Urbanität durch Dichte?: Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre [1. Aufl.] 9783839430637

The author is the first to investigate the potentials of a type of structure that is publicly unpopular, but defended by

203 82 18MB

German Pages 500 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Forschungsobjekt und Eingrenzung
Forschungsinteresse
Forschungsdesign
Quellenlage und Forschungsstand
Forschungshintergrund
Ästhetik
Stadt und Urbanität
Öffentlichkeit und Privatheit
Komplexität und Struktur
Resümee – Erkenntnisse für das Forschungsthema
Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild
Gesellschaftlicher Kontext
Geschichtlicher Hintergrund – städtebauliche Leitbil der u nd Architek t ur 1
1960-1975 Urbanität durch Dichte
Umsetzung des städtebaulichen Leitbilds und Wahrnehmung der Großwohnkomplexe
Die Kritik an Architektur und Städtebau der 1960er und 1970er Jahre
Resümee – Erkenntnisse für das Forschungsthema
Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele
Zwischen Utopie und Realität/modulares Bauen
Terrassenhäuser und Hügelhäuser als (städtische) Solitärbauten
Italien
Team Ten/Strukturalismus
Städtebauliche Projekte
(Stadt-)Zentren
Großwohnkomplexe
Ausblick: Großwohnkomplexe heute?
Fallstudien: München, Graz, London
Analytisches Vorgehen und Methode
Klassifikation – Typisierung
Forschungsleitende Thesen
Fallstudie 1 – Olympisches Dorf, München
Fallstudie 2 – Brunswick Center, London
Fallstudie 3 – Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter
Analyseergebnisse im Vergleich
Ergebnisse der Arbeit
Zur Problematik des methodischen Vorgehens und des gewählten Forschungsansatzes
Entwicklungsprägende Aspekte von Großwohnkomplexen
Großwohnkomplexe im Architekturdiskurs der 1960er/1970er Jahre
Potenziale von Großwohnkomplexen
Urbanität durch Dichte?
Zum übergeordneten Forschungsansatz
Ausblick
Entwicklungsszenarien von Großwohnkomplexen
Die Zukunft des innerstädtischen Wohnens?
Ausblick auf weiterführende Forschungsfelder
Literatur
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Urbanität durch Dichte?: Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre [1. Aufl.]
 9783839430637

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Karen Beckmann Urbanität durch Dichte?

Architekturen | Band 29

Karen Beckmann (Dr.-Ing. Architekt) lebt und arbeitet als Architektin in Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Architektur- und Städtebaugeschichte der 60er/70er Jahre Fragen zu Architekturrezeption und -produktion.

Karen Beckmann

Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Karen Beckmann Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3063-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3063-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung | 7

Forschungsobjekt und Eingrenzung | 10 Forschungsinteresse | 16 Forschungsdesign | 24 Quellenlage und Forschungsstand | 31 Forschungshintergrund | 43

Ästhetik | 44 Stadt und Urbanität | 60 Öffentlichkeit und Privatheit | 76 Komplexität und Struktur | 98 Resümee – Erkenntnisse für das Forschungsthema | 102 Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild | 113

Gesellschaftlicher Kontext | 114 Geschichtlicher Hintergrund – städtebauliche Leitbilder und Architektur | 139 1960-1975 Urbanität durch Dichte | 162 Umsetzung des städtebaulichen Leitbilds und Wahrnehmung der Großwohnkomplexe | 239 Die Kritik an Architektur und Städtebau der 1960er und 1970er Jahre | 267 Resümee – Erkenntnisse für das Forschungsthema | 279 Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele | 285

Zwischen Utopie und Realität/modulares Bauen | 286 Terrassenhäuser und Hügelhäuser als (städtische) Solitärbauten | 292 Italien | 296 Team Ten/Strukturalismus | 299 Städtebauliche Projekte | 300 (Stadt-)Zentren | 316 Großwohnkomplexe | 323 Ausblick: Großwohnkomplexe heute? | 335

Fallstudien: München, Graz, London | 339

Analytisches Vorgehen und Methode | 339 Klassifikation – Typisierung | 342 Forschungsleitende Thesen | 346 Fallstudie 1 – Olympisches Dorf, München | 348 Fallstudie 2 – Brunswick Center, London | 387 Fallstudie 3 – Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter | 416 Analyseergebnisse im Vergleich | 448 Ergebnisse der Arbeit | 451

Zur Problematik des methodischen Vorgehens und des gewählten Forschungsansatzes | 451 Entwicklungsprägende Aspekte von Großwohnkomplexen | 452 Großwohnkomplexe im Architekturdiskurs der 1960er/1970er Jahre | 455 Potenziale von Großwohnkomplexen | 459 Urbanität durch Dichte? | 468 Zum übergeordneten Forschungsansatz | 469 Ausblick | 471

Entwicklungsszenarien von Großwohnkomplexen | 471 Die Zukunft des innerstädtischen Wohnens? | 475 Ausblick auf weiterführende Forschungsfelder | 477 Literatur | 479

