qualität des schottischen Roheisens«61. Die an der Untersuchung beteiligten Unternehmen standen dieser Forderung nach der »Unterhaltung einer neuen selbständigen Versuchsstation«, wie es Wachler formulierte, mit Verweis auf die Kosten reserviert gegenüber. Diese Einwände unterstreichen einmal mehr den instrumentellen Charakter der Untersuchung: Es ging den beteiligten Werken gerade um diese einmalige Vergleichsanordnung, über die sie selbst die Kontrolle behielten und deren (zuvor feststehendes) Ergebnis unmittelbar in die Wettbewerbsstrategien einfließen konnte.62 Noch stärkerer Gegenwind als von der Staatsbürokratie kam von Seiten des politischen Liberalismus im Reichstag. Die wirtschaftsliberalen Vertreter Branche schon wenig später »ohne Neid nach England hinüberschauen« konnte, wie es Gustav Klüpfel (1883), Vergleichung der Betriebsresultate deutscher und englischer Hochöfen bei Erzeugung von grauem Roheisen, in: Stahl und Eisen J. 3, Nr. 12, S. 645–666, hier: S. 645 bereits wenige Jahre später formulierte. Vgl. zur Profilbildung der deutschen Branche Wengenroth, Deutscher Stahl. 60 TkA FWH/1227, Maybach an Zerwes, 24.5.1879, S. 64. 61 Zitiert nach: Wachler, S. 4. 62 Ebd., S. 5.

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arbeiteten sich nicht zuletzt publizistisch am von ihnen abgelehnten protektionistischen Standpunkt ab und nahmen hierbei die »Vergleichende Qualitätsuntersuchung« explizit ins Visier ihrer Kritik. In der anonym verfassten Schrift In Sachen Stumm, Berger und Consorten gegen Bamberger, Richter und Consorten puncto Eisen wurde die Qualitätsuntersuchung in ihrem nur vorgeblich neutralen und wissenschaftlichen Anspruch zu enttarnen versucht und in eine »jahrelange Agitation der Eisen-Großindustriellen« eingeordnet.63 Schon das Ergebnis wurde angezweifelt: Die Untersuchung sage nicht viel mehr aus, als dass das Maximum der den Untersuchungen zu entnehmenden Ergebnisse sich auf den Nachweis beschränkt, dass in Deutschland Roheisenqualitäten erzeugt werden können, aus welchen unter speciellen Gattirungen Gussstücke producirt werden, welche den Vergleich mit aus schottischem Roheisen unter gewissen Gattirungen producirten Gussstücken aushalten.64 Der liberale Anonymus kritisierte damit das artifizielle Vergleichsarrangement, das die Totalaussage der »Ebenbürtigkeit« des deutschen mit dem britischen Roheisen zu stützen vermöge. Ein weiterer naheliegender Kritikpunkt war die Nähe zwischen Berginspektor Richard Wachler und seinen Auftraggebern. So sei es kaum verwunderlich, wenn die mit der Untersuchung betraute Person aufgrund des »fortwährenden ausschliesslichen Umgang[s] mit Interessenten nicht mehr ganz sine ira et studio urtheilt«65. Während der rein hüttentechnische Bericht über Möllerungen und anlagentechnische Parameter der Roheisenproduktion aus Sicht der Kritik noch grundsätzlich sachlich gehalten sei, kritisierte der anonyme Autor vor allem den wirt63 O. V., In Sachen Stumm, Berger und Consorten, S. 3. Die Namen im Titel beziehen sich auf Reichstagsabgeordnete. Der anonyme Autor ergriff Partei für die freihändlerische Fraktion im Reichstag, wie den Nationalliberalen Ludwig Bamberger oder den überzeugten »Manchesterliberalen« und Mitglied der Deutschen Fortschrittspartei Eugen Richter. Auf der anderen Seite stand der saarländische Unternehmer und zwischen 1871 und 1881 als Abgeordneter für die Freikonservativen bzw. die Deutsche Reichspartei im Reichstag vertretene Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg. Dieser war ein entschiedener Gegner der Aufhebung der Schutzzölle im Jahr 1873 und setzte sich für die Wiedereinführung im Jahr 1879 ein. 64 Ebd., S. 12. »Gattierung« ist ein Fachbegriff der Gießereitechnik und bezeichnet die jeweilige Zusammensetzung des Schmelzmaterials (üblicherweise Roheisen, Stahlschrott und Kreislaufmaterial), das anschließend geschmolzen wird. 65 Ebd., S. 17.

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schaftlichen Teil von Wachlers Bericht samt Schlinks »Schlussbemerkungen« scharf. Die hier formulierten vergleichenden Auslassungen über Selbst- und Transportkosten bezeichnete der Kritiker als unsachlich, weil Wachler sie mit weiteren tertia wie jenem des Alters von »Schottlands und Englands uralte[r] Eisenindustrie« in Verbindung gebracht und so die rein sachlich-ökonomische Dimension von preisbildenden Märkten verlassen habe.66 Außerdem kritisierten der freihändlerisch orientierte Autor den instrumentellen und propagandistischen Charakter der von Wachler und Schlink als »sachlich« deklarierten »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung«.67 Gegen die Expansionsbestrebungen der deutschen Hochofenwerke  – die allerdings nur mit staatlicher Hilfe möglich war – verteidigte der anonyme Autor den Marktmechanismus: »Es giebt nun aber Verwendungen von Gusseisen, bei denen es mehr auf den billigen Preis, als auf die bessere Qualität ankommt.«68 Schließlich dekonstruierte der liberale Anonymus auch die von Seiten der Hochofenwerke stilisierte eigene Gemeinwohlbedeutung. Die Forderungen nach Protektionismus zielten eben nicht – wie die Eisen- und Stahlindustrie behauptete – auf eine Vermehrung des Volkseinkommens und des viel beschworenen »Schutzes der nationalen Arbeit«.69 Dagegen, das legten die liberalen Kritiker bereits zeitgenössisch offen, stehe die hier vertretene Schutzzollpolitik für eine Verschiebung des Kapitals von den Konsumenten hin zu den Hochofenbesitzern. Dies wiederum solle verschleiert werden, indem man die eigenen Partikularinteressen mit denjenigen des Allgemeinwohls gleichsetze.70 Joseph Schlink sah sich nun seinerseits zu einer Replik auf diese Kritik der Vertreter des seiner Auffassung nach »radikalen Manchesterthums« gezwungen. Diese Replik erschien am 1. August 1879 in Glaser’s Annalen, worin er Wachlers »Vergleichende Qualitätsuntersuchung« verteidigte. Deren Ergebnisse wertete er zusammen mit denen der Eisen-Enquête-Kommission als einen »Dorn im Fleische des Freihandels«.71 Schlinks polemische Replik war im Bewusstsein geschrieben, dass »[d]ie verständigere Mehrheit des deutschen Volkes […] das [die Notwendigkeit des Zollschutzes; TM] eingesehen

66 67 68 69 70 71

Ebd., S. 18. Ebd., S. 12, 17–19. Ebd., S. 18. Vgl. zu diesem Prozess in Deutschland und den USA: Etges. O. V., In Sachen Stumm, Berger und Consorten, S. 18 f. Schlink, Abwehr, Sp. 73.

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und bereitwilligst den nöthigen Schutz gewährt [hat]«72. Der Reichstag hatte zuvor am 12. Juli des Jahres ein Zollgesetz verabschiedet, das ein ganzes Bündel von Zolltarifen auf importierte industrielle und agrarische Güter enthielt – darunter Eisen. Diese ordnungspolitische Zäsur beendete die Vorherrschaft des seit einem Vierteljahrhundert dominanten wirtschaftlichen und politischen Liberalismus in Deutschland.73 Dennoch ging Schlink auf die Vorwürfe ein und beschwerte sich, dass die Freihandelsbefürworter den Eisenindustriellen unterstellten, »der Welt absichtlich Sand in die Augen gestreut« zu haben. Schlinks Replik bedeutete eine Fortsetzung genau dieser Strategie: Er beschwor die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung und setzte erneut Eigen- und Gemeinwohlinteressen gleich.74 Damit glich die »Vergleichende Qualitätsuntersuchung« ebenso »eher einer Farce als einer unvoreingenommenen Untersuchung«, wie der Historiker Cornelius Torp mit Blick auf die Eisen-Enquête festhält. Schließlich seien die Ergebnisse präfiguriert und sollten in erster Linie Interessen verschleiern;75 die handelnden Akteure waren eben nicht von den edlen Motiven geleitet, die sie selbst vorgaben. Auch wenn schon kritischen Zeitgenossen diese Motivationen nicht verborgen blieben, nutzten die Produzenten geschickt und rücksichtlos das Qualitätsproblem der wichtigen Werkstoffe Eisen und Stahl aus, um so den Staat auf den Plan zu rufen. Demnach lassen sich weitreichende historische Wurzeln eines solchen ordnungspolitischen Denkens in Deutschland ausmachen. Seit der Frühen Neuzeit misstraute man den selbstregulierenden Kräften des Markts und fürchtete eine zu große Marktmacht einzelner Akteure. »Es lag daher nahe, dem Staat eine Garantie- und Erziehungsfunktion zuzuschreiben; er sollte das Funktionieren des Marktes und das angemessene Verhalten der Marktteilnnehmer sicherstellen«, wie Werner Plumpe betont.76 Die »Große Depression« und die durch sie verursachten globalen Krisendynamiken (konjunktureller Abschwung, Überkapazitäten, Krise des Wirtschaftslibera-

72 Ebd., Sp. 75. 73 Dieser Umbruch hin zum Protektionismus wurde von der Geschichtswissenschaft lange Zeit als konservative »Umgründung« des Kaiserreichs diskutiert oder gar als »Zweite Reichsgründung« betrachtet. Torp, Co., S. 147 relativiert ein Stück weit solche Zuschreibungen der älteren Sozialgeschichte, bleibt aber dabei, »die Zölle von 1879 als einen wichtigen Wendepunkt« in der deutschen Sozialgeschichte zu bezeichnen. 74 Schlink, Abwehr, Sp. 74. 75 Torp, Co., S. 163. 76 Plumpe, W., Das kalte Herz, S. 72.

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lismus) und ein zunehmender internationaler Konkurrenzdruck ließ die Rufe nach staatlichen Schutzmaßnahmen lauter werden. Zwar hatte die Idee des Freihandels weiterhin eine große Anhängerschaft, diese neue ökonomische Unsicherheit verstärkte laut Cornelius Torp »die Möglichkeitsbedingung eines protektionistischen Umschwungs« und eröffnete hier »einen neuen politischen Gestaltungsspielraum«.77 Die Zollpolitische Wende im Kaiserreich des Jahres 1879 war dennoch nicht zwangsläufig.78 Im Vorfeld, Verlauf und Nachgang der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« sowie mit Blick auf ihre Ziele und Funktionen wird deutlich, wie stark umstritten dieser Weg zu dieser wirtschaftspolitischen Wende in Deutschland selbst war und inwiefern Teile der deutschen Eisen- und Stahlindustrie sich in einer zeitlich begrenzten »Produzentenclique« zusammenfanden und ihre Konkurrenzpraktiken geballt in die politische Öffentlichkeit trugen. Die deutsche Eisenund Stahlindustrie bekam mit den wiedereingeführten Schutzzöllen den verbrämten »nationalen Schutz«  – der aber letztlich einer »Rentabilitätssicherungsprämie« gleichkam, wie Thomas Welskopp schreibt. Die Schutzzölle hätten dafür gesorgt, dass der deutsche Markt abgeschottet wurde, wodurch die Inlandspreise hochgehalten und günstige Exportpreise ermöglicht wurden. Sie begünstigten insofern die Arbeit der Kartelle und Syndikate bei der Preissetzung und verschlimmerten die Probleme der Überkapazitäten, die sie eigentlich lösen sollten:79 Die Zölle sicherten nicht die Existenz der deutschen eisenproduzierenden Industrie, wie die Schutzzollagitation der Unternehmerverbände vorgab; vielmehr erhielten sie über eine verstärkte Umverteilung zuungunsten der weiterverarbeitenden Industrie und der Verbraucher die ungünstige Struktur einer überdimensionierten Branche aufrecht, deren Strukturdefekte sie re-produzieren halfen.80

77 Torp, Co., S. 156. 78 Ebd. Wie wenig zwangsläufig diese »epochale Wende« und das Abrücken von marktwirtschaftlichen Prinzipien waren, zeigt gerade das Gegenbeispiel der britischen Industrie, welche diese wirtschaftsliberale Ausrichtung nicht aufgab. Vgl. zu den unterschiedlichen Unternehmensstrategien in Deutschland, England und Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg Wengenroth, Unternehmensstrategien in Deutschland. 79 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 266. 80 Ebd.

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Die Wirkung der Schutzzollpolitik lässt sich bei aller schon zeitgenössisch berechtigten Kritik an der schwerindustriellen Interessenspolitik und angesichts der gegen den Markt gerichteten Konkurrenzpraktiken in der Rückschau nicht allein auf die einfache Sicherung von Gewinnen und den Erhalt von nicht wettbewerbsfähigen Unternehmen reduzieren. Unter dem Schutz der Zölle gelang es laut dem Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser der deutschen Eisen- und Stahlindustrie in der Folge, nicht nur gegenüber der britischen Konkurrenz wettbewerbsfähiger zu werden. Sie fand auch Anschluss an die »neuen« Industrien, die wie die Chemie- und Elektroindustrie aus der Symbiose aus Wirtschaft, Wissenschaft und Technik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Insbesondere Krupp habe es demnach geschafft, durch innovative Prototypen im Maschinenbau bereits früh den Übergang von der »materiellen« zur »immateriellen« Wertschöpfung einzuleiten, der weithin erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verortet werde.81 Allerdings blieb im Bereich des Gießereiroheisens der Anteil an britischen Produkten auf dem deutschen Markt mit immer noch rund 50 % hoch.82 Weiterhin versuchten die deutschen Hochofenwerke, das britische Roheisen zu verdrängen. Allerdings veränderten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im Zuge der technologischen »Gemeinschaftsarbeit« unter dem Dach des VDEh nun die Mittel. Zwar blieb der Zollschutz ebenso Thema wie Kartellabsprachen; die Branche setzte nun jedoch stärker darauf, sich differenzierter und detaillierter mit der britischen Hochofentechnik auseinanderzusetzen. Die deutsche Branche kam nicht umhin, sich an der überlegenen Konkurrenz zu orientieren und sich mit dieser zu vergleichen, um Wettbewerbsvorteile zunächst sichtbar zu machen und anschließend auszugleichen. Dabei rückten sowohl die Produktionsanlagen und die Verfahrenstechniken als auch die Selbstkosten – und nicht die Produktqualität – der britischen Hochofenwerke in den Fokus vergleichender Analysen in der zu Beginn der 1880er Jahre neu

81 Abelshauser. Den Begriff »nachindustriell« verwendet Abelshauser im Anschluss an North, der den Beginn des langfristigen Bedeutungsverlusts materieller Produktion im ausgehenden 19. Jahrhundert und nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verortet. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Stahlindustrie vor dem Ersten Weltkrieg gründete jedoch auch auf »unfairen« Wettbewerbsstrategien. So bediente sie sich des Exportventils, um die eigene Überproduktion für Preise weit unterhalb derjenigen des geschützten Binnenmarktes auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Vgl. hierzu: Wengenroth, Germany: Competition abroad, S. 141–143. 82 Klüpfel, S. 654.

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gegründeten Fachzeitschrift Stahl und Eisen. Gustav Klüpfel etwa widmete sich in seiner »Vergleichung der Betriebsresultate deutscher und englischer Hochöfen bei der Erzeugung von grauem Roheisen [= Gießereiroheisen]« den Gründen britischer Wettbewerbsvorteile. Klüpfels Prämisse war, dass die deutschen Hochofenwerke beim Puddel- und Thomasroheisen inzwischen zwar mindestens ebenbürtige Wettbewerber waren und damit technisch auf Augenhöhe mit der britischen Konkurrenz agierten – für Gießereiroheisen galt dies offenkundig nicht. Um den »Kampf gegen die englische Ueberlegenheit« zu forcieren, zielte Klüpfel nun auf die genaue Analyse der britischen Hochofenleistungen. Er strebte mittels Vergleichen der Betriebsresultate nach einer »ernsthaften theoretischen Kritik unserer Leistung, um zu sehen, inwieweit wirklich unabänderliche Naturverhältnisse einer Annäherung an englische Gestehungskosten im Wege stehen«83. Statt über die besseren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Großbritannien zu schreiben, beleuchtete er den Hochofen als »chemisch-physikalisches Problem«, besonders bezüglich des Verbrauchs von Brennmaterial.84 Zwar stellte auch Klüpfel in seiner Analyse fest, dass die englischen Hochöfner mit besseren Rohstoffen arbeiten konnten. Denn ihre Erze wiesen einen höheren Eisen- und einen geringeren Kalkgehalt auf.85 Dennoch plädierte er dafür, sich nicht damit abzufinden, sondern betonte die »Pflicht, uns nach allen irgendwie Erfolg versprechenden Mitteln umzusehen, welche dazu dienen können, den hohen Koksverbrauch zu vermindern, uns hierdurch der auch heute noch erdrückenden englischen Concurrenz zu erwehren«. Statt sich mit den günstigeren Preisen der Konkurrenz abzufinden (bzw. diese gegenüber dem Staat geltend zu machen), hatte er also die »Nutzanwendung dieses Vergleichs auf unsere deutsche Verhältnisse« im Blick.86 Klüpfel erarbeitete vier Möglichkeiten der Ersparnis von Koks im Hochofenprozess, um so die Selbstkosten auf das britische Niveau zu senken. Dabei handelte es sich nicht um einfache Nachahmungen der englischen Hochofentechnik, sondern Klüpfel kam in einem dialektischen Verfahren und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen 83 Ebd. 84 Ebd., S. 645 f. 85 Ebd., S. 659. 86 Ebd., S. 662. Methodisch griff Klüpfel dabei auf einen Vortrag Lowthian Bells zurück, bei dem dieser die Betriebsresultate schwedischer und österreichischer HolzkohleHochöfen verglich. Die Zahlen zu den Kokshochöfen im englischen Cleveland-Distrikt nahm Klüpfel nun und verglich diese mit den Betriebsresultaten deutscher Hochöfen. Hierfür bildete er »Repräsentanten« von Hochöfen – einem Hochofen aus Cleveland stellte er einen kleineren Hochofen aus dem Harzgebiet gegenüber. Ebd., S. 647.

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Rahmenbedingungen zu einer Synthese spezifischer Verbesserungen für deutsche Hochöfen für Gießereiroheisen.87 Vergleichspraktiken waren damit aus Sicht der Branche sowohl ein Instrument der Mobilisierung als auch eine wissenschaftliche Methode, um Wettbewerbsvorteile zu identifizieren und aufzuholen. Während die Produktionstechnik in der Vergleichspraxis Gegenstand von Kapitel 5 dieser Arbeit sein wird, hat dieses Kapitel bisher gezeigt, dass Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie angesichts der Weltmarktkonkurrenz versuchten, die unsichere Qualitätsordnung zu nutzen, die im Bereich der Eisen- und Stahlproduktion zwischen Herstellern und Kunden bestand. Die Hersteller zielten als nationaler Branchenverbund mit Hilfe einer instrumentellen Vergleichspraxis darauf, Qualität als nationale Trademark zu definieren, indem der jeweilige Staat den Schutz der hohen inländischen Qualitätsstandards gewährleisten sollte, während er den Binnenmarkt vor »minderwertigen« ausländischen Produkten schützen sollte. Hierbei hat insbesondere das diskutierte Fallbeispiel der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« der rheinisch-westfälischen Hochofenwerke gezeigt, dass deutsche Produzenten mitunter so weit gingen, dass sie den freien Marktmechanismus aussetzen wollten, indem sie – legitimiert durch die von Seiten des »neutralen« Staates beglaubigte Qualität der deutschen Produkte – den Kunden den Kauf ihrer Produkte vorschreiben wollten. Da diese aufwendige Strategie kaum fruchtete, war der nächste Schritt, den Zollschutz gegenüber der »bevorteilten« ausländischen Konkurrenz zu propagieren. Das gesamte Unterfangen war Bestandteil einer Krisenpolitik, die laut Ulrich Wengenroth »im wesentlichen jenseits der Unternehmensgrenzen« lag und kennzeichnend für die deutsche Eisen- und Stahlindustrie sein sollte.88 Dieses Vorgehen, staatlichen Zollschutz durch den Verweis auf einen unfairen ausländischen Wettbewerb zu legitimieren, konnte nicht nur in krisenhaften Situationen eines verschärften Wettbewerbs angewandt werden. US -Hersteller argumentierten bei ihrem Eintritt in das Marktsegment der Weißblechproduktion in ganz ähnlicher Weise. Die ersten unternehmerischen Versuche, in den frühen 1870er Jahren in die Weißblechproduktion einzusteigen, scheiterten recht bald, weil die Werke nicht mit den Weltmarktpreisen in diesem qualitativ anspruchsvollen Segment mithalten konnten.89 87 Ebd., S. 666. 88 Wengenroth, Krisen in der deutschen Stahlindustrie, S. 67. 89 Ayer.

Produkttests und Zoll

Dabei waren die Vereinigten Staaten schon seit Längerem die mit Abstand größten Abnehmer von Weißblechen, die vor allem für die Herstellung von Blech-, insbesondere Konservendosen sowie von Petroleumfässern, Dachschindeln und Haushaltsutensilien bedeutsam wurden.90 Der im Oktober 1891 verabschiedete McKinley Tariff leitete seit Juli 1891 eine rasante Boomphase der US -Weißblechproduktion ein. Die ersten Walzwerke zur Produktion von Weißblech waren teils komplett aus Wales importiert worden, während man auch auf das Know-how eingewanderter walisischer Facharbeiter angewiesen war.91 Der Tarif wurde dabei von Seiten der Zollbefürworter als notwendig erachtet, weil er die US -amerikanische »infant industry« gegen die etablierte walisische Industrie schützen müsse.92 Der wirtschaftliche Erfolg dieses Markteintritts schien den Zollbefürwortern Recht zu geben: Während walisische Produzenten auf dem US -Markt vor Einführung des Zolls im Oktober 1890 fast schon ein Monopol besaßen, schrieb der protektionistische orientierte James M. Swank im Jahr 1896 bereits triumphierend, dass der ausländischen Konkurrenz angesichts der US -Produktionserfolge bald höchstens der Re-Export (weiterverarbeiteter) US -amerikanischer Weißbleche bleiben werde.93 Außerdem stieg die binnenwirtschaftliche Nachfrage nach 1891 stark an, zog 1896 mit den Importen gleich, und im Jahr 1899 erreichten US -Unternehmen schließlich einen Anteil am US -Binnenmarkt von 90 %.94 Die USA wurden in kürzester Zeit und bald mit deutlichem Abstand zum weltweit größten Produzenten (und Abnehmer) von Weißblech. Während das Land im Jahr 1890 praktisch kein Weißblech produzierte, stieg die Produktion stark und weitgehend konstant an und umfasste im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bereits annähernd eine Million Tonnen pro Jahr.95 Die Forschung hat allerdings den vermeintlich so klaren kausalen Zusammenhang zwischen Zolleinführung und Markterfolg zurückgewiesen. Die Weißblechindustrie wurde in den Vereinigten Staaten zwar erst profitabel, als die hohen inländischen Kosten von Roheisen und -stahl in etwa auf das 90 Irwin, S. 338. Weißblech wurde in der Produktion auf kontinuierlichen Warmstraßen dünn ausgewalzt und mit einem Zinn-Film überzogen, der dem Korrosionsschutz diente. Vgl. zur Herstellung von Weißblechen: McKie, S. 35–40. 91 Taussig, S. 185. 92 Tedesco, S. 190. 93 O. V., Foreign Tin Plates, S. 819 f. 94 Irwin, S. 342. 95 Dunbar, S. 13–29.

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Niveau der ausländischen Konkurrenz fielen, sodass der McKinley Tariff schließlich die verbliebene Differenz der Selbstkosten ausgleichen und so den Startschuss für eine erfolgreiche US -Weißblechindustrie geben konnte. Die erfolgreiche Senkung der Selbstkosten machte den Zoll jedoch bald überflüssig.96 Auch ohne den McKinley Tariff hätte sich die US -Weißblechindustrie ein Jahrzehnt später erfolgreich entwickeln können.97 Auch das Argument der »infant industry« wurde von der Forschung widerlegt, das auf dem »lack of previous production experience« gründete: Diese Nachteile hätten durch das Zurückgreifen auf walisisches Know-how und unter den Bedingungen der internationalen Fachöffentlichkeit und (inter-)nationaler »learning based spillover effects« schnell ausgeglichen werden können.98 Allerdings sahen sich die Produzenten zu Beginn des Markteintritts noch mit einem unsicheren Erwartungshorizont konfrontiert. Schließlich senkte die britische Konkurrenz mit Einführung des McKinley Tariff selbst ihre Preise und konnte so den Zoll zunächst ausgleichen.99 Die AISA warnte in dieser Situation und verstärkt angesichts der im Jahr 1896 zwischenzeitlich gesenkten Zölle vor dem ausländischen Wettbewerb, namentlich von Seiten britischer Walzwerke, um so für eine abermalige Anhebung des Zolls zu werben.100 Der Fall der »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« zeigt zusammen mit der Einführung des McKinley Tariff in verdichteter Weise, inwiefern die kollektiv organisierten deutschen und US -amerikanischen Produzenten die ausländische Konkurrenz als »äußerliches Zwangsgesetz« (Karl Marx) im Sinne eines von außen kommenden unfairen Wettbewerbs gegenüber ihrem jeweiligen Staat mit Hilfe instrumenteller Vergleichspraktiken geltend machten.101 Neben einer Krisenpolitik konnten so grundsätzlich Erwartungsunsicherheiten eingegrenzt werden, insbesondere, wenn Hersteller neue Märkte betreten wollten. 96 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 261, Anm. 36. 97 Irwin, S. 336 f. 98 Ebd., S. 345–348, Zitate: S. 345. 99 Swank, Our Tin Plate Industry, S. 3. 100 Swank argumentierte, dass es allein den inzwischen gemachten Erfahrungen und Fähigkeiten der US-Produzenten und dem glücklichen Umstand niedriger Preise für Stahlbarren und -knüppel geschuldet sei, dass die US-Werke nicht noch stärker litten. ebd., S. 4. Vgl. dagegen die mit unternehmerischen Erfahrungsberichten und statistischen Zahlen belegte Erfolgsbilanz von Ayer. 101 »Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend.« Marx, K., Das Kapital, S. 286.

Nationale Trademarks als Differenzkategorien

4.2

Nationale Trademarks als Differenzkategorien des internationalen Wettbewerbs

Die Frage der Produktqualität war in der Eisen- und Stahlindustrie schon im 19. Jahrhundert Gegenstand transnationaler Vergleiche und Deutungskämpfe im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdzuschreibungen. Es ging darum, Differenzkategorien entlang nationaler Zuschreibungen zu entwickeln. Dies war nicht nur eine bis heute bekannte Marketingstrategie,102 sondern die Etablierung nationaler Trademarks hatte zu dieser Zeit und in dieser Industriebranche stets den Staat als Adressaten einer Konkurrenzpraxis im Blick, die darauf zielte, die ausländische Konkurrenz vom jeweiligen Binnenmarkt zu verdrängen. Die Geschichte des Labels »Made in Germany« zeigt dies exemplarisch. Der britische Journalist Ernest E. Williams untersuchte in seinem berühmten im Jahr 1896 erschienenen Bestseller »Made in Germany« den Einfluss des deutschen Wettbewerbs auf die britische Industrie.103 Er zeichnete darin ein bedrohliches Bild der deutschen Billigkonkurrenz, die immer mehr Anteile an internationalen und britischen Märkten für sich erringen konnte. In seinem Kapitel über »Iron and Steel« warf Williams den britischen Produzenten vor, allzu gleichgültig gegenüber der deutschen Konkurrenz zu agieren. Williams verdeutlichte dies anhand einer Aussage Hermann Weddings über den britisch-deutschen Wettbewerb. Beim Besuch des Iron and Steel Institute in Düsseldorf im Jahr 1880 hatte Wedding offen zugegeben, dass die deutsche Eisen- und Stahlindustrie vor allem von britischen Innovationen im Bereich der Hüttentechnologie profitiere, indem sie diese imitiere und an deutsche Verhältnisse anpasse. Auf dieses jovial formulierte Eingeständnis Weddings seien, so Williams, die britischen Produzenten keineswegs eingegangen, only that they proceeded with discussions on Dephosphorization, the relative merits of an open hearth and a Bessemer converter, and other cryptics of their craft. And when the time of feasting, and talk, and sight-seeing was over, they returned to their native land, and then, in the fulness of time, they perused the fatuous reports of the British Iron Trade Association, which bade them sleep on, sleep ever. And they did as they were bid, until the other day, when they awoke to the fact that their trade was gone.104 102 Vgl. zu nationalen Produktimages als Marketingstrategie: Morello. 103 Williams. Das Werk geht auf eine Artikelserie in der britischen New Review zurück. 104 Ebd., S. 23.

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Williams warf den Akteuren der britischen Hüttenindustrie somit vor, dass sie ihre Konkurrenzpraktiken zu sehr auf den fachlichen Austausch beschränkten und sich dabei auf ihre vermeintlich sichere Stellung verließen, während sie zunehmend Marktanteile an deutsche Unternehmen verlören. Zwar war Williams’ Buch eher politische Polemik als ökonomische Analyse. Dennoch traf er mit seinen mobilisierenden Vergleichen einen wunden Punkt. Denn tatsächlich machte die ausländische Konkurrenz Mitte der 1880er Jahre erstmals britischen Industrieprodukten zu schaffen, sodass angesichts schwindender Weltmarktanteile schon zeitgenössisch die Rede vom »British Decline« die Runde machte. Die freihändlerisch orientierten britischen Unternehmen sahen sich zudem mit unlauteren Wettbewerbsmethoden deutscher Unternehmen konfrontiert. Gerade im Bereich der Stahlwaren (Messer, Scheren, Feilen etc.) nutzten deutsche Hersteller falsche Qualitätsangaben, indem sie einfachen Bessemerstahl oder Gusseisen verwendeten, dieses jedoch als hochwertigen Gussstahl deklarierten. Das war auch deshalb möglich, weil die Qualität solcher Stahlwaren für Endverbraucher auf den ersten Blick nur schwer zu beurteilen war. Vor allem aber imitierten deutsche Produzenten Produkte etablierter englischer Marken und Hersteller und verwendeten dabei sogar falsche Bezeichnungen wie »Sheffield« oder »Sheffield made«. Konfrontiert mit britischen Beschwerden hatte sich das Deutsche Reich noch im Jahr 1883 geweigert, ein internationales Abkommen zu ratifizieren, das solche Konkurrenzpraktiken unterbinden sollte.105 Außerdem betrachteten britische Produzenten den deutschen Protektionismus als unfairen Markteingriff, während die britischen Märkte, inklusive die der britischen Kolonien, den deutschen Unternehmen uneingeschränkt zugänglich waren. Daran anknüpfend entzündeten sich mit Blick auf die Grundstoffe der Schwerindustrie auf Seiten britischer Branchenvertreter die nicht unberechtigten Ängste bezüglich Kartellbildungen und daraus resultierenden Dumpingpreisen hinter den nationalen Zollschranken.106 Ganz so passiv, wie Williams sie kritisierte, blieben die britischen Produzenten sowie die Wirtschaftspolitik des Empires jedoch nicht. Zunächst aber hatten sich die Ende der 1880er Jahre eingeleiteten Gegenmaßnahmen als kontraproduktiv erwiesen. Das britische Parlament hatte schon im Jahr 1887 den Merchandise Marks Act verabschiedet, der die falsche Kennzeichnung

105 Pollard, S. 185 f. 106 Ebd., S. 185, 192; Wengenroth, Germany: Competition abroad.

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importierter Waren verbot und auf diese Weise die britischen Importe eindämmen sollte.107 Das Gesetz folgte der Prämisse, dass sich britische Kunden nun frei von falschen Kennzeichnungen (wieder) überwiegend für britische Produkte entscheiden würden. Anders als die rheinisch-westfälischen Hochofenwerke mit ihrer »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung« setzten die britischen Produzenten weniger auf die Bevormundung der heimischen Kunden, sondern diese sollten die Produkte ohne falsche Voraussetzungen auf dem Markt vergleichen können. Gänzlich »frei« sollte die Kaufentscheidung dabei jedoch nicht sein. Auch das britische Gesetz versuchte die Kunden zu beeinflussen. Denn das Verbot falscher Kennzeichnungen ging mit der Verwendung des Labels »Made in Germany« für deutsche Waren einher (worauf der Titel von Williams’ Buch verwies). Das Label sollte auf Seiten britischer Abnehmer unmittelbar die in Großbritannien tradierte Assoziation wecken, dass deutsche Waren im Vergleich zu britischen per se »billig und schlecht« seien. Tatsächlich litt die deutsche Industrie lange Zeit unter dem Image, in erster Linie ein Billiganbieter zu sein. Besonders wirkmächtig wurde in diesem Zusammenhang das Urteil des deutschen Maschinenbauingenieurs Franz Reuleaux (1829–1905), das dieser als Juror der Weltausstellung in Philadelphia im Jahr 1876 über die deutsche Ausstellung fällte. Reuleaux kritisierte in einem Brief an die Berliner National-Zeitung vom 19. Juli: »Deutschlands Industrie hat das Grundprinzip ›billig und schlecht‹.« Dies war ein Urteil, das er auch durch Reaktionen der Besucher der Ausstellung vor Ort bestätigt sah.108 Daheim in Deutschland führten Reulaux’ Aussagen zu einer nationalistischen Empörungswelle.109 Gleichzeitig bestärkten ihn andere in seiner

107 Vgl. das Gesetz mit erweiternden Kommentaren und Einordnungen in Payn. 108 Vgl. die gesammelten Briefe in Reuleaux. Zitat ebd., S. 5. Der weniger beachtete Teil seiner bekannten Polemik richtete sich gegen die aus seiner Sicht äußerst militaristisch und nationalistisch gefärbte deutsche Ausstellung; vor allem interessierte er sich für kunsthandwerkliche Schaustücke. »Und wieder in der Maschinenhalle: sieben Achtel des Raumes, so scheint es, für Krupps Riesenkanonen, die ›killing machines‹, wie man sie genannt hat, hergegeben, die da zwischen all’ dem friedlichen Werk, das die anderen Nationen gesandt haben, wie eine Drohung stehen! Ist das wirklich der Ausdruck von Deutschlands ›Mission‹? Muß man nicht den Chauvinismus und Byzantinismus als bei uns in höchster Blüte stehend annehmen? Zwingen wir nicht die anderen Nationen zu dieser Annahme?« Ebd., S. 6. Hervorhebungen im Original. 109 Siehe zu den Reaktionen in Deutschland aus dem Nachwort des Nachdrucks von Hans-Joachim Braun in ebd., S. 120–125; vgl. außerdem die zeitgenössische Sammlung von Reaktionen in Hirth.

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Kritik; eine bunte Allianz seiner öffentlichen Unterstützer reichte dabei vom Unternehmer Wilhelm von Siemens über den Sozialisten August Bebel bis hin zum freikonservativen preußischen Politiker Wilhelm von Kardorff.110 Zwar hob Reuleaux in einem späteren Brief aus Philadelphia den Auftritt der deutschen Eisen- und Stahlindustrie als zu lobendes Gegenbeispiel aus der aus seiner Sicht ansonsten schwachen deutschen Performance auf der US amerikanischen Weltausstellung hervor. Die deutsche Branche, so ­Reuleaux, übertreffe nicht nur »die amerikanische an Tüchtigkeit«, sondern stelle »sich hier auf der Ausstellung als allen übrigen überlegen« dar.111 »Überall herrscht Vorzüglichkeit der Qualität.«112 Dennoch war das Verdikt »billig und schlecht« in der Welt und hatte noch zwei Jahrzehnte später Auswirkungen – nicht zuletzt auf die Selbstwahrnehmung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie. Als Reuleaux angesichts der deutschen Ausstellung auf der Weltausstellung in Chicago im Jahr 1893 ähnliche Urteile fällte und dort weiterhin die US -amerikanische Industrie (insbesondere den Maschinenbau) hinsichtlich ihrer technischen Vorbildhaftigkeit über die deutsche stellte, sah sich die Redaktion der Zeitschrift Stahl und Eisen zu einem Kommentar genötigt. Auch bei der Chicagoer Ausstellung könne man aus Reisebriefen und von Berichterstattern vernehmen: »Das harte Wort: ›billig und schlecht‹ flammt immer noch wie ein Brandmal auf der Stirn der deutschen Industrie in den Augen der Ausländer.« Dabei werde selten bedacht, »welch’ ungeheure, schwer heilbare Schäden unserer vaterländischen Industrie und damit gleichzeitig dem Wohlergehen so vieler Hunderttausender von ihr abhängigen Familien durch jene Redensart unverdientermaßen zugefügt worden ist.«113 In der Folge versuchten die Autoren des Kommentars, Reuleaux’ Urteil zu widerlegen, indem sie seine Urteilsfähigkeit als Juror auf Weltausstellungen und allgemein als Ingenieur und Wissenschaftler in Frage stellten. Reuleaux sei voreingenommen und liege auch sonst in seinen ökonomischen Bewertungen

110 Diese versuchten das Verdikt für ihre jeweils völlig gegensätzlichen wirtschaftspolitischen Interessen zu nutzen. Während Werner von Siemens das Urteil »billig und schlecht« als Argument für die Notwendigkeit eines stärkeren Patentschutzes vorbrachte, nutzte August Bebel Reuleaux’ Beobachtung kapitalismuskritisch, um die Überlegenheit des Sozialismus hinsichtlich der Qualitätsorientierung zu betonen; Kardorff wiederum nutzte das Verdikt als Argument gegen die Preiskonkurrenz und für den Schutzzoll. Radkau, S. 168. 111 Reuleaux, S. 18. 112 Ebd., S. 19. 113 O. V., Professor Reuleaux, S. 965.

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oftmals daneben. Er sei folglich nichts weiter als ein »Meister der Phrase«.114 In einem weiteren Artikel wollte der Kommentator der Stahl und Eisen die zu Hause Gebliebenen vor einer »oberflächliche[n], geschwätzigen Darstellung à la Reuleaux« schützen.115 Reuleaux hatte also ein zweites Mal auf der Bühne der Weltöffentlichkeit die deutsche Industrie in Misskredit gebracht und in Teilen der deutschen Öffentlichkeit für Empörung und auch in der Fach­ öffentlichkeit der Eisen- und Stahlindustrie für Abwehrreaktionen gesorgt.116 Dabei hatte sich bereits im Jahr 1893 erwiesen, dass der Merchandise Marks Act und insbesondere das Kennzeichen »Made in Germany« sich aus britischer Sicht als eher kontraproduktiv erwiesen hatten. Die deutschen Produzenten hatten nämlich auf das britische Kennzeichnungsgebot reagiert, indem sie nun stärker auf qualitativ hochwertige Waren setzten, um auf den britischen Markt zu gelangen. Sie veränderten damit ihre Strategie von der Preis- zur Qualitätskonkurrenz  – und die britischen Kunden goutierten dies.117 Das Label »Made in Germany« stand daher schon bald – ganz anders als von seinen Urhebern geplant  – für qualitativ hochwertige Waren. Angesichts dessen kommentierte die Zeitschrift Stahl und Eisen die britischen Reaktionen im Jahr 1893 schadenfroh wie folgt: Durch mehrfache Erörterungen in der Presse ist bekannt geworden, daß der Pfeil, den Großbritannien auf Deutschland, den ihm täglich unbequemer werdenden Nebenbuhler auf wirthschaftlichem Gebiete, durch die zwangsweise Anbringung des Kennzeichens ›Made in Germany‹ abgeschossen hat, auf den Schützen zurückgeprallt ist und dessen eigenes Fleisch empfindsam verletzt hat.118

114 Ebd. 115 O. V., Rückblicke auf die »World’s Fair«, S. 1069. 116 Die Fachzeitschrift Iron Age sah sich daher zu einer Verteidigung Reuleaux’ gezwungen: »He dealt with the system, he did not mean to draw any comparisons between the ability of mechanics of different countries to employ tools for fine measurement. We believe that in the light of this statement Professor Reuleaux will be pronounced innocent of any effort to disparage the abilities of the workmen of his own country. We must confess that the violent outburst of patriotic indignation which the German press has indulged in is somewhat incomprehensible to us.« O. V., Professor Reuleaux’s Chicago Speech, S. 710. 117 Preis- und Qualitätskonkurrenz waren keine Widersprüche  – die Mechanisierung machte es möglich, beide Arten des Wettbewerbs miteinander zu verbinden. Radkau, S. 168. 118 O. V., »British Manufacture«, S. 619.

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Diese erfolgreiche Entwicklung beendete jedoch keineswegs die internen Debatten in Deutschland selbst. Schließlich konnten dieser »Erfolg« und seine Deutung wiederum selbst ein Mittel und Argument im Konkurrenzkampf sein. Die deutsche Stahlindustrie versuchte, die Deutungshoheit über ihre eigene Entwicklungsgeschichte zu behalten. Die Redaktion der Zeitschrift Stahl und Eisen zitierte nicht nur britische Reaktionen, um den eigenen Imagewandel zu belegen, sondern sie wehrte sich gleichzeitig entschieden gegen die zeitgenössische nationale Erzählung einer neuen deutschen Qualitätsorientierung, die in Reuleaux’ Kritik von 1876 ihren Anfang genommen habe und nun, zwanzig Jahre später, Früchte trage. Als sich in den 1880er und 1890er Jahren im Bereich der Stahlproduktion deutsche Exporterfolge abzeichneten und die Branche wettbewerbsfähig geworden war, etablierten schon Zeitgenossen die Erfolgsgeschichte einer Läuterung der deutschen Industrie, wie der Technikhistoriker Joachim Radkau anmerkt: Reuleaux’ Verdikt galt fortan als fruchtbare Herausforderung, die in der deutschen Industrie eine epochale Wende von der Preis- zur Qualitätskonkurrenz, von der Nachahmung zur Originalität bewirkt und dahin geführt habe, dass die durch den englischen Merchandise Marks Act von 1887 erzwungene Kennzeichnung deutscher Waren mit dem ›Made in Germany‹, die noch von dem ›Billig-und-schlecht‹-Image deutscher Waren ausging, zum Qualitätszeichen geworden sei: die deutsche Erfolgsstory schlechthin!119 An dieses zeitgenössische Narrativ schloss unter anderem der Chemiker Otto Nikolaus Witt in seinen »Transatlantischen Briefen« von der Chicagoer Weltausstellung (1893) an, die in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Prometheus erschienen. Die Redaktion der Fachzeitschrift Stahl und Eisen war nicht einverstanden mit dieser Lesart und argumentierte gegen Witt: Allen denjenigen, welche in der praktischen Industrie leben, ist von einem so jähen angeblichen Umschwung vom Jahr 1876 bis zum Jahr 1893 nichts bekannt; man weiß, daß unsere Industrie in diesem Zeitraum beharrlich und ernst am allgemeinen Culturfortschritt mitgearbeitet und sich wei-

119 Radkau, S. 167. Vgl. ebd. S. 167–169 zu den genaueren Hintergründen und Folgen der Reuleaux-Kontroverse für die deutsche Industrietechnik.

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terentwickelt hat, aber das Vorhandensein eines so schroffen Gegensatzes zwischen damals und heute, wie oben behauptet, kann nur als ein Hirngespinst deutscher Professorengemüther bezeichnet werden.120 Die Autoren wollten den Beitrag der deutschen Industrie zum »allgemeinen Culturfortschritt« als einen dauerhaften verstehen, während die deutsche Industrie dieser Lesart folgend kontinuierlich technologisch auf Augenhöhe zur ausländischen Konkurrenz agiert habe. Eine solche Erzählung stand wiederum im Gegensatz zum Bild einer »benachteiligten« und »nachholenden« deutschen Hüttenindustrie, die sonst von Seiten deutscher Branchenakteure bemüht wurde. So gestand Emil Schrödter, verantwortlich für den technischen Teil der Stahl und Eisen, in seinem historischen Rückblick 50 Jahre deutsche Eisenindustrie im Jahr 1911, dass es »erst allmählich gelang […], mit Sicherheit allen Qualitätsanforderungen zu genügen«121. Die Gründe dafür lägen in der besonderen Benachteiligung der deutschen Branche: »Die Entwicklung der deutschen Eisenindustrie ist eigenartig ihren Weg gegangen« und habe nicht wie die englische (Schiffbau) oder die US -amerikanische (Eisenbahn) eine »von alters her« innige Beziehung zu weiterverarbeitenden Industrien vorweisen können, »sondern unsere deutschen Eisenwerke haben ihren Absatz auf allen möglichen Verbrauchsgebieten suchen müssen«122. Nicht nur in ökonomischer Hinsicht habe die deutsche Industrie einen besonderen Entwicklungspfad einschlagen müssen, so Schrödter weiter: Auch hinsichtlich der Technik ist der deutsche Entwicklungsgang verschieden von derjenigen der anderen Länder gewesen. Während in seinem Mutterland das Entphosphorungsverfahren nur in geringem Maße Eingang gefunden und man sich in Amerika desselben in der Birne gar nicht bedient hat, hat Deutschland seine Hauptentwicklung der energischen Aufnahme und auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden Durchführung des Thomasverfahrens in der Birne zu verdanken.123 Damit hebt der Autor die Dominanz des Thomasverfahrens bei der deutschen Stahlproduktion hervor, die der deutschen Industrie seit den frühen 120 O. V., Rückblicke auf die »World’s Fair«, S. 1069. 121 Schrödter, 50 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 8. 122 Ebd., S. 7. Hervorhebungen im Original. 123 Ebd., S. 8. Hervorhebungen im Original.

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1880er Jahren Wachstums- und Exporterfolge bescherte. Neben dem Alleinstellungsmerkmal des dominanten Stahlfrischverfahrens betont Schrödter dabei die herausragende wissenschaftliche Durchdringung des Produktionsprozesses, wofür er »die gerade bei uns zu hoher Blüte gelangte Kunst, die Nebenprodukte überall zu gewinnen und die Abfallprodukte zu verwerten«, anführte.124 Es ist auffällig, dass die Produktqualität in diesen Ausführungen, die technische und wissenschaftliche Produktionsleistungen umreißen, weiterhin überaus abstrakt behandelt wurde. Trotz der Exporterfolge der deutschen Industrie seit den späten 1880er Jahren fokussierte sich die Selbstbeschreibung der deutschen Produzenten der Hüttenindustrie stärker auf die Produktion, auf die Beherrschung und wissenschaftliche Durchdringung hüttentechnischer Produktionsprozesse. Allerdings war die für die deutsche Industrie so erfolgreiche Aneignung und Fortentwicklung des Thomasprozesses gerade nicht prädestiniert für hohe Stahl- und Produktqualitäten. Zwar konnte deutscher Stahl mit der erfolgreichen Einführung des Thomasverfahrens seit den frühen 1880er Jahren zunehmend ein eigenes Profil auf internationalen Märkten ausbilden. Thomasstahl galt jedoch insbesondere im Vergleich zum britischen SiemensMartin-Stahl als minderwertig. Die Wachstums- und Exporterfolge der deutschen Stahlindustrie wurden dabei weniger aufgrund der Verdrängung des britischen Qualitäts- durch den deutschen Billigstahl errungen, sondern weil die Nachfrage in beiden Marktsegmenten international gleichzeitig anstieg. Bis zum Ersten Weltkrieg kann damit gelten, dass deutscher Stahl zwar international erfolgreich verkauft werden konnte, im Vergleich zum britischen aber weiterhin in manchen Bereichen »billig und schlecht« geblieben war, wie Ulrich Wengenroth betont.125 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der zeitgenössisch vielbeschworene »British Decline« und das deutsche Aufholen vor allem quantitativ – über absolute Produktionszahlen – bestimmt wurde. Nachdem die deutsche Industrie die britische nicht nur bei den totalen Zahlen, sondern auch beim Eisenexport überholt hatte, hielt ein deutscher Fachmann in diesem Sinne fest: Aber dieser Aufstieg [der deutschen Eisen- und Stahlindustrie; TM] ist gegen eine Welt von Mißgunst und Neid erfolgt. Was hat z. B. England nicht alles aufgeboten, um, wie die deutsche Arbeit im allgemeinen, so auch den 124 Ebd., S. 10. Vgl. hierzu auch Kapitel 5.2 dieser Arbeit. 125 Wengenroth, Deutscher Stahl.

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deutschen Stahl in der Oeffentlichkeit und in Fachkreisen zu diskreditieren oder ihn mit raffinierten Qualitätsvorschriften auszuschalten. Der Appell an das Nationalgefühl ersetzt sozusagen für England den schärfsten Schutzzoll.126 Indirekt ließen sich protektionistische Maßnahmen legitimieren, wenn selbst die (vermeintlich) freihändlerischen Briten versuchten, deutsche Produkte durch »raffinierte Qualitätsvorschriften« und damit in unfairer Weise vom britischen Markt fernzuhalten. In Phasen konjunkturellen Abschwungs jedoch bemühten die deutschen Produzenten wiederum eben diese an anderer Stelle kritisierte »epochale Wende« zur deutschen Qualitätsorientierung und leiteten daraus gegenüber dem deutschen Staat als Kunden Forderungen ab. Als die belgische Konkurrenz zur selben Zeit, im Jahr 1893, durch dort herrschende »billigere Inlandsfrachten, spottbilligere Löhne, niedrigere Steuern, sowie ohne die enormen Ausgaben für Wohlfahrtseinrichtungen, wie wir sie haben«, einige Erfolge auf dem deutschen Markt – auch bei Staatsaufträgen – feiern konnte, warnte die Zeitschrift Stahl und Eisen: [W]as können aber alle Klagen, Warnungen und Ermahnungen helfen, wenn der Gewerbestand mit so viel höheren Productionskosten, deren Reducirung nicht in seiner Hand liegt, zu rechnen hat, als das Ausland, und wenn das Publikum sieht, daß unsere öffentlichen Verkehrsanstalten selbst ausländische Erzeugnisse ankaufen, wenn sie nur billiger sind! Das Bestreben, die deutsche Industrie von dem Odium ›billig und schlecht‹ zu entlasten, ist von großem Erfolg gewesen; es sollte aber auch nunmehr Alles vermieden werden, was dieses Bestreben wieder wanken machen könnte.127 Der Autor forderte hier den deutschen Staat auf, stärker qualitative Gesichtspunkte bei der Vergabe von Staatsaufträgen zu berücksichtigen und nicht 126 Johannes, S. 1979. Der Autor nimmt hier auch Bezug auf einen Vorfall in der Stadtverordnetenversammlung in Birmingham, wo trotz eines preisgünstigeren deutschen Angebots für Eisenbahnschienen britische Wettbewerber schließlich doch noch den Zuschlag erhielten. Vgl. kritisch zu dieser einseitig auf quantitative Parameter ausgerichteten Lesart des »British Decline« in der Forschung Tweedale, S. 225; Wengenroth, Unternehmensstrategien in Deutschland, S. 312. 127 O. V., Die Lage der Industrie, S. 812 f.

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allein den Preis zu beachten. Ansonsten werde dies, so die darin eingeschlossene Warnung, die deutschen Produzenten wieder in die Billigkonkurrenz treiben – was einen nationalen Imageverlust zur Folge hätte. Angesichts der Tatsache, dass zwischen Staat und Wirtschaft der Konsens herrsche, »das große Publikum« vor »dem Kauf ausländischer Erzeugnisse« zu warnen und »auf die eigene Leistungsfähigkeit« zu vertrauen, habe der Staat zudem eine Vorbildfunktion gegenüber den deutschen Privatkunden. Die – so zumindest der hier formulierte Appell – mehrfach erwiesene und allgemein feststehende Qualität deutscher Eisen- und Stahlprodukte sollte Grund genug sein, dass sich die deutschen Abnehmer trotz niedrigerer Preise der Konkurrenz für deutsche Waren entscheiden sollten. Die deutsche Eisen- und Stahlindustrie fand sich also trotz erfolgreicher Zollkampagne und trotz aller Exporterfolge samt eines geglückten Imagewandels im Zweifel nicht mit den Kaufent­ scheidungen der Binnenkunden ab und versuchte dabei den Staat mit nationalen Appellen von einer bevorzugten Behandlung der deutschen Branche zu überzeugen. Obwohl sie weniger direkt mit der deutschen Industrie konkurrierte, spielte die US -amerikanische Hüttenindustrie bei Vergleichen der Produktqualität ebenfalls eine wichtige Rolle für die deutschen Branchenakteure. »Amerika« war hinsichtlich der Produktqualität seit den Jahren um 1900 die präferierte Vergleichsfolie  – und fungierte hierbei in erster Linie als Gegenbild. Bürgerlichen Amerikareisenden fiel um die Jahrhundertwende unisono der hohe Grad der Technisierung und Mechanisierung auf. So hielt der Zentrumspolitiker Liborius Gerstenberger im Jahr 1905 fest: »Einfach im Bau, billig in der Massenherstellung, nur auf so lange berechnet, bis etwas Neues, Besseres kommt, ist amerikanisches Prinzip. Allen individuellen Anforderungen zu entsprechen, sauber und sorgfältig gearbeitet, für lange Zeit bestimmt und immer wieder repariert, ist gut deutsches System.«128 Die US -amerikanische Massenproduktion wie in diesem Beispiel der deutschen Produktqualität gegenüberzustellen, war ein verbreiteter Topos in der europäischen und besonders der deutschen Selbstbeschreibung des 20. Jahrhunderts.129

128 Zitiert aus: Schmidt, S. 128. 129 Die deutsche Wahrnehmung der industriellen Massenproduktion – bald mit »Amerikanisierung« gleichgesetzt  – bot insbesondere in der Zwischenkriegszeit Schnittstellen zu kulturellen »Überfremdungsängsten«. Saldern, Überfremdungsängste und Kapitel 4.3 sowie 6 dieser Arbeit.

Nationale Trademarks als Differenzkategorien

Deutsche und britische Branchenfachleute waren sich ebenfalls einig, dass die US -Industrie mit ihrer quantitativen Ausrichtung gar nicht qualitativ arbeiten könne – und dies auch gar nicht wolle. Der deutsche Hütteningenieur Johann Puppe trug vor dem Iron and Steel Institute seine Überlegungen »Ueber der Walzwerksbetrieb in den Vereinigten Staaten« vor und betonte darin die unterschiedlich strengen Qualitätsabnahmen in Blockwalzwerken: Während es in der deutschen Abnahmepraxis üblich sei, nur 11 bis 14 % der Blöcke abzunehmen, zeige sich in den US -Werken eine Abnahme von bis zu 24 %. Der englische Ingenieur Andrew Lamberton wies in der anschließenden Diskussion darauf hin, dass dabei beachtet werden müsse, inwieweit das Material bei einer derartigen Behandlung unter Umständen leiden könne. Rücksichtlich der häufig aus Amerika gemeldeten Schienenbrüche wies [der] Redner auf die gewaltigen Produktionszahlen des Werks in Gary hin (4.000 t in 24 st); er bezweifelte, ob es bei einem derartigen Ausbringen noch möglich wäre, der Materialbehandlung die notwendige Sorgfalt zuzuwenden.130 In der Diskussion im Anschluss an Vorträge über die US -Hüttenindustrie betonte Otto Knaudt mit Blick auf die hohen Produktionszahlen des Blechwalzwerks der Homestead Works bei Pittsburgh: Diese Production war nur zu erreichen dadurch, daß die Ansprüche der Abnehmer recht geringe sind. Die Oberflächen der Bleche waren tadellos, betreffs der Dickenabweichungen schien man aber gar nicht etwa so anspruchsvoll zu sein, wie bei uns. Beim Fertigwalzen wurde die Blechstärke nie durch ein Kaliber festgestellt, sondern allein der Stand der Druckschraube genügte zu dieser Bestimmung, unzweifelhaft also sind Abweichungen bis zu 2 mm dort durchaus zulässig. Bei uns in Deutsch-

130 O. V., Iron and Steel Institute, S. 1923. Siehe auch besagten Vortrag ausführlich: Puppe. Bezeichnenderweise war für die Zeitschrift Iron Age, die wie üblich über Vorträge europäischer Fachleute über die US-Industrie berichtete, allein die in Puppes Vortrag zum Ausdruck gebrachte Bewunderung über die hohen Produktionszahlen eine Wiedergabe wert: »After describing various American rolling mills and comparing them with German mills the speaker [Puppe; TM] referred to the extraordinary degree in America.« O. V., The Deutsche Eisenhuettenleute’s Meeting, S. 802. Der Autor nimmt hier Bezug auf den gleichen Vortrag Puppes, den dieser bereits zu einem früheren Anlass hielt.

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land würde niemand solche Bleche kaufen und unsere Behörden würden selbstverständlich solche Waaren durchaus zurückweisen.131 Auch die »Scheerarbeit« [!] an den Walzstraßen sei als »mangelhaft« zu bezeichnen: »Runde Scheiben sahen vieleckig aus, doch schien sich daran niemand zu stören.«132 Damit konfrontierte Knaudt die hohen Produktionszahlen der US -Walzwerke mit den in den Vereinigten Staaten herrschenden niedrigeren Qualitätsstandards. Die deutschen Fachleute stellten einer deutschen Qualitätsorientierung die US -amerikanische Massenproduktion gegenüber. Durch diesen Vergleich konstruierte Knaudt eine von Produzenten, Kunden und dem deutschen Staat geteilte umfassend qualitativ ausgerichtete Produktionskultur. Einerseits war ein solch komplexer, mit den tertia Qualität und Quantität agierender Selbstvergleich eine Reaktion auf Leistungswettbewerbe, bei denen sich die gegenüber England um die Jahrhundertwende in quantitativer Hinsicht aufstrebende deutsche Branche mit den nochmals weitaus höheren Produktionszahlen der USA konfrontiert sah.133 In den direkten Vergleichen zwischen deutschen und US -amerikanischen Produkten der Stahlindustrie (bzw. der hier zu Grunde liegenden Qualitätsorientierung) versuchten deutsche Branchenakteure andererseits, sich der eigenen Qualitätsorientierung zu versichern, bzw. konstruierte sich die deutsche Branche selbst über Vergleiche mit US -Produkten als qualitativ ausgerichtet. Diese Deutungen waren darüber hinaus gefärbt vom Topos der »deutschen Arbeit«, der den allgemeinen Arbeits- und Wirtschaftsdiskurs prägte. Demnach bestand eine qualitative Kluft zwischen der deutschen und der Arbeitsweise aller anderen Nationen; »Arbeit« sollte das nationale Spezifikum der deutschen Nation sein, Deutschland als das »Land der Arbeit« gelten, in dem gleichzeitig intensiv und qualitativ orientiert sowie aus innerer ethischer Überzeugung heraus gearbeitet werde. Mindestens in dieser Hinsicht sahen sich nationalistisch gesinnte Akteure des Bürgertums in Wirtschaft und Politik anderen Nationen überlegen.134 Die regelrechte deutsche 131 O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 11. Januar 1891, S. 113. 132 Ebd. Ähnliches wird von der US-amerikanischen Kesselherstellung berichtet. Ebd., S. 113 f. 133 Vgl. zu den über Produktionszahlen ausgetragenen nationalen Produktionswettbewerben genauer Kapitel 3 dieser Arbeit. 134 Die Rede von der »deutschen Arbeit« geht vor allem auf das gleichnamige Werk des Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl zurück. Riehl ging es vor allem darum,

Nationale Trademarks als Differenzkategorien

Vergleichs- und Wettbewerbsobsession, die zentral war für die nationale deutsche Identitätsbildung im 19. und 20. Jahrhundert, verstärkte solche nationalen Hierarchisierungen.135 Allerdings waren diese Bezüge auf »deutsche Arbeit« in der fachspezifischen Vergleichspraxis der deutschen Fachleute in ihren Amerikaberichten weitaus vorsichtiger formuliert als beispielsweise in der ideologischen Propagierung des Konzepts im Zuge der internen Unternehmenskommunikation. Diese setzte insbesondere seit Mitte der 1920er Jahre in den Werkszeitungen systematisch ein und zielte darauf, einen antigewerkschaftlichen Arbeitsbegriff zu verbreiten, der den Interessensgegensatz von Kapital und Arbeit verschleiern sollte.136 Nichtsdestotrotz versuchte die deutsche Branche entlang der jeweiligen tagesaktuellen ökonomischen und interessenpolitischen Problemlagen ihre Produkte (bzw. die Produktionskultur) hinsichtlich der qualitativen Orientierung mit nationaler Bedeutung aufzuladen. Dies diente nicht allein der Selbstvergewisserung, sondern konnte gegenüber dem deutschen Staat, der gleichzeitig als »vierte« Instanz der Konkurrenz und als Kunde agierte, als Argument angeführt werden, um an diesen zu appellieren, die deutschen Hersteller mit Blick auf das nationale Gemeinwohl bevorzugt zu behandeln. Die US -amerikanische Industrie griff wiederum die europäischen Zuschreibungen auf, die darauf zielten, die USA als ein Land schneller und unsauberer Produktion zu beschreiben, wo alles dem Gewinn untergeordnet sei und jegliche kulturellen Bezüge der Industrieproduktion fehlten. Die Zeitschrift Iron Age zitierte im Jahr 1900 einen Literaturprofessor der University of Chicago, der sich Gedanken darüber machte, worin nationale Größe bestehe (»What Constitutes Greatness«). Dieser postulierte: I am tired of hearing America criticised for its lack of artistic sense and creative power. Hereafter, when people ask me who among Americans have shown a really wonderful creative genius and stand out head and shoulders above other men as Shakespeare does, I shall point to John D. Rockefeller and George M. Pullman. With their own individual intellects they have performed two herculean tasks, and to-day their power is felt throughout the World. Shakespeare pictured to himself a scene and put it into words; entgegen der Entfremdungsdiagnose der Arbeiterbewegung »Arbeit« mit nationaler Bedeutung aufzuladen. Vgl. weiterhin zur Diskursgeschichte der »deutschen Arbeit« im 19. und 20. Jahrhundert Campbell, J. 135 James, A German Identity, S. 11 f., 14. 136 Vgl. hierzu am Beispiel der Gutehoffnungshütte: Möbius.

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these men conceived great industries, where thousands of men might find employment in producing what millions of people need. Who shall say that their genius was less than the genius of Shakespeare? It has a far reaching, practical influence, and in my opinion it will be just as lasting.137 Um die europäische Kritik zu entkräften, erweiterte der Kommentator hier den europäischen Bewertungsmaßstab von Kreativität und Kunst auf wirtschaftliche Praktiken. Während sich die Europäer am US -amerikanischen »Materialismus« und an der an pragmatischen Gesichtspunkten orientierten Einstellung störten, rief der Kommentator in der Zeitschrift Iron Age eine »era of utility« aus, die sich durch einen Zugewinn an Lebensqualität auszeichne. In diesem Prozess seien wiederum Unternehmer der US -amerikanischen Großindustrie die prägenden Figuren.138 Insofern bezog sich die US -amerikanische Seite affirmativ auf die eigenen ökonomischen Erfolge im Sinne einer gesellschaftlichen Strahlkraft und Bedeutung des Kapitalismus im Allgemeinen und ihrer »captains of industry« im Besonderen. Während die abweichende Ausrichtung auf Konsummuster und Lebensstandard betont wurde, änderte sich auch die Einstellung der Produzenten gegenüber der Frage der Produktqualität im Laufe der 1890er Jahre mit der Ausdifferenzierung der Produktpaletten zunehmend. Während US -Branchenakteure gegenüber britischen Vertretern immer wieder auf die quantitativen Erfolge und Vorteile des eigenen Schnellbetriebs hingewiesen hatten, griffen sie nun immer häufiger auf (inter-)nationale Produktvergleiche hinsichtlich der Qualität zurück. Fortan sprachen sie den britischen Produzenten zunehmend ab, über das Monopol qualitativ hochwertigerer Halbzeug- und Endprodukte zu verfügen: »The days when England possessed the monopoly of experience and intelligent knowledge are over once for all.«139 Als Beleg führten US -Industrievertreter insbesondere die erfolgreiche Entwicklung der US -Weißblechindustrie an – eines Marktsegments, das von hohen Qualitätsansprüchen geprägt war. Colonel Ira Ayer, Special Agent des US -Finanzministeriums, resümierte in einem Vortrag vor dem Franklin ­Institute im März 1897 über US -amerikanische Weißbleche: »These domestic plates have been extensively tested by American consumers, and have given universal satisfaction, the testimony going to show that they are equal, if not 137 O. V., What Constitutes Greatness, S. 26. 138 Ebd. 139 O. V., Continental Competition, S. 371.

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superior, to foreign-made plates of similar kinds.«140 In diesem Marktsegment hatte sich somit laut Regierungsvertreter Ayer eine einheitliche Qualitätsordnung zwischen Kunden und Produzenten ausgebildet. Hieran knüpften die US -Hersteller an und versuchten durch Vergleiche mit den etablierten walisischen Produzenten einen nationalen »unique selling point« von US -Weißblechen herauszustellen. Ein erster Ansatzpunkt bestand darin, die weiterhin bestehenden Nachteile der US -Werke im Bereich des Praxiswissens, für die nicht zuletzt das Anwerben walisischer Arbeiter stand, umzudeuten. Die Fachzeitschrift Iron Age wusste im Herbst 1892 von einem Fall zu berichten, bei dem ein US -amerikanischer Importeur Kundenwünsche und Verbesserungsvorschläge in Bezug auf die Qualitätsbeschaffenheit von Weißblechen an einen walisischen Unternehmer weitergab: Directly after this conversation, […] a tour of the works was made, but the [British; TM] manufacturer […] turned to the American importer and said: »Not a word of this in the hearing of my men. I do not want them to know anything about changes or to get an idea that the plates can be made any different from what they are at present. Do not talk with the men; do not ask them any questions, and do not give them any information at all from the consumers’ standpoint.«141 Der britische Unternehmensvertreter wollte in dieser Episode verhindern, dass der US -amerikanische Werksgast die eingespielte Produktionspraxis der britischen Hüttenarbeiter durch spezifische Nachfragen oder Wünsche durcheinanderbringe. Der US -amerikanische Autor des Artikels schlussfolgerte: We call this a characteristic incident because it indicated the unwillingness of Welsh manufacturers to adapt their plates to the ideas of consumers. The position of the Welsh manufacturer has ever been »We make tin plates. We want no changes; no suggestions. We know our business; that ends it. If you want tin plates, buy them. If you don’t want tin plates, then don’t bother us.«142

140 Ayer, S. 438. 141 O. V., Welsh and American Tin Plate Makers, S. 421. 142 Ebd.

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Die walisischen Unternehmen – Arbeiterschaft und Werksleitung gleichermaßen – erscheinen in diesem Erfahrungsbericht als kundenferne und weltfremde Produzenten, die explizit nicht daran interessiert sind, was ihre Kund:innen wollen. Die Beherrschung der Produktionssphäre rechtfertigte aus ihrer Sicht eine solche Missachtung. Wie schon häufiger in dieser Arbeit gezeigt, folgte diese Orientierung an der Produktionssphäre den branchenspezifischen Logiken der Eisen- und Stahlindustrie: Spontane Eingriffe und Änderungen der eingespielten Produktionsabläufe waren den Belegschaften an den Walzstraßen zuwider, die über das eigentlich entscheidende Produktionswissen, jene »arcane knowledge« verfügten und sich zusätzlich durch einen gegen Kontrollansprüche der Werksleitungen mobilisierbaren ausgeprägten Berufsstolz und eine Gruppensolidarität auszeichneten.143 Die US -Industrie wollte diese in Großbritannien und überhaupt auf dem »alten« Kontinent über lange Zeit tradierte und weit verbreitete Ausrichtung an der Herstellungspraxis durchbrechen: Contrasted with what we have narrated above, and which indicates the unwillingness of Welsh manufacturers to adapt their product to the reasonable wants of consumers, we may set forth the rule which obtains in an American tin-plate works recently established. This factory, like many others of its class at the present time, is manned by foreign labor, and is under the direction of a Welsh tin-man of experience. The tendency, under the circumstances, is to perpetuate Welsh methods and to make tin plates in America according to the Welsh pattern. The proprietor, on the other hand, instead of being the conservative Welshman above described, is a progressive American. Knowing that his interests are served by having tin plates just as the consumer wants them, he is anxious to have the plates made, not according to the Welsh pattern, but according to the American consumer’s notions.144 Die US -Produzenten rückten nun von einer solchen Produktionsorientierung, die sie als »rückständig« bezeichneten, ab und stellten ihr die als »progressiv« bezeichnete US -amerikanische Kundenorientierung entgegen. Grundlegend für die spezifische US -amerikanische Kundenorientierung sei aus Sicht der Zeitschrift Iron Age, dass sich die abgeworbenen walisischen 143 Welskopp, Sons of Vulcan. 144 O. V., Welsh and American Tin Plate Makers, S. 421.

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Arbeiter nach und nach von diesem Weg überzeugen ließen. Die – für sich betrachtet – weiterhin über jeden Zweifel erhabene walisische Produktionspraxis wurde hier eingebettet in die »progressive«, d. h. kundenorientierte US -amerikanische Verkaufspraxis. In dieser Weise sei in den USA ein hybrider Walzwerktypus entstanden, der das Beste aus beiden Produktionskulturen in sich vereine. Konkret auf die unternehmerische Praxis bezogen bedeutete dies einen dauerhaften und intensiven Austausch zwischen Vertrieb (»salesmen«) und kaufmännischer Werksleitung (»managing business man«). Die Leitidee werde dabei stets vom Kundenwunsch vorgegeben, was schließlich auch auf der Ebene der Produktion nicht weiter spezifizierte rückwirkende Effekte nach sich ziehe. Am Ende gelinge es auch, den walisischen Praktiker in der technischen Werksleitung in seinen »konservativen«, d. h. produktionsorientierten Ansichten zu erschüttern. Davon würde dieser schließlich selbst profitieren, wie die Zeitschrift Iron Age weiter betonte: »The salesmen and the business man of the concern are the dominant factors, and the Welsh manager, little by little, being compelled to relinquish the pet notions of the old country and adapt himself to American requirements.« Zwar sei man in dieser Hinsicht noch weit von der Perfektion entfernt, allerdings: »We prophesy for this concern, and all others managed upon the principle here described, greater success than will ever attend a concern that simply makes certain arbitrary sizes, coated in certain arbitrary ways, boxed in certain arbitrary fashions and shipped as ›tin plates‹.«145 Dieser Amalgamierung aus altem walisischem Praxiswissen und progressiver US -amerikanischer Verkaufspraxis gehöre, so die hier platzierte Werbebotschaft, die Zukunft der Blechproduktion. In der Fachöffentlichkeit der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie war man sich über das Weißblechsegment hinaus sicher, über eine herausgehobene Markt- und Kundenorientierung und eine damit verbundene Verkaufspraxis zu verfügen. Die britische Industrie fungierte diesbezüglich als Kontrastfolie. So hieß es in einem Artikel in der Zeitschrift Iron Age, in dem die britische und US -amerikanische Eisen- und Stahlindustrie hinsichtlich der Produktions- und Marktbedingungen verglichen wurden: The prominent feature which distinguishes the American mode of selling iron [from the British warrant-system; TM] is that the consumer is being constantly visited and importuned to buy. The producer naturally seeks 145 Ebd.

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to employ the most successful selling agent. The selling agent who did not visit the consumer would sell little or no iron, and would lose both his customers and his agency.146 Der Autor machte vor allem das britische Warrant-System und die daraus resultierende geringere Preisfluktuation auf dem britischen Markt verantwortlich für den niedrigen Druck auf Seiten der britischen Produzenten, sich aktiv um Kunden zu bemühen. So heißt es im Artikel weiter: »The British iron master is never forced to seek the consumer; he waits for the consumer to come to him; this the consumer is sure to do when he needs iron, and, when he does, a sale can be made without any sacrifice.«147 Auch wenn hier unterschiedliche Rahmenbedingungen angeführt wurden – die US -Branche beschrieb sich über das Vergleichen mit der europäischen Konkurrenz als herausragend kundenorientiert, was überdies mit der in Kapitel 4.3 thematisierten stärkeren Einbindung in die Konsumgüterindustrie korrespondierte. Allerdings blieb diese als herausragend stilisierte Kundenorientierung stark auf den US -amerikanischen Binnenmarkt ausgerichtet. Daher warnte ein weiterer Artikel der Zeitschrift Iron Age: »[O]ur manufacturers must through study and travel learn the wants and methods of foreign customers.«148 Trotz dieser Warnung und der immer wieder diskutierten Frage eines stärkeren Exports blieben die US -Unternehmen im Zweifel auf den eigenen Binnenmarkt beschränkt.149 Es hat sich gezeigt, dass die Produktqualität Gegenstand einer transnationalen Deutungskonkurrenz war, die zwischen nationalen Branchen ausgetragen wurde. Die Branchen adressierten hierbei ihre jeweiligen Nationalstaaten als »vierte« Instanzen des Wettbewerbs, die wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen vorgeben konnten. Die Beispiele der britischen und der deutschen Branche zeigen, dass Qualitätsstandards vorgeblich vor »minderwertigen« ausländischen Produkten geschützt werden sollten, wobei die Eingrenzung des Wettbewerbs innerhalb der jeweiligen binnenwirtschaftlichen Einflusssphäre durch die Diskriminierung der missliebigen ausländischen Konkurrenz  – etwa durch Labels  – im Zentrum stand. Insbesondere die deutsche Branche versuchte darüber hinaus einen Imagewandel zu vollziehen 146 Hull, S. 28. 147 Ebd., S. 30. 148 O. V., American Manufacturers, S. 613. 149 O. V., Export or Home Consumption.