Einleitung

Die baugeschichtliche Epoche der 1960er/1970er Jahre in Westeuropa, in einigen Forschungsprojekten auch „Boomjahre“ genannt, bilden ein architektonisches und städtebauliches Erbe, dessen Qualität heute, wenn überhaupt, dann kontrovers diskutiert wird. Diese Zeit war geprägt vom Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ von Massenproduktion, Optimierung von Bauprozessen und Vorfertigung. Zukunftsorientiertes Handeln, die Verwissenschaftlichung von Planungen sowie Städtebau- und Gesellschaftsutopien, gepaart mit einem stark ausgeprägten Machbarkeitsdenken führten zu innovativen Konzepten, neuartigen Bauformen und einer hohen Quantität an Gebäuden. „Die durch das Wirtschaftswunder getragene grosse [sic!] Euphorie der 60er Jahre kannte schlichtweg keine Grenzen – nicht nur in dem, was geplant und entworfen, sondern auch in dem, was ausgeführt wurde.“1 Aus dieser Euphorie und technischen Entwicklungen entstanden großmaßstäbliche Gebäudestrukturen wie Bürogebäude, Universitäten, Schulen und Warenhäuser sowie Wohnkomplexe, die heute das Bild vieler Städte prägen. Der Titel der vorliegenden Untersuchung, „Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre“, impliziert bereits einige, die Arbeit prägende Themen. Die Losung „Urbanität durch Dichte“ spiegelt dabei das städtebauliche Leitbild der 1960er/1970er Jahre in Abkehr zu den Zielen des Städtebaus der Moderne und als Antwort auf die in den 1960er Jahre beginnende Kritik mangelnder „Urbanität“ in den Städten wider. Die Formulierung dieses Leitsatzes als Frage drückt ein kritisches Hinterfragen einer statischen Interpretation dieses Leitbilds aus. Dabei werden die Begriffe Ästhe-

1 

Philipp, Klaus Jan: Die grosse Euphorie. Machbarkeitswahn und Freiheitsversprechungen im Städtebau der 60er und 70er Jahre. In: Hassler, Uta/Dumont dʼAyot, Catherine (Hrsg.): Bauten der Boomjahre. Paradoxien der Erhaltung. Zürich 2009, S. 65

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tik, Urbanität und Stadt im spezifischen Verständnis der 1960er/1970er Jahre erläutert, um die Inhalte und Bedeutung des Leitsatzes im Kontext der 1960er/1970erJahre zu verstehen. Im Anschluss an diese Frage der „Urbanität durch Dichte?“, die ein weites Feld städtebaulicher Entwicklungen, Beispiele und Typologien beinhaltet, wird durch den Begriff Großwohnkomplex explizit eine Gebäudetypologie aus diesem Feld herausgegriffen. Diese Typologie, die im Grunde als komplexe Gebäudestrukturen mit einer hohen Funktions- und Nutzungsmischung sowie fußläufigen Erschließungsbereichen umschrieben werden kann, wird in der vorliegenden Untersuchung umfassend analysiert. Die Untersuchung verfolgt demnach mehrere Ziele. Durch die Analyse des gesellschaftlichen, architektonischen und städtebaulichen Kontextes von Großwohnkomplexen mit dem Schwerpunkt auf der Analyse des Leitbilds der „Urbanität durch Dichte“ und insbesondere durch die Erarbeitung weiterer Einflussfaktoren werden „Großwohnkomplexe“ als spezifische Stadtbausteine erkannt, definiert und kategorisiert. Damit wird nicht nur der Begriff „Großwohnkomplex“ für diese spezifische Gebäudetypologie etabliert, sondern gleichzeitig ein neuer Stadtbaustein, der in aktuellen Diskussionen über Großwohnsiedlungen, verdichtetes Bauen oder 1960er/1970er-Jahre-Architektur im Allgemeinen nicht auftaucht, analysiert und bewertet. Die Arbeit umfasst in einer Beispielsammlung die Darstellung unterschiedlicher Typen dieser Gebäudestruktur sowie weitere Beispiele verdichteten Bauens. Neben diesem dokumentarischen Teil verfolgt die Arbeit übergeordnet das Ziel die Qualitäten dieser Gebäudestrukturen durch die Analyse von Fallbeispielen zu erkennen, um sie in einem weiteren Schritt in allgemeingültige Potenziale von Großwohnkomplexen zu transformieren. Als Potenzial wird dabei die Möglichkeit von Großwohnkomplexen aufgezeigt, eine Qualität zu erzeugen. Mit den erarbeiteten Potenzialen können Strategien für den Umgang mit Großwohnkomplexen im Speziellen oder verdichteten Bebauungsstrukturen im Allgemeinen erarbeitet werden. Darüber hinaus bieten die Potenziale die Möglichkeit, auf neue städtebauliche Fragestellungen angewendet werden zu können. Entscheidend für das Forschungsinteresse an diesem Thema ist dabei die Feststellung, dass städtebaulich verdichtete Bebauungsstrukturen heute im Hinblick auf anwachsende Megastädte und dem Wiedererstarken der Stadt als Wohnort, eine neue Aktualität erhalten. Gebäudetypologien, die einige Konzepte von Großwohnkomplexen aufgreifen, entstehen in den letzten Jahren vermehrt.2 Gleichzeitig findet sich in Großwohnkomplexen der 1970er Jahre eine hohe 2 

Vgl. „The Interlace“ Singapur/“Big 8“ Kopenhagen in Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“