Marketing und Public Relations

und eine hochwertige nationale Trademark zu etablieren, um gegenüber dem deutschen Staat ein Argument für die bevorzugte wirtschaftspolitische Behandlung vorbringen zu können. Sie konnte eine solche »Marke« jedoch nicht einfach setzen, sondern musste sich auch in der nationalen Öffentlichkeit einer Deutungskonkurrenz stellen, wie das Beispiel des Verdikts »billig und schlecht« von Franz Reuleaux gezeigt hat – nationale und internationale Debatten, Wahrnehmungen und Deutungsweisen waren dabei eng miteinander verknüpft. Dies verdeutlicht auch das US -amerikanische Beispiel, bei dem die Hersteller versuchten, ihr Image in Europa zu wandeln und ihre Orientierung an Konsumgütern und Endverbraucher:innen als »unique selling point« zu etablieren. Alles in allem zeigt sich, dass nur durch den Konkurrenzvergleich nationale Spezifika der Qualitätsordnung beschrieben und die eigene interessenpolitische Position legitimiert werden konnten.

4.3

Marketing und Public Relations: Transnationale Konkurrenzvergleiche zwischen Absatzstrategie und Branchen-Propaganda

Der Übergang zur industriellen Massenfertigung hatte Mitte des 19. Jahrhunderts anonyme Massenmärkte entstehen lassen. Fortan wurde es notwendig, Nachfrage auch aktiv zu generieren. In Deutschland hatte »Reklame« jedoch traditionell den Leumund unlauteren Geschäftsgebarens – und viele Produzenten teilten diese Sichtweise. Während US -Unternehmen schon frühzeitig Werbung als wichtige Wettbewerbsstrategie erachteten, kehrten deutsche Unternehmen nach wie vor ihre Produktionsorientierung hervor.150 Die Eisen- und Stahlindustrie hatte ein zwiespältiges Verhältnis zum Marketing. So behauptete Alfred Krupp Mitte der 1860er Jahre, er habe »immer alles vermieden, was der Reclame ähnlich sieht«151. Wie in Kapitel 2.1 erörtert, nutzte er jedoch gleichzeitig Weltausstellungen geschickt als Werbeforum. Auch in den USA, wo sich die Branche nach der Jahrhundertwende zunehmend als kundenorientiert inszenierte, betonten die Akteure die besonders hohen ethischen Ansprüche ihres Marketings.152 Es ist dieses zwiespältige Verhältnis der Akteure, das die Geschichte des Marketings der Eisen- und 150 Berghoff, Marketing im 20. Jahrhundert, S. 15. 151 Alfred Krupp an Albert Pieper, 27.11.1866, in: AK BN 9 (FAH 2 M 78.9), S. 89, zitiert nach: Wolbring, S. 122. 152 O. V., Quality Advertising, S. 1994.

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Stahlindustrie zu einem spannenden historischen Untersuchungsgegenstand macht, wobei aber dieses Thema von der Forschung bisher bemerkenswert unberührt geblieben ist.153 Zwar hat sich die historische Forschung nach langer Skepsis der Werbung als Quelle eigenen Rechts zugewandt,154 aufgefasst als Schlüssel zum Verständnis der modernen Wettbewerbs- und Konsumgesellschaft sowie alltagsprägender Bestandteil der »visuellen Kultur der Moderne«155. Die wirtschafts-, sozial- und kulturhistorische Forschung hat sich dabei aber vor allem mit der Konsumgüterindustrie beschäftigt. Marketingstrategien für Konsumgüter waren schließlich visuell besonders ausgefeilt und von hohem soziokulturellem Gehalt.156 Der Grund für die geringe Beachtung von Werbung der Eisen- und Stahlindustrie durch die Forschung mag mit den Produkten selbst zu tun haben: Halbzeugprodukte oder Investitionsgüter mussten hinsichtlich Zielgruppe und Formensprache anders beworben werden als anspruchsvolle Endprodukte für individuelle Endverbraucher:innen; dementsprechend erschienen die nüchternen und sachlichen Marketingpraktiken der Eisen- und Stahlindustrie hinsichtlich ihres Schauwerts wenig spektakulär. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Branche durchaus über ausgefeilte Werbe- und Marketingstrategien verfügte. Nicht umsonst waren deutsche Pioniere der Public Relations (PR) – wie insbesondere Carl Hundhausen – eng verbunden mit der Eisen- und Stahlindustrie.157 Darüber hinaus sind Marketingstrategien für den Zusammenhang dieser Arbeit ein Schlüssel zum Verständnis der Funktionsweise konkurrenzförmiger transnationaler Vergleichspraktiken. Denn im Zuge ihrer Marketingstrategien nahmen die Unternehmen und ihre Verbände immer wieder vergleichend Bezug auf die internationale Konkurrenz. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, welche Rolle Vergleichspraktiken im Marketing der Eisen- und Stahlindustrie spielte. »Marketing« wird hier verstanden als ein Instrument, 153 Vgl. für die deutsche Eisen- und Stahlindustrie: Hundhausen, Die Anzeigen der Eisen schaffenden Industrie; Wolbring, S. 122–144; Korten. 154 Lange Zeit herrschte in Deutschland das kulturkritische Paradigma in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung vor. Im Sinne der »Kulturindustrie« stand hier die manipulative Dimension im Vordergrund, während in der historischen Forschung lange Zeit Werbung nur zu illustrativen Zwecken und erst spät als Quelle eigenen Rechts herangezogen wurde. Wischermann, Einleitung. 155 Haas. 156 Vgl. exemplarisch Borscheid u. Wischermann; Berghoff, Marketinggeschichte; Applegate. 157 Zu den kontinuierlichen Karrieren der in den Nationalsozialismus verstrickten deutschen PR-Pioniere wie Hundhausen nach 1945 vgl. Heinelt.

Marketing und Public Relations

das die Sphären der Produktion und der Konsumption verbinden soll.158 Marketing ist außerdem eine »Sozialtechnik«, die Unternehmen dazu dient, die Interaktion mit ihrer Umwelt zu systematisieren und zu rationalisieren.159 Im Unterschied zu Marketing zielte PR nicht darauf, einzelne Handlungen – wie insbesondere des Warenkaufs  – zu beeinflussen, sondern darauf, ein generell positives Image zu fördern  – als »Werbung um öffentliches Vertrauen« – wie es Carl Hundhausen definierte.160 Beide Strategien sollen im Folgenden mit Blick auf die Rolle konkurrenzförmiger Vergleichspraktiken untersucht werden. Galt es, um die Gunst möglicher Kunden zu werben, wurde von einzelnen Unternehmen zum Mittel des Vergleichens mit der ausländischen Konkurrenz gegriffen, um die Qualität der eigenen Produkte hervorzuheben. Darüber hinaus sollte Marketing außerhalb der eigentlichen Marktsphäre als vergleichende Konkurrenzpraxis betrachtet werden: schließlich adressierten die deutsche und die US -amerikanische Industrie jeweils als nationale Branche die breitere Öffentlichkeit. Mit Hilfe der neuen Form der PR sollte in der Zwischenkriegszeit um Vertrauen geworben und Werbung für den eigenen wirtschaftspolitischen Standpunkt gemacht werden. Ausgerechnet Alfred Krupp, der nichts mit »Reklame« zu tun haben wollte, landete einen der ersten weltöffentlichen Coups der Marketinggeschichte: Auf der ersten Weltausstellung in London im Jahr 1851 präsentierte sein Unternehmen einen 2150 kg schweren Block aus Gussstahl, der im hochqualitativen Tiegelstahlverfahren hergestellt worden war – eine technische Meisterleistung. Den 1200 kg »leichten« Block eines britischen Ausstellers bedachte Alfred Krupp mit der Bemerkung, dass solche Blöcke in seinen Werken täglich gegossen würden – er dagegen schicke dessen »Groß­papa«.161 In Wirklichkeit handelte es sich um eine außeralltägliche Leistung, die nur unter höchsten Anstrengungen zu erbringen war und keineswegs den Arbeitsalltag im Essener Gussstahlwerk spiegelte. Für die Herstellung dieses einen Blocks wurden alle im Werk zur Verfügung stehenden Tiegel benötigt, wodurch das Tagesgeschäft stillstehen musste. Der Aufwand lohnte sich schließlich: Krupp erhielt mit seinem aufsehenerregenden Werkstück tatsächlich den ersten Preis, die begehrte bronzene Council-Medaille, und konnte der versammelten (Fach-)Öffentlichkeit, inklusive möglicher Kun158 Berghoff, Marketing im 20. Jahrhundert, S. 11. 159 Ebd., S. 12. 160 Vgl. grundlegend: Hundhausen, Werbung um öffentliches Vertrauen. 161 Zitiert nach: James, Krupp, S. 53.

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den und dem preußischen Staat, beweisen, wie leistungsfähig das Tiegelstahlverfahren sein konnte und wie meisterhaft sein Unternehmen dieses be­herrschte.162 Bei der Pariser Ausstellung im Jahre 1855 präsentierte Krupp einen noch größeren Gussstahlblock als bei der Londoner Ausstellung vier Jahre zuvor, der schon wegen massiver Transportprobleme für großes öffentliches Aufsehen sorgte – spätestens als er durch die Decke der Ausstellungshalle krachte.163 Das tat seiner Wirkung jedoch keinen Abbruch – es zählte in erster Linie das Aufsehen, das Krupp mit dieser außeralltäglichen Inszenierung seines Gussstahlwerks erlangte. Neben solchen Werbeeffekten zielte Krupp darauf, sein Unternehmen als Träger nationalen Stolzes zu stilisieren. Schon Zeitgenossen war bewusst, dass der Krupp’sche Stahlblock nicht nur den Erfolg des Unternehmens repräsentierte, sondern als Verkörperung des industriellen Aufstiegs Deutschlands verstanden werden sollte. Die Wirtschaftshistorikerin Barbara Wolbring fasste die Bedeutung von Krupps Erfolg auf der Weltausstellung wie folgt zusammen: Bis dahin hatte Deutschland als industrielles Entwicklungsland gegolten. Besonders in der Eisen- und Stahlindustrie schien die Vorrangstellung Englands unangreifbar. Krupp hat also mit dem Gußstahlblock die bis dahin uneinholbar erscheinenden Engländer geschlagen  – und das vor den Augen der Welt, auf der ersten Weltausstellung, noch dazu in ihrem eigenen Land.164 Krupps Öffentlichkeitsstrategie verfehlte ihre Wirkung nicht: Vom Krupp’schen Erfolg auf der Londoner Weltausstellung im Jahr 1851 berichtete die deutsche Presse mit nationalem Stolz. Die Augsburger Allgemeine Zeitung schrieb: »Alle Techniker sind darüber einig, daß der Krupp’sche Gußstahl jetzt der erste der Welt ist«; und weiter: »Das Hauptstück der Eisenfabrikation, die wahre Krone der Eisenindustrie ist nämlich trotz allem nicht englisch, sondern deutsch.« Der Stahlblock biete »auf seiner Bruchfläche den Beweis einer Vollendung […] wie es bis jetzt noch nicht in der Welt producirt ist«.165 Der Block bezeugte damit, dass Deutschland nun zumindest in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht zu den frühindustrialisierten 162 163 164 165

Ebd., S. 53 f. Wolbring, S. 102. Ebd., S. 10. Allgemeine Zeitung, Augsburg, 18.6.1851, Beilage, S. 2698, zitiert nach: ebd., S. 94.

Marketing und Public Relations

Ländern aufschließen konnte. Der erste Platz im Vergleichswettbewerb stand in der deutschen Öffentlichkeit dafür, dass sich Deutschland an die Spitze der »Hierarchie der Nationen« gesetzt hatte. Seit dieser Zeit war der industrielle Aufstieg Deutschlands im 19. Jahrhundert in der Wahrnehmung der Zeitgenossen untrennbar mit der Firma Krupp verbunden. Die Arbeiter, die bei der Pariser Weltausstellung von 1855 den Block in stundenlanger und mühevoller Kleinarbeit mit Hilfe von Rollen und Walzen an seinen vorgesehenen Platz in der Ausstellungshalle transportieren sollten (bevor er wie erwähnt durch den Holzboden brach), tauften ihn ironisch »Sacré tête carée« [!], was sich in etwa als »verflixter Quadratschädel« übersetzen lässt:166 Die Bezeichnung, die sowohl Respekt als auch eine Geringschätzung des unförmigen Exponats beinhaltete, wurde bald für Krupp selbst gebraucht. Schien er doch die deutsche Dickschädeligkeit und den mehr durch Kraft und Militär als durch französische Eleganz und verfeinerte Lebensart geprägten preußischen Nationalcharakter in den Augen der Franzosen geradezu idealtypisch zu verkörpern.167 Der international anerkannte britische Unternehmer und Metallurg Lowthian Bell schrieb mit Blick auf den Auftritt Krupps auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1867: »[P]robably at the head of all will be placed the name of Krupp (of Essen), from whose establishment has proceeded, among other admirable specimens of workmanship, the gigantic mass of cast steel in the shape of a piece of ordnance, weighing upwards of fifty tons.«168 Zehn Jahre später hatte sich dieser gezielt und erfolgreich erschaffene Mythos durch die Leistungen Krupps bei Weltausstellungen bereits so verfestigt, dass der deutsche Ingenieur Franz Reuleaux – Juror der Weltausstellung in Philadelphia im Jahr 1876 – festhielt: »Krupps Leistungen bedürfen hinsichtlich ihrer hohen Meisterschaft keines Kommentars.«169 Tatsächlich erwarb das Unternehmen nicht zuletzt durch seine Auftritte bei Weltausstellungen international einen beinahe legendären Ruf und Sta166 Zitiert nach ebd., S. 102. 167 Ebd. Auch in der öffentlichen Thematisierung dieser Transportprobleme und den abfälligen französischen Kommentaren hierzu sah Krupp in erster Linie einen Werbeeffekt. Ebd. 168 Bell, The present state, S. 37. 169 Reuleaux, S. 19.

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tus.170 Noch weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb Krupp auch für die amerikanische Branche Mythos und Referenzgröße.171 Der US -amerikanische Manager Charles Schwab zog nach seinem Wechsel von U. S. Steel zu Bethlehem Steel seit 1903 die Motivation seiner Arbeit für das Unternehmen daraus, Krupp auf dem Gebiet der Panzerstahlproduktion eines Tages Konkurrenz machen zu können.172 Dieses Streben fand zusätzlichen Ausdruck darin, dass Bethlehem Steel im jährlich erscheinenden international renommierten Nachschlagewerk für Kriegsschiffe Jane’s Fighting Ships ganzseitige Anzeigen schaltete. Die Anzeigen wurden mitunter bewusst zwischen Annoncen der etablierten europäischen Hersteller wie Krupp, Armstrong-Whitworth, Cammell, Laird und Vickers platziert.173 Damit markierte Bethlehem Steel die eigenen unternehmerischen Ambitionen und schrieb sich als Akteur in ein nationales Unterfangen ein, die USA im Wettstreit der Nationen bei der Rüstungsproduktion voranzubringen. Tatsächlich sollte das Unternehmen im Ersten Weltkrieg nicht nur zum wichtigsten Rüstungsproduzenten der Vereinigten Staaten werden, sondern schließlich auch zum größten Schiffsbauer der Welt aufsteigen. Insofern lässt sich an diesem Beispiel ablesen, wie das Traditionsprestige der europäischen Unternehmen wiederum unternehmerische Ambitionen erzeugen konnte und inwiefern Werbung der Eisenund Stahlindustrie über nationale Konkurrenzlogiken funktionierte.

170 Darauf deutet etwa hin, dass die US-amerikanische Fachzeitschrift Iron Age mit der Einführung eines Sach- und Namensregisters in vielen Nummern einen eigenen Eintrag zu »Krupp« enthielt und die Artikel in einem meist ehrfürchtigen Ton verfasst waren. Dies lässt sich bei anderen ausländischen Unternehmen nicht nachweisen. Vgl. etwa o. V., Krupp’s Cast Steel Works, S. 5: »Mr. Alfred Krupp is now sixty years of age. He is known as Baron Von Krupp, the German Emperor having conferred on him the title of Baron, a degree of nobility next to that of Count in Germany. His achievements as a manufacturer surpass all others of our time, and for former times, in the extent of his works, the magnitude of his operations, and in the uniform excellency of his manufactures.« 171 »In 1871, the Phoenix Iron Company started to erect the largest rolling mill building in the world – larger than those of the mighty Krupp Works in Germany.« Hagley ­Museum & Library, Phoenix Iron Company (Accession 909), C. S. Sisto, Pamphlet History Phoenix Iron and Steel Company, 1950, S. 15. 172 Über dieses Streben der US-Branche nach einer eigenen Panzerplatten-Produktion besonders für den Kriegsschiffbau legt etwa der ausführliche Reisebericht des Hütteningenieurs und späteren Managers von Bethlehem Steel, Archibald Johnston, Zeugnis ab. Vgl. Hagley Museum and Library, Archibald Johnston Collection (Accession 1770), box 18, folder 2a, Notes on Armor Plate 1897. 173 Warren, Bethlehem Steel, S. 102.

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Spätestens im späten 19. Jahrhundert trat bei Krupp, wie in weiten Teilen der Branche insgesamt, eine Weltausstellungs-Müdigkeit ein. Diese brachte die Fachzeitschrift Stahl und Eisen wie folgt auf den Punkt: »Auch von der ausstellungsfreundlichsten Seite wird zugegeben, daß Krupp infolge der Ausstellung keine einzige Kanone mehr, Stumm keine einzige Eisenbahnschiene mehr absetzen wird, obgleich beide so vortrefflich, so schön ausgestellt hatten, daß nichts daran auszusetzen war.«174 Krupp wollte mit Blick auf den finanziellen Aufwand nicht länger dem Wunsch des Staates nach nationaler Repräsentation entsprechen, während die Werbeeffekte inzwischen für gering erachtet wurden.175 Das Beispiel Krupp zwischen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts zeigt, dass sich einzelne Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie seit Beginn der modernen Marketinggeschichte geschickt präsentierten. Auf den Weltausstellungen bot sich die Gelegenheit, die Produktionssphäre außeralltäglich zu inszenieren und sich in den hier vollführten Wettbewerb der Nationen einzuschreiben. In diesem Umfeld wurde ein ökonomischer Wettbewerb gewissermaßen simuliert und von nationalen Konkurrenzen überlagert: Neben allgemeinen Werbeeffekten auf der Bühne der Weltöffentlichkeit zielte Krupp darauf, das Unternehmen als einen nationalen Mythos zu kreieren und so eine Sonderstellung beim preußischen Staat zu erlangen. Die deutschen Unternehmen beschränkten sich jedoch keineswegs auf die aufwendigen und kostspieligen Auftritte auf Weltausstellungen. Gleichzeitig griffen sie auf »alltägliche« Werbepraktiken zurück, um auch die Produkte des Tagesgeschäfts zu bewerben. Inhaltlich spielte in dieser frühen Werbung die Inszenierung der Produktionssphäre jedoch ebenfalls eine wichtige Rolle. Dies galt insbesondere für die Printwerbung im 19. Jahrhundert, wie insbesondere die aufwendig gestalteten Geschäftskarten Krupps zeigen, die den Kunden überreicht wurden.176 Die Produkte spielen in deren Bildsprache keine Rolle, stattdessen waren hierauf die auf Gewerbe- oder Weltausstellungen errungenen Medaillen abgebildet, die die herausragende Leistungsfähigkeit des Unternehmens repräsentieren sollten. Ferner waren Darstellungen von Werk und Produktionsanlagen wichtige visuelle Bezugspunkte.177

174 O. V., Rückblicke auf die »World’s Fair«, S. 1070. 175 Ebd., S. 1070 f. 176 Wolbring, S. 129, Abb. 10. 177 Siehe für die frühen Werbemaßnahmen bei Krupp: ebd., S. 122–132.

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Stärker auf die Produkte ausgerichtet waren die Anzeigen in Fachzeitschriften, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkamen.178 Diese Werbeform war nun vor allem von Erzeugungsprogrammen und Preislisten geprägt. Die Erzeugungsprogramme der einzelnen Unternehmen ähnelten einander im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts noch stark. Sie beinhalteten vor allem Halbzeugprodukte wie Schienen, Stab- und Feineisen, Bleche oder Roheisen. Für die Produzenten war es angesichts dieser gleichförmigen Produkte schwer, herauszustechen. Überdies verfügte diese Art von Produkten über wenig kommunikative Eigenwirkung und ließ sich höchstens künstlerisch arrangiert als »Eyecatcher« auf Werbeanzeigen abbilden.179 Daher versuchten die einzelnen Unternehmen, innerhalb der Annoncen, zusätzlich weiterhin ihre Produktionssphäre als Distinktionsmerkmal zu thematisieren, indem die einzelnen Werke und Produktionsanlagen hinsichtlich Kapazitäten sowie die Arbeiterzahl aufgezählt wurden (vgl. Abb. 10). Dieses Repräsentationsmuster zieht sich durch den gesamten Untersuchungszeitraum; in der Zwischenkriegszeit rückten die Produktionsanlagen hinsichtlich ihrer Erzeugungsmöglichkeiten mit Hilfe von Fotografien in Werbebroschüren noch stärker ins Zentrum der Werbung.180 In Deutschland war Werbung um 1900 weiterhin allgemein als »Marktschreierei« verpönt.181 Die Werbung der Eisen- und Stahlindustrie unterlag auch in den USA dem Anspruch, in besonderer Weise sachlich zu sein und ethischen Ansprüchen genügen zu müssen.182 Diese betonte Sachlichkeit korrespondierte damit, dass die Werbung eben nicht nur zwischen Produktionssphäre und Kunden vermitteln sollte, sondern gleichfalls eng mit der Fachöffentlichkeit verbunden war. Zwar nahm etwa der Anzeigenteil der Fachzeitschrift Stahl und Eisen im Laufe der 1880er Jahre stetig an Umfang zu, sodass er schließlich etwa die Hälfte bis zwei Drittel des Gesamtumfangs 178 Für die Annoncenwerbung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie siehe den Überblick von Hundhausen, Die Anzeigen der Eisen schaffenden Industrie. In den USA, namentlich in der Zeitschrift Iron Age, fanden sich auch schon in den 1870er Jahren Werbeanzeigen von Endprodukten der weiterverarbeitenden Industrie, auch bereits der Konsumgüterindustrie. 179 Vgl. auf diversen Anzeigen abgebildet in: ebd. 180 Vgl. die Werbebroschüre der Lukens Steel Co. von 1935, in der u. a. die » world’s largest plate mill« im Produktionsprozess abgebildet ist. Lukens Steel Company, nicht paginiert. 181 Ballewski, S. 85. 182 »One unacquainted with the facts might easily conclude that the ethics of the iron and steel trade forbade more than the most formal announcement, just as do the ethics of the medical profession.« O. V., Quality Advertising, S. 1994.

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Abb. 10: Anzeige Gutehoffnungshütte (GHH) aus Stahl und Eisen, 1883.

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ausmachte; insbesondere für die weiterverarbeitende Industrie wie den Maschinenbau war dieser Anzeigenteil interessant.183 Doch auch die Unternehmen nutzten die Anzeigen zur Konkurrenzbeobachtung: Hier konnten sie sich über den technologischen Fortschritt der Wettbewerber auf dem Laufenden halten. Die Anzeigen fungierten in diesem Sinne als aktuellere und schnell zugängliche Ergänzung des redaktionellen fachwissenschaftlichen Textteils der Zeitschrift.184 Die Erzeugungsprogramme und Produktionsmöglichkeiten der Konkurrenz konnten so verglichen werden  – nicht zuletzt, um sich als Unternehmen sowie als nationale Branche selbst verorten zu können. Trotz aller Gebote der Sachlichkeit rückten angesichts weiter ausdifferenzierter Märkte und eines steigenden internationalen Wettbewerbs nun auch die Produkte selbst hinsichtlich ihrer qualitativen Merkmale in den Fokus der Anzeigenwerbung. Die Qualität der eigenen Produkte wurde nun auch durch direktes Vergleichen mit der ausländischen Konkurrenz betont. So wurde von Seiten der Stahlwerke Gebr. Brüninghaus & Co. im Jahr 1882 behauptet, dass ihre Stähle »garantiert den ausländischen Marken gleichstehend« seien.185 Die grundsätzlich schwer zu definierende Produktqualität von Stahl ließ sich am besten durch Vergleichen bestimmen – insbesondere, wenn die Vergleichsstähle wie im britischen Fall bei den Kunden über ein hohes Ansehen verfügten. Solche Konkurrenzvergleiche zu nutzen, um die Qualität der eigenen Produkte zu unterstreichen, entsprach dabei dem Gebot der Sachlichkeit, weil das Unternehmen hier nicht in unbotmäßiger Weise die Überlegenheit der eigenen Produkte hervorhob – das wäre »marktschreierisch« gewesen, wie der Vorwurf an Werbung allgemein von Seiten der Branche oft lautete. Besonders sachlich war es dagegen, wenn man das Vergleichsergebnis der ebenbürtigen Produktqualität von Dritten belegt bekam. Dies wird in den Anzeigen des Hoerder Vereins und der FWH aus dem Jahr 1883 deutlich. Während das erste Unternehmen darauf verwies, dass seine Hochofen-Produkte wie graues Puddelroheisen oder Gießereiroheisen »gleich dem der besten schottischen Marken« sei, schrieb die FWH, dass ihre Erzeugnisse »unter staatlicher Controle bei vergleichenden Schmelz- und Festigkeits-Untersuchungen den besten schottischen Marken Coltness & Gatsherrie vollkommen 183 Hilz, S. 489 f. 184 Korten, S. 528 f. Deutsche Fachleute warfen immer wieder den redaktionellen Inhalten der ausländischen Fachzeitschriften die »Absicht der Reclame« vor. Nasse, S. 10. 185 Werbeanzeige Stahlwerke-Gebr. Brüninghaus & Co., 1882, abgebildet in: Hundhausen, Die Anzeigen der Eisen schaffenden Industrie, S. 1369.

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ebenbürtig befunden« wurden. Damit beziehen sich beide Unternehmen auf das Ergebnis der angesichts der britischen Preiskonkurrenz gemeinsam und unter staatlicher Aufsicht durchgeführten und im Jahr 1879 abgeschlossenen »Vergleichenden Qualitätsuntersuchung rheinisch-westfälischen und ausländischen Roheisens«, die in Kapitel 4.1 diskutiert wurde.186 In diesem konkreten Fall zeigt sich, dass Werbung Trägerin bzw. Nebenprodukt anderer, »marktferner« vergleichender Konkurrenzpraktiken sein konnte, die darauf zielten, den Marktmechanismus einzuschränken. Außerdem versuchten die Unternehmen bis in die Zwischenkriegszeit, in ihren Werbeanzeigen nicht selbst zu sprechen, sondern Werturteile bezüglich der Produktqualität weiterhin sachlich und neutral zu ummanteln. So nahm die Phoenix AG Bezug auf Urteile ihrer Kunden. In einer ganzseitigen Anzeige aus der Zeitschrift Schiffbau im Jahr 1924 heißt es schon in der Überschrift: »Ein amerikanisches Urteil über ›Phoenix‹-Schiffsbleche«. In dieser Anzeige der Phoenix AG wird die renommierte britische Fachzeitschrift Iron Trade Review zitiert. Der in den USA mit Blechen des Unternehmens gebaute Dampfer »Leviathan« habe fünf Jahre nicht vom Dock gehen können, und trotzdem fand man bei erneuter Untersuchung, daß der Boden sich außerordentlich rein gehalten hatte und der Rumpf frei von Wucherungen, Vertiefungen und Korrosionen war… Im Gegensatz zu den Rumpfplatten waren zur Konstruktion von Schutzvorrichtungen am gleichen Schiff angebrachte Bleche (englischer Herkunft) durch den ständigen Aufenthalt im Seewasser stark angegriffen worden…187 Die deutschen Produkte stachen ihre britische Konkurrenz im amerikanischen Urteil also aus – damit lag ein besonders »objektives«, prestigeträchtiges und werbewirksames Urteil vor. Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Eisen- und Stahlindustrie auch im Bereich direkterer Absatzstrategien entsprechende Werbepraktiken anwandte – diese Maßnahmen mussten jedoch in jedem Fall sachlich bleiben. Demnach bevorzugten die Unternehmen eine deskriptive und textbasierte Inszenierung der Produktionsanlagen sowie ihrer technischen Fähigkeiten. Dieses Muster findet sich seit den frühen Werbepraktiken Mitte des 19. Jahr186 Werbeanzeigen Hoerder-Verein und Friedrichs-Wilhelms-Hütte, 1883, abgebildet in: ebd., S. 1367. 187 Werbeanzeige Phoenix AG, 1924, abgebildet in: Schiffbau, Nr. 30, S. 51

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hunderts und zieht sich bis in das 20. Jahrhundert. Konkurrenzvergleiche und das Anführen der Vergleichsergebnisse »neutraler« Instanzen waren ein besonders geeignetes Mittel »sachlichen« Marketings, um die eigene Produktqualität zu betonen. Im Hintergrund schwang dabei stets die Abgrenzung von »marktschreierisch« deklarierter Reklame, wie sie aus Sicht der Akteure insbesondere aus der deutschen Eisen- und Stahlindustrie von Seiten der Konsumgüterindustrie betrieben wurde. Während sich  – wie wir im Folgenden sehen werden  – in den USA die Werbung der Stahlindustrie zunehmend der Formensprache der Verbrauchsgüterindustrie annäherte, blieb in der deutschen Branche das Unbehagen auch in der Zwischenkriegszeit bestehen. Weiterhin verorteten deutsche Fachleute Werbung in der Nähe zur metallurgischen und hüttentechnischen Wissenschaft: »[D]ie Stahlwerbung kann nicht anders als sachlich betrieben werden. Sie vermag mit psychologischen Argumenten nicht viel auszurichten, denn sie wendet sich meist unmittelbar an Fachleute, die sich von den Ziffern der Zerreiß-, Biege- und Kugeldruck-Probe am stärksten beeindrucken lassen.«188 Diese sachliche bzw. wissenschaftliche Ausrichtung entsprach dem hüttentechnischen Branchenethos. Gerade die deutsche Fachwelt grenzte sich von der als unsachlich oder »marktschreierisch« empfundenen »Reklame« der Konsumgüterindustrie ab. Sich selbst inszenierte die Branche demgegenüber als Erzeugerin realer Güter zivilisatorischen bzw. kulturellen Fortschritts: Höchstens die rein sachliche Informationsvermittlung über die Produkte sowie über die Fähigkeiten und die Größe des Unternehmens war innerhalb dieser Vorstellung erlaubt. Diese Einstellung änderte sich erst im frühen 20. Jahrhundert zunehmend, als die kapitalistische Durchdringung des Alltags breiter Bevölkerungsschichten insbesondere in den USA immer weiter fortschritt. In der US -Branche setzte um 1900 ebenfalls das Umdenken ein, sich von »ethischen« Bedenken bei Werbemaßnahmen zu lösen und qualitative Produktmerkmale ins Zentrum systematischer Absatzstrategien zu rücken.189 Dieses Umdenken war vor allem eine Folge zunehmend diversifizierter Produktpaletten und Märkte. Der Stahlskelettbau erfuhr insbesondere im Zuge des Baus von Hochhäusern eine Aufwertung. Eine Fülle neuer Stahlprofile aus Siemens-Martin-Stahl kamen auf den Markt, während Architekten als neue Zielgruppe des Marketings hinzukamen. Nun waren nicht länger nur hütten­ 188 O. V., Werbung als Wegbereiter, S. 1. 189 O. V., Quality Advertising, S. 1994.

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technische Fachleute der weiterverarbeitenden Industrien angesprochen, sondern Kunden aus »fachfremden« Sektoren.190 Spätestens mit dem Aufkommen des Automobils im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts richtete sich das Marketing der US -amerikanischen Stahlindustrie zunehmend auch an anspruchsvolle individuelle Endverbraucher:innen. Solche in den USA früher zur Verfügung stehenden und breiter nachgefragten Produktinnovationen konfigurierten die Interaktion zwischen Produzenten und Konsumenten neu.191 Darüber hinaus war schon im späten 19. Jahrhundert zu beobachten, dass sich die Eisen- und Stahlindustrie in den Vereinigten Staaten deutlich affirmativer auf Verbrauchsgüter und Konsum allgemein bezog. Dies zeigt sich bereits mit Blick auf die führenden Fachjournale: Die Zeitschrift Iron Age war weniger akademisch-technisch ausgerichtet als ihr deutsches Pendant und schloss auch die weiterverarbeitenden Industrien und Marktnachrichten ein. Schon seit den 1870er Jahren fanden sich hierin Anzeigen für eine ganze Palette von Konsumgütern aus Metall, etwa für Rollschuhe, Handfeuerwaffen, Haushaltswerkzeuge oder Küchengeräte.192 Die stärker binnenwirtschaftliche Kundenorientierung grenzte die Branche von europäischen Exportbestrebungen ab: »They [the American iron masters; T. M.] do not expect to send out pig iron or bars. They want to market iron and steel in its full line of finished products.«193 Anhand dieser Äußerung wird deutlich, dass sich die US -Produzenten stärker mit dem gebrauchsfähigen Endprodukt identifizierten, als dies bei ihren deutschen Branchengenossen üblich war. Überdies blieb der heimische Markt fortwährender Bezugspunkt aller Überlegungen: »The essence of foreign trade is that the foreign customer has something that we want. If he has nothing that we want, then we should keep to ourselves the results of our ability and man-power.«194 Die US -Branche war also absatzpolitisch auf Konsum und Binnenmarkt ausgerichtet. Dieser Stellung der US -Hüttenindustrie zum »Markt« im Allgemeinen und zur Konsumgesellschaft im Besonderen liegt ein spezifisches Staatsbür190 Vgl. für eine solche umfangreiche Produktbroschüre mit einem breit gefächerten Erzeugungsprogramm und genauen Produktinformationen insbesondere bei Stahlträgern: Jones & Laughlin Steel Company. Produktbroschüren waren nach der Jahrhundertwende auch in der deutschen Branche üblich: Thyssen AG. Die Formensprache der Broschüren war weiterhin überaus »sachlich« auf die Produktmerkmale ausgerichtet. 191 Misa, S. 72–74, 271–273, 277. 192 Vgl. exemplarisch die Werbung auf S. 17 der Iron Age vom 23.9.1880. 193 O. V., Sir Lowthian Bell, S. 790. 194 O. V., Export or Home Consumption, S. 1084.

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ger- und Nationsverständnis in den Vereinigten Staaten zu Grunde, so die Hypothese. Die ökonomische Integration war demnach für die Vorstellung der Staatsbürgerschaft weitaus wichtiger als Abstammung und Herkunft. Seit den 1870er Jahren wurde Staatsbürgerschaft in den USA zudem deutlich konsumistisch aufgeladen, was sich nicht zuletzt im von Seiten der organisierten Arbeiterschaft formulierten politischen Forderung nach einer »living wage« zeigte.195 In der Progressive Era bildete sich die Vorstellung heraus, den Staatsbürger insbesondere als Konsumenten zu betrachten. Die Vorstellung war bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verankert: Die Idee einer egalitären Gesellschaft sollte demnach über breit gestreute Konsumchancen verwirklicht werden.196 Der Erste Weltkrieg, aus dem die Vereinigten Staaten ökonomisch und politisch gestärkt hervorgingen, trieb diese Entwicklung weiter voran. Nun war eine breite Nachfrage nach vielfältigen und anspruchsvollen Verbrauchsgütern zu beobachten. Gleichzeitig erweiterten neue Medien und das Aufkommen der Telekommunikation die Werbemöglichkeiten. In den USA entstand das moderne Marketing, das von einer deskriptiven, textbasierten Konkurrenzpraxis hin zu einer eigenständigen Industrie fortentwickelt worden war, die auf Seiten der Konsument:innen Wunschvorstellungen erzeugen sollte. Aus diesem Zusammenspiel aus Massenproduktion, Marketing und Konsumchancen entstand in den USA der Zwischenkriegszeit endgültig eine Massenkonsumgesellschaft.197 In Deutschland dagegen kam es erst im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders nach 1948/49 zu einer ähnlichen Aufwertung des Konsumenten und zur Ausweitung der Konsumchancen. Folglich war der Alltag breiter Bevölkerungsschichten in den USA Mitte der 1920er Jahre weitaus stärker kapitalistisch durchdrungen und kommerzialisiert als in den europäischen Ländern. In Werbeanzeigen von Illustrierten wie The Ladies’ Home Journal spielte Stahl als Werkstoff in den 1920er und 1930er Jahren bei den dort beworbenen Produkten eine zentrale

195 Glickman. 196 Haupt u. Nolte, S. 209. Vgl. zu den amerikanischen Erzählungen von Aufstieg und Prosperität rund um die Konzepte von »home« und »wage labor« in der Reconstruction Era: White, The Republic for which it stands, S. 136–171, 213–252. 197 Plumpe, W., Das kalte Herz, S. 328–334. Eine Gesellschaft des Massenkonsums ist gekennzeichnet »durch eine tendenzielle Durchsetzung aller wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereiche mit ›konsumistischen Praktiken‹«, in der »immer mehr gesellschaftliche Praktiken […] im ›konsumistischen Modus‹ ab[laufen].« Welskopp, Konsum, S. 146; zum Formwandel des Marketings in den USA siehe Fox.

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Rolle, etwa bei Automobilen, Möbeln, Haushaltsgeräten oder Lebensmittelkonserven. In den 1940er Jahren warben die Stahlkonzerne wie U. S. Steel zunehmend selbst in Illustrierten für sich und ihren Beitrag zur US -amerikanischen Konsumkultur. Diese Anzeigen schlossen dabei hinsichtlich ihrer Formensprache an die der Konsumgüterindustrie an. Insbesondere Edelstahl wurde dabei anhand konkreter Produkte in Alltagssituationen als Grundlage eines komfortablen Lebensstils präsentiert und damit eingeschrieben in den »american way of life«.198 Die US -Industrie beließ es keineswegs dabei, hinsichtlich der Produktstruktur und der Formensprache Anschluss an die Konsumgüterindustrie zu finden. In der Zwischenkriegszeit entwickelte sie bereits die Erzählung einer prosperierenden amerikanischen Konsum- und Aufstiegsgesellschaft, die gegenüber einer breiten Öffentlichkeit und insbesondere gegenüber der Arbeiterschaft propagiert wurde. Die Absatzsteigerung einzelner Unternehmen stand hier weniger im Fokus – eine solche PR zielte vielmehr auf »Werbung um öffentliches Vertrauen« (Carl Hundhausen) für die US -amerikanische Branche insgesamt und sollte darüber hinaus die US -amerikanischen Hüttenarbeiter befrieden. Löhne, Gewinnbeteiligungen, Zollmauern und Arbeitssicherheit waren hier die Themen, die eng verknüpft wurden mit Massenkonsum und den Aufstiegschancen des »American Dream«. Ziel war es gerade, in Zeiten der Nachwehen der Weltwirtschaftskrise von 1929, Vertrauen in das freie Unternehmertum zu stärken, während gleichzeitig in mehr oder weniger subtiler Weise Skepsis über Gewerkschaften und staatliche Sozialpolitik gestreut wurde.199 All dies zeigt sich verdichtet in der PR-Broschüre The Men Who Make Steel des American Iron and Steel Institutes (AISI) aus dem Jahr 1936. Die hierin 198 Vgl. etwa die kolorierte Werbeanzeige von U. S. Steel in The Ladies Home Journal, Juni 1948, S. 81. Der konkrete Nutzen solcher medial breit streuenden Werbung war auch in den USA keineswegs unumstritten. So schrieb ein Shareholder des besonders für seine Stahlröhren bekannten Unternehmens Jones & Laughlin mit Blick auf Werbeanzeigen im Jahr 1940: »[I]t would please me much better if the directors of this company would stop wasting money in useless display advertising in weekly or monthly publications. In fact the product you are selling need not to be advertised in daily publications either. You could put to much better use the money so involved and also other expenditures or large sums, in alloting dividends to the common share holders like myself.« A&SC University of Pittsburgh Library System, Jones & Laughlin Steel Corporation Records, 1902–1959 (AIS.1978.09), box 3, drawer 4, Packet No. 49 – Sec. 2: Annual Shareholders’ Meeting – April 23, 1940: Gould an Jones, 4.4.1940. 199 Jacoby, S. 194.

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ausgebreitete Erzählung einer von Seiten der Eisen- und Stahlindustrie zentral mitgeprägten prosperierenden amerikanischen Massenkonsumgesellschaft war darüber hinaus im Kontext der sich abzeichnenden Überwindung der Folgen der Weltwirtschaftskrise an eine breite Öffentlichkeit gerichtet: The iron and steel industry has been an important factor in the development of American standards of living. It is the use of these metals united into innumerable combinations which has made available to the average man constantly increasing comforts and conveniences of life. The thousands of everyday articles characteristic of our civilization which have been made available for large numbers of people by mass production would have been expensive beyond their reach had it not been for the modernization and mechanization of the steel industry, and the continued improvement in the quality of its products.200 Während also die konkreten Produkte der Eisen- und Stahlindustrie den amerikanischen Zivilisations- und Lebensstandard gerade im Bereich der Mobilität und des Gebäudebaus konkret gehoben habe, wurden im selben Schritt jene Konsumverheißungen und -chancen als egalisierender sozialer Faktor beschrieben. Insgesamt bedient sich die Broschüre des Narrativs der USA als einer »nation of steel«, die sich durch egalitäre Konsumchancen von jeglichen ständisch begründeten Ungleichheitsvorstellungen der europäischen Vorfahren gelöst habe:201 Steel has made it possible to erect upon this continent a new and sturdy civilization, which has freed man from the back-breaking, soul-consuming toil that characterized the life of his ancestors. […] It is hard to realize that in this country today the wife of a machine operator, for instance, lives in the midst of personal conveniences and comforts infinitely better than any enjoyed by Queen Elizabeth [I.; TM] – and that Napoleon, at the height of 200 American Iron and Steel Institute, The Men Who Make Steel, S. 9. Einer weitgehend deckungsgleichen Erzählung bediente sich das Machinery and Allied Products Institute. 201 So auch die Lesart von Misa: »[M]odern America took institutional and physical form as a nation of steel.« Misa, S. xx. Die Tendenz der Branche, sich nationaler Erzählungen zu bedienen bzw. sich in dieses Projekt einzuschreiben, ist auch im Marketing des indischen Unternehmens Tata Iron and Steel Co in der Zwischenkriegszeit zu beobachten. In diesem Fall ist es verbunden mit der Semantik des nach- und aufholenden Fortschritts und der entscheidenden Rolle von Eisen und Stahl hierfür. D’Souza.

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his empire, never knew swift highway transportation, communication by wire, entertainment by radio or the common comforts available to most Americans.202 Die amerikanische Branche konnte neben solchen historischen Vergleichen ganze Listen konkreter Produkte anführen, die aus Eisen und Stahl gefertigt waren und die nach Meinung des AISI den Lebensstandard auch der Arbeiterinnen und Arbeiter stark verbessert hätten. Überhaupt sei der American Way of Life nur möglich, weil die innovationsfreudige und flexible Industrie mit ihren Blech- und Bandwalzwerken die Nachfrage für Halbzeugprodukte bedienen konnte, aus denen sie Automobile, Kühlschränke, Küchenöfen, Stahlmöbel, Waschmaschinen und Bügeleisen fertigte.203 In solchen konsumistischen Konstruktionen deutet sich bereits an, dass Konkurrenzvergleiche sich hier zum Kontrastieren anboten, um diese Erzählung eines einmaligen Lebensstils, eines ökonomisch und konsumistisch grundierten »American Exceptionalism«, zu verstärken. Seit den 1870er Jahren ist zu beobachten, wie die Löhne der Arbeiterschaft und der Pro-KopfKonsum einzelner Konsumgüter von Seiten der US -Industrie als Maßstab von Branchen- bzw. Ländervergleichen herangezogen wurden. Der hohe Grad amerikanischer Mechanisierung und die hohen Löhne wurden mit der britischen »pauper labor« kontrastiert.204 In der Zwischenkriegszeit konnte das AISI zusätzlich auf den Motorisierungsgrad der US -Gesellschaft verweisen: »It is interesting in this connection to make an international comparison. Take, for instance, automobiles. In most countries, they are still luxuries. In the United States, workers use them as personally-owned vehicles for transportation to and from their places of employment.«205 Insbesondere das Automobil fungierte als Symbol der US -Konsumgesellschaft im Allgemeinen und der Stahlindustrie im Besonderen. In diesem Zuge wurden Lohn- und Lebensstandardvergleiche in den USA selbst und gleichfalls von Seiten aus-

202 American Iron and Steel Institute, The Men Who Make Steel, S. 10 f. 203 Hagley Museum and Library, American Iron and Steel Institute (AI&SI) Records (Accession 1631), box 205, folder Public Relations, General Publicity: Manuscript New Living Standards Reflecting in Changing Demand for Steel, 16.5.1935, S. 2. 204 »In a country overcrowded with what has truly been called ›pauper labor,‹ the competition for work among those seeking employment enabled manufacturers to keep the standard of wages so low a figure that the laboring classes had no chance to better their condition in any material degree.« O. V., Why England Suffers, S. 14. 205 American Iron and Steel Institute, The Men Who Make Steel, S. 14 f.

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ländischer Beobachter für die (vermeintliche) Konfliktlosigkeit der amerikanischen Arbeitsbeziehungen und die relative Immunität der amerikanischen Arbeiter gegenüber sozialistischen Ideen angeführt.206 In der Broschüre des AISI wurden die Vergleiche mit Illustrationen untermalt, die die hohen Löhne, den hohen Motorisierungsgrad oder die Kaufkraft der amerikanischen Arbeiter im weltweiten Vergleichsmaßstab der Industrienationen veranschaulichen sollten.207 Die spezifische US -amerikanische Zivilisation zeige sich gerade darin, dass der Rest der Welt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit gelangen müsse.208 Hohe Löhne und hoher Lebensstandard gründeten, so die Erzählung, vor allem auf dem hohen Mechanisierungsgrad der US -Ökonomie. Noch evidenter erschien die US -amerikanische Überlegenheit, wenn man den US -Lebensstandard mit dem in anderen Ländern verglich. So hieß es in einer Broschüre der Machinery and Allied Products Institute: In America, the average family considers fresh butter, good beef, silk stockings and many similar items, indispensable. In a large part of the rest of the world many products like these are luxuries. In America, an average worker in a steel mill […] makes $ 6 a day. In the rest of the world a comparable worker makes from $ 1 to $ 3,50. Why are there these differences? There are a number of reasons, but an outstanding one is that in America, the average industrial worker has about 5 horsepower of machinery helping him to produce goods. In no other country is there more than 60 per cent as much machinery per worker […].209 Insgesamt könne daraus nur geschlossen werden, »that the American standard of living is the highest of any nation in every social and economic bracket of society; that the American worker is the most highly paid for the fewest hours of work; that the American worker gets the most in things that he wants for the work he does.«210

206 O. V., The Aspects of the Labor Question; Sombart, S. 83–126. 207 American Iron and Steel Institute, The Men Who Make Steel, S. 14, 40. 208 »IN AMERICA, factory wage earners drive their own automobiles to work. In the rest of the world they walk or ride bicycles.« Hervorhebungen im Original. Machinery and Allied Products Institute, S. 55. 209 Ebd. 210 American Iron and Steel Institute, The Men Who Make Steel, S. 16.

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Ausgehend von dieser Erzählung eines klassenübergreifenden Konsumidylls das international seinesgleichen suchte, ließ sich die ausländische Konkurrenz als Bedrohung heraufbeschwören. Gerade das PR-Periodikum Steel Facts, ebenfalls vom AISI herausgegeben, tat sich hierbei ab Mitte der 1930er Jahre im Kontext der Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise hervor. Darin wurde die ausländische Konkurrenz, so sie denn auf den heimischen Binnenmarkt drängte, als »invasion by foreign steel-producing countries« beschrieben. W. A.  Irvin, zu dieser Zeit Präsident des AISI, argumentiert in der Zeitschrift Steel Facts mit dem sinkenden prozentualen Anteil der US -Industrie an der weltweiten Produktion und dem weltweiten Verbrauch, um den Schutz des heimischen Marktes zu rechtfertigen: »With 49 per cent of the world’s capacity, we had at home in 1935 but 35 per cent of the world’s consumption. On this basis alone we are justified in seeking to preserve, as far as possible, our own markets for our own mills and workmen.«211 Demnach müsse der inländische Verbrauch der heimischen Stahlindustrie geschützt und gestärkt werden, wie Irvins Zahlen suggerieren. Um diese Forderung zu untermauern, werden die sozialen Auswirkungen eines verschärften Wettbewerbs auf dem US -Markt mit Hilfe einer Karikatur verdeutlicht. Auf dieser ist zu sehen, wie US -amerikanische Hüttenarbeiter vor einem Werkstor ausharren, auf dem der Schriftzug »Foreign Competition« prangt und das mit einem Schloss zugesperrt ist, auf dem »Imported Steel« steht.212 In dieser Erzählung sind es nicht die Unternehmen, sondern die ausländische Konkurrenz, die die Belegschaft »aussperrt« und so gewissermaßen den Hüttenarbeitern den Arbeitskampf erklärt. Außerdem zogen die Autoren der Broschüre die niedrigen Löhne, die die europäische Konkurrenz zahlte, als Beleg heran, um die unmittelbare Bedrohung des prosperierenden heimischen Konsumidylls heraufzubeschwören.213 Gemäß einer zentralen Idee des »New Deal«, die Krise durch Kaufkraft zu überwinden dadurch gleichzeitig ein quasi-egalitäres Versprechen an die Arbeiterschaft zu formulieren, kam dieses Vorgehen besonders bei Zolldebatten zum Einsatz.214 Als im Jahr 1935 die Importzölle auf belgische Eisen- und Stahlprodukte reduziert werden sollten, rechnete die Steel Facts 211 O. V., Invasion of Foreign-Made Steel, S. 4. 212 Ebd. 213 An anderer Stelle und vor der Weltwirtschaftskrise wurden die Lohnunterschiede nüchtern als Wettbewerbsvorteil beschrieben. O. V., The Competition of German Cheap Labor, S. 1754. 214 Haupt u. Nolte, S. 209.

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anhand konkreter Zahlen von Arbeitsstunden und Löhnen vor, wie schädlich sich das Abkommen auf die amerikanischen Arbeiter auswirken werde: »The recent trade agreement […] brings a serious threat of less work and smaller earnings for thousands of employees in American steel mills.«215 Illustriert wurde dieses Szenario abermals mit einer Karikatur, die die ausländische »Bedrohung« in Form einer personifizierten importierten Tonne Stahl zeigt. Diese boshaft dreinschauende überlebensgroße Figur aus Stahldraht stiehlt dem amerikanischen Arbeiter $ 25 aus der Lohntüte. Dieser weiß sich ob der übermächtigen Konkurrenz nur durch den hilflosen Ausruf »Robber!« zu wehren.216 In solchen Konstruktionen wurde die Rolle oder gar Existenz der Kapitalseite der US -amerikanischen Unternehmen ausgeklammert, Kapital und Arbeit vielmehr auf nationaler Ebene gleichgesetzt und aktuelle oder drohende soziale Härten des Kapitalismus in Gestalt möglicher Lohneinbußen oder »lockouts« allein auf die ausländische Konkurrenz projiziert. Der internationale Wettbewerb wurde auf diese Weise allein auf die internationale Lohnkonkurrenz bezogen. Nur durch staatlichen Protektionismus konnte, so der Rückschluss, dieses »unfaire« Ungleichgewicht der Löhne ausgeglichen und die amerikanische Industrie und mit ihr die amerikanischen Arbeiter, die amerikanische Gesellschaft samt des American Way of Life geschützt werden. Freilich war dieses von der Branchen-PR ausgebreitete Vergleichsnarrativ in erster Linie ein sowohl betriebliches als auch wirtschaftspolitisches Machtinstrument. Die PR sollte über die weiterhin bestehende soziale Ungleichheit, die Ausbeutung in den Hüttenwerken und überhaupt die Klassengegensätze in der US -amerikanischen Gesellschaft hinwegtäuschen, indem sie die Massenkonsumgesellschaft als Gegenentwurf zur Klassengesellschaft konstruierte.217 Dagegen ist anzumerken, dass nur eine Minderheit der Arbeiterschaft von den sozialpolitischen Maßnahmen, die unter dem Dach des »welfare capitalism« beworben wurden, profitierte. Außerdem unterlagen die Konsumchancen einer rassistischen Segregation. Um von diesen inneren gesellschaftlichen Widersprüchen und Ungleichheiten abzulenken, so die Hypothese, griff die US -Branche zu internationalen Vergleichen. Der Historiker Bernd Stöver betont in diesem Zusammenhang, dass »von Seiten 215 O. V., Belgian Treaty Means Less Work, S. 1. 216 Ebd. 217 In der Forschung findet sich ebenfalls die problematische Tendenz, die Konsumgesellschaft als Gegenentwurf zur Klassengesellschaft zu etablieren. Vgl. dazu kritisch Welskopp, Konsum, S. 128 f.

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der US -Unternehmen der Vergleich mit der europäischen Arbeiterschaft gesucht [wurde], weil gewerbliche Arbeiter (›blue collar workers‹) im Binnenvergleich mit den US -amerikanischen Angestellten (›white collar workers‹) weit weniger profitierten.«218 Darüber hinaus sollte das Ethos individueller Leistung die Klassensolidarität innerhalb der Arbeiterschaft ersetzen und der anti-gewerkschaftlichen Politik ein freundliches Gesicht verleihen, indem die Unternehmen die Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit beschworen, während die Betriebspolitik der US -Unternehmen in jener Zeit durchweg gewalttätig war.219 Inwiefern die beschriebene über Vergleiche konstruierte Bedrohung der ausländischen Konkurrenz instrumentell der Verbreitung einer kapitalistischen Ideologie des Managements diente, zeigen die Publikationen der Arbeiterbewegung jener Zeit. In Reaktion auf den sogenannten Little Steel Strike von 1937, veröffentlichte der kommunistische Aktivist und Dichter Walter Lowenfels sein Gedicht Steel 1937. Im Zuge dieses in den US -Bundestaaten Pennsylvania, Ohio, Indiana und Illinois ausgebrochenen Streiks waren 92.000 Hüttenarbeiter im Ausstand und forderten die Einrichtung einer betrieblichen Interessenvertretung der Arbeiterschaft. In diesem Konflikt suchten die kleineren Unternehmen, die in der Zeit in Abgrenzung zu »Big Steel« (U. S. Steel, Bethlehem Steel) als »Little Steel« bezeichnet wurden, die Konfrontation mit der Arbeiterschaft. Die Unternehmen lehnten hierbei die Einrichtung einer betrieblichen Interessenvertretung ab. Im Zuge der über zwei Monate dauernden Auseinandersetzungen wurden 18 Streikende erschossenen und 300 verletzt, womit der Streik einer der blutigsten Arbeitskonflikte in der US -amerikanischen Geschichte ist.220 Lowenfels Gedicht zeigt wie die unterschiedlichen Interessen- und Machtpositionen die Vergleichspraktiken beeinflussten. Lowenfels Text liest sich wie eine Gegenerzählung zum nationalistischen unternehmerischen Narrativ, das von projektiven Vergleichen geprägt, Arbeiter anderer Länder als Konkurrenz oder gar Bedrohung darstellte. Dagegen stellt Lowenfels das dezidiert universalistische Credo der Arbeiterbewegung. In diesem Sinne stellte er den Little Steel Strike von 218 Stöver, S. 378. 219 Rees, S. 101–105, 133. Vgl. zu den Ähnlichkeiten der Versuche in den USA unter Roosevelt, im faschistischen Italien und in Deutschland staatlicherseits die Krise des Kapitalismus in den 1930er Jahren korporatistisch zu überwinden: Schivelbusch. Mit Blick auf die unternehmerischen Steuerungsversuche vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit. 220 White. »Little Steel« bezeichnete in Abgrenzung zu »Big Steel« die nicht in U. S. Steel organisierten unabhängigen Unternehmen.

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1937 in eine Reihe mit blutigen Niederschlagungen des Aufbegehrens der Beherrschten seit der Antike.221 Damit wiesen Protagonisten der Arbeiterbewegung das instrumentelle Unterscheiden und Hierarchisieren nationaler Arbeiterklassen ebenso zurück wie das Projizieren kapitalistischer Widersprüche und sozialer Härten auf die ausländische Konkurrenz.222 Neben solchen instrumentellen Bezugnahmen konnte die ausländische Konkurrenz jedoch auch als Vorbild im Bereich der Absatzstrategien fungieren. Die Suche nach neuen Absatzmöglichkeiten durch die vergleichende Auseinandersetzung mit der Konkurrenz und ihren Absatzstrategien wurde gerade in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu einem bestimmenden Thema der deutschen Branche. Die USA wurden in den 1920er Jahren hierfür zum wichtigsten Bezugspunkt. Deutsche Fachleute versuchten sich angesichts großer Absatzprobleme Mitte der 1920er Jahre an den Absatzstrategien der US -Industrie zu orientieren und vorbildhaftes nachzuahmen. Hierfür mussten im Zuge von Studienreisen zunächst Unterschiede im Bereich des Absatzes herausgearbeitet werden. Zunächst fiel deutschen Beobachtern die deutlich größere Produktion von Feinblechen auf. So heißt es in einem deutschen Reisebericht von 1926, dass, während in Deutschland Feinbleche nur 8 % an allen produzierten Walzerzeugnissen ausmachten, der Anteil in den USA 18 % betrug. Zusätzlich konturiert wurden diese Unterschiede dadurch, dass Deutschland bei etwas mehr als der Hälfte der Einwohner der USA nur ein Siebtel bis ein Achtel des Feinblechverbrauchs der Vereinigten Staaten aufwies. Die Gründe für den weit höheren Verbrauch von Feinblechen wurden mit dem Umstand erklärt, dass die Bewohner sowohl der industriellen Zentren als auch der ländlichen Regionen der Ostküste der USA sich nicht selbst mit Obst und Gemüse versorgten konnten. Die großen Entfernungen ließen den Bedarf an Konservenbüchsen steigen, die zum Einwecken von Nahrungsmitteln verwendet wurden. Außerdem verbrauche die ebenfalls aufgrund großer Entfernungen hochentwickelte Automobilindustrie viele der Feinbleche.223 Die deutschen Beobachter machten also in erster Linie die Unterschiede im Bereich der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die besseren Absatzchancen der US -Industrie verantwortlich. Immer wieder 221 Lowenfels. Der Internationalismus der Arbeiterbewegung selbst war zu dieser Zeit jedoch schon seit Längerem im Niedergang befindlich, siehe hierzu jüngst Merkel u. Müller. 222 Vgl. auch Hatcher. 223 TkA A/3189, Amerika Reise Klein-Grisse [!] 1926. Feinblechherstellung in Amerika, 6.1.1927, S. 1–5.

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führten deutsche Vertreter den größeren US -Binnenmarkt an, der die amerikanische Massenerzeugung überhaupt erst ermöglichte.224 So konstatierte Paul Reusch: »In Amerika ist alles mehr oder weniger auf die Erzeugung von Massen eingestellt, was bei der starken Aufnahmefähigkeit des dortigen inneren Marktes begreiflich ist.«225 Deutsche Beobachter kamen immer wieder zum Schluss, dass es gegebene »natürliche« Umstände seien, die den US -Konsum so günstig beeinflussten und damit auch eine deutlich stärkere Involvierung der dortigen Eisen- und Stahlunternehmen in die Produktion von Konsumgütern ermöglichten.226 Dies galt insbesondere für die zentrale Stellung des Automobils, was die deutschen Fachleute besonders faszinierte. Den hohen, die Facharbeiterschaft umfassenden Motorisierungsgrad der US Bevölkerung machten sie häufig an den besseren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fest, wodurch sich eine Übernahme der Absatzmuster durch die deutsche Branche erübrigte. Die höheren Löhne der US -Hüttenarbeiter wurden in diesem Zusammenhang allerdings nicht thematisiert.227 Stattdessen sah sich die deutsche Eisen- und Stahlindustrie selbst als passive Akteurin, deren Handeln gänzlich abhängig war von der Nachfrage. Der Industrielle Paul Reusch argumentierte im Jahr 1926 mit Blick auf die USA: Der Konsum ist auf allen Gebieten außerordentlich groß. Man gewinnt – so paradox es klingt – den Eindruck, daß möglichst viel verbraucht wird, um möglichst viel produzieren zu können. Da in Europa die gleichen Absatzmöglichkeiten nicht bestehen, können die amerikanischen Produktionsmethoden im Allgemeinen nicht nach hier übertragen werden.228 224 Diesem Argument des Binnenmarktes wendet sich Kapitel 5 dieser Arbeit noch genauer zu. Auch im allgemeinen Diskurs thematisierten bürgerliche deutsche AmerikaBesucher diese ungleich besseren ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten. Schmidt, S. 131. 225 Zitiert nach: Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 212 f. 226 Vgl. hierzu Kapitel 4.3 und 5.3 dieser Arbeit. 227 RWWA 130–2-2, Bericht der Herren Arthur Tix und Heinrich Büning über die Amerika-Studienfahrt vom 17. Oktober bis 16. November 1936, 1937, S. 40, 185 f. Diese Einschätzung änderte nichts daran, dass die deutsche Industrie trotz ungünstiger Marktlage die erste Warmbreitbandstraße Europas baute, die eigentlich für Automobilbleche gedacht schließlich als Universalwalzwerk fungierte. Vgl. hierzu Kapitel 5.3 dieser Arbeit. 228 RWWA 130–400 101 221/2b, Nachlaß Paul Reusch. Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen und Nordwestliche Gruppe der Vereinigung Derutscher Eisen- und Stahlindustrieller. Begrüßung Paul Reusch auf der Hauptversammlung Langnamverein am 1.10.1926, zitiert nach: Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 213.

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In diesen Worten beschreibt sich Reusch – immerhin ein führender deutscher Großindustrieller – als vollständig abhängig von externen Marktsignalen; die aktive Förderung oder Schaffung von Nachfrage durch Marketing, höhere Löhne oder eine strukturell neue Ausrichtung des Produktionsregimes erschienen ihm wie so vielen seiner deutschen Branchengenossen jener Zeit als der in Deutschland verbreiteten »kulturellen« Orientierung gegensätzlich.229 Das Gegenbild eines vermeintlich sinnlosen US -amerikanischen Konsums stand demnach einer als ethisch und kulturell höherwertig betrachteten deutschen Konsumkultur entgegen: Die Langlebigkeit hochqualitativer Produkte und die Reparaturmöglichkeiten wurden hier einer als negativ empfundenen Massen- und Wegwerf-Verbrauchskultur mit billigen Produkten, (deutsche) Qualität der (US -amerikanischen) Quantität gegenübergestellt.230 Hier zeigt sich, dass die selbstvergleichende Beobachtung der US -Konkurrenz eine mitunter ideologisch aufgeladene Auseinandersetzung mit der eigenen wirtschaftspolitischen Ausrichtung in Deutschland provozierte. Dabei war der vergleichende Blick zunächst durch die bürgerliche Kultur Europas gelenkt. Hier schienen immer wieder Ressentiments und Projektionen negativer kapitalistischer Begleiterscheinungen auf »Amerika« durch. Solche Bezugnahmen verweisen zunächst auf länger zurückreichende historische Wurzeln der europäischen Kritik am US -Kapitalismus. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der amerikanische »Materialismus« mit der europäischen Tradition und allgemein der »Kultur« kontrastiert. Das gesellschaftliche Leben in der Neuen Welt sei, so europäische Beobachter im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert demnach in erster Linie von einer »Dollarjagd« geprägt; anders als in Europa sei das Geschäftsgebaren völlig frei von jeglichem Idealismus der Unterordnung der Wirtschaft unter höhere Ziele und überhaupt bar jeglicher kultureller Einbettung.231 Deutsche Beobachter, wie der Nationalökonom Werner Sombart offenbarte sich wenige Jahre nach der Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten der Kapitalismus in einer hochentwickelten und reinen Form. Dies fuße laut 229 Nolan, S. 116. 230 Diese Zuschreibungen fanden sich auch schon im allgemeinen Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums im Kaiserreich. Schmidt, S. 128. 231 Ebd., S. 154–163. »So positiv und bewundernd dieser erste Eindruck anmutet, so distanziert, mit Vorbehalten und Vorurteilen belastet erweist sich das Amerikabild der deutschen Unternehmer bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar blieben die großzügigen amerikanischen Wirtschaftsverhältnisse vorbildlich für das eigene Tun, doch erschien hier alles ›materiell‹. Die ›prosaische Wirklichkeit‹ zeigte sich überall, während Geistiges und Ideales verschwanden.« Schumacher, S. 202.

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Sombart auf einem Erwerbstrieb, der allein auf das »Geldmachen um seiner selbst willen« ziele.232 Dieser Ton prägte auch die Analysen von Fachleuten der Eisen- und Stahlindustrie in den 1920er Jahren. Sie betonten in diesem Zusammenhang in ihren Reisebeschreibungen den Kreislauf aus Werbung und Konsum, der die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben in den USA insgesamt präge. So beobachtete ein deutscher Hütteningenieur nach seiner Amerikareise im Jahr 1926: »Alles hat seinen Preis. Die Preise schreien die Menschen in den Vereinigten Staaten von morgens bis mitternachts ins Gesicht durch die erstaunliche Reklame […].« Diese Entwicklung wurde kulturkritisch bewertet; schließlich sei der Grund für den hohen Absatz, »dass dort noch keine Kultur herrscht, sondern nur Besitz«.233 Aus dieser Perspektive erschien der höhere Absatz der US -amerikanischen Industrie, den man einerseits beneidete, hier nun andererseits in einem weniger guten Licht. Zwar sei in den USA im Vergleich zu Deutschland »die Höhe des allgemeinen Verbrauchs« enorm. Dieser höhere Absatz sei jedoch »durch den Zwang zum Verkauf infolge der großen Überproduktion« hervorgerufen.234 Insgesamt war es ein Muster, dass die deutschen Fachleute die höhere kapitalistische Entwicklung der USA mit dem Verweis auf die weiterentwickelte europäische und besonders die deutsche Kultur abwerteten und damit die ökonomischen Erfolge der USA relativierten.235 Die deutschen Fachleute ließen sich vor dem Hintergrund einer solchen Sichtweise kaum auf den Gedanken der Stahlindustrie als Bestandteil einer Massenkonsumkultur ein, die von der der persönlichen Selbstverwirklichung durch Konsum geprägt war.236 Auch wenn die deutsche Industrie besondere Vorbehalte gegenüber Werbung und Konsum hatte: Marketing kollektiv als nationale Branche als Instrument zu nutzen, um den Absatz zu steigern, war der deutschen Branche keineswegs fremd. In der deutschen Industrie waren solche Bestrebungen zur gemeinschaftlichen Werbung bereits in den 1870er Jahren zu beobachten. 232 Sombart, S. 7–24, Zitat: S. 9. 233 TkA A/5066, Vortrag Grauert am 8. Sept. 1926 über die Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, 1926, S. 11. 234 TkA A/5066, Vortrag Grauert am 8. Sept. 1926 über die Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, 1926, S. 11. 235 Die US-amerikanische Hüttenindustrie wiederum wehrte sich gegen diese europäische Kulturkritik, indem sie der europäischen Hochkultur selbstbewusst den USamerikanischen Kapitalismus im Zeichen einer neu angebrochenen »era of utility« entgegensetzte. O. V., What Constitutes Greatness, S. 26. 236 Vgl. zu dieser Dimension der Selbstverwirklichung durch Konsum: Lears.

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Der zunehmende Wettbewerb und die in der Folge der Weltwirtschaftskrise von 1873 aufgebauten großen Produktionskapazitäten sorgten erstmals für ein kooperatives Vorgehen auch im Bereich des Marketings. Der Ingenieur Friedrich Carl Glaser (1843–1910) gründete im Jahr 1877 die noch heute bestehende Zeitschrift Annalen für Gewerbe und Bauwesen (Glaser’s Annalen) vor allem aus der Motivation heraus, mit ihrer Hilfe das Bewusstsein potenzieller Kunden hinsichtlich breiterer Anwendungsmöglichkeiten von Eisen und Stahl zu schärfen – es ging also nicht um einzelne Produkte, sondern eher abstrakt um den Werkstoff »Stahl«. Glaser schrieb in diesem Zusammenhang an den Vorsitzenden des Vereins für Eisen- und Stahl-Industrie, dass es notwendig sei, »einerseits die Hüttenwerke zur Production, und andererseits die Consumenten zum Gebrauch neuer Objecte und Verbreitung anzuregen.« Die hier angestrebte Förderung eines »Massen-Verbrauchs«, der in Frankreich und England schon viel weiter fortgeschritten sei, zielte jedoch auf die weiterverarbeitende Industrie sowie auf staatliche Infrastrukturprojekte, die hier in erster Linie mit »Consumenten« gemeint waren.237 In den 1920er Jahren wurden die USA hinsichtlich der Förderung des Massenverbrauchs durch modernes Marketing zum Vorbild. Im Zusammenhang der viel beachteten Feinblechherstellung wollten sich nicht alle deutschen Fachleute damit abfinden, die besseren Produktions- und Absatzbedingungen der US -Industrie anzuführen und deren Absatzstrategien kulturkritisch abzuwerten. Schließlich beobachteten manche, dass Absatzmöglichkeiten durch »intensive Propaganda« der US -Branche erst aktiv erzeugt wurden, wie es in einem Anfang 1927 verfassten Reisebericht heißt: Mit wenigen Ausnahmen haben sich […] die sämtlichen Feinblechwalzwerke, die sich in Qualität und Preisfragen auf’s schärfste bekämpfen, zusammengeschlossen und einen Propaganda-Ausschuss gebildet, der in Tageszeitungen und technischen Zeitschriften in vielen Anzeigen und Abhandlungen immer wieder auf neue Verwendungszwecke für Feinbleche hinweist und die Vorzüge des Bleches gegenüber anderen Materialien preist.238 237 TkA FWH/1219, Glaser an Richter, 5.7.1877, S. 1 f., Zitat: S. 1. Auch die Zeitschrift Stahl und Eisen sollte bei ihrer Gründung den Zweck erfüllen, den »Meinungsaustausch« zwischen Produzenten und Konsumenten zu fördern, damit also zwischen Angebot und Nachfrage zu vermitteln. O. V., Vorwort, S. 1 f. 238 TkA A/3189, Amerika Reise Klein-Grisse [!] 1926. Feinblechherstellung in Amerika, 6.1.1927, S. 5.

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Die Idee einer solchen »Gemeinschaftswerbung« wurde in den folgenden Jahren tatsächlich von der deutschen Industrie mit Blick auf breitere Absatzmöglichkeiten übernommen. Explizite Ausgangspunkte dieser Bemühungen waren, der im Vergleich zu den USA festgestellte zu geringe Pro-Kopf-Verbrauch von Stahlprodukten sowie die professionellen Marketingstrategien der US -Branche. Als nationale Branche wollte man überdies auf diese Weise gegen die Vorwürfe vorgehen, die auf dem Weltmarkt gegenüber der tatsächlich relativ minderen Qualität deutschen Stahls herrschten (vgl. Kapitel 4). Darüber hinaus beklagten die deutschen Manager – ganz ähnlich wie Glaser in den 1870er Jahren – ein »Vermittlungsproblem« des weiterhin hinsichtlich seiner Verwendungsweisen schwer greifbaren Werkstoffs »Stahl«.239 Es war möglichen breiteren Käuferkreisen, so die Diagnose, schlicht nicht bewusst in welchen Endprodukten Stahl überhaupt enthalten sei. Auf dieses Problem hatte nicht zuletzt Albert Vögler (1877–1945), Vorstandsvorsitzender der kurz zuvor gegründeten Vereinigten Stahlwerke (VSt), auf der Hauptversammlung des VDEh im Jahr 1927 hingewiesen.240 Laut Vögler resultierte dieser Umstand vor allem aus den positiven Eigenschaften der »Mannigfaltigkeit« und der »Lebendigkeit« des Werkstoffes. Gesellschaftliche Kreise, die nicht mit Stahl vertraut seien, verfügten dagegen über die Vorstellung eines »gleichmäßigen leblosen Massenproduktes«. Erst durch die komplexen, mit kommunikativer Eigenwirkung ausgestatteten Endprodukte wie Automobil und Flugzeug seien diese Vorstellungen langsam lebendiger geworden.241 Anknüpfend an diese Diagnose wurden noch im Herbst des Jahres 1927 die in Nordamerika beobachteten Bemühungen einer »Gemeinschaftswerbung« von Teilen der deutschen Branche in ihrem eigenen Sinne ins Werk gesetzt. So gründeten die beteiligten Unternehmen die Beratungsstelle für Stahlverwendung als Gemeinschaftsstelle der Stahlwerks-Verband AG. Ziel dieses Zusammenschlusses war es, gemeinschaftlich um Vertrauen für den Werkstoff Stahl zu werben, und zwar durch das Zeigen und Beschreiben von 239 Korten, S. 531. 240 Vgl. zu Vöglers Tätigkeit als Vorsitzender des VDEh: Rasch, Zwischen Politik und Wissenschaft. 241 Zitiert nach: Korten, S. 531. Dieses Problem der Vermittlung von Stahl als wichtigem Werkstoff, der nicht allein in der Industrie selbst, sondern auch im Alltag von Endverbraucher:innen eine Rolle spielte, besteht bis in die heutige Zeit, zumal Stahl inzwischen deutlich mehr Konkurrenz durch neue Werkstoffe erhielt. Vgl. etwa den Internetauftritt der Wirtschaftsvereinigung Stahl, wo ebenfalls die Verbreitung von Stahl im Alltag thematisiert wird: https://www.stahl-online.de/startseite/stahl-indeutschland/stahl-und-stahlproduktion/ (zul. einges. am 07.11.2022).