E INLEITUNG

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Bewohnerzufriedenheit, die im Kontrast zur negativen Rezeption diese Gebäudestrukturen in der Öffentlichkeit stehen.3 Die daraus resultierende Fragestellung, welche Qualitäten Großwohnkomplexe besitzen, ist Hauptforschungsziel der vorliegenden Untersuchung. Der inhaltliche Schwerpunkt der Untersuchung „Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre“ liegt damit in einer wissenschaftlichen Annäherung an die Qualitäten von Großwohnkomplexen. Empirische Werte, wie beispielsweise die Dichtekennzahlen, werden nur begleitend und ergänzend genannt. Außerdem verfolgt die vorliegende Arbeit nicht den Anspruch, technische Details, wirtschaftliche Aspekte oder Energieeffizienz dieser Gebäudestrukturen zu erforschen. Es werden im Kontext des Untersuchungsthemas vielmehr Aspekte wie Raum, Stadt und Urbanität sowie Begriffe wie Wahrnehmung, Aneignung und Kommunikation diskutiert. Die Arbeit gliedert sich mit diesen Grundlagen in einen architekturästhetischen Kontext ein und bezieht sich dabei auf Untersuchungen wie „Die Gestalt des städtischen Raumes“ von Birgit Wolter. Insbesondere liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf dem städtischen Außenraum, damit in Verbindung stehenden strukturalistischen Entwurfszielen und den Qualitäten, die diese Räume in Großwohnkomplexen (dadurch) besitzen. Bei der Bewertung von Siedlungsstrukturen bilden die Gebäudetypologien und die städtebaulichen Ansätze einen großen Bestandteil. Daneben spielen soziologische Fragestellungen beispielsweise über Herkunft, Bildung und Lebenssituation der Bewohner4 jedoch eine ebenso relevante Rolle. Im Zusammenhang dieses Diskursfeldes kann die vorliegende Untersuchung nur einen Teilaspekt, nämlich Fragestellungen zu Architektur und Städtebau fachlich beantworten. Soziologische Studien und Beobachtungen spiegeln sich zwar in einigen Teilbereichen wider, sind jedoch nicht Hauptforschungsziel der Arbeit. Aufgrund der Fülle aller mit dem Thema der Untersuchung verknüpften Forschungsfelder kann die vorliegende Arbeit weder eine umfassende Aufarbeitung der gesamten Architektur- und Städtebaugeschichte der 1960er/1970er Jahre leisten, noch können alle verwandten Gebäudetypologien, die zu dieser Zeit entstanden, restlos analysiert werden. Das Forschungsthema fokussiert vielmehr die Analyse von Qualitäten der spezifischen Typologie des Großwohnkomplexes. Alle Themenkomplexe, die zur Beantwortung der leitenden Forschungsfrage notwendig sind, werden im Laufe der Untersuchung erarbeitet und zielorien3 

Vgl. Forschungsinteresse.

4

Hinweis: Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der gesamten Untersuchung auf die besondere Kennzeichnung weiblicher Endungen, „-innen“, verzichtet.

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tiert erläutert. Einige Fußnoten verweisen dabei zusätzlich auf weiterführende Literatur, die als Anregung dient, sich mit bestimmten Themen näher auseinanderzusetzen oder neue Forschungsfelder zu eröffnen.

F ORSCHUNGSOBJEKT

UND

E INGRENZUNG

Das Forschungsobjekt Großwohnkomplex ist eine spezifische städtebauliche Typologie und gehört zur Familie der Komplexbebauung. Der Begriff Komplexbebauung ist ein in der heutigen Architektursprache etablierter Begriff für bestimmte Architekturen der 1960er/1970er Jahre und beschreibt verdichtete, zusammenhängende Bebauungsstrukturen5. Der Begriff wurde insbesondere von Hanns Adrian, zwischen 1963 und 1972 Leiter der Arbeitsgruppe für Sonderbauten und später Stadtbaurat der Landeshauptstadt Hannover, geprägt.6 Die Einordnung dieser Komplexbebauung in die Kontinuität der Architekturgeschichte und die Geschichte des Städtebaus wird dabei jedoch heute durchaus unterschiedlich vollzogen. Während in der Arch+ 203 der Autor die „Komplexbebauung“ als einen Bruch zum Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ versteht7, werden in einer Publikation über die Geschichte Hannovers diese Strukturen dem Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ eindeutig zugeordnet.8 In dieser Arbeit, das werden die folgenden Kapitel zeigen, wird ein Verständnis zugrunde gelegt, das die Komplexbebauung als eine Entwicklung aus dem Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ sowie als einen spezifischen Entwicklungsstrang dieses Leitbilds ansieht.

5 

Vgl. ebd. Anmerkung 1, S. 42/Landeshauptstadt Hannover (Hrsg.): Hannover City 2020+. Die Entwicklung der Stadt. Hannover 2010, S. 21/Neumann, Gerd: Vorwärts zur Industrialisierung der Bauproduktion. In: Urbanität durch Dichte – Die gescheiterte Hoffnung. Bauwelt 48, 76. Jahrgang 1985, S. 357.

6 

Vgl. Landeshauptstadt Hannover (Hrsg.): Zur Diskussion: Innenstadt. Hannover, 1970.

7 

Vgl. ebd. Anmerkung 1, S. 42.

8 

Vgl. Mlynek, Klaus/Röhrbein, Waldemar R. (Hrsg.): Die Geschichte der Stadt Hannover. Band 2 – Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Hannover 1994, S. 743.

E INLEITUNG

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Abb. 1: Typische Struktur eines Großwohnkomplexes

Quelle: Landeshauptstadt Hannover (Hrsg.): Zur Diskussion: Innenstadt, Hannover, 1970, S. 4

Zur Etablierung des Begriffes „Großwohnkomplex“ als eigene städtebauliche Typologie im Kontext der Geschichte des Städtebaus im 20. Jahrhundert, bietet die folgende Definition Parameter, die nicht nur die Eigenheiten von Großwohnkomplexen aufzeigen, sondern gleichzeitig eine Abgrenzung zu anderen Gebäudetypologien ermöglichen. Eine individuelle gestalterische Ausformulierung wird, wie in jeder anderen städtebaulichen Typologie auch, in den Beispielen von Großwohnkomplexen deutlich. Die folgenden, übergreifenden Definitionsparameter bilden jedoch den Rahmen für die individuelle Gestaltung. Typologische Eingrenzung Großwohnkomplexe wurden der Definition nach innerstädtisch, im gewachsenen Stadtgefüge platziert. Gemäß ihrem Namen und der Differenzierung zu der allgemeinen Typologie der Komplexbebauung wurden Großwohnkomplexe mit einem hohen Anteil an Wohnnutzung geplant. Spezifisch ist jedoch gleichzeitig ein hoher Anteil an Nutzungsdurchmischung im Quartier. So finden sich in Großwohnkomplexen neben der Wohnnutzung Büroräume, Dienstleistungsbetriebe, Arztpraxen, Restaurants, Cafés, Bars sowie Einkaufsmöglichkeiten in verschiedenen Gewichtungen. Großwohnkomplexe besitzen immer eine fußläufige Erschließung im Inneren des Komplexes und Parkmöglichkeiten im Tiefgeschoss darunter. Großwohnkomplexe weisen eine relativ hohe bauliche und räumliche Dichte auf. Durch ihre spezifische Fassadengestaltung und Gebäude-