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Endprodukten. Neben einer in Berlin im Jahr 1927 stattfindenden Werkstofftagung setzte die Gemeinschaftsstelle auf über Fachperiodika hinausreichende Anzeigenwerbung sowie auf Werbung im öffentlichen Raum, etwa in Gestalt von Plakaten. Es wurde überdies mit dem »Biegemann« ein eigenes Werbeemblem kreiert.242 Vor allem aber wurde mit der Zeitschrift Stahl überall eine eigene periodische Werbeschrift herausgegeben, die zwischen 1928 und 1936 erschien und die Anwendungsbereiche und Konsummöglichkeiten von Stahl präsentierte. Zwar adressierte die Werbeschrift zunächst eher Kundenkreise im Branchenumfeld der weiterverarbeitenden Industrie, etwa wenn sich einzeln Ausgaben den Themen »Spezialprofile im Bauwesen« oder »Werkseinrichtung aus Stahl« widmeten. Beworben wurden aber auch Konsumgüter für Endverbraucher:innen, etwa Stahlmöbel oder Verbrauchsgüter des alltäglichen Bedarfs sowie Luxusgüter. Im Themenheft »Geschenke aus Stahl« von 1934 wird allerdings unmittelbar deutlich, dass, selbst wenn hiermit auf eine Absatzsteigerung gezielt werden sollte, nicht die Propagierung eines Massenkonsums im Zentrum der Bemühungen stand. Dies zeigen die Produkte ebenso wie die angewandten Instrumente des Empfehlungsmarketings: Während die erwähnte Broschüre des AISI in erster Linie an die »Men Who Make Steel« gerichtet war und breit gestreute Konsumchancen feierte, zielte die Werbeschrift Stahl überall insgesamt auf ein gehobenes bürgerliches Publikum. Neben sozialer Distinktion stand hier mit der Stilisierung »deutscher Qualitätsarbeit« auch nationale Distinktion durch Konsumentscheidungen im Zentrum. Insgesamt sind die Werbetexte dieser Werbezeitschrift von einem ästhetischen Programm der klassischen Moderne getragen, in der Tradition von Bauhaus und Neuer Sachlichkeit: »Stahl überall« bedeutete keineswegs Stahl für jeden. Dementsprechend stilisierten die Macher in ihren Vorbemerkungen zum Themenheft Warenästhetik im Sinne eines »urdeutschen« Werkstoffs Stahl und luden diesen mit vermeintlichen deutschen Eigenschaften auf: Die Materialfrage hat hier [bei der ›inneren Qualität‹ von Geschenken; T. M.] ein bedeutsames Wort mitzusprechen. Ein Sinnbild für hohe Leistungen, Zuverlässigkeit und Beständigkeit ist der Stahl. Und wieviel hübsche und nützliche Dinge der verschiedensten Art es aus diesem urdeutschen Werkstoff gibt, das will dieses kleine Heft einmal vor Augen führen. 242 Korten, S. 525–541.

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Vielleicht wird es dem einen oder anderen aus der Verlegenheit helfen und eine willkommene Anregung für seine Einkäufe geben.243 In der Folge beschrieb die Ausgabe mit vielen Beispielabbildungen hochwertige Produkte wie Maniküre-Sets, Pfeifen- und Raucherzubehör, Schreibwaren, Schmuck, Stahlmöbel, Küchenutensilien, Haushaltsgeräte oder Spielzeug aus Stahl. In Rubriken wie »Hausfrauen unter sich« kommt ein Empfehlungsmarketing zum Einsatz, bei dem in fiktiven Telefonkonversationen bzw. Briefen unter Hausfrauen Produkte besprochen und angepriesen werden. Dabei orientierten sich die Macher vorrangig an der durchgängig als hoch beschriebenen Qualität der Produkte. Im Beitrag »Im Kampf gegen den Kitsch« wird diese Orientierung nochmals auf den Punkt gebracht, indem es in dezidierter Abgrenzung zum Gegenbild Massenkonsum heißt: Unsere Zeit bringt eine Abkehr von der Massenware, von allem Tand, der nicht unserem Wesen entspricht. Deshalb begrüßen wir jede Art der Fabrikation, die es sich bewußt zum Ziele setzt, Eigenes zu schaffen. Die selbstverständliche Forderung nach Qualität muß natürlich dabei in umfassendem Maße beachtet werden. Aber noch eines ist mindestens ebenso wichtig: Die Gegenstände sollen aus einem Werkstoff erzeugt sein, der material-ehrlich ist [Hervorhebung im Original; T. M.].244 Insofern zeigt sich, dass es hierbei zwar um Werbung für Konsumgüter handelte, es jedoch weniger um die Produkte an sich ging, sondern darum, diese als Beleg für den ›material-ehrlichen‹ und an hoher Qualität orientierten deutschen Produzenten anzuführen. Während die PR den Produkten gewissermaßen von außen eine kulturelle Bedeutung zuschrieb – im Sinne einer Verwurzelung in den handwerklichen deutschen Traditionen (»Werkstoff«) –, spielte der konkrete Gebrauchswert der einzelnen Produkte kaum eine Rolle. Dies galt sowohl mit Blick auf individuelle Endverbraucher:innen als auch auf den gesellschaftlichen Fortschritt und den gesellschaftlichen Nutzen, die die US -amerikanische PR nicht müde wurde zu betonen. Stattdessen verknüpfte die deutsche Kampagne die eigenen Produkte mit dem als sachlich und authentisch konnotierten vorgeblichen »deutschen Wesen«. Albert Vögler hatte den beworbenen Stahl als genuin »deutschen Stahl« be243 O. V., Was soll ich schenken?, S. 2. 244 O. V., Im Kampf gegen den Kitsch, S. 6.

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zeichnet und ihn damit auch im Sinne einer nationalen Distinktion gegenüber der ausländischen Konkurrenz abgegrenzt  – nicht nur im ökonomischen, sondern auch im allgemein politischen und kulturellen Sinne.245 Auch wenn Konsumgüter im Fokus solcher PR-Maßnahmen standen und die USA nicht explizit als Gegenbild genannt werden, lesen sich die Werbetexte gleichzeitig wie eine Absage an die Massenkonsumgesellschaft US -amerikanischer Prägung, die in den 1920er Jahren die deutschen Debatten bestimmte.246 Jedoch brachte die deutsche Branche »Amerika« im Sinne einer verheißungsvollen Konsumgesellschaft in einem anderen Zusammenhang direkt als Gegenbild zur deutschen Arbeits- und Produktionsideologie propagandistisch in Stellung. Die Möglichkeiten von Branchen-PR im Bereich der Arbeitsbeziehungen, wie sie sich etwa in der besprochenen Broschüre The Men Who Make Steel abzeichneten, waren auch den deutschen PR-Experten nicht verborgen geblieben. Der gelernte Kaufmann und deutsche PR-Pionier Carl Hundhausen verfügte schon über enge Kontakte zur Stahlindustrie, bevor er nach dem Zweiten Weltkrieg Direktor der Stabsabteilung für Marketing bei Krupp wurde. Im Anschluss an einen USA-Aufenthalt im Jahr 1937 sah er die Aufgabe von PR neben der allgemeinen »Werbung um öffentliches Vertrauen« vor allem in der innerbetrieblichen Verbreitung der Ideologie des Managements. Kapital und Arbeit hätten gemeinsame Aufgaben zu erfüllen und dieser Gedanke müsse auch im nationalsozialistischen Deutschland verbreitet werden.247 Die Unternehmen selbst setzten im Rahmen ihrer sozialen Betriebspolitik, deren zentrales Ziel die Verbreitung des Konzepts der »Betriebsgemeinschaft« war, bereits seit Mitte der 1920er Jahre vermehrt auf eine solche innerbetriebliche PR .248 »Amerika« fungierte hierbei als Gegenbild. Während die Zeitschrift Stahl überall ein bürgerliches Publikum adressierte, versuchte die deutsche Branche die eigenen betrieblichen Belegschaften gegenüber den Verheißungen der US -Konsumgesellschaft zu immunisieren. Besonders

245 So sagte Vögler bei einer Tischrede zur Werkstofftagung: »Wir haben keinen schwarzweißen, keinen weiß-blauen, keinen grün-weißen, keinen gelb-rot-gelben, sondern nur einen deutschen Stahl zu zeigen.« Zitiert nach: Korten, S. 531. 246 Lüdtke, Marßolek u. Saldern, Lüdtke et al. Einleitung. 247 Heinelt, S. 42. Hundhausen betrachtete die Radikalisierung der US-amerikanischen Arbeiterschaft als Grund für die Notwendigkeit der US-Unternehmen PR betreiben zu müssen. Die Radikalisierung wiederum liege in der »Verjudung der Vereinigten Staaten« begründet. Zitiert nach ebd. 248 Kleinschmidt, Betriebliche Sozialpolitik.

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deutlich wird dies in einer Karikatur, die im Frühjahr 1931 in der GHHWerkszeitung erschien, also an die eigene Belegschaft adressiert war. Hierauf ist ein als »deutscher Michel« stilisierter, an einem Amboss mit Reichsadler stehender Handwerker abgebildet, der umringt ist von vier fein gekleideten – mit Ausnahme des schwedischen Industriellen Ivar Kreuger – amerikanischen Kapitalisten. Diese Konzernchefs treten als Personifizierung ihrer jeweiligen Marken auf und bieten dem deutschen Arbeiter ihre Konsumgüter feil. Die Bildunterschrift legt dem abgebildeten Arbeiter folgende Worte in den Mund, deren Bedeutung durch eine abwehrende Handhaltung gegenüber den »Händlern« noch unterstrichen wird: »Meine Herren! Wenn Sie mit mir Geschäfte machen wollen, müssen Sie erst mein Recht auf Arbeit und Leben anerkennen.« Die dargebotenen amerikanischen Produkte und Konsummöglichkeiten setzte die Karikatur mit kapitalistischer »Ausbeutung« des deutschen Arbeiters gleich, als Verführungen einer rein materialistischen, konsumorientierten und sinnentleerten »Unkultur«.249 Diese dichotomische Gegenüberstellung von Konsum und »deutscher Arbeit« bzw. (amerikanischer) Konsumindustrie und deutscher Stahlindustrie entsprach wie gesehen dem Selbstverständnis deutscher Hüttenmänner. Die amerikanische Massenkonsumgesellschaft forderte die deutsche Produktionsideologie und Wirtschaftspolitik sowie das Selbstbild der deutschen Industrie gleichermaßen heraus. Es galt, gegenüber den deutschen Arbeitern Konsum (und damit verbunden: höhere Löhne)  als Gefahr von außen zu delegitimieren und »deutsche Arbeit« als Arbeit um ihrer selbst willen und damit als Gegenkonzept zu etablieren. Die Arbeiter:innen sollten auf diese Weise gegen konsumistische Verheißungen immunisiert werden, während die kapitalistische Ausbeutung auf »Amerika« und das Ausland projiziert wurde. Überdies stammte die Karikatur aus einem Artikel, in dem gegen die Lohnpolitik und das Tarifsystem der Weimarer Betriebsdemokratie agitiert wurde. Diese Sozialpolitik, zusammen mit der äußeren Bedrohung durch »Amerika«, komme einer Zerstörung von Kapital und unternehmerischer Selbstbestimmung gleich und entziehe damit der deutschen Nation die ökonomische Grundlage.250 Während die US -Industrie auf konkrete konsumgesellschaftliche Errungenschaften verweisen konnte, versuchte die deutsche Branche diese Erfolge

249 O. V., Zur Wirtschaftslage, S. 2. 250 Ebd.

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für sich zu deklarieren bzw. umzudeuten. Der Erzählung der US -Branche über den gesellschaftlichen Ist-Zustand einer auch unter Arbeiter:innen vergleichsweise verbreiteten Motorisierung in den USA setzte die Ausgabe der Stahl überall über »Stahl im Automobilbau« den Verweis auf die deutschen Pionierleistungen entgegen. Man müsse beachten, »wie deutsch die Erfindung des Automobils ist«, von der aber vor allem die Vereinigten Staaten profitiert hätten: Deutschland ist das Erfinderland des Automobils. […] Aber unter den Nutznießern des Automobils ist Deutschland eines der letzten Länder. Amerika hat den vollen Nutzen aus der deutschen Erfindung des Automobils gezogen.251 Es folgten Daten, die das Automobil als wichtigen Wirtschaftsfaktor in den USA belegten,252 um dann mit vergleichendem Blick auf Deutschland festzuhalten: Wie anders war das in Deutschland. Im Erfinderland des Automobils waren Parlamente, kurzsichtige Regierungen und neidische Schildbürger einig in der Niederhaltung der Kraftfahrt. […] Man begründete das auch logisch, indem man angab, daß freilich in Amerika mit seinem weiten Raum […] das Auto seine Berechtigung habe, und daß reiche Länder, wie England, Frankreich und die Schweiz sich solchen Luxus leisten könnten. Für Deutschland aber komme eine Kraftfahrt ja ernstlich,·außer für Luxuszwecke, nicht in Betracht.253 Den Grund, weshalb die deutsche Gesellschaft noch nicht die Früchte der eigenen technischen Erfindung ernten konnte, sah die Werbeschrift in den falschen politischen Schwerpunktsetzungen der demokratischen Vergangenheit der inzwischen überwundenen »Weimarer Republik«. Die nationalsozialistische Politik dagegen habe bereits die Weichen für eine prosperierende deutsche Automobilgesellschaft der Zukunft gestellt, die sich in der beschriebenen US -amerikanischen Realität bereits materialisiert hatte. Das Auto sei rundheraus ein »Ding aus Eisen«, und auch die betreffende Infrastruktur 251 Ostwald, S. 1. 252 Ebd., S. 1 f. 253 Ebd., S. 2.

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sei von diesem Werkstoff geprägt, sodass am Ende auch in Deutschland nur »die Herrschaft des Eisens im Auto und durch das Auto« stehen könne.254 Insofern fungierte die US -Entwicklung als Deutungsfolie der automobilen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Deutschlands. Das gemeinschaftliche Marketing der US -Branche fungierte vor allem deshalb als Vorbild für die PR-Kampagnen der deutschen Branche, weil so die innerdeutsche Konkurrenz nicht thematisiert werden musste – weil man, wie bereits erwähnt, nicht für konkrete Produkte, sondern für den »Werkstoff« Stahl warb. In der Zeitschrift Stahl überall gab es lediglich am Ende den Hinweis, dass die Hersteller der abgebildeten und beschriebenen Produkte auf Nachfrage genannt werden könnten – die Maßgabe der Sachlichkeit konnte damit erfüllt werden.255 Dass die Skepsis gegenüber einem offenen, die Konkurrenz thematisierenden Marketing weiterhin verbreitet war, zeigte sich auch auf Seiten der Rezipienten, wenn mit Blick auf die Werkstofftagung von 1927 lobend hervorgehoben wurde, dass die Ausstellungsstücke anonym blieben. So betonte die Rheinisch-Westfälische Zeitung, dass der Veranstaltung dadurch »alles Reklamehafte und Sensationelle« genommen sei.256 Hier wird nochmals die Marktferne der deutschen Eisen- und Stahlindustrie deutlich, die auch in der Gesellschaft insgesamt verbreitet war. Im nationalsozialistischen Deutschland stellte »Amerika« nach wie vor den Dreh- und Angelpunkt ökonomischer Zukunftsvorstellungen dar – nicht nur, weil dessen führende Vertreter, insbesondere Hitler selbst, »Amerikas« Potenzial als globale Supermacht erkannten, sondern weil sie die Strahlkraft der amerikanischen Überflussgesellschaft ernst nahmen und als erstrebenswert erachteten, während der deutsche Lebensstandard davon noch weit entfernt war. Daran anschließend erklärt Adam Tooze die expansive Dimension der »Volksgemeinschaft« unter anderem mit diesem Versuch, Konsumchancen auf breite Bevölkerungsschichten auszuweiten  – die allerdings auf die Zeit nach der erfolgreichen kriegerischen Landnahme projiziert wurden.257 Die NS -Regierung hatte zwar – zumindest in ihrer Selbstbeschreibung – mit dem Autobahnbau die Weichen für eine weitergehende Motorisierung der deutschen Gesellschaft gestellt, und das NS -Regime war weiterhin und darüber hinaus bemüht, die Konsummöglichkeiten für die »Volksgenossen« auszuweiten. Jedoch blieben Ende der 1930er Jahre die Bemühungen, den 254 Ebd., S. 4; vgl. zu NS-spezifischen Zeitvorstellungen: Clark. 255 O. V., Verpackung – ein ästhetisches Problem, S. 24. 256 Zitiert nach Korten, S. 531. 257 Tooze, Ökonomie der Zerstörung, S. 15, 21–31.

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Produktqualität als Vergleichshinsicht

deutschen Lebensstandard zu heben, unter den Bedingungen der Rüstungswirtschaft wenig erfolgreich. Tooze verweist darauf, dass die Rüstungserfolge des »Dritten Reichs« vor diesem Hintergrund gewissermaßen als Ersatzkonsum fungierte, mit der sich die »Volksgemeinschaft« begnügen musste.258 Eine solche Umdeutung von Konsum im Sinne von Rüstung und Wehrprodukten zeichnete sich auch in der Zeitschrift Stahl überall ab. Die Broschüre wurde im Zuge des Vierjahresplans – also der endgültigen Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf die Rüstungsproduktion – eingestellt, während sie Endverbraucher:innen in einer ihrer letzten Ausgaben mit Produkten im Bereich »Luftschutz durch Stahl« konfrontierte.259 Das Kapitel hat insgesamt gezeigt, dass Produktqualität zwischen Produzenten und Kunden in der Eisen- und Stahlindustrie umstritten war. Hier bot sich ein Handlungsspielraum für die Unternehmen und Branchenverbünde: Diese versuchten nun – erstens selbst, Bewertungsmaßstäbe für Qualität zu bestimmen und setzten dabei auf nationale Deutungsmuster. Das Beispiel der Produkttests und insbesondere die rekonstruierte »Vergleichende Qualitätsuntersuchung« der rheinisch-westfälischen Hochofenwerke im Vorfeld der Zollpolitischen Wende haben verdeutlicht, dass die deutsche Branche in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Qualität der eigenen Produkte als Hebel einsetzen wollte, um den deutschen Binnenmarkt vor ausländischen Produkten zu schützen und so die Konkurrenz einzugrenzen. Bei diesem Versuch stand der interessenspolitische Standpunkt der deutschen Industrie in einer wirtschaftspolitischen Deutungskonkurrenz zur freihändlerischen Position. Es galt hierbei, den Staat von einem protektionistischen Standpunkt zu überzeugen. Dies wiederum geschah mit Hilfe einer instrumentellen Vergleichspraxis, die darauf zielte, die ausländischen Produzenten als eine durch bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen bevorzugte Konkurrenz zu konstruieren, vor der die deutschen Unternehmen – und mit ihnen das nationale Gemeinwohl  – geschützt werden müssten. Die US -Industrie war im ausgehenden 19. Jahrhundert weniger auf kollektive Krisenlösungsstrategien angewiesen. Das Beispiel des Markteintritts im Bereich des Weißblechs hat jedoch gezeigt, dass hier ebenfalls eine vorgeblich unfaire ausländische Konkurrenz konstruiert wurde, um so staatlichen Schutz erhalten zu können. 258 Ebd., S. 167–200. 259 Vgl. das Themenheft zu »Luftschutz durch Stahl«: Beratungsstelle für Stahlverwendung.

Marketing und Public Relations

– Zweitens ist ein transnationaler Wettbewerb der Deutungen um Produktqualität zu beobachten. So sollte das britische Label »Made in Germany« die im Vergleich zu britischen Produkten minderwertigen deutschen Waren markieren und so die britischen Verbraucher zum Kauf britischer Produkte bewegen. Das Label führte jedoch dazu, dass die deutschen Produzenten ihre Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich steigerten, wodurch es international zu einem Qualitätsmerkmal wurde. Nationale Trademarks wurden national und international durch Vergleichspraktiken etabliert, wobei sich Selbst- und Fremdzuschreibungen wechselseitig verschränkten, wie das Beispiel von Franz Reuleaux’ langlebigem Verdikt »billig und schlecht« gezeigt hat. Die deutsche Branche benutzte hierbei den erfolgreichen eigenen Weg hin zu einer stärkeren Qualitätsorientierung als Argument, das wiederum gegenüber dem Staat vorgetragen werden konnte, um eine Vorzugsbehandlung der inländischen Produzenten zu erreichen. Die weniger in die Weltmarktkonkurrenz eingebundene US -amerikanische Branche inszenierte sich in Abgrenzung zu den europäischen Branchen seit dem späten 19. Jahrhundert als besonders kundenorientiert. Der hohe Grad an routiniertem Praxiswissen der Produktion, das britische Hersteller auszeichnete, wurde so als kundenferne und veraltete Produktionsideologie, als Gegenbild zur »fortschrittlichen« Kundennähe der US -Hersteller konstruiert, die in materieller Hinsicht mit ihren Produkten den zivilisatorischen Fortschritt befeuerten. – Drittens wurde Marketing als wichtige Konkurrenzpraxis und Absatzstrategie diskutiert, zu der die Produzenten jedoch ein branchenspezifisch widersprüchliches Verhältnis aufwiesen. In Abgrenzung zur »marktschreierischen Reklame« thematisierte das Marketing einzelner Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tendenziell weniger die konkreten Produkte als vielmehr die Produktionsanlagen und -fähigkeiten des Unternehmens. Schließlich sollte die Werbung in der Eisen- und Stahlindustrie, so waren sich insbesondere deutsche Vertreter einig, besonders »sachlich« und »wissenschaftlich« sein, weshalb die Hersteller die konkreten Produkte und ihre qualitativen Merkmale kaum bewerben konnten. Die US -Branche zeigte sich bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegenüber der Verbrauchsgüterindustrie offener. Dies zeigte sich nicht nur in den beworbenen Produkten; im 20. Jahrhundert fand die Werbung einzelner Unternehmen endgültig Anschluss an die Formensprache der Konsumgüterindustrie. Grundlegend für diese unterschiedlichen Einstellungen war, dass sich hier nach dem Wirtschafts­

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Produktqualität als Vergleichshinsicht

historiker Volker R. Berghahn ein produktionsorientierter deutscher Ansatz und eine »konsumorientierte Wettbewerbs- und Produktionsideologie« in den USA gegenüberstanden.260 Daran anknüpfend betonte die US -Branche ihre Bedeutung für die US -amerikanische Massenkonsumgesellschaft. Diese Erzählung war in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wiederum anschlussfähig für Projektionen: Das einmalige Konsumidyll wurde nun in der Zwischenkriegszeit gegenüber einer breiten Öffentlichkeit als von außen  – nämlich durch die europäische Billiglohnkonkurrenz  – bedroht beschrieben. Auf diese Weise projizierte die US -PR soziale Ungleichheit und betriebliche Konflikte auf die Konkurrenz. Die deutsche Branche wiederum nahm sich die kollektiven Bemühungen der US -Industrie Mitte der 1920er Jahre zum Vorbild für ihre eigene PR . Erneut ging es darum, »sachlich« und »wissenschaftlich« zu werben, nun für die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von Eisen und Stahl, wobei der »Werkstoff« Stahl mit nationalen Distinktionsmerkmalen als »deutscher Stahl« aufgeladen wurde. Die deutsche Industrie suchte zwar neue Absatzgebiete, Massenkonsum lehnte sie jedoch als »Tand« ab und versuchte die Arbeiterschaft gegen die Verheißungen der US -amerikanischen Massenkonsumgesellschaft zu immunisieren. »Amerika« fungierte dabei als Projektionsfläche für »Ausbeutung«, die mit Konsum gleichgesetzt wurde. In beiden Ländern etablierte sich eine gemeinschaftliche Branchen-PR , mit deren Hilfe das jeweils eigene Modell ideologisch legitimiert werden sollte. Konkurrenzvergleiche nahmen hierbei eine zentrale Stellung ein. In der PR beider Länder wurde somit ökonomische Konkurrenz in politische Konflikte umgedeutet, wenn es darum ging, die betrieblichen Belegschaften zu befrieden, indem man soziale Ungleichheit und Konflikte auf die ausländische Konkurrenz projizierte und den unternehmerischen Machtanspruch zu legitimieren versuchte. Alles in allem konnte das Kapitel zeigen, dass die »freie« kapitalistische Konkurrenz im Sinne Georg Simmels als Werben zweier Konkurrenten um die Gunst eines »Dritten« nicht genügt, um die Konkurrenzpraktiken der Eisenund Stahlindustrie zu bestimmen. Die branchentypische Marktferne ließ im Zusammenspiel mit den kapitalistischen Erwartungsunsicherheiten den jeweiligen Staat als präferierten Adressaten als »vierte« und ordnende Instanz

260 Berghahn, Unternehmer und Politik, S. 156.

Marketing und Public Relations

ins Zentrum von Konkurrenzpraktiken rücken, die das Vergleichen stets instrumentell mitführen: Es bedurfte stets der ausländischen Konkurrenz als Vergleichsfolie, um den Wettbewerb einzugrenzen. Die so erfolgte Umdeutung ökonomischer Konkurrenz in politische und kulturelle Konflikte verdeutlicht ebenfalls, dass die Produzenten der deutschen Eisen- und Stahlindustrie im Zweifel alles dafür taten, den »freien« Markt einzuschränken.

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Orientieren, Anpassen, Angleichen: Produktionstechnik und -kultur als Vergleichshinsicht

Produktionstechnik und -kultur spielten seit Mitte der 1870er Jahre eine wichtige Rolle in der Selbst- wie in der Fremdbeobachtung der deutschen und der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie. Mit »Produktionstechnik« sind im Folgenden die technologischen und organisatorischen Aspekte der Kernbereiche der Eisen- und Stahlproduktion gemeint. »Produktionskultur« zielt daran anknüpfend auf die kulturelle Einbettung der Produktion; der Begriff markiert die Gesamtheit der Deutungsweisen der sowohl branchenspezifischen als auch national konnotierten Art und Weise des Produzierens. Das vorliegende Kapitel fokussiert die diesbezügliche wechselseitige vergleichende Beobachtung deutscher und US -amerikanischer Fachleute. Durch diese Intensität der Beobachtung war in diesem Bereich von technischen Umbruchphasen und ökonomischen Konjunkturen geprägt; sie brach jedoch über den Untersuchungszeitraum lediglich während des Ersten Weltkriegs weitgehend ab. Der deutsche Fall steht dabei im Mittelpunkt, da die deutschen Fachleute die US -Industrie weitaus intensiver beobachteten als umgekehrt. Es wird im Folgenden die These vertreten, dass Vergleichspraktiken im Bereich von Produktionstechnik und -kultur zentral waren, um ökonomische Erwartungsunsicherheiten einzuhegen. Transnationales Vergleichen bot Handlungsorientierung und förderte das Anpassen und Angleichen einzelner technischer Verfahren oder sogar der gesamten nationalen Produktionskultur. Auch durch Abgrenzungen trieb das Vergleichen somit den technischen und ökonomischen Wandel voran. Die Beobachtungs- und Vergleichspraxis hing dabei von der (empfundenen) Stellung der jeweiligen Branche innerhalb der Weltmarktkonkurrenz ab. Während die deutsche Industrie sich intensiv mit der US -amerikanischen beschäftigte, um die eigene internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und um sich des eigenen Wegs zu vergewissern, war die Beobachtungsintensität der europäischen Produktionstechnik und -kultur (und nicht allein der deutschen) durch US Fachleute weitaus geringer und diente insbesondere der Selbstlegitimation. Das Beispiel der deutschen Industrie zeigt überdies, dass die fortlaufende Orientierung an der US -Industrie zu einer Angleichung der Bedürfnisse

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

führte, die eine Entfremdung der deutschen Industrie von Marktgesichtspunkten verstärkte: Die deutsche Branche wollte nach dem Vorbild US -amerikanischer Massenproduktion herstellen. Dazu fehlten ihr freilich nicht allein die ökonomischen Grundlagen, sondern die deutschen Hütteningenieure und Manager lehnten das Konzept des Massenkonsums rundheraus ab und waren nicht bereit, aktiv den Absatz im Bereich der Verbrauchsgüter auf dem deutschen Binnenmarkt zu fördern. Insofern zeigt sich die sozial und ökonomisch wirkmächtige kognitive Selektivität von Vergleichspraktiken in der Konkurrenz, die mit jeder Inklusion eine Fülle von Exklusionen produziert.

5.1

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur als Orientierungs- und Zukunftsfolie für deutsche Eisenhüttenleute

Das Jahr 1876 markiert mit der Weltausstellung in Philadelphia und der bereits behandelten »Politik offener Werkstore« der US -amerikanischen Betriebe den Beginn der detaillierten Auseinandersetzung deutscher Fachleute mit der Produktionstechnik und -kultur der Eisen- und Stahlindustrie der Vereinigten Staaten. Es stellte sich zunächst die Frage, in welcher Beziehung diese aufstrebende Industrie der »Neuen Welt« zur deutschen stand. Die beiden Professoren für Eisenhüttenkunde Hermann Wedding und Christian Mosler, die die ersten ausführlichen Berichte über die US -Hüttenindustrie anfertigten, versuchten hierauf eine erste Antwort zu geben. Im hohen Zoll sahen sie zunächst einen Faktor, weshalb die US -Industrie nicht unmittelbar als Konkurrenz zu betrachten sei. Zwar betonten sie, dass der Zoll die rasante industrielle Entwicklung der Vereinigten Staaten einerseits ermöglicht habe.1 Denn schließlich sei es – so Wedding – »der Schutzzoll, der das Leben der dortigen Eisenerzeugung fristet«.2 Gleichzeitig sahen sie andererseits in den Zöllen aber auch ein politökonomisches Hemmnis, das sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der US -Industrie auswirke: Sie seien der Grund für die relativ hohen Selbstkosten, da auf dem abgeschotteten Binnenmarkt kein internationaler Konkurrenzdruck herrsche, diese zu senken.3 Wedding betrachtete den Importzoll sogar als »hemmende Fessel«, die die US -Industrie hindere, »sich naturgemäss [zu] entwickeln«. Damit bedeutete der US -ame1 Wedding, S. 328; Mosler, S. 320. 2 Wedding, S. 454. Hervorhebungen im Original. 3 Ebd.; Mosler, S. 320.

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Orientieren, Anpassen, Angleichen

rikanische Zollschutz für ihn auch einen effektiven Schutz der deutschen Industrie: »Gegenwärtig ist der Schutzzoll, der bestimmt ist, die amerikanische Industrie zu schützen, der sicherste Schutz für unsere eigene.«4 Denn so lange der Zollschutz bestand, müsse die deutsche Branche die US -Industrie nicht als Konkurrenz fürchten, da die US -Produkte international nicht konkurrenzförmig seien. In anderer Hinsicht nahm Wedding in seinem Bericht jedoch eine Konkurrenzperspektive ein. Die ökonomischen Folgen des »Gründerkrachs« und die intrinsischen strukturellen Probleme der deutschen Branche prägten seine Reisebeschreibungen. Seine Vergleiche zielten hinsichtlich dieser Pro­ blemlagen auf die Frage, inwieweit die USA als Handelspartner rohstoff- und absatzspezifische Branchenprobleme der deutschen Industrie lösen konnte. Er sah unter diesen Bedingungen vor allem die Möglichkeit »unsern Mangel an geeignetem Bessemerroheisen in der That von dort decken zu können und umgekehrt reichlich dieselbe Menge an manganhaltigem Roheisen […] zurückzusenden, und ein Austausch könnte sich entwickeln«5. Der festgestellte Mangel an Roheisen rührte an ein zentrales technisches und ökonomisches Problem der deutschen Bessemerwerke zu jener Zeit. Denn diese Art des Roheisens musste phosphor- und schwefelarm sein, damit sie im »sauren« Windfrischprozess (wie das Bessemerverfahren aufgrund der sauren Ausmauerung des Konverters auch genannt wurde)  funktionieren konnte. Deutsche Erze waren jedoch sehr phosphorhaltig (also »basisch«), weshalb die deutschen Werke für ihre Bessemerwerke stark auf den Import von phosphorarmen Erzen (insbesondere aus Spanien und Schweden) und phosphorarmem Roheisen aus Großbritannien angewiesen waren.6 Besser sah dies in den USA aus, wie auch Wedding selbst in seinen Analysen der US -amerikanischen Erze vor Ort feststellen musste. Aufgrund ihres durchschnittlich unter 0,1 % liegenden Phosphor- und des gleichfalls niedrigen Schwefelgehalts waren diese »fast sämmtlich für ein Bessemerroheisen geeignet«.7 Insofern hoffte Wedding angesichts des Mangels an phosphorarmen Erzen in Deutschland sogar, dass die US -Industrie ihre Selbstkosten in diesem Produktionssegment senken könne, damit die deutsche Industrie ihre Bessemerkapazitäten möglichst kostendeckend mit US -amerikanischen Bessemerroheisen bedienen könne – und nicht länger von britischem Roh­ 4 Wedding, S. 455. Hervorhebungen im Original. 5 Ebd. 6 Bleidick, Zur Einführung, S. 52. 7 Wedding, S. 342.

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

eisen und teuren Erzimporten abhängig war. Den US -Markt sah Wedding damit als Absatzchance und die USA als Handelspartner, die der deutschen Industrie ermöglichen könnte, sich drängender Absatzprobleme zu entledigen. Die US -Industrie spielte insofern in Weddings ökonomischer »Erwartungszukunft« eine wichtige Rolle. Es blieb nicht bei solchen Erwägungen. Wedding wurde, als er die deutsche und die US -amerikanische Industrie in den frühen 1870er Jahren direkt miteinander verglich, bewusst, dass die US -amerikanische Eisen- und Stahlindustrie in der Zukunft durchaus international wettbewerbsfähig und damit auch zu einer Konkurrenz für die deutsche Industrie werden könnte: Westlich von den Allegehny’s [!] [Allegheny Mountains; TM] sind die mittleren Selbstkosten nicht mehr als in Preussen loco Dortmund oder Breslau, und der Transportweg zum Meere ist in beiden Fällen nicht wesentlich verschieden. Da nun dies Verhältniss hervortritt trotz des hohen Brennmaterialverbrauchs, welcher sich gewiss erniedrigen lässt und welcher schon jetzt einen verhältnissmässig geringeren procentalen [!] Antheil an den Selbstkosten ausmacht, als in Deutschland, so ist die nordamerikanische Roheisenindustrie durchaus nicht als ein gänzlich zu missachtender Concurrent Deutschlands für die Zukunft zu betrachten.8 Zusammengenommen resultierte für Wedding aus dieser Entwicklung zukünftig eine Preiskongruenz zwischen deutschen und US -amerikanischen Produkten – womit die Grundvoraussetzung für Wettbewerb zwischen der deutschen und der US -amerikanischen Industrie geschaffen war. Vor allem aber zeigten die im Rahmen seines Berichts durchgeführten Leistungsvergleiche, dass sich die US -Industrie technologisch mindestens auf Augenhöhe mit ihrem europäischen Schwestergewerbe befand. Dies traf besonders auf den für die deutsche Industrie in den 1870er Jahren neuralgischen Punkt der Erzeugung von Bessemerstahl zu. Wedding stellte fest, dass es der US -Industrie gelungen sei, in diesem Bereich »den europäischen Standpunkt überholt« zu haben. Dabei war es vor allem die US -amerikanische Produktionskultur, die »der Erwartung Raum [lasse; TM], dass sie [die US -amerikanischen Produzenten; TM] unter dem Einflusse amerikanischer

8 Ebd., S. 454; vgl. zur vergleichenden Aufschlüsselung europäischer und US-amerikanischer Selbstkosten bei Mosler, S. 318.

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Orientieren, Anpassen, Angleichen

Thatkraft das bisher versäumte nachholen werden«9. Anders als Mosler, der die Leistungen der US -Industrie vor allem mit Verweis auf die Zölle und die hohen Kosten für Mensch und Umwelt zu relativieren versuchte, erzeugte das Vergleichen der deutschen mit der US -amerikanischen Hüttenindustrie bei Wedding das Bewusstsein, in dem besuchten Land eine ernstzunehmende Konkurrenz der Zukunft zu sehen.10 Wedding betrachtete die US -Industrie somit auch als Faktor einer ökonomischen »Risikozukunft« eines noch weiter verschärften Wettbewerbs auf dem internationalen Markt, auf dem weiterhin die Auswirkungen der »Großen Depression« zu spüren waren und wo die deutsche Industrie mit Überkapazitäten zu kämpfen hatte. Vor allem sah Wedding aufgrund des fortgeschrittenen technologischen Niveaus der US -Industrie darin eine nützliche Vergleichsfolie für die deutsche Branche. Denn zu dieser Zeit befand sich diese in einer wichtigen technologischen Umbruchsphase hin zur Flussstahlerzeugung. Zusätzlich sah sie sich nach der »Großen Depression« von 1873 in einer ökonomisch schwierigen Lage. In dieser Situation suchten die deutschen Fachleute Handlungsorientierung und fanden diese nicht zuletzt in der aufstrebenden U ­ S -amerikanischen Hüttenindustrie. Seit dieser Zeit fungierte die US -Branche sowohl in technologischer als auch in organisatorischer Hinsicht als Orientierungs- und Zukunftsfolie für deutsche Branchenvertreter, wodurch England als primärer Bezugspunkt zunehmend verdrängt wurde. Das technische Produktionssystem, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Zeichen der Schmiedeeisenproduktion – im sogenannten Puddelverfahren11 – gestanden hatte, 9 Wedding, S. 486. 10 Mosler führte das Wachstum der US-Industrie dagegen allein auf den »Schein« des Zolls zurück und betonte vor allem die hohen Kosten, die die Umwelt für die Entwicklung der US-Industrie zahlen müsse. Mosler, S. 320. 11 Im Zuge dieses Verfahrens wurde das Roheisen in einem flachen Ofen mit billiger Steinkohle »gefrischt«, d. h. von Verunreinigungen wie Kohlenstoff, Schwefel und Phosphor mittels Oxydation »gereinigt«. Der Arbeiter am Ofen, der »Puddler«, musste das flüssige Eisenbad mit einer Stange kräftig umrühren (englisch: »to puddle«), um alles Roheisen der Flammen im Ofen auszusetzen und so zu oxydieren bzw. zu »frischen«. Die Arbeit des Puddlers war von extremer körperlicher Anstrengung geprägt und eine handwerklich äußerst anspruchsvolle Tätigkeit, die ein hohes Maß an Erfahrungs- und Praxiswissen erforderte. Die beim Puddeln hergestellten schmiedebaren »Luppen«, etwa zentnerschwere Pakete, die der Puddler für die Weiterverarbeitung formte, schwankten stark in der Qualität; homogenes Material war schwer herzustellen. Da die Größe der einzelnen Luppen durch die Kraft des Puddlers beschränkt war, mussten diese zu größeren Blöcken geschweißt werden, die dann erst zu größeren Halbzeug- oder Endprodukten gewalzt werden konnten. Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 24–28; Paulinyi, Vom Frischherd, S. 25–34.

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

wandelte sich seit den 1860er Jahren zur maschinellen Flussstahlerzeugung.12 Während sich im Hochofen- und nachgelagerten Walzprozess durch technologische Fortschritte zeitgleich große Produktionssteigerungen der einzelnen Aggregate ergeben hatten, bei denen die Arbeiter nicht mehr direkt auf den Prozess einwirken mussten, war der Frischeprozess weiterhin an die physische Kraft und die Geschicklichkeit der »Puddler« gebunden.13 Den Pfad zur großbetrieblichen Massenproduktion betrat die deutsche Branche Mitte der 1850er Jahre. Mit den beiden technologischen Basisinnovationen des Bessemer- und des Siemens-Martin-Verfahrens wurde nun das maschinelle Frischen und damit die Flussstahlfertigung ermöglicht – die Produktion war hierbei nicht länger an die physische Kraft der Schmelzer gebunden, die sich fortan mehr auf kontrollierende und steuernde Tätigkeiten des maschinellen Prozesses fokussieren mussten. Die »ersten Männer« an den Konvertern waren weiterhin hochqualifizierte Arbeiter, sie gingen nun aber in einem Heer an ungelernten Hilfsarbeitern förmlich unter. Grund hierfür war die technologische Transportlücke zwischen modernen Produktionsaggregaten und ihrer Steuerung, Bewegung und Beschickung.14 Im Bessemerverfahren wurde das flüssige Roheisen in einem birnenförmigen Konverter durch das Einblasen von Luft mittels Bodendüsen gefrischt. Der Prozess lief nun automatisch ab, die mit hohem Druck eingeblasene Luft durchwirbelte und oxidierte bzw. »frischte« das flüssige Eisenbad gleichzeitig.15 12 Der Übergang von der Schmiedeeisen- zur Flussstahlproduktion war keineswegs abrupt, sondern beide Verfahren existierten bis in die 1880er Jahre parallel, bis die Flussstahlproduktion zu Beginn der 1890er Jahre endgültig das Puddelverfahren verdrängte. Welskopp plädiert dafür, den Puddelprozess nicht als »vorindustriell« abzutun und die »Beharrungskraft von Produktionsstrukturen« nicht zu unterschätzen. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 61 f., Zitat: S. 61. 13 Ebd., S. 113–236. Diese Facharbeiter waren überdies gefragte und hochqualifizierte Spezialisten, die aufgrund dieser Stellung über eine große betriebliche Verhandlungsmacht verfügten. Ebd. 14 Welskopp, Maloche auf der Hütte, S. 406. Vgl. ausführlich zur »Kolonnenarbeit im ›Imperium‹ des Meisters«: ders., Arbeit und Macht, S. 237–399. 15 Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 30 f., 64–67; Paulinyi, Vom Frischherd, S. 34–41. Vgl. Werksplan von US-Bessemerwerken in Wedding, S. 469. Wedding war selbst ein wichtiger Akteur der Einführung des Bessemerverfahrens in Deutschland. Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 31, Anm. 22. In den 1880er Jahren wurde schließlich das Thomasverfahren eingeführt, das dem Bessemerverfahren stark ähnelte bzw. eine Optimierung desselben darstellte. Vgl. zur Abfolge der Verfahren und der technischen Entwicklung: Paulinyi, Vom Frischherd. Zum Siemens-Martin-Verfahren: Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 37–43.

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Orientieren, Anpassen, Angleichen

Zunächst förderte die hohe Nachfrage nach Eisenbahnschienen den Ausbau von Bessemerkapazitäten in Deutschland und den USA . Die US -Hütten­ industrie profitierte dabei vom Zollschutz, von der in den Vereinigten Staaten herrschenden günstigen Rohstofflage und von der hohen Nachfrage insbesondere nach Eisenbahnschienen in der Zeit nach dem Bürgerkrieg. In Deutschland war der Eisenbahnbau seit den 1830er Jahren ebenfalls der wichtigste Wachstumsmotor der Eisen- und Stahlindustrie – wenn auch bei Weitem nicht in der Größenordnung wie in den Vereinigten Staaten. Allerdings gestaltete sich die Nachfrage nicht erst seit der Krise im Jahr 1873 in diesem internationalen Marktsegment als sehr schwankend. Nun zeigte sich deutlich, wie anfällig die Branche für konjunkturelle Schwankungen war. Die meisten großen deutschen Schienenwerke hatten bereits im Vorfeld des Gründerbooms in den Jahren 1870/71 begonnen, ihre Anlagen auf das kapitalintensive Bessemerverfahren umzurüsten. Für den »Schienenboom« nach dem Deutsch-Französischen Krieg kam diese Umrüstung jedoch in Teilen zu spät, weil der Krieg den Bau neuer Werke verzögert hatte. Diese Situation verursachte eine Knappheit an Bessemerschienen in Deutschland, während die deutschen Schienen zu dieser Zeit deutlich teurer waren als die britischen und französischen, was wiederum den alten Puddelschienenwerken einen unerwarteten Aufschwung bescherte.16 Als die Nachfrage nach Schienen zwischen 1874 und 1876 infolge der »Großen Depression« um die Hälfte einbrach, begünstigte dies nun die sukzessive Verdrängung des Puddel­ prozesses, während die Bessemerwerke ihre Produktion  – auch aufgrund des stetig an Bedeutung gewinnenden Exports – nun weiter erhöhten.17 In der Folge bauten deutsche Werke sehr große und in Anschaffung und Betrieb kostspielige Bessemerkapazitäten auf, da sie auf eine zunächst weiterhin wachsende Nachfrage im Bereich des Schienenmarktes hofften. Diese Hoffnung zerschlug sich jedoch mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, als die im Jahr 1869 gestartete »Hausse in Eisen und Stahl, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat«, zu einem abrupten Ende kam, wie Eberhard Hoesch es formulierte.18 Diese wirtschaftlich und technologisch unsichere Situation eines Umbruchs von Produktionsverfahren und der problembehafteten Einführung einer neuen Basisinnovation der Massenstahlerzeugung war es, die W ­ eddings 16 Ebd., S. 62 f. 17 Ebd., S. 63; Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum, S. 13–34. 18 Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 59–72. Zitat von Eberhard Hoesch in: Deutsches Reich / Eisen-Enquête-Kommission, S. 239.

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

Blick in seinem Reisebericht von 1876 auf die US -Entwicklung lenkte. In der dort beobachteten Stahlproduktion sah er einen »Fingerzeig auch für unsere Industrie«. Es sei davon auszugehen, dass die deutschen Puddelwerke das gleiche »Schicksal« erlitten, wie es den US -amerikanischen bereits widerfuhr, sie also nicht mehr in Betrieb genommen würden.19 So bewahrheitete sich für Wedding jene teleologische Sichtweise des 19. Jahrhunderts, die Marx im Jahr 1867 auf den Punkt gebracht hatte: »Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft.«20 Für Wedding war die US -Industrie zumindest in diesem Produktionssegment fortschrittlicher und daher umso nützlicher, konnte sie doch als Zukunftsfolie für das Handeln der deutschen Branchenakteure fungieren. Eine solche in der US Gegenwart bereits verwirklichte »Erwartungszukunft« konnte jedoch aus Weddings Sicht nicht automatisch eintreten. Vielmehr wollte er mit Hilfe von Vergleichen die deutsche Branche davon überzeugen, aktiv zur US -amerikanischen Entwicklung aufzuschließen: Ruhen wir doch nicht auf unsern angeblichen hohen Erfolgen aus, sondern lernen wir von dem, was uns bereitwillig zur Kenntniss gestellt wird, mag es von einer Nation kommen, von welcher es wolle. Bemühen wir uns nicht, künstlich herauszurechnen, wie vorzüglich unsere Industrie sei, sondern suchen wir durch Verbesserung der Einrichtungen und der Arbeit die fremde Concurrenz aus dem Felde zu schlagen.21 Ein Vergleichen der deutschen mit der US -amerikanischen Hüttenindustrie musste für Wedding dazu führen, die US -amerikanische Überlegenheit einzugestehen. Dieses Vergleichsergebnis des Professors für Eisenhüttenkunde sollte das Selbstverständnis deutscher Hüttenleute erschüttern und gleichzeitig motivierend wirken. Konkret erschien die US -Industrie vor allem hinsichtlich der Frage vorbildlich, wie aus der krisenhaften Situation herauszufinden sei, in der sich die deutsche Branche seit Mitte der 1870er Jahre befand. Die deutschen Fachleute erhofften sich durch Vergleichspraktiken Impulse, um Wettbewerbsnachteile 19 Wedding, S. 485. »Schweißeisen« war ein Synonym für das Puddelverfahren, während »Flussstahl« das maschinelle Frischen im Konverter- (Bessemer- und Thomasverfahren) oder Herd-Verfahren (Siemens-Martin-Verfahren) bezeichnete. 20 Marx, K., Das Kapital, S. 12. Siehe zur Frage des »Nachholens« mit Blick auf die Moderne-Debatte jüngst Geyer. 21 Wedding, S. 478.

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der deutschen Branche auszugleichen und die Produktionskosten zu senken. An diesem Punkt erschien vor allem der hohe Mechanisierungsgrad der ­ S -Hüttenwerke beachtenswert, der auch Wedding besonders ins Auge stach: U »Es ist doch klar, dass man mit guten Einrichtungen billiger produciren kann, als mit schlechten.«22 Um im technischen Bereich überhaupt entscheiden zu können, was »gute« bzw. »bessere« Einrichtungen seien, stellte Wedding die bauliche Anordnung von Stahlwerken in den USA der deutschen gegenüber. Dazu musste er mit Blick auf sein Fachpublikum nicht unbedingt selbst vergleichen, sondern konnte von einem gemeinsamen Referenzrahmen ausgehen und Vergleichssignale senden, wenn er seinen Lesern die räumliche Struktur US -amerikanischer Bessemerwerke beschrieb. Wedding betonte dabei Unterschiede zur deutschen Bauweise, flocht Bewertungen über Vor- und Nachteile der US -Praxis ein und markierte beachtenswerte Aspekte.23 Vor allem, so schrieb er, »erscheint die Benutzung der mechanischen Laufkräne alle Aufmerksamkeit zu verdienen, obwohl kaum anzunehmen ist, dass ein einziger genügen werde, die vorkommenden Operationen zu bewältigen«24. In deutschen Werken kamen zu dieser Zeit neben einem auf dem Boden befestigten hydraulischen Kran für die Gießpfannen weitere Laufkräne (Blockkräne) für die Kokillen – Gießformen, in die der gefrischte Stahl zum Abtransport in die Hammer- und Walzwerke gegossen wurde – zum Einsatz. In den USA bediente hingegen oftmals ein mechanischer Laufkran das gesamte Werk: zum Beschicken der Birnen mit flüssigem Eisen aus den Kupolöfen und zum Überführen des gefrischten Stahls in die Gießformen.25 Weddings Absicht bestand darin, mit Hilfe seines Berichts von der deutschen Produktionspraxis

22 Ebd., S. 477. Während Wedding hier eine stärkere Orientierung am US-Modell anmahnte, brachte Mosler den Mechanisierungsgrad mit den weitaus höheren Lohnkosten in den USA in Verbindung, weshalb er auf Seiten deutscher Unternehmen noch keinen Handlungsdruck zu sehen schien, es der US-Industrie in dieser Hinsicht gleichzutun. Mosler, S. 320. 23 Wedding, S. 463. Vgl. zur Entwicklung der organisatorischen Raumstruktur moderner Stahlwerke: Wengenroth, Technologietransfer als multilateraler Austauschprozeß. 24 Wedding, S. 470. 25 Vgl. Abbildung und Beschreibungen in ebd., S. 469; vgl. dagegen die englische Bauweise in Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 66. Ein Kupolofen ist ein Schachtofen, der zum Schmelzen von Metallen (Roheisen und Schrott) eingesetzt wird und vor Erfindung des Roheisenmischers insbesondere bei der Beschickung der Stahlöfen und darüber hinaus bei der Herstellung von Gusseisen in den Gießereibetrieben von Bedeutung ist, weil er das Gießen unabhängig macht von den wesentlich größeren Hochöfen.

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

abweichende Aspekte aufzuzeigen und die deutsche Branche anzuregen, die eigenen Anlagen auf Basis seiner Vorschläge zu verbessern. Dies war allerdings nur teilweise erfolgreich. Zwar erwies sich die US -Entwicklung vom Schweißeisen (bzw. dem Puddelverfahren) hin zum Flussstahlverfahren im Sinne Weddings rückblickend wie erwähnt als »Fingerzeig« für die deutsche Industrie. Allerdings holte die deutsche Stahlproduktion keineswegs einfach den US -amerikanischen Weg nach. Es war in der Folge nicht das Bessemerverfahren, das den prägenden Durchbruch für die deutsche Industrie zur Massenstahlfabrikation markierte – schließlich war es wie dargelegt auf phosphorarmes Roheisen angewiesen. Die deutschen Erze hatten sich jedoch als zu phosphorhaltig erwiesen, und Versuche, das Bessemerverfahren so zu optimieren, dass sie dennoch verwendet werden konnten, hatten sich meist als Fehlschläge herausgestellt. Auch hatte sich Weddings oben erwähnte Hoffnung zerschlagen, dass die deutsche Branche günstiges US -amerikanisches Bessemerroheisen aus den USA beziehen könne. Hinzu kam, dass die von den Interessenverbänden der deutschen Eisen- und Stahlindustrie selbst forcierten Importzölle, die vom Reichtag im Sommer 1879 verabschiedet wurden, die Preise etwa für englisches Roheisen um 20 % erhöhten.26 Als regelrechter Glücksfall für die von dieser Innovation besonders profitierende deutsche Branche ergab sich, dass der Brite Sidney Gilchrist Thomas (1850–1885) im Laufe der späten 1870er Jahre eine Optimierung des Bessemerprozesses zur Verfahrensreife gebracht hatte, womit sich nun die phosphorreichen deutschen Erze verarbeiten ließen. Diese Entphosphorisierung im sogenannten Thomasverfahren wurde ebenfalls in einem birnenförmigen Konverter durchgeführt, der nun allerdings basisch ausgekleidet war, wodurch sich nun auch das deutsche Roheisen trotz des hohen Phosphorgehalts zu Stahl frischen ließ.27 Nach dem Ankauf der Generallizenz für das Thomasverfahren wurde am 22. September 1879 – und damit drei Jahre nach Weddings USA-Reise – die erste Thomascharge durch den Hoerder Verein

26 Bleidick, Zur Einführung, S. 52. 27 Vgl. zur Entwicklung des Verfahrens: Paulinyi, Vom Frischherd, S. 41–49. Das Thomasverfahren wurde von der britischen Expertenöffentlichkeit zunächst nicht als technologisch bedeutsame Verfahrensoptimierung anerkannt. So war etwa der Name des Verfahrens – im englischen »basic process« – nicht mit dem Namen des Erfinders verbunden, während es im Deutschen als »Thomasverfahren« bezeichnet wurde. Vgl. zum technischen Ablauf des Verfahrens: Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 35–37.

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und die Rheinischen Stahlwerke in Deutschland erblasen.28 Die deutschen Produzenten setzten fortan auf dieses basische Thomasverfahren, mit dem es der deutschen Industrie gelang, auf internationalen Märkten Fuß zu fassen. Damit konnte sie sich aus »dieser unseligen Rolle des ewigen Imitators«29 britischer Verfahren befreien und verfügte fortan über ein eigenständiges Profil als Produzent billigen Massenstahls. Im Jahr 1893 stieg die deutsche Branche überdies zum zweitgrößten Stahlproduzenten der Welt auf, nur noch übertroffen von jener US -Industrie, mit der sich die deutschen Produzenten primär zu messen begannen.30 Mit der erfolgreichen Etablierung der deutschen Stahlindustrie auf Basis des Thomasverfahrens dominierte laut dem Wirtschaftshistoriker Gottfried Plumpe fortan ein »mehr oder weniger kontinuierliche[r] Strom von unspektakulären Verbesserungen, das Sammeln von Erfahrungen und die Optimierung der Anlagenausrichtung«, die in dieser Zeit in den Hochofenund Stahlwerken »beträchtliche Leistungssteigerungen mit weitreichenden Wachstumseffekten« nach sich zogen.31 Allerdings erzeugten diese Effekte ihrerseits neue Probleme. Der Prozess des Wachstums der neuen Thomasstahlwerke generierte eine große Nachfrage nach geeignetem Roheisen und sorgte für eine »Überforderung der Hochofenindustrie«, die noch auf Roheisen für die Puddel- und Bessemerwerke eingestellt war.32 Auch hinsichtlich dieses Problemfelds blickten die deutschen Hochofenexperten in die Vereinigten Staaten. Allerdings hatte sich in den 1880er Jahren der Modus des Vergleichens gewandelt, und die deutschen Fachleute etablierten eine differenziertere

28 Vgl. zum Patent- und Lizenzverfahren: Bleidick, Zur Einführung. Auch wenn der patentgeschützte Technologietransfer nach Deutschland hier besonders bedeutsam wurde, waren deutsche Produzenten in Rheinland / Westfalen europaweit nicht die ersten, die das Verfahren erfolgreich adaptierten. Vgl. zur gesamteuropäischen Dimension die Beiträge in Rasch u. Maas. 29 Wengenroth, Deutscher Stahl, S. 198. 30 Ebd. Das Thomasverfahren ist aufgrund dieser gelungenen Profilbildung und der Exporterfolge auf den Weltmärkten fest im Geschichtsbewusstsein der deutschen Eisenund Stahlindustrie verankert: Bis in die heutige Zeit zeugen Jubiläumsschriften von diesem besonderen Status. Vgl. Bleidick, Zur Einführung, S. 50. Vgl. zu zeitgenössischen Leistungsvergleichen zwischen US-amerikanischen Bessemer- und deutschem Thomasverfahren: Daelen, Erzeugung von Flußeisen. Vgl. zu Leistungswettbewerben Kapitel 3 dieser Arbeit. 31 Plumpe, G., S. 180. 32 Ebd.

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

Vergleichspraxis. Zwar erklärten schon Wedding und Mosler in ihren Reiseberichten von 1876 manche Besonderheiten der US -Industrie mit außertechnischen Faktoren: die fortgeschrittene Mechanisierung etwa mit den höheren Löhnen, Produktionsleistungen mit der privilegierten Rohstofflage. Dies hielt insbesondere Wedding jedoch nicht davon ab, der deutschen Industrie zu empfehlen, der US -Industrie in technologischer Sicht nachzueifern.33 Der Reisebericht des Hochofenexperten Wilhelm Brügmann aus dem Jahr 1887 hingegen zeichnete sich durch eine differenziertere Sichtweise aus. Auch Brügmanns Interesse war zunächst von den US -amerikanischen Produktionserfolgen gelenkt. Er stellte fest, dass »neuerdings fast jede Nummer unserer Vereinszeitschrift Notizen über außergewöhnlich hohe Production [der US -amerikanischen Hochöfen; TM] bringt«. Daher sei es nicht verwunderlich, dass »die Vereinigten Staaten beginnen[,] immer mehr und mehr Aufmerksamkeit der technischen Welt zu erregen.« Davon ausgehend wollte er sich bei seiner Bewertung nicht von Produktionszahlen blenden lassen und brach daher zu einer dreiwöchigen Studienreise in die USA auf, um das bestehende Wissen über die US -Hochöfen in der deutschen Branche zu aktualisieren, die genauen Ursachen für diese quantitativen Erfolge zu ergründen und schließlich Nachahmungspotenziale herauszuarbeiten.34 Insbesondere die im Jahr 1890 durchgeführte Gruppenreise des VDEh in die Vereinigten Staaten verdeutlichte, dass sich deutsche Fachleute nun genauer mit den tiefergehenden Gründen für die unterschiedlichen Produktionszahlen zwischen deutscher und US -amerikanischer Industrie auseinandersetzten und damit die Rahmenbedingungen in den Fokus der Vergleichspraktiken rückten. In diesem Zuge thematisierten die deutschen Experten methodische Probleme des Vergleichens – das verbreitete Staunen der deutschen Fachleute bei ihren Amerikareisen gefährde ihre Urteilsfähigkeit, wie Friedrich Carl Glaser, Teil der deutschen Delegation und Herausgeber der nach ihm benannten Zeitschrift Glaser’s Annalen warnte: Was speziell in Amerika den Maßstab der Beurtheilung, besonders zu Anfang einer Rundreise, außerordentlich beeinflusst, das sind die von unseren europäischen so ungeheuer scharf sich abhebenden Verhältnisse. Hoch entwickelte Industrie- und Verkehrsleben berühren sich oft in einem

33 Vgl. hierzu genauer Kapitel 5.3 dieser Arbeit. 34 Brügmann, S. 108.

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unvermittelten Kontraste mit dem noch jungfräulichen Urzustande [der Natur; TM]. Eine Fülle der natürlichen Hülfsquellen [= Rohstoffe; TM] thut sich vor dem erstaunten Auge auf.35 Glaser kam ob seiner Reiseeindrücke zwar ebenfalls ins Schwärmen, problematisierte aber gleichzeitig den dadurch destabilisierten Bewertungsmaßstab und das daraus resultierende methodische Erkenntnisproblem bei Studienreisen in die USA . Den Besuchern kämen die menschlichen Vergleichsmaßstäbe abhanden, wie er in bildungsbürgerlicher Anspielung auf den HomoMensura-Satz des sophistischen Philosophen Protagoras schrieb:36 »Der natürliche Maßstab für alle uns umgebenden Dinge ist der Mensch. Fast möchte es beim ersten Anblicke der amerikanischen Maßstäbe scheinen, als wolle dieser Maßstab hier seine Dienste versagen.«37 Daher genügten einfache Vergleiche, wie sie Hermann Wedding einst anstellte, aus Sicht Glasers nicht länger, wenn es galt, die »in vielfacher Hinsicht« bedeutsamen Anregungen »zum Besten unserer vaterländischen Industrie zu verwerthen«.38 Dem »altbewährte[n] Grundsatz […] ›Prüfet Alles und wählet das Beste‹«39, dem sich die deutschen Fachleute bei dieser Reise selbst verschrieben hatten, konnte nach Auffassung Glasers mit einfachen Vergleichen, die die unterschiedlichen politökonomischen Produktionsbedingungen ausklammerten, nicht Genüge getan werden. Es half daher auch nicht, nur vorbildhafte Aspekte des US -amerikanischen Produktionssystems herauszuarbeiten. Stattdessen, so die neue Linie, mussten die unterschiedlichen Verhältnisse mit in die vergleichende Analyse eingeschlossen werden. Glaser mahnte mit Blick auf dieses methodische Problem »dringend vor Uebertragung der dort [in den USA; TM] bewährten Einrichtungen auf unsere Verhältnisse«40. Er warnte außerdem vor »einseitige[r] Bewunderung des Fremdartigen« und vor »falsche[r] Werthschätzung des Massenhaften und fast Unermeßlichen«41. Mit einem solchen Problembewusstsein ausgestattet, währte das Staunen zu Beginn einer US -Reise nur kurz. Nämlich lediglich so lange, 35 Glaser, S. 1. Hervorhebungen im Original. 36 »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.« Diels u. Kranz 80B1 = Platon, Theaitetos 152a. 37 Glaser, S. 2. Hervorhebung im Original. 38 Jüngst, S. 122. 39 O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 11. Januar 1891, S. 92. 40 Glaser, S. 32. 41 Ebd.

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

bis das überraschte Auge an die Eigenartigkeit der neuen Umgebung sich gewöhnt hat, und das Gefühl einer gewissen Befangenheit dem Bewusstsein weicht, daß die Verhältnisse, so wie sie in Amerika sich entwickelt haben, die naturgemäße, unausbleibliche Folge sind dessen, was das eigenartige Land dem Menschen auferlegte und abrang.42 Glaser betont damit einen Determinismus der Natur: Die ökonomischen und technischen Errungenschaften der USA beruhten demnach weniger auf menschlicher Leistung, sondern allein auf den natürlich gegebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Auf dieser erkenntnistheoretischen Basis sollte laut Glaser ein differenziertes Vergleichen zwischen den USA und Deutschland einsetzen, das auch die jeweiligen »Verhältnisse« mit einschloss. In dieser Weise solle dem Wahlspruch des preußischen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltkes »Erst wägen, dann wagen!« Genüge getan werden.43 Tatsächlich wurde die selektive Aneignung zum zentralen Ziel des Vergleichens in Reiseberichten und Analysen deutscher Hütteningenieure. So machte Brügmann die in den USA zu beobachtenden Versuche, die Handarbeit in Hochofenwerken weitgehend auszuschalten, als wichtigen Aspekt aus, der sich auf die deutschen Werke übertragen lasse.44 Hier identifizierte er die gelungenen Versuche in US -Hochofenwerken, die Begichtung der Hochöfen fast komplett maschinell zu bewerkstelligen – wodurch deutliche Produktivitätssteigerungen erzielt wurden. Diesen Aspekt setzten deutsche Fachleute schnell um und folgten beim Bau neuer Hochöfen Ende der 1880er Jahre sukzessive dem »amerikanischen Muster«: Die ehemals dampfbetriebenen Senkrechtaufzüge mit Handbegichtung wurden durch elektrisch betriebene Schrägaufzüge nach US -amerikanischem Vorbild ersetzt, die selbstentleerend waren und bei denen lediglich die Triebmaschinen gesteuert und beaufsichtigt werden mussten. Dadurch konnte, so zeigt ein Beispiel aus der Zeit, die Belegschaft von 228 auf 82 Arbeiter eines Hochofenwerks reduziert werden, wodurch die aufgrund der dort austretenden Gichtgase lebensgefährliche Arbeit auf der Gichtbühne entfiel.45 Außerdem machte 42 Ebd., S. 2. 43 Ebd., S. 32. Hervorhebungen im Original. Brauns, Die nordamerikanische und die deutsche Flussstahl-Erzeugung plädierte in Replik auf Hermann Weddings Vergleichspraktiken bereits im Jahr 1877 für eine komplexere Vergleichspraxis. 44 Brügmann, S. 112–116. 45 Kleinschmidt, »Amerikanischer Plan«, S. 371. Ein weiteres Beispiel war die Übernahme des US-amerikanischen Roheisenmischers. Diese erstmals 1890 eingesetzte Innovation erleichterte nicht nur die Produktion »in einer Hitze« durch die vereinfachte und

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Brügmann bei den Transporteinrichtungen zwischen den einzelnen Betrieben und Werksteilen Vorteile in der US -Praxis aus. Hierbei handelte es sich ebenfalls um mechanische Entladeeinrichtungen, die die Leistungsfähigkeit des Transports und damit auch der Hochöfen erhöhten.46 Immer wieder identifizierten deutsche Fachleute solche technischen und organisatorischen Aspekte, die sie für nachahmenswert erachteten  – sie stießen bei der Frage der Umsetzung jedoch immer wieder auf das Problem der unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Während also beispielsweise das genannte US -amerikanische Modell der mechanisierten Hochofenbegichtung übernommen wurde, blieben die großen Unterschiede zwischen deutschen und US -amerikanischen Transporteinrichtungen in gemischten Hüttenwerken hinsichtlich ihrer Ladekapazitäten bestehen.47 Die manuell entladbaren deutschen Eisenbahnwagen mit 10 bis 15 t Fassungsvermögen für Erz und Kohlen standen aus Sicht Bernhard Osanns im Jahr 1906 »den amerikanischen Selbstentladern mit 30 bis 50 t weit nach«.48 Osann schloss daraus: »Die großen amerikanischen Werke wären ganz undenkbar bei deutschen Eisenbahnwagen.«49 Es stellte sich für ihn jedoch nicht länger die Frage, ob die deutsche Branche diese Verladeeinrichtungen übernehmen sollte, sondern dieser explikatorische Vergleich sollte lediglich zeigen, wie groß die Unterschiede waren. Es hatte sich inzwischen die Lesart unter den deutschen Fachleuten durchgesetzt, dass es unmöglich war, in den Dimensionen der US -Branche zu produzieren. Routinemäßig enthielten ihre Berichte den Hinweis auf die »natürlichen Hilfsmittel« in den Vereinigten Staaten, womit insbesondere die Rohstoffe sowie der Binnenmarkt gemeint waren, über die die deutsche Branche nicht annähernd verfüge. Dieser Modus des differenzierten Vergleichens wurde jedoch immer wieder herausgefordert. Denn die deutschen Fachleute sahen sich in den USA mit ihren eigenen ökonomischen Wunschvorstellungen konfrontiert, die hier bereits verwirklicht waren. Sie wurden im Zuge ihrer Studienreisen in die schwerindustriellen Reviere der Vereinigten Staaten stets mit dem konfrontiert, was unter – aus ihrer Sicht – idealen kapitalistischen Bedingungen energieeffiziente Überführung des flüssigen und homogen durchmischten Roheisens zu den Stahlkonvertern, sondern vermochte auch die Chargenzahl in den Stahlwerken auf 72 in 24 Stunden zu erhöhen. Daelen, Fortschritte in den deutschen Stahl- und Walzwerken, S. 984. 46 Brügmann, S. 111 f. 47 Daelen, Fortschritte in den deutschen Stahl- und Walzwerken, S. 984 f. 48 Osann, S. 209. 49 Ebd.

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

technisch und ökonomisch möglich war. Der Bau der »Riesenwerke der Indiana Steel Co. in Gary«50, der in der deutschen Fachwelt ein großes Interesse auslöste, stand symbolisch für eine solche Wahrnehmung des Quantitativen und Allumfassenden, das den Deutschen das kapitalistisch Mögliche unter Idealbedingungen vor Augen führte. Das integrierte Hüttenwerk wurde zwischen 1908 und 1909 verkehrsgünstig am Lake Michigan, 40 km südlich von Chicago, gebaut, samt einer für die Belegschaft bestimmten Stadt. Dieses am Reißbrett geplante Vorhaben enormer Ausmaße löste Carnegies Edgar Thomson Steel Works and Blast Furnaces bei Pittsburgh in der Wahrnehmung der deutschen Fachleute ab, die von diesen zuvor »zu den großartigsten Werken auf dem ganzen Erdboden« gezählt wurden.51 Schon während des Baus der Gary Works deutete sich für Bruno Simmersbach an, dass die »neuen Werksanlagen […] das Großartigste an Leistungen darstellen« würden. Die schiere Größe und die umfassende Planung dieser »größten Hüttenanlage der Welt« auf dem Reißbrett machte sie zu einer »Musteranlage in technischem Sinne«: »Das Roheisen aus 16 Hochöfen wird direkt von den Walzwerken zu Schienen, Platten, Konstruktionseisen und Fertigeisen verarbeitet.«52 Jeder Hochofen sollte eine Tagesleistung von 450 t aufweisen. Diese insgesamt 7200 t Roheisen täglich summierten sich auf 216.000 t im Monat und 2,6 Millionen t im Jahr. Das Roheisen wurde in 56 Martinöfen, verteilt auf vier Stahlwerke, gefrischt. Ein Ofen fasste 60 t. In den Walzwerken sollten täglich 4000 t und im Monat 100.000 t Schienen und Knüppel gewalzt werden.53 Die Bedeutung des am 21. Dezember 1908 eingeweihten (aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggebauten) Werks gründete für Fritz Lürmann weniger auf technischen Details – in diesem Feld fand er kaum Bemerkenswertes, zu ähnlich hatten sich das deutsche und das US -amerikanische System der Hüttenproduktion entwickelt. Es waren vielmehr die Größe und der erfolgreich in die Tat umgesetzte »Entschluß, ein Stahlwerk zu erbauen, welches lediglich auf die Erzeugung von Herdofenstahl gerichtet ist«54. Darin spiegelte sich die recht abrupte Ablösung des Bessemerverfahrens durch das Siemens-Martin-Verfahren, was für Fritz Lürmann nicht weniger als »eine 50 Lürmann, Die Riesenwerke der Indiana Steel Co. I. 51 O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 21. December 1890, S. 17. 52 Simmersbach, Die Eisen- und Stahlindustrie, S. 429. 53 Lürmann, Die Riesenwerke der Indiana Steel Co. I, S. 233. 54 Ebd., S. 233 f.

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neue Epoche für die Herstellung von Stahl« bedeutete und einmal mehr die Rolle der US -Industrie als Zukunftsfolie bestätigte.55 Vor allem aber war es andererseits die Möglichkeit einer allumfassenden Planung, die den Ingenieur und mit ihm die »technische Welt« faszinierte: Den ausführenden Ingenieuren standen fast unbegrenzte Geldmittel, weitgehende Bewegungsfreiheit in der Auswahl des zweckmäßigsten Bauplatzes, die Kenntnis der größten Erfolge und ausgedehnte Erfahrung der Betriebe der Hüttenwerke neben einem bestorganisierten Zeichenbureau zur Verfügung. Keines der Werke der alten und der neuen Welt ist so aus dem Vollen, nach einem so weit angelegten Plane entstanden. Alle vorhandenen Werke haben mehr oder minder bescheidene, nicht so planmäßige, einheitliche Anfänge gehabt.56 Lürmanns Bericht ist eine einzige atemlose Leistungsschau aus Zahlen, Bildern und Konstruktionsskizzen der Aggregate und Werksanlagen. Das Werk erschien ihm schon aufgrund der Ballung der Anlagen und der allumfassenden Planung aufeinander abgestimmter Produktionsstufen einzigartig. Hinzu kam, dass es sozial in eine eigens gebaute Stadt eingebettet war, die um das Werk herum errichtet wurde. Das Werk kam Lürmann wie ein sich selbst tragender, perfekt aufeinander abgestimmter ökonomischer Mikrokosmos vor, ein »Amerika« in Miniaturform, das den technologischen Fortschritt in verdichteter Weise verkörperte. Auch wenn aus Lürmanns Bericht ausdrücklich Bewunderung spricht, so empfahl er, anders als Wedding 30 Jahre zuvor, keineswegs, die US -amerikanische Produktionskultur zu übernehmen. Die Vergleichsergebnisse hatten inzwischen gezeigt, dass eine Übernahme aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse nicht sinnvoll war. Die deutschen Fachleute bezogen in ihrer konkurrenzförmigen Vergleichspraxis seit der Zeit um die Jahrhundertwende stärker die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein – die Vergleichspraktiken waren nun komplexer. 55 Ebd., S. 233. Bezeichnend dafür, wie zentral die US-Industrie in der deutschen Wahrnehmung war, ist, dass das Herdfrischverfahren bereits seit 1894 das dominante Verfahren britischer Hüttenwerke war und die »neue Epoche« aus Sicht Lürmanns erst mit der weitaus späteren Übernahme durch die US-Branche anbrach, was erneut die Vorbildfunktion und die starke Orientierung an den Vereinigten Staaten belegt. Vgl. zum Siemens-Martin-Verfahren in England: Wengenroth, Unternehmensstrategien in Deutschland, S. 310 f. 56 Lürmann, Die Riesenwerke der Indiana Steel Co. I, S. 233 f.