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Abb. 2: Typologie Großwohnkomplex

Quelle: Privatarchiv

typologie grenzen sie sich deutlich vom umgebenden Stadtraum ab. In Großwohnkomplexen wurden heterogene Gebäudetypologien verwendet und eine Vielzahl unterschiedlicher Wohnungstypen realisiert. So finden sich in Großwohnkomplexen oft sowohl Reihenhäuser oder kleinteilige Einfamilienhäuser in Bungalowbauweise, als auch klassische Geschosswohnungstypen oder Wohnhochhäuser. Darüber hinaus kam das Terrassenhaus als Gebäudetypologie häufig und in unterschiedlichen Formen zur Anwendung. Der „Innenraum“ von Großwohnkomplexen besteht immer aus öffentlichen, gestalteten Freiräumen und wird auch als städtischer (Innen-) Raum wahrgenommen. Großwohnkomplexe bilden durch ihren großen Maßstab eigene Quartiere im Stadtgefüge. Die Eigentumsverhältnisse stellen eine weitere Besonderheit von Großwohnkomplexen dar. In nahezu allen in der vorliegenden Arbeit zu untersuchenden Großwohnkomplexen befinden sich die Wohnungen im privaten Eigentum. Auch die „öffentlichen“ Wege und Freiflächen innerhalb des Komplexes wurden als Gemeinschaftseigentum anteilig zu den Wohnungen vermarktet. Ein wichtiger Aspekt im Verständnis der Definition von Großwohnkomplexen in Abgrenzung zu den weiteren Entwicklungssträngen des städtebaulichen Leitbilds ist der Begriff der „Dichte“. Unter dem Begriff „Dichte“ wird im Sinnzusammenhang der Entstehung von Großwohnkomplexen eine räumliche, funktionale und nutzungsorientierte Dichte verstanden. Dichtekennzahlen als Formel „Einwohner pro Fläche“ liegen zwar einigen anderen Entwicklungssträngen des städtebaulichen Leitbilds zugrunde, Komplexbebauungen stellen sich jedoch im Zusammenhang mit dieser Begrifflichkeit deutlich differenzierter dar und können nicht nach dieser einfachen Formel kategorisiert werden.

E INLEITUNG

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Abgrenzung zu verwandten Gebäudestrukturen9 Um die Definition des Begriffes Großwohnkomplex zu verdeutlichen und eine Abgrenzung zu verwandten Gebäudestrukturen erläutern zu können, werden einige Thesen formuliert, die in den folgenden Analyseschritten belegt werden sollen. So wird einleitend zu dieser Arbeit nun die These formuliert, dass das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ und damit die Komplexbebauung im Allgemeinen und Großwohnkomplexe im Speziellen keine kontinuierliche Weiterentwicklung des modernen Städtebaus darstellen. Vielmehr ist zu Beginn der 1960er Jahre ein Bruch in der Entwicklung der Moderne zu verzeichnen10, der die städtebaulichen Planungsziele dieses Leitbildes umkehrt. Vereinfacht ausgedrückt: Einer Trennung der städtischen Funktionen nach dem Leitbild der Moderne stand nun eine Multifunktionalität und Nutzungspluralität in verdichteten Bebauungsstrukturen gegenüber. Eingebettet ist diese Entwicklung in der Vorstellung, mit der neuen Architektur Wohnformen für eine neue Gesellschaft zu finden. Die technischen Entwicklungen ermöglichten dabei neue Fertigungstechniken wie modulares Bauen oder Systembauweisen, die die Architektur dieser Zeit prägen. Unter diesem Hintergrund und Bezug nehmend auf die Erläuterungen zum Begriff „Dichte“ besitzen Großwohnkomplexe kaum inhaltliche Übereinstimmungen mit den Großwohnsiedlungen der 1950er Jahre (funktionalistischer Städtebau der Moderne) oder den Satellitenstädten der 1960er Jahre (frühe Realisierungen des Leitbilds der „Urbanität durch Dichte“). Grundsätzlich liegt die einfachste und deutlichste Unterscheidungsmöglichkeit in der Art der Außenraumgestaltung. Während Großwohnkomplexe ausschließlich dichte, vielfältig gestaltete Fußgängerbereiche als öffentliche Erschließungsräume besitzen, sind die Abstandsflächen zwischen den Gebäudezeilen, Wohntürmen oder mäandernder Hochhausstrukturen der Großwohnsiedlungen oder Satellitenstädten weitläufig, kaum gestaltet und mit wenigen Nutzungsmöglichkeiten neben den großflächigen Parkplätzen gefüllt. Öffentlichkeit und Privatheit, in Großwohnkomplexen durch halböffentliche Pufferzonen als fließende Übergänge gestaltet, stehen sich in Großwohnsiedlungen und Satellitenstädten klar voneinander getrennt (als Pole) gegenüber. Gleichzeitig lassen sich jedoch Ähnlichkeiten zwischen Großwohnkomplexen und Satellitenstädten in der typischen Fassadenstruktur und in 9 

Deutlich wird die Abgrenzung zu verwandten Gebäudestrukturen auch in Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele.“.