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

Die durch die fortlaufenden Vergleichsbemühungen immer wieder erneuerte Angleichung der deutschen an die US -amerikanische Industrie verschob im Zusammenspiel mit den Produktionsstatistiken der US -Werke dennoch dauerhaft die Bedürfnisse der deutschen Fachleute. Dies geschah obwohl oder gerade, weil das, was sie in den USA sahen, in Deutschland zwar, wie sie selbst feststellten, einerseits objektiv nicht möglich war. Andererseits führte das Vergleichen mit der US -Industrie jedoch den deutschen Fachleuten immer wieder die Möglichkeiten einer Massenproduktion im großen Maßstab vor Augen. Dabei entsprach dieser in den USA bereits verwirklichten Zustand den eigenen ökonomischen Wunschvorstellungen. Somit verstärkten die fortdauernden Vergleiche der deutschen mit der US -amerikanischen Industrie eine einseitige Orientierung an quantitativen Produktionsparametern, die sich etwa auch in der statistischen Praxis spiegelte.57 Dieses Vergleichen bzw. Angleichen ging einher mit den aggressiven Wettbewerbsstrategien der deutschen Industrie. Tatsächlich war die deutsche Branche schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs unter dem »Schutz des Systems von ›Kartellen, Zoll und Exportventil‹ […] in ein für die Expansionsfähigkeit des Binnenmarktes völlig überdimensioniertes Volumen hineingewachsen«58. Dabei bewegten sich die beiden Industrien technisch und betriebsorganisatorisch durchaus auf einem ähnlichen Niveau.59 Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern die Vergleichspraktiken deutscher Fachleute und die daraus resultierende selektive Orientierung an der US -Hüttenindustrie die Entfremdung von Marktgesichtspunkten verschärfte.60 Der Erste Weltkrieg markierte den Wandel der deutschen Eisen- und Stahlindustrie zu einer strukturellen Krisenbranche – eine Entwicklung, die auch nach der Umstellung von der Kriegs- zur Friedensproduktion anhielt. Während die »Scheinkonjunktur« mit ihren durch die Hyperinflation bedingten niedrigen Preisen für deutsche Eisen- und Stahlprodukte manche absatzspezifischen Probleme bis 1924 überdecken konnte, sorgte die darauffolgende »Stabilisierungskrise« dafür, dass die deutsche Branche wieder auf die Krisenlösungsstrategien der Vorkriegszeit zurückgriff.61 Während Abschottung und Kontrolle des Binnenmarktes gelangen, konnte die etablierte Strategie des »Exportventils« aufgrund der scharfen Weltmarktkonkurrenz 57 58 59 60 61

Vgl. hierzu Kapitel 3 dieser Arbeit. Kleinschmidt u. Welskopp, Zu viel »Scale«, S. 287. Ebd., S. 259. Vgl. hierzu genauer Kapitel 3.1 dieser Arbeit. Vgl. zur Inflationszeit: Peukert, S. 71–76.

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nicht die aus der Vorkriegszeit bekannte Wirkung entfalten.62 Die Indus­ triellen der deutschen Eisen- und Stahlindustrie fanden sich nach 1918 in einer deutlich verschlechterten Situation wieder: Rohstoffe, Märkte, Patente und Direktinvestitionen waren ebenso verloren wie die technologische Führung, die man in manchen Bereichen der Eisen- und Stahlproduktion erlangt hatte. Hinzu kam die Angst der deutschen Unternehmer vor dem Sozialismus, die sich in der Ablehnung jeglicher Betriebsdemokratie, des Weimarer Sozialstaats sowie in weiten Teilen des Parlamentarismus insgesamt äußerte. In dieser Situation kam es zu einem positiven Rückbezug auf die – aus Sicht vieler Branchenvertreter  – goldenen Jahre des Kaiserreichs.63 Diachrones Vergleichen der ökonomisch überaus negativ betrachteten Gegenwart mit der (vermeintlich) glorreichen eigenen Vergangenheit war die präferierte Strategie, um die allgemeine ökonomische Krise sowie die branchenspezifische Absatz- und Rentabilitätskrise auf eine verfehlte staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik zu schieben und entlang dieser Deutung die Interessenpolitik gegen den Weimarer Sozialstaat auszurichten.64 Diese Entwicklungen wirkten sich auf den vergleichenden Blick der deutschen Fachleute auf »Amerika« aus. Ausgehend von einer solchen neu ausgerichteten Selbstverortung und -deutung der deutschen Branche in einer ökonomisch und sozial krisenhaften Situation blickten die deutschen Fachleute Mitte der 1920er Jahre verstärkt auf die wirtschaftlich prosperierenden Vereinigten Staaten. Deutsche Unternehmen hofften dabei zunächst vor allem auf US -amerikanische Kapitalanleihen.65 Insbesondere die Mitte der 1920er Jahre einsetzende Reisewelle deutscher Fachleute verdeutlicht die nochmals gestiegene Bedeutung der US -Industrie als Leitbild. Hinsichtlich der in den 1920er Jahren viel diskutierten technischen und organisatorischen Rationalisierung war die US -Branche nach dem Ersten Weltkrieg zum Maßstab geworden. In diesem Bereich suchten deutsche Hüttenmänner Orientierung.66 Vergleichspraktiken waren ein Mittel, um zunächst Rationalisierungspotenziale 62 Kleinschmidt u. Welskopp, Zu viel »Scale«, S. 287. 63 Wengenroth, Germany: Competition abroad, S. 151–155; siehe diese schwerindustrielle Position pointiert in der Ansprache Albert Vöglers vor der Hauptversammlung des VDEh im November 1925 in o. V., Bericht über die Hauptversammlung, S. 2081–2085. Vgl. zu Paul Reusch: Marx, C., Paul Reusch: Ein politischer Unternehmer, S. 278–289. 64 Vgl. hierzu weiterhin Weisbrod. 65 Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 85. 66 Vgl. allgemein zu dieser Reisewelle deutscher Wirtschaftsvertreter in die USA in den 1920er Jahren: Nolan, S. 17–29. Für deutsche Hütteningenieure: Kleinschmidt u. Wels­ kopp, Amerika aus deutscher Perspektive.

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ermitteln zu können. Die deutschen Unternehmen griffen hier nun verstärkt zu direkten Betriebsvergleichen.67 Beim umfassenden Vergleichen zwischen den integrierten Hüttenwerken der August-Thyssen-Hütte (ATH) mit den Gary-Werken im Jahr 1927 wurden die Werksanlagen und die Produktionszahlen gegenübergestellt und anschließend auch die »Leutezahlen« an den Anlagen und die Kopfleistungen jeweils miteinander verglichen. Die Parameter zur reinen Produktion fungierten eher als Kontext und wurden nicht weiter kommentiert, während der Fokus auf Leutezahl und Kopfleistung und damit auf der Produktivität lag. Hier wurden die Leistungen der Gary Works als 100 % gesetzt und mit der teils deutlich niedrigeren Produktionsleistung der ATH verglichen (bei den Hochöfen erreichte die ATH bspw. nur 53 % der Leistung der Gary-Werke). In diesem Bereich wurde nun der Ansatzpunkt für eine betriebliche Veränderung entlang der U ­ S -amerikanischen Vergleichsfolie gesehen. Für die Leutezahl in der Maschinenabteilung, die anteilsmäßig um zehn Prozent höher lag als im Vergleich zum US -amerikanischen Werk, wurde festgehalten: »Unsere Maschinenabteilung ist also im Vergleich zu der amerikanischen zu groß.«68 Neben der Einsparung von Arbeitskräften drückten deutsche Branchen­vertreter, beispielsweise der Vorsitzende des Vereins Deutscher Eisengießereien, Siegfried G. Werner, angesichts US -amerikanischer Rationalisierungserfolge immer wieder den Wunsch aus, »eine wesentliche Steigerung der Arbeitsleistung zu erreichen«69. Insbesondere die vollmechanisierten und kontinuierlichen ­US -amerikanischen Walzwerke betrachteten deutsche Fachleute in den 1920er Jahren ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Effizienzsteigerung, während man unmittelbar vor dem Krieg eine Übernahme mit Hinweis auf unterschiedliche Produktions- und Absatzbedingungen zurückwies.70 Inzwischen jedoch, so Georg Bulle 1925 im Walzwerksausschuss des VDEh, könne die deutsche Industrie »von den 67 Gleiches ist von US-amerikanischer Seite zu beobachten: Hier ging es darum, möglichen Geldgebern mit Hilfe von Vergleichen mit dem US-Maßstab zu zeigen, dass die deutsche Branche technisch und organisatorisch ähnlich aufgestellt war wie die US-amerikanische. 68 TkA A/553, Vergleich zwischen der August-Thyssen-Hütte und den Gary Works, 1.7.1927, S. 5 f. 69 Werner, S.1682. 70 Die US-Walzwerkstechnik war ein Faszinosum deutscher Fachleute, wofür eine Fülle an Berichten sprach: Vgl. Schnell; Spannagel. Trotz aller technischen Begeisterung wurde die Frage der Vorbildhaftigkeit zu dieser Zeit jedoch mit Verweis auf die so unterschiedlichen Produktions- und Absatzbedingungen zurückgewiesen, die »für einen Vergleich mit unseren Verhältnissen in allererster Linie Berücksichtigung finden« müssten, wie Puppe, S. 2124.

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amerikanischen Walzwerkserfahrungen lernen, daß es möglich ist, mit wenig Leuten hohe Leistungen zu erreichen«. Er war sich sicher: »Viele der dortigen Voraussetzungen zu diesem Erfolg vermögen wir nachzuahmen.«71 In der an Bulles Vortrag über seine »Reiseerfahrungen in amerikanischen Walzwerken« anschließenden Diskussion formulierte der Vorsitzende des Ausschusses, Raabe: »Es bleibt uns eben nur eins übrig: die Verbesserung. Wir müssen jede Anregung, die wir bekommen, aufgreifen, um zu billigen Selbstkosten zu kommen.« Auch mit Hilfe von US -Anleihen sollten die eigenen »Werke so neuzeitlich wie nur möglich« ausgebaut werden.72 Solche Betriebs- und Anlagenvergleiche zeigten auf, wo im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen angesetzt werden konnte, um Arbeitskräfte einzusparen und Selbstkosten zu senken. Nicht nur ging es darum, wettbewerbsfähiger zu werden, sondern auch darum, die in der Weimarer Republik verloren geglaubte unternehmerische Handlungsautonomie wieder herzustellen: Staatliche Eingriffe (Nachfrageregulierung, Kohlezuweisung), Sozialisierungsdrohungen, Streiks, schlechte Transportverhältnisse und die Demobilmachungsverordnung beeinträchtigten den unternehmerischen Erwartungshorizont nach dem Ersten Weltkrieg ebenso wie die betriebsdemokratische Neuordnung der Arbeitsbeziehungen.73 Wenn es um die konkrete Umsetzung auf technischem und organisatorischem Gebiet ging, blieb die selektive Aneignung als bestimmendes Muster der Vergleichspraxis deutscher Fachleute bestehen. Nun wurde allerdings versucht, das Beste aus beiden Industrien miteinander zu verbinden. Mit Blick auf gemischte und vollintegrierte Hüttenwerke rückte hierbei insbesondere die Wärmewirtschaft als Aktionsfeld ins Zentrum dieser deutschen Anpassungsbemühungen. Die Rationalisierung nach US -amerikanischem Vorbild sollte über einen »deutschen Weg« der Eisen- und Stahlindustrie beschritten werden. Auf diese Weise sollte die internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder hergestellt werden, indem man der schwierigen technischen und organisatorischen Lage der deutschen Industrie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Rechnung tragen wollte.74 Diese Maßnahmen zielten vor 71 Bulle, S. 10. Vgl. zu Transferprozessen der Walzwerkstechnik aus den USA nach Europa seit den 1920er Jahren: Ranieri u. Aylen. 72 Bulle, S. 10. 73 Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 101–115. Siehe auch Kapitel 6.2 dieser Arbeit zur Rolle von Vergleichspraktiken im Rahmen sozialer Rationalisierung. 74 Ein solcher »deutscher Weg« wurde zeitgenössisch wie folgt definiert: »Schaffung gemischter Betriebe, die Steigerung der Leistungsfähigkeit der Anlagen, die vorbildliche

Die US-amerikanische Produktionstechnik und -kultur

allem auf die technische Optimierung der rohstoffwirtschaftlichen Effizienz von Produktionsabläufen im Kleinen, beispielsweise im Bereich der Wärmeund Gaswirtschaft oder in der Weiterentwicklung integrierter Hüttenwerke. In Kapitel 5.2 dieser Studie wird auf die Rolle der Rohstoff- und Wärmewirtschaft innerhalb der Vergleichspraxis deutscher Fachleute noch genauer eingegangen. An dieser Stelle ist im Anschluss an Christian Kleinschmidt zu betonen: »Der ›deutsche Weg‹ der Sparwirtschaft und der ›amerikanische Plan‹ einer beschleunigten Produktion ergänzten sich und schufen auf technischem Gebiet die Voraussetzungen für den Wiederaufstieg der deutschen Eisen- und Stahlindustrie.«75 Es wurde gezeigt, so lässt sich abschließend festhalten, dass die US -Hüttenindustrie in den Reiseberichten und Analysen deutscher Fachleute als Vergleichsfolie diente, um die eigenen Handlungen am technologisch und organisatorisch als vorbildhaft empfundenen US -Modell zu orientieren, die Branche intern zu mobilisieren, es der US -Industrie gleichzutun oder selektiv technologisch Vorbildliches anzupassen. Während Hermann Wedding die USA noch als vorweggenommene eigene technische Zukunft sah und eine unkritische Übernahme des US -Modells empfahl, entwickelte sich eine komplexere Praxis, die nun auch wirtschaftliche Rahmenbedingungen mit einschloss. Die US -Hüttenindustrie blieb vorbildhaft – unter den Bedingungen der 1920er Jahre nun vor allem im Bereich technischer Rationalisierung. Statt einer einfachen Übernahme des US -Modells mussten einzelne Aspekte an einen »deutschen Weg« angepasst werden. Vergleichspraktiken fungierten dabei als Selektionsmechanismus, um Vorbildhaftes von Nachteiligem zu unterscheiden. Effizienz- und Produktionssteigerungen blieben jedoch die zentralen Orientierungspunkte, wodurch quantitative Parameter die Vergleichspraktiken der deutschen Hüttenfachleute dominierten – und wiederum das Absatzproblem der Branche verschärften.76

Wärmewirtschaft, die technische Ausrüstung der Betriebe, die Verwertung der Nebenerzeugnisse, die Verbilligung des Rohstoffbezuges, die vielseitige Kostenersparnis … [,] um den Bestand der deutschen Hüttenwerke zu sichern und den fremden Wettbewerb einzuholen«. Verein deutscher Eisenhüttenleute, S. 403, zitiert aus Kleinschmidt, »Amerikanischer Plan«, S. 358. 75 Ebd., S. 374. 76 Vgl. zum Problem der einseitigen Orientierung am US-Schnellbetrieb Kapitel 5.3 dieser Arbeit.

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5.2

Selbstbestätigung: Leistungsbewertung im »Spiegel« Amerikas

Wie gesehen betonten deutsche Fachleute in ihren Reiseberichten und Analysen die besseren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den USA . Im Zuge ihrer Studienreisen und Analysen hatte sich aus Sicht deutscher Fachleute gezeigt, dass es nur in einem begrenzten Maße möglich war, die US -amerikanische Produktionskultur zu übernehmen, da die Branche unter günstigeren Bedingungen arbeiten konnte. Das Vergleichen hatte aber noch eine andere Funktion: Die »Nutzanwendung dieses Vergleichs auf unsere deutschen Verhältnisse«77 bestand nicht zuletzt darin, die eigene Leistung auf der Ebene der Produktionskultur bewerten zu können. Dies geschah, indem die deutschen Experten die Vergleichshinsichten unterschiedlich gewichteten. So zeigte sich für den Hochofenexperten Gustav Klüpfel, dass »der deutsche Hochofen keinesfalls schlechter, in einiger Hinsicht sogar besser arbeitet als der englische«78. Insofern konnte der Vergleich mit der direkten Konkurrenz selbstbestätigend wirken. Für Friedrich Carl Glaser diente die Gruppenreise des VDEh in die Vereinigten Staaten dazu, »der heimischen Technik und Industrie in dem Bilde des wirtschaftlichen Gegners einen Spiegel des eigenen Bildes« zu liefern.79 Die vergleichende Beobachtung der Konkurrenz fungierte als ökonomische »Strategie der Selbstbestätigung« (Niklas Luhmann).80 Die deutsche Industrie wollte sich der Richtigkeit des eigenen Handelns im Spiegel Amerikas vergewissern. Ein Muster bestand darin, die Vergleichshinsicht der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu diesem Zweck abermals zu betonen. Die US -amerikanische Industrie arbeite demnach unter sehr privilegierten Bedingungen. In dieser Weise konnte die Leistung deutscher Werke aufgewertet werden, die schließlich ohne die »natürlichen Hilfsmittel« auskommen mussten, über die die US -Werke verfügten. Auch wenn man die US -Amerikaner und ihre Leistungen und Möglichkeiten bewundere, bleibe aus Sicht eines deutschen Fachmanns festzuhalten: »[D]ie Natur hat mit offener Hand ihre Schätze von Erzen und Kohlen über sie [die USA; TM] ausgeschüttet, und sie haben die

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Klüpfel, S. 662. Ebd. Hervorhebungen im Original. Glaser, S. 1. Luhmann, Der Markt als innere Umwelt, S. 109 hatte in diesem Zusammenhang vor allem Werbung oder Trademarks, im Blick, die »als ein Substitut für Kenntnisse über Konsumbereitschaften dienen«. Vgl. hierzu auch Kapitel 4.3 dieser Arbeit.

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reichen Sorten Erz zur Verfügung, während wir uns mit denen zu behelfen haben, welche wir erreichbar finden.«81 Der Hochofenexperte Fritz Lürmann versuchte, diese allgemeinen Beobachtungen auch konkret an den Betriebsresultaten einzelner Hochöfen festzumachen und die reinen US -Produktionszahlen, die üblicherweise in Form von Statistiken in den Fachzeitschriften zirkulierten, zu relativieren: Die von den Hüttenleuten der ganzen Welt bestaunten wirklichen Erzeugungen der amerikanischen Hochöfen bis zu 500 t wurden in erster Linie ermöglicht durch die vorzügliche Beschaffenheit der denselben zur Verfügung stehenden Rohmaterialien, den besten Koks der Welt und die stück- und eisenreichen Erze der Oberen Seen. Sein im Jahr 1902 durchgeführter direkter Vergleich der Produktion von täglich 500 t Roheisen eines US -amerikanischen mit einem Hochofen der Rheinischen Stahlwerke AG zeigte Lürmann, dass im deutschen Ofen 320 t mehr Beschickung durchgeschmolzen wurde. Das entsprach einem Plus von 22,45 % gegenüber den US -Hochöfen. Daraus schloss er: »Die Leistung eines Hochofens aber ist nicht nach der Erzeugung an Roheisen, sondern nach der Menge der durchgeschmolzenen Materialien und nach der Art derselben zu beurtheilen.«82 Der in den USA verwendete Koks sei zwar von besserer Qualität, und die Beschickung des niederrheinischen Hochofens sei als schwerer schmelzbar zu bezeichnen: »[T]rotzdem setzt man auf 100 kg von diesem Koks 238 kg Beschickung, während man in Nordamerika meistens nur 24,5 kg einer viel gutartigeren Beschickung auf 100 kg Koks setzt.« Lürmann zeigte hier, dass die US -Hochöfen bei der sogenannten »Ausbringung« (dem Endresultat des Verhüttungsprozesses) allein aufgrund des besseren Kokses im Vorteil waren und sich allein daraus die Unterschiede der Produktionszahlen ableiten ließen.83 Somit ersetzte er die Ausstoßzahlen als üblichen Bewertungsmaßstab der Produktionsleistung durch das eingesetzte Material. In dieser Hinsicht erschienen die deutschen Öfen leistungsstärker, weil sie mit weniger reichhaltigen Rohstoffen auskommen mussten.

81 Diskussionsbeitrag Direktor Thielen, in: Gayley, S. 1017, zitiert nach: Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 78. 82 Lürmann, Die Fortschritte in der Eisen- und Stahlindustrie, S. 1245. 83 Ebd., S. 1246.

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Ähnlich verfuhr auch der Hütteningenieur Wilhelm Brügmann Ende der 1880er Jahre, als die Produktionsrekorde US -amerikanischer Hochofen- und Stahlwerke die Fachwelt beeindruckten. Brügmann betonte, dass die statistischen Berichte, die von Produktionsrekorden US -amerikanischer Hochöfen kündeten, sich meist auf einmalig erreichte Höchstleistungen bezögen. Er schätzte Tagesleistungen von 130 bis 150 t; auch Produktionen von 190 bis weit über 200 t waren »regelmäßig im Jahresdurchschnitt« von den dortigen Hochöfen erreicht worden  – jedoch nicht die in den Berichten jener Zeit oftmals genannten 500 t. Um Aussagen über die US -amerikanischen (und damit einhergehend die deutschen) Hochofenwerke treffen zu können, griff Brügmann auf die Zahlen des österreichischen Hüttenmanns Paul Kupelwieser aus dem Jahr 1877 zurück.84 Davon ausgehend vollzog er einen »auf verschiedenen Werken ausgeführte[n] Vergleich des Lohntabellenauszuges eines deutschen Werkes mit den amerikanischen Zahlen«. Hierbei habe sich die Vermutung bestätigt, »daß die Leistung der deutschen Arbeiter, auf den Kopf gerechnet, mindestens ebenso hoch wie die der Amerikaner war.« Eher ungünstig beeinflussten dabei noch die hohen Fluktuationszahlen US -amerikanischer Arbeiter die Leistung des Einzelnen.85 Inwiefern diese Vergleichsmethode mit über zehn Jahre alten Zahlen stichhaltig war, war dabei nicht entscheidend. Brügmanns Vergleichspraktiken waren vom Interesse der Selbstbestätigung geleitet; sie relativierten die in den statistischen Mitteilungen auf den ersten Blick so aufsehenerregenden Produktionsleistungen, indem er den Bewertungsmaßstab auf die Pro-Kopf-Arbeitsleistung verschob. Neben der Rohstoff- und Energiefrage als Vergleichshinsicht wendeten die deutschen Fachleute zunehmend das tertium der Größe des Binnenmarktes als natürlichen und damit unabänderlichen US -amerikanischen Wettbewerbsvorteil an. Auch hier boten sich Möglichkeiten, die eigenen Leistungen aufzuwerten. Die »gewaltigen Bedürfnisse«, für die der US -Binnenmarkt stehe, beruhten schließlich, so Emil Schrödter im Jahr 1902, schlichtweg auf der Größe des Landes. Schließlich seien die USA hinsichtlich der Landesfläche fast 17 mal größer als das Deutsche Reich, während bei der Einwohnerzahl 77 Millionen in den USA lediglich 56 Millionen in Deutschland gegenüberstünden.86 Die Erzeugungsziffern wurden anschließend mit dem Bau der Eisenbahn verknüpft. Die Weite des Landes und die damit verbundene 84 Brügmann, S. 116. 85 Ebd., S. 117. 86 Schrödter, Die neuere Entwicklung, S. 303.

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Länge der Verkehrswege hätten den Amerikanern »erst die Möglichkeit für die Fortschritte auf dem Gebiet der Eisen- und Stahlerzeugung« geliefert: Die Amerikaner haben darin Großes geleistet. Ihr Schienennetz besaß Schluß 1889 eine Länge von 285.000 km, d. i. 45 % sämmtlicher Eisenbahnen der Erde, und hat in den 5 letzten Jahren um 60.000 km, also etwa um das 1 1/2 fache der Bahnen Deutschlands zugenommen. Die Vereinigten Staaten verausgabten für ihre Eisenbahnen mehr als Großbritannien, Deutschland und Frankreich zusammen.87 Das Schienennetz der Vereinigten Staaten war so groß, dass sich ein nationaler Gesamtvergleich verbot und sich stattdessen das deutsche Netz allein mit dem der US -Ostküstenstaaten vergleichen ließ.88 Aus dieser Differenz hinsichtlich des Schienennetzes, das den Binnenmarkt symbolisierte, schloss Joseph Schlink: Diese Entwicklung »auf die hiesigen [deutschen; TM] zu übertragen, ist ganz unmöglich, uns fehlen die Erze dafür und der Absatz der fertigen Waaren. […] Könnten wir gleich unbekümmert los blasen, hätten wir Lake Superiorerze, […] so würden unsere Hochöfen auch hohe Gestehungszahlen aufweisen.«89 Hinzu kam die unterschiedliche Ausrichtung hinsichtlich der deutschen und der US -amerikanischen Absatzstrategien: Die deutsche Branche könne sich nicht allein auf einfache und gleichförmige Massenprodukte wie Schienen einstellen. Die Nachfrage nach Eisenbahnschienen »in solcher Ausdehnung, wie sie der Bedarf in Amerika bedingt, [gehört] hier zu Lande [in Deutschland; TM] zu den unbekannten Größen«, so Reiner Daelen.90 87 Schlink, Ueber Roheisenerzeugung im Norden, S. 12. 88 In seinem Vortrag »Ueber amerikanisches Eisenbahnwesen« vor dem VDEh sagt ein Herr Macco: »Ein Vergleich mit dortigen und deutschen Bahnen ist eigentlich nur möglich, wenn man dies lediglich mit denjenigen der östlichen Staaten und der großen Städte ausführt, da hier die Verhältnisse in Bezug auf die Dichtigkeit der Bevölkerung und die den Bahnen gestellten Aufgaben am ähnlichsten liegen.« Macco, S. 114. 89 Schlink, Ueber Roheisenerzeugung im Norden, S. 18; vgl. ganz ähnlich argumentierend: Jüngst, S. 127: »Diesen Material-Verhältnissen entsprechend, bieten die ausgedehnten Landstrecken Nordamerikas ein sehr ergiebiges Feld zur Verwendung von Eisenbahnschienen, so wie die hoch entwickelte Industrie des Landes einen dauernden, kaum zu befriedigenden Bedarf der verschiedensten Sorten von Frischeisen und Stahl aufzuweisen hat. In Folge dessen hat sich in den Ver. Staaten die Eisen-Industrie zu einer staunenswerthen Höhe entwickelt und eine fast unglaubliche Grossartigkeit der Production erlangt.« 90 Daelen, Erzeugung von Flußeisen, S. 93.

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Vor dem Hintergrund von Vorstellungen eines Determinismus der Natur versuchten einige deutsche Fachleute nicht zuletzt auch nationale Eigenschaften im Bereich der Wirtschaftsweise abzuleiten.91 Für Friedrich Glaser war es vor allem die »Frontier«-Erfahrung der Amerikaner, die für die erstaunliche technische Entwicklung in »Industrie und Verkehrswesen« verantwortlich war. Er führte als Argumente hierfür den Kampf gegen die Ureinwohner und die »fessellosen Naturkräfte« sowie die verkehrstechnisch zu überwindenden großen Entfernungen, die breiten Flüsse und die hohen Gebirge an.92 In dieser Weise erklärte Carl Jüngst die weit weniger als in Europa ausgebildete Sparsamkeit im Bereich des Rohstoffverbrauchs. So dürfe man sich nicht wundern, »wenn wir [in den USA; TM] in Bezug auf die Verwertung der Bodenschätze nicht überall die Sparsamkeit gefunden haben, an welche wir uns gedrängt durch die schwächeren Mittel, mit welchen wir rechnen müssen, gewöhnt haben«93. Für die deutschen Fachleute war die daraus resultierende »[g]eringe Sparsamkeit in Verwendung der Materialien« ein wichtiger Grundsatz der US -amerikanischen Hüttenproduktion – während man sich selbst in deren Spiegel als nachhaltig wirtschaftende Industrie stilisieren konnte.94 Diese deterministische Sichtweise war auch offen für antiamerikanische Ressentiments. Die Naturschätze der USA führten demnach zu jener »rastlosen« und »leichtlebigen« Art zu leben, die »den« Amerikaner auszeichne. In dem Moment, wo die reichen Quellen der Bodenschätze erschöpft seien, werde sich der »Schein« des Erfolgs offenbaren, der allein auf der »Einbildungskraft des leichtlebigen Yankee’s« beruhe, wie Christian Mosler bereits

91 In manchen Teilen der Wirtschaftsgeschichte wird die Sichtweise (freilich ohne die im Folgenden thematisierten kulturkritischen Konnotationen), dass die »Ungleichheiten der Natur« jeweils entscheidenden Einfluss auf die ökonomische und industrielle Entwicklung haben, ebenfalls aufrechterhalten. So macht Landes, S. 3–16 die »Ungleichheiten der Natur« als entscheidenden Faktor für »Wohlstand und Armut der Nationen« aus. 92 Glaser, S. 2. 93 Brauns, Allgemeine Mittheilungen, S. 91. 94 Jüngst, S. 127. Die fünf weiteren damit eng verknüpften »Grundsätze«, die Jüngst identifizierte, lauteten: »1. Verfolgen der Fabrikation bestimmter Artikel (Specialität). 2. Grossartigkeit der Anlagen. 3. Streben nach Vervollkommnung der Betriebsvorrichtung ohne Rücksicht auf die Kosten. 4. Zurückführung der Menschenkraft auf das geringste Maass, Ersetzen derselben durch mechanische Vorrichtungen. 5. Rücksichtslose Ausnützung der Menschen- und Maschinenkraft.« Ebd.

Selbstbestätigung: Leistungsbewertung im »Spiegel« Amerikas

im Jahr 1876 schrieb.95 Für Karl Lent waren die US -Amerikaner auch Mitte der 1920er Jahre »zu werten als glückliche Kinder, die in einem schon allerdings halbzerstörten Paradiese leben«96. Hier mischte sich die alte europäische Lesart der USA als vorzivilisatorische Utopie mit derjenigen einer vorgeblichrücksichtslosen Ausbeutung der Natur durch den US -amerikanischen Kapitalismus. In diesem Zusammenhang heißt es bei Arthur Tix und Heinrich Büning im Jahr 1937: Alles, was dort durch die vorhandenen Bodenschätze des Landes und seines großen Eigenbedarfes dem amerikanischen Industrieführer leicht gemacht wird, muß bei uns schwer und mühsam erarbeitet werden und erfordert den Einsatz aller bis zum Letzten. In diesem freudigen Einsatz liegt auch unsere Stärke, die uns die Gewähr gibt, daß wir den fehlenden natürlichen Reichtum unseres Landes ausgleichen werden. Was unserer Heimat die Natur vorenthalten hat, muß und wird der deutsche Geist und deutscher Fleiß ersetzen und so den natürlichen Ausgleich schaffen.97 Die Produktionsleistungen der US -Industrie wurden in solchen indirekten Vergleichen quasi als Schenkung der Natur dargestellt, während die Leistung der deutschen »Kultur« und des deutschen »Geistes« die unabänderlichen natürlichen Nachteile ausgleichen müsse. Das tertium der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wurde auch ohne einen solch kulturkritischen Einschlag fortan zu einem bestimmenden Faktor der Vergleichspraktiken deutscher Fachleute. Auf die hier bestehenden großen Unterschiede zu verweisen war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem Topos in deutschen Reiseberichten und Analysen über die US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie geworden. Auch in der Zwischenkriegszeit war dieses Relativieren Bestandteil jedes Reiseberichts deutscher Hütteningenieure. So urteilte Karl 95 Mosler, S. 320. Auch profitierten die US-Produzenten, so Mosler weiter, in der technischen Entwicklung von den europäischen Vorbildern, die sie ohne »tiefwurzelnde Gewohnheiten oder beengende Vorurtheile und Gesetze« nur noch »zu ergänzen und verbessern brauchte[n].« Ebd. 96 TkA VSt/6031, Amerikabericht Dr. Lent 1926, S. 18. Wie ambivalent diese Bewertungen waren, zeigte sich daran, dass Lent diese abwertende Zuschreibung in anderer Hinsicht gleichzeitig als positiv beschrieb. Er schrieb weiter: »Wie jung drüben noch alles ist, das erkennt man einmal an dem jugendlichen Tatendrang. Es wird gehandelt, während man bei uns zu reden pflegt.« 97 RWWA 130–2-2, Bericht der Herren Arthur Tix und Heinrich Büning über die Amerika-Studienfahrt vom 17. Oktober bis 16. November 1936, S. 200.

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Lent in seinem Bericht von 1926, »daß das Wasser zwar bei 286° kocht in Amerika, aber es sind Fahrenheit. Auch wenn man den Erzeugungsziffern auf den Grund geht, so ist nichts darin enthalten, was wir nicht auch könnten, wenn die Verhältnisse gleich wären«98. Dieses innerhalb der deutschen Fachwelt routinierte Vergleichspraxis verstellte jedoch den Blick auf andere bzw. tiefergehende Interpretationen. Der Ökonom Hermann Levy wies dagegen in seiner Analyse der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von 1905 darauf hin, dass die flächenmäßige Größe des Landes und die Bevölkerungszahl die präzedenzlosen Wachstumszahlen der Industrie nicht hinreichend erklären könnten. Schließlich müsse das Russische Reich in diesem Fall über ähnlich hohe Erzeugungszahlen verfügen. Stattdessen, so Levy, müssten viele unterschiedliche Faktoren für die Entwicklung der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie angeführt werden. Folglich nennt er ein ganzes Bündel an wechselwirkenden ökonomischen, technologischen und kulturellen Faktoren, die die großen und breit gefächerten Absatzgebiete auf dem US -amerikanischen Binnenmarkt geschaffen hätten.99 Auf Seiten der Fachleute der deutschen Eisen- und Stahlindustrie blieb es fast ausschließlich dabei, die unabänderlichen »natürlichen Verhältnisse« zu betonten.100 Die US -amerikanische Natur kontrastierten deutsche Fachleute auch im Bereich der Produktionstechnik mit kulturellen Aspekten. Wie gesehen spielte hierbei das Betonen der Dichotomie zwischen einer US -amerikanischen Massenproduktion gegen eine deutsche Qualitätsproduktion.101 In dieser Weise konstruierten die deutschen Fachleute die eigene Produktionskultur aus dem kontrastierenden Vergleich mit dem US -amerikanischen Gegenbild. Schon in den 1870er Jahren pflegten die deutschen Fachleute ein Selbstbild, wonach sie den Produktionsprozess auf der Ebene der Chemie in besonderer Weise wissenschaftlich durchdrungen hätten. In diesem Zusammenhang führten sie insbesondere die Energie- und Rohstoffwirtschaft an. Schon Wedding fand Mitte der 1870er Jahre »auf den [US -amerikanischen; TM] Hüttenwerken die Chemie im Gegensatz zur Mechanik ungemein ver-

98 TkA VSt/6031, Amerikabericht Dr. Lent, 1926, S. 7, zitiert aus: Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 78. 99 Levy, H., S. 17. 100 Dies änderte sich zumindest partiell in den 1920er Jahren im Bereich des Marketings. Vgl. hierzu Kapitel 5.3 dieser Arbeit. 101 Vgl. Kapitel 4.2 dieser Arbeit.

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nachlässigt«102. Während sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa eine spezielle Energiewirtschaft ausgebildet hatte, griffen auch die modernsten US -amerikanischen Hüttenwerke weiterhin auf Erdgas als Energiequelle zurück und achteten kaum auf eine rohstoff- und energieeffiziente Betriebsführung. Die Hochöfen der Homestead Steelworks bei Pittsburgh etwa wurden im Jahr 1905 mit Erdgas aus 29 km entfernten Quellen versorgt, während lediglich die Winderhitzer durch Hochofengas regenerativ betrieben wurden.103 An diese Beobachtungen anknüpfend berichteten die deutschen Fachleute in ihren Reiseberichten immer wieder von der »rücksichtlosen Energie, mit welcher der amerikanische Unternehmungsgeist sich gerade dieser reichen Naturschätze zu bemächtigen weiss«104. Diese Einstellung habe einer effizienten Rohstoffwirtschaft im Wege gestanden: »Die Amerikaner haben es lange Zeit nicht für notwendig gehalten, sich um eine bessere Ausnutzung des in den Hochofen geworfenen Brennstoffes zu bemühen, indem sie immer in etwas selbstgefälliger Weise die Billigkeit der amerikanischen Kohlen hervorheben«105. Die deutschen Hüttenmänner versuchten also abermals, den Bewertungsmaßstab der hüttentechnischen Leistung zu verschieben: in diesem Fall weg von den Ausstoßzahlen und hin zu Energieeffizienz und Nachhaltigkeit. In diesem Vergleichswettbewerb schnitt die deutsche Industrie weitaus besser ab als im Bereich der Produktionszahlen, und zwar nicht nur gegenüber der US -amerikanischen Branche. August Wagener, Oberingenieur der Deutschen Kraftgasgesellschaft, sah sich im Jahr 1900 mit besonderer Genugthuung in der Lage, betonen zu können, daß die deutschen Ingenieure in der energischen Aufnahme der Kraftgasverwerthung, was die Größe und den Umfang der ersten Ausführungen, die Zahl der Systeme und die Menge der im nutzbaren Betriebe befindlichen

102 Wedding, S. 424. Wedding sah die Ursache für die »praktische« Ausrichtung der ­US-Hüttenleute im »Erziehungswesen« und problematisierte auf der anderen Seite die einseitige »theoretische« Orientierung mancher Fachleute in Deutschland; ebd., S. 424 f. 103 Pufahl, S. 452. 104 Koch, S. 69. 105 Bonte, S. 1915 f., zitiert nach: Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 82. Die Großgasmaschine markierte den Übergang von der Dampfwirtschaft zur Strom- und Gaswirtschaft. In den USA wurde noch länger an der Dampfwirtschaft festgehalten.

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Maschinen angeht, sich einen ganz hervorragenden Platz, wenn nicht den ersten, errungen haben.106 Emil Schrödter resümierte im Jahr 1911 in seinem Aufsatz 50 Jahre deutsche Eisenindustrie, dass »der deutsche Entwicklungsgang verschieden von demjenigen der anderen Länder gewesen« sei.107 Neben dem hohen technischen Niveau des Thomasverfahrens in Deutschland habe »gerade die bei uns zu hoher Blüte gelangte Kunst, die Nebenprodukte überall zu gewinnen und die Abfallprodukte zu verwerten, dazu beigetragen, daß unsere an sich unter ungünstigen Verhältnissen arbeitende Eisenindustrie in die Lage versetzte wurde, im scharfen Wettbewerbe mit dem Auslande erfolgreich aufzutreten«108. Mitte der 1920er Jahre war es schließlich zur verbreiteten Lesart geworden, dass die deutschen Produzenten da, »wo tiefgründige, wissenschaftliche Forschung und deren direkte Übertragung in die Praxis von ausschlaggebender Bedeutung sind, […] die Überlegenen sind und infolgedessen im Versuchswesen, in der Wärmewirtschaft, im Hochofenwesen und der Stahlherstellung nicht viel von den Amerikanern lernen können«109. Sie stilisierten die eigene Produktionskultur anhand der Gegenüberstellung mit der US -amerikanischen als »simply different«.110 Durch diese Energiewirtschaft zeigten die deutschen Produzenten tatsächlich, dass sie durchaus kreativ mit der weniger privilegierten Rohstofflage umzugehen vermochten – und straften damit gleichzeitig deterministische Lesarten Lügen, die sie selbst an anderer Stelle in ihre Vergleichspraxis einfließen ließen.111 106 Wagener, S. 1089. Wagener leitete aus dieser führenden Stellung der deutschen Branche eine nationale Reputation ab: »Wir deutschen Ingenieure haben uns hier wie sonst das Recht erworben, einen vollbemessenen Antheil an der gemeinsamen Arbeit der Völker für uns zu fordern. Wir werden nach wie vor unsere Pflicht erfüllen und wir dürfen hoffen, daß unsere Bestrebungen […], dazu beitragen werden, die Wohlfahrt unseres Vaterlandes zu festigen und zu mehren und das Ansehen, [ebenfalls] das uns durch die zähe Ausdauer und Opferwilligkeit der Arbeit deutscher Männer erkämpft wurde.« Ebd. 107 Schrödter, 50 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 8. Hervorhebungen im Original. 108 Ebd., S. 10. Hervorhebungen im Original. 109 HAK WA 70/171, Aus einem Bericht von Dr.-Ing. W. Lukowski, Rheinhausen-Nrh. über eine Studienreise durch die nordamerikanische Eisenhütten-Industrie im Juni 1926, undatiert, S. 66. 110 Vgl. diesen Mechanismus für Vergleiche von Individuen und kleinen sozialen Gruppen: Steinmetz, Above / Below. 111 Neuere historische Forschungen aus den Reihen des New Materialism zielen auf eine Aufhebung der Natur-Kultur-Dichotomie und betonen gegen deterministische Sichtweisen einen kreativen Einfluss der materiellen Welt auf menschliches Handeln, wäh-

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Die deutschen Hüttenmänner versuchten also aktiv die Leistungen ihrer Werke, die im objektiven Vergleich der absoluten Produktionszahlen einzelner Produktionsaggregate den US -amerikanischen meist unterlegen  – »schlechter« – waren, in anderer Hinsicht als »besser« darzustellen. Dieses Vorgehen entsprach keiner Abkehr von der ausgeprägten Orientierung an Produktionszahlen, die in den statistischen Vergleichen innerhalb der deutschen Branche aufrechterhalten wurde.112 Es zeigt jedoch, wie instrumentell einsetzbar – und ein Stück weit beliebig – transnationale Vergleichspraktiken bezüglich der Produktionskultur waren. Die ausländische Konkurrenz konnte je nach Kontext gleichzeitig als Bedrohung stilisiert und als Folie zur Aufwertung eigener Leistungen fungieren. Besonders abhängig waren die Vergleichspraktiken von der Position der Industrien im internationalen Wettbewerb. Dies zeigt der Blick auf die Vergleichspraxis US -amerikanischer Fachleute. Vertreter der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie betrachteten sich aufgrund ihres großen Binnenmarktes, des bestehenden Zollschutzes und ihrer führenden Position bei den Produktionszahlen nicht als Teil der Weltmarktkonkurrenz. Daraus resultierte ein relativ geringes Interesse an den Industrien anderer Länder. Zwar brachen US -Fachleute immer wieder zu Einzel- oder Gruppenreisen nach Europa auf. Solche Reisen betrachteten die US -Hüttenmänner aber eher als kulinarisches und touristisches Vergnügen und als allgemeine kulturelle Horizonterweiterung auf dem »alten Kontinent«. So schrieb ein US -amerikanischer Besucher nach einer Gruppenreise US -amerikanischer Fachleute nach Europa im Jahr 1889 über den Nutzen seiner Reiseerlebnisse: Did it pay? – it cost $ 500. Results: 5 pounds increase in weight, stronger nerves, better digestion, had  a good time for two months, gained some knowledge, had some Yankee conceit knocked out of me, yet became prouder than ever of my American citizenship and of the engineering profession; met many distinguished men, saw many wonderful works, and had so many delightful experiences that the memory of them will be a life-long pleasure. Yes; it paid.113

rend den materiellen Dingen selbst eine gewisse »agency« zugesprochen wird. LeCain, S. 103. Vgl. aus dieser Perspektive jüngst zur Stoffgeschichte der Kohle: Thorade und des Kalksteins für den Verhüttungsprozess: Haumann. 112 Vgl. die Kapitel 3.2 und 5.3 dieser Arbeit. 113 O. V., Impressions and Reminiscences, Sp. 158. Hervorhebungen im Original.

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Vor Ort in Europa wurde US -amerikanischen Besuchern vor allem vor A ­ ugen geführt, dass sie Angehörige der weltweit fortschrittlichsten Eisen- und Stahlindustrie waren. Aus dieser Einsicht resultierte das asymmetrische Verhältnis in der wechselseitigen Beobachtungspraxis zwischen deutschen und US -amerikanischen Fachleuten. Folglich hatte die US -Industrie hatte ihre europäischen Branchengenossen für die groß angelegte Gruppenrundreise durch US -Industriedistrikte im Jahr 1890 explizit nicht als Vertreter der Konkurrenz, sondern »as ­heartily as though they had been good customers« empfangen. Es ging den US -amerikanischen Gastgebern bei ihrer Einladung an die europäischen Eisenhüttenleute allerdings keineswegs nur um nationale Repräsentation, sondern sie versuchten, die Beobachtungen der europäischen Fachleute auch in fachlicher Hinsicht zu nutzen. In diesem Sinne hieß es in einem Artikel der Iron Age: »Those of our number who were able to travel to any extent with the visitors and mingle with them daily were frequently surprised by their discoveries of most interesting processes which our familiarity with American methods often prevents us from properly appreciating.«114 Die US -Vertreter wollten somit im Spiegel europäischer Bewertungen (»through foreign eyes«) die eigenen technologischen Errungenschaften in einem neuen Licht betrachten. Diese Beobachtungspraxis unterscheidet sich von der deutschen. Zwar stand auch hier – gemäß der Spiegel-Metapher Friedrich Glasers – die Beschäftigung mit sich selbst im Zentrum. Die deutschen Experten wollten sich jedoch weitaus stärker durch eigene Anschauungen mit der US -Industrie beschäftigen. Insbesondere die Fachzeitschrift Iron Age beobachtete die europäische Berichterstattung über die US -Industrie. Die Reisebeschreibungen und Analysen erschienen den US -Autoren der Zeitschrift frei von diplomatischen Höflichkeitsformen, die die europäischen Studienreisenden gegenüber den Gastgebern vor Ort formulierten.115 Insofern erhoffte sich die Zeitschrift von diesen »Beobachtungen zweiter Ordnung«, also die Beobachtungen von Beobachtungen einen kritischen und unverstellten Blick auf die eigenen technischen und ökonomischen Errungenschaften.116 Die von Seiten europäischer Fachleute viel gelobte Gastfreundschaft der US -amerikanischen Branche er114 O. V., Through Foreign Eyes, S. 761. 115 O. V., Through English Eyes, S. 934. 116 »Die Wirtschaft hat sich als ›Marktwirtschaft‹ vollständig und mit bemerkenswertem Erfolg auf die Beobachtung zweiter Ordnung eingestellt. Hier beobachten Verkäufer nur noch, was andere Verkäufer mit oder ohne Erfolg zu verkaufen versuchen, und

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schien vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht: Sie diente nicht nur dem nationalen Repräsentationsbedürfnis, sondern auch der Fremd- und insbesondere der Selbstbeobachtung. Betrachtet man nun diese Beobachtungen zweiter Ordnung, so wird deutlich, wie sehr die darin reproduzierten Selbst- und Fremdbilder die transnationalen Konkurrenzpraktiken beeinflussten. Die US -Branche bekam, das hat die Analyse der deutschen Vergleichspraktiken gezeigt, von ihren europäischen Branchengenossen immer wieder gespiegelt, unter welch privilegierten ökonomischen Rahmenbedingungen sie produzieren konnte.117 Die europäischen Fachleute sahen die US -Industrie mit ihren gewaltigen materiellen Ressourcen und dem als unersättlich empfundenem US -Binnenmarkt in einer prosperierenden Gegenwart und in einer vielversprechenden ökonomischen Zukunft. Diese Vergleichsergebnisse der Europäer verstärkten im Zusammenspiel mit den statistischen Leistungsvergleichen, die die US -Industrie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als die mit Abstand größte Produzentin auswiesen, wiederum die Binnenmarktorientierung und die Beschäftigung mit sich selbst in der US -Branche. Mit Blick auf diese vergleichsinduzierten und sich wechselseitig bedingenden Selbst- und Fremdbilder ist es nicht verwunderlich, dass in den US -amerikanischen Fachjournalen kaum systematisch angelegte Reiseberichte über die europäischen Hüttenindustrien publiziert wurden. Im Unterschied zu den ausführlichen deutschen Reiseberichten, die sich oftmals im Format von Fachaufsätzen systematisch und detailliert einzelnen Aspekten der Hüttenproduktion widmeten, blieben US -Berichte eher allgemein. In den Unternehmensarchiven finden sich ebenfalls nur wenige intern überlieferte Berichte, die nicht auf ein konkretes Interesse wie etwa die Übernahme einzelner in den USA unbekannter Patente und Produktionsverfahren ausgerichtet sind – und aus diesem Grund nicht vergleichend angelegt waren. In den Jahren um 1900 waren es vor allem die Berichte von Charles Kirchhoff in der Zeitschrift Iron Age, die sich umfänglicher mit den europäischen Hüttenindustrien auseinandersetzten. Immer wieder verglich Kirchhoff diese explizit mit dem Käufer nur noch, was andere Käufer mit oder ohne Distinktionsgewinn kaufen.« Baecker, S. 52; vgl. die Grunddefinition bei Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 94. 117 »Summing up the result of his visit, [der britische Hütteningenieur; TM] Mr. Siddell said he had no doubt the members of the [Iron and Steel; TM] Institute had gained a large amount of valuable information as to the material resources of America and the future possibilities they involved; but he did not think the engineers had gained very much from a mechanical point of view.« O. V., Through English Eyes, S. 934.

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US -Gewerbe. Detailliertere Aspekte von Produktionstechnik und -kultur

im engeren Sinne spielten dabei jedoch kaum eine Rolle – vielmehr verglich der Autor die allgemeine wirtschaftliche und organisatorische Ausrichtung der Branchen sowie die Rolle des Staates dies- und jenseits des Atlantiks. Kirchhoff stellte hierin insbesondere den europäischen »Paternalismus« der US -amerikanischen »Freiheit« entgegen.118 Damit waren die Beobachtungsdichte und die fachliche Tiefe der Analysen der europäischen Hüttenindustrien durch US -amerikanische Fachleute deutlich geringer als andersherum. Es zeigt sich also im Kontrast zur Vergleichspraxis deutscher Hüttenmänner, dass nicht nur die soziale Stellung und die Berufskultur ausschlaggebend für die Beobachtungs- und Vergleichsdichte waren, sondern auch die (empfundene) Stellung innerhalb der Konkurrenz. In welcher Wettbewerbsposition sich die Branchenakteure selbst sahen, wurde wiederum von eigenen Vergleichspraktiken sowie von Beobachtungen zweiter Ordnung bestimmt. Das große Selbstbewusstsein der US -Branche zeigt sich auch daran, dass ihre Akteure ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein gegenüber ihren europäischen Branchengenossen zur Schau stellten. US -Vertreter betrachteten die eigene Branche als (Welt-)Maßstab für Fortschritt und erfolgreiches Wirtschaften. Wenn andere Länder dieses zivilisatorische Niveau erreichen wollten, müssten sie, so formulierte es etwa James Swank den US -amerikanischen Weg einschlagen.119 Dementsprechend bewerteten die US -amerikanischen Branchenvertreter die europäischen Industrien vor allem danach, inwiefern sich diese auf die US -amerikanische Produktionskultur einließen und wie weit sie auf diesem Weg bereits fortgeschritten waren. Insbesondere die britische Industrie war in dieser Hinsicht comparatum US -amerikanischer Vergleichsbemühungen. Andrew Carnegie hatte bereits zu Beginn der 1880er Jahre festgestellt: »England keeps about a generation behind, and yet deludes herself with the idea that she is a leader among nations. The truth is she is not even a good follower where others lead.«120 Das US -amerikani118 Kirchhoff, Notes On Some European Iron Making Districts, S. 110–113. 119 Vgl. hierzu James M. Swanks Konstruktion der »Manifest Destiny« der US-Eisen- und Stahlindustrie in Kapitel 3.1 dieser Arbeit. 120 Gemäß der »evolutionistischen« Sichtweise des gegenüber seiner britischen Herkunft besonders kritischen Carnegie schrieb dieser weiter: »It is our turn now to take a step forward, unless we are content to be beaten. This is all right. Long may the two branches of the family stimulate each other to further triumphs, the elder encouraging us to hold fast that which is good, the younger pointing the way upward and onward – a race in which neither can lose, but in which both must win! Clear the course! Fair play and victory to both!« Carnegie, Our Coaching Trip, S. 146 f.

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sche Ein- und Überholen der britischen Produktionszahlen bei Roheisen und Stahl zu Beginn der 1890er Jahre setzten Vertreter der US -Industrie mit einer weitreichenden Krise der britischen Branche gleich und stellten dem ­ S -amerikanischen Fortschritt den britischen ökonomischen KonservativisU mus gegenüber. Der US -Hütteningenieur H. H. Campbell setzte der progressiven US -Industrie die konservative britische entgegen. Als Beleg führte er die technologische Überlegenheit der USA an, während in Großbritannien eine überaus rückwärtsgewandte Einstellung unter den Hüttenmännern herrsche. Dies lasse sich etwa an der fast schon feudal anmutenden Weitergabe von Leitungspositionen »from father to son« ablesen.121 Auch die Shareholder britischer Unternehmen sorgten aufgrund ihrer konservativen (sprich: marktwirtschaftlichen) Ausrichtung für die technologische Rückständigkeit der britischen Industrie: The stock of many of the older [British; TM] steel works is very widely distributed, and large numbers of shareholders do not know anything about improvements and do not care. They want their dividends, and if any money is taken from profits and spent on new machinery, it must be fully explained why this was done, and it must be shown that this expenditure has been justified by results. If American managers had to go through such an inquisition whenever they proposed an improvement, and if, on the other hand, they could satisfy the shareholders by inventing nothing, it is possible they would lead a less strenuous life …122 Nur eine Nachahmung der US -amerikanischen Produktionsmethoden könne den relativen Bedeutungsverlust der britischen Branche aufhalten: »[I]f the British iron and steel makers do not follow the foot steps of their American cousins and combine and then only manufacture their respective material at the most advantageous points of shipment and use the most economical method of manufacturing, the manufacture of iron and steel in time will become a lost art in Great Britain.«123 121 Campbell, H. H., S. 14. 122 Ebd. 123 Garrett, S. 16. In der deutschen Branche war eine solche Sichtweise auf die britische Industrie ebenfalls verbreitet. Zwar wurde immer wieder auf die scharfe britische Konkurrenz verwiesen; gleichzeitig betonten deutsche Branchenvertreter in technologischer Hinsicht die »konservative Richtung der [britischen; TM] Eisenindustrie«. O. V., Rückgang des Bessemer-Verfahrens, S. 293.

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Dagegen setzten US -Fachleute außerhalb solcher mit nationalem Prestige aufgeladenen Wettbewerbe um die fortschrittlichere Produktions- und Wirtschaftsweise die US -amerikanische und britische Branche keineswegs mit ihrem britischen Schwestergewerbe als direkte ökonomische Konkurrenz in Beziehung. Dies zeigt sich in den Beurteilungen des Weltmarktgeschehens. So formulierte die Zeitschrift Iron Age über »American and English Comparisons« im Jahr 1900: [T]here is a place even under twentieth century conditions for the tenacity and conservatism which are the most pronounced characteristics of the British manufacturer and the British workman. We doubt if it would be possible to transplant American methods in industrial organization and shop equipment to British soil and duplicate there the results which are here expected as a matter of course. […] Comparisons between countries separated by 3000 miles of ocean, are often misleading and rarely instructive. We have learned much from England in the past, perhaps she can learn something from us now. We question very much, however, if the good advice the Times correspondent is giving the readers of that journal on the advantage to result from doing things as they are done here could be profitably followed. It would be impossible, and the only result to be expected would be the complete demoralization of the British industrial system.124 Eine einfache Übernahme von Produktionsmethoden, die die unterschiedlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen außer Acht ließe, wird hier zurückgewiesen. Stattdessen wird den britischen Produzenten eine eigene ökonomische Nische für ihre Produkte zugesprochen. Die Vergleiche mit der britischen Branche waren Besser-schlechter-Vergleiche, die weniger auf unmittelbare Fragen des Wettbewerbs ausgerichtet waren. Sie stehen vielmehr im Zusammenhang einer auf Leistungswettbewerben fußenden Grundsatzdebatte, welches Produktionssystem und welche Produktionskultur die bessere sei. Die ökonomische Konkurrenz wurde also von einer Konkurrenz um technisches Prestige überlagert.125 Auch die deutsche Industrie beurteilten US -Vertreter tendenziell aus einer solch übergeordneten Position heraus. Der Wall-Street-Banker Frank 124 O. V., American and English Comparisons, S. 23. 125 Vgl. zu dieser Debatte Kapitel 4.2 dieser Arbeit.

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V ­ anderlip beobachtete auf seiner Europareise im Jahr 1910 zwar, dass die deutsche Industrie sich auch auf die Strategie des Kopierens von US -amerikanischen Produktionsmethoden und Maschinen festgelegt habe. Dies könne aber nichts an der führenden Stellung der USA ändern: »American genius will always keep this country far in advance of her competitors.«126 Die US -amerikanische Tagespresse verbreitete in der Zeit um 1900 angesichts der Urteile der europäischen Reisenden über die USA einen großen Optimismus ob der ökonomischen Zukunft des eigenen Landes, die im Spiegel europäischer Urteile umso heller strahle.127 Fachleute der Hüttenindustrie sahen auch im direkten Vergleich zwischen deutscher und US -amerikanischer Eisen- und Stahlindustrie grundsätzlich kaum Handlungsbedarf um die eigene Wettbewerbsposition stärken zu müssen. Charles Kirchhoff zeigte sich im Jahr 1900 zunächst durchaus beeindruckt vom »triumphant march of Germany as an industrial nation«.128 Grund war das Wachstum der Branche, das im Vergleich zu anderen europäischen Ländern seinesgleichen suche. In technologischer Hinsicht betrachtete Kirchhoff die deutsche Industrie als die beste in Europa und werde hier allein von den USA übertroffen.129 Davon ausgehend unterzog er die deutsche Branche einem genaueren Vergleich mit der US -amerikanischen. Prinzipiell zeichne die US -Industrie eine weitaus höhere Mechanisierung der Produktionsanlagen aus. Darüber hinaus unterschieden sich, so Kirchhoff weiter, die Binnennachfrage und der binnenwirtschaftliche Wettbewerb: The demand does not call for such large quantities in single orders of the same section in Germany as it does in the United States, so that rolling mill plants cannot be kept so continuously busy. Compared with their steel producing capacity, therefore, the plants appear to be overequipped with rolling mill capacity, usually partially idle. For commercial reasons

126 CUA, Vanderlip Papers, D-4, 23 and 24, S. 29, zitiert nach: Berghahn, American Big Business, S. 38. Diese Sichtweise war auch in der Zeitschrift Iron Age verbreitet, wo die deutsche Hüttenindustrie wie folgt charakterisiert wurde: »clever and enterprising in adopting and making the best use of improved methods and machinery from abroad«. O. V., German View of American Industry, S. 377. 127 In den Jahren um 1900 passten Journalisten an den New Yorker Schiffsanlegestellen die aus Europa zurückkehrenden Reisenden ab, um diese nach ihren Eindrücken zu befragen. Berghahn, American Big Business, S. 11 f. 128 Kirchhoff, Notes On Some European Iron Making Districts, S. 7. 129 Ebd.

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the Germans cannot or will not follow our principle of keeping every department running full so long as there is a margin. They cannot understand a policy which dictates a rush for orders, even if some of them must be taken at a loss. This may be partly due to the fact that no one concern nor one district feels its ability to force others to shut down. Besides, now, as for some time past, the all pervading syndicate would put a stop to any such ambition, if any one did harbor it. As a matter of fact, the German managers, as the result of the excellent returns in recent years, feel  a community of interests which seems to make all very conservative, for the general good.130 Kirchhoff stellte dem US -Schnellbetrieb (inklusive des schnellen Austauschs veralteter Anlagen und der damit eng verbundenen binnenwirtschaftlichen Verdrängungskonkurrenz) eine ebenfalls auf Ausstoß fixierte deutsche Branche entgegen. Die deutschen Produzenten setzten nicht auf eine binnenwirtschaftliche Marktbereinigung durch Wettbewerb, sondern stärker auf eine kooperative Lösung von Auslastungsproblemen. Kartelle und Syndikate sollten stattdessen gerade verhindern, dass einzelne Unternehmen aus dem Markt gedrängt werden. Mit dieser Kontrastierung zeichnete Kirchhoff auf der Ebene der Branchenstrukturen und der unterschiedlichen Produktionskulturen ein sehr realistisches Bild und konnte die latenten Überkapazitäten der deutschen Branche als Problem ausmachen. Gleichzeitig wird aus Kirchhoffs Vergleichen ersichtlich, dass er die US -Industrie ebenfalls nicht nur als einfaches comparatum, sondern als Maßstab betrachtete: er bewertete die deutsche Branche danach, inwiefern sie sich der US -Entwicklung angeglichen hatte. Aus der Perspektive des Wettbewerbs heraus sah Kirchhoff keine Gefahr: »[T]he cost of fuel to the industries dependent upon the Ruhr coal basin is not subject to so notable a lowering that a possible decline will constitute a menace to competing nations, and particularly to our own, so greatly blessed with mineral wealth.«131 Aufgrund dessen lessen sich seine Artikel sich in weiten Strecken wie Berichte eines interessierten Fachmanns, der aus der sicheren Wettbewerbsposition der US -Industrie heraus die europäischen Industrien analysierte, bewertete und hierarchisierte.132 In dieser Hinsicht unterschieden sich die US -amerikanischen Analysen von den deutschen, die 130 Ebd., S. 42 f. 131 Ebd., S. 25. 132 Vgl. die gesammelten Berichte über die europäischen Industrien in ebd.

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weitaus stärker die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Industrie aus der vergleichenden Beschäftigung heraus verbessern wollten. Dabei gehörte der in Deutschland zum Hütteningenieur ausgebildete Kirchhoff zu den wenigen US -amerikanischen Fachleuten davor warnten, die europäischen Industrien weitgehend zu ignorieren, wie es seit der Zeit um 1900 üblich geworden war. Dabei bezog sich Kirchhoff auf die auf beiden Seiten des Atlantiks zur Routine gewordene Vergleichsergebnis, die US -Industrie als überlegen und nicht als Teil des internationalen Wettbewerbs zu betrachten. Er schrieb: Naturally one is in the attitude of comparing constantly with resources and methods at home, with the inevitable tendency to view with suspicion as to its merit anything which diverges from known standards and practice. We have had our superiority dinned into our ears by our own travelers abroad and by returning European visitors until there is danger that our judgment be warped. There is almost a mania for everything that is American, particularly in England, so that we may before long underrate, to our cost, what is being done in Europe.133 Darin, dass die US -amerikanische Überlegenheit immer wieder als Vergleichsergebnis herausgestellt wurde, sah er eine Gefahr für die Position der US -Branche. Mochten auch die USA technologisch überlegen sein und mussten sie auch die europäische Konkurrenz (noch) nicht fürchten – die Bemühungen, sich stetig technisch zu verbessern, durften nicht zum Erliegen kommen. Daher: »We know of instances of leading American ironmasters who frankly announce that there is nothing to learn in Europe and who act upon that conviction by declining to waste time in visiting European works and in meeting their captains of industry. No graver mistake could be made.«134 Alles in allem warnte Kirchhoff vor allzu lautem nationalistischem Selbstlob (»spread eagleism«) im Bereich der industriellen Entwicklung. Insbesondere sollte man die ökonomischen Fakten nicht aus den Augen verlieren, sonst drohten unvorhergesehene Konsequenzen eines aufkommenden Wettbewerbs. Schließlich könne beispielsweise auch im englischen Cleveland-Distrikt günstiges Roheisen produziert werden. »If that be true, then some of our

133 Kirchhoff, Glimpses of the British Iron Industry I., S. 2. 134 Ebd.

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producing districts, not excluding the most favorably located, do not possess extraordinary advantages.« Überhaupt existierten auch außerhalb der wichtigen US -Bezirke (insbesondere des Lower Lake District, des Ohio Valley oder Alabamas) sowohl auf den britischen Inseln als auch auf dem europäischen Festland montanindustriell günstige Orte für wettbewerbsfähiges Roheisen.135 Insofern plädierte Kirchhoff dafür, die europäischen Industrien weiterhin mit der US -amerikanischen zu vergleichen, um Routinen in den Betrachtungsweisen aufzubrechen und so schließlich bösen Überraschungen im Wettbewerb vorzubeugen. Es waren jedoch insbesondere Stimmen von außerhalb der Industrie, die die selbstgenügsame Selbstsicht der US -amerikanischen Branche kritisierten. Im Anschluss an die Weltausstellung in St. Louis im Jahr 1905 berichtete Frank H. Mason, US -Generalkonsul in Berlin, an das US -Handelsministerium über die Urteile der deutschen Fachwelt. Mason beobachtete in Deutschland eine emsige Auseinandersetzung mit der US -Produktionstechnik und -kultur, die darauf zielte, die deutsche Industrie zu verbessern und wettbewerbsfähiger zu machen. Er betrachtete diese konkurrenzförmige Vergleichspraxis der deutschen Industrie als vorbildhaft, da man nur so besser sein könne als die Konkurrenz. Er plädierte dafür, dass sich die US -amerikanische Branche an dieser Beobachtungs- und Vergleichspraxis der deutschen Industrie orientiere. Um dieses Argument zu stärken, führte er das Urteil deutscher Fachleute über die US -Industrie an, die gerade die Selbstbezogenheit der US -Branche als eine ihrer zentralen Schwächen ausmachten. Deutsche Fachleute beobachteten laut Mason eine »Ignoranz« und »Indifferenz« US -amerikanischer Produzenten gegenüber allem, was im Bereich Technik aus Gebieten außerhalb der USA stamme. Hinzu komme die im Vergleich mangelhafte technische und wissenschaftliche Ausbildung der Ingenieure. Mason plädierte dafür, dass sich die US -Produzenten aus dieser Selbstbeschäftigung lösten und sich stattdessen dauerhaft und detailliert mit Produktionstechnik und -kultur der europäischen Konkurrenz auseinandersetzten.136 In einem Bereich sah sich die US -Industrie der europäischen unterlegen: in der Wärme- und Rohstoffwirtschaft, die, wie erläutert, Gegenstand von Kri-

135 Kirchhoff, Glimpses of the British Iron Industry III., S. 7. 136 O. V., German View of American Industry, S. 377.

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tik und Gegenbildkonstruktionen von Seiten deutscher Fachleute waren. Auf der hiesigen Seite des Atlantiks hatten deutsche, französische und englische Fachleute seit Mitte der 1890er Jahre über technische Möglichkeiten der Verwendung der Nebenprodukte der Hüttenproduktion geforscht, sich darüber auf internationalen Kongressen ausgetauscht und auch gemeinsame technische Versuche unternommen. Vor allem auf das Hochofengas, das beim Prozess des Schmelzens entsteht, waren die Fachleute als Energieträger für Gasmaschinen aufmerksam geworden.137 Diese so einsetzende Entwicklung einer Sparwirtschaft war im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bereits so weit fortgeschritten, dass Experten auf diesem Gebiet es als »erreichbares Ideal« betrachteten, »für unsere deutschen Verhältnisse bei Anlage neuer Werke« den gesamten »Wärme- und Kraftbedarf eines Hüttenwerkes, d. h. von der Gewinnung des Erzes an bis zur Herstellung des gewalzten Trägers, nur aus den Abgasen des Hochofens« zu decken. So konnte eine weitere Verfeuerung von Kohle und Koks überflüssig werden.138 Wie ihre deutschen Kollegen sahen US -Fachleute die Gründe für die unterschiedlich ausgebildete Rohstoffwirtschaft vor allem in der Rohstofflage. So formulierte R. H. Fernald in einem Bericht für das Bureau of Mines: »Economic conditions and the realization of the value of scientific research have caused European countries to study their natural resources closely in order to determine how these resources can be utilized most efficiently.«139 Dem stehe ein kaum gebremster Rohstoffverbrauch der US -amerikanischen Industrie gegenüber, den Fernald als »our national extravagance« kritisiert.140 Charles Kirchhoff formulierte angesichts dieses Umstands im Jahr 1900: »One of the features which must strike every American visitor to German plants is the care with which fuel economy is studied. Compounding of engines is almost universal, and every plant is equipped with elaborate condensing plants. In this direction the Germans are decidedly in advance of us.«141 Kirchhoff betrachtete es an dieser Stelle aus Sicht der US -Industrie für notwendig, sich in dieser Frage genauer mit den europäischen Produzenten zu beschäftigen. Schließlich kämpften diese bereits mit rohstoffwirtschaftlichen Herausforderungen, die eines Tages auch die Eisen- und Stahlindustrie der Vereinigten Staaten ereilen könnten, wenn sich die zu jener Zeit mehr als günstige Roh137 Wagener, S. 1080 f. 138 Bonte, S. 1916. 139 Fernald, S. 5. 140 Ebd. 141 Kirchhoff, The Iron Industries of Germany IV., S. 17.

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stoffsituation nicht als unendliches Reservoir herausstellen sollte.142 Insofern fungierte hier umgekehrt »Europa« einmal als positive Zukunftsfolie für die USA, die aufzeigte, welchen Weg die US -Branche unter den Bedingungen von sich eines Tages möglicherweise verschlechternden Rohstofflagen werde gehen müssen. Der internationale Wettbewerbsdruck blieb jedoch – anders als in den Hüttenindustrien der europäischen Länder – relativ gering, sodass der Handlungsdruck für eine effizientere Rohstoffwirtschaft ausblieb. Insofern blieb »coping with abundance« die Maßgabe der US -amerikanischen Industrie, wie der Umwelthistoriker Martin Melosi betont.143 Ein Faktor dafür, dass transnationale Beobachtungs- und Vergleichsbemühungen zwischen den Eisen- und Stahlindustrien schließlich doch zum Erliegen kommen konnten, wurde im akkumulierten Wissen voneinander gesehen. Zehn Jahre, nachdem Charles Kirchhoff noch davor gewarnt hatte, dass die US -Industrie die ausländische Konkurrenz sträflich vernachlässige, erklärte er in einem Bericht über einen internationalen Kongress in Düsseldorf im Jahr 1910 transnationale Vergleichspraktiken für weitgehend sinnlos. Schließlich habe sich im internationalen Expertendiskurs inzwischen ein differenziertes Vergleichswissen angehäuft. Daraus sei wiederum ein wechselseitiges Verständnis für unterschiedlich ausgebildete Aspekte von Produktionssystem und -kultur erwachsen. Dies zeige sich daran, dass in Europa zwar lange Zeit das Verständnis dafür gefehlt habe, warum die U ­ S -Produzenten so verschwenderisch mit Rohstoffen umgegangen seien.144 Sie hätten auch nicht den starken Einsatz mechanischer Einrichtungen in ­US -amerikanischen Hüttenwerken und den Schnellbetrieb (»craze for tonnage«) verstanden.145 Dazu schrieb Kirchhoff: Twenty years ago our European friends came over, wondered at our labor-saving appliance and our craze for tonnage, went home and figured that with their cheap labor the costly appliances would not justify increased interest, sinking funds, and repairs, and that order books into which tonnage dribbled by hundreds of tons would not permit of installing plant which fed on blocks of thousands.146

142 Ebd. 143 Melosi. 144 Kirchhoff, The International Congress, S. 76. 145 Ebd., S. 77. 146 Ebd., S. 76 f.

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Nach einer gewissen Zeit und in der Folge jahrzehntelanger Vergleichsbemühungen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten die Europäer also die Unterschiede zwischen den Produktionskulturen dies- und jenseits des Atlantiks verstanden und dabei akzeptieren müssen, dass unterschiedliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen unweigerlich zu unterschied­ lichen Produktionskulturen führen mussten. Im Laufe des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zeichne sich jedoch laut Kirchhoff die Tendenz ab, dass sich die einst zwischen den Kontinenten so unterschiedlich ausgebildeten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen annäherten – und mit ihnen auch die Sichtweise der »captains of industry«: Wages have been rising in Germany, and the burdens of social legislation are adding to them more and more. Home consumption and foreign outlets have expanded so that the unit of output has grown larger, and ›American‹ mills of relatively enormous capacity and cost no longer have any terrors. We are rapidly adopting European methods of coking; we are looking after steam economy, even in Pittsburgh; we are well started in the introduction of the modern gas engine, and are in the front rank in applying the electric drive.147 Kirchhoff sah also, dass sich mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch die Produktionssysteme in Europa und den USA anglichen. Während sich das auf mechanisierten Anlagen basierende »amerikanische« Hüttenwerksmodell aufgrund steigender Löhne und Sozialabgaben auch in Deutschland durchsetzte, adaptierten die US -Werke zunehmend europäische Methoden im Bereich der Rohstoff- und Wärmewirtschaft. Schon vor dem Ersten Weltkrieg führten ein akkumuliertes Vergleichswissen und routinierte Vergleichspraktiken zusammen mit der Annäherung und der Überlegenheit in der US -Branche zum Glauben, bereits alles über die andere Industrie zu wissen bzw. kein weiteres Wissen zu benötigen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Bemühen der US -Seite, die eigene Eisen- und Stahlindustrie mit der europäischen zu vergleichen, in der Folge weitgehend zum Erliegen kam. Dies änderte sich auch nicht nach dem Ersten Weltkrieg, als die US -Branche bei der Konkurrenzbeobachtung weiterhin vor allem auf Beobachtungen zweiter Ordnung setzte. Das US -amerikanische Selbstbild, technologischer

147 Ebd., S. 77.

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Maßstab zu sein, hatte sich angesichts der vielbeschworenen »Amerikanisierung« innerhalb der Rationalisierungsdebatten, die in den kriegsversehrten europäischen Industrien geführt wurden, noch verfestigt. So konnte die Fachzeitschrift Iron Age im Jahr 1925 ein nochmals gestiegenes Interesse insbesondere europäischer (und dabei besonders: deutscher) Maschinenbauer ausmachen, die sich nun in großer und weiter steigender Zahl zu Inspektionsreisen in die Vereinigten Staaten aufmachten. In diesem Segment sahen sich die US -Produzenten im Vorteil: »Even where American models had been copied which what seemed absolute precision, the counterfeits could not do the same work, as was demonstrated time and again. Moreover, the counterfeits were always several years behind the latest of our models.«148 Nun habe aber ein weitgehender Umbau der europäischen Industrie nach US -Muster begonnen, und dieser Nachfrage, bei der es nicht um den Preis, sondern um die Qualität gehe, könnten europäische Maschinenbauer auf absehbare Zeit nicht gerecht werden. Im Bereich des Maschinenbaus hielten sich die US -Produzenten also gegenüber den europäischen überlegen und sahen hier auch den Grund für die massive Reisewelle von Fachleuten aus Europa – von deren Berichten man wiederum selbst glaubte, profitieren zu können.149 Die deutsche Industrie wurde Mitte der 1920er Jahre nun noch weniger für US -amerikanische Hütteningenieure und Manager, sondern vielmehr für US -amerikanisches Anlagekapital interessant. US -amerikanische Kredite, so konnte die Zeitschrift Iron Age berichten, wurden von der deutschen Wirtschaft – nicht zuletzt der Hüttenindustrie – eingesetzt, um besonders wettbewerbsfähige Unternehmen auf technischer Ebene zu rationalisieren.150 Potenzielle Geldgeber waren für ihre Bewertung jener deutschen Unternehmen, die für eine Dollaranleihe in Frage kamen, auf Vergleiche von Experten angewiesen. Der Hochofenexperte Hermann A. Brassert, einst aus Deutschland in die USA ausgewandert, fertigte Gutachten für US -amerikanische Geldgeber an und versuchte gleichzeitig, deutsche Unternehmen bei der Frage der Dollaranleihen zu beraten. Insbesondere die Vereinigten Stahlwerke (VSt) rückten hier ins Zentrum US -amerikanischer Kapitalinteressen. Die VSt klangen in der englischen Übersetzung (»United Steel Works Corporation«) nicht nur wie die deutsche Version von U. S. Steel – sie ließen sich auch hinsichtlich 148 O. V., European Machinery Men, S. 1325. 149 »What will come of these visits is naturally a matter which American machine tool builders are taking the liveliest interest.« Ebd. 150 O. V., Germany Can Compete, S. 1100.