10  Vgl. den CIAM (Congrès Internationale dʼarchitecture Moderne) in Otterlo und das Team Ten, näher erläutert in Kapitel „Der Strukturalismus und seine Vertreter“.

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Abb. 3: Abgrenzung zu weiteren Städtebautypologien

Quelle: Landeshauptstadt Hannover (Hrsg.): Zur Diskussion: Innenstadt, Hannover, 1970, S. 3

den Höhenentwicklungen der Gebäude ablesen, was eine Unterscheidung bei oberflächlicher Betrachtungsweise erschweren kann. Auch die Abgrenzung von Großwohnkomplexen und Solitärbauten der 1960er/1970er Jahre wird durch die Betrachtung des Außenraums verdeutlicht. Als solitäre Gebäudestrukturen wurden verschiedene Wohnexperimente in den 1960er/1970er Jahren realisiert, die formale Ähnlichkeit zu Einzelgebäuden der Großwohnkomplexe aufweisen. Sie besitzen jedoch, anders als Großwohnkomplexe mit einer Vielzahl von Gebäuden, keine gestalteten Außenräume im Inneren der Bebauungsstruktur.11

11  Vgl. die Beispielsammlung und darin das Kapitel „Terrassenhäuser und Hügelhäuser als (städtische) Solitärbauten“.

E INLEITUNG

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Abb. 4: Cumbernauld Town Center

Quelle: Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 169

Zeitliche Eingrenzung12 Die Planung und Realisierung von Großwohnkomplexen ist ein Phänomen weniger Jahre. Die ersten Planungen zu verdichteten Gebäudestrukturen mit Funktionsvielfalt und Nutzungsüberlagerungen begannen in den späten 1950er Jahren (Bsp. Cumbernauld Town Center). Zu Beginn der 1970er Jahre, nur etwa 15 Jahre später, wurden Großwohnkomplexe, die sich in den Realisierungsphasen befanden, fertig gestellt. Neue großmaßstäbliche Projekte wurden nicht mehr initiiert. Innerhalb dieser Zeitspanne können die Hintergründe und die der Entstehung von Großwohnkomplexen zugrunde liegenden Entwicklungen innerhalb der 1950er Jahre verortet werden. Während die Planungszeiten von konkreten Projekten großmaßstäblicher Wohnbebauungsstrukturen den 1960er Jahren zeitlich zugeordnet werden, sind die Realisierungsphasen und die Fertigstellung der Großwohnkomplexe zumeist zu Beginn der 1970er Jahre datiert. Als prägend für die Entwicklung der Komplexbauweise können jedoch zusätzlich utopische Architektur- und Städtebauentwürfe gelten, deren Vorgänger bis in die 1920er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen und die zu Beginn der 1960er Jahre vielfältig publiziert wurden. Das Ende dieser Ära Mitte der 1970er Jahre bestimmten wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Aspekte, die ein radikales Umdenken in dieser Zeit begründeten.

12  Vgl. auch Kapitel „Geschichtlicher Hintergrund – städtebauliche Leitbilder und Architektur“ und Kapitel „1960–1975 Urbanität durch Dichte“.

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Geografische Eingrenzung Die Untersuchungen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung beschränken sich auf den westeuropäischen Kulturkreis und Westeuropa im geografischen Sinn. Da Einflüsse aus Nordamerika und Teilen des Fernen Ostens (Japan) die Entwicklungen in Europa prägten, werden diese Einflüsse in der Erarbeitung dieser Untersuchung immer wieder aufgegriffen. Diese Aspekte sind jedoch nur ergänzend anzusehen und stellen keinen Anspruch auf eine umfassende Analyse der Entwicklungen in diesen Länder dar. Eine Häufung der realisierten Großwohnkomplexe ist in Westeuropa zu finden, sodass die vorliegende Arbeit sich auf diesen geografischen und kulturellen Raum beschränkt. Die geografische Grenze „Westeuropas“ bezieht sich auf den Grenzverlauf der Sowjetunion in den 1960er/1970er Jahren. Dort wurden aus ideologischen und politischen Gründen andere architektonische und städtebauliche Typologien entwickelt, die nicht Bestandteil der vorliegenden Untersuchung sind.

F ORSCHUNGSINTERESSE Die 1960er/1970er Jahre haben nicht nur in Westeuropa, sondern weltweit eine neue Architektursprache begründet. Das Faszinosum dieser Epoche liegt dabei in der Zukunftsorientiertheit und der Radikalität der Entwürfe. Insbesondere die Städtebau- und Architekturutopien dieser Zeit verdeutlichen das damals aktuelle Bild zukünftiger Architektur- und Städtebauentwicklungen. Eine Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und einer neuen Architektursprache sowie städtebaulichen Ansätzen liegt diesen Entwürfen zugrunde. Rem Koolhaas beschreibt diese Epoche technischer Innovationen und gesellschaftlichen Optimismus im Hinblick auf heutige Entwicklungen: „Natürlich waren die 60er und 70er Jahre […] außergewöhnlich: Der erste Mensch landete auf dem Mond, das Überschallflugzeug Concorde wurde entwickelt. Diese technischen Entwicklungen gehören zur Mentalität dieser Epoche. Ich würde sagen, dass wir heute dasselbe leisten, indem wir neue Technologien hervorbringen und die Welt verändern. Allerdings fehlt uns heute der entsprechende Optimismus.“13 Anders als viele weitere Architekturströmungen endete diese spezifische Architektursprache Mitte der 1970er Jahre abrupt. Aus dieser engen zeitlichen Einteilung ergibt sich nicht nur ein zeitlich klar definiertes Forschungsthema, 13  Koolhass, Rem in Englert, Klaus: Metabolismus als soziales Projekt. In: Baumeister 02/2012, S. 69.

E INLEITUNG

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sondern auch die Faszination einer vergangenen Epoche, der durch das schlagartige Ende der Denkweisen heute das Gefühl des „Scheiterns“ nachhängt. „Die Zeiten der Utopien schienen vorbei – das revolutionäre Feuer erloschen. Was bleibt, ist die Erinnerung, die langsam ins Mythische abgleitet.“14 Seit einigen Jahren kann in Deutschland festgestellt werden, dass die 1960er/1970er Jahre als architekturgeschichtliche Epoche in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Begründet werden kann dies durch nun anstehende Sanierungsmaßnahmen der heute etwa 40 Jahre alten Gebäude und damit in Verbindung stehenden denkmalschutzrelevanten Aspekte. Die Qualitäten dieser Epoche zu untersuchen, eröffnet damit nicht nur dem Denkmalschutz Möglichkeiten der Kategorisierung und Bewertung, sondern kann auch eine öffentliche Diskussion über die „Ästhetik“ dieser Zeit bestimmen. Neben fachlichen Untersuchungen15 zu diesem Thema widmen sich nun auch vermehrt Fachzeitschriften dieser Thematik und öffentliche Diskussionen sowie Ausstellungen werden initiiert.16 Dass nun auch der Denkmalschutz Gebäude dieser Zeit betrachtet und bereits einige unter Schutz gestellt hat, weist auf eine veränderte Wahrnehmung hin.17 Auch in anderen Westeuropäischen Ländern

14  Herwig, Oliver: Das Ende einer Utopie? In: db 12/99, S. 70. 15  Vgl. Kapitel „Forschungsstand“. 16  Vgl. Tagung. Bauten der Boomjahre. Paradoxien der Erhaltung. 28./29. 02. 2008, ETH Zürich. Veröffentlichung: Hassler, Uta/Dumont dʼAyot, Catherine (Hrsg.): Bauten der Boomjahre. Paradoxien der Erhaltung. Zürich 2009, Wanderausstellung „Baukulturelles Erbe, Zwischen Nierentisch und Postmoderne“ Nds. 2011 (Podiumsdiskussion 24.11.2011 in Hannover), Symposium über „Brutalismus“ am 10./11.5.2012 in Berlin, eine Veranstaltung in Berlin mit dem Titel: Leben mit Weitsicht. Diskussion in Berlin zu Großsiedlungen am 13.02.2012, Seminar mit dem Titel „Heute ungeliebtes Erbe, morgen begehrtes Denkmal? Architektur und Städtebau der 1960er- und 1970erJahre am 21. und 22.11.2013 in Berlin, eine Veröffentlichung des Grazer Architekturmagazins GAM 08 mit dem Titel „Dense Cities“, die Veröffentlichung der Zeitschrift Archithese 2. 2010 mit dem Titel „Großer Maßstab“, Archithese 3.2011 mit dem Titel „Dichte“, Arch+ 203: Planung und Realität – Strategien im Umgang mit Großsiedlungen oder Stadtbauwelt 8/14 und 24/14 mit den Titeln „Das große Sanieren“ (Sanierungen im Olympischen Dorf) und „Stadt und Auto“ (über die Zukunft der autogerechten Stadt). 17  Die Projekte Brunswick Center, Alexander Road und Lillington Gardens in London sowie die Gebäude des Quartiers Park Hill in Sheffield wurden bereits unter Schutz gestellt. Vgl. Harwood, Elain: England. A guide to post-war listed buildings. London

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sind ähnliche Entwicklungen spürbar. In einer Publikation mit dem Titel „Brutalism. Post-war British Architecture.“ erläutert der Autor abschließend: „By studying and understanding Brutalism, by appreciating its place in our past, in spite of its appearance, at least some Brutalist buildings may live on as physical examples for future students and architects to learn from.”18 Es wird damit deutlich, dass auch unabhängig von den anstehenden Sanierungsmaßnahmen heute ein gestiegenes Interesse an den Architekturströmungen der 1960er/1970er Jahre zu verzeichnen ist und vermehrt der Ansatz vertreten wird, auch von dieser Epoche lernen zu können. Es kann in diesem Zusammenhang ebenfalls festgestellt werden, dass die kultur- und gesellschaftsrelevanten Aspekte der 1960er/1970er bereits in den 1990er Jahren thematisiert wurden,19 während die Architektur- und Städtebaudiskussion dieser Zeit jedoch erst seit einigen Jahren neue Aufmerksamkeit erfährt. In diesem Rahmen wird die vorliegende Forschungsarbeit einen Beitrag zum Architekturverständnis dieser Zeit liefern. Neben dem gestiegen Interesse sowohl an den Architektur- und Städtebauströmungen sowie kulturellen Aspekten der 1960er/1970er Jahre wird heute ebenso deutlich, dass verdichtetes, innerstädtischen und kollektives Wohnen mit Funktionsmischung und Freizeitmöglichkeiten vermehrt in den Fokus städtebaulicher Diskussionen rückt.20 Hier wird die Arbeit einen Beitrag leisten um aus den Erkenntnissen der 1970er Jahre für zukünftige Aufgaben lernen zu können. 2000. Das Olympisches Dorf in München steht, zusammen mit den Sportstätten, seit 2001 unter Ensembleschutz. 18  Clement, Alexander: Brutalism. Post-war British Architecture. Ramsbury 2011, S. 156. 19  Vgl. beispielhaft: Marwick, Arthur: British Society since 1945. London 1982/Dietz, Gabriele (Hrsg.): Klamm, Heimlich & Freunde: Die siebziger Jahre. Berlin 1987/Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Sechziger. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Düsseldorf/Wien/New York 1987/Hoffmann, Hilmer/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Kultur unseres Jahrhunderts 1970–1990, Düsseldorf/Wien/New York 1990/Sturm, Roland: Großbritannien. Wirtschaft-Gesellschaft-Politik. Opldaden 1991/Sieder, Reinhard/Steinert, Heinz /Tálos, Emmerich (Hrsg.): Österreich 1945– 1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Wien 1995/Caspers, Markus: 70er. Einmal Zukunft und zurück. Utopie und Alltag 1969–1977. Köln 1997. 20  Vgl. beispielsweise a+t ediciones (Hrsg.): Density projects. 36 new concepts on collective housing. Vitoria-Gasteiz 2007/db deutsche bauzeitung 01.2012 Schwerpunkt: Wohnkonzepte (Vgl. S. 17)/Teiler, Daniel: „Der Rückzug ins Private muss möglich sein.“ In: DBZ 5/2011, S. 54.