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ihrer Größe (gemessen an Produktionszahlen, Betrieben und Werksanlagen) mit US -amerikanischen Konzernen wie U. S. Steel, Bethlehem Steel, Jones & Laughlin oder Youngstown Sheet & Tube Co. vergleichen. Brassert war der Meinung, dass der »deutsche Trust« Rationalisierungspotenziale und damit Gewinne für Geldgeber versprach.151 Neben einer größenmäßigen Gleichsetzung der VSt mit US -Konzernen konnte Brassert gegenüber potenziellen US -amerikanischen Geldgebern durch Vergleiche hervorheben, dass die deutschen Werke auch in technologischer Hinsicht durchaus mit den US -Konzernen mithalten konnten. Der ATH bescheinigte Brassert gegenüber dem US -Bankhaus Dillon & Read Co., einem möglichen Interessenten: »[C]ombined with its favourable geographical location, it is one of the most modern and best equipped steel plants in the world«, auf jeden Fall jedoch »the most efficient steel manufacturer of Europe«. Die ATH habe diesen Status erreichen können, weil sie sich am US -amerikanischen Maßstab orientiert und diesem nachgeeifert habe: »They were at all times eager to exchange technical information and were the first in Europe to adopt our ideas of large production and labor saving. In respect to fuel economy, they were always in advance of the industry and today they lead the world in heat economy in the production of steel.«152 Insofern förderten Vergleiche zwischen deutschen und US -amerikanischen Konzernen in diesem Fall die ökonomische Verflechtung der beiden Branchen. Brasserts Gutachten waren ein Zeichen dafür, wie unbekannt die Verhältnisse der deutschen Industrie in den USA waren – diese diente vor allem als Investitionsmöglichkeit und weniger als technologisches Vorbild. Der Befund, dass die Vergleichsanstrengungen der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie relativ gering waren, wird im Bereich von Produktionstechnik und -kultur dadurch verstärkt, dass sich die US -Branche grundsätzlich als technologischen Maßstab betrachtete. Sie nutzte das Interesse der europäischen Fachwelt, um die eigene Leistung im Spiegel des Urteils der europäischen Gäste bewerten zu können. Diese Beobachtungspraxis verstärkte noch die verbreitete Sichtweise, nicht Teil der internatio151 H. A. Brassert & Co., S. 154. Die VSt wiederum verglich sich selbst ebenfalls mit diesen US-Konzernen, um in der Weltwirtschaftskrise entlang der Produktivität pro Kopf weitere Rationalisierungspotenziale aufdecken zu können. Vgl. tkA FWH/1942, Statistischer Vergleich Vereinigte Stahlwerke, Bethlehem Steel Corporation, United States Steel Corporation, 1927–1932, 1932. 152 TkA A/608/3, H. A. Brassert an Dillon, Read & Co, Januar 1925, zitiert nach: Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 85.

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nalen Konkurrenz zu sein. Trotz einiger warnender Stimmen dominierte in den USA ein vergleichsinduziertes Selbstbild technischer und ökonomischer Stärke, weswegen man sich höchstens oberflächlich mit der europäischen Industrie beschäftigte.

5.3

Vergleichen und Angleichen: Die expansive Dynamik von Vergleichspraktiken im Bereich von Produktionstechnik und -kultur

Zwar grenzten sich deutsche Fachleute wie dargelegt von der direkten Übernahme der US -amerikanischen Produktionskultur ab. Dennoch konnten sie sich auf ihren Studienreisen in die USA dem beobachteten (und beneideten) Ist-Zustand aus Massenproduktion und Massenabsatz nicht entziehen. Neben technischen Details machte Wedding in seinem Bericht von 1876 vor allem die allgemeine Organisation der Stahlwerke sowie den US -amerikanischen Schnellbetrieb und die damit erzielbaren hohen Chargenzahlen als besonders beachtenswerte Merkmale der US -Produktionskultur aus.153 Während man schon aus statistischen Kompilationen jener Zeit die hohen Wachstumsraten der US -Industrie ablesen und auch die totalen Produktionszahlen ganzer Länder vergleichen konnte, war es Wedding möglich, nun auch einzelne Aggregate vergleichend zu betrachten. So stellte er fest, dass die »Differenz, welche […] zwischen der Durchschnittsproduction unserer und der der amerikanischen Bessemerwerke besteht, gross genug [ist], um alle Aufmerksamkeit zu verdienen«154. Die größere Produktionsleistung in den USA könne aufgrund des schnelleren Arbeitens erreicht werden. Obwohl die deutschen (und wie Wedding an anderer Stelle feststellte: auch die ­ S -amerikanischen) Bessemerwerke sich im Jahr 1876 weiterhin in einer U

153 Unter dem US-amerikanischen Schnellbetrieb (»hard driving system«) in der Hüttenproduktion versteht man eine schnelle, auf hohem Material- und Rohstoffdurchsatz beruhende und zentralisierte Produktionspraxis in der Erzeugung von Roheisen und Flussstahl im Konverterverfahren. Während sich der Schnellbetrieb in den USA aufgrund der günstigen ökonomischen und metallurgischen Bedingungen seit den 1860er Jahren entwickelte, waren die Werke an der Ruhr rein technologisch ebenfalls seit Ende der 1870er Jahre in der Lage, in annähernd gleichem Tempo zu produzieren – auch wenn die ansonsten ungünstigen Bedingungen verhinderten, dass ein solches Produktionstempo gefahren werden konnte. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 239–250. 154 Wedding, S. 477 f.

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äußerst schwierigen konjunkturellen Lage befanden und mit Absatzproblemen zu kämpfen hatten, befand Wedding vor allem die Produktionsleistung und den dort herrschenden Leistungsethos im Schnellbetrieb für vorbildhaft: Die Ausführung des Frischprocesses selbst macht in Nordamerika einen äusserst günstigen Eindruck. Grosse Sauberkeit herrscht in den Hütten, alle Arbeiten werden flink und schnell besorgt und unnöthiges Umherlungern kann bei dem regen Betriebe nicht vorkommen, dessen Regel 30 Hitzen [d. h. Produktionschargen; TM] in 24 Stunden sind, während 40 bis 45 nicht zu den Ausnahmen gehören und selbst 54 vorkommen.155 In den Bessemerwerken des Ruhrgebiets wurden zu dieser Zeit 20 bis 25  Chargen pro Tag und Anlage erblasen, womit sie allerdings immer noch schneller produzierten als britische Anlagen mit weit unter 20 Chargen.156 Anders als der britische Metallurg und Unternehmer Lowthian Bell, der in seinen Reiseberichten zu jener Zeit immer wieder den auch relativ sehr hohen Verbrauch von Koks und Ofenauskleidung in US -amerikanischen Hochöfen hervorhob und dabei die aus marktwirtschaftlicher Sicht fehlende Effizienz des Schnellbetriebs kritisierte, sparte Wedding diesen Punkt gänzlich aus.157 Tatsächlich hätten die US -Werke bei langsamerer Arbeit niedrigere Produktionskosten aufweisen können, wären unter den zu jener Zeit geltenden relativ niedrigen US -amerikanischen Qualitätsanforderungen (die Wedding ebenfalls nicht thematisierte) 30 bis 35 Chargen pro Tag das betriebswirtschaftliche Optimum gewesen.158 Insofern richtete Wedding seinen Bewertungsmaßstab an 155 Ebd., S. 466. Weddings Eindruck vom Schnellbetrieb unterschied sich von späteren Beschreibungen, welche die – freilich inzwischen noch schneller produzierenden – US-Stahlwerke mit Blick auf die ohne jede Rücksicht auf Mensch und Maschine arbeitenden Stahlwerke als »Tollhaus« beschrieben. Wengenroth, Technologietransfer als multilateraler Austauschprozeß, S. 232. 156 Ebd., S. 237, Anm. 23. 157 Vgl. exemplarisch Bell, Coal- and Iron-Mines; ders., Report on the Iron Manufacture. Mit Blick auf die Roheisenproduktion und die Frage der Effizienz zwischen britischer und US-amerikanischer Produktionskultur kam für das Jahr 1890 Berck zu dem Schluss, dass die technischen Unterschiede und die Effizienz, welche die unterschiedlichen Produktionszahlen nahelegten, in den USA kaum größer waren als in England. Es waren demnach eher die weitaus größere Nachfrage und die dadurch ermöglichten hohen Profitraten, worin die Hauptunterschiede lagen. 158 Wengenroth, Technologietransfer als multilateraler Austauschprozeß, S. 237, Anm. 20. Die US-Werke taten dies bewusst, ging es doch in allererster Linie darum, die hohe Nachfrage im Land nach Stahlschienen zu befriedigen.

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der Vergleichsfolie des US -amerikanischen Schnellbetriebs aus, wodurch sich dieser Maßstab allein auf quantitative Parameter verengte. Damit wird deutlich, wie sehr Vergleichspraktiken in diesem Bereich dazu führen, einzelne Aspekte zu isolieren, und wie sehr sie von vorgefertigten Maßstäben des eigenen Referenzsystems sowie der eigenen Interessenposition abhängig waren. Darüber hinaus repräsentierte Weddings Fokussierung auf die Produktionszahlen der US -Werke den ökonomischen Wunsch und das Hoffen der deutschen Branche auf eine große Nachfrage, die sie mit der neuen arbeitssparenden Technologie der maschinellen Flussstahlerzeugung bedienen wollten – und zwecks notwendiger Amortisierung des eingesetzten Kapitals auch bedienen mussten. Die deutschen Bessemerwerke hatten in diesem Bereich Produktionskapazitäten aufgebaut, während ein scharfer konjunktureller Einbruch infolge der Gründerkrise 1873 eine auch nur annähernde Auslastung vermissen ließ.159 Hinsichtlich der großen Differenz zwischen Marktvolumen und Nachfrage klagte Eberhard Hoesch mit Blick auf den deutschen Stahlschienen-Markt: »Es ist ein trauriges Faktum, daß zwei sehr tüchtige Bessemerwerke den inländischen Markt vollauf befriedigen können.«160 Tatsächlich waren im Jahr 1875 von 61 Konvertern, über die die 14 preußischen Bessemerwerke verfügten, lediglich 32 in Betrieb.161 Trotz dieser fehlenden Auslastung bestehender Anlagen plädierte W ­ edding in seinem Reisebericht dafür, dass die deutschen Produzenten den höheren Produktionszahlen in den USA nacheifern sollten: Der Verfasser kann in der That nicht einsehen, warum die deutschen Bessemerleute sich durch diese Ueberzeugung [der größeren Durchschnittsproduktion der US -Bessemerwerke; TM] gekränkt fühlen sollen. Werden denn Fortschritte nur in Deutschland gemacht? Sollte man hier nicht vielmehr danach streben, die amerikanischen guten Einrichtungen nachzuahmen und dadurch unsere Werke auf denselben Stand zu bringen wie jene?162 159 Ebd., Anm. 16. 160 Deutsches Reich / Eisen-Enquête-Kommission, S. 239. 161 Brauns, Die nordamerikanische und die deutsche Flussstahl-Erzeugung, Sp. 92. Allerdings wird in der zeitgenössischen Literatur die Zahl der Bessemeranlagen und -konverter tendenziell als zu hoch angegeben, weil auch bereits stillgelegte Werke mit eingerechnet wurden. Vgl. die Diskussion für das Ruhrgebiet Welskopp, Arbeit und Macht, S. 78 und ebd. Anm. 29. 162 Wedding, S. 477.

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In einem ersten Schritt sollten demnach die deutschen Hüttenleute die Überlegenheit US -amerikanischer Hüttentechnik und Wirtschaftsweise akzeptieren und das Vergleichsergebnis als Ansporn betrachten. Wedding sprach sich dafür aus, dass sich die deutschen Produzenten auch auf den US -Schnell­ betrieb und die damit verbundenen Prinzipien einließen. Sie sollten ihr Produktionssystem demnach in noch stärkerer Weise an den Grundsätzen der »economies of scale« und den »economies of speed« orientieren.163 Dabei verknüpfte er technischen Fortschritt und ökonomischen Erfolg allein mit Produktionssteigerungen. Stattdessen, so kritisierte Wedding im Spiegel der US -Industrie, richteten die deutschen Produzenten ihr Handeln zu sehr am »Sicherheits-Coefficienten« aus. Ausdruck eines solchen deutschen Sicherheitsbedürfnisses sei der Einsatz von Reservevorrichtungen.164 Damit verbunden kritisierte er die hinsichtlich der Ausstoßzahlen vorsichtige Produktion der deutschen Unternehmen die angesichts weltweiter Konkurrenz ein Zurückfallen im internationalen Wettbewerb nach sich ziehen werde. Mögliche Einwände, »dass schon jetzt unsere [deutschen; TM] Werke zu viel producirten, und dass es daher gar nicht im Interesse derselben läge, die vorhandene Production zu vergrössern«, betrachtete Wedding als »ein[en] schlimme[n] Trugschluss, welcher nur dazu leiten muss, die Concurrenz des Auslandes, welches sich an solche Vorwände nicht stösst, herbeizulocken«165. Wedding betrachtete den Markt damit vor allem als abstrakte Nachfragegröße, von der man sich im Wettbewerb durch schnelles und effizientes Produzieren möglichst große »Stücke« sichern musste. Innerhalb dieser Sichtweise einer stark auf Ausstoßzahlen zentrierten Vergleichspraxis ist der Markt zudem eine Absatzchance, die, wenn man sie nicht ergreift, anderen Wettbewerbern nützt. Die in Kapitel 3 dieser Arbeit herausgestellten Muster der statistischen Vergleichspraxis spielten damit auch in Weddings Analyse der Produktionstechnik und -kultur eine Rolle. Die Produktion wird in dieser Sichtweise weitgehend von der Nachfrage abgekoppelt, worin sich die große Lücke zwischen Produktions163 Vgl. zu dieser Ausrichtung und den damit verbundenen krisenverschärfenden Folgen: Welskopp, Arbeit und Macht, S. 264 f. 164 Wedding, S. 478. Zwar sei der Schnellbetrieb des Ruhrgebiets bezüglich Anlageinvestitionen deutlich defensiver orientiert gewesen als der US-amerikanische. Dennoch »trieben ökonomische und technische Sachzwänge sowie nichtantizipierte Folgeinvestitionen die Branche« in eine ähnliche technische und ökonomische Richtung wie die US-amerikanische. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 265. 165 Wedding, S. 477.

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kapazitäten und Marktvolumen spiegelt, die sich in der deutschen Branche seit 1873 entwickelt hatte. Eine Lösung des Absatzproblems sah Wedding gerade nicht in einer stärkeren marktwirtschaftlichen Ausrichtung – er wollte die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Branche stärken, indem er dafür plädierte, dass diese sich nicht nur technologische Innovationen aneignen, sondern bezüglich ihrer wirtschaftlichen Einstellung der als vorbildhaft erachteten US -amerikanischen Branche angleichen sollte. Durch das Nachahmen des US -Produktionssystems könne die deutsche Branche erfolgreicher – produktiver und effizienter – am »Wettlauf um Beteiligungsrekorde« teilnehmen. Grund für diese Bewertungen war, dass Wedding in seinem Reisebericht die vor Ort beobachtete Welt seiner eigenen annäherte, um sie überhaupt erst vergleichbar zu machen, so die Hypothese. Er beschränkte sich dabei auf ein bestimmtes tertium, die Produktionsleistung – und schloss andere – insbesondere konkrete wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die solche Produktionsleistungen ermöglichten  –, aus seiner Vergleichspraxis aus.166 Dieser soziale Mechanismus von Vergleichspraktiken wirkte im konkreten Fall zurück auf Weddings Sicht auf die deutsche Branche. Die Ansprüche und Forderungen des Hüttenprofessors hinsichtlich dessen, was die deutsche Branche leisten konnte und sollte, verschoben sich infolge seiner Vergleichspraktiken hin zum Vorbild gewordenen US -amerikanischen Schnellbetrieb. Diesen Mechanismus, also die Erschütterung der deutschen Produktionskultur aus dem Vergleich, hat Marx für materielle Bedürfnisse von Individuen treffend beschrieben: Materielle Bedürfnisse entspringen nicht aus sich heraus, sondern seien stets »relativer Natur«.167 Diese Beobachtung, wie im Kapitalismus Bedürfnisse entstehen, lässt sich im vorliegenden Fall auf industrielle Branchen übertragen: Ebenso, wie einzelne Menschen erst dann 166 Vgl. zu diesen Mechanismen von Vergleichspraktiken allgemein: Epple u. Erhart, Die Welt beobachten, S. 8. 167 Marx, K., Lohnarbeit, S. 412. Als ein als Analogie für die Vergleichspraktiken der deutschen Fachleute treffendes Beispiel führt Marx aus: »Ein Haus mag groß oder klein sein, solange die es umgebenden Häuser ebenfalls klein sind, befriedigt es alle gesellschaftlichen Ansprüche an eine Wohnung. Erhebt sich aber neben dem kleinen Haus ein Palast, und das kleine Haus schrumpft zur Hütte zusammen. Das kleine Haus beweist nun, daß sein Inhaber keine oder nur die geringsten Ansprüche zu machen hat; und es mag im Laufe der Zivilisation in die Höhe schießen noch so sehr, wenn der benachbarte Palast in gleichem oder gar in höherem Maß in die Höhe schießt, wird der Bewohner des verhältnismäßig kleinen Hauses sich immer unbehaglicher, unbefriedigter, gedrückter in seinen vier Pfählen finden.« Ebd., S. 411.

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ihrer materiellen Bedürfnisse gewahr werden, wenn sie sehen, über welchen Lebensstandard Nachbarn (bereits) verfügen, kann auch ökonomischen Akteuren erst angesichts der Konkurrenz bewusst werden, was ökonomisch und technologisch möglich ist. Diese Wahrnehmung wurde dadurch verstärkt, dass Wedding sich vor Ort in den USA mit den besonders privilegierten Bedingungen der Hüttenindustrie konfrontiert sah: Die vollständige Unabhängigkeit von Althergebrachtem, das Vorhandensein bewährter Vorbilder, auf deren Grundlage das Neue ohne hemmende Fesseln gegründet werden konnte, die Geltung der Person allein nach Fähigkeit und Leistung, haben mit Benutzung des fast unverritzten, von keinem Vorvolke ausgebeuteten Reichthums des Bodens das schnelle Emporblühen möglich gemacht.168 Während in der »Neuen Welt« mit Blick auf wirtschaftliche Betätigungen eine Tabula-rasa-Situation vorherrsche, seien wirtschaftliche Aktivitäten in Europa durch »hemmende Fesseln« geprägt. Hiermit meinte Wedding vor allem tradierte Vorbilder und Traditionen, eine durch Geburt vorbestimmte Geltung der Person. Darüber hinaus sei das Land und seine Rohstoffe in Europa bereits verteilt bzw. verbraucht. In Weddings Worten offenbarte sich die im 19. Jahrhundert verbreitete Sichtweise auf die Natur als unerschöpflicher Ressourcenbestand, der außerhalb der Wirtschaft mobilisierbar erschien.169 Insgesamt repräsentierten die Vereinigten Staaten vor diesem Hintergrund weitgehend freie unternehmerische Entfaltungsmöglichkeiten. Angesichts der privilegierten Verhältnisse, die die Fachleute vor Ort sahen, kam Joseph Schlink im Jahr 1890 ins Schwärmen. Für ihn mischte sich in das Gefühl der Freundschaft gegenüber den US -Fachgenossen »ein leiser Zug des Neides, des Neides darüber, daß den amerikanischen Freunden und Fachgenossen noch ein ungeheures Feld für ihre Thätigkeit [vorfinden], demgegenüber unser europäisches ein als der Erschöpfung nahes zu be-

168 Wedding, S. 486. 169 Fressoz u. Bonneuil, S. 64. Die Wahrnehmung der Tabula-rasa-Situation in den Vereinigten Staaten blendete allerdings die Native Americans komplett aus. Vgl. zur gewalttätigen Ausweitung der »frontier« und zur kapitalistischen Durchdringung der Landmassen für die Zeit der »Reconstruction« und des »Gilded Age« jüngst White, The Republic for which it stands, S. 103–135.

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zeichnen ist, offen liegt, so werden sie uns dies nicht verübeln.«170 In Folge der Reise in dieses »Landes der unbegrenzten Möglichkeiten« beschlichen den fast sechzigjährigen Schlink »in alten Tagen noch manchmal sündige Auswanderungsgelüste«. Konfrontiert mit der täglichen »bureaukratischen Schwerfälligkeit« in Deutschland sehne er sich »nach freierer Luft für Handel und Wandel«171. Wedding und Schlink entwickelten aus der vergleichenden Beobachtung »Amerika« als ökonomisches Wunschbild. Wedding leitete aus dem Vergleich Handlungsvorgaben ab. Um technologisch und ökonomisch mit der Hüttenindustrie der Vereinigten Staaten gleichziehen zu können, musste sich laut Wedding die Organisation der deutschen Branche verändern. Das Gleichziehen mit den US -amerikanischen Werken »wird aber trotz aller Mühe nicht gelingen, wenn bei jeder Gelegenheit Einer den Anderen unterbietet und die Hüttenbesitzer nicht mit vereinten Kräften dem Uebel, welches hauptsächlich die Submissionen heraufbeschworen haben, entgegentreten!«172. Wedding erblickte in der inneren Organisation der deutschen Branche und im Zusammenschluss der Werke den Schlüssel einer erfolgreichen Wettbewerbsstrategie, um einen ruinösen Preiskampf auf dem deutschen Binnenmarkt zu umgehen: Könnten denn nicht die 11 Besitzer der in Westfalen vorhandenen 54 Birnen eine Vereinigung bilden, welche ebenso handelt, wie ein Besitzer? […] Unserer Eisenindustrie fehlt es an Einheit. Es ist ein Krieg Jedes gegen Alle und nur da ist einige Einigkeit, wo es darauf ankommt, den Schutz der Regierung zum eigenen Interesse, unbekümmert um das allgemeine Wohl, anzurufen.173 Das, was Wedding hier von der deutschen Branche forderte, sah er in den USA bereits verwirklicht: das erfolgreiche »Zusammenwirken grosser Complexe«.174 Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1873 seien in den USA weniger spürbar als in Europa aufgrund des dortigen »Zusammenwirken[s] von Transportgesellschaften und Eisenhüttenbesitzern, die Einigung der letzteren in ganzen Bezirken, statt des Kampfes der Einzelnen gegen

170 171 172 173 174

O. V., Die Amerikafahrt des Vereins deutscher Eisenhüttenleute, S. 1003. Schlink, Ueber Roheisenerzeugung im Norden, S. 19. Wedding, S. 478. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 477. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 328.

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einander«.175 Wedding kontrastierte also die scharfe deutsche Binnenkonkurrenz mit dem »großen Zusammenwirken« einer kollektiven Interessenorganisation auf der anderen Seite des Atlantiks. Dieser Vergleich, der diese kollektive Organisation der US -Branche freilich kaum spezifizierte, blendete die Verdrängungskonkurrenz auf dem US -amerikanischen Binnenmarkt aus, die höchstens durch kurzfristige »pool agreements« ausgebremst wurde.176 Dadurch, dass Wedding jedoch die (behauptete) kollektive Organisation der US -Industrie mit ihrem technologischen und ökonomischen Erfolg kausal verknüpfte und der deutschen Industrie wiederum die Nachahmung des US -amerikanischen Wegs empfahl, evozierte er den Rückschluss, dass auch der deutschen Branche nur der Weg zum »Zusammenwirken« übrigblieb. Hierbei hatte er vor allem Kartelle im Blick. Es zeigt sich, dass lange vor der Gründung von U. S. Steel im Jahr 1901 deutsche Fachleute gezielt auf die US -Industrie Bezug nahmen, um so die Einhegung des binnenwirtschaftlichen Wettbewerbs zu fordern und zu legitimieren. Allerdings blieben die allermeisten Bereiche dessen, was die deutschen Beobachter als wirtschaftliche Rahmenbedingungen in den USA beobachteten, außerhalb der unternehmerischen und auch der staatlichen Einflusssphäre. Daher ist es kaum verwunderlich, dass Weddings Plädoyer, die US -amerikanische Produktionskultur trotz aller strukturellen Unterschiede zu übernehmen, auf Kritik stieß. Gerade aus Sicht betrieblicher Praktiker erschienen seine Rückschlüsse, die er in seinem Reisebericht formulierte, als problematisch. Hermann Brauns, Hüttendirektor der Osnabrücker Georgs-MarienHütte, verfasste im Jahr 1877 eine Replik auf Weddings Plädoyer, nach dem Muster des US -amerikanischen Schnellbetriebs zu produzieren. Brauns war selbst eine zentrale Figur bei der Einführung des Bessemerverfahrens in Deutschland gewesen und kritisierte zunächst Weddings Vergleichsergebnisse über die Leistungsfähigkeit deutscher und US -amerikanischer Bessemerwerke.177 Brauns stellte vor allem fest, Wedding habe einen »sehr wesentliche[n] Unterschied der Verhältnisse der deutschen und der amerikanischen 175 Ebd., S. 486. 176 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 260. 177 Hermann Brauns (1838–1911) leitete ab 1863 das Krupp’sche Stahlwerke in Essen, wo er das erste Bessemerwerk Deutschlands technisch ausgestaltete, verbesserte und bis 1873 leitete. 1873 bis 1877 war er technischer Direktor der Georgs-Marien-Hütte in Osnabrück. Unter seiner Leitung wurde dort die Erschmelzung eines brauchbaren Bessemerroheisens aus heimischen Erzen ermöglicht, was nur wenige Werke leisten konnten. Mühl, S. 561.

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Werke unberücksichtigt gelassen«178. Damit beanstandete er, dass Wedding seine Urteile auf simple Vergleiche zwischen deutscher und US -amerikanischer Branche stützte. Statt sich auf lediglich zwei tertia – Produktionsleistung und Technik – zu beschränken, müssten weitere Vergleichshinsichten mit in die Analyse eingeschlossen werden, um den US -Schnellbetrieb akkurat bewerten zu können. Hierzu zählte die weitaus günstigere Nachfragestruktur in den USA, über die Wedding hinweggegangen sei: Während in den USA die Nachfrage das Angebot sogar noch übersteige, neue Werke im Bau befindlich seien und die bestehenden Werke unter voller Auslastung arbeiteten, sei in Deutschland eine gegensätzliche Bewegung zu beobachten: In Deutschland sind leider in den letzten Jahren die Bessemerwerke ohne Ausnahme so schwach beschäftigt gewesen, dass die leitenden Techniker die Aufgabe hatten, nicht möglichst viel zu produzieren, sondern im Gegenteil den Betrieb so einzurichten, dass bei nothdürftiger Erhaltung des eingeschulten Arbeiterstammes und mit dem geringsten Kostenaufwand der Betrieb auf ein Minimum reducirt wird.179 Die deutschen Werke mussten also aufgrund der Auftragslage langsamer arbeiten, weshalb eine Orientierung an der Chargenzahl in US -Betrieben unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten keinen Sinn ergebe. Brauns wies außerdem darauf hin, dass die US -Werke auch deshalb weitaus leistungsfähiger waren, weil sie auf andere technische »Einrichtungen« zurückgreifen konnten, »speciell de[n] Gebrauch des Holley’schen Losbodens«, womit Brauns sich auf die in den USA etablierte Praxis austauschbarer Konverter-Böden bezog.180 Diese Innovation war ein wichtiger Grund für die 178 Brauns, Die nordamerikanische und die deutsche Flussstahl-Erzeugung, Sp. 91. Brauns bezog sich in seiner Replik explizit auf eine vergleichende Zusammenstellung Weddings über deutsche und US-amerikanische Bessemerwerke im Jahr 1875, die in der Zeitschrift Glückauf bzw. der Zeitschrift für die deutsch-österreichische Kohlen-, Stahl-, Eisen- und Maschinen-Industrie ein Jahr später veröffentlicht wurden. Dieser Aufsatz enthielt die weitgehend gleichen Argumentationen wie Weddings hier besprochener Reisebericht über seine Studienreise in die USA. 179 Ebd., Sp. 92 f. 180 Ebd., Sp. 93. Nachdem sich das Bessemerverfahren zu Beginn der 1860er Jahre, also etwa eineinhalb Jahrzehnte vor Weddings und Brauns Diskussionen, zu etablieren begann, waren die Konverter-Böden die große Schwachstelle des neuen maschinellen Konverter-Prozesses: Nach sechs bis sieben Chargen mussten die Konverter einer bis zu dreißigstündigen Reparatur unterzogen werden. Dieses Problem wurde durch den US-amerikanischen Hütteningenieur Alexander Holley gelöst, der im Jahr 1872 ein

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erfolgreiche Entwicklung des spezifisch US -amerikanischen Schnellbetriebs: eine auf hohen Ausstoß und hohe Auslastung zielende und auf großem Ressourceneinsatz basierende Produktion von Roheisen und Bessemerstahl.181 Zwar stellte für Brauns die kurze Reparaturzeiten und hohe Chargenzahlen garantierende »Arbeitsmethode einen Vortheil« dar. Allerdings betonte er den hohen Verschleiß dieser Böden in den USA, was er dem »dort üblichen forcirten Arbeiten« zuschrieb. Dieser Verschleiß war für ihn in erster Linie eine Kostenfrage. Auf die in deutschen Betrieben verwendeten KonverterBöden und das hier eingesetzte feuerfeste Material gerechnet bedeutete die deutsche Praxis eine Einsparung von rund 20.000 Mark pro Jahr und Konverter gegenüber dem Holley’schen Konverterboden. So sei »es wohl einleuchtend, dass man nicht unter allen Umständen gut thut, auf diese Ersparung zu Gunsten einer etwas höheren Production zu verzichten.«182 Zwar setzte sich der von Alexander Holley entwickelte Wechselboden für Stahlkonverter in den nächsten Jahren auch in den europäischen Werken als wichtige Optimierung des zeitlichen Ablaufs der Flussstahlproduktion zunehmend durch.183 Brauns Bedenken bezogen sich jedoch darauf, um jeden Preis dem US -amerikanischen Produktionstempo zu folgen. Wie bereits in Kapitel 5.1 erörtert, setzte sich spätestens in den frühen 1890er Jahren unter deutschen Fachleuten das Bewusstsein durch, dass man aufgrund unterschiedlicher ökonomischer Rahmenbedingungen nicht im gleichen Umfang produzieren könne, wie die US -amerikanische Industrie. Dennoch: trotz unterschiedlicher Bedingungen, die entwickelten sich die deutsche und die US -amerikanische Eisen- und Stahlindustrie in ihrer Expansionsphase im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus ähnlich. Dies galt insbesondere für die unternehmerischen Organisationsstrukturen, das technische Produktionssystem und das rasante Wachstum der Produktion.184 In diesem Prozess neigte die deutsche Industrie fortlaufend dazu, ProdukPatent auf Austauschböden anmeldete. Diese konnten ohne Abkühlung eingesetzt werden, was die Reparaturdauer auf etwa eine Stunde reduzierte. Damit war der Weg zum Dauerbetrieb von Bessemerkonvertern frei. »Das Fassungsvermögen der kippbaren Konverter wurde von den anfänglichen 1,5 bis 3 t in den 1860er-Jahren überwiegend auf 5 t und in den 1870er Jahren bis auf 8 t gesteigert. In 24 Stunden konnten um 1869 acht Chargen, um 1876 18 bis 26 Chargen ausgeführt werden.« Paulinyi, Vom Frischherd, S. 40. 181 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 237–250. 182 Brauns, Die nordamerikanische und die deutsche Flussstahl-Erzeugung, Sp. 93. 183 Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt, S. 79–85. 184 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 67–79.

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tionskapazitäten aufzubauen, mit denen der im Vergleich zu den US -amerikanischen binnenökonomischen Absatzchancen nur sehr begrenzt aufnahmefähige deutsche Binnenmarkt nicht Schritt halten konnte. Die Forschung hat in der oligopolistischen Branchenstruktur der deutschen Industrie einen wichtigen Faktor dieser Entwicklung identifiziert.185 Diese erstaunlich ähnliche Entwicklung war auch ein Resultat des transnationalen Vergleichens. Vergleichspraktiken fördern jene »außertechnische[n], eben ökonomische[n] und soziale[n], Antriebskräfte des technischen Fortschritts«, wie der Technikhistoriker Ulrich Wengenroth betont.186 In diesem Zuge verstärkte das fortlaufende Vergleichen mit den USA auf Seiten deutscher Fachleute das Bedürfnis, in einem ähnlichen Ausmaß zu produzieren. Dieses Muster schlug sich auch auf der übergeordneten Ebene der Ausrichtung der eigenen Produktionskultur nieder. Selbst als eine komplexere Vergleichspraxis eingesetzt hatte, die die natürlichen Verhältnisse von Rohstofflage und Binnenmarkt miteinschloss, hielt das Vergleichen mit der US -Industrie, das immer auch ein Angleichen bedeutete, auf Seiten der deutschen Fachleute gleichzeitig die Spannung zwischen Wünschenswertem und Möglichem latent aufrecht.187 Dies zeigte sich in der Zwischenkriegszeit in besonderer Weise, als die deutsche Branche neue Absatzgebiete erschließen wollte. Denn nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich das Problem der Überkapazitäten der deutschen Eisen- und Stahlindustrie in der Umstellung von der Kriegs- zur Friedensproduktion weiter. Zwar gelang es seit Beginn der 1920er Jahre – nicht zuletzt mit Hilfe von US -amerikanischen Kapitalanleihen und im Zuge einer Mitte des Jahrzehnts einsetzenden verstärkten Reisetätigkeit deutscher Hütteningenieure in die Vereinigten Staaten – die Werke technisch und organisatorisch zu rationalisieren.188 Auch in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik blieben die Absatzprobleme jedoch bestehen. In dieser Situation erschien vielen deutschen Unternehmern der Schwerindustrie die Kartellierung bzw. Syndizierung nicht länger geeignet, die Absatzprobleme allein zu lösen. Die erneute Syndizierung der Branche hatte im Oktober 1924 mit der 185 Ebd., S. 264. 186 Wengenroth, Technologietransfer als multilateraler Austauschprozeß, S. 225. 187 Vgl. dagegen die britischen Berichte von Jeans und Popplewell. Hier führte eine freihändlerische und marktwirtschaftliche Ausrichtung sowie ein unterschiedliches Betriebssystem dazu, dass der US-amerikanische Schnellbetrieb in der britischen Vergleichspraxis hinsichtlich seiner Vorbildhaftigkeit zurückgewiesen wurde. 188 Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 116–358.

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Deutschen Rohstahlgemeinschaft eingesetzt, als Reaktion auf die Kapazitätsprobleme in einer verschärften Wettbewerbssituation auf dem europäischen Markt. Weitere Verkaufsverbände und selbst internationale Kartellierungsversuche kamen hinzu und förderten den »Kampf um die Quoten«: Die Preiskonkurrenz wurde in die technisch umgesetzte Konkurrenz der Selbstkosten umgeleitet. Diese Entwicklung habe laut Thomas Welskopp wiederum die Marktferne der deutschen Unternehmen gefördert, die allein auf autonome Strategien der Senkung von Selbstkosten und Expansionsstrategien setzten – wodurch das Problem der Überkapazitäten und der Auslastung wiederum verstärkt wurde.189 Die Gründung eines »deutschen Stahltrusts« nach dem Vorbild von U. S.  Steel erschien als organisatorischer Ausweg aus dieser Misere. Der US -amerikanische Stahltrust zeigte, dass es möglich war, Teile der Branche organisatorisch neu auszurichten und erschien damit als Alternative oder Ergänzung zur üblichen binnenwirtschaftlichen Marktregulierung. Es schien nun durchführbar, Branchenprobleme auf der Ebene der Produktion zu lösen, indem man auf die Prinzipien der organisatorischen Rationalisierung durch Arbeitsteilung und Spezialisierung setzte. Somit war U. S. Steel zum »Vorbild und Maßstab« für die am 14. Januar 1926 gegründete Vereinigte Stahlwerke AG (VSt) geworden.190 Die Ablösung traditioneller Kartellstrukturen durch eine oligopolistische Branchenstruktur sollte dem Ziel von Massenproduktion und -absatz nach US -amerikanischem Vorbild näherkommen.191 Die VSt setzte dabei auf Konzentration auf die produktivsten Betriebe, während veraltete und unrentable stillgelegt wurden. Zusätzlich richtete der Konzern die Erzeugungsprogramme horizontal aus und forcierte den wärmewirtschaftlichen Verbund.192 Die beiden treibenden Kräfte, Fritz Thyssen (Aufsichtsratsvorsitz) und Albert Vögler (Vorstandsvorsitz), begründeten ihre Konzernbildung nicht zuletzt entlang der vorbildhaften US -amerikanischen Massenproduktion:

189 Kleinschmidt u. Welskopp, Zu viel »Scale«, S. 287. Zeitgenössische Ökonomen wie Eugen Schmalenbach kritisierten bereits, dass das Angebot der deutschen Hüttenindustrie stets der Aufnahmefähigkeit des deutschen Marktes deutlich vorauseilte. Kleinschmidt, »Amerikanischer Plan«, S. 374. 190 Reckendrees, Die Vereinigte Stahlwerke A. G., S. 161. Vgl. zu U. S. Steel als »amerikanische Gefahr« um die Jahrhundertwende: Kapitel 3.3 dieser Arbeit. 191 Ebd., S. 162. 192 Vgl. ausführlich Reckendrees, Das »Stahltrust«-Projekt.

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Unser Vorbild war das glänzende Beispiel Amerikas. Reichtum der Natur, ein großer Markt, haben dort die Entwicklung zu wirtschaftlich vorteilhaftester Massenproduktion gefördert. Amerikanische Wissenschaftler haben auf dieser günstigen Grundlage Hervorragendes geleistet. Wir mußten die Grundlage für eine konzentrierte Massenproduktion durch unsere Maßnahmen erst künstlich schaffen.193 Da man an den ökonomischen »Grundlagen« (»Reichtum der Natur« und »großer Markt«) nichts ändern konnte, versuchten Teile der deutschen Industrie dennoch eine »konzentrierte Massenproduktion« nach US -Vorbild nachzuahmen. Dabei ist auffällig, dass die »Grundlage« von Massenproduktion im Bereich der überbetrieblichen Reorganisation maßgeblicher Teile der deutschen Eisen- und Stahlindustrie unter dem Dach der VSt gesehen wurde – und nicht im Absatz. Das Management der VSt verbesserte die Möglichkeiten zur Massenproduktion vor allem im technologischen Bereich der Walzwerke. Gerade bei den Feinblechwalzwerken hatten deutsche Fachleute die größten technischen Unterschiede zu den US -Werken und damit einen Aufholbedarf der deutschen Industrie identifiziert. Franz Bartscherer, Werksleiter der ATH und Vorstandsmitglied der VSt, schrieb 1927 an Albert Vögler, daß die amerikanischen Hochöfen und Stahlwerke pro Einheit nicht mehr produzieren als in Deutschland; auch bei den Walzwerken, soweit es sich um normale Walzwerke handelt, können die deutschen Werke m. E. gut daneben bestehen. […] Anders verhält sich jedoch die Sache, wenn es sich um Spezialwalzwerke, also hauptsächlich kontinuierliche Walzwerke, handelt. Bei diesen ist ein großer Vorsprung gegenüber den deutschen Werken offensichtlich.194 Hüttendirektor Hugo Klein, ebenfalls in Diensten der VSt, konkretisierte, dass die US -amerikanischen Feinblechwalzwerke umfangreicher, deren Gerüste, Antriebsmaschinen und Öfen klüger angeordnet seien. Auch die Be-

193 TkA VSt/3049, Thyssen und Vögler unterzeichnetes Typoskript, 21.7.1927, zitiert nach: Reckendrees, Die Vereinigte Stahlwerke A. G., S. 159. 194 TkA A/5573: Bartscherer, Franz, Amerikareise, 5.7.1927, S. 2. Vgl. Organigramm der Zuständigkeiten der VSt: Reckendrees, Das »Stahltrust«-Projekt, S. 470. Zu Bartscherer: Baumann.

Vergleichen und Angleichen

triebsführung gestalte sich besser und vermindere durch eine langsamere Umdrehungszahl der Walzen mit breiterem Umfang die Bruchzahlen.195 Zusammen mit anderen Vorstandsmitgliedern der VSt zog Klein aus der vergleichenden Beschäftigung mit der US -amerikanischen Feinblechindustrie daraus den Schluss, dass der große technische Vorsprung im Bereich kontinuierlicher Feinblechwalzstraßen aufgeholt werden müsse.196 Die VSt schloss daher im November 1927 mit der American Rolling Mill Co. (Armco) einen Vorvertrag für den Lizenzerwerb zum Bau einer Warmbreitbandstraße.197 Der Bau dieser Walzstraße verzögerte sich einerseits aufgrund von Standortrivalitäten zwischen Walzwerken der VSt und andererseits von Finanzierungsproblemen infolge der Weltwirtschaftskrise um einige Jahre. Die Entscheidung zum Bau der Straße fiel daher erst nach der Reorganisation der VSt im Jahr 1935. Die Anlage konnte schließlich im August 1937 durch die Bandeisenwalzwerke AG in Dinslaken in Betrieb genommen werden.198 Damit verfügte die VSt zwar erst 13 Jahre nach der US -Industrie über eine Warmbreitbandstraße, gleichzeitig war diese jedoch die erste ihrer Art überhaupt in Europa.199

195 Klein, S. 261. Das Management der VSt orientierte sich im Zuge mehrerer Studienreisen an der US-amerikanischen Walzwerkstechnik. Rasch, Die erste Warmbreitbandstrasse, S. 75 f. Auch Ende der 1930er Jahre gelangten deutsche Fachleute weiterhin zu dem Schluss, dass die US-Branche allein im Bereich der Walzwerkstechnik und dabei insbesondere bei Anlagengröße, Mechanisierung und Organisation überlegen sei. RWWA 130–2-2, Bericht der Herren Arthur Tix und Heinrich Büning über die Amerika-Studienfahrt vom 17. Oktober bis 16. November 1936, 1937, S. 180 f. 196 Vgl. hierzu auch den Reisebericht der beiden: tkA A/3189, Amerika Reise Klein-Grisse [!] 1926. Feinblechherstellung in Amerika, 6.1.1927, S. 1–5. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Faszination für technische Gesichtspunkte höher gewichtet wurde als für ökonomische, ist das Mannesmann-Schrägwalzverfahren, das Ende des 19. Jahrhunderts zwar die deutsche Fachwelt begeisterte, das Unternehmen Mannesmann jedoch aufgrund der praktischen Probleme an den Rand des Ruins brachte. Radkau, S. 181 f. 197 Eine Warmbreitbandstraße ist eine US-amerikanische Innovation der Walzwerkstechnik jener Zeit, die nun endgültig kontinuierliches Walzen ermöglichte: Aus Brammen wird ein dünnes, sehr viel längeres als breites Band gewalzt, das zwischen 0,8 und 25  mm dick ist. Warmbandwalzwerke produzierten dadurch nicht länger einzelne Bleche, sondern ein kontinuierliches Band, das in sogenannte coils aufgerollt werden konnte. Vgl. zur Geschichte der Walzwerkstechnik den umfangreichen Band von Ranieri u. Aylen. 198 Rasch, Die erste Warmbreitbandstrasse, S. 76–81. Vgl. Statistiken zu technischen Daten, Export und Produktion: Ebd., S. 81, 83. 199 Vgl. zur Adaption US-amerikanischer Warmbreitbandstraßen in Europa die Fallstudien zu den einzelnen Ländern in Ranieri u. Aylen.

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Absatzgesichtspunkte spielten allerdings gegenüber dem Wunsch eines technologischen Aufholens gegenüber den US -Walzwerken eine zunächst bemerkenswert untergeordnete Rolle. Diese äußerst moderne Walzstraße symbolisierte, wie die deutsche Industrie vor allem aus der Beschäftigung mit »Amerika« zum technischen Fortschritt angetrieben wurde und in genau diesem Bereich die »Grundlage« der Massenproduktion schuf, während absatzpolitische und überhaupt ökonomische Gesichtspunkte eine untergeordnete Rolle spielten, so die Hypothese. Dies bestätigt sich in der weiteren Geschichte der Warmbreitbandstraße der VSt: Zwar war sie die erste ihrer Art in Europa – mit Blick auf die Verbreitung von Automobilen bestand in Frankreich und Großbritannien jedoch zu jener Zeit eine weitaus bessere Marktlage für die Einführung einer Warmbreitbandstraße.200 Dabei blendeten die Fachleute der VSt in ihren Berichten mit Blick auf Walzerzeugnisse die Absatzfrage keineswegs vollständig aus: Sie wid­meten sich in ihren Reiseberichten nun stärker als in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Absatzstrategien der US -amerikanischen Hüttenindustrie.201 Ihnen fielen zunächst die enormen Unterschiede hinsichtlich Produktion und Verbrauch von Walzwerkserzeugnissen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten auf: Die USA wiesen sowohl bei der Gesamtmenge aller Walzerzeugnisse (33.387.000 t gegenüber 10.246.000 t) als auch bei der Ausfuhr (431.000 t gegenüber 117.000 t) deutlich größere Ziffern auf. Dies war zwar wenig überraschend, Hugo Klein versuchte jedoch davon ausgehend in seinem Bericht »Herstellung und Verwendung von Feinblechen in den Vereinigten Staaten von Nordamerika« von 1927 mit Hilfe weiterer Vergleichshinsichten Unterschiede in der deutschen und US -amerikanischen Absatzstruktur auch ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl zu setzen. Er versprach sich davon, für die deutschen Hersteller spezifische Absatzchancen im Bereich von massenhaft erzeugten Verbrauchsgütern aufzeigen zu können. Zunächst fiel ihm dabei auf, dass Feinbleche in den USA 18 % aller Walzerzeugnisse ausmachten, während in Deutschland diesbezüglich nur rund 8 % zu

200 Rasch, Die erste Warmbreitbandstrasse, S. 74 f. 201 Eine detaillierte Analyse der Absatzmöglichkeiten der US-amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie legte vor dem Ersten Weltkrieg mit Hermann Levy bezeichnenderweise ein Ökonom vor, während sich die deutschen Hütteningenieure – wie gesehen – mit der Feststellung begnügten, dass der US-Binnenmarkt größer und aufnahmefähiger sei.

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Buche standen.202 Ins Verhältnis mit der Bevölkerungszahl gesetzt, offenbarte sich eine große Differenz beim Verbrauch: »Auffallend ist der geringe Verbrauch Deutschlands, wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland doch etwas mehr als die Hälfte der Einwohnerzahl Nordamerikas hat, daß es dementsprechend ungefähr die Hälfte des amerikanischen Feinblechverbrauches haben sollte, aber tatsächlich nur 13,8 % hat.« Selbst wenn man den unterschiedlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch eine Nicht­beachtung von Weiß- und Schwarzblechen in der Berechnung der Verbrauchsdifferenz genügen wolle und zusätzlich ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl setze, komme der deutsche Verbrauch auf lediglich 43 % des US -amerikanischen.203 Um in diesem Bereich zukünftige Absatzchancen für die deutsche Indus­ trie aufzuzeigen, versuchte Klein nun, die Gründe für die festgestellten großen Unterschiede bei den Verbrauchszahlen von Feinblechen herauszustellen: – Erstens beobachtete er den erhöhten Verbrauch an Weißblechen, die insbesondere zu Lebensmittelkonserven verarbeitet wurden. – Zweitens verwies er auf den hohen Verbrauch von Schwarzblechen für die in den USA Ende der 1920er Jahre bereits relativ hochentwickelte Automobilindustrie.204 Darüber hinaus nannte er eine ganze Fülle weiterer US -amerikanischer Marktsegmente von Endprodukten aus Feinblechen, die viele Produkte bereits ersetzt hatten, die in Deutschland weiterhin aus Holz gefertigt wurden. Neben Blechmöbeln führte Klein vor allem rostfreie Wellbleche an, die im Straßenbau verwendet wurden. Er fragte davon ausgehend weiter, warum der Verbrauch von Feinblechen in den USA so hoch war. Hierfür nannte er zunächst soziökonomische Ursachen. So führte er für den hohen US -amerikanischen Verbrauch an Konservendosen an, dass sich die in Städten sowie in den kaum landwirtschaftlich geprägten Regionen des Ostens und Mittleren

202 Klein, S. 259. Dieser Artikel basiert auf dem Bericht einer Studienreise, die Hugo Klein zusammen mit dem Maschinenbauingenieur und Gesamtvorstand der VSt, Karl Grosse durchgeführt hatte. Vgl. tkA A/3189, Amerika Reise Klein-Grisse [!] 1926. Feinblechherstellung in Amerika, 6.1.1927. Vgl. zu Grosse, der in den 1930er Jahren schließlich ein wichtiger Akteur der deutschen Feinblechherstellung nach US-amerikanischem Muster werden sollte: Gerstein. 203 Klein, S. 260. 204 Ebd; vgl. Statistiken zu Produktion und Bestand an Kraftfahrzeugen europäischer Länder und der USA: Rasch, Die erste Warmbreitbandstrasse, S. 75 f.

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Westens lebenden US -Amerikaner nicht – wie in Deutschland üblich – in Schrebergärten selbst Obst und Gemüse anbauen könnten, sodass die Versorgung mit Lebensmitteln mit Konserven erfolge.205 Klein konnte damit nur feststellen, dass in den USA auch diesbezüglich andere Rahmenbedingungen herrschten, die die Nachfrage nach Feinblechen begünstigte. Allerdings fokussierte er sich dabei lediglich auf solche Bedingungen, die außerhalb der unternehmerischen Einflusssphäre lagen. Warum die Automobilindustrie in Deutschland relativ unterentwickelt geblieben war, begründete er mit dem Ersten Weltkrieg.206 Es waren also am Ende erneut die unabänderlichen »natürlichen Verhältnisse«, die einem größeren Absatz der deutschen Industrie im Wege standen. Die höheren Löhne in den USA thematisierte Klein dabei lediglich als Grund dafür, dass die US -Feinbleche mit ihren hohen Selbstkosten auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig waren.207 Eine höhere Binnennachfrage etwa – wie in den USA praktiziert – durch höhere Löhne zu erreichen, diskutierte Klein wie viele seiner deutschen Fachgenossen gar nicht erst. Es galt ihm als Naturgesetz, dass »aus den bekannten Gründen« weder die Automobil- noch die Weißblechindustrie sich mit Blick auf die Nachfrage »amerikanischen Verhältnisse« annähern werde.208 Statt in der Lohn- oder der staatlichen Strukturpolitik sah Klein eher im Bereich des Marketings einen Ansatzpunkt zur Absatzsteigerung, einer »intensiven Propaganda, die dort [in den USA; TM] zur Verwendung von Blech, in der Hauptsache als Ersatz für Holz, gemacht wird«209. Die Führung der VSt zog daraus den Schluss, dass die deutsche Industrie ebenfalls verstärkt mit Hilfe von PR-Maßnahmen aktiv das Wissen über die Anwendungsweisen von Stahl verbreiten müsse. Wie in Kapitel 4.3 dieser Arbeit erörtert, implementierte die VSt zu diesem Zweck eine »Gemeinschaftswerbung«, auch, um stärker in konsumorientierte Marktsegmente vorstoßen zu können. Allerdings, so hat sich ebenfalls bereits gezeigt, tat sich die deutsche Branche mit einem solchen Ausgreifen auf die Verbrauchsgüterindustrie offensichtlich schwer. Außerdem spielte der in den USA bewunderte Karosseriebau für die Bauentscheidung des modernen Walzwerks von Beginn an keine Rolle. Mehr noch: Die Dinslakener Walzstraße kam überhaupt kaum als Warm-

205 Klein, S. 260 f., Zitat: S. 260. 206 Ebd. 207 Ebd., S. 262. 208 Ebd., S. 260. 209 Ebd., S. 260 f., Zitat: S. 260.

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bandwalzstraße zum Einsatz, sondern vorwiegend als Universalwalzstraße. Überdies waren Exportgesichtspunkte und weniger der inländische Verbrauch zentrale Orientierungspunkte von Bauentscheidung und Betriebsführung.210 Zwar lassen sich in diesem Fall ab Mitte der 1930er Jahre auch kartell- und rüstungsspezifische Aspekte für diese Entwicklung anführen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die VSt eine vor allem aufgrund ihrer Technik bewunderte Anlage aus den USA übernahm. Zwar hatte man Feinbleche als Marktsegment ausgemacht, das Absatzchancen versprach, produzierte jedoch in diesem Bereich nicht, weil die Marktlage dafür nicht gegeben war und man nicht bereit war, die Grundlagen für eine größere Binnennachfrage außerhalb von Marketing zu schaffen. Warum sich die Marktlage im Bereich der Feinbleche und der Konsum­ güter für breitere Käuferschichten nicht verbesserte, war nicht zuletzt der bloß selektiven Aneignung des US -amerikanischen Vorbilds geschuldet. Zwar war die VSt in organisatorischer Hinsicht U.  S. Steel durchaus ähnlich,211 konnte sich der deutsche Stahltrust in statistischen Berechnungen durchaus an US -Konzernen messen lassen und zumindest mit Bethlehem Steel – dem zweitgrößten – bei den Produktionszahlen mithalten.212 Das Vergleichen mit der US -Industrie erzeugte auf Seiten deutscher Branchenakteure jedoch einen einseitigen Handlungsdruck, technologisch gleichzuziehen. Darüber legten schließlich die Entwicklungen im Bereich der Walzstraßen von Warmbreitband Zeugnis ab. Die deutsche Branche konnte hier zeigen, dass sie US -Innovationen nicht nur aufholen, sondern mit einigen eigenen Neuerungen weiterentwickeln konnte.213 Technologischer Fortschritt erscheint in diesem Beispiel fast als Selbstzweck oder zumindest als Resultat einer Dominanz außerökonomischer, rein technischer Leistungswettbewerbe und Motivationslagen. Trotz der Analysen der unterschiedlichen Marktstrukturen und der Bekenntnisse zu Marketingstrategien US -amerikanischer Provenienz war die Führung der VSt – und mit ihr die gesamte deutsche Branche – jedoch keines210 Rasch, Die erste Warmbreitbandstrasse, S. 80. 211 Reckendrees, Die Vereinigte Stahlwerke A. G., S. 160. Vgl. kritisch zu den Rationalisierungserfolgen der VSt: Kleinschmidt u. Welskopp, Zu viel »Scale«, S. 273–283. 212 Vgl. tkA FWH/1942, Vereinigte Stahlwerke Aktiengesellschaft Hauptstelle / Statistik (1932), Statistischer Vergleich Vereinigte Stahlwerke, Bethlehem Steel Corporation, United States Steel Corporation, 1927–1932. 213 Vgl. zu den technischen Veränderungen und Innovationen der Dinslakener Walzstraße: Rasch, Die erste Warmbreitbandstrasse, S. 83 f.

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wegs bereit, sich in ähnlicher Weise wie die US -Industrie am Massen­konsum auszurichten und dafür neue Absatzgebiete zu erschließen. Noch im Vorfeld der Gründung der VSt Ende November 1925 hatte Albert Vögler in einer Ansprache als Vorsitzender unter Zustimmung der anwesenden Mitglieder des VDEh zwar gefordert: »Zur Massenerzeugung gehört Massenabsatz. (Sehr richtig!)« Allerdings war dies kein Bekenntnis Vöglers zum Massenkonsum. Im Gegenteil: Er lehnte, wie so viele seiner deutschen Branchengenossen, die von abschätzig als »Schriftgelehrte« bezeichneten Fachleuten geforderte »Amerikanisierung« im Sinne einer »Herstellung von Massenartikeln und Massengütern auf mechanischem Wege« ab, wie er vor der Hauptversammlung des VDEh im November 1925 postulierte. Nichts sei verfehlter, »als amerikanische Verhältnisse automatisch auf den deutschen Markt übertragen zu wollen«214. Das Vergleichen mit der US -Industrie zeigte deutschen Fachleuten zwar Lösungsstrategien im Bereich des Absatzes auf – sie waren jedoch keineswegs bereit, ihre vorgefertigten ideologischen Standpunkte aufzugeben. Stattdessen wiesen sie eine grundlegende Neuausrichtung der Absatzstrategien sowie ihrer Lohn- und Wirtschaftspolitik aus ideologischen Gründen rundheraus zurück. Der Wirtschaftshistoriker Alfred Reckendrees hielt in diesem Zusammenhang fest, dass sich die deutschen Unternehmer »eher auf eine Rückkehr zu den Verteilungsrelationen und Konsummustern des Wilhelminischen Deutschlands [orientierten] als auf eine industrielle und volkswirtschaftliche Neuorientierung«215. Die Strategie der VSt auf Massenabsatz im Bereich der Grundstoffindustrie zu setzen, so Reckendrees weiter, »stößt indes an Entwicklungsgrenzen[,] sobald selbstgenerierte Wachstumsmöglichkeiten erschöpft sind«216. Anders als in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als die deutsche Branche von staatlichen Infrastrukturinvestitionen (insbesondere Eisenbahn-, Hafen- und Kanalbau) und im Krieg von umfangreichen Rüstungsaufträgen profitieren konnte, fielen diese Absatzmöglichkeiten nun weg.217 Neben einer immer wieder formulierten Rückbesinnung auf die (vermeintlich) prosperierenden Zeiten des Kaiserreichs wiesen auch deutsche Branchenakteure, die nicht in den VSt organisiert waren, durch den Vergleich mit »Amerika« eine volkswirtschaftliche Neuorientierung am 214 Ansprache Albert Vögler, in: o. V., Bericht über die Hauptversammlung, S. 2083. Hervorhebungen im Original. 215 Reckendrees, Das »Stahltrust«-Projekt, S. 593; ders., Die Vereinigte Stahlwerke A. G. 216 Reckendrees, Das »Stahltrust«-Projekt, S. 566. 217 Ebd., S. 566 f. Vgl. zu dieser ideologischen Zurückweisung des Massenkonsum auch Kapitel 4.3 dieser Arbeit.

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Massen­konsum grundlegend zurück. Zwar waren sich deutsche Branchenvertreter wie Paul Reusch der strukturellen Probleme der Überkapazitäten in Deutschland und Europa bewusst; so formulierte Reusch auf der Hauptversammlung des Langnamvereins im Oktober 1926: »Also dort [in den USA; TM] Anpassung der Produktion und der Produktionsmöglichkeiten an den tatsächlichen Bedarf, hier trotz zu großer Produktionsmöglichkeiten Schaffung immer neuer Produktionsstätten. Daß sich die zurzeit in Europa betriebene Wirtschaftspolitik eines Tages rächen muß, steht außer Zweifel.«218 Reusch hatte die Gutehoffnungshütte (GHH) als langjähriger Vorstandsvorsitzender zwar dezidiert aus der Gründung der VSt herausgehalten und versuchte stattdessen in der vertikalen Integration seines Konzerns einen Ausweg aus den strukturellen Absatz- und Auslastungsproblemen der Hüttenwerke zu finden.219 Allerdings war sich Reusch bei der Absatzfrage und der Stellung zum Massenkonsum mit seinem Gegenspieler Albert Vögler einig. Er lehnte das Modell des US -amerikanischen Massenkonsums gleichzeitig jedoch ebenfalls rundheraus ab.220 Es existieren nur wenige Berichte von Fachleuten, die sich explizit von diesen Bewertungen und überhaupt der etablierten Vergleichspraxis deutscher Branchenvertreter abgrenzten. Ein solches Beispiel ist der – bezeichnenderweise lediglich intern – überlieferte Reisebericht des Hütteningenieurs W.  Lukowski aus dem Jahr 1926. Lukowski arbeitete für das Krupp’sche Stahlwerk in Rheinhausen und kritisierte die über Jahrzehnte tradierten und routinierten Vergleichsergebnisse seiner deutschen Fachkollegen. Zunächst warf Lukowski der deutschen Branche Ignoranz vor. Schließlich wurde die »Überlegenheit der amerikanischen Hüttenindustrie über die deutsche […] bis etwa 1920 in Deutschland kaum anerkannt, sogar meistens bestritten; wo man sie erkannte, tat man sie gewöhnlich mit der Erklärung ab, daß aus ihr 218 RWWA 130–400 101 221/2 b, Reusch auf der Hauptversammlung des Langnamvereins 1926, Bl. 6. Zitiert aus: Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 218 f. Der Begriff »Langnamverein« (= »Verein mit langem Namen«) geht auf Otto v. Bismarck zurück, der damit den im März 1871 gegründeten »Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen« bezeichnete. 219 Vgl. zum Ausbau der GHH zum integrierten Montanunternehmen in den Jahren 1918–1923: Marx, C., Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte, S. 115–220. 220 RWWA 130–400 101 221/2 b, Nachlaß Paul Reusch. Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen und Nordwestliche Gruppe der Vereinigung Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller. Begrüßung Paul Reusch auf der Hauptversammlung Langnamverein am 1.10.1926, zitiert nach: Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 212 f.

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nichts zu lernen sei, da sich die amerikanischen Verhältnisse nicht auf europäische übertragen lassen«221. Lukowski betrachtete es als Irrtum, den fehlenden »natürlichen Reichtum« Deutschlands immer wieder zu betonen.222 Dagegen lenkte Lukowski den Blick auf die Einstellungen des Managements als wichtigsten Unterschied. Angesichts des konstatierten technologischen und organisatorischen Zurückbleibens der deutschen Industrie sah L ­ ukowski keineswegs technische Verbesserungen als Hauptansatzpunkt für Veränderungen, da diese stets dem »Veralten ausgesetzt« seien.223 Statt auf diese technischen »Symptome« der US -amerikanischen Überlegenheit abzustellen, sollten sich die deutschen Fachleute vielmehr den »tieferen Ursachen« zuwenden, um diese endlich »aus der Welt zu schaffen«.224 Diese Ursachen identifizierte er »auf dem Gebiete der geistigen Einstellung der Menschen den Aufgaben des Wirtschaftslebens gegenüber«.225 Anders als viele seiner Ingenieurskollegen beschränkte er seine Fehlerdiagnose einer vor der Folie der US -Betriebe fehlenden bzw. falschen Einstellung nicht auf die Hüttenarbeiter.226 Vielmehr sah er auch auf der Ebene der Unternehmens- und Betriebsleitungen sowie der Fachleute ein seiner Auffassung nach falsches Bewusstsein. Dies zeige sich etwa bei der Weißblechindustrie, die in den USA über hohe Wachstumszahlen verfüge und eine große Abnehmerin der dortigen Branche sei. In Deutschland hingegen hätten die Unternehmen unter immer wiederholtem Verweis auf die »natürlichen Verhältnisse« von Rohstoffen und Binnenmarkt als unüberwindliche Hindernisse eine Produktionssteigerung in diesem Bereich abgelehnt. Vor allem sei die US -Branche in weitaus stärkerem Maße bereit, sich um jeden Preis neue Absatzbereiche aktiv zu erschließen.227 Damit drehte Lukowski die ökonomische Wirkrichtung um – weg von der üblichen Lesart eines Determinismus der »natürlichen Verhältnisse«, hin zu »psychologischen« Faktoren: »Wie verschiedene Klimate eine Verschieden221 HAK WA 70/171, Aus einem Bericht von Dr.-Ing. W. Lukowski, Rheinhausen-Nrh. über eine Studienreise durch die nordamerikanische Eisenhütten-Industrie im Juni 1926, S. 65. 222 Ebd., S. 67. 223 Ebd., S. 66 f. 224 Ebd., S. 67. 225 Ebd., S. 66. 226 Vgl. hierzu Kapitel 6.2 dieser Arbeit. 227 HAK WA 70/171, Aus einem Bericht von Dr.-Ing. W. Lukowski, Rheinhausen-Nrh. über eine Studienreise durch die nordamerikanische Eisenhütten-Industrie im Juni 1926, S. 96.

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heit von Fauna und Flora hervorbringen, so schafft die geistige Atmosphäre, in der ein Volk lebt, dessen spezifische Eignung für bestimmte Tätigkeitsgebiete.« Gegenüber der Wirtschaft sei »Amerika« positiver als Deutschland eingestellt. Während die meisten anderen Fachleute das tertium der natürlichen Verhältnisse über die Produktionsleistungen stellten, um diese zu relativieren, gewichtete Lukowski die Vergleichshinsicht der wirtschaftlichen Einstellung der Branchenakteure am höchsten.228 Insgesamt jedoch waren deutsche Unternehmer und Fachleute – anders als ihre Branchengenossen in den USA – aus ideologischen Gründen nicht bereit, die herbeigesehnte Massenproduktion mit dem Massenkonsum breiterer Käuferschichten zusammenzudenken, weshalb, so Reckendrees, »eine zivile Auflösung des Widerspruchs von Massenproduktion ohne Massenabsatz« in den 1920er und 1930er Jahren nicht gelingen konnte.229 Für deutsche Manager der Eisen- und Stahlindustrie war die Vorstellung, breitere Käuferschichten durch höhere Löhne an der wirtschaftlichen Prosperität teilhaben zu lassen, aufgrund einer rückwärtsgewandten, an den Verteilungsmustern des Kaiserreichs orientierten Position nicht denkbar.230 Noch bis in die jüngste Vergangenheit pflegten deutsche Stahlmanager wie Dieter Spethmann in der Rückschau die Erzählung von der deutschen Eisen- und Stahlindustrie als einer gegenüber den USA benachteiligten Branche – ohne freilich die einseitige Orientierung an technologischen Fragen und der Massenproduktion der deutschen Industrie zu problematisieren.231 Auf Massenproduktion (im Sinne großen Absatzes) und das technologische Schritthalten mit den Vereinigten Staaten wollte die Branche zwar keineswegs verzichten. Die eher

228 Ebd. 229 Reckendrees, Das »Stahltrust«-Projekt, S. 594. 230 Ders., Die Vereinigte Stahlwerke A. G., S. 185. Dabei ist anzumerken, dass eine solche Wirtschaftspolitik US-amerikanischer Kapitalisten wie Andrew Carnegie oder Henry Ford freilich im Zusammenhang eines Zurückdrängens partizipativer Bestrebungen zu betrachten ist. Vgl. ebd. Im Einzelnen zu dieser betrieblichen Sozialpolitik der USamerikanischen Stahlindustrie: Rees. 231 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Spethmann in Reaktion auf die Ergebnisse von Recken­drees, Das »Stahltrust«-Projekt. Dieter Spethmann (1926–2016) arbeitete in den 1950er Jahren bei den VSt, war später Vorstandsmitglied der ATH und führte die Thyssen AG von 1973 bis 1991 als Vorstandsvorsitzender. Spethmann kritisierte, dass Unternehmer per se nicht von politisch-ideologischen Motiven geleitet sein könnten, weil dies der Markt nicht honoriere. Darüber hinaus hätten im »verarmten Deutschland« der Zwischenkriegszeit die Voraussetzungen für eine solche Nachfrage nicht bestanden. Ebd., S. 239–241.

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technologischen Vergleichswettbewerbe verstärkten aber das notorische Auslastungsproblem der deutschen Branche noch – erst die nationalsozialistische Rüstungspolitik habe laut Adam Tooze diesen Widerspruch aus Massenabsatz ohne Massenkonsum auflösen und die Absatzlücke schließen können.232 Alles in allem hat das Kapitel gezeigt, dass die an Produktionstechnik und -kultur ausgerichteten Vergleichspraktiken Handlungsorientierung und -legitimation in einer von technischen Umbrüchen und konjunkturellen Schwankungen geprägten Industriebranche bieten. Indem sie technischen und ökonomischen Wandel vorantreiben und gleichzeitig die Produktionskultur durch Selbstbestätigung stabilisieren, ist ihnen eine produktive Kraft eigen. Außerdem wirkten die Vergleichspraktiken auch festigend, indem sie Routinen hervorbrachten, Sichtweisen reproduzierten oder die Konkurrenzbeobachtungen beendeten. Gleichzeitig sind transnationale Vergleichspraktiken in der krisenhaften deutschen Eisen- und Stahlindustrie der Zwischenkriegszeit jedoch expansiv und destruktiv. Dies zeigt sich auf Seiten deutscher Fachleute, deren Vergleichspraktiken außerökonomische, von Angebot und Nachfrage losgelöste Bedürfnisse erzeugen und stärken: Der Wunsch, mit den USA technisch gleichzuziehen, dabei jedoch Absatzgesichtspunkte auszublenden, steht hierfür beispielhaft und lag als Skript der Vergleichspraxis deutscher Fachleute über den gesamten Untersuchungszeitraum (im Bereich der Technik und Produktionskultur) zu Grunde. Das, was deutsche Fachleute auf ihren Studienreisen in den USA sahen, entsprach zwar in vielerlei Hinsicht eigenen ökonomischen und technologischen Wunschbildern von Produktion und Absatz von Eisen und Stahl. Jedoch fokussierten die deutschen Beobachter beim Aneignen des US -amerikanischen Modells einseitig technologische Aspekte und quantitative Produktionsparameter. Man wollte zwar unbedingt im US -amerikanischen Maßstab produzieren, aber wies gleichzeitig Absatzstrategien nach US -amerikanischem Vorbild zurück. Die Nachfrage aktiv durch das Erschließen breiterer Käuferschichten mithilfe höherer Löhne zu verstärken, lehnten deutsche Branchenakteure hingegen aus ideologischen Gründen ab. Verstärkt wurde diese wirtschaftspolitische Absage von Ressentiments, die deutsche Akteure gegenüber Massenproduktion und -konsum in den USA hegten. Insofern zeigt sich, dass die an der US -amerikanischen Produktionstechnik und -kultur orientierten Vergleichspraktiken deutscher

232 Tooze, Ökonomie der Zerstörung, S. 243–288.

Vergleichen und Angleichen

Fachleute latent die einseitige Fokussierung der deutschen Industrie auf quantitative Produktionsparameter verstärkten. Daraus folgte, dass die Vergleichspraktiken nicht nur technischen Wandel vorantrieben, sondern im konkreten Fall Absatzprobleme noch verschärften. Greift man nun nochmals die Überschneidungsmomente zwischen den auf Produktionstechnik und -kultur zielenden Vergleichspraktiken der deutschen und der US -amerikanischen Branche heraus, zeigen sich mehrere Muster: Den marktsoziologischen Modellen entsprechend führten unterschiedliche Wettbewerbsstrategien (Export- vs. Binnenmarktorientierung) zu unterschiedlich intensiven Konkurrenzbeobachtungen. Es war dabei nicht entscheidend, inwiefern die jeweils andere Branche tatsächlich in einem »objektiven« Sinne als Konkurrenz galt bzw. von den Akteuren als solche wahrgenommen wurde. Die Branchenakteure sahen sich angesichts der Weltmarktkonkurrenz sowie technischer Probleme fast schon gezwungen, sich mit Produktionstechnik und -kultur der jeweils anderen Industrie zu beschäftigen. Es konnte mit Hilfe der diskutierten Beispiele bestätigt werden, dass in einem proaktiven ökonomischen Modus namens Kapitalismus, der ohne steuerndes Zentrum auskommen muss, Vergleichspraktiken eine entscheidende Rolle in der Konkurrenz einnehmen. Es dominierte auf der funktionalen Ebene in beiden Fällen orientierendes, legitimierendes und mobilisierendes Vergleichen. Diese Praktiken treiben nicht nur technischen und ökonomischen Wandel voran – sie erzeugen, stabilisieren und irritieren fortlaufend Selbst- und Fremdbilder. Über Beobachtungen zweiter Ordnung bedingten sich deutsche und US -amerikanische Wahrnehmungen wiederum wechselseitig.