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Ähnlich wie der Begriff Komplexbebauung wird auch das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ in zeitgenössischen Publikationen mal als kontinuierliche Entwicklung des modernen Städtebaus angesehen, mal als Bruch oder Paradigmenwechsel im städtebaulichen Verständnis erkannt. In der Publikation „denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre. Wiederentdeckung einer Epoche.“21 (2007) wird diese Dualität deutlich: Während im Kapitel „Urbanität durch Dichte“ von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird, verdeutlicht der Titel der Publikation das Verständnis dieses Leitbildes als Teil der „Moderne“ und evoziert vorschnelle Assoziationen zu heute in die Kritik geratenen Großwohnsiedlungen. Grundlage der vorliegenden Untersuchung ist in diesen Zusammenhang die Annahme, dass das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ als eigenständige Entwicklung angesehen werden muss, um die spezifischen Qualitäten dieser Epoche erkennen zu können. Mit der Vermischung der bekannten Strukturen der Moderne (weitläufige Großwohnsiedlungen am Stadtrand) werden, so die These, nicht nur die entscheidenden Veränderungen negiert, sondern auch vorschnelle Schlüsse über die Qualitäten und Schwächen provoziert.22 Ein besonderes Forschungsinteresse wird der Thematik „Großwohnkomplex“ darüber hinaus dadurch zugeschrieben, dass, aufgrund der Positionierung in der Stadt, wirtschaftlicher Interessen und sicherheitsrelevanter Aspekte, ein öffentliches Interesse an der Aufwertung und dauerhaften Funktion dieser Gebäudestrukturen besteht. Ein Rückbau oder die vollständige Zerstörung von Großwohnkomplexen, die sich in Bezug auf soziale Verhältnisse und die Bausubstanz negativ entwickelt haben, ist aufgrund der Eigentumsverhältnisse nahezu unmöglich. Es liegt demnach im vielfachen Interesse, einen Umgang mit den Gebäudetypologien der 1960er/1970er im Allgemeinen und anhand des spezifischen Beispiels Großwohnkomplex zu finden. Die vorliegende Arbeit, mit der Untersuchung der Qualitäten und gleichzeitig mit dem Aufzeigen von Schwächen dieser Gebäudestruktur, wird dazu einen Beitrag leisten. Großwohnkomplexe als ein spezifischer Stadtbaustein werden heute in unterschiedlichen städtebaulichen Situationen, jedoch insbesondere auch im Unterschied zwischen öffentlicher und bewohnerspezifischer Rezeption konträr wahr21  Vgl. Buttlar, Adrian von/Heuter, Christoph (Hrsg.): denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre. Wiederentdeckung einer Epoche. Berlin 2007. 22  In einer französischsprachigen Publikation über den Architekten Jean Renaudie (Architekt des Großwohnkomplexes „Zentrum von Ivry sur Seine“, Paris) wird von einem „Gegen-Vorschlag“ zum Städtebau der „tours et barres“ gesprochen und damit an diese Stelle die Unterschiedlichkeit klar hervorgehoben.

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genommen. Grundsätzlich kann eine klare Unterscheidung zwischen einer negativ besetzten öffentlichen Meinung und einer hohen Bewohnerzufriedenheit konstatiert werden.23 Begründet wird dies, so eine weitere These dieser Arbeit, durch das mangelnde Verständnis für diese Gebäudestrukturen, die Vermischung dieser Gebäudestrukturen mit weiteren, in der Öffentlichkeit bereits negativ besetzten Typologien, durch die Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen heute und die „brutalistische“ und großmaßstäbliche Architektursprache, die ihre negative Rezeption bereits Mitte der 1970er Jahre erfuhr und noch heute als Synonym dieser vergangenen und „gescheiterten“ Epoche gilt. Es kann ebenso angenommen werden, dass die geringe Anzahl realisierter Großwohnkomplexe24 dazu geführt hat, dass sie als eigenständige Typologie bisher noch nicht untersucht wurden. Ebenso werden auch in fachspezifischen Publikationen, die sich mit Forschungsaspekten wie „Urbanität“, „nutzungsgemischte Stadt“ oder mit der Epoche der „sechziger Jahre“ auseinandersetzen Großwohnkomplexe als spezifischer, städtischer Baustein nicht erwähnt.25 Dieses mangelnde Wissen bedingt ein mangelndes Verständnis dieser Gebäudetypologie. 23  Vgl. beispielsweise N. N.: St. Peter. Schlechtes Image, zufriedene Bewohner. In: Wohnbau. Forschung. Diskussion. Dokumentation. 1981 Heft 5, S. 3ff. 24  Gemäß der erarbeiteten Definition können in Westeuropa zu diesem Zeitpunkt folgende Projekte der Typologie Großwohnkomplex zugeordnet werden: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße, Berlin/Ihmezentrum, Hannover/Lillington Gardens, London/Barbican, London/Brunswick Center, London/Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter/Olympisches Dorf, München/Zentrum von Ivry-sur-Seine, Paris. Es wird in Zukunft notwendig sein diese Liste mit passenden Projekten stetig zu erweitern da anzunehmen ist, dass zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund fehlender Dokumentation noch nicht alle Großwohnkomplexe gefunden werden konnten. 25  Thomas Wüst thematisiert in der Publikation „Urbanität“ zwar das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ als „missverstandener Schrecken“ und weist auf die funktionale Durchdringung und Verflechtung hin, die im Leitbild gefordert wurde, zeigt jedoch am Beispiel Osterholz-Tenever eine Großwohnsiedlung als städtebauliches Ergebnis dieser Epoche auf. Vgl. Wüst, Thomas: Urbanität. Ein Mythos und sein Potential. Dissertation. Wiesbaden 2004, S. 112ff/In der Publikation „Remix City“ wird im Kapitel über die Entwicklungen der „nutzungsgemischten Stadt“ in Europa die Zeit des Leitbilds der „Urbanität durch Dichte“ gar nicht thematisiert. Vgl. Bretschneider, Betül: Remix City. Nutzungsmischung: Ein Diskurs zu neuer Urbanität. Frankfurt am Main 2007, S. 43/In der Publikation „Architektur und Städtebau der sechziger Jahre“ werden Komplexbebauungstypen beschrieben. Großwohnkomplexe mit dem Schwerpunkt Wohnen und gleichzeitiger Nutzungsverflechtung werden nicht erwähnt. Viel-