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Vergleichen und Herrschen: Arbeitsbeziehungen zwischen Gegen- und Wunschbild

Der »soziale Faktor« der Produktion spielte eine zunehmend wichtige Rolle in der wechselseitigen Beobachtung der deutschen und der US -amerikanischen Fachleute der Eisen- und Stahlindustrie. Schließlich stellten industrielle Beziehungen aus Sicht des Managements ein zentrales Steuerungsproblem der Produktion dar.1 Das galt für die Hüttenindustrie, die im Laufe ihrer Geschichte von besonders konflikthaften Arbeitsbeziehungen geprägt war, in besonderem Maße – insbesondere im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dafür standen nicht allein aufsehenerregende Ausstände und Streiks, zu denen es sowohl in den deutschen als auch in den US -amerikanischen Industrierevieren immer wieder kam und die mitunter gewalttätig ausgefochten wurden. Vielmehr war der betriebliche Alltag vom kapitalistischen Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit geprägt und wurde von den spezifischen strukturellen Bedingungen der körperlich überaus anstrengenden und anspruchsvollen Hüttenarbeit verstärkt.2 Die Hüttenarbeiter bildeten einen Produzentenstolz und gruppensolidarische Sozialbeziehungen untereinander aus, die sie gegen absolute Herrschaftsansprüche der Betriebs- und Unternehmensleitungen mobilisierten.3 Dagegen versuchten die Unternehmen frühzeitig mit Hilfe staatlicher und vor allem betrieblicher Sozialpolitik die Hüttenarbeiter zu befrieden und ihr Verhalten im Sinne der Leitung zu beeinflussen.4 Der latente industrielle Konflikt gefährdete aus 1 »Industrielle Beziehungen« meint im Anschluss an den Soziologen Walther MüllerJentsch »jene eigentümliche Zwischensphäre im Verhältnis von Management und Belegschaft, von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, deren eigentlicher Gegenstand friedliche oder konfliktorische Interaktionen zwischen Personen, Gruppen und Organisationen sind«. Müller-Jentsch, S. 17. Vgl. außerdem die Diskussion des Konzepts der industriellen Beziehungen für die unternehmenshistorische Forschung bei Plumpe, W., Industrielle Beziehungen. 2 Vgl. umfassend: Welskopp, Arbeit und Macht. 3 Welskopp, Sons of Vulcan. 4 Vgl. zum sozialpolitischen Denken: Kaufmann. Im Anschluss an Thomas Welskopp meint betriebliche Sozialpolitik die »Inaussichtstellung und Gewährung von nicht im Arbeitslohn bzw. Gehalt inbegriffenen betrieblichen Sach-, Dienst- und Geldleistungen«. Diese Politik sei auch im 19. Jahrhundert nicht sozialpaternalistisch ausgerichtet und auch kein Ausdruck einer sozialen unternehmerischen Gesinnung. Sie sei schließ-

Vergleichen und Herrschen

Sicht der Unternehmensleitungen nichtsdestotrotz dauerhaft den reibungslosen Ablauf des komplexen Produktionsprozesses und forderte fortlaufend betriebliche Macht- und Herrschaftsstrukturen heraus. Vor diesem Hintergrund interessierten sich Fachleute der Industrie für die industriellen Beziehungen sowie die betriebliche und staatliche Sozialpolitik in anderen Ländern und verglichen das dort Beobachtete mit den Arbeitsbeziehungen in den eigenen Hüttenwerken. Transnational ausgerichtete Vergleichspraktiken, so die Hypothese des folgenden Kapitels, spielten bei der Inszenierung und Legitimation betrieblicher Herrschaft eine wichtige Rolle. Angesichts konflikthafter Arbeitsbeziehungen diente das Vergleichen mit der sozialen Betriebssphäre anderer Länder der Verbreitung und Durchsetzung der »Ideologie des Managements«. Für den Soziologen Reinhard Bendix versuchten Unternehmensführungen damit, »sich das Vorrecht der Handlung aus freiem Willen und das Koalitionsrecht zu sichern, dagegen aber den Untergeordneten Gehorsamspflicht aufzuerlegen und die Verpflichtung einzuschärfen, dem Arbeitgeber nach besten Kräften zu dienen«5. Mit Hilfe transnationaler Vergleichspraktiken konstruierten die Fachleute in diesem Zusammenhang Gegen- und Wunschbilder über die soziale Betriebssphäre, so die Hypothese. Sie legitimierten so die eigenen Maßnahmen zur Steuerung der betrieblichen Arbeit und der hierarchischen betrieblichen Sozialbeziehungen, was sich nicht zuletzt in innenpolitischen Debatten niederschlug. Betriebliche Konflikte, soziale Ungleichheit und die Entfremdung der Arbeit wurden dabei auf die USA als mögliche bzw. empfundene ausländische Konkurrenz projiziert. Auswirkungen des internationalen Wettbewerbs begegneten die Unternehmen, indem sie den ökonomischen Wettbewerb in kulturelle Konflikte der Nationen umdeuteten. Im Folgenden wird in drei Schritten vorgegangen. Im ersten Unterkapitel wird zunächst die Vergleichspraxis der deutschen Hütteningenieure im ausgehenden 19. Jahrhundert untersucht. Unter den Bedingungen der Betriebsdemokratie der Weimarer Republik veränderte sich die Sichtweise der Fachleute deutlich, wie das zweite Unterkapitel zeigen wird. Schließlich widmet sich das dritte Unterkapitel der US -amerikanischen Vergleichspraxis.

lich »nicht primär auf die soziale Sicherung oder Prämiierung einer spezifischen Klientel ausgerichtet, sondern sie ist – über ihre unbestreitbaren materialen Wirkungen hinaus – instrumental für die Erzeugung von Verhaltensänderungen und -dispositionen in Adressatengruppen.« Welskopp, Betriebliche Sozialpolitik, S. 333. 5 Bendix, S. 17.

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6.1

»Amerika« als sozialpolitisches Gegenbild in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg

Mit der englischen Industrialisierung rückten im frühen 19. Jahrhundert die damit verbundenen sozialen Folgen des technischen Fortschritts in den Fokus deutscher Beobachter.6 Schließlich wurde im Zuge der nachholenden Industrialisierung die »soziale Frage« auch in den anderen europäischen Ländern zunehmend dringlicher. Als Reaktion auf sozialistische Ideen und aus der Revolutionsfurcht des Bürgertums entstand die moderne Sozial- und Wohlfahrtsstaatsidee, die von Beginn an von der Wahrnehmung der Entwicklung in anderen Ländern geprägt war.7 So tauschten sich die Staaten im ausgehenden 19. Jahrhundert im Zuge von Weltausstellungen nun auch über sozialpolitische Maßnahmen aus.8 In diesem Zusammenhang einer Ende des Jahrhunderts international debattierten »sozialen Frage« begannen nun die Fachleute der deutschen Eisen- und Stahlindustrie, erstmals auch die sozialen Aspekte in ihren Reiseberichten über die US -Hüttenindustrie zu thematisieren, während sie sich für diesen Bereich der Produktion in den ersten Berichten der 1870er Jahre noch kaum bis gar nicht interessiert hatten: In Hermann Weddings Bericht von 1876 etwa kamen die US -amerikanischen Hüttenarbeiter lediglich als passive Bestandteile des Produktionsprozesses zur Sprache. Wedding interessierte sich in seinem Bericht allein für die »Leutezahl« pro Produktionsanlage: Die Arbeiter betrachtete er allein als einen Selbstkostenfaktor.9 Insgesamt blieb das Interesse an sozialpolitischen Themen – im Vergleich zu technologischen Fragen – für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gering. Noch auf der Hauptversammlung des VDI im Jahr 1913 wurde festgehalten, dass in Deutschland »über die Fortschritte auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes und der Arbeiterwohlfahrt in den Vereinigten Staaten« wenig bekannt sei.10 Das Interesse an industriellen Beziehungen und Sozialpolitik war in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bei deutschen

6 Vgl. klassisch: Engels. Ausführlich zur zeitgenössischen deutschen Rezeption des Faktors Arbeit in Großbritannien: Teuteberg. 7 Reulecke, S. 41. 8 Vgl. zur Frage der Arbeiterwohnungen: Das Berg-, Hütten- und Salinenwesen auf der Pariser Weltausstellung 1900 (Nach amtlichen Quellen), in: ZBHSW Jg. 49 (1901), S. 177–242. 9 Vgl. unter der Überschrift »Arbeiter« die allein tabellarische Darstellung bei Wedding, S. 470. 10 O. V., Verein deutscher Ingenieure. 54. Hauptversammlung, S. 1119.

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Fachleuten auch deshalb weniger ausgebildet, weil sie die betriebliche Sozialsphäre noch nicht als Beziehungsgeflecht betrachteten. Vielmehr blickten sie »von oben« auf die Arbeits- und Wirtschaftseinstellungen »ihrer« Arbeiter und fragten dabei vor allem nach deren sozialistischer Durchdringung. Zwar blieb der industrielle Interessenkonflikt unter den Bedingungen der Hüttenarbeit zwischen den 1860er und den Jahren um 1900 latent und prägte die sozialen Beziehungen in den Werken. Insgesamt konnten sich die Unternehmer bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als »Herr im Haus« betrachten: Aufgrund der zu ihren Gunsten ausgerichteten rechtlichen Rahmenbedingungen verfügten sie über einen auch staatlich garantierten deutlichen Machtvorteil in den industriellen Beziehungen.11 Allerdings markiert das Jahr 1890, als die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) im Februar erstmals die meisten Wählerstimmen bei einer Reichstagswahl erringen konnte, einen ersten Riss in diesem Selbstverständnis. Das Erstarken der deutschen Arbeiterbewegung führte dazu, dass sich deutsche Fachleute für die industriellen Beziehungen in den USA zu interessieren begannen. Carl Jüngsts (1831–1918) Notizen über Eisenhüttenwesen und Arbeiterverhältnisse von 1891 sind eine erste ausführlichere Auseinandersetzung mit den industriellen Beziehungen und der Sozialpolitik in den USA . Jüngst war Hütteningenieur und fertigte einen amtlichen Bericht an, der im Zuge der im Herbst 1890 erfolgten Gruppenreise des VDEh in die USA entstand. Ziel war es, ein »allgemeines Bild« der Arbeitsbedingungen zu zeichnen, um »bei der Beurtheilung der gegenwärtigen Deutschen und Amerikanischen Verhältnisse Anhaltspunkte zu gewinnen.«12 Er wollte also die beobachteten US -Verhältnisse mit den deutschen vergleichen, um diese so jeweils beurteilen zu können. Der vergleichende Blick sollte schließlich dazu führen, die so erlangten »Erfahrungen zum Besten unserer vaterländischen Industrie zu verwerthen.«13 Aufgrund dieses Erkenntnisinteresses überrascht, wie voreingenommen Jüngsts Bericht ist – und es die seiner deutschen Fachkollegen aus jener Zeit um die Jahrhundertwende sind. Zunächst widmet sich Jüngst der US -amerikanischen Demokratie als Grundlage der »sozialen Frage« im Allgemeinen und der industriellen Beziehungen im Besonderen:

11 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 308–370. 12 Jüngst, S. 121. 13 Ebd., S. 122.

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Von dem Gesichtspunkte ausgehend, dass alle Menschen gleich geschaffen, fühlt sich der Amerikaner als freier, gleichberechtigter Bürger und nimmt als solcher lebhaften Antheil an der socialen und politischen Verwaltung des Landes. Er erkennt keinen anderen Unterschied als den des Besitzes. Nach diesem strebt er mit der ganzen Thatkraft des vollen Selbstvertrauens, oft unter Zurückdrängung edlerer Gesinnungen. Durch die Erfahrung belehrt, dass, obwohl die Gesetze des Landes als gute zu bezeichnen sind, dieselben doch durch Bestechlichkeit sehr häufig umgangen werden, sieht er sich auf seine eigen Thatkraft angewiesen. Er geht also, ein Feind aller Zukunftsbilder, in practischer Erwägung nur da augenblicklich Erreichbare verfolgend, mit voller Ueberlegung rücksichtslos auf den möglichst hohen Erwerb aus.14 Die US -amerikanische Demokratie mit ihren Gleichheitsvorstellungen und der postulierten Chancengleichheit förderte aus Jüngsts Perspektive vor allem das Besitz- und Gewinnstreben weiter Teile der Bevölkerung. Besitz sei demnach zum einzig gültigen Distinktionsmerkmal und Leitbild allen Handelns in den Vereinigten Staaten geworden. Die Demokratie erscheint Jüngst als ein durch Konkurrenz geprägtes, rücksichtsloses, egoistisches und materialistisches Verhalten förderndes politisches System, in dem es keinen Idealismus gibt. Dieses besonders ausgeprägte kapitalistische Gewinnstreben präge zunächst das Handeln der US -amerikanischen Unternehmer. Hermann Brauns, Generaldirektor der Dortmunder Union, urteilte über das Wirken seiner US amerikanischen Branchengenossen im Jahr 1891 in diesem Sinne wie folgt: Die rast- und rücksichtslose Energie, mit welcher der amerikanische Fabricant seine Ziele verfolgt, ist ein […] charakteristischer Zug, der uns auf allen Werken, welche wir besucht haben, entgegengetreten ist. Die weitsichtige Wirthschaftspolitik, welcher wir auf Grund langjähriger Erfahrungen gewohnt sind, unsere Betriebe unterzuordnen, findet jenseits des Oceans nur wenig Beachtung. Der Gewinn soll rasch erzielt, das eingelegte Kapital rasch wiedergewonnen werden, ohne Rücksicht auf den Nachfolger oder auf folgende Generationen.15 14 Ebd., S. 142. 15 O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 11. Januar 1891, S. 92.

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In den USA fehlten also – anders als in Deutschland und Europa – Traditionen und Erfahrungen, die das Gewinnstreben einhegen konnten. Dadurch dominierte ein kurzsichtiges und rücksichtsloses Gewinnstreben. Die im europäischen Bürgertum insgesamt verbreiteten zeittypischen Klischees über »den« allein materialistisch eingestellten Amerikaner,16 werden hier bereits zu einer interessengeleiteten Projektion. Negativ empfundene Auswirkungen kapitalistischen Handelns bzw. negativ konnotierte kapitalistische Handlungen werden hier auf die USA projiziert.17 Doch es waren aus Sicht der deutschen Beobachter nicht nur die Unternehmer in den USA, die rücksichtslos nach Gewinn strebten. Auch die Arbeiter waren davon geprägt. Dies zeige sich laut Jüngst zunächst daran, dass sie selbst danach streben, »in die Reihe der Capitalisten zu treten.«18 Zu diesem Zweck organisierten sich die Arbeiter, wie Jüngst weiter schreibt: »Aus Klugheit ist er ein Freund der Vereinigungen, und bilden die ArbeiterOrganisationen daher einen sehr wichtigen Factor in der Industrie. Zwar für socialdemokratische Pläne eingenommen, bleibt er doch den Bestrebungen der Anarchisten unzugänglich.«19 Insofern unterstellt Jüngst den US -ameri­ kanischen Arbeitern ein instrumentelles Verhältnis zu den Organisationen der Arbeiterbewegung, dem kein tiefergehender politischer Idealismus zu Grunde liege. Auch an anderer Stelle bleiben Jüngsts Kommentare zum Organisierungsgrad der US -Arbeiterschaft sehr oberflächlich. Dies legt nahe, dass er sich für diesen Aspekt kaum interessiert und dass er die US -Gewerkschaften nicht als schlagkräftige Organisationen ernst nahm.20 Dieser Gesichtspunkt ist für ihn nur ein weiterer Beleg für die materialistische Einstellung der US -amerikanischen Arbeiter. Das auch den Arbeitern vorgeworfene rücksichtlose Streben nach Besitz führe zwar dazu, dass die US -amerikanischen Arbeiter hinsichtlich ihrer Produktionsleistung um 33 bis 50 Prozent 16 Vgl. zum allgemeinen Amerikadiskurs des deutschen Bürgertums Schmidt, S. 122–189. 17 Diner, S. 16; vgl. auch: Lüdtke, Marßolek u. Saldern, Amerikanisierung; Becker, Mythos USA. 18 Jüngst, S. 142. 19 Ebd. 20 Ebd. S. 148 f.; vgl. dagegen stärker die Mobilisierungserfolge der Knights of Labor hervorhebend: Brügmann, S. 117. In seiner Schrift Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? (1906) untersuchte Werner Sombart, die im Vergleich zu Europa geringen Verankerung der sozialistischen Arbeiterbewegung in den USA. Europa verwandte er dabei als Vergleichsmaßstab und nahm die US-Gewerkschaften – namentlich die Knights of Labor – ebenfalls nicht als moderne Gewerkschaftsorganisationen ernst. Sombart, S. 31 f. Vgl. die ideengeschichtliche Historisierung der Schrift: Lenger, »Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?«.

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effektiver seien als die deutschen.21 Dieser aus unternehmerischer Sicht durchaus positive Effekt werde allerdings von negativen gesellschaftlichen Folgeerscheinungen überlagert. Denn Jüngst unterstellte den US -Arbeitern ein »vorwaltende[s] Verlangen nach Genüssen«: »Der Arbeiter will selbst gut leben, d. h. angenehm wohnen, wiederholt und kräftig speisen, reichlich trinken, täglich seine Zeitung lesen und ausserdem noch so viel verdienen, dass er den Ansprüchen seiner im Allgemeinen ihm geistig überlegenen und recht oft genusssüchtigen Frau genügen kann.«22 Jüngst legt hier die Leitbilder des bürgerlichen »Wertehimmels« als Maßstab an das Konsumverhalten der US -amerikanischen Arbeiterschaft an.23 Das zuvor kritisierte gesellschaftlich in den USA verankerte Gewinnstreben führt aus Jüngsts Sicht bei den Arbeitern zu einem übermäßigen Konsum  – der ihnen aus seiner bürger­ lichen Perspektive nicht zusteht. Damit argumentiert Jüngst im Rahmen des Zeitüblichen: Angehörige des Bürgertums verdächtigten die Arbeiterschaft eines zügellosen und lasterhaften Lebenswandels. Aus diesem Grund, so die Ansicht, dürften die Arbeiter nicht zu viel verdienen, weil sie sich sonst zu sehr ihren Affekten hingäben und ein »lasterhaftes Leben« führten. Diese Sichtweise steht um Zusammenhang einer bürgerlichen Konsumkritik. Die sich in ihren Grundstrukturen seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausbreitende Massenkonsumgesellschaft rief laut dem Historiker Claudius Torp insbesondere in Deutschland moralisch und kulturkritisch grundierte Abwehrreaktionen des Bürgertums hervor, die darauf zielten, materielle Ansprüche der Mittel- und Unterschichten einzuhegen.24 Jüngst machte die Ehefrauen der US -amerikanischen Arbeiter als treibende Kraft einer rundheraus abgelehnten Entwicklung eines zügellosen Konsumverhaltens verantwortlich, indem er sie aufgrund ihrer angeblich übermäßigen Emotionalität als leicht verführbare Konsumentinnen bezeichnet.25 Gleichzeitig bediente Jüngst in seinen Ausführungen das zeitgenössisch verbreitete Klischee des US -ame-

21 Jüngst, S. 143. 22 Ebd. 23 Vgl. zum bürgerlichen »Wertehimmel«: Hettling. 24 Torp, Cl., S. 14–39. Diese Einstellung offenbarte sich auf Seiten deutscher Fachleute auch, wenn sie über die Prosperität der US-Massenkonsumgesellschaft in den 1920er Jahren schrieben. Hugo Klein verknüpfte dies mit den US-amerikanischen Prohibitionsgesetzen (1920–1933), denen er »den Verdienst der jetzigen industriellen Blüte Amerikas« zuwies, weil der sonst für Alkohol ausgegebene Lohn der Arbeitenden nun den Industrien zugutekommen könne. Klein, S. 262. 25 Torp, Cl., S. 14.

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rikanischen Matriarchats:26 Nicht nur seien die Ehefrauen demnach ihren Männern »geistig überlegen« und »herrschsüchtig«. Darüber hinaus wird das weibliche Geschlecht in einer unglaublichen Weise verzogen. Der Amerikaner betrachtet jedes weibliche Wesen als eine ›Lady‹. Die Folgen sind naturgemäss: übertriebene Ansprüche und Mangel an häuslichem Sinn bei den Frauen. […] Mir sagte ein Arbeiter: ›Wenn ich kein Deutsches Mädchen heirathen kann so heirathe ich gar nicht; die Amerikanischen Mädchen wollen sich nur putzen.‹27 Damit verknüpft Jüngst den als übermäßig empfundenen Konsum US -amerikanischer Arbeiter mit einer aus den Fugen geratenen Geschlechterordnung. Diese Ordnung kann in Deutschland noch aufrecht erhalten werden, wie der Verweis auf den Arbeiter und seinen Wunsch nach einer deutschstämmigen Ehefrau verdeutlicht. In dieser Weise diskreditiert Jüngst die höheren Konsumchancen US -amerikanischer Arbeiter sowie die in den USA bereits im Entstehen begriffene »consumer society«, indem er vor den sozialen und kulturellen Folgen warnt.28 Die deutschen Verhältnisse fungieren dabei weniger als direkte Vergleichsfolie, sondern Jüngst konstruiert entlang seines bürgerlichen »Wertehimmels« in den USA und der dortigen Konsumgesellschaft ein bedrohliches Gegenbild, um vor einer ähnlichen Entwicklung in Deutschland zu warnen.29 Die voreingenommene und ideologische Dimension von Jüngsts Bericht wird umso deutlicher, wenn man ihn mit Werner Sombarts wenige Jahre später erschienenen Studie Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? (1906) vergleicht. Sombart machte in den hohen Löhnen, den sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und der fehlenden sozialen Diskriminierung die wichtigsten Faktoren dafür aus, warum die US -Arbeiter mit ihrer sozialen und politischen Lage insgesamt relativ zufrieden waren.30 Während

26 Schmidt, S. 190–216; vgl. für die Zwischenkriegszeit: Saldern, Überfremdungsängste, S. 221–227. 27 Jüngst, S. 143 f. 28 Vgl. hierzu mit Blick auf die Zwischenkriegszeit Kapitel 4.3 dieser Arbeit. 29 Vgl. zur 1890 einsetzenden kulturkritischen Thematisierung Amerikas als Prozess der »Erfindung« und »Verdrängung« durch europäische Intellektuelle, die darauf reagieren, dass der »alte Kontinent« nicht länger Mittelpunkt der Weltgeschichte war: Kamphausen. 30 Sombart, S. 76–142.

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Jüngst den Aspekt der höheren Löhne in den USA nur kurz erwähnte und relativierte,31 deutete er die US -amerikanische Demokratie in erster Linie als eine Konsumgesellschaft mit kulturell gefährlichen Auswirkungen. Soziale Aufstiegsmöglichkeiten negierte Jüngst in seinem Bericht, indem er die soziale Ungleichheit in den USA betonte: »Ungeheure Reichthümer sind in den Händen Einzelner angesammelt und mehren sich durch geschickte Benutzung der Verhältnisse und durch oft rücksichtlose Ausbeutung der Arbeiter stetig. Daher stehen Capital und Arbeitskraft sich schroff gegenüber.«32 Mit der »geschickten Benutzung der Verhältnisse« zielte Jüngst auf das rücksichtslose Ausspielen der einzelnen sozialen Gruppen der US -amerikanischen Klassengesellschaft an, das er den US -amerikanischen Unternehmern insbesondere bei Lohnkonflikten vorwarf. In diesen vorgeblich kapitalismuskritischen Worten wird nicht nur die Konflikthaftigkeit der Arbeitsbeziehungen in den USA betont, sondern kapitalistische »Ausbeutung« auf Amerika projiziert. Dies war umso effektvoller, wenn deutsche Fachleute daran anknüpfend die Wirtschafts- und Sozialpolitik der deutschen mit der US -amerikanischen Hüttenindustrie verglichen. Wilhelm Brügmann schrieb im Jahr 1887: Das Verhältniß der Arbeiter zu den Arbeitgebern ist [in den USA; TM] bekanntermaßen kein sehr erfreuliches. […] Es ist diesen Arbeiterverhältnissen gegenüber für jeden Deutschen eine große Genugthuung zu

31 Bezeichnenderweise argumentiert Jüngst hier erneut nicht zuletzt mit der den USArbeitern unterstellten Genusssucht: »Die Löhne erscheinen an sich im Allgemeinen sehr hoch bemessen; sie können jedoch nur als reichlich bezeichnet werden, da eine gleichmässige Beschäftigung nicht vorhanden, das Klima und die angestrengte Thätigkeit eine gute Pflege des Körpers bedingt und die Führung eines Haushalts bei dem vorwaltenden Verlangen nach Genüssen sehr theuer ist.« Jüngst, S. 147. Auffällig ist, dass hier wie bei den allermeisten Berichten bei der Lohnfrage zwar Aufstellungen über die Löhne US-amerikanischer Arbeiter angeführt, die Löhne aber nicht mit den deutschen verglichen werden. Die höheren US-Löhne sind ein kaum hinterfragter Topos deutscher Berichte. Ebd., S. 147 f. Für die Zukunft sah Jüngst großes gesellschaftliches Konfliktpotenzial hinsichtlich der Lohnfrage, wenn die US-Unternehmen sich stärker der Weltmarktkonkurrenz stellen und daher die Löhne senken müssten: »Eine solche Schmälerung werden sich aber die Arbeiter auf die Dauer nicht gutwillig gefallen lassen, vielmehr sich derselben mit Gewalt widersetzen. Bei der bis dahin grossen Arbeiterzahl wird es einer gewaltigen Machtentfaltung der Regierung bedürfen, um die stürmische Bewegung in enge Grenzen einzudämmen, bis neue Verhältnisse einen Ausgleich herbeiführen.« Ebd., S. 151. 32 Ebd., S. 142; vgl. auch Brügmann, S. 118.

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wissen, daß die deutsche Regierung wie die deutschen Industriellen den einschlägigen Fragen die größte Beachtung schenken. Trotz der bedeutenden Opfer, welche unserer Industrie durch die neuere Gesetzung auferlegt werden, kann man doch nur die weise Voraussicht anerkennen, die zur rechten Zeit das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter auf gesunde Grundlagen gestellt hat.33 Brügmann stellt hier das deutsche System der Sozialversicherung und der betrieblichen Sozialpolitik einem »Mangel jeglicher Fürsorge« gegenüber. Brauns konkretisierte mit Blick auf betriebliche Maßnahmen: »Als ein Mangel, der nur zum Theil durch die hohen Löhne ersetzt wird, darf ferner das Fehlen von Kranken- und Invaliden-Kassen und sonstigen VersorgungsEinrichtungen für die Arbeiter auf der Mehrzahl der Werke bezeichnet werden.«34 Insofern relativierte Brauns die höheren Löhne in den USA . Vor allem jedoch führe der weitgehende Verzicht auf sozialpolitische Maßnahmen in den US -Betrieben zu überaus konflikthaften Beziehungen. In diesem Zusammenhang behauptete Jüngst: »Wiederholt ist mir von [US -amerikanischen; TM]Arbeitern gesagt worden, dass die Stellung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine weniger schroffe sein würde, wenn von Seiten der ersteren, wie in Deutschland, für das Wohl der Arbeiter Sorge getragen würde.«35 Hier konstruiert Jüngst ein US -amerikanisches Gegenbild zum demgegenüber als wohltätig erscheinenden deutschen Unternehmertum. Brügmann und Jüngst sehen sich und die gesamte deutsche Industrie angesichts dieser konflikthaften Aufladung in ihrem Weg bestätigt: Die von Brügmann angeführte »Genugtuung« (s. Zitat) setzt dabei erst ein, als er die Maßnahmen deutscher Hüttenwerke mit denen in den USA vergleichen kann. Sein Verweis auf die »bedeutenden Opfer« (s. Zitat), die die deutsche Industrie und der Staat mit ihren sozialpolitischen Maßnahmen auf sich genommen haben, zeigt, dass die deutsche Industrie nicht aufgrund eines sozialen Bewusstseins und einer Gemeinwohlorientierung handelte. Die Reiseberichte deutscher Fachleute über die US -Industrie jener Zeit dienten weniger der Analyse als der Selbstvergewisserung und Eigenpropaganda. Zwar erfuhr die staatliche Sozialpolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert große internationale Aufmerksamkeit und war dabei nicht zuletzt auch zum Gegenstand des 33 Ebd., S. 117. 34 Brauns, Allgemeine Mittheilungen, S. 92. 35 Jüngst, S. 144.

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internationalen Wettbewerbs um Leistungsprestige geworden.36 Allerdings hatte sich die rheinisch-westfälische Schwerindustrie erst in den 1880er Jahren von einer einstigen Gegnerin zu einer Verfechterin der Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetze gemausert. Dies geschah allerdings weniger aufgrund eines sozialen Bewusstseins und einer Gemeinwohlorientierung, wie die Branche in ihrer Eigenpropaganda so häufig betonte. Die Schwerindustrie hatte vielmehr erkannt, dass es aus marktrationalen Motiven opportun erschien, die staatliche Sozialversicherung zu unterstützen: Sie hatte selbst bereits Erfahrungen mit betrieblicher Sozialpolitik gesammelt, und es hatte sich gezeigt, dass diese eine weitgehend reibungslose großbetriebliche Produktion gewährleistete. Denn gerade in Gestalt der Unfallversicherung minimierte die Sozialversicherung überdies konkrete und in der Branche nicht unerhebliche Risiken der Hüttenarbeiter und damit auch der Unternehmen. Außerdem konnten insbesondere die betrieblichen Maßnahmen gleichzeitig disziplinierend wirken, wenn die Arbeiter stets mit dem Verlust sozialpolitischer Vorteile rechnen mussten.37 In innerdeutschen sozialpolitischen Debatten verwiesen Verbandspolitiker der Eisen- und Stahlindustrie immer wieder auf die präzedenzlosen Maßnahmen, die im Ausland ihresgleichen suchten. Sozialdemokraten und Nationalökonomen äußerten den Vorwurf, die Eisen- und Stahlindustrie stehe dem »sozialen Fortschritt« im Wege, indem sie sich weitergehenden Maßnahmen wie der Einführung des Achtstundentags widersetze.38 Dagegen postulierte der Verbandspolitiker Kind im Jahr 1912: »Ihre [der Großeisenindustrie; TM] sozialen Einrichtungen gehen weit über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinaus und werden nur von wenig anderen Industrien erreicht. Man soll von ihr nur nichts Unmögliches verlangen.«39 Der vergleichende Hinweis auf die sozialpolitischen Maßnahmen in anderen Ländern 36 Um 1900 wurde die drängende »soziale Frage« auch international von Expert:innen diskutiert; anlässlich der Weltausstellungen in Paris in den Jahren 1889 und 1900 rückte die Sozialpolitik in Gestalt einer spezifischen Sektion (»Musée Social«) ins Zentrum des »Wettstreits der Nationen«. Der deutsche Pavillon blieb den Zeitgenossen in dieser Hinsicht besonders im Gedächtnis: Dort wurde die staatliche Sozialpolitik, insbesondere die Sozialversicherung, als erfolgreiches Top-down-Modell zur Lösung der »sozialen Frage« präsentiert und damit nicht zuletzt auch in die imperialen Ambitionen des Kaiserreichs eingebettet. Rodgers, S. 13. 37 Ullmann, Industrielle Interessen, S. 588–607. Vgl. zur betrieblichen Sozialpolitik der Eisen- und Stahlindustrie: Welskopp, Betriebliche Sozialpolitik; Hilger. 38 Kind, S. 1647. 39 Ebd.

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sollte auch sozialpolitische Forderungen abwehren helfen. Die US -Industrie galt in dieser Hinsicht als besonders geeignete Vergleichsfolie. Doch auch fern solcher interessengleiteten verbandspolitischen Deutungen, im fachlichen Austausch, sahen sich die deutschen Vertreter in ihrer Sonderposition bestätigt. Als ein US -amerikanischer Branchenvertreter auf der Hauptversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) im Jahr 1913 über die dortigen Fortschritte auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes berichtete, führte dieser neue Schwerpunkt der US -Branchengenossen in der Berichterstattung der Zeitschrift Stahl und Eisen nur kurz für Verwunderung. Aus Sicht der Zeitschrift zeigten die Ausführungen lediglich, dass »[d]iese Bestrebungen, die allerdings erst in den ersten Anfängen stehen, [sich] ganz in der von Deutschland gewiesenen Richtung [bewegen].«40 Die deutsche Sozialpolitik wurde somit zu einem weltweit gültigen Maßstab erklärt. Da die deutsche Industrie und auch die staatliche Sozialpolitik in diesem Bereich längst führend waren, wurden alle weitergehenden Forderungen abgewehrt. In einem größeren politischen Zusammenhang sollte die Sozialversicherung in Verbindung mit dem Sozialistengesetz die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herrschaftsverhältnisse des Kaiserreichs stabilisieren und erhalten, insbesondere die Arbeiterbewegung »zähmen« sowie die Arbeiterschaft zu einer staatsloyalen Haltung erziehen helfen. Der Verbandspolitiker Kind benannte in dieser Hinsicht offen die Funktion der Sozialpolitik: »Das aber, wogegen die Großeisenindustrie wie die ganze Montanindustrie zum Heile unserer gesamten Volkswirtschaft bisher mit großem Erfolge sich gewehrt hat, und wogegen sie sich auch in Zukunft bis zum äußersten wehren wird, das sind die Machtgelüste der Gewerkschaftsführer aller Farben.«41 Die schlimmsten sozialen Folgen der Klassengesellschaft und der kapitalistischen Industriearbeit sollten demnach abgefedert werden, damit die Arbeiterbewegung keinen weiteren Zulauf erhielt.42 Diese Entwicklung war damit eine Reaktion auf ungelöste soziale Konfliktlagen und eine Krise der staatlichen Sozialpolitik des Kaiserreichs.43 Wie stark interessengeleitetet die Berichte deutscher Fachleute in dieser Hinsicht waren, zeigt sich insbesondere, wenn die gleichen Aspekte für unterschiedliche Argumente herangezogen wurden. Wie gesehen verwiesen 40 41 42 43

O. V., Verein deutscher Ingenieure. 54. Hauptversammlung, S. 1119. Kind, S. 1647. Hervorhebungen im Original. Wehler, S. 907–915. Ullmann, Industrielle Interessen, S. 574–577.

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die deutschen Fachleute zwar im Zuge ihrer Eigenpropaganda auf die sozialpolitischen Maßnahmen der deutschen Unternehmen, die insbesondere im internationalen Vergleich präzedenzlos seien. Gleichzeitig konnten die sonst viel gescholtenen US -amerikanischen Arbeitsbeziehungen und die dort wenig ausgebildete Sozialpolitik jedoch auch als Vorbild fungieren. Im Bereich der Arbeitssicherheit, einem neuralgischen Punkt betrieblicher Sozialpolitik in einer von überaus riskanter Arbeit geprägten Industrie, behauptete Hüttendirektor Hermann Brauns, bei seinem Vortrag vor dem VDEh in Düsseldorf im Jahr 1891, dass trotz oftmals fehlender Schutzvorrichtungen in den US -Betrieben verhältnismäßig wenige Unfälle geschähen. Einen Beleg für diese Behauptung bleibt er schuldig.44 Außerdem widersprach er damit den interessengeleiteten Projektionen seiner deutschen Fachgenossen, die das rücksichtslose Ausbeuten der Arbeiter durch US -Unternehmen betonten – und er widersprach nicht zuletzt sich selbst.45 Es ging ihm jedoch darum, ein sozialpolitisches Argument aus diesem Vergleich zu ziehen. Denn diese vorgeblich geringeren Unfallzahlen in den US -Werken seien ein Zeichen dafür, »daß die anerzogene Aufmerksamkeit der Arbeiter und das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit sehr wohl imstande ist, die in vielen Fällen besonders für die Arbeiter selbst unbequemen Schutzvorrichtungen zu ersetzen. (Hört!)«46 Brauns gab also nicht nur vor, zu wissen, dass die deutschen Arbeiter Arbeitsschutzvorrichtungen als störend empfanden – vielmehr stellt er die US -amerikanische Eigenverantwortung der deutschen Sozialpolitik vorbildhaft entgegen. Amerika fungierte somit sowohl als sozialpolitisches Gegenbild als auch punktuell als Vorbild, wenn es darum ging, sozialpolitische Argumente zu formulieren. Wenn es aus Sicht der Industrie galt sozialpolitische Forderungen abzuwehren und dabei innenpolitisch den Einfluss der Gewerkschaften zurück44 Jüngst berichtet ähnliches: »Schutzvorrichtungen an den Maschinen sind nicht gesetzlich vorgeschrieben. Das Gesetz fordert nur, dass die Maschinen nach den Regeln der Technik gebaut werden. Hier gilt daher die Vorschrift: ›Arbeiter, brauche deinen Verstand, nimm dich in Acht‹. Nach den mir gewordenen Mittheilungen ist diese Vorschrift im Sinne der Arbeiter selbst, und sollen verhältnissmässig nicht mehr Unglücksfälle vorkommen als in Deutschen Fabriken.« Damit beruft er sich allein auf die Aussagen der Unternehmen und hinterfragt diese Aussagen nicht weiter. Jüngst, S. 144. 45 Im Jahr 1877 hatte Brauns noch darauf verwiesen, dass die deutschen Hüttenwerke im Unterschied zu den US-amerikanischen auf »eine ausreichende Sicherheit für den Betrieb ihrer Werke« achteten. Brauns, Die nordamerikanische und die deutsche Flussstahl-Erzeugung, Sp. 94. 46 Brauns, Allgemeine Mittheilungen, S. 92.

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zudrängen, wurde darüber hinaus meist allgemein auf den internationalen Wettbewerbsdruck verwiesen. Insbesondere in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren von Seiten der Eisen- und Stahlindustrie zunehmend Stimmen zu vernehmen, die die »außerordentlich schweren Belastungen durch die soziale Gesetzgebung und die Steuerpolitik« anprangerten, die »vielfach einen direkt industriefeindlichen Charakter angenommen hat«, wie der Verbandspolitiker Emil Schrödter im Jahr 1911 behauptete, um sozialpolitische Forderungen zu delegitimieren.47 Im von Jakob Wilhelm Reichert ­(1885–1948) als Vorsitzenden des VDESI im Jahr 1913 erstatteten Jahresbericht hieß es in der Zusammenfassung mit Blick auf die verbandspolitische Lage: Unter keinen Umständen darf ein Gesetz zustandekommen, das den Arbeitergewerkschaften bei der Arbeitslosenfürsorge eine Mitwirkung einräumt und sich ihre Macht noch stärkt. Die beste Arbeitslosenfürsorge ist zweifellos die, für die nötige Arbeit zu sorgen […]. Die deutschen sozialpolitischen Bestrebungen sind vielfach von dem Gedanken getragen, unsere Industrie, die sich trotz der ständig zunehmenden Belastung immer weiter entwickelt und dem Weltmarkt festen Fuß gefaßt hat, sei stark genug, auch weitere Belastungen auf sich zu nehmen. Das ist ein großer Irrtum. Denn je mehr unsere Industrie vom Auslandsabsatz abhängig wird, desto gefährlicher ist Vorausbelastung gegenüber den ausländischen Konkurrenten. Das zeigt sich namentlich auch bei der gegenwärtigen schlechten Geschäftslage.48 Die positive Stellung der deutschen Unternehmen gegenüber der Sozialpolitik war demnach allein unter der Prämisse des ökonomischen Erfolgs sowie der eigenen Gestaltungshoheit gegeben. In Zeiten zunehmenden Wettbewerbs und einer Einflussnahme durch die Gewerkschaften standen diese Maßnahmen zur Disposition. Wenn die sozialpolitischen »Belastungen« zu hoch wurden, war die »beste Arbeitslosenfürsorge« bedroht: die Arbeitsplätze selbst. Die ausländische Konkurrenz konnte damit argumentativ flexibel gleichzeitig Zuckerbrot und Peitsche sein. Das Zuckerbrot der Eigenpropaganda zeigte die sozialpolitischen Errungenschaften der deutschen Industrie auf, die im Vergleich mit der ausländischen Konkurrenz umso heller strahlten. 47 Schrödter, 50 Jahre deutscher Eisenindustrie, S. 11. 48 O. V., Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, S. 1911.

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Die Drohung des Verlusts von Arbeitsplätzen konnte als rhetorische Peitsche gegen die Gewerkschaften und ihre sozialpolitischen Forderungen – oder die Sozialpolitik insgesamt – eingesetzt werden. Insgesamt hat das Kapitel gezeigt, dass erst im Spiegel der US -Verhältnisse die deutsche Sozialpolitik als Zusammenspiel von betrieblichen und staatlichen Maßnahmen ihre Kontur erhielt. Die Fachleute schliffen in ihren Reiseberichten mit Hilfe von impliziten und expliziten Vergleichen ein positives Selbstbild und vergewisserten sich der positiven Wirkung der sozialpolitischen Maßnahmen in Deutschland. Insofern handelte es sich bei den Beschreibungen der deutschen Fachleute keineswegs um ergebnisoffene Analysen, sondern in erster Linie um interessengleitete Projektionen, die zudem ideologisch aufgeladen waren. Die USA fungierten dabei vor allem als Gegenbild: Höhere Löhne und Konsumchancen sowie soziale Mobilität wurden als kulturelle und gesellschaftliche Bedrohung betrachtet, wie sich in den USA an einer angeblich aus den Fugen geratenen Geschlechterordnung sowie eines in der US -amerikanischen Arbeiterschaft angeblich verbreiteten »zügellosen Konsumverhaltens« ablesen lasse. Soziale Ungleichheit und Ausbeutung, die in der deutschen Klassengesellschaft der Kaiserzeit ebenso grundlegend waren, projizierten deutsche Fachleute also auf die USA . Sie kontrastierten das als »ausbeuterisch« apostrophierte US -Modell mit einem vermeintlich gemeinwohlorientierteren deutschen Modell, das auf sozialpolitischer Verantwortung beruhe. In dieser Weise bot der Vergleich der deutschen mit den US -amerikanischen »Arbeiterverhältnissen« die Möglichkeit, die rein marktrationalen und herrschaftsstabilisierenden Gesichtspunkte zu verschleiern, die der Implementierung betrieblicher Sozialpolitik in Deutschland zu Grunde lagen, und ihr stattdessen den Anstrich einer gemeinwohlorientierten unternehmerischen Gesinnung zu verleihen. Außerdem dienten solche transnationalen Vergleiche, die auf die soziale Sphäre großbetrieblichen Arbeitens zielten, nicht zuletzt dazu, rhetorische Strategien für sozialpolitische Debatten zu entwickeln.

Wunsch- und Gegenbilder im Anderen

6.2

Wunsch- und Gegenbilder im Anderen: Die industriellen Beziehungen als Vergleichsgegenstand deutscher Fachleute nach dem Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg bedeutete eine gravierende Zäsur sowohl für die Fremdals auch für die Selbstbeobachtung der deutschen Fachleute der Eisen- und Stahlindustrie, so die Hypothese. Denn die industriellen Beziehungen und die Sozialpolitik rückten nun Mitte der 1920er Jahre nicht nur ins Zentrum der deutschen Reiseberichte und Analysen über die Vereinigten Staaten, als aufgrund der ökonomischen Probleme eine ganze Fülle an deutschen Wirtschaftsvertretern in die USA reisten, um sich dort inspirieren zu lassen.49 Darin kamen die deutschen Branchenvertreter nun zu einer gänzlich anderen Bewertung der beobachteten Verhältnisse als in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dies hatte zwei Ursachen: – Einerseits veränderte sich der Blick des Managements auf den Betrieb: Menschliche Arbeit rückte nicht nur als Produktionsfaktor stärker in den Fokus betrieblicher Steuerungsversuche. Vielmehr betrachteten die Unternehmensführungen und Werksleitungen den Betrieb zunehmend als sozialen Zusammenhang von hoher gesellschaftlicher Bedeutung. Der Betrieb sollte zu einem prototypischen Interventionsfeld werden, der die Gesellschaft insgesamt ordnen und ihre Konflikte lösen sollte.50 Besonders dringlich wurde dies aus Sicht der Industrie durch die schwierige ökonomische Lage nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere als nach dem Ende der Hyperinflation Ende 1923 die deutschen Erzeuger zwar nach und nach wieder auf den Pfad der internationalen Konjunktur einschwenkten, womit allerdings der Wettbewerbsvorteil der besonders niedrigen Löhne obsolet wurde.51 – Andererseits identifizierte die deutsche Branche mit Blick auf ihre vielfältigen ökonomischen Probleme nach dem Ersten Weltkrieg die betriebliche Sozialsphäre nun als Bereich, wo im Vergleich zu den wirtschaftlich erfolgreichen USA ein besonderer Nachholbedarf bestand. Denn bei der Produktionstechnik sahen sich die deutschen Fachleute durchaus auf 49 Vgl. allgemein für die Zwischenkriegszeit: Nolan; für die deutsche Eisen- und Stahlindustrie: Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive; Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 208–219. 50 Luks, Der Betrieb als Ort, S. 10; vgl. auch: Becker, »Menschenökonomie«; Becker u. Schmidt. 51 Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 101.

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Augenhöhe mit ihren US -amerikanischen Branchengenossen. Während sie erkannt hatten, dass sie an den ungleich schlechteren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wenig ändern konnten, machten sie in den industriellen Beziehungen und der Sozialpolitik ein Interventionsfeld aus, bei dem sie selbst handeln konnten. Hier wollten sie den US -amerikanischen Branchengenossen nacheifern, um in ähnlicher Weise ökonomisch prosperieren zu können. Dies erschien aus Sicht der deutschen Eisen- und Stahlindustrie umso dringlicher, weil sich in der Weimarer Betriebsdemokratie die politischen Rahmenbedingungen zu Ungunsten der Industrie entwickelt hatten. Die Industriellen sahen sich nicht länger als »Herr im Haus« und blickten aus dieser Perspektive nun anders auf die industriellen Beziehungen in der US -Industrie. Dabei sind die Berichte in erster Linie im Modus instrumenteller Projektion verfasst. Warum rückten die industriellen Beziehungen nun in das Zentrum der Beobachtung? Den deutschen Branchenvertretern war schon um die Jahrhundertwende endgültig bewusst geworden, dass sie an den Rahmenbedingungen wenig ändern konnten – insbesondere angesichts der vergleichsweise geringen Größe des Binnenmarkts und der schlechten Rohstoffversorgung. Vor diesem Hintergrund machte der Hütteningenieur Hermann Bleibtreu im April 1923 in der »Menschenwirtschaft« der US -amerikanischen Werke einen Bereich aus, dem ein »erhöhtes Interesse« entgegengebracht werden müsse: »Wie können wir sonst bestehen, wenn sich der Wert der Mark wieder hebt oder unsere Löhne an den Weltmarktstand herankommen?«52 Tatsächlich zeichnete sich mit dem eintretenden Stabilisierungsschock wenige Monate später ab, dass die weitere konjunkturelle Entwicklung in Deutschland prekär und krisenbehaftet bleiben sollte.53 Die Industriellen erklärten diese durch technische Rationalisierung und daraus folgenden Überkapazitäten in erster Linie selbstverschuldete ökonomische Dauerkrise zu einer reinen Selbstkostenkrise und Ursache einer aus ihrer Sicht verfehlten Finanz- und 52 Bleibtreu, Über Technik und Wirtschaft, S. 493. 53 Petzina u. Abelshauser. Aus der Rückschau betrachtet, gestaltete sich die konjunkturelle Entwicklung der 1920er Jahre für die Ruhrindustrie ausgesprochen komplex, da sie von zahlreichen Sonderkonjunkturen der Branche geprägt war. Außerdem sollte sich – das war für die Zeitgenossen im Jahr 1923 noch nicht absehbar – aufgrund des britischen Bergarbeiterstreiks auch die »Stabilisierungskrise« für die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets als nicht so einschneidend zeigen wie befürchtet. Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 101.

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Wirtschaftspolitik des Reichs: Es seien demnach die zu hohen Löhne und Sozialabgaben, die einer wirtschaftlichen Prosperität im Wege stünden.54 Damit rückten die industriellen Beziehungen und der gewerkschaftliche und sozialstaatliche Einfluss in den Fokus, wenn es aus unternehmerischer Sicht galt, die Löhne zu drücken, die sozialpolitischen Maßnahmen zurückzufahren und die Gewerkschaften zurückzudrängen. Das Konzept der »Menschenwirtschaft« sollte hierbei Abhilfe schaffen. Der Begriff markiert eine nach dem Ersten Weltkrieg neu ausgerichtete betriebliche Sozialpolitik, deren wesentliche Kriterien nun einerseits die Produktions- und Leistungssteigerung waren; andererseits stand dieser Begriff für die von Seiten der Stahlindustrie angestrebte Wiedererlangung der in der Weimarer Betriebsdemokratie verloren geglaubten unternehmerischen Handlungsautonomie. Dies sollte geschehen, indem man die Arbeiter stärker an die Unternehmen binden und dem Einfluss der Gewerkschaften entziehen wollte.55 Dabei setzte sich – unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit – eine unternehmerische Betriebspolitik durch, die – an technischen und betriebswirtschaftlichen Zielen orientiert – die Tradition der betrieblichen Wohlfahrtspolitik aus dem 19. Jahrhundert erweiterte.56 Die Hüttenindustrie der Vereinigten Staaten war aus Sicht deutscher Beobachter auf diesem Weg schon ein gutes Stück weiter und konnte als Vorbild und interessenpolitische Folie der Legitimation dienen. So schrieb der Manager Heinrich Koppenberg (1880–1960) in seinem ausführlichen in Buchform publizierten Reisebericht von 1926: »[D]as industrielle Amerika übertrifft uns auch noch in der Handhabung der Menschenwirtschaft, indem es das soziale Moment, das bei uns leider so störend wirkt, auszuschalten versteht.«57 Koppenberg zielt mit seiner schwammigen Formulierung über das störende »soziale Moment« darauf, dass hier menschenwirtschaftliche Maßnahmen dafür gesorgt hätten, dass die Unternehmen keinen Widerstand von Seiten der Arbeiterschaft mehr zu erwarten brauchten. Die Beschäftigung mit der erfolgreichen US -amerikanischen »Menschenwirtschaft« erschien den deutschen Fachleuten auch aus ökonomischen Gründen geboten. Denn so mahnte Koppenberg:

54 55 56 57

Kleinschmidt u. Welskopp, Zu viel »Scale«, S. 267 f. Kleinschmidt, Betriebliche Sozialpolitik, S. 29; Becker, »Menschenökonomie«. Kleinschmidt, Betriebliche Sozialpolitik, S. 29 f. Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 78.

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Wenn schon die aus den weiten Verhältnissen des Landes erwachsene Rationalisierung der Fabrikation eine Gefahr für viele deutsche Industriezweige bedeutet, so entwickelt sich in manchen Fällen die Gefahr zur direkten Bedrohung: Die amerikanische Fabrik verfügt über eine in unserem Lande gänzlich ungebräuchliche Arbeitsintensität, über einen Schaffensdrang, über eine werkliche Einstellung, deren Ursache nicht in mechanischen Vorrichtungen zu suchen ist, sondern die übereinstimmt mit einem besonderen Geist der Werktätigkeit, der, wenn er bei uns vorhanden war, uns längst abhanden gekommen ist.58 Während Fachleute in den Vorkriegsjahrzehnten überwiegend die technischen Vorteile US -amerikanischer Hüttenwerke betont und die soziale Betriebssphäre nur sehr oberflächlich abgehandelt hatten, lenkte Koppenberg nun das Augenmerk auf die »Einstellung« der US -amerikanischen Arbeiter und der daraus resultierenden »Arbeitsintensität« in den US -amerikanischen Hüttenwerken; hier liege der eigentliche Grund für die ökonomische Überlegenheit, die sich zu einer ökonomischen »Bedrohung« auswachsen könne. An dieser Stelle zeigt sich bereits, dass die USA hinsichtlich der Arbeitseinstellung im Unterschied zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von einem Gegenbild zu einem Vorbild geworden waren. Kulturelle und gesellschaftliche Gefahren, die einst in der auf Besitzmehrung beruhenden Arbeitseinstellung der US -amerikanischen Arbeiter ausgemacht wurden, werden hier nicht mehr heraufbeschworen. Es zählt für Koppenberg allein der ökonomische Nutzen einer nun allein positiv konnotierten hohen »Arbeitsidentität« und einem verbreiteten »Schaffensdrang«. Warum es an einer solchen »werklichen Einstellung« in Deutschland mangele, darauf verwies der Hütteningenieur Karl Lent in seinem ebenfalls 1926 und im Dienste Thyssens erschienenen Reisebericht über die US -Industrie:

58 Ebd., S. 79; Koppenberg reiste im Auftrag des VDEh mit zwei Fachkollegen in die USA, »[u]m den erstaunlichen Aufschwung, den das amerikanische Land in jeder Hinsicht, und namentlich auch in der Eisenindustrie genommen [hat], genauer kennenzulernen«. Vgl. ebd., Vorwort, o. S.; vgl. auch Köttgen, S. 18. Köttgen ist zu dieser Zeit Vorstandsvorsitzender der Siemens-Schuckert-Werke, sein Buch (basierend auf einjähriger Studienreise) wurde aber auch in der Hüttenindustrie breit rezipiert und gab wichtige Impulse zur Rationalisierungsdebatte in der Weimarer Republik. Vgl. die geradezu euphorische Buchbesprechung in der Stahl und Eisen: Rummel.

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Als eines der grössten Hindernisse für uns [gemeint ist: die deutsche Hüttenindustrie; TM] halte ich das Bestehen der staatlichen Fürsorge allenthalben. Durch die staatliche Bevormundung und die gewerkschaftliche Einstellung ist eben bei uns der Arbeiterschaft der innere Antrieb vollkommen abhanden gekommen und ohne diesen ist auch der Wiederaufbau ausgeschlossen.59 Lent macht die staatliche Sozialpolitik sowie die Gewerkschaften als einen Hemmschuh der ökonomischen Entwicklung in Deutschland aus. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass man diesen Hemmschuh abstreifen müsse, um den »inneren Antrieb« der Arbeiter wiederherstellen zu können – wie er vorgeblich einst in der idealisierten Kaiserzeit verbreitet war. In den USA wiederum, so hält Hermann Bleibtreu in seiner Analyse Über Technik und Wirtschaft der Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit von 1923 fest, sei eine »Wahrung der privatwirtschaftlichen Struktur der Wirtschaft, in die der Staat nicht als verwaltendes, sondern […] lediglich als regelndes Organ eingreift«, vorherrschend.60 In solchen Äußerungen scheint die deutsche Kontrastfolie einer »wirtschaftsfeindlichen« Überregulierung durch, die sich insbesondere auf das arbeitende Individuum negativ auswirke, es unproduktiv mache, so die Behauptung. Während deutsche Industrievertreter vor dem Ersten Weltkrieg den US -amerikanischen Individualismus als egoistisch und materialistisch brandmarkten und angesichts der eigenen positiven Einstellung gegenüber sozialpolitischen Maßnahmen die eigene Gemeinwohlorientierung inszenierten, drehte die deutschen Fachleute ihre Argumentation nun um. Carl Rabes (1871–1942), führender Manager von Thyssen, belegte in seinem Reisebericht von 1926 die höhere Produktivität US -amerikanischer Arbeiter, indem er auf die Meinung seiner US -amerikanischen Branchengenossen verwies: [N]ach Ansicht der dortigen Herren ist ein wesentliches Element, das auf das Verhalten der Arbeiter Einfluß hat, das Fehlen jeder staatlichen Sozialversicherung. Wohl haben die Werke soziale Einrichtungen, aber deren Nutzen für den Mann geht im Augenblick der Entlassung verloren. Jeder

59 TkA VSt/6031, Amerikabericht Dr. Lent 1926, S. 21. 60 Bleibtreu, Über Technik und Wirtschaft, S. 490. Hervorhebungen im Original.

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hat für sich zu sorgen, da ist es die beste Hilfe durch Eifer und Willigkeit den Platz zu behalten, der den Unterhalt verbürgt.61 Rabes referiert hier zunächst mit seinem Verweis auf die »Ansicht der dortigen Herren« auf einen Grund der ideologischen Färbung der deutschen Reiseberichte jener Zeit. Letztlich reproduzierten die deutschen Fachleute in ihren Beschreibungen die Propaganda ihrer US -amerikanischen Branchengenossen. Vermutlich glaubten sie bei ihren Werksbesuchen ihren Gastgebern nur zu gern, wenn diese das Loblied auf den »ethos of individual achieve­ment« anstimmten. Dieses Konzept lag laut dem Historiker Jonathan Rees der US -amerikanischen Arbeiterpolitik zu Grunde: The ethos of individual achievement formed the ideological basis of the industry’s labor policy. Steelmakers wanted to establish  a one-to-one relationship with their employees because this would encourage employees to succeed. Even before the Nonunion Era began, firms that produced steel made a point of dealing with their workers on an individual basis, free from the influence of outside organizations. The justification for this policy was as much philosophical as economic.62 Daran anknüpfend betrachtete Rabes also in den fehlenden bzw. allein an den Betriebsverbleib gekoppelten sozialen Sicherungssystemen in den USA vor allem die Möglichkeit einer Aktivierung der Arbeiterschaft, um eine hohe Leistungsfähigkeit und Produktivität gewährleisten zu können.63 In einem ersten Schritt hatten die deutschen Fachleute damit die vorgeblichen Unterschiede zwischen den industriellen Beziehungen und der Sozialpolitik in Deutschland und den USA ausgemacht, die einer positiven Entwicklung der deutschen Hüttenindustrie, wie sie in den USA vorgezeichnet war, im Wege standen. Diese interessengeleiteten Projektionen sollten die autoritäre Umgestaltung der Arbeitsbeziehungen  – wie zu den ideali61 TkA A/837/2, Amerika Anleihe. Sammelunterlagen 1926. C. Rabes, Bericht über die Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika vom 5.5.1926–14.7.1926, S. 10. 62 Rees, S. 52. 63 Freilich war die betriebliche Sozialpolitik in Deutschland ebenfalls grundsätzlich an die Betriebszugehörigkeit gebunden und gerade deshalb nicht zuletzt seit dem 19. Jahrhundert ein disziplinierendes, Machtinstrument und marktrationales Instrument der Arbeitsmarktpolitik der Unternehmensführungen. Welskopp, Betriebliche Sozialpolitik, S. 333 f.

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sierten Zeiten des Kaiserreichs – legitimieren. Neben den aus den genannten Zitaten immer wieder sprechenden nostalgischen Rückprojektionen auf die vermeintlich prosperierende Kaiserzeit, versuchten die Unternehmen gleichzeitig Zukunftskonzepte zu entwickeln. Hierbei spielte die US -Industrie eine wichtige Rolle. Die Historikerin Mary Nolan hat mit Blick auf die Amerika-Rezeption deutscher Wirtschaftsvertreter der Zwischenkriegszeit herausgestellt, dass diese ihre Zukunftsvisionen über das, was ihnen ökonomisch möglich und insbesondere wünschenswert erschien, aus der Auseinandersetzung mit der US -amerikanischen Gegenwart entwickelt hätten.64 An diese Beobachtung anknüpfend lässt sich die Rolle von Vergleichspraktiken im Bereich der industriellen Beziehungen genauer fokussieren. Dabei, so die Hypothese, verglichen die Fachleute der deutschen Hüttenindustrie in ihren Reiseberichten und Analysen nicht im Sinne einer ergebnisoffenen Auseinandersetzung den Ist-Zustand der deutschen mit jenem der US -amerikanischen Arbeitsbeziehungen. Vielmehr glichen sie in ihren Reisebeschreibungen die US -Verhältnisse an das eigene, präfigurierte Wunschbild an, das sie für eine autoritäre Neuordnung und der Wiederherstellung der unumschränkten unternehmerischen Handlungsautonomie anstrebten. Diese Entwicklung lässt sich an der Projektion des unternehmerischen Konzepts der »Betriebsgemeinschaft« auf die US -amerikanischen Hütten­ betriebe nachverfolgen. Dieses Konzept sollte gegen die als »außerbetrieblich« diskreditierten Einflüsse von Gewerkschaften und Sozialstaat die Arbeitsbeziehungen »verbetrieblichen«: Arbeitsbeziehungen, so proklamierten die Unternehmen, sollten demnach alleinige Verhandlungssache zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sein. Für diese Umgestaltung war die Idee der Werks- bzw. Betriebsgemeinschaft zentral. Dieses Konzept war im späten 19. Jahrhundert der kirchlichen Soziallehre entsprungen und wurde von unternehmerischer Seite aufgegriffen und gegen die sozialistische Lesart eines unaufhebbaren kapitalistischen Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit positioniert. Der Betrieb bzw. das Werk sollte stattdessen als intermediäre soziale Instanz zwischen Nation und Familie etabliert werden, die vom Bewusstsein geteilter Interessen von Unternehmern und Arbeitern getragen sein sollte.65 In den 1920er Jahren stand diese Konzeption im Zusammenhang eines breiten Gemeinschaftsdiskurses. Es war ein Kennzeichen der politischen Kultur der Weimarer Republik, dass dieser Gemeinschafts64 Nolan, S. 5. 65 Campbell, J., S. 64.

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diskurs zunehmend alle Gesellschaftsbereiche und politische Erwartungsstrukturen prägte – und der Ruf nach Gemeinschaft eine Antwort auf alle sozialen Konfliktlagen sein sollte.66 Aus dem »Geist von 1914« – dem Mythos einer vermeintlich klassenübergreifenden nationalen Schützengrabengemeinschaft im Ersten Weltkrieg – wurden angesichts der vielfältigen politischen, sozialen und kulturellen Konfliktlagen der Weimarer Republik die »Ideen von 1914«. Aus diesem konstruierten Ideal entsprang das Vorhaben, »Gemeinschaft« als allgemeines Leitbild politischen Ordnungsdenkens zu etablieren und gegen das abgelehnte Konzept der französischen bzw. angelsächsischen »Zivilisation« und die damit eng verbundene konflikthafte »Gesellschaft« zu positionieren.67 Tatsächlich verschärfte sich in der Weimarer Betriebsdemokratie der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit insbesondere in der Lohn- und Arbeitszeitfrage.68 Wie gesehen hatten Branchenvertreter dabei Gewerkschaften und Sozialstaat als Grund hierfür sowie für die aus ihrer Sicht zu geringe Produktivität der Arbeiter als ein ökonomisches Hauptproblem ausgemacht und versuchten den Einfluss des Sozialstaats sowie der Gewerkschaften zurückzudrängen. Im Zuge dieser Politik reanimierten sie Mitte der 1920er Jahre die aus dem 19. Jahrhundert stammende Idee der Werks- bzw. Betriebsgemeinschaft und machten sie zum Leitbild autoritärer betrieblicher Umgestaltungsversuche machten.69 So definierte der Arbeitswissenschaftler Gerhard Albrecht in seinem Werk Vom Klassenkampf zum sozialen Frieden (1932) für diese Idee idealtypisch die Idee der Werks- bzw. Betriebsgemeinschaft: Die über allen Sonderinteressen stehende Gemeinsamkeit des Interesses aller Leistungskräfte des gleichen Werkes […], welche durch die auch organisatorisch dokumentierte Klassenspaltung der modernen Wirtschaftsgesellschaft jeden Boden verloren hat, zu erkennen und zum Bewußtsein zu bringen und auf Grund der Wiedererweckung dieses Bewußtseins neue Wege für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse zu finden: Das ist es, was Sinn und Inhalt der Werksgemeinschaftsidee ausmacht.70 66 67 68 69 70

Mergel. Zur Genese der »Ideen von 1914« aus dem »Geist von 1914«: Bruendel. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 628–669. Luks, Der Betrieb als Ort, S. 155–179; Welskopp, Arbeit und Macht, S. 670–694. Albrecht, S. 101 f. Hervorhebungen im Original. Vgl. zu historischen arbeitswissenschaftlichen Problematisierungsweisen des Betriebs in der Zwischenkriegszeit: Luks, Heimat – Umwelt.

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Es ging also darum, die betriebliche Interessenaushandlung aus der »gesellschaftlichen« (sprich: konflikthaften) in die »gemeinschaftliche« (sprich: sozialharmonische) Sphäre zu überführen; die als »Sonderinteressen« apostrophierten berechtigten Partikularinteressen der Arbeiter sollten hierbei hintangestellt werden. Dadurch wurde die Aushandlung der Arbeitsbeziehungen zu einem moralischen und ethischen Projekt erklärt, wodurch eine Aushandlung von Interessengegensätzen, wie sie auch in der Weimarer Betriebsverfassung gesetzlich verankert war, verzichtet werden sollte.71 Die Nationalsozialisten machten nach ihrer Machtübernahme die »Betriebsgemeinschaft« zu einem zentralen Begriff ihrer Arbeitsideologie und zum Leitbild ihrer betrieblichen Neugestaltung.72 Um dieses betriebliche Gemeinschaftsideal zu legitimieren, projizierten die deutschen Fachleute es in ihren Berichten auf die US -amerikanischen Hüttenwerke. Nach Meinung der deutschen Fachleute war neben der bereits angeführten Lesart des weitgehenden Fehlens sozialstaatlicher Interventionen in den USA auch die geringe Verankerung des Sozialismus in der dortigen Arbeiterschaft ein Grund für die erfolgreiche Gemeinschaftsbildung. Bleibtreu deutete hierbei im »altamerikanische[n] Ideal des Individualismus und des Aufstieges aus eigener Kraft« nun eine ideale Bedingung einer freien unternehmerischen Betätigung und der Grund für die geringe Verankerung sozialistischer Ideen in der US -Arbeiterschaft. Schließlich sei dieser »Individualismus« auch bei den Arbeitern fest »in den Gemütern« verwurzelt »und wird daher in Amerika sozialistischen Ideen wahrscheinlich noch lange hartnäckigen Widerstand entgegensetzen«73. Vor 1918 hatten deutsche Fachleute diesen Individualismus und das Streben nach sozialem Aufstieg noch negativ als »materialistische« Wirtschaftseinstellung gedeutet, die sowohl die Unternehmer als auch die Arbeiter antreibe. In den 1920er Jahren stand es nunmehr für eine weitgehend unregulierte Wirtschaft, die, so die Projektion, frei sei von »kollektivistischen« Fesseln. Demgegenüber stand das Schreckgespenst des Sozialismus, das, so die von Seiten der deutschen Branchenvertreter aufgestellte Behauptung, sich in der Weimarer Republik Wirtschaft und Staat bemächtigt habe und dabei die wirtschaftliche Entwicklung störe. Anders erschien Koppenberg die Situation in den USA: »[D]ie Idee des Sozialismus mit allen den vielfältigen Begleiterscheinungen [!], hemmen und 71 Mergel, S. 125 f. 72 Becker u. Schmidt; Eden. 73 Bleibtreu, Über Technik und Wirtschaft, S. 492. Hervorhebungen im Original.

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stören in der neuen Welt die Fabrikation und die Wirtschaft nicht.«74 Dabei wird die Existenz einer Arbeiterbewegung in den USA nicht geleugnet. Diese beschreiben sie, wie Bleibtreu im Folgenden, als wirtschaftsfriedlich: Die eingeborene amerikanische Arbeiterschaft und im allgemeinen auch die Gewerkschaftsleitungen stehen eben auf durchaus nationalem Boden. […] Soviel Aehnlichkeiten die amerikanische Gewerkschaftsbewegung mit der unserigen haben mag, sie unterscheidet sich grundsätzlich von der deutschen darin, daß sie bisher unpolitisch blieb und sich auf den wirtschaftlichen Kampf zwischen Kapital und Arbeiterschaft beschränkte.75 Diese Behauptungen über eine »unpolitische« US -amerikanische Arbeiter­ bewegung haben mit der Realität wenig zu tun, wie die historische Forschung gezeigt hat. Es gelang den US -Unternehmen vielmehr in dieser Zeit eine betriebliche Interessenvertretung zu verhindern. Stattdessen implementierten sie in der Zwischenkriegszeit sogenannte »employee representation plans« (ERPs), um staatliche Versuche abzuwehren, den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durch kollektive Verhandlungen der Arbeitsmarktparteien zu lösen. Die ERPs kamen dabei in den 1920er Jahren gesteuerten »company unions« gleich, wie der Historiker Jonathan Rees betont.76 Insofern ist zu vermuten, dass Bleibtreu diese »Gewerkschaften« vor Augen hatte, wenn er das Agieren der US -amerikanischen Gewerkschaften insgesamt beschrieb. Dabei mochte das unternehmerische Ideal der »Gelben Gewerkschaften« Pate gestanden haben: Diese seit dem Kaiserreich von den Unternehmern geförderten Gewerkschaften lehnten den gewerkschaftlichen Kampf ab und agierten stattdessen betont wirtschaftsfreundlich und waren national gesinnt.77 Im Zuge des Stinnes-Legien-Abkommens von 1919 hatte sich die Ruhrindustrie zähneknirschend dazu verpflichten müssen, die finanzielle Unterstützung

74 Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 79. 75 Bleibtreu, Über Technik und Wirtschaft, S. 492. Hervorhebungen im Original. Lediglich eingewanderten osteuropäischen Arbeitern könne man eine Neigung zu »bolschewistischen« Ideen nachsagen. Ebd. 76 Rees, S. 156; Welskopp, Arbeit und Macht, S. 595 f. Die ERPs stehen in den folgenden Jahren dennoch für den Durchbruch zur Anerkennung des US-amerikanischen Gewerkschaftssystems in der Hüttenindustrie, als sich die Gewerkschaftsbewegung diese gesteuerte Interessenvertretung in den 1930er Jahren zunehmend erfolgreich aneignete. Vgl. zu diesem Prozess ebd., S. 617–627. 77 Mattheier.

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der ihnen wohlgesonnenen Gelben Gewerkschaften einzustellen und die sozialistischen als Verhandlungspartner anzuerkennen.78 Damit waren alle Voraussetzungen dafür geschaffen, dass alle Werksangehörigen wie auch die gesamte US -amerikanische Gesellschaft zu einer sozialharmonischen Gemeinschaftsbildung fähig waren. Zwar leugneten die deutschen Fachleute in ihren Berichten keineswegs soziale Unterschiede zwischen Arbeitern und Management, die sich auch in einem starken Machtgefälle zwischen Betriebsleitungen und Belegschaften widerspiegelten. Allerdings, so meinte Koppenberg zu beobachten: Die Menschheit ist in den Werken nicht in zwei Lager gespalten. Weder Unvernunft noch Überhebung beeinträchtigen den Fabrikationsvorgang. In strenger Sachlichkeit dient im amerikanischen Werk Hoch und Nieder lediglich dem Fabrikationsvorhaben. Alle sind sich einig im Streben nach dem gleichen Ziel, der Produktion. Die Werksgemeinschaft nützt dem Werk wie den Personen gleichermaßen.79 Insofern sah Koppenberg die Betriebsgemeinschaft und somit das eigene betriebliche Ideal in den US -Hüttenbetrieben bereits verwirklicht. Daran konnte die häufig an die Belegschaft formulierte Forderung anknüpfen, sich der Werksleitung und dem Produktionszweck unterzuordnen. Durch diese Unterordnung sollte der industrielle Konflikt in erster Linie gelöst werden.80

78 Der Verzicht der Unterstützung der Gelben Gewerkschaften durch die Unternehmer wurde zusammen mit der Arbeitszeitfrage im Zuge der Verhandlungen für das Abkommen am kontroversesten diskutiert. Feldman u. Steinisch, S. 23–25. 79 Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 79. Hervorhebungen im Original. Bleibtreu, Wesen und Betrieb, S. 1070 leitete die US-amerikanische Gemeinschaftsbildung historisch und über Unterschiede zur europäischen Klassengesellschaft her: »Im öffentlichen und industriellen Leben [Amerikas; TM] herrscht eine innere Eintracht, die ohne Frage eine Folge der glücklichen amerikanischen Geschichte und des Fehlens scharfer Klassenunterschiede ist, wie sie bei allen hochentwickelten Völkern Europas notwendigerweise eintreten mußten.« Kaum ein Reisebericht der 1920er und 1930er Jahre kommt ohne Hinweis auf die verwirklichte Werksgemeinschaft aus. Vgl. etwa auch RWWA 13–2-2, Bericht der Herren Arthur Tix und Heinrich ­Brüning über die Amerika-Studienfahrt vom 17. Oktober bis 16. November 1936, 1937, S. 184. 80 Vgl. diese betrieblichen Konflikte zwischen Autoritätsanspruch der Werksleitungen und autonom arbeitenden, gruppensolidarischen Belegschaftsgruppen in deutschen und US-amerikanischen Hüttenwerken: Welskopp, Arbeit und Macht, S. 541–559, 670–694; vgl. auch Kapitel 4.3 dieser Arbeit.

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Es fällt dabei auf, dass die deutschen Verhältnisse weniger direkt mit den US -amerikanischen verglichen werden. Sie stehen in diesen Kon­struktionen

jedoch als negative Kontrastfolie stets im Hintergrund, während der vermeintliche Zustand der industriellen Beziehungen in den USA an das eigene Idealbild angeglichen wird. Dies geht so weit, dass die US -Hüttenwerke zu einer verwirklichten Sozialutopie verklärt werden, wenn Koppenberg schreibt: Immer und überall aber wird betont, daß alle Angehörigen eines Werkes gleichsam eine Familie bilden. Dementsprechend findet man auch ein kordia­les, teilweise fast herzliches Verhältnis zwischen Arbeitern und Vorgesetzten. Es gibt wohl Klassenunterschiede, aber keine Klassengegensätze. […] Zwischen Werksleitung und Belegschaft herrscht Verständnis und gutes Einvernehmen. Von beiden Seiten wird Entgegenkommen gezeigt.81 Die US -Betriebe lieferten aus Koppenbergs Sicht den Beleg, dass eine Klassengesellschaft und eine daraus abgeleitete hierarchische Arbeitswelt keineswegs per se konflikthaft aufgeladen sein musste, wie es demgegenüber die sozialistische Arbeiterbewegung postulierte. Die US -Hüttenbetriebe der Zwischenkriegszeit waren darüber hinaus aus Sicht deutscher Fachleute der empirische Beleg dafür, dass eine freiwillige Unterordnung als subjektive Erkenntnis der arbeitenden Individuen Verbreitung finden und zur klassenharmonischen »Betriebs-« und »Volksgemeinschaft« führen konnte.82 Zentral für die Umsetzung dieses Ideals der Betriebsgemeinschaft war das Konzept der »Arbeitsfreude«, die es aus unternehmerischer Sicht auf Seiten der deutschen Hüttenarbeiter zu stärken galt. Auch der Begriff der »Arbeitsfreude« hatte seine Wurzeln im 19. Jahrhundert, als konservative Autoren, Politiker und Unternehmer sich gegen den sozialistischen Entfremdungs­ begriff wendeten und »Entfremdung« zur reinen Wahrnehmungskategorie zu erklären versuchten. Es war aus dieser ideologischen Position der Kapitalseite heraus vor allem an den Arbeitern selbst, den entfremdeten Zustand der Beziehungen zu ihrer Arbeit und zu ihren Vorgesetzten und Arbeitgebern zu überwinden, bzw. es galt, die Arbeiter zu diesem Zweck zu einer »arbeits-

81 Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 85. 82 Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 99.

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freudigen«, also unpolitischen und positiven Einstellung gegenüber Arbeit, Werk und Nation zu erziehen.83 Um dieses Ziel erreichen zu können, setzten die deutschen Unternehmen in erster Linie auf Werkszeitungen, deren propagandistischer Nutzen sich in den USA besonders offenbarte. Hermann Bleibtreu beobachtete in seinem Reisebericht von 1923, dass es dort durch die darin enthaltenen Berichte und persönliche Nachrichten über den (außer-)betrieblichen Alltag der Belegschaften und ihrer Familien gelinge, in den US -Hüttenwerken, »die gesamten Werksangestellten gleichsam zu einer großen Familie zusammenzuschließen«84. In der Folge hatte die Werkszeitungsbewegung auch in der deutschen Hüttenindustrie schnell Anklang gefunden und wurde von den Unternehmensleitungen als wichtiges Instrument zur ideologischen Beeinflussung der Hüttenarbeiter betrachtet.85 Die deutschen Unternehmen bündelten und vereinheitlichten seit Beginn der 1920er Jahre in programmatischer Hinsicht ihre Bemühungen durch einheitliche Inhalte. Insbesondere das 1925 gegründete Deutsche Institut für Technische Arbeitsschulung (DINTA) war zentral für den geschickten Einsatz der Werkszeitungen.86 Die dort transportierten Themen zeichneten sich durch eine explizite Betriebsnähe aus: Es fanden sich darin Nachrichten über Betriebssport, Jubilare, die Werksgeschichte, (außer-)betriebliche Veranstaltungen und sozialpolitische Leistungen. Der rote Faden bestand in der Propagierung von Berufs- und Werksstolz sowie von Arbeitsfreude als Grundvoraussetzung der Betriebsgemeinschaft. Die Unternehmen versuchten dabei, der von ihnen postulierten »Sinnentleerung« moderner Lohnarbeit entgegenzuwirken, indem sie dem Konstrukt »Arbeit« in ideologischer Hinsicht Sinn verleihen wollten. Thomas Welskopp fasste zusammen, dass die Sinnstiftung durch nationale Arbeit

83 Möbius, S. 181; vgl. zu den ideengeschichtlichen Ursprüngen der »Arbeitsfreude« als antisozialistische bürgerliche Arbeitsethik: Campbell, J., S. 28–46; vgl. umfassend zur Emotionsgeschichte der Arbeitsfreude im deutschen 20. Jahrhundert: Donauer. 84 Bleibtreu, Über Technik und Wirtschaft, S. 494. Auch Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 79–85 hob die Werkszeitungen als wichtiges »Erziehungsmittel« der US-Industrie hervor. 85 Werks- bzw. Fabrikzeitungen wurden in der deutschen Großindustrie ab Mitte der 1920er Jahre ebenfalls systematisch als »Führungsmittel« und zur Förderung der »Betriebsgemeinschaft« verwendet. Michel. 86 Swiniartzki, S. 376. Vgl. jüngst zur Geschichte des DINTA: Becker, »Menschenökonomie«, S. 21–41.

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auch die Konflikte harmonisieren [sollte], die aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Klassengliederung der Gesellschaft resultierten. Genau genommen handelte es sich um Bemühungen einer Kulturzufuhr für eine als entkulturalisiert wahrgenommene Arbeitswelt. Das setzte sich in den harmonisierenden ›Werksgemeinschafts-‹ und ›Betriebsgemeinschaftsideologien‹ des frühen 20. Jahrhunderts fort87. Die Werkszeitungen der deutschen Hüttenwerke der 1920er und 1930er Jahre waren dementsprechend angefüllt mit Artikeln, die Arbeitsfreude im Sinne der Werksleitungen definierten und aufzeigten, welche subjektiven Erkenntnisse die Hüttenarbeiter zum Erreichen dieses Zustands benötigten. So schrieb Carl Arnhold (1884–1970), Leiter und Chefideologe des DINTA, in der GHH-Werkszeitung im Jahr 1931: Sicherlich ist es notwendig, daß die Arbeit zunächst eine rein materielle Angelegenheit ist. Eine harte Wahrheit. Darüber hinaus darf jedoch nicht verkannt werden: Arbeit ist etwas Geistiges – Seelisches, das nach Erfüllung sucht. Es muß etwas in der Arbeit wohnen, von wenigen erst entdeckt, was zum reinen Genuß führen kann. Dieses ›Unbekannte‹ zu finden ist das Geheimnis. Wo stehen wir heute? Wie stehen die meisten Menschen zur Arbeit? Bei uns Deutschen besteht die Gefahr, daß wir im Gewirre des Alltags den tieferen Sinn der Arbeit vergessen […]. Erst einzelne beginnen langsam zu erkennen, welch starke Herzensfreude aus der Arbeit erwachsen kann.88 Arbeitsfreude entspringe diesen weihevollen Deutungen nach aus der Arbeit selbst, wenn das arbeitende Individuum sich darauf einlässt und ihre materialistischen Grundlagen ausblendet. Auch mit Blick auf die industriellen Beziehungen sollten die deutschen Arbeiter eine andere, wirtschaftsfriedliche Einstellung verinnerlichen. Eine solche war, wie sich die deutschen Fachleute in ihren Reiseberichten versicherten, in den USA bereits verbreitet. Daran an87 Welskopp, Der Wandel der Arbeitsgesellschaft, S. 138. 88 Carl Arnhold, Vor neuen Zielen, in: GHH. Werkszeitung der Gutehoffnungshütte, 7.1.1928, S. 1. Insbesondere ging es darum, Arbeit weit über Freizeit und Müßiggang zu stellen und das Lebensglück allein an die romantisierte Lohnarbeit zu binden. Vgl. Freude an der Berufsarbeit beim schaffenden Menschen, in: GHH. Werkszeitung der Gutehoffnungshütte, 7.6.1930, S. 5. Vgl. zu der Arbeitsidee des DINTA: Becker, »Menschenökonomie«, S. 43–58.

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knüpfend, nutzten die deutschen Unternehmen die Werkszeitungen, um der eigenen Arbeiterschaft die gelebte »Betriebsgemeinschaft« in den USA vorzuführen. So formulierte die Werkszeitung der ATH mit Blick auf den Zustand der industriellen Beziehungen in den USA: Unterentwickelt ist das Gewerkschaftswesen [in den USA; TM], da die Arbeiterschaft soziale Kämpfe ablehnt. Es gibt wohl Klassenunterschiede, aber keine Klassengegensätze. Zwischen Werksleitung und Belegschaft herrscht Verständnis und gutes Einvernehmen, und beide Seiten haben vor allem zunächst das Gedeihen des Werkes im Auge, da dieses für beide nützlich ist. Immer und überall wird betont, daß alle Angehörigen eines Werkes gleichsam eine Familie bilden. Dementsprechend findet man ein freundliches, teilweise fast herzliches Verhältnis zwischen Arbeitern und Vorgesetzten. Von diesem amerikanischen Werksgeist, einem Geist freiwilliger Unterordnung des mitverantwortlichen, national empfindenden, selbständigen Staatsbürgers unter die Werksordnung und die Arbeit, können wir in Deutschland jedenfalls noch viel lernen.89 Ganz ähnlich wie in den Reiseberichten der deutschen Fachleute finden sich in diesen Äußerungen zwar keine direkten Vergleiche der deutschen mit den US -amerikanischen Verhältnissen. Dennoch liegt hier ein wenn auch impliziter Vergleich vor: Denn es war den Hüttenarbeitern als Adressaten unmittelbar ersichtlich, dass die deutschen Verhältnisse in den Hütten­werken sich gegensätzlich zum hier beschriebenen, sicherlich stark idealisierten betriebsgemeinschaftlichen Idyll entwickelt hatten. Die Botschaft an die deutschen Arbeiter lautete somit implizit, dass sie sich gleich ihren US -amerikanischen Klassengenossen verhalten, sich also insbesondere »freiwillig« der Ordnung von Betrieb unterordnen und national empfinden müssten – nur so könne eine allgemeine Verbesserung der ökonomischen Lage der deutschen Hüttenindustrie erreicht werden. Zu diesem Zweck galt außerdem, die betriebliche Sphäre von »betriebsfremden« Elementen – in erster Linie waren Gewerkschaften und sozialstaatliche Eingriffe und überhaupt der »Sozialismus« gemeint – freizuhalten.90 Aus diesen Konstruktionen ließ sich argumentativ ableiten, dass die Aushandlung der industriellen Beziehungen 89 Unsere Hütte. Werkszeitung für die August Thyssen-Hütte Hamborn, 16.3.1929, S. 6, zitiert nach: Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 95 f. 90 Möbius, S. 187 f.

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auf eine andere, von den Unternehmen bestimmte Grundlage gestellt werden müssten, wenn dieses in den USA bereits verwirklichte Ideal erreicht werden sollte. Während sich die deutschen Fachleute in ihren Reiseberichten in diese Richtung bedeckt hielten, formulierten Verbandspolitiker, Unternehmer und Manager der Branche seit Mitte der 1920er Jahre zunehmend offen, dass der Sozialstaat und Gewerkschaften aus den Betrieben zurückgedrängt und die Weimarer Betriebsdemokratie abgeschafft werden müsse, wie die historische Forschung herausgearbeitet hat.91 Zumindest in den Reiseberichten werden diese auf eine Unterordnung der deutschen Arbeiter zielenden Projektionen durch die Verweise auf das demokratische Staatswesen in den USA und die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten ein wenig abgemildert. So schreibt Koppenberg: »Auch der Arbeiter ist sich bewußt, daß er vollberechtigtes Mitglied des Staatswesens ist und ihm jeder Werdegang offensteht.«92 Dieser Hinweis zeigt, dass Koppenberg die Grundlage der sozialharmonischen Arbeitsbeziehungen und einer erfolgreichen Gemeinschaftsbildung nicht zuletzt in den Möglichkeiten der sozialen Mobilität sowie einer stärkeren politischen Anerkennung der Arbeiterschaft in den USA ausmacht.93 Insofern sieht er nicht allein die Arbeiterschaft in der Pflicht. Denn die politischen und sozialen Strukturen der USA, die sich von den deutschen unterschieden, wirkten sich ebenfalls positiv auf die betrieblichen Arbeitsbeziehungen aus. Koppenberg betonte daran anknüpfend, dass US -Hütteningenieure und Werksbeamte anders als in Deutschland auch in hohen Leitungspositionen anzutreffen und dadurch frei von Standesdünkel seien. Dies werde dadurch erleichtert, wenn sich, wie Koppenberg behauptet, ein Manager »die ersten Sporen im Betriebe in praktischer Arbeit verdient hat. Der Beamte kennt dann die Arbeit, weiß, welch sauren Schweiss sie ihn gekostet hat und sieht im Arbeiter den Mitarbeiter.«94 Auch Hermann Bleibtreu stellte dieses Selbstverständnis der Vorgesetzten als einen entscheidenden Faktor heraus, warum man als deutscher Besucher in den US Hüttenbetrieben »beim Arbeiter seine Zufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen in Staat und Fabrik« empfinde:95

Welskopp, Arbeit und Macht; auf der Verbandsebene weiterhin Weisbrod. Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 85. Auf diesen Nexus hatte bereits Sombart, S. 83–126 hingewiesen. TkA A/837/2, Amerika Anleihe. Sammelunterlagen 1926, C. Rabes, Bericht über die Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika vom 5.5.26–14.7.26, S. 10 f. 95 Bleibtreu, Wesen und Betrieb, S. 1070. 91 92 93 94

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Es liegt […] eine eigenartige Mischung von erhöhter Verantwortlichkeit des Betriebsleiters einerseits und demokratischer Unterteilung der Machtbefugnisse andererseits vor. Daß eine derartige Organisation reibungslos arbeitet, ist z. T. die Folge des kameradschaftlichen Geistes, der im Betriebsleiter mehr den Begriff ›verantwortlich‹ als ›Vorgesetzter‹ betont.96 Damit wird klar, dass Koppenberg und Bleibtreu auch auf Seiten der Werksund Betriebsleitungen eine neue Einstellung fordern. Zwar sollten sich in erster Linie die Arbeiter dem von der Leitung definierten ökonomischen Betriebszweck unterordnen. Das Verhalten gegenüber Untergebenen sollte sich aber auch auf die von den US -Hüttenbetrieben gewiesene Richtung ent­wickeln und frei werden von Standesdünkel. In dieser Hinsicht unterschieden sich ihre Positionen durchaus von der unternehmerischen Betriebsideologie und Propaganda jener Zeit. Insgesamt blieb Koppenberg jedoch skeptisch, ob eine solche Entwicklung in Deutschland in näherer Zukunft möglich erschien: Die Werke üben Klugheit, Entgegenkommen und weise Mäßigung aus gegenüber den eigenen Werksangehörigen […] (›Leben und leben lassen‹). Auf dem Boden der amerikanischen Demokratie – ich betone ausdrücklich amerikanisch – erwachsen ein gegenseitiges Vertrauen, ein Zusammenarbeiten und eine Arbeitsfreude, die bei unseren Verhältnissen leider wohl so bald nicht erreicht werden.97 Hier wird die antidemokratische Stoßrichtung deutlich. Die US -amerikani­ sche Demokratie, die, wie oben gesehen, vor allem hinsichtlich ihres wirtschaftsfreundlichen »Individualismus« positiv betrachtet wird, stehe demnach auf anderen Grundlagen als die durch diesen impliziten Vergleich diskreditierte deutsche Demokratie.98 Insofern konnten die deutschen Werke 96 Ebd., S. 1068. 97 Koppenberg, Unfallverhütung in der amerikanischen Hüttenindustrie, S. 1074. Hervorhebungen im Original. 98 Mit der betrieblichen Realität haben diese Konstruktionen wiederum wenig zu tun. »Demokratisch« waren zumindest die betrieblichen Verhältnisse in den USA zu jener Zeit beileibe nicht. Während in der Weimarer Republik eine betriebsdemokratische Arbeitsverfassung demokratische Aushandlungsprozesse in der Industrie gewährleistete, weigerte sich die US-Hüttenindustrie in dieser Zeit weiterhin erfolgreich, betriebliche Interessenvertretungen anzuerkennen. Nicht zuletzt deshalb kam es immer wieder zu gewalttätigen betrieblichen Konflikten. Welskopp, Arbeit und Macht, S. 590–627; vgl. auch das folgende Kapitel 6.3 dieser Arbeit.

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vor dem Hintergrund der herrschenden »Verhältnisse« nicht in ähnlicher Weise mit »Entgegenkommen und weise Mäßigung« gegenüber ihren Werksangehörigen agieren. Insofern wundert es nicht, dass die deutschen Fachleute sich besonders für autoritäre Lösungen zur Befriedung betrieblicher Arbeitsbeziehungen interessierten. Dies zeigte sich auch in den Reiseberichten. Hermann Bleibtreu, betonte in diesem Zusammenhang die Unterschiede in der »betriebswirtschaftlichen« Steuerung zwischen deutschen und US -amerikanischen Hüttenbetrieben. Hiermit zielte er vor allem auf eine Kontrolle der Arbeiter durch die Betriebsführungen: »Der Ueberwachungsdienst ist in der Tat auf manchen [US -amerikanischen; TM] Werken vorzüglich durchgebildet.«99 Eine unmittelbare Folge der stärkeren Überwachung sei eine ordentlichere und sauberere Arbeit und habe zur Folge, dass weniger ausgebessert werden müsse, wodurch kostensenkende Effekte einträten: Durch regelmäßigen, gut eingedrillten Ueberwachungsdienst, der an militärische Patrouillengänge erinnert, und durch Erziehung zur Beobachtung wird die Belegschaft gezwungen, sich mit den ihr anvertrauten Maschinen oder Oefen abzugeben. Hierfür nur ein Beispiel aus einem bestimmten Hochofenwerk: Der erste Schmelzer muß für jeden Hochofenabstich die Roheisenzusammensetzung auf Grund des Aussehens von Eisen und Schlacke schätzen. Die Richtigkeit wird natürlich durch die chemische Analyse des Laboratoriums festgestellt. Der Schmelzer wird so gezwungen, sich seinem Ofen eingehend zu widmen.100 Die Kombination aus einer gut organisierten Kontrolle, quasi-militärischer Disziplin und wissenschaftlichen Testverfahren zur Überprüfung der Einschätzung der ausführenden Schmelzer hinsichtlich der Roheisenzusammensetzung führten dieser Sichtweise zufolge zu einer besseren praktischen Auseinandersetzung der Werktätigen mit den Produktionsanlagen und zur dauerhaften Aktivierung der arbeitenden Individuen, so Bleibtreus Hypothese. Darüber hinaus berichtet er von einem »ausgedehnte[n] Rapportwesen« in US -Betrieben: Auf Protokollen müsse von Ungelernten, Arbeitern, Vorarbeitern und Meistern über die jeweils ausgeführten Arbeitsschritte Rechenschaft abgelegt werden. Die solcherart erfolgende »Erziehung« der Be99 Bleibtreu, Wesen und Betrieb, S. 1068. 100 Ebd., S. 1069.

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legschaft führe laut Bleibtreu »zur Ordnung und Disziplin, zur Selbstständigkeit und zur Kameradschaft.«101 Besonders idealtypisch sah Bleibtreu dieses betriebliche Kontrollwesen in den Ford’schen Automobilwerken ausgebildet. So zitierte Bleibtreu einen Werksleiter bei Ford mit den folgenden Worten: »Der Gedanke des dauernd Beschäftigtseins, unnachsichtlicher [!] Werks­ disziplin und peinlichster Ordnung ist das Gute, […] das wir vom Militär übernommen haben.«102 Das Militär als Leitbild für betriebliche Arbeitsbeziehungen heranzuziehen, verweist auf den absoluten Kontrollanspruch der deutschen Unternehmens- und Betriebsleitungen  – widersprach jedoch den betrieblichen Strukturen der Hüttenindustrie. Weder in den deutschen noch in den US amerikanischen Hüttenwerken konnte eine solche »militärische« Kontrolle gewährleistet werden, wie es zumindest ansatzweise beim Ford’schen Fließband in der Automobilproduktion der Fall sein mochte. In den vollmechanisierten Hüttenbetrieben der 1920er Jahre arbeiteten hochqualifizierte Arbeitsgruppen weitgehend autonom an den Hoch- und Stahlöfen sowie an den Walzstraßen. Diese Art der Maschinenarbeit erschwerte eine direkte Kontrolle durch die Betriebsführungen. Eine lückenlose Kontrolle war in einem solchen Produktionssystem schlicht nicht möglich. Zudem ließen sich die gruppensolidarischen Strukturen in den Hüttenbetrieben auch ohne gewerkschaftliche Organisation gegen die Werksleitungen mobilisieren und den kapitalistischen Grundkonflikt latent bleiben.103 Insofern glichen die deutschen Beobachter in ihren Reisebeschreibungen die hierarchischen Arbeitsbeziehungen an das eigene unternehmerische Ideal autoritärer Leitlinien-Strukturen an. Im Arbeitsalltag versuchten die Betriebsführungen auch in deutschen Betrieben vor allem auf der Basis der oben erwähnten metallurgischen und betriebsökonomischen wissenschaftlichen Kenntnissen und Kontrollverfahren, ihre Macht- und Kontrollansprüche zu legitimieren.104 In diesem Zusammenhang zeigte die Mechanisierung der US -Betriebe aus Sicht mancher Fachleute nun einen Weg zur Lösung von Arbeitskonflikten und damit zur gewünschten Produktivitätssteigerung. Denn sie versprach den als störend empfundenen menschlichen »Faktor Arbeit« weitgehend aus dem Produktionsprozess auszuschließen. Bleibtreu beobachtete daher fasziniert: 101 Ebd. Hervorhebungen im Original. 102 Ebd. Hervorhebungen im Original. 103 Welskopp, Sons of Vulcan, S. 34–37. 104 Welskopp, Produktion als soziale Praxis, S. 50.

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Menschenwirtschaftliche Erwägungen treten einem in Amerika auf Schritt und Tritt entgegen; sie zielen teils auf die Ausschaltung überflüssiger oder entbehrlicher Menschenkraft, teils auf Erhöhung der mensch­lichen Leistungen ab. […] Im Hüttenwesen ist es nicht anders, ja, Menschenersparnisbestrebungen haben manchen Betrieben geradezu ihren Stempel aufgedrückt. Das zeigt sich am Besten bei den Hochofenbetrieben.105 Die Arbeitsabläufe in den 1914 eröffneten integrierten Hüttenwerk der Illinois Steel Co. in Gary, Indiana, beschrieb Koppenberg wie folgt: Als das Großartigste auf dem Gebiet des Eisenhüttenwesens muß das Riesenwerk der lllinois Steel Co. in Gary bezeichnet werden. Der Umfang der Anlagen und die Leistungszahlen sind auch für amerikanische Verhältnisse ganz ungewöhnlich; die Weitläufigkeit der Anlage und die Großzügigkeit der Einzeleinrichtungen sind nicht gut zu übertreffen. Dabei herrscht soweit das Auge reicht, Ordnung und geregelter Verkehr, sowie überraschend einfache Betriebshandhabung. Der Betrieb läuft, ohne daß viel Arbeiter und überhaupt Vorgesetzte in die Erscheinung treten, fast geräuschlos und selbsttätig.106 Kleinschmidt und Welskopp wiesen darauf hin, dass das in diesem Bericht gemalte Bild weniger der Realität US -amerikanischer Hüttenproduktion nahekam, als dass sie »derjenigen einer computergesteuerten Produktion eines Hüttenwerkes der 1990er Jahre ähnelt«107. Daran zeigt sich abermals, dass »Amerika« weniger Vorbild als Wunschbild betrieblicher Ordnungsvorstellungen war, das kaum etwas mit der dortigen sozialen Realität der Hüttenarbeit zu tun hatte.108 Verstärkt wird diese Lesart durch berufskulturelle Dispositionen: Die meisten Fachleute waren Hütteningenieure, die

105 Bleibtreu, Über Technik und Wirtschaft, S. 493. Hervorhebung im Original. Vgl. hierzu Kleinschmidt, »Amerikanischer Plan«. 106 Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 53. 107 Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 85. 108 Der Hütteningenieur Ernst Goebel, der auf Betreiben seines deutschen Unternehmens auch als zweiter Schmelzer in einem US-Hochofenwerk arbeitete, konnte anhand seines eigenen Körpers Zeugnis darüber ablegen, dass die Arbeit hier keineswegs so vollmechanisiert und aseptisch ablief, wie es manche Reisebeschreibung nahelegte. Er berichtete, dass seine »zarten Hände von der rauhen Arbeit etwas derangiert sind.« TkA, A/5067, Goebel an Bartscherer, 14.5.1929, S. 5.

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laut Kleinschmidt und Welskopp »ganzheitliche Lösungen« präferierten und diese aus dem technischen Bereich der Produktion auf ihren sozialen übertrugen.109 Gleichzeitig war das Thema der technischen Rationalisierung auch ein Einfallstor für negative Projektionen. In einem Zeitungsinterview betonte der GHH-Vorstandsvorsitzende Paul Reusch im Jahr 1927 mit Blick auf die Mechanisierung der US -amerikanischen Industrie: Und auch der Arbeiter wird mechanisiert. In Amerika ist er schon zu einer Maschine geworden. Das dortige Taylor-System und die Fabrikation mit dem berühmten Band eignen sich aber nicht für den individuell veranlagten deutschen Arbeiter, der eine solch stumpfsinnige Beschäftigung auf die Dauer nicht aushalten kann[,] […] denn der Deutsche braucht Abwechslung und will nicht nur Handgriffe machen, sondern seinen Verstand anwenden.110 Reusch projizierte hier die scheinbare »Entfremdung« rationalisierter Arbeit (»stumpfsinnige Beschäftigung«, s. Zitat), für die sich der »deutsche Arbeiter« aus nicht weiter ausgeführten Gründen grundsätzlich nicht eigne, auf »Amerika«. Nach wie vor rangieren hier demnach idealistische Einschätzungen weit über wirtschaftlichen Erwägungen. Zwar mochte Reusch auch den Maschinenbau im Blick haben, der unter dem Dach des GHH-Konzerns angegliedert war. Mit der betrieblichen Realität der Hüttenindustrie hatte dies freilich nichts zu tun: Wie Thomas Welskopp gezeigt hat, ging die Entstehung eines vollmechanisierten Betriebssystems in der Hüttenindustrie seit den 1910er Jahren durchaus nicht mit einer Zunahme unqualifizierter Arbeit einher, sondern führte im Gegenteil gerade in Gestalt der Maschinenbediener und ihrer anspruchsvollen steuernden Arbeitspraktiken zu einer Rückkehr der qualifizierten Arbeiter an den Hochöfen, den Gießereien und den Stahl- und Walzwerksaggregaten.111 Insofern verbot sich mindestens für die Kernbetriebe der Eisen- und Stahlindustrie eine solche von Reusch formulierte Bezugnahme auf vorgeblich unqualifizierte Arbeit. Zudem waren

109 Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 85. 110 O. V., »Die wirtschaftliche Sicherheit«, zitiert nach: RWWA 130–12–9, »Die wirtschaftliche Sicherheit der GHH.« Ein Interview mit Kommerzienrat Reusch, S. 2. Hervorhebungen im Original. 111 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 478–493.

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»tayloristische« Untersuchungen wie Zeitstudien oder Arbeitsplatzanalysen insbesondere im Bereich der Steuerungsarbeit der Produktionsanlagen in den Hüttenbetrieben gar nicht möglich, da diese den reibungslosen Produktionsablauf gestört hätten.112 Insofern erfand Reusch hier offensichtlich ganz bewusst eine vorgebliche »Bedrohung«, die sich in Wirklichkeit für weite Produktionsbereiche der Branche erübrigte.113 Es ging ihm, so ist zu vermuten, bei seinen Projektionen jedoch vor allem darum, ein ideologisches Argument zu platzieren.114 Denn ein zentraler Bestandteil des kollektiven Selbstbewusstseins der Hüttenarbeiter war ihr Selbstverständnis als individuelle, anspruchsvolle Handarbeit verrichtende Produzenten, die den weiterhin hohen physischen Anforderungen der Hüttenarbeit gewachsen waren.115 Neben solchen technisch-sozialen Zukunftsvisionen und ideologischen Projektionen konnte die US -Industrie aber auch konkrete Handlungsfelder einer erfolgreichen »Menschenwirtschaft« aufzeigen. Koppenberg betonte in diesem Zusammenhang vor allem zwei Aktionsfelder der »Pflege der Werksgemeinschaft« in den USA: die Aspekte »safety« und »teamwork«, die er in seinem als Buch erschienenen Reisebericht auch reich bebildert präsentierte. Unter »safety« fielen demzufolge nicht nur der Arbeitsschutz durch technische Schutzvorrichtungen an den Maschinen und Produktionsanlagen; vielmehr liege in den US -Werken das »Hauptgewicht […] auf dem psychologischen Moment«116. Das bedeutete, dass das Verhalten der Arbeiter selbst in den Mittelpunkt des Arbeitsschutzes rückte, im Sinne einer betriebswirtschaftlich ausgerichteten Steuerung zur Förderung des reibungslosen Produktionsablaufs.117 Der Blick in die USA zeigte deutschen Fachleuten in diesem Zusammenhang neue Formen der Unfallverhütungswerbung und -propaganda. Demnach wurden – den Ausführungen Koppenbergs zufolge – arbeitsschutzspezifische Inhalte wie folgt vermittelt:

112 Ebd., S. 512 f. 113 Das insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg vertikal integrierte Montanunternehmen GHH verfügte auch über weiterverarbeitende Betriebe und Unternehmen, insbesondere im Bereich des Maschinenbaus. Marx, C., Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte, S. 123–193. 114 Vgl. zu den transnationalen Konstruktionen »deutscher Arbeit« im Marketing Kapitel 4.3 dieser Arbeit. 115 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 520 f. Damit war ein männlicher Körperkult verbunden. Ebd. 116 Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 79. 117 Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 284–297.

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– durch ständig wechselnde Plakate, die die Arbeitenden zur Vorsicht in unterschiedlichen neuralgischen Situationen des Arbeitsalltags mahnten, – durch Ideenwettbewerbe für betriebliche Verbesserungsvorschläge sowie – durch einen zwischen den einzelnen Betrieben angefachten Wettbewerb um die niedrigsten Unfallzahlen sowie die besten sanitären Einrich­ tungen.118 Die daraus resultierenden Effekte hatten einen konkreten Nutzen, der über den Arbeitsschutz hinauswies: Durch diese Maßnahmen übe man Ordnung, Sauberkeit und Arbeitsfreude ein.119 Insofern betrachteten die Fachleute den Arbeitsschutz nach US -Vorbild in einem instrumentellen Sinne als Mittel der Steuerung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen. Dabei, das hat die Historikerin Nina Kleinöder gezeigt, spielten die »safety first«-Bewegung eine wichtige Rolle im Unfallschutz der Weimarer Republik: »Gerade in der Eisenund Stahlindustrie konnte […] eine nachhaltige Wirkung auf der Unternehmensebene belegt werden, die sich langfristig weniger als Kopie, sondern als Adaption im Systemvergleich niederschlug.«120 Darüber hinaus fördere man das arbeitende Individuum auch durch konkrete Maßnahmen im Sinne der »teamwork«. Dies war das zweite Aktionsfeld, das Koppenberg identifiziert hatte. In diesem Zusammenhang nannte er eine Reihe von Maßnahmen betrieblicher Sozialpolitik bzw. sozialer Betriebspolitik: – Altersfürsorge, – Kinderbetreuung, – Fortbildungsmöglichkeiten, – Klubhäuser, – Bibliotheken und Lesezimmer, – Sportplätze sowie – Turn- und Schwimmhallen. All dies diene, so Koppenberg, zur »Erziehung und Bildung« sowie zur »körperlichen Ertüchtigung« der Mitarbeitenden121. Vor allem stärkten diese Maßnahmen, die in den Werkszeitungen verbreitet und beworben wurden, 118 Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie, S. 81. 119 Ebd., S. 84; vgl auch das vorausgehende Kapitel 6.1 dieser Arbeit. 120 Kleinöder, S. 72. 121 Koppenberg, Eindrücke aus der Eisenindustrie.

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laut Koppenberg das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Bindung der Arbeitenden an das Werk.122 Dieser Bereich sozialer Rationalisierungsmaßnahmen war am wenigsten von Projektionen geprägt und kam der betrieblichen Realität in den USA in dieser Hinsicht tatsächlich am nächsten. Dabei benannten die deutschen Fachleute auch in internen Berichten selten offen den instrumentellen betriebswirtschaftlichen und machtpolitischen Charakter dieser Maßnahmen, den die Forschung herausgearbeitet hat.123 Die deutschen Werke verfügten selbst über eine lange Tradition betrieblicher Sozialpolitik und kannten dessen betriebswirtschaftlichen Nutzen.124 Die Reiseberichte sollten nicht zuletzt dabei helfen, eigene sozialpolitische Maßnahmen zu optimieren und gleichzeitig zu legitimieren und Argumente für wirtschafts- und sozialpolitische Auseinandersetzungen zu finden und zu schärfen. Denn diese betriebliche Sozialpolitik diente in den 1920er Jahren über betriebswirtschaftliche Erwägungen hinaus in erster Linie Wirtschafts- und sozialpolitischen Zielen, wenn sie darauf zielte den sozialstaatlichen und gewerkschaftlichen Einfluss zurückzudrängen. Ein Thema spielt eine auffällig untergeordnete Rolle in den Reiseberichten deutscher Fachleute über die USA in den 1920er Jahren: die Löhne und die Lohnpolitik. Wenn die Berichte diesen Aspekt nicht aussparten, so versuchten sie die höheren Löhne und ganz allgemein die Lohnpolitik der ­ S -amerikanischen Werke als möglicherweise geeignetes Mittel zur Lösung U des industriellen Konflikts in Deutschland zu diskreditieren. Hermann Bleibtreu schrieb mit Blick auf die höheren Löhne und Konsumchancen von Arbeitern in den USA: Es geht […] nicht an, amerikanische Rezepte unserm kranken Volkskörper zu verschreiben. Der höhere Verdienst des amerikanischen Arbeiters, seine Hoffnung, es einmal weiterzubringen und einen sorgenlosen Lebensabend zu verbringen, der Besitz eines eigenen Hauses, sind ohne Frage wirksame Mittel gegen radikale Neigungen. Aber selbst wenn Deutschland seinen Arbeitern die gleichen äußeren Vorteile bieten könnte, wären sie wirk-

122 Ebd., S. 79–85. 123 Rees, S. 101–142; Welskopp, Arbeit und Macht, S. 670–694. 124 Welskopp, Betriebliche Sozialpolitik; Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie.

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lich glücklicher? Ist das Hauptübel nicht unsere innere Zerrissenheit, das Nebeneinanderherleben einer kulturellen Oberschicht und eines traditionslosen Proletarierstandes?125 Zwar nennt Bleibtreu hier soziale Mobilität und höhere Löhne als einen möglichen Ausweg, um Klassengegensätze ausgleichen zu können. Unmittelbar verwirft er jedoch aufgrund seiner ideologisch verbohrten Sichtweise diese Lösung, indem er für Deutschland – gemäß der verbreiteten »Volksgemeinschafts«-Propaganda – die »innere Zerrissenheit« als gesellschaftliches »Hauptübel« Deutschlands ausmacht. Die konstatierte Zerrissenheit wird dabei nicht an sozialer Ungleichheit und politischen Konflikten, sondern an kulturellen Aspekten festgemacht. »Amerika« wurde auch in den 1920er Jahren insbesondere hinsichtlich der Rationalisierungsfrage zu einem Gegenstand innenpolitischer Deutungskonkurrenz. Weil nur Angehörige des Bürgertums überhaupt zu ausgiebigen Studienreisen in die USA aufbrechen konnten, verfügte die Kapitalseite über eine Deutungshoheit über die gesellschaftlichen und betrieblichen Realitäten in den USA . Dagegen versuchten die Gewerkschaften seit der Mitte der 1920er Jahre eine Gegenerzählung durch eigene Anschauung zu etablieren.126 So reiste im Jahr 1926 eine Delegation deutscher Gewerkschaftsführer in die USA . Neben dem Bundesvorstand des ADGB schloss sich eine Vielzahl von Vertretern der Einzelgewerkschaften an.127 Daraus entstand ein Bericht über jene Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer. Ausgangspunkt war die von Seiten der Unternehmen aufgestellte Behauptung, dass die US -Arbeiter »arbeitsfreudiger« und produktiver seien. Überhaupt galt es, die entlang der Konstruktion »Amerika« entwickelte »Betriebsideologie« vor Ort durch die Methode »Sehen, Vergleichen und Befragen« zu überprüfen.128 In dem Bericht heißt es in diesem Zusammenhang: »Kamen wir doch aus einem Lande, wo von besonderer [gemeint ist: unternehmerischer; TM] Seite […] gesagt worden ist, dass durch längere und intensivere Arbeit leicht zwanzig Prozent Mehrproduktion aus der deutschen Wirtschaft herausgeholt werden könnten.«129 Damit reisten die Gewerkschaftsvertreter in die USA, um die 125 Bleibtreu, Wesen und Betrieb, S. 1070. 126 O. V., Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, S. 5 f. 127 Ebd., S. 6 f. 128 Alle Zitate: ebd., S. 33. 129 Ebd., S. 32. Hervorhebungen im Original. Die Autoren verweisen hier auf das Buch von Köttgen.

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Behauptungen der Wirtschaftsvertreter überprüfen zu können, während der leicht ironische Ton schon verrät, dass sie diesen Behauptungen der wirtschaftsnahen Publizistik und Propaganda nicht trauten. Ein wichtiger Kritikpunkt war die auch den genannten Reiseberichten hervortretende Betonung der Notwendigkeit der Leistungs- und Produktivitätssteigerung der individuellen Arbeiter. So heißt es in dem Bericht: Diese Quantitätstheorie der Produktionssteigerung hat in Deutschland wohl auch deswegen so beachtliche Anhänger, weil angenommen wird, dass andere Möglichkeiten der Intensivierung der Produktion, von der Verbesserung des Maschinenparkes bis zur völligen Arbeitsteilung und von der Normisierung [!] bis zum Einheitsfabrikat, vorläufig im beson­ deren aus Kapitalmangel, aber auch aus historischen und psychologischen Gründen nicht gegeben seien. Aus diesem Grunde wird geschlossen, dass bei uns zurzeit in erster Linie nur die Möglichkeit der Intensivierung der Arbeit durch den Arbeitenden (Steigerung der Leistung pro Mann) ge­geben sei.130 In Teilen durchaus treffend fasste der gewerkschaftliche Bericht hier die ideologisch verbohrte Position der deutschen Industrie zusammen. Die Industrie gab immer wieder vor, dass ihr gerade bei der Rationalisierung im Bereich der Massenproduktion und des Massenabsatzes aus ökonomischen Gründen die Hände gebunden seien.131 Allerdings setzte insbesondere die deutsche Hüttenindustrie in einem hohen Maße auf technische Rationalisierungsmaßnahmen, wie die historische Forschung herausgearbeitet hat: Sie rationalisierte sich gerade durch immer neue Modernisierungen der Produktionsanlagen, auf die sie seit der Absatzkrise 1924 bis 1926 verstärkt setzte, immer weiter in eine Absatz- und Auslastungskrise hinein.132 Die Gewerkschaften verbanden mit Rationalisierung jedoch ein weitaus umfassenderes Konzept, das die Arbeitenden vom Joch der Lohnarbeit zu befreien versprach. In Teilen der 130 O. V., Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, S. 32. 131 Dagegen stellten der DMV (wie andere im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) organisierte Gewerkschaften) auch eine andere Wirtschaftspolitik und propagierten konsequent eine Unterkonsumptionstheorie, wonach der Absatzkrise nur durch erhöhte Reallöhne und gesenkte Preise begegnet werden könne, um so die Binnennachfrage anzukurbeln. Swiniartzki, S. 365, Zitat ebd., Anm. 85; vgl. hierzu auch Kapitel 5.3 dieser Arbeit. 132 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 462–466.

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Gewerkschaften und insbesondere auf der Ebene der Spitzenfunktionäre herrschte in den 1920er Jahren eine regelrechte »Rationalisierungseuphorie«, während die Mitglieder Rationalisierung als bedrohlich empfanden. Die US -amerikanische Entwicklung spielte in diesen innergewerkschaftlichen Debatten ebenfalls eine wichtige Rolle, insbesondere beim Deutsche Metallarbeiter Verband (DMV).133 Sehr treffend, verweist der gewerkschaftliche Bericht im oben angeführten Zitat aber wiederum darauf, dass die Industrie ihr Hauptaugenmerk auf die soziale Rationalisierung setzte und in diesem Zuge behauptete, dass vor allem die Arbeiter ihre »Arbeitsfreude« und damit die Produktivität steigern müssten, um die ökonomische Krise zu überwinden. Diese Tendenz lässt sich nicht zuletzt deutlich aus den Reiseberichten herauslesen, in denen diese ideologische Position durch interessengeleitete Projektionen legitimiert wird. Vor Ort stellte die Delegation deutscher Gewerkschaftsführer recht bald fest, dass die unternehmerische Erzählung von der rundheraus wirtschaftsfriedlichen und arbeitsfreudigen US -amerikanischen Arbeiterschaft überhaupt nicht zutreffe: »Wie man die Frage nach der Stimmung des Arbeiters auch betrachtet, man kommt auf Grund der deutschen und der amerikanischen Erfahrung immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: In den Vereinigten Staaten sind die Arbeiter durchaus nicht ›zufriedener‹ und deswegen arbeitsfreudiger als bei uns.«134 Zwar ist die gewerkschaftliche Position natürlich ebenfalls interessengeleitet und keineswegs objektiv. Durch eigene Vergleichsbemühungen gelang es den Gewerkschaftsführern somit, die instrumentelle Vergleichspraxis der Unternehmensvertreter als Fiktion und somit als Machtmittel zu entlarven, das lediglich dem Ziel diente, die »Ideologie des Managements« in der Arbeiterschaft zu verbreiten. Dieses Vergleichsergebnis des Gewerkschaftsberichts wird dabei deutlich stärker von der historischen Forschung gestützt als die ideologischen Projektionen der Branchenvertreter.135 Das Kapitel hat gezeigt, dass in den krisenhaften 1920er Jahren sich der Blick auf die industriellen Beziehungen und die Sozialpolitik der US -amerikanischen Hüttenindustrie gewandelt hatte. Anders als in den Reiseberichten, die vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, wurden die USA in dieser Hin-

133 Vgl. zur innergewerkschaftlichen Rationalisierungsdebatte beim DMV: Swiniartzki, S. 362–374. 134 O. V., Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, S. 36 f. Hervorhebungen im Original. 135 Rees, S. 101–142; Welskopp, Arbeit und Macht, S. 670–694.

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sicht von einem ideologischen Gegenbild zum Vor- und insbesondere zum Wunschbild. Die deutschen Fachleute projizierten ihre betriebliche Idealvorstellung von einer »Betriebsgemeinschaft«, in der die Arbeiter sich freiwillig dem wirtschaftlichen Betriebszweck unterordneten und produktiver arbeiteten, auf die USA . Sie glichen die beobachteten Verhältnisse damit an das eigene, vorgefertigte Ideal an. Insofern sind die Vergleichspraktiken der deutschen Fachleute, die auf die industriellen Beziehungen zielten, in besonderer Weise von interessengeleiteten Projektionen geprägt. Sie dienten der Legitimation des unternehmerischen Kampfes gegen die Weimarer Betriebsdemokratie und des Sozialstaats. Hier liegt der Grund für die nochmals gesteigerte ideologische Verbohrtheit der Reiseberichte und Werksbeschreibungen.

6.3

Die »Alte Welt« zwischen US-amerikanischem Vor- und Gegenbild

Zwar haben die vorausgehenden Kapitel gezeigt, dass die Beschäftigung deutscher Fachleute mit der sozialen Betriebssphäre der US -amerikanischen Hüttenindustrie von ideologischen Zielsetzungen geprägt war. Aber spätestens in den 1920er Jahren rückten die industriellen Beziehungen in den Fokus: eine ganze Reihe deutscher Branchenvertreter reiste in die USA und fertigte darüber Berichte an. Für die dortige Industrie lässt sich ein solches Interesse an Deutschland keineswegs konstatieren. So finden sich in den 1920er und 1930er Jahren fast gar keine ausführlichen Reiseberichte – auch nicht in den Fachzeitschriften. Auf das Thema der sozialen Betriebssphäre nehmen die US -Fachleute im Bewusstsein der eigenen ökonomischen Überlegenheit lediglich in mehr oder weniger oberflächlichen Verweisen auf den »alten Kontinent« Bezug. Dies war auch schon in den 1870er Jahren in den Artikeln der Zeitschrift Iron Age deutlich. Im Jahr 1873 fragte ein Artikel, ob sich Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, deren Zunahme der Autor in Europa ebenso beobachtete wie eine stärker werdende Arbeiterbewegung, zukünftig auch in den USA entwickeln könnten. Zwar seien die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit in den USA ebenfalls keineswegs harmonisch; allerdings stellte der Autor hinsichtlich der Gefahr von Arbeitskonflikten fest: »[T]here is much less apparent danger here than in any other of the great producing countries of the world, of a conflict of classes.«136 Warum diese Gefahr ausgeschlossen wird, erläutert der Artikel wie folgt: 136 O. V., The Aspects of the Labor Question, S. 16.

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The situation of affairs in Europe […], either present or prospective, furnishes no standard by which to estimate the tendencies of the labor movement in this country. Under the institutions of democracy, the labor question and the political dangers to which it gives rise must, of necessity, assume forms wholly different from those which they assume under unpopular monarchical systems.137 Der Artikel argumentiert, dass sich die politischen Rahmenbedingungen in Europa zu sehr von den US -amerikanischen unterschieden, weshalb eine ähnliche, als negativ empfundene Entwicklung in den Vereinigten Staaten nicht zu erwarten sei. Europa böte demnach keinen kein Standard, dessen Entwicklungen die USA nachfolgten. Den offen zu Tage tretenden europäischen Klassenkonflikt schob der Artikel somit auf die dort herrschenden monarchischen politischen Systeme, in denen sozialer Aufstieg nicht vorgesehen sei. Überhaupt gebe es, so behauptet der Artikel weiter, unter den demokratischen Bedingungen keine Klassengegensätze: We have no privileged class, no class controlling through inheritance and entail the accumulated wealth of the country; and our working classes constitute so large a part politic that there is really no present chance for a conflict here in any respect similar to that which is gathering strength in across the ocean.138 Vor dem Hintergrund der europäischen Vergleichs- und Kontrastfolie negiert der Artikel soziale Ungleichheit und bürgerliche Klassenherrschaft durch den Verweis auf vererbte Privilegien in Europa und demgegenüber die politischen Partizipationsmöglichkeiten der eigenen Arbeiter, die die volle Staatsbürgerschaft mit allen Rechten genössen. »Herrschaft« und »Macht« werden dabei allein an die Frage des politischen Staatssystems und nicht an die kapitalistischen Produktionsverhältnisse gebunden. Dabei zeichneten die gesellschaftlichen Zustände zu Zeiten der sogenannten »Gildet Age« (1870er bis 1890er Jahre) ein anderes Bild. Diese Ära war einerseits eine Zeit gewaltigen wirtschaftlichen und technologischen Aufschwungs und der Anhäufung riesiger Privatvermögen, andererseits von großer Armut.139 Es war, 137 Ebd. 138 Ebd. 139 White, The Republic for which it stands.

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wie in diesem Artikel, üblich, dass die Unternehmerseite die Existenz einer »aristocracy of the dollar« in den USA negierte.140 Die Arbeiterschaft wurde dabei zu einem integrativen Teil eines gemeinsamen demokratischen Projekts erklärt: »The American workingman feels at once the dignity and the responsibility of citizenship, and in his actions he is impelled less by  a greed of immediate personal advantage than by a ­desire to secure his own welfare by means calculated to promote the welfare of all classes of the community.«141 In diesem abermals impliziten Vergleich zwischen US -amerikanischen und europäischen Arbeitern erscheinen die ersteren als in erster Linie für sich selbst und in Folge dessen für das gesamte Gemeinwohl sorgende Individuen. Ermöglicht werde diese positive Situation aus Sicht des Artikels durch das demokratische Staatswesen in den USA . Daraus lässts sich deuten, dass die Frage des Herrschaftsverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit in einer Zeit ausgeblendet wird, die gerade durch eine scharfe soziale und politische Polarisierung sowie Korruption geprägt war. Neben der Betonung der Unvereinbarkeit zwischen den sozialen und politischen Verhältnissen in den USA und Europa, griffen die Fachleute auch zu interessengeleiteten Projektionen. Auf die Arbeitsverhältnisse bezogen warf die Zeitschrift Iron Age der britischen Unternehmenspolitik in den frühen 1870er Jahren vor, negative Auswirkungen der kapitalistischen Industriearbeit zu fördern: Die weitgehend auf Handarbeit beruhende Tätigkeit in den britischen Hüttenbetrieben führe zur »Entfremdung« der Arbeitskräfte von ihrer Arbeit. In diesem Zusammenhang heißt es: Men, women and children must be emancipated from every mental duty which machines can be made to perform, and thus enabled to follow higher and more ennobling occupations, while in every department skill and industry must be supplemented by the power of steam, exerted through arms of iron and fingers of steel.142 In diesen metaphorischen Worten wird hier – wie auch sonst – kaum konkret, wo genau die Unterschiede im Bereich der Mechanisierung bestanden. Deutsche Fachleute wie Hermann Wedding machten bei ihren Werks­besuchen jener Zeit fest, dass das Muster der US -Walzwerkstechnik sei, »die Handarbeit 140 Nasaw, S. 222. 141 O. V., The Aspects of the Labor Question, S. 16. 142 O. V., Why England Suffers, S. 14.

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durch mechanische Vorrichtungen zu ersetzen«.143 Auch im Bereich der elektrischen Hochofenbeschickung war die US -amerikanische Industrie in dieser Hinsicht fortgeschritten.144 Mit dem allgemein gehaltenen Verweis auf den geringeren Mechanisierungsgrad in Europa inszenierte die Zeitschrift Iron Age daran anknüpfend die US -Industrie als Weltmaßstab für Fortschritt – auch in einem arbeitnehmerfreundlichen Sinne: It is precisely and only this [gemeint ist: die fortgeschrittene Mechanisierung in den USA; TM] which has rendered possible so rapid a progress in this country during the past half century, and no country can obtain or retain a substantial greatness which depends upon cheap labor and tolerates an industrial system which pauperizes its working classes.145 In dieser deutlich übertreibenden Gegenüberstellung wurden nicht nur die eigenen technischen Errungenschaften in ein helleres Licht gestellt. Gleichzeitig ließen sich so Entfremdungstendenzen kapitalistischer Industriearbeit auf Europa und insbesondere Großbritannien projizieren.146 Denn die US -amerikanischen Hüttenbetriebe jener Zeit waren zwar durchaus stärker mechanisiert als die europäischen. Dies geschah, wie schon zeitgenössisch europäische Besucher feststellten, weniger aus Idealismus und Sorge um die körperliche und seelische Gesundheit der Arbeiter, denn aus ökonomischen Zwängen. Die Hüttenbetriebe litten unter einem Arbeitskräftemangel und versuchten überdies in dieser Weise ihre Lohnkosten zu drücken. Insofern verschleierte eine solche Konstruktion die wahren Gründe für die Mechanisierungsbestrebungen der US -amerikanischen Industriebetriebe.147 Dabei ist auch zu beachten, dass Mitte der 1870er Jahre und trotz aller Me143 Wedding, S. 485. 144 Kleinschmidt, »Amerikanischer Plan«, S. 371. 145 O. V., Why England Suffers, S. 14. 146 Diese Lesart der Entfremdung stand der europäischen und besonders der bereits genannten deutschen diametral entgegen. Hier galt gerade die US-amerikanische »FoolProof«-Arbeit an den Maschinen als entfremdete Form der Industriearbeit. Überhaupt reagierten bürgerliche Autoren zu jener Zeit auf die Feststellung, dass Industriearbeit »entfremdet« sei, indem sie der Arbeit »von außen« nationale Bedeutung zusprachen. Vgl. für Deutschland Campbell, J., S. 28–46; vgl. zum Begriff der Entfremdung: Henning. 147 Vgl. für diese Interpretation etwa die hier zitierte Zuschrift des britischen Hüttenmanns W. R. Lysaght in: o. V., British Iron and Trade Association, S. 1008; auch Wedding, S. 485 wies auf diesen naheliegenden Grund der Senkung der Lohnkosten hin.

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chanisierungsmaßnahmen auch in US -amerikanischen Hüttenbetrieben immer noch eine nicht unerhebliche technische »Transportlücke« zwischen den Produktionsanlagen der einzelnen Fertigungsstufen bestand. Diese musste nach wie vor durch enorm anstrengende Muskelarbeit geschlossen werden, weswegen die wenigen Facharbeiter und Meister an den Produktionsanlagen in einem Heer an ungelernten Hilfsarbeitern untergingen, die die Werkstücke und die Rohstoffe transportieren mussten.148 Insofern ließ sich das Narrativ einer besonders weit fortgeschrittenen Mechanisierung als Charakteristikum US -amerikanischer Hüttenarbeit nur im Kontrast mit den europäischen Hüttenbetrieben aufrechterhalten. Für die Einschätzung der hier ausgewerteten Quellen hat das zur Folge, dass diese vor allem – und ganz ähnlich wie die deutschen Berichte über die USA – als interessengeleitete Projektionen und ideologische Selbstvergewisserung gelesen werden müssen. Dies galt in besonderer Weise für die US -amerikanischen Selbstvergleiche mit Großbritannien, das hinsichtlich der industriellen Beziehungen als Gegenbild fungierte. In diesem Bereich machte die Zeitschrift Iron Age im Jahr 1874 einen Grund für das behauptete ökonomische Zurückfallen Großbritanniens aus: It is […], the inevitable result of centuries of dependence upon cheap labor. During the whole period of England’s history as a ›workshop‹ for the manufacture of goods for export, labor has been kept a condition verging so closely upon pauperism that only those in the enjoyment of robust health, […] were able to keep themselves and their immediate and dependents above the necessity of receiving public aid. In a country overcrowded with what has truly been called ›pauper labor‹, the competition for work among those seeking employment enabled manufacturers to keep the standard of wages so low a figure that the laboring classes had no chance to better their condition in any material degree.149 Die britische Industrie insgesamt wird hier der rücksichtslosen Ausbeutung bezichtigt, was zur Pauperisierung weiter Teile der stets untereinander in Konkurrenz stehenden Arbeiterschaft geführt habe. Selbstredend griff auch die US -amerikanische Industrie jener Zeit auf solche Praktiken zurück, die 148 Vgl. zu den technischen Bedingungen und der Zusammenarbeit ausführlich: Wels­ kopp, Arbeit und Macht, S. 84–141, S. 237–307. 149 O. V., Why England Suffers, S. 14.

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sie der britischen Branche vorwarf. Der europäische und insbesondere britische »Pauperismus« war seit der US -amerikanischen »Reconstruction Era« (1863–1877) ein wichtiger Topos transnationaler Vergleiche, wenn es darum ging, politische Machtasymmetrien und soziale Ungleichheit in den USA zu verschleiern.150 Damit diente das oberflächlich, aus der Ferne betriebene Vergleichen mit Europa bis hierher einerseits der Selbstvergewisserung der US -amerikanischen Industrie. Andererseits diente Europa als ideologische Projektionsfläche für negative Charakteristiken kapitalistischer Industriearbeit, wie Entfremdung und Ausbeutung. Darüber hinaus konnte das Vergleichen der US -amerikanischen Arbeiterschaft mit der »pauperisierten« in Europa instrumentell auf konkrete interessenpolitische Forderungen ausgerichtet werden. An den Topos des europäischen »pauper labor« anknüpfend forderten ökonomische Interessengruppen in den USA immer wieder Schutzzoll. Sie gaben dabei vor, die Arbeiter vorm Abrutschen in den »Pauperismus« zu schützen. Für die protektionistische Lobbyorganisation AISA unter James M. Swank gehörte diese Vergleichserzählung für Jahrzehnte zum Standardrepertoire ihrer wirtschaftsnationalistischen Propagierung von Schutzzöllen.151 Im Anschluss an die Historikerin Adalheid von Saldern lässt sich vermuten, dass auch die hier diskutierten Vergleichspraktiken im Zusammenhang einer US -amerikanischen Abgrenzung von Europa in den Jahrzehnten um 1900 stehen: Die starke Betonung der scheinbaren wie der tatsächlichen Differenzen der Gesellschaften dies- und jenseits des Atlantiks diente der Bildung einer eigenen US -amerikanischen Identität, so Salderns Hypothese.152 Um die Wende zum 20. Jahrhundert beschäftigten sich die US -amerikanischen Branchenakteure mit der europäischen Sozialpolitik. Denn insbesondere die lange »Nonunion Era« (1892–1937), als die Unternehmen mit allen Mitteln eine betriebliche Interessenvertretung in der Hüttenindustrie verhinderten, war geprägt von konflikthaften industriellen Beziehungen. Vor diesem Hintergrund standen die Konzerne unter zunehmenden öffentlichem Druck, sozialpolitische Zugeständnisse zu machen. Denn gleichzeitig markiert gesamtgesellschaftlich betrachtet die »Progressive Era« (1897–1920) eine Zeit sozialreformerischen Aufbruchs. Wie der Historiker Daniel Rodgers gezeigt hat, galt für die Sozialreformer dieser Zeit Europa hinsichtlich sei150 White, The Republic for which it stands, S. 136–171, S. 231–251. 151 Tedesco, S. 5. 152 Saldern, Amerikanismus.

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ner Sozialpolitik dabei durchaus als Vorbild. In Europa hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts zwischen den benachbarten Staaten sozialstaatliche Maßnahmen in Konkurrenz zueinander aber auch im Austausch entwickelt. Die USA waren von diesen Debatten und Austauschprozesse zwar bis zu einem gewissen Grad zunächst räumlich und kulturell abgeschnitten, fanden aber im Zuge von Welt- und Fachausstellungen zunehmend Zugang zu den europäischen Netzwerken. Politiker, Unternehmer und Sozialexperten setzten sich nun verstärkt mit Europa hinsichtlich der sozialstaatlichen Einhegung des Kapitalismus auseinander‹: Lösungen für die soziale Polarisierung und die vielfältigen sozialen Probleme in der eigenen Gesellschaft zu finden.153 Als sich die US -amerikanische Eisen- und Stahlindustrie mit dem sozialreformerischen Diskurs der »Progressive Era« konfrontiert sah, positionierte sie sich nochmals verstärkt ablehnend gegenüber jeglichen sozialpolitischen Reformen. Schon der Bismarck’schen Sozialversicherung und anderen Maßnahmen, die seit den 1880er Jahren die sozialen Konflikte des Kaiserreichs befrieden helfen sollten, standen US -Branchenvertreter kritisch gegenüber, wie sich in entsprechenden Kommentaren aus der Zeitschrift Iron Age ablesen lässt. So heißt es in einem Artikel von 1887, der sich den staatlichen Sicherungssystemen in Europa widmet: »But an attempt to pass a law like the contemplated in Germany [gemeint ist die Sozialversicherung; TM] would promtly meet with a vigorous opposition, both on the part of self-respecting workmen and the most far-seeing employers. A system which will probably be  a success on the Continent would be an utter impossibility in this ­country.«154 Der Artikel behauptet eine zu erwartende Ablehnung  – nicht nur der Unternehmer-, sondern auch der Arbeitnehmerseite. Darüber hinaus werden ebenfalls nicht weiter spezifizierte Systemunterschiede angeführt. Charles Kirchhoff, der sich in den Jahren um 1900 in einigen Artikeln dem

153 Rodgers, S. 59–62. Ein Zeichen für die stärkere Auseinandersetzung der USA mit sozialpolitischen Themen waren die US-amerikanischen Auftritte bei Weltausstellungen des späten 19. Jahrhunderts. In diesen Foren präsentierten die USA ersten eigene sozialpolitische Errungenschaften, während US-Experten Kontakte knüpften und erste internationale sozialpolitische Foren gegründet wurden; ebd., S. 14–17. Natürlich waren die Ausstellungen nur Kondensate. In den Staaten selbst waren diese Themen umstritten und wurden zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen ausgehandelt. Es mischten sich Ideen zwischen staatlichem und privatem Paternalismus und Mutualismus; die Arbeiter- und Frauenbewegungen spielten eine wichtige Rolle. Ebd., S. 17–20. 154 O. V., Pensioning Workmen, S. 16.

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europäischen Paternalismus widmete, konkretisierte, worin diese Unterschiede bestünden: The whole legislation, beautifully elaborated though it be, is based upon the conviction that the workman is not able to take care of himself. He is improvident. Therefore a certain sum per month must be withheld from his wages in order to accumulate a fund for his old age. All must contribute at regular intervals in order that the unfortunate striken by accident shall be taken care of during sickness and recovery. These contributions are compulsory. The individual has no voice in determining their amount, nor in their administration.155 Sozialstaatliche Maßnahmen, wie sie in Europa üblich seien, diskreditiert Kirchhoff hier als eine Entmündigung des arbeitenden Individuums und maßt sich als Industrievertreter implizit an, für die Position der Arbeitnehmer zu sprechen. Darüber hinaus verschweigt er wohlweißlich, dass die sozialpolitischen Maßnahmen  – zumindest in Deutschland  – keineswegs allein durch die Arbeitnehmer, sondern paritätisch auch durch die Arbeitgeber finanziert werden.156 Überhaupt versuchte Charles Kirchhoff das europäische Modell nach Kräften zurückzuweisen. Dies sah er deshalb geboten, weil er in vielen Gesellschaftsbereichen der USA den verbreiteten Wunsch nach einer Orientierung an europäischen Mustern beobachtete – was seiner These von der Entmündigung widerspricht. Zunächst beschrieb Kirchhoff welche Aspekte die Sozialreformer in den USA für nachahmenswert hielten, wodurch er durchaus zutreffend Maßnahmen und Praktiken des europäischen Sozialpaternalismus jener Zeit umriss: We have become accustomed in America to observe among students of economics a pronounced desire to fly from well-known evils at home to

155 Kirchhoff, Paternalism and Industrial Development, S. 17. 156 Ayaß, Rudloss u. Tennstedt. Gleichwohl gab es insbesondere bei der betrieblichen Sozialpolitik auch in Deutschland eine Verbindung zur Lohnfrage. Maßnahmen betrieblicher Sozialpolitik wurden nicht zuletzt in Lohnauseinandersetzungen als Argument angeführt, um Forderungen der Arbeiter abzuwehren. Diese Praxis wuchs sich in der späten Weimarer Republik zu einer betrieblichen Sozialpolitik aus, die staatliche Lohnregelungen unterlaufen sollte. Welskopp, Betriebliche Sozialpolitik, S. 346.

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methods which apparently work well abroad. Government reports, the essays for doctors’ degrees, the elaborate treatises of our professors of economies, the writings of reformers and of journalists on the wing, all breathe an admiration for the well regulated systems in vogue in Europe. From the model municipal plants for supplying gas and electricity to the great government systems of railroads, from the village poorhouse to the vast machinery for the care of the injured and the maintenance of the invalid workmen, all are held up to us for admiration and adoption.157 In ironischem Ton beschreit er, wie Europa aus reformerischer Perspektive zu einem Vorbild geworden war. Dieses angeblich so »gut regulierte« europäische System kam aus Kirchhoffs Sicht dabei einer allumfassenden bürokratischen Steuerung des gesamten gesellschaftlichen Lebens gleich. Warum er eine solche Entwicklung für die USA ablehnte, formulierte Kirchhoff wie folgt: Under the pleasing guise of elaborate, carefully regulated, enormous institutions, there is  a pronounced drift toward socialism which is in marked and, let us hope, irreconcilable antagonism to the spirit of our own institutions. Let it be admitted at once that very much which is attractive is revealed by even a superficial study of European institutions.158 Die umfassende Planung durch große Institutionen drohe laut Kirchhoff also in Richtung des rundheraus abgelehnten Sozialismus abzudriften.159 Damit markiert er im Vergleich zu der US -Institutionenordnung unvereinbare Unterschiede im »spirit«. So versucht er die europäischen Verhältnisse als einen schönen Schein zu entlarven, der einem zweiten Blick nicht standhalte.

157 Kirchhoff, Paternalism and Industrial Development, S. 17. 158 Ebd. 159 Auch von Seiten der deutschen Industrie gab es immer wieder den Vorwurf einer staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sich zu sehr in die ökonomischen Belange einmische. O. V., Stenographisches Protokoll der Haupt-Versammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute vom 21. December 1890, S. 19. Diese Kritik mündete in der ordnungspolitischen Debatte des Ersten Weltkriegs im Begriff des »Staatssozialismus« (Kerkhof, S. 415–417), während, wie in Kapitel 6.2 dieser Arbeit gesehen, sich aus der ideologischen Perspektive der deutschen Unternehmen in der Weimarer Republik der »Sozialismus« vermeintlich des gesamten Wirtschafts- und Staatswesens bemächtigt habe.

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Mit Blick auf den internationalen Wettbewerb sieht er im US -amerikanischen »spirit« Vorteile: [Y]et it is a very grave question whether, in a struggle for foreign markets, other things being equal, our system of private owned roads, with their quick adaptation to circumstances and their instant and effective action in emergencies, does not give us advantages, whether our rapid technical progress in equipment, due to a keen competition, will not keep us ahead of rivals who must write long petitions to Government officers.160 Während er mit den »other things being equal« auf durchaus ähnliche technologische Niveaus der Industrie anspielt, macht er die Unterschiede zwischen den USA und Europa in der Bedeutung aus, der man der freien Konkurrenz beimisst. In diesem Zusammenhang stellt er der »schwerfällig« konnotierten europäischen (»rivals who must write long petitions to Government officers«; s. Zitat), eine »dynamische«, nach dem Prinzip der »keen competition« arbeitende US -Wirtschaft entgegen. Dieser Unterschied im Konkurrenzdenken schlug sich, wie H. H. Cambell im Jahr 1903 schrieb, auch in der Arbeit in den Hüttenwerken nieder: Much of the difference between the two sides of the Atlantic is due to the fact that no spirit of rivalry has even entered into European steel works. Men do not go from one place to another; they do not brag of outputs; they do not challenge every one to enter the race. It is beyond question that many of the great advances that America has made have been due almost wholly to vainglory and a simple desire to ›beat all creation.‹ Another factor was the desire to increase outputs when the margin of profits justified the most lavish expenditure, and it is doubtful if in every case it was foreseen that these outlays would result in such a great decrease in the operating cost per ton. In foreign countries this argument of beating a competitor has absolutely no place.161 Damit beschrieben Kirchhoff und Campbell durchaus treffend Unterschiede einerseits in der Institutionenordnung und andererseits im Konkurrenzethos

160 Kirchhoff, Paternalism and Industrial Development, S. 18. 161 Campbell, H. H., S. 16.

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der Hüttenwerke dies- und jenseits des Atlantiks  – dennoch blieben ihre Beschreibungen ideologisch. Schließlich zeigt diese Kritik die Nähe zu den sozialdarwinistischen Ideen des 19. Jahrhunderts, für die vor allem der Industrielle Andrew Carnegie stand. Carnegie propagierte mit Blick auf soziale Ungleichheit die »evolutionistische« Idee des »survival of the fittest«, wonach jedes Individuum für sich selbst zu sorgen habe und allein Konkurrenz zu gesellschaftlichem Fortschritt führe. Erfolgreiche Unternehmer machte dieser Gedanke zu Treibern des Fortschritts.162 Insofern waren die Vergleiche US -amerikanischer Fachleute interessengeleitet und nahmen allein die Position der Unternehmensführungen ein (bzw. gaben vor, dass eine Interessenkongruenz zwischen Arbeitgebern und Arbeitsnehmern bestehe), während die hohen sozialen Kosten des hier propagierten »Schnellbetriebs« auf Seiten der Arbeiter komplett ausgeblendet werden. Stattdessen galt es, durch die Betonung der strukturellen und kulturellen Unterschiede zwischen den USA und Europa jegliche sozialpolitischen Zugeständnisse abzuwehren, ohne die wahren Gründe dieser ablehnenden Haltung nennen zu müssen: Diese bestanden zum einen in ideologischen Unterschieden und zum anderen ist zu vermuten, dass die Unternehmen die höheren Kosten in Gestalt staatlicher Sozialabgaben fürchteten. Dabei stand die Position von Kirchhoff, der noch jene Generation US -amerikanischer Hüttenfachleute repräsentierte, die alle Gesellschaftsbereiche dem Prinzip der Konkurrenz unterordnen wollten, um die Jahrhundertwende in den USA zunehmend unter öffentlichen Druck. Kirchhoff selbst schrieb, warum diese Kritik überhaupt aufkommen konnte – und machte diese Erklärung zu einem weiteren Argument für seine Position des Laissezfaire. Er schrieb in seinem Artikel on 1900: »With us the constant appeal to public opinion as the final arbiter spreads before the world, often in an exaggerated form, the details of abuses, while the compact bureaucracy of Continental Europe, animated by a strong esprit du corps, resists criticism

162 Der englische Philosoph Herbert Spencer (1820–1903), der die Evolutionstheorie Darwins auf die gesellschaftliche Entwicklung übertrug, war in diesem Zusammenhang besonders einflussreich, wie der Carnegie-Biograph David Nasaw betont: »[Spencers] evolutionary philosophy provided the Gildet Age multimillionaires with a framework for rationalizing and justifying their outsized material success. In the Spencerian universe, Carnegie and his fellow millionaires were agents of progress who were contributing to the forward march of history into the industrieal epoch.« Nasaw, S. 229.

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and defeats changes.«163 Warum also der europäische Sozialpaternalismus in den Augen vieler seiner Zeitgenossen vorbildlich erscheinen konnte, sprach wiederum für das bestehende US -Modell. Demnach ließe der autoritäre europäische Bürokratismus keine Kritik zu, während in den USA jeder Missbrauch von einer kritischen Öffentlichkeit beäugt und diskutiert werde. Hier liegt abermals die Gegenüberstellung von europäischem Autokratismus und US -amerikanischer Demokratie zu Grunde, die ökonomische Ungleichheit ausblenden sollte. Wenige Jahre später erschütterte ein großangelegtes sozialreformerisches Projekt diese unternehmernahen Argumentationen und setzte die Industrie tatsächlich weiter öffentlich unter Druck: In den Jahren 1907 und 1908 entstand im Zuge des Pittsburgh Survey eine erste systematische, sechsbändige soziologische Studie, die hinsichtlich ihres Einflusses auf das Forschungsfeld und ihrer gesellschaftlichen Wirkung bahnbrechend werden sollte.164 Hierin setzten sich die Sozialforscher:innen mit der sozialen Lage der US -amerikanischen Arbeiter im Raum Pittsburgh unter den dortigen Bedingungen einer weitgehenden schwerindustriellen Prägung der Arbeits- und Lebenswelt auseinander. Sie widmeten sich in Einzelstudien der Frauenarbeit165, der Arbeitssicherheit166, den Arbeitsbedingungen der Hüttenarbeiter167, der sozialen Lage der Haushalte der Arbeiterfamilien,168 Fragen der Staatsbürgerschaft169 sowie der Lohnpolitik.170 Ziel der Untersuchung war es, die Öffentlichkeit angesichts der umfassend prekären sozialen Zustände, die im Raum Pittsburgh herrschten, zu alarmieren und soziale Reformen zu fordern. Die Studien zeichneten insgesamt das Bild von Pittsburgh als prototypischer ­ S -Industriestadt, in der die Konzerne der Schwerindustrie die lokale PoliU tik bestimmten, während harte und lebensgefährliche Arbeit in den Hüttenwerken, Armut und schwere Umweltschäden den Alltag der arbeitenden Bevölkerung prägten. Darüber hinaus verschärften sich die vorherrschenden

163 Kirchhoff, Paternalism and Industrial Development, S. 17. Hervorhebungen im Ori­ ginal. 164 Vgl. zu Inhalt und Wirkung der Studien: Greenwald u. Anderson. 165 Butler. 166 Eastman. 167 Fitch. 168 Byington. 169 Kellogg, Pittsburgh District. 170 Kellogg, Wage-Earning Pittsburgh.

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sozialen Probleme durch die Masseneinwanderung neuer Arbeitskräfte in dieser Zeit, insbesondere aus Mittel-, Ost- und Südeuropa. Vor dem Hintergrund dieser Problemlagen zogen die Forscher:innen insbesondere im Bereich der Arbeitssicherheit171 Europa als Vergleichsfolie – und durchaus als Vorbild – heran. So schrieb der Direktor der Studie, der Journalist und Sozialreformer Paul U. Kellog (1879–1958) im Vorwort zum Band über Arbeitssicherheit mit Blick auf die eintreffenden Arbeitsmigrant:innen: The Slavs from Austro-Hungary, the Latins from the Mediterranean provinces, the Germans or the British-born, who come to Pittsburgh to do the heavy work of manufacture (and for Pittsburgh read the United States), come from a region of law and order to a region of law-made anarchy so far as the hazards of industry are concerned. For there is scarcely a country of modern Europe but has brought its statutes abreast of industrial progress and wrought out for itself as we have not, some sensible adjustment between civil rights, human needs, and the ceaseless operations in which groups of men and powerful appliances are joined in producing what the world wants.172 Kellogg nutzt hier letztlich eine ähnliche Gegenüberstellung wie die Branchenakteure: ein reguliertes europäisches System steht hier einem unregulierten US -amerikanischen gegenüber. Allerdings bewertet der Autor diese Konstellation genau gegensätzlich. Das unregulierte System fördere in der US -Industrie höchstens die Freiheit der Unternehmen. Auf Seiten der Arbeiter verursache die Dominanz der Unternehmen wiederum großes Leid. Daher, so zitiert Kellogg den Journalisten William Hard, herrsche in den USA das »law of the killed and injured«.173 Dieses Problem konnte vor allem an der Unfall- und Todesstatistik im Raum Pittsburgh abgelesen werden. Hier verging im Untersuchungszeitraum

171 Im Folgenden wird vor allem auf die technisch-organisatorische Dimension des Arbeitsschutzes Bezug genommen, der in dieser Zeit und bis zum Ersten Weltkrieg prägend war. Damit sind vor allem technische Sicherungsvorrichtungen und eine allgemein organisatorische Versicherheitlichung betrieblicher Abläufe sowie die damit verbundenen staatlichen Gesetze gemeint. Demgegenüber setzte die »safety first«-­ Bewegung der 1920er Jahren in den USA gezielt auf die Erziehung der Arbeiter. Siehe auch Kapitel 6.2 dieser Arbeit. 172 Eastman, S. v. 173 Ebd.

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zwischen Juli 1906 und Juni 1907 kein Tag ohne tödliche Arbeitsunfälle – in der dortigen Schwerindustrie insgesamt waren es in diesem einjährigen Zeitraum allein 526 Unfälle mit tödlichem Ausgang.174 Insbesondere in der Eisen- und Stahlindustrie gehörten tödliche Arbeitsunfälle durch Explosionen von Produktionsanlagen oder kleinere Zwischenfälle im Bereich der Transporteinrichtungen zum Alltag. Arbeitsunfälle geschahen in der Hüttenindustrie insbesondere an Transmissionsmaschinen, an Transporteinrichtungen (Kranen und Hebezeugen), beim Eisenbahnbetrieb, beim Aufund Abladen, beim Tragen von Gegenständen sowie durch Verbrennungen und ausströmende Gase.175 Hinzu kam, dass Unfälle mit schweren Verletzungen, die die Arbeitsunfähigkeit zur Folge hatten, sich damit unmittelbar auf die soziale Lage der Familie auswirkte, da für diesen Fall in den USA zu dieser Zeit Unterstützungsleistungen weitgehend fehlten. Angesichts dieses unleugbaren Problems versuchten die Unternehmen Arbeitsunfälle als quasi-natürliches Risiko der Hüttenarbeit und als Fehlverhalten der einzelnen Arbeiter darzustellen.176 Der Blick nach Europa schien dieser Sichtweise jedoch zu widersprechen. Zwar stellt Eastman in ihrer Studie keine transnational vergleichenden Unfallstatistiken auf. Sie verweist dabei weniger auf betriebliche Arbeitsschutzmaßnahmen, sondern insbesondere auf die staatlichen Gesetzgebungen in Europa, die es ermöglichten, die sozialen Folgen von Arbeitsunfällen abzumildern. Eastman schrieb in ihrem Bericht mit Blick auf das deutsche Sozialversicherungsgesetz (1884) in Deutschland, dem ähnliche Gesetze in anderen europäischen Ländern folgten: Perhaps we are fortunate in being among the last of civilized countries to abandon the old liability law with regard to industrial accidents. While it may be a shame to us to be so far behind, it is a distinct advantage to have the new laws in actual operation before us. Europe can be our laboratory.177 Mit diesem sarkastischen Verweis auf das zivilisatorische Zurückbleiben der USA leitet Eastman den Handlungsimperativ ab, es der europäischen Gesetzgebung im Bereich der Unfallversicherung gleich zu tun. Darüber hinaus 174 175 176 177

Vgl. »Death Calendar in Industry for Allegheny County«, in: ebd., nicht paginiert. Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 90. Eastman, S. 5. Ebd., S. 210.

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führte der Survey die Vergleichserfahrungen der europäischen Arbeitsmigrant:innen als ein weiteres Argument an, den europäischen Vorbild nachzueifern. Dabei, so postuliert Kellogg in seinem Vorwort, kämen diese Migrant:innen oftmals aus Ländern, die in dieser Hinsicht fünf bis zehn Jahre weiter seien.178 Relativ betrachtet mochten es stimmen, dass die europäischen Hüttenwerke in ihren betrieblichen Arbeitsschutzmaßnahmen und insbesondere die Staaten bei ihren sozialpolitischen Gesetzgebungen weiter waren. Jedoch stellten auch die europäischen Hüttenwerke um 1900 äußerst gefährliche Arbeitsorte dar; die Branche wies vor dem Ersten Weltkrieg eine äußerst hohe Unfallrate auf – auch im Vergleich mit anderen großindustriellen Branchen – und wurde allein vom Bergbau übertroffen.179 Noch als zu Beginn der 1920er Jahre deutsche Werke Arbeitsunfälle als Kostenfaktor entdeckten, waren bei Hoesch 44 % der Arbeiter in den ersten zwei Monaten ihrer Beschäftigung in einen Betriebsunfall verwickelt.180 Dabei ist zu beachten, dass die Arbeitsunfälle  – entgegen auch der zeitgenössisch verbreiteten Sichtweise  – nicht vordergründig durch die fortschreitende Technisierung und Mechanisierung und den daraus resultierenden unsicheren Arbeitsplätzen an den Maschinen zustande kamen. Vielmehr, so zeigen historische Forschungen, seien die Gründe vor allem in der im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert in der Praxis der Neueinstellung einer großen Zahl unerfahrener Arbeiter und der hohen Fluktuation am Arbeitsplatz zu finden.181 Auch in Deutschland machten die Unternehmen und die Berufsgenossenschaften nichtsdestotrotz in erster Linie die Arbeiter für Krankheiten und Unfälle verantwortlich. Vor dem Ersten Weltkrieg waren betriebliche Unfallverhütungsmaßnahmen vor diesem Hintergrund »meist reaktiv und verdienten von daher den Namen kaum«, wie Christian Kleinschmidt resümiert.182 Insofern waren die europäischen Verhältnisse in interessenpolitischer Hinsicht allein relativ betrachtet ein sozialreformerisches Vorbild. Diese Feststellung ändert jedoch nichts daran, dass das Vergleichen gute Argumente lieferte, wie sich bald zeigen sollte. Zwar hatte die Kapitalseite wie gesehen im Bereich der Sozialpolitik bestehende Unterschiede zwischen

178 Ebd., S. v. 179 Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 89 f. 180 Ellerbrock, S. 30. 181 Ebd., S. 30 f.; Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 90–95. 182 Ebd., S. 93.

Die »Alte Welt« zwischen US-amerikanischem Vor- und Gegenbild

den USA und Europa essentialisiert und in dieser Weise rundheraus negiert, dass sich europäische Maßnahmen auf die USA übertragen ließen. Doch auch die Sozialreformer:innen strebten keineswegs an, das europäische Vorbild zu kopieren, wie Kellogg betonte: »An American system schould, none the less, be grounden firmly in American conditions.«183 Tatsächlich waren die Missstände, die der Survey offenlegte, aber in jedem Fall so eklatant, dass die Unternehmen handeln mussten. So verwies Eastman in ihrer Studie darauf, dass sich ihre Ergebnisse auf den Untersuchungszeitraum der Jahre 1906 und 1907 bezogen. Allerdings, als ihr Bericht schließlich im Jahr 1910 publiziert wurde, hatten die Unternehmen bereits deutliche Verbesserungen im Bereich der technischen und organisatorischen Arbeitssicherheit vorgenommen.184 Insofern zeigt sich, dass in diesem Bereich der Sozialpolitik das instrumentelle Vergleichen der USA mit Europa sozialreformerischen Forderungen Nachdruck verlieh, weil es in diesem Bereich nicht hinnehmbare US -amerikanische Defizite offenbarte und argumentativ die Notwendigkeit von Verbesserungen im Spiegel Europas unterstreichen konnte. Der Vergleich mit Europa sollte aus Perspektive der Sozialforscher:innen des Pittsburgh Surveys auch bei der Arbeitszeit aufzeigen, dass sozialpolitische Regelungen in den USA keineswegs quasi-natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterlagen. So schreibt John A. Fitch in seiner Studie über die Stahlarbeiter mit Blick auf die langen Arbeitszeiten und fehlenden Urlaubstage in der Pittsburgher Hüttenindustrie: That it is unnecessary for such conditions to exist is evidenced by the experience of other countries. A comparison with European practice is illuminating. A recent writer on the subject of American industrial conditions reports more overtime and Sunday work in America than in either Germany or England, and fewer holidays. The working day is longer in America than in England, and less time is allowed for meals. The eighthour day has been developed much farther in England than in America, 183 Eastman, S. v. 184 Ebd., S. 49. Insofern macht auch Kellogg einen deutlichen Einstellungswandel aus, der zwischen Eastmans Feldforschung und dem Erscheinen des Berichts stattgefunden habe: »An […] change manifests itself in the attitude being taken by engineers, superintendents and mechanics toward the prevention of accidents. The fact that the cases studied by Miss Eastman fell in a period before recent developments in this direction makes them more truly a reflection of the unregulated industrial practice with which the American public has to deal.« ebd., S. vi.

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and it has, he [a writer on the subject of American industrial conditions; TM] states, been very successful. America has not a single blast furnace

with an eight-hour work day, but furnaces in the north of England have the eight-hour day in successful operation.185 Der Vergleich mit europäischen Arbeitszeitregelungen zeigte auf, dass die US -Hüttenarbeiter deutlich länger arbeiteten und ihnen mehr Urlaub zustand. Die Sozialreformer leiteten aus dem Vergleich den empirischen Beleg ab, dass eine andere – weniger anstrengende – Arbeitswelt möglich war. Im Bereich der Arbeitszeit gestaltete sich der unternehmerische Widerstand weitaus hartnäckiger, sodass der Prozess der Arbeitszeitverkürzung mit harten Auseinandersetzungen einherging. Die Unternehmen standen schließlich unter großem politischem und öffentlichem Druck, da die US Industrie mit ihrem langen Festhalten an der Zwölfstundenschicht nach dem Ersten Weltkrieg unter den führenden Industrienationen beinahe allein dastand.186 Vor dem Hintergrund der in Europa gemachten Erfahrungen wurde das Festhalten an der Zwölfstundenschicht immer schwerer zu verteidigen. Irmgard Steinisch resümierte diesen öffentlichen Druck, der durch Vergleichserfahrungen europäischer Hüttenarbeiter verstärkt wurde, wie folgt: Daß aber ausgerechnet die größte und rentabilitätsstärkste eisen- und stahlerzeugende Industrie der Welt national und international hinter der Arbeitszeitentwicklung zurückbleiben sollte, weil sie angeblich die Arbeitszeitverkürzung nicht verkraften konnte, war ein überaus beschämender Befund, für den nur noch die Industrie selbst konkrete Gründe fand.187 Aufgrund dieses Drucks verringerte sich bis Mitte der 1920er Jahre die Arbeitszeit in den US -amerikanischen Hüttenbetrieben sukzessive, sodass zumindest in Teilen der Industrie der Dreischichtbetrieb und der Achtstundentag eingeführt wurde.188 Transnationales Vergleichen konnte insofern durchaus sozialpolitischen Druck auf Unternehmen erhöhen und Verbesserun­gen zum Durchbruch verhelfen. Insbesondere dann, wenn die 185 Fitch, S. 177. 186 Steinisch, S. 413. 187 Ebd., S. 416. 188 Ebd., S. 427 f.

Die »Alte Welt« zwischen US-amerikanischem Vor- und Gegenbild

Unternehmen  – wie in diesem Fall die US -Hüttenindustrie in den 1920er Jahren – nicht länger das ökonomische Scheinargument von Wettbewerbsnachteilen anführen konnten, um sozialpolitischen Fortschritt zu blockieren. Eng verbunden mit diesen zunehmend verbreiteten sozialreformischen Ideen und dem daraus erwachsenen Wunsch nach sozialpolitischen Maßnahmen, veränderte sich in den Jahren um die Jahrhundertwende auch die wirtschafts- und sozialpolitische Ideologie der US -amerikanischen Unternehmen. Wie der Historiker Jonathan Levy herausgearbeitet hat, markiert insbesondere die Gründung von U. S. Steel im Jahr 1901, dass sich die US Wirtschaft zunehmend vom einstigen Ideal der »competition« abwandte, das nun als schädlich betrachtet wurde. Dagegen richtete eine neue Managergeneration ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik entlang der Leitbegriffe »organization«, »control« und »co-operation« aus. Das daran anschließende Konzept des »welfare capitalism« sollte seit dem ersten Jahrfünft des 20. Jahrhunderts die kapitalistischen Risiken und Instabilitäten sozialpolitisch  – allerdings weitgehend unter privatwirtschaftlicher Ägide – einhegen und steuern.189 Die Lohnarbeiter sollten in diesem Zuge nicht nur von einer stetigen Beschäftigung, sondern nun auch durch Profitbeteiligungen sowie von betrieblichen Versicherungs- und Pensionsleistungen profitieren, wie es wichtige Exponenten versprachen.190 Die real eingeführten Maßnahmen konnten die durch die unternehmerische Eigenpropaganda geschürten hohen Erwartungen jedoch nicht erfüllen. Der Historiker Jonathan Rees resümierte: Welfare capitalism in the steel industry consisted of everything from oldage pensions and accident prevention to providing workers spaces to plant gardens. […] In theory, expensive efforts at generating goodwill could have bought the loyalty of the workers who stood to benefit from them. In fact, they did not because many of U. S. Steel’s most important welfare efforts attracted few participants and stimulated little genuine cooperation. The costliest welfare programs, such as the stock purchase plan and the pension program, reached only  a tiny portion of the Corporation’s workforce; certainly nowhere near enough people to ensure the stability of the entire labor system.191

189 Levy, J., S. 264–307. 190 Ebd., S. 266. 191 Rees, S. 102; vgl. auch ebd., S. 132.

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Die Maßnahmen des »welfare capitalism« waren also in der Praxis keineswegs geeignet, dem eigenen Anspruch zu genügen und den industriellen Konflikt zu befrieden. Wie auch schon in der Deutschen Industrie – das hatten die US -amerikanischen Beobachter wie Kirchhoff verkannt – wurde die betriebliche Sozialpolitik zu einem Machtinstrument, das die Hüttenarbeiter als solches durchschauten und nicht in Anspruch nahmen.192 Für Rees bestand die instrumentelle und machtpolitische Dimension des »welfare capitalism« vor allem darin, dass die Unternehmen so eine Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe sowie eine Interessenkongruenz suggerieren wollten. Dabei änderten diese Maßnahmen nichts an der Machthierarchie, sondern sollten lediglich das Recht der Unternehmer legitimieren, alle Bereiche ihres Unternehmens und ihrer Produktionsbetriebe vollkommen zu kontrollieren – sei es die Arbeitszeit, der Lohn oder die Zulassung von Betriebsvertretungen der Arbeiterschaft.193 Soziale Ungleichheit und betriebliche Herrschaft wurden dabei mit der Ideologie des »ethos of individual achievement« legitimiert, wie Rees es nennt. Diese besage – letztlich in Anlehnung an die sozialdarwinistischen Ideen des 19. Jahrhunderts nach Rees das Folgende: The ethos of individual achievement formed the ideological basis of the industry’s labor policy. Steelmakers wanted to establish  a one-to-one relationship with their employees because this would encourage employees to succeed. Even before the Nonunion Era began, firms that produced steel made a point of dealing with their workers on an individual basis, free from the influence of outside organizations. The justification for this policy was as much philosophical as economic.194 Hier entlarvt Rees das Gerede von der Freiheit, das in den Vergleichen mit Europa bemüht wird, als Freiheit der Unternehmen, ihre Macht gegenüber den einzelnen Arbeitern auszuspielen – ohne den wirtschaftsschädlich konnotierten gewerkschaftlichen oder staatlichen Einfluss In der Zwischenkriegszeit spielten im Zusammenhang der Beobachtungen durch Fachleute und auch in der Propaganda des »welfare capitalism« auf die Sozialpolitik und die industriellen Beziehungen zielende Vergleiche mit 192 Ebd., S. 104. 193 Ebd., S. 53, 104. 194 Ebd., S. 52.

Die »Alte Welt« zwischen US-amerikanischem Vor- und Gegenbild

Europa eine noch geringere Rolle. Zu sicher wähnten sich die Industriellen ihrer Position auch in diesem Bereich der Produktion. Die europäischen Verhältnisse, die etwa in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg in eine betriebsdemokratische Richtung wiesen, verwendeten einzelne Branchenvertreter im Zuge betrieblicher und innenpolitischer Auseinandersetzungen als interessenpolitisches Gegenbild. Während in Deutschland die betriebliche Interessenvertretung von den Unternehmen inzwischen anerkannt und gesetzlich gewährleistet war, wehrten sich die US -amerikanischen Unternehmen in den 1920er Jahren weiterhin vehement gegen verbindliche gesetzliche Regelungen. Der unternehmernahe Jurist Walter Gordon Merritt betonte in diesem Zusammenhang in seinem Werk mit dem bezeichnenden Titel Factory Solidarity or Class Solidarity (ca. 1920): Above all things let us not be carried away by European institutions moulded in part by the hatred of kings and authority; let us not legislate for the encouragement of industrial war by exempting organized labor from the operation of our laws; but let America endeavor to work out a truly American policy where each factory shall be recognized as the basic unit for co-operation and the class conflict minimized.195 Merritt zeichnet hier durch implizites Vergleichen ein europäisches Schreckensbild. Die Anerkennung von Gewerkschaften als Verhandlungspartner wird hier mit einem »industrial war« (s. Zitat) gleichgesetzt, der US -amerikanischen Gesetzen widerspreche. Insofern propagiert Merritt eine Unvereinbarkeit des US -amerikanischen und des europäischen Modells. Allein das einzelne Werk sollte demgegenüber die maßgebliche Einheit der Aushandlung des Interessenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit bleiben. Diese Aushandlung der Unternehmen mit den einzelnen Arbeitern, wo die Unternehmensführungen ihre Macht ohne kollektive Interessenvertretung ausspielen konnten, bezeichnet Merritt dabei als »truly American policy« (s. Zitat). Tatsächlich entsprach dies nicht nur dem unternehmerischen Ideal, sondern auch weitgehend der betrieblichen Realität. Die Unternehmen sahen sich zu dieser Zeit durch staatlichen Druck gezwungen sogenannte »employee representation plans« (ERPs) zu implementieren, um unter eigener Regie Interessenvertretungen zu simulieren.196 In Merritts Konstruktionen zeigen sich 195 Merritt, S. 62 f. 196 Rees, S. 156.

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überdies deutliche Parallelen zu der deutschen Ideologie von der »Betriebsgemeinschaft«: Auch hier galt es, alle betriebsfremden Einflüsse – insbesondere von Seiten der Gewerkschaften – zurückzudrängen und eine freiwillige Unterordnung der Arbeiter zu fordern. Charles M. White ­(1892–1977), Vize­ präsident von Republic Steel war in den Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit ein besonders aggressiver Vertreter einer gewalttätigen Unternehmenspolitik gegenüber gewerkschaftlichen Organisierungsbestrebungen in der Hüttenindustrie. Zwar konnte auch er trotz massiven Gewalteinsatzes des von ihm gegründeten bewaffneten Werksschutzes von Republic Steel gegenüber Streikaktivitäten der Belegschaft nicht verhindern, dass im Jahr 1937 betriebliche Interessenvertretungen gesetzlich garantiert wurden.197 Das Beispiel White zeigt jedoch, dass Europa punktuell in ideologischen Beiträgen herangezogen wurde. White eröffnete seinen Vortrag bei einer Konferenz zur Arbeitssicherheit im Jahr 1939: This great country if ours was settled by  a hardy race of pioneer men and women. Leaving the comforts of European civilization, they sought religious and economic freedom and the greater opportunities to be found in the wilderness of North America. Their life was hazardous. They suffered cold, hunger and thirst. Sublime courage carried them on their goal regardless of the difficulties encountered.198 Hier erklärte White den weiterhin  – relativ gesehen  – geringen Ausbau von Arbeitsschutzmaßnahmen in US -Betrieben mit dem »US -amerikanischen Pioniergeist« und der »Frontier-Erfahrung«. Einem solchen, seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten »Frontier-Amerikanismus«199 folgend, erschienen Arbeitsschutzmaßnahmen als Ausdruck der europäischen Zivilisation (»comforts of European civilization«, s. Zitat) gegenüber dem US -amerikanischen Freiheitsdrang zweitrangig und widersprachen laut dieser Konstruktion damit wiederum dem US -amerikanischen Nationalcharakter. Spätestens hier zeigen sich nicht zuletzt die großen Kontinuitäten in den Argumenta197 Welskopp, Arbeit und Macht, S. 590–627. 198 Library of Congress, Papers of Charles McElroy White, 1939–1970, Safety in Industry today by C. M. White, Vice President in Charge of Operations, Republic Steel Corporation before the 17th Annual Midwest Safety Conference, Sherman Hotel, Chicago, May 11, 1939, S. 1. 199 Saldern, Amerikanismus, S. 211–214.

Die »Alte Welt« zwischen US-amerikanischem Vor- und Gegenbild

tionen der US -amerikanischen Branchenvertreter über den gesamten Untersuchungszeitraum. Zwar verneinte White keineswegs die Notwendigkeit des Arbeitsschutzes. Er deutete diesen allerdings in einem instrumentellen Sinne: Safety is  a logical basis of liaison between men [gemeint sind: Hütten­ arbeiter; TM] management  – it brings them closer together  – with an educational program which aids in a better understanding of each other’s problems. In these days when so many forces are working to create industrial unrest such  a relationship is of  a value that cannot be estimated. The common understanding of safety objectives provides  a foundation on which loyalty is built. If the work is regardet in this light, there will be peace, understanding, harmony and good safety records in the plants in which they [gemeint sind: Hüttenarbeiter; TM] work.200 In diesen Worten werden deutliche Überschneidungen mit dem Ideal der »Betriebsgemeinschaft« und der »Menschenökonomie« deutlich. Arbeitssicherheit wird dieser Lesart zufolge in erster Linie ein Handlungsfeld betrieblicher Sozialpolitik, um die Arbeiter zu einem loyalen Verhalten gegenüber den Unternehmensleitungen zu erziehen.201 Hier schließt sich ein Kreis in der wechselseitigen Vergleichspraxis: Auf der einen Seite projizierten die deutschen Fachleute ihr betriebsgemeinschaftliches Wunschbild auf die US -amerikanischen Hüttenbetriebe, um den betrieblichen Machtanspruch der Unternehmen zu legitimieren und sozialpolitische Forderungen abzuwehren bzw. im unternehmerischen Interesse zu deuten. Auf der anderen Seite entsprach diese Projektion der Propaganda des »welfare capitalism« in den USA . Insofern bestätigt sich, dass, mit Blick auf die deutsche Vergleichspraxis, die deutschen Fachleute auf ihren Amerikareisen nur all zu gern der Propaganda ihrer US -amerikanischen Fachgenossen glaubten.202 Dabei 200 Library of Congress, Papers of Charles McElroy White, 1939–1970, Safety in Industry today by C. M. White, Vice President in Charge of Operations, Republic Steel Corporation before the 17th Annual Midwest Safety Conference, Sherman Hotel, Chicago, May 11, 1939, S. 39. 201 Damit legt White hier seine wahren Beweggründe für die Förderung von Arbeitsschutzmaßnahmen offen, währen die »safety first«-Bewegung über technisch-organisatorische Maßnahmen hinaus zunächst die Arbeiter stärker zu mehr Arbeitssicherheit erziehen wollte. Vgl. auch Kapitel 6.2 dieser Arbeit. 202 Dies vermuteten bereits Kleinschmidt u. Welskopp, Amerika aus deutscher Perspektive, S. 94, 96, haben dabei allerdings allein die deutsche Wahrnehmung im Blick.

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blieb der »welfare capitalism« lediglich ein Versprechen und insbesondere der Versuch, die unternehmerische Übermacht in den industriellen Beziehungen zu sichern – der wenig mit der betrieblichen Realität zu tun hatte. Demgegenüber beschäftigten sich US -amerikanische Branchenakteure nur sehr am Rande mit den europäischen Verhältnissen, wenn es darum ging, sozialpolitische Forderungen abzuwehren und zu delegitimieren. Dieses Ungleichgewicht in der wechselseitigen Beobachtung spiegelt die jeweilige ökonomische Lage der Industrien, sowie die Problemlagen wider. Die deutsche Branche sah sich einerseits in der Weimarer Republik stärker in ihrer unternehmerischen Handlungsautonomie eingeschränkt und suchte deshalb andererseits im ökonomischen Vorbild »Amerika« nach Lösungen für die eigenen Hüttenbetriebe. Insgesamt zeigt sich im Bereich der industriellen Beziehungen in besonderer Weise, inwiefern Unternehmen und nationale Branchenverbünde dazu neigten, wirtschaftliche Konkurrenz in soziokulturelle Konflikte umzudeuten, um dadurch von den eigentlichen inneren Problemen abzulenken – dies lag als fortlaufendes Skript den konkurrenzförmigen Vergleichspraktiken zu Grunde. Insofern benötigten die Unternehmen dies- und jenseits des Atlan­ tiks einander als Vergleichsfolien, um die jeweiligen Management-Ideologien zu propagieren und den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit in konfliktreichen Zeiten rhetorisch einzuebnen.

7 Schlussbetrachtungen

7.1

Vergleichende Selbst- und Fremdbeobachtung

Ausgangspunkt dieser Studie war die Annahme, dass die Eisen- und Stahlindustrie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von transnationalen Vergleichshorizonten geprägt wurde. Ziel war es, die Rolle der sozialen Operation des Vergleichens sowie ihren Einfluss auf die Branchenkonkurrenz zwischen der deutschen und der US -amerikanischen Industrie im Zeitverlauf zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck hat die Studie sich den unterschiedlichen Foren und Medien der internationalen Vernetzung innerhalb der Fachöffentlichkeit der Eisen- und Stahlindustrie sowie vier zentralen comparata bzw. tertia der international ausgerichteten Vergleichspraktiken zugewandt, die die Selbst- und Fremdbeobachtung im Untersuchungszeitraum prägten: Produktionszahlen, Produktqualität, Produktionstechnik und -kultur sowie schließlich Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik. Die Analyse ergab, dass die Eisen- und Stahlindustrie seit den 1870er Jahren – dem Beginn des Untersuchungszeitraums – international vernetzt ist. Internationale Kontakte wurden im Glauben an die freie Konkurrenz und den friedlichen Wettstreit der Nationen geknüpft: Zunächst auf Weltaus­ stellungen und dann in der internationalen Fachöffentlichkeit tauschten sich die Hütteningenieure, Manager und Unternehmer über verfahrenstechnische, soziale und organisatorische Probleme der Produktion von Eisen und Stahl aus. Sie taten dies im Glauben, gemeinsam dem zivilisatorischen Fortschritt zu dienen. Die in dieser Zeit etablierte »Politik der offenen Werkstore«, internationale Konferenzen sowie fachöffentliche Studienreisen standen für diese seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmende Vernetzung. Der Erste Weltkrieg markierte hierbei zwar eine Zäsur, als das Bewusstsein zerfiel, länderübergreifend an einem gemeinsamen zivili­ satorischen Projekt zu arbeiten, wodurch Kontakte auf der Ebene der technischen Vereine zeitweise minimierten. Doch auch in der wirtschaftsnationalistisch geprägten Zwischenkriegszeit wurde am etablierten Austausch zwischen den Fachleuten festgehalten, die nun allerdings stärker als Vertreter »ihrer« nationalen Branche auftraten und betrachtet wurden. Indem internationale Kontakte geknüpft wurden, etablierte sich eine trans­

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Schlussbetrachtungen

nationale Selbst- wie Fremdbeobachtung nationaler Branchen. Dabei war zu beobachten, dass das Vergleichen als spezifische soziale Operation eine zentrale Rolle einnahm: Die nationalen Branchen setzten sich mit anderen vergleichend in Beziehung. Dies wirkte sich sowohl auf die Selbst- als auch auf die Fremdbilder der nationalen Eisen- und Stahlindustrien aus – und damit auf ihr Verhältnis untereinander. So rückte die US -amerikanische Branche seit Mitte der 1870er Jahre ins Zentrum des Interesses deutscher Fachleute und löste damit die britische Industrie ab, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der unumstrittene Orientierungspunkt der deutschen Fachleute gewesen war. Produktions- und Wachstumszahlen bei Roheisen und Stahl belegten seit den 1870er Jahren ein stetiges Aufholen der US - gegenüber der britischen Branche. Die US -Branche verfügte darüber hinaus, das zeigte sich den deutschen Fachbesuchern auf ihren Studienreisen, mit ihrer ausgezeichneten Rohstofflage und ihrem großen und weiter wachsenden Binnenmarkt über präzedenzlose Wachstumschancen. Die US -Industrie setzte sich schließlich gegen Ende des Jahrhunderts hinsichtlich der Produktionsstatistiken an die Spitze der Hierarchie der Nationen, was nicht nur unter Branchengenossen mit einem überaus hohen Prestige verbunden war. Darüber hinaus war es in den Industrienationen allgemein im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert üblich, volkswirtschaftliche und militärische Macht sowie den zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt der einzelnen Nationen eng an die Produktionszahlen von Eisen und Stahl zu knüpfen. Darüber hinaus erkannten die Fachleute bei ihren Studienreisen vor Ort, dass die US -Industrie auch technologisch in vielen Bereichen der Hüttenproduktion führend geworden war. Dieses Vergleichsergebnisse, zu denen deutsche Fachleute im Zuge ihrer Studienreisen und Werksbesuche kamen, förderten wiederum ihr Interesse, als sie seit dem späten 19. Jahrhundert und nochmals verstärkt in der Mitte der krisenhaften 1920er Jahre geradezu in Scharen in die Vereinigten Staaten reisten und davon (fachöffentlich) berichteten. Offene Vergleichshorizonte förderten also eine dynamische Statusordnung nationaler Industriebranchen, in der sich deutsche und US -amerikanische Industrievertreter gegenüber ihren britischen Kollegen als jung und aufstrebend betrachten konnten. Das Vergleichen der eigenen Industrie mit der aus anderen Ländern ermöglichte es zudem, eigene Produktionsleistungen zu bewerten und das eigene Handeln zu legitimieren. So war die US -amerikanische Industrie um 1900 bei den Produktionszahlen den anderen Hüttenindustrien bereits weit enteilt. Der Vergleich der Produktionsstatistiken der führenden Industrienationen ließ sich aber aus deutscher Sicht auch als ein

Vergleichende Selbst- und Fremdbeobachtung

Auf- und Überholen des Wettbewerbers Großbritannien als der mit hohem Leistungs- und Traditionsprestige ausgestatteten »first industrial nation« lesen. Vergleichspraktiken führten im Bereich der Produktionsstatistiken zu Leistungswettbewerben nationaler Branchen um die beste Position im Länderranking und sollten nationale Industrien prestigeträchtiger erscheinen lassen. Sowohl die deutsche als auch die US -amerikanische Branche zogen aus diesen Vergleichen ein großes Selbstbewusstsein. Allerdings, so hat sich auch gezeigt, überlagerten diese Leistungswettbewerbe marktspezifische Logiken von Angebot und Nachfrage und verstärkten die Tendenz zur einseitigen Orientierung an quantitativen Produktionsparametern bei der Herstellung von Eisen und Stahl. Im deutschen Fall führte diese Orientierung schon seit den 1870er Jahren zu einer Diskrepanz zwischen Produktionskapazitäten und Binnennachfrage und verstärkte das nach dem Ersten Weltkrieg besonders dringliche Problem von Überkapazitäten. Die US -amerikanische Hüttenindustrie galt für deutsche Fachbesucher im gesamten Untersuchungszeitraum – und nochmals verstärkt in den mitt­ leren 1920er Jahren – als die leistungsstärkste und technologisch fortschrittlichste Industrie der Welt, mit der man sich nur zu gern maß. Als nun das Wissen über die unterschiedlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zunahm, die als Ursache für die unterschiedliche Entwicklung, die unterschiedliche Größe und die unterschiedlichen Wachstumschancen zwischen deutscher und US -amerikanischer Industrie identifiziert wurden, konnten sich deutsche Branchenvertreter einzelne technische und organisatorische Aspekte aneignen und an die deutschen Verhältnisse anpassen. So sollte die Wettbewerbsfähigkeit der exportorientierten deutschen Industrie verbessert werden. Dieses Resultat einer differenzierten Vergleichspraxis war vor allem im Bereich der technischen Transporteinrichtungen der Produktionsanlagen zu beobachten, während nach dem Ersten Weltkrieg zusätzlich absatzpolitische Gesichtspunkte in den Fokus rückten. Deutsche Branchenakteure konnten sich im »Spiegel Amerikas« selbst betrachten und auch in qualitativen Hinsichten bewerten: Ihre eigene Produktionsleistung erschien im Lichte der ungleich besseren politökonomischen Bedingungen, die in den USA herrschten, als mindestens ebenbürtig. In mancher Hinsicht – etwa im Bereich der »wissenschaftlichen Durchdringung« der Produktionsprozesse und insbesondere bei der Wärmewirtschaft – sahen sich deutsche Hütten­ ingenieure ihren US -amerikanischen Branchengenossen sogar überlegen. Der vergleichende, transnationale Blick auf die Industrien anderer Länder war für deutsche Fachleute alles in allem zentral, um die eigene Wett-

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Schlussbetrachtungen

bewerbsposition zu verbessern und die eigenen industriellen Leistungen zu bewerten. Während die deutsche Industrie sich schon im ausgehenden 19. Jahrhundert als internationaler Wettbewerber verstand, war die US -amerikanische Branche aufgrund des außerordentlich aufnahmefähigen heimischen Marktes von einer starken Binnenorientierung geprägt. Diese Beobachtungen deutscher Fachleute wirkten sich auf die auf der anderen Seite des Atlantiks aus: US -amerikanische Branchenvertreter beteiligten sich zwar zentral am internationalen Austausch und öffneten seit der Weltausstellung in Philadelphia im Jahr 1876 bereitwillig die Werkstore für europäische Fachbesucher; sie besuchten auch selbst immer wieder internationale Konferenzen und brachen zu Studienreisen auf, von denen sie in ihrem Fachschrifttum berichteten. Es ist aber im Kontrast zur deutschen Vergleichspraxis auffällig, dass die US -Industrie sich bei ihrer Selbst- und Fremdbeobachtung in erster Linie mit der Vergleichskommunikation der europäischen Fachbesucher beschäftigte: Die US -Seite rezipierte in erster Linie die Berichte europäischer Fachleute über die eigene Industrie. Darin wurde der US -Industrie seit den 1870er Jahren und verstärkt um die Jahrhundertwende gespiegelt, dass sie die kapital- und produktionsstärkste sowie die technologisch fortschrittlichste Industrie der Welt sei, die überdies über günstige und gute Rohstoffe sowie einen überaus großen Binnenmarkt verfüge – ohne hierfür eigene Recherchen unternehmen zu müssen. Die ausländischen Vergleichspraktiken stärkten also das Selbstvertrauen US -amerikanischer Industrievertreter und befeuerten damit ihrerseits die starke Selbstbezogenheit und relative Wettbewerbsferne der US -Branche. Das Bewusstsein über die eigene technologische und ökonomische Stärke und das damit einhergehende relativ geringe Interesse an den europäischen Schwesterindustrien versuchten nur einige US -amerikanische Fachleute vereinzelt zu erschüttern. So gab es einige Vertreter, die die US -Industrie hinsichtlich Produktionsleistung und -technik mit der deutschen und der britischen verglichen. Sie beabsichtigten hiermit, die Unternehmensvertreter zu einer stärkeren Beschäftigung mit der europäischen Industrie zu bewegen – man müsse demnach gerade im Bereich der Wärmewirtschaft von der in dieser Hinsicht technisch überlegenen europäischen Industrie lernen. Als Argument wurde angeführt, dass die rohstoff- und wärmewirtschaftlich effizienter arbeitenden europäischen Hüttenindustrien ansonsten möglicherweise in Zukunft als Wettbewerber auf dem US -amerikanischen Markt auftreten könnten. Gleichwohl blieb die US -amerikanische Bereitschaft, sich intensiv

Wettbewerb einschränken: Instrumentelles Vergleichen

mit der europäischen Industrie auseinanderzusetzen, im gesamten Untersuchungszeitraum aufgrund des vergleichsinduzierten Selbstbildes weitaus geringer als in umgekehrter Richtung.

7.2

Wettbewerb einschränken: Instrumentelles Vergleichen

Darüber hinaus konstruierten die untersuchten Eisen- und Stahlindustrien mit Hilfe von Vergleichspraktiken auch marktspezifische Selbst- und Fremdbilder. In dieser produktionsorientierten Branche, deren Produktpaletten sich stark ähnelten, war die Qualitätsordnung zwischen Herstellern und Kunden überaus umstritten. Zudem fiel es den Produzenten schwer, das Wissen über die Anwendungsmöglichkeiten des Werkstoffs Stahl zu verbrei­ ten. Mit diesen Absatzproblemen konfrontiert versuchten die Eisen- und Stahlindustrien nationale Trademarks zu etablieren. Vergleichspraktiken waren hierbei ein zentrales Mittel und dienten dazu, in der international auf Weltausstellungen und in der Fachöffentlichkeit ausgetragenen Deutungskonkurrenz zu bestehen. Dieser Wettbewerb wurde darüber ausgetragen, welches nationale Produktionskollektiv die qualitativ hochwertigsten Produkte fertigen könne. Die Produktqualität in dieser Weise zu thematisieren konnte einerseits nach innen mobilisierend wirken: Der Versuch von Franz Reuleaux, die deutsche Industrie auf der Weltausstellung in Philadelphia im Jahr 1876 zu einer stärkeren Qualitätsorientierung zu bewegen, ist hierbei zu nennen. Die Thematisierung der Produktqualität zielte andererseits vor allem darauf, den eigenen vermeintlich »hohen« Qualitätsstandard gegenüber den vorgeblich »minderwertigen« ausländischen Waren in Stellung zu bringen und zu verteidigen. Während sich die instrumentelle Dimension internationaler konkurrenzförmiger Vergleiche bei der internen Mobilisierung sowie bei der Etablierung nationaler Trademarks bereits andeutet, wurden Vergleichspraktiken gezielt eingesetzt, um den Wettbewerb auszuschalten oder zumindest zu minimieren. Sowohl die deutsche als auch die US -amerikanische Eisen- und Stahlindustrie griffen in ihren jeweiligen überbetrieblichen Wettbewerbsstrategien praktisch immer darauf zurück, den vorgeblich »unfairen« Wettbewerb zu monieren. Vergleichen konnte hierbei, das hat nicht zuletzt die »Vergleichende Qualitätsuntersuchung« der deutschen Hochofenwerke in den 1870er Jahren gezeigt, als – scheinbar neutrales – Mittel dazu verwendet werden, die Gleichwertigkeit deutschen Roheisens gegenüber den ökono-

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Schlussbetrachtungen

misch erfolgreicheren britischen Konkurrenzprodukten zu postulieren. Die simulierte wissenschaftliche Versuchsanordnung diente jedoch vor allem dazu, die wirtschaftspolitischen, auf Schutzzölle ausgerichteten Ziele der beteiligten Unternehmen zu verschleiern. Ausgehend vom überbetrieblichen Zusammenschluss wollte man den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt eingrenzen und forderte gleichzeitig staatlichen Schutz. Dieses Muster ist auch in den Vereinigten Staaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu beobachten. So inszenierte man sich noch als größte und kostengünstig operierende Hüttenindustrie der Welt als »infant industry«, die mit hohen Zollmauern vor der vorgeblich überlegenen britischen Konkurrenz geschützt werden müsse. Punktuell wurde diese Erzählung auch bei Markteintritten im Bereich spezifischer Produktsegmente eingesetzt, wie der Fall der Weißblechindustrie seit 1890 gezeigt hat. Die US -amerikanische Branche ließ sich aus deutscher Sicht angesichts ihrer Größe nicht nur als vorgeblich gefährliche Konkurrenz, sondern sogar als gravierende Bedrohung für die heimische Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt stilisieren. Deutsche Branchenvertreter betonten gerade seit der Gründung von U. S. Steel im Jahr 1901, dass die US -amerikanische Produktion bei einer Sättigung des US -Binnenmarktes auch die europäischen und deutschen Märkte »überschwemmen« könne. Diese so beschworene »amerikanische Gefahr« sollte den deutschen Staat und die Öffentlichkeit mobilisieren und den interessenpolitischen Standpunkt der Eisen- und Stahlindustrie mit dem Gemeinwohl gleichsetzen. Die US -Industrie griff in der Zwischenkriegszeit zu ganz ähnlichen Mitteln: Gerade infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 war eine plötzliche Hinwendung zu Europa zu beobachten. Allerdings apostrophierte die US -Branche die europäische Industrie vorwiegend mittels instrumenteller Vergleiche – insbesondere im Bereich der Löhne – als Bedrohung des American Way of Life, um ihrerseits protektionistische Maßnahmen zu legitimieren. Vergleichen war damit beiderseits ein Mittel, um die jeweiligen Öffentlichkeiten zu adressieren und vom eigenen protektionistischen Standpunkt zu überzeugen. Vergleichspraktiken spielten also interessenpolitisch als überbetriebliche Wettbewerbsstrategie nationaler Branchen eine wichtige Rolle – insbesondere in konjunkturellen Abschwungphasen und allgemein in ökonomischen Krisenzeiten.

Die ausländische Konkurrenz als Projektionsfläche

7.3

Die ausländische Konkurrenz als Projektionsfläche

Die zur bedrohlichen Konkurrenz stilisierten Industrien anderer Länder ließen sich aber auch sozialpolitisch instrumentalisieren, um zu versuchen, die sozialen Konflikte in den Hüttenbetrieben mit autoritären Mitteln in eigener Regie zu befrieden. So konnten Vergleichspraktiken dazu dienen, die Eisenund Stahlindustrien anderer Länder als Projektionsfläche zu nutzen, um so den betrieblichen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sowie die negativen Begleiterscheinungen kapitalistischer Arbeit – wie Entfremdung, Jobverlust oder soziale Ungleichheit – auf die ausländische Konkurrenz zu projizieren. Für die deutsche Industrie fungierte »Amerika« hierbei in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zunächst als Gegenbild, um die staatliche und betriebliche Sozialpolitik und das autoritäre System der industriellen Beziehungen in Deutschland als erfolgreicheres Modell zu propagieren. Dazu stellten die deutschen Fachleute in ihren Berichten die eigene Sozialpolitik dem negativ konnotierten US -amerikanischen laissez faire entgegen und projizierten daran anknüpfend eine rücksichtslosen »Ausbeutung« der Arbeitnehmer auf Amerika. Die andererseits deutlich höheren Löhne in den USA wurden unter solchen Vorzeichen keineswegs gewürdigt, sondern im Gegenteil zu einer kulturellen Gefahr erklärt, die die Arbeiterschaft zu einem Konsumismus verführe, der die deutsche Gesellschaft angeblich zersetzen würde. Diese Perspektive deutscher Fachleute war von der eigenen beruflichen und klassenspezifischen Position geprägt: Hütteningenieure suchten nach ganzheitlichen Lösungen, auch im sozialen Bereich der Hüttenproduktion. Die Unternehmer betrachteten sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hinsichtlich ihrer unternehmerischen Handlungsautonomie als sattelfest und sahen in der staatlichen und betrieblichen Sozialpolitik des Kaiserreichs das vorgeblich weltweit beste Mittel, um die »soziale Frage« inner- wie außerbetrieblich zu lösen. Als sich das betriebliche Sozialsystem, die staatliche Sozialpolitik und die Stellung der Unternehmer nach dem Ersten Weltkrieg wandelten, veränderte sich auch die deutsche Wahrnehmung der Arbeits­ beziehungen in den US -amerikanischen Hüttenwerken diametral und wurde unvermittelt vom Gegen- zum Vorbild: Die Weimarer Betriebsdemokratie und die staatliche Sozialpolitik sollten nunmehr mit Hilfe der Konzeption einer »Betriebsgemeinschaft« zurückgedrängt werden. Man vermittelte den Belegschaften das eigene autoritäre Gemeinschaftsideal anhand ausführlicher Beschreibungen der US -amerikanischen Arbeitsbeziehungen, wo man die »Betriebsgemeinschaft« bereits verwirklicht sah. Dies hatte zwar nichts

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Schlussbetrachtungen

mit der betrieblichen Realität in den USA zu tun – Vergleichspraktiken dienten vielmehr der Konstruktion ideologischer Leitbilder und der Rechtfertigung bzw. Verschleierung von betrieblicher und gesellschaftlicher Herrschaft und Macht. Gleichzeitig blieb »Amerika« aber auch in der Zwischenkriegszeit ein ideologisches Gegenbild, auf das man negative Auswirkungen groß­ betrieblicher Arbeit projizieren konnte. Aus der Perspektive US -amerikanischer Fachleute fungierte der »alte Kontinent« in sozialer und sozialpolitischer Hinsicht in ganz ähnlicher Weise als Gegenbild: Den als sozial verkrustet empfundenen europäischen Gesellschaften mit ihren vererbten Privilegien stellte man idealtypisch eine dynamische, auf Eigenverantwortung und sozialem Aufstieg basierende US -Gesellschaft gegenüber. Betriebliche und staatliche Sozialpolitik erschienen dabei eher als Hemmschuhe für eine dynamische ökonomische und soziale Entwicklung; die US -Fachleute empfanden das europäische System als lähmendes allumfassendes Regulativ im Rahmen eines Sozialpaternalismus bzw. Sozialismus, der als unamerikanisch aufgefasst wurde. Demnach dürfe sich die US -Hüttenindustrie nicht an der europäischen Institutionenordnung orientieren, sondern müsse einen »eigenen« amerikanischen Weg der Organisation der Hüttenarbeit finden – zu unterschiedlich seien die ökonomischen Mentalitäten zwischen altem und neuem Kontinent. Um einen solchen »American Exceptionalism« überhaupt konstruieren zu können, bedurfte es jedoch weiterhin der europäischen Vergleichsfolie. Insgesamt konnte anhand der ausgewerteten Quellen gezeigt werden, inwiefern sich wirtschaftliche Konkurrenz – ob diese nun real ist oder nicht – instrumentell in kulturelle Bedrohungslagen umdeuten lässt. An diesen Stellen zeigt sich in besonderer Weise, inwiefern Vergleichspraktiken von den eigenen Interessen abhängig waren und je nach Situation angepasst werden konnten.

7.4

Vergleichen zwischen Boom und struktureller Krise

Der Erste Weltkrieg bedeutete für die deutsche Branche eine gravierende Zäsur und markierte mit seinen ökonomischen und sozialen Folgen den Wandel der deutschen Eisen- und Stahlindustrie von einer Boom- zu einer strukturellen Krisenbranche. Nach dem Ersten Weltkrieg sah sich die deutsche Branche daneben vor allem im Bereich der ökonomischen Ausrichtung auf das Vorbild Amerika angewiesen. Die Wahrnehmung der US -amerikani-

Vergleichen zwischen Boom und struktureller Krise

schen Eisen- und Stahlindustrie – und insbesondere das fortwährende Vergleichen der beiden Branchen dies- und jenseits des Atlantiks durch deutsche Fachleute – begleitete diesen krisenbehafteten Prozess nicht nur. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass die Vergleichspraxis deutscher Fachleute die Entwicklung ihrer Eisen- und Stahlindustrie zu einer strukturellen Krisenbranche noch verstärkte. Schon die Weltwirtschaftskrise von 1873 zeigte der deutschen Branche auf, dass sie nicht nur vom branchenspezifischen konjunkturellen Auf und Ab geprägt war, sondern dass sie eine Größe angenommen hatte, die weit über die Aufnahmefähigkeit des Binnenmarktes hinauswies. Bereits zu dieser Zeit war zu beobachten, dass in der deutschen Fachöffentlichkeit quantitative Parameter bei der Bewertung der eigenen Branchenpolitik einseitig überwogen: Man maß sich mit England und vor allem auch mit den USA und zog aus der Position im Länderranking ein Selbstbewusstsein und ein Selbstbild als Branche, das marktwirtschaftliche Erwägungen überstrahlte. Insbesondere das Vergleichen mit der US -amerikanischen Industrie zog Prozesse der Angleichung der ökonomischen Bedürfnisse nach sich: Auch wenn deutsche Fachleute eine zunehmend differenzierte Vergleichspraxis etablierten, so verstärkte das fortwährende Vergleichen mit den USA doch die eigenen Überkapazitäten, weil sie wie ihre US -Branchengenossen in ähnlichen Ausmaßen produzieren wollten – ohne freilich über die dazu notwendigen absatzpolitischen Grundlagen zu verfügen. Dieses Absatzproblem verstärkte sich nach dem Ersten Weltkrieg noch; einen Ausweg erkannten deutsche Fachleute ausschließlich in der Massenproduktion nach US -amerikanischem Muster. Folglich rationalisierte sich die Branche in der Zwischenkriegszeit entlang des US -amerikanischen Vorbilds sowohl in organisatorischer als auch in technologischer Hinsicht. Die Vereinigte Stahlwerke AG (VSt) als »deutscher Trust« stand hierfür symbolhaft; ihre Bedeutung zeigte sich etwa in der ersten europäischen Warmbandwalzstraße in Dinslagen, die allerdings keineswegs ihrer eigentlichen Bestimmung nach für die Feinblechproduktion, sondern als »normale« Walzstraße zum Einsatz kam. So schuf die deutsche Branche zwar die organisatorischen und technischen, keineswegs jedoch die absatzpolitischen Grundlagen der Massenproduktion. Zwar identifizierten deutsche Fachleute bei ihren Studienreisen durchaus die Einbindung der Stahlindustrie in die US -amerikanische Massenkonsumgesellschaft als Gründe für die weitaus besseren Absatzchancen. Gleichzeitig wiesen die deutschen Branchenvertreter jedoch eine solche Absatzpolitik immer wieder zurück: aus ökonomischen, vor allem

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Schlussbetrachtungen

aber aus ideologischen Gründen, die in der Ablehnung einerseits der Absatzförderung durch höhere Löhne und andererseits sich des Massenkonsum bestanden. Da sich die deutsche Eisen- und Stahlindustrie aber fortwährend mit der US -amerikanischen maß und diese nach wie vor als Vorbild betrachtete, glich sie sich dennoch zu stark an diese an und verstärkte damit das fortwährende Problem der Überkapazitäten. Alles in allem konnte die Studie zeigen, dass die diskutierten Vergleichspraktiken insofern gleichzeitig Ergebnis und Motor der internationalen Vernetzung der Eisen- und Stahlindustrie waren. Schließlich ermöglichte erst eine globalisierte Weltwirtschaft offene, über Ländergrenzen hinwegreichende Vergleichshorizonte. Das so erzeugte Wissen verstärkte wiederum Vergleichsbemühungen. Wie ausgeprägt diese waren, war dabei abhängig von der Wettbewerbsposition der Industrie, wie der deutsche-amerikanische Vergleich gezeigt hat. Darüber hinaus waren Vergleichspraktiken ein Faktor von Nationalisierungstendenzen: Als wirtschaftsnationalistisches Instrument hoben sie zunehmend das Trennende auf der Ebene nationaler Industriebranchen und Wirtschaftsräume hervor. Vergleichspraktiken sollten also im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalisierung den Wettbewerb, den sie selbst befeuerten, auf nationaler Ebene eingrenzen helfen, was – wie gezeigt wurde – im Extremfall Paradoxien erzeugte, die nicht mehr rational, sondern allenfalls ideologisch aufgelöst werden konnten. Insgesamt zeigt sich, wie wichtig kulturelle Deutungsmuster – hier am Beispiel des Vergleichens aufgezeigt – im ökonomischen Wettbewerb sind: Sie sind kein Beiwerk, sondern im Gegenteil integraler Bestandteil internationaler Wettbewerbsstrategien, deren zentrales Mittel die Konstruktion von Selbstund Fremdbildern ist.

7.5

Limitation der Studie und Ausblick

Zu beachten ist, dass die Ergebnisse dieser Studie anhand einer Untersuchung der deutschen und der US -amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie gewonnen wurden. Fruchtbar wäre eine daran anknüpfende verflechtungsgeschichtliche Analyse der exportorientierten deutschen Eisen- und Stahlindustrie in ihrem Verhältnis zu den Branchen derjenigen europäischen Länder, mit denen sie stärker in direktem ökonomischem Wettbewerb stand. Hier bieten sich die – in dieser Analyse nur am Rande berücksichtigte – englische, aber auch die französische, belgische oder die luxemburgische Industrie

Limitation der Studie und Ausblick

an. Darüber hinaus bietet es sich an, Fragestellung und Design der vorliegenden Studie auf die Zeit nach 1945 anzuwenden. Hier wäre beispielsweise die Europäisierung der Stahlindustrie durch nationale Konzerne zu untersuchen. Auch die Zeit des Strukturbruchs der 1970er Jahre ist ein lohnender Untersuchungszeitraum: Hier sieht sich die US -amerikanische Branche mit einer umwälzenden Krisenentwicklung konfrontiert, die nun eine vergleichende Beobachtung mit der auf den US -amerikanischen Markt drängenden internationalen Konkurrenz notwendig machte. Schließlich kann eine Ausweitung der Analyse auf andere industrielle Sektoren die Sensorik für die Branchenspezifik weiter schärfen. Dabei ist in allererster Linie die spezifische Preissensibilität und Konjunkturanfälligkeit sowie die damit verbundene außerordentlich ausgeprägte Produktionsorientierung der Eisen- und Stahlindustrie als prototypischer Investitionsgüterindustrie anzuführen, die zusammengenommen die spezifische Stellung der Akteure gegenüber »dem Markt« erklären. Insofern wäre es notwendig, international ausgerichtete konkurrenzförmige Vergleichspraktiken für industrielle Branchen zu untersuchen, die – wie insbesondere die Konsumgüterindustrie – innerhalb ihrer Konkurrenzpraxis stärker potenzielle Kund:innen in den Blick nehmen. Die ebenfalls von Großkonzernen geprägte und international vernetzte Automobilindustrie, die als weiterverarbeitende Industrie überdies stark auf Produkte der Eisen- und Stahlindustrie angewiesen ist, ist hierfür ein idealer Untersuchungsgegenstand, um an die Analyse der Hüttenindustrie nahtlos anzuschließen.1 Insofern steht zu hoffen, dass das transnational ausgerichtete Vergleichen in der Konkurrenz auch zukünftig Gegenstand einer kritischen Verflechtungsgeschichte der Eisen- und Stahlindustrie bleiben wird.

1 Das an diese Arbeit anschließende Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs 1288: Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern widmet sich folgerichtig »Vergleichende[n] Praktiken in Anbieterkonkurrenz und Kundenorientierung: Die amerikanische und die deutsche Automobilindustrie im 20. Jahrhundert«.

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Zeitgenössische Periodika

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Abkürzungsverzeichnis

A August Thyssen-Hütte ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund AIME American Institute of Mining and Metallurgical Engineers AISA American Iron and Steel Association AISI American Iron and Steel Institute A&SC Archives and Special Collections (University of Pittsburgh Library System) CMV Christlicher Metallarbeiter Verband DINTA Deutsches Institut für Technische Arbeitsschulung DMV Deutscher Metallarbeiter Verband FWH Friedrich Wilhelms-Hütte HAK Historisches Archiv Krupp MEW Marx-Engels-Werke NDB Neue Deutsche Biographie PR Public Relations RWWA Rheinisch-Westfälisches-Wirtschaftsarchiv zu Köln SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands tkA thyssenkrupp Corporate Archives TVEh Technischer Verein für Eisenhüttenwesen VDEh Verein Deutscher Eisenhüttenleute VDESI Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller VDI Verein Deutscher Ingenieure VSt Vereinigte Stahlwerke WA Werksarchiv Krupp ZBHSW Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen in dem preußischen Staate ZVDI Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Hewitt, A. S., On the Statistics and Geography of the Production of Iron. A Paper Read Before the American Geographical and Statistical Society, on the 21st February, A. D., 1856, at the New York University, by Abram S. Hewitt, and printed at the request of the society, New York 1856, S. 12. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Abb. 2: Ebd., S. 17. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Abb. 3: American Iron and Steel Association, Report of the Secretary of the American Iron and Steel Association. Read on the Regular Annual Meeting of the Association at Philadelphia, March 4th, 1868, Philadelphia 1868. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abb. 4: o. V., Statistische Mittheilungen des Vereins deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller. Production der deutschen Hochofenwerke, in: Stahl und Eisen 1 (1881), S. 203. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Abb. 5: o. V., The World’s Production of Iron and Steel, in: The Iron Age, 25.02.1902, S. 24. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abb. 6: Kirchhoff, C., The Iron Industries of Germany I., in: The Iron Age, 31.05.1900, S. 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Abb. 7: Schrödter, E., 25 Jahre deutscher Eisenindustrie, in: Stahl und Eisen 24 (1904), S. 497. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Abb.  8: o. V., Pig Iron Output in Two Panics. A Parallel Between the Period Following 1893 an That Following 1907, in: The Iron Age, 6.4.1911, S. 824. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Abb. 9: o. V., Comparison of One Year’s United States Product of Coal, Pig Iron and the Metals with the Size of Great Structures, in: The Iron Age, 2.1.1896, o. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Abb. 10: Werbeanzeige Gutehoffnungshütte, in: Stahl und Eisen 3 (1883), S. 149. . . . 187

Personen- und Sachregister

Abelshauser, Werner  156 Adler, Emanuel  81 Alabama  256 Allegheny Mountains  219 Allgemeine Zeitung (Augsburg)  182 American Dream  193 American Exceptionalism  195, 358 American Foundrymen’s Association  51, 77 American Geographical and Statistical Society  85 American Institute of Mining Engineers (AIME)  75 American Iron and Steel Association (AISA)  38, 75 f., 88 f., 119, 136, 160, 333 American Iron and Steel Institute (AISI)  27, 73, 75, 193 American Rolling Mill Co. (Armco)  275 American Smelter & Refining Co.  48 American Way of Life  195, 198, 356 Amerikafahrt des VDEh 1890  50, 52, 58, 63, 227, 238, 289 Amerikanischer Bürgerkrieg  36, 134, 222 Amerikanisierung  15, 260, 280 Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer (1926)  325 Anderson, Benedict  92 Andrew-Carnegie-Stipendium  59 Arbeiterbewegung  26, 199 f., 297, 328 Armstrong-Whitworth Limited  184 Arnhold, Carl  314 August Thyssen-Hütte (ATH)  235, 261, 274, 315 Automobil  191, 195, 201, 205, 210, 276 Automobilindustrie  200, 210, 277 f., 319, 361 Ayer, Ira  174 f. Bandeisenwalzwerke AG  275 Bartscherer, Franz  274 Bauhaus  206 Bebel, August  128, 164 Beckert, Jens  115, 143

Beck, Ludwig  93 Belle Époque  25, 80 Bell, Lowthian  40, 54, 100, 183, 263 Bendix, Reinhard  287 Beratungsstelle für Stahlverwendung  205 Berghahn, Volker R.  24 Bessemer, Henry  37 Bessemerkonverter  161 Bessemerroheisen  218, 225 Bessemerschienen  222 Bessemerstahl  88, 100, 126, 139, 162, 219, 271 Bessemerverfahren  42, 51, 68, 134, 139, 218, 221 f., 225, 231, 269 Bessemerwerk  218, 222, 224, 226, ­262–264, 269 f. Bethlehem Iron Co.  51 Bethlehem Steel Co.  46, 184, 261, 279 Betriebsgemeinschaft  208, 307, 309, 313, 315, 357 siehe Werksgemeinschaft Beumer, Wilhelm  128 Biegemann (Werbeemblem)  206 Bleibtreu, Hermann  302, 313, 316, 318 f., 324 Bolckow, Vaughan & Co.  42, 69 Brassert, Hermann A.  260 f. Brauns, Hermann  59, 269–271, 290, 298 Breslau  219 British Board of Trade  102 British Decline  103, 162, 168 Brough, Bennett  62 Brügmann, Wilhelm  227, 229 f., 240 Bulle, Georg  235 f. Cammell, Laird & Co.  184 Campbell, H. H.  251 Carnegie, Andrew  46, 59, 64, 72, 99 f., 107, 134, 138, 231, 250, 338 Carnegie Bros & Co.  52 Carnegie, Phipps and Co.  46 Chemie  244 Chemieindustrie  156 Chicago  107, 164, 231 Cleveland (England)  54, 145, 255

Personen- und Sachregister

Cone, E. F.  136 Daelen, Reiner  55, 241 De Bow, James D. B.  85 f. Deutsche Kraftgasgesellschaft  245 Deutscher Metallarbeiter Verband (DMV) ​ 327 Deutsches Institut für Technische Arbeitsschulung (DINTA)  313 Deutsche Stahlwerksverband AG  129 Deutsch-Französischer Krieg 1870/71  222 Dillon & Read Co.  261 Dinkey, A. C.  134 Dortmund  219 Dortmunder Union  140, 290 Edgar Thomson Steel Works and Blast Furnaces  52, 100, 107, 231 Elektroindustrie  156 employee representation plans (ERPs)  310 Enquête-Kommission  153 f. Epple, Angelika  18 Erhart, Walter  18 Erster Weltkrieg  25 f., 28, 44, 77, 88, 101, 168, 184, 192, 216, 233 f., 236, 259, 272, 276, 278, 280, 288, 299, 301, 303, 305, 308 Essen  52 Essener Union  140 Farrell, James A.  71, 112 Fitch, John A.  343 Flussstahlverfahren  37, 71, 220 f., 225, 264, 271 Ford  319 Franklin Institute  174 Freihandel  23, 67, 120, 148 f., 153–155, 162, 169, 212 Frick, Henry Clay  46 Friedrich Wilhelms-Hütte (FWH)  139 f., 147, 188 Friedr. Krupp AG  14, 27, 37, 51 f., 156, 183–185, 208, 281 Fritz, John  51 Gary, Elbert H.  73 Gary, Indiana  171, 231, 320 Gary Works  231, 235 Gebrüder Stumm  185

Gelbe Gewerkschaften  310 Geographie  85 Georgs-Marien-Hütte  269 Gerstenberger, Liborius  170 Gießereieisen  142 Gießereiroheisen  143, 157 Glaser, Friedrich Carl  204, 227–229, 238, 242 Glaser’s Annalen (Zeitschrift)  153, 204, 227 Graham, H. W.  133 Große Depression 1873 siehe Weltwirtschaftskrise 1873 Gründerboom (1870/71)  222 Gutehoffnungshütte (GHH)  27, 139 f., 281, 321 – GHH-Werkszeitung  209 Herrmann, Ulrike  101 Hewitt, Abram S.  35, 43, 63, 85–88, 93, 115 f. Hobson, Samuel G.  102 f. Hoerder Verein  69, 140, 188, 225 Hoesch AG  342 Hoesch, Eberhard  32 f., 222, 264 Hoesch, Leopold  55 Holley, Alexander  42, 68 f., 271 Homestead Works  46 f., 171 Homo-Mensura-Satz  228 Hundhausen, Carl  180 f., 193, 208 Illinois Steel Co.  320 siehe Gary Works Indiana Steel Co.  231 siehe Gary Works Iron Age (Zeitschrift)  11, 26, 38–41, 52, 67, 69, 75, 77 f., 92, 94, 102, 106, 116, 120, 136 f., 173–175, 178, 191, 248 f., 252, 260, 328, 330, 334 Iron and Coal Trades Review  72 Iron and Steel Institute  24, 57–59, 62–69, 79 f., 100, 135, 161, 171 Ironmonger (Zeitschrift)  90 Iron Trade Review  189 Irvin, W. A.  197 Jones & Laughlin Steel Co.  261 Jones, William  100, 107 Journal of the Iron and Steel Institute (JISI) ​ 65 Jüngst, Carl  289, 292, 295

381

382

Personen- und Sachregister 

Kapitalismus  17, 81, 174, 198, 202, 243, 266, 285, 334 Kardorff, Wilhelm von  164 Kartell  73, 109 f., 155, 162, 233, 254, 269, 272 f., 279 siehe Syndikat – Kartellabsprachen  156 – Kartelldebatte  128 f. Kirchhoff, Charles  11, 40, 71, 96, 249 f., 253–255, 257–259, 335 f. Kitson, James  66 Klein, Hugo  274–278 Kleinöder, Nina  323 Kleinschmidt, Christian  237, 320 Klüpfel, Gustav  54, 66, 157 Knaudt, Otto  171 f. Knöfel, Silvio  137 Kocher, Jakob  55 Kocka, Jürgen  19 Kölner Dom  122 Konsumgesellschaft  180, 191 f., 194 f., 198, 208 f., 214, 292 Koppenberg, Heinrich  304, 311, 316, 320, 322 Krupp, Alfred  34, 37, 51, 179, 181–183 Kupelwieser, Paul  240 Kupfer  120 Lake Michigan  231 Lake Superior  241 Lamberton, Andrew  135, 171 Latour, Bruno  93 Leeds  135 Lenschau, Thomas  126 Lent, Karl  243 f., 304 Leviathan (Schiff)  189 Levy, Hermann  244 Levy, Jonathan  345 Liberalismus  148, 150 f., 154 f. Little Steel Strike (1937)  199 Lower Lake District  256 Lueg, Carl  139, 141 Luhmann, Niklas  238 Lukowski, W.  281–283 Lürmann, Fritz  231 f., 239 Made in Germany  161, 163, 165 f., 213 Manifest Destiny  123 Marx, Karl  160, 223, 266 Mason, Frank H.  256

Maybach, Albert von  151 McAllister, Henry Jr.  88 Melosi, Martin  258 Merchandise Marks Act  162, 165 f. Merritt, Walter Gordon  347 Moldenke, Richard  77 f. Moltke, Helmuth von  229 Mosler, Christian  217, 220, 227, 242 Mount Washington  122 Napoleon  194 Nationalsozialismus  208, 210 f., 284, 309 Neue Sachlichkeit  206 New Deal  197 Niederrheinische Hütte  140 Nietzsche, Friedrich  11 Nolan, Mary  307 Norddeutsche Lloyd  136 Ohio Valley  256 open hearth siehe Siemens-Martin-Ofen Open hearth steel siehe Siemens-MartinStahl Osann, Bernhard  48, 230 Osterhammel, Jürgen  34 Patente  9, 28, 35, 40, 57, 234, 249 Phoenix AG  140, 189 Pittsburgh  46, 52, 58, 107, 171, 231, 245, 259 Pittsburgh Surveys (1907–1908)  339, 342 f. Plumpe, Werner  154 Popplewell, Frank  61 Prinzess Irene (Passagierschiff)  136 Progressive Era  192 Prometheus (Zeitschrift)  166 Protagoras  228 Puddeleisen  32 Puddelroheisen  157, 188 Puddelverfahren  69, 139, 220, 222, 225 Puddelwerk  33, 222 f., 226 Pufahl, Otto  47 Pullman, George M.  173 Puppe, Johann  135, 171 Pyramiden von Gizeh  122 Queen Elizabeth I.  194

Personen- und Sachregister

Raabe, K.  236 Rabes, Carl  305 Radkau, Joachim  166 Rationalisierung – Menschenwirtschaft  302 f., 320 – organisatorische Rationalisierung  261, 273 – Rationalisierungsdebatte  260 – Taylorismus  321 f. – technische Rationalisierung  234–237 Reckendrees, Alfred  280 Rees, Jonathan  310, 345 Reichert, Jakob Wilhelm  299 Reichstag  128, 147 f., 150 f., 154 Reichstagswahl 1890  289 Republic Steel  348 Reuleaux, Franz  40, 163–166, 179, 183, 213, 355 Reusch, Paul  201 f., 281, 321 f. Rheinische Stahlwerke AG  226, 239 Rheinisch-Westfälische Zeitung  211 Richter, Eugen  150 Rockefeller, John D.  173 Rohstoffe  43, 59, 72, 108, 139, 145, 157, 218, 222, 227, 230, 234, 237, 239 f., 245 f., 257 f., 267, 272, 282, 302, 352, 354 – Eisenerz  43, 128, 145, 157, 218 f., 225, 230, 238 f., 241, 257 – Kohle  51, 54, 88, 102, 120, 128, 145, 230, 236, 238, 245, 257 – Koks  257, 263 – Rohstoffwirtschaft  245, 256 f., 259, 354 Sass, Hartmut von  18 Schiffbau (Zeitschrift)  189 Schlink, Joseph  119, 143–150, 153 f., 241, 267 f. Schmidt, John C.  77 f. Schnellbetrieb  134, 138, 174, 254, 258, 262–266, 269, 271 Schrödter, Emil  75, 78 f., 98, 104, 110 f., 167 f., 240, 246 Schwab, Charles  46, 184 Schweißeisen  43 siehe Puddelverfahren Shakespeare, William  173 f. Sheffield  46, 52, 69, 103, 162 Sheffield made  162 Siemens-Martin-Ofen  161

Siemens-Martin-Stahl  137, 168, 190 Siemens-Martin-Verfahren  68, 134, 221, 231 Siemens, Wilhelm von  164 Simmel, Georg  21, 214 Simmersbach, Bruno  231 Sombart, Werner  202, 293 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)  289 Sozialismus  234, 309 Sozialistengesetz  297 Sozialkapital  44, 47 Sozialversicherung  296 f., 305, 334 Sozialversicherungsgesetz  341 Spethmann, Dieter  283 Stäheli, Urs  113 Stahl überall (Werbezeitschrift)  206, 208, 210–212 Stahl und Eisen (Zeitschrift)  26, 53 f., 57, 62, 65, 70, 73, 75, 89 f., 92, 108, 128, 157, 164–167, 169, 185 f. Stahlwerke Gebr. Brüninghaus & Co.  188 Standard Chain Co.  77 Steel Facts (Zeitschrift)  197 Steinisch, Irmgard  344 Steinmetz, Willibald  16 Stinnes-Legien-Abkommen  310 Swank, James M.  40, 99, 122 f., 159, 333 Syndikat  110 f., 129, 155, 254, 272 Tanner, Jakob  83 Technischer Verein für Eisenhüttenwesen (TVEh)  55, 57, 74 f. Thielen, Hüttendirektor  59 Thomasroheisen  157 Thomas, Sidney Gilchrist  225 Thomasstahlwerk  226 Thomasverfahren  69, 167 f., 225 f., 246 Thyssen AG  27, 304 Thyssen, Fritz  273 Tiegelgussstahlverfahren  43, 137 Tooze, Adam  101, 211, 284 Torp, Claudius  292 Torp, Cornelius  154 f. Trasenster, Paul M.  90 Trust  72, 124, 127, 261 – Trustbildung  127 University of Chicago  173

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Personen- und Sachregister 

U. S. Steel  71, 107, 124, 127, 130, 184, 260 f., 269, 273, 279, 345 Vanderlip, Frank  253 Verein Deutscher Eisengießereien  235 Verein Deutscher Eisenhüttenleute (VDEh)  26, 50, 55, 61, 63, 79, 205, 298 – Walzwerksausschuss des VDEh  236 Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VDESI)  90, 299 Verein Deutscher Ingenieure (VDI)  74 f., 288 Verein für Eisen- und Stahl-Industrie  204 Vereinigte Stahlwerke (VSt)  205, 260 f., 273–276, 278–281, 359 Vickers Limited  46, 184 Vögler, Albert  205, 207, 273 f., 280 f. Wachler, Richard  140–147, 151–153 Wagener, August  245 Warmbreitband  279 – Warmbreitbandstraße  275 f. Wärmewirtschaft  236 f., 246, 256, 259, 273, 353 f. Washington Monument  122 Ways and Means Committee  77 Wedding, Hermann  10, 36, 40, 43 f., 47–49, 58, 140, 161, 217–220, 222–225, 227 f., 232, 237, 244, 262–270, 288 Weißblech  126, 158–160, 174 f., 177, 212, 277 – Weißblechindustrie  159 f., 174, 278, 282, 356 Weißeisen  139 Welskopp, Thomas  17, 155, 273, 320 f. Weltausstellung  14, 34–37, 44, 50, 65, 80, 179, 183, 185, 288, 351, 355 – Chicago 1893  164, 166 – London 1851  181 f. – London 1862  37 – Paris 1855  183

– Paris 1867  43, 183 – Philadelphia 1876  10, 36, 38, 40, 43, 47, 163, 183, 217, 354 f. – St. Louis 1905  256 Weltwirtschaftskrise – Weltwirtschaftskrise 1857  55 – Weltwirtschaftskrise 1873  24 f., 38, 44, 74, 138, 154, 220, 222, 359 – Weltwirtschaftskrise 1929  26, 42, 193 f., 275, 356 Wengenroth, Ulrich  101, 130, 158, 168, 272 Wenger, Etienne  80 f. Werksgemeinschaft  308, 311, 322 siehe Betriebsgemeinschaft Werkzeugstahl  137 Werner, Siegfried G.  235 Werron, Tobias  106 White, Charles M.  348 White, Harrison  80 Williams, Ernest E.  161–163 Wirtschaftswunder  192 Witt, Otto Nikolaus  166 Wolbring, Barbara  14, 182 Youngstown Sheet & Tube Co.  261 Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen  43 Zerwes, Josef  139–141, 147, 150 Zoll  11, 20, 45, 55, 74, 76, 108, 111, ­126–129, 146–151, 153, 156, 158–160, 162, 169 f., 193, 217 f., 222, 233, 247, 333, 356 – Deutscher Zollverein  55, 57 – McKinley Tariff  159 f. – Zolldebatte  119, 128, 150, 197 – Zollgesetz  154, 159 – Zollpolitische Wende (1879)  75, 147, 155, 212 Zweiter Weltkrieg  61, 208