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Mit der „negativ besetzten öffentlichen Meinung“ wird im Zusammenhang der Rezeption von Großwohnkomplexen eine von den Medien geprägte Meinung benannt. Schlagzeilen wie „Ende einer Geisterstadt. Freizeitstadt „Schwabylon“ wird zum Trümmerhaufen München“26 (Die Zeit 1978), „Das als zukunftsweisend gerühmte Objekt erweist sich als gigantische Fehlplanung“27 (Der Spiegel 1980) oder „So etwas wird keiner mehr bauen“28 (Der Spiegel 1982) bildeten schon früh eine negative Rezeption. Eine weitere „Welle“ negativer Schlagzeilen erfuhren viele Großwohnkomplexe in den letzten 20 Jahren. Anstehende Sanierungsmaßnahmen konnten aufgrund von Eigentümerverhältnissen (Vielzahl von Privateigentümern, die jeweils anteilig die Freiflächen und öffentlichen Wege besitzen) mit regulären Konzepten nicht finanziert werden. Schlagzeilen wie „Bauruine Ihme-Zentrum. Werden jetzt die Anlieger abkassiert?“29 (Bild 2009) oder „Olympiadorf-Bewohner sollen Millionen für Fuß- und Radwege zahlen.“30 (SZ 1997) stellen diese Schwierigkeiten drastisch dar. Auch Publikationen wie „Die Sechziger“31, in der im Rahmen einer Kulturdiskussion auch die Architektur dieser Zeit beschrieben wird, verstärken die negative Rezeption der Architektur der 1960er/1970er Jahre in der „öffentlichen“ Sicht. Die Autoren beschreiben die „Geschichte der Architektur dieses

mehr nennen die Autoren als Schwäche dieser Zeit insbesondere die mangelhafte Gestaltung des Wohnumfelds. Diese Aussage bezogen auf die Architektur von Großwohnkomplexen unter dem Aspekt des Leitbilds der Urbanität durch Dichte wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit widerlegt. Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Bonn 2003, S. 14ff. 26  N. N: Ende einer Geisterstadt. Freizeitstadt „Schwabylon“ wird zum Trümmerhaufen München. In: Die Zeit Ausgabe 25/1978 . 27  N. N.: Durchlöcherte Schlange. In: Der Spiegel Nr. 44/1980, S. 263 (zum Projekt „Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße“). 28  Brügge, Peter: So etwas wird keiner mehr bauen. In: Der Spiegel Nr. 31/1982, S. 142 (zum Projekt „Olympisches Dorf, München). 29  Meisenburg, Julia-M.: Bauruine Ihme-Zentrum. Werden jetzt die Anlieger abkassiert? In: bild.de 24.10.2009. 30  N. N.: Olympiadorf-Bewohner sollen Millionen für Fuß- und Radwege zahlen. Die große Angst vor den Sanierungskosten. Anlieger klagen vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gegen die Stadt In: Süddeutsche Zeitung 02.07.1997. 31  Vgl. Klotz, Heinrich: Architektur und Städtebau. Die Ökonomie triumphiert. In: Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Sechziger. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 133ff.

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Abb. 5: Sonnenring Siedlung/Märkisches Viertel/Neue Vahr

Quelle: Klotz, Heinrich: Architektur und Städtebau – Die Ökonomie triumphiert. In: Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Kultur unseres Jahrhunderts. Die Sechziger. Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 135/132/138

Jahrzehnts […] [als] das wohl schlimmste Kapitel der neueren Baugeschichte“32 und ordnen dieser Aussage Bilder der „Sonnenring Siedlung“ in Frankfurt (Fertigstellung zu Beginn der 1970er Jahre), des Märkischen Viertels (Bauzeit zwischen 1963 und 1974) und der „Neuen Vahr“ in Bremen (Fertigstellung 1962) ohne Differenzierung ihrer Aussagen über den zeitlichen Kontext des jeweiligen Projektes, zu. In den letzten Jahren werden vermehrt Artikel veröffentlicht, die, in Abkehr zu der lange geprägten Meinung über „unmenschlichen“ Städtebau, die Qualitäten und die Bewohnerzufriedenheit von Großwohnkomplexen und verwandten Gebäudestrukturen hervorheben.33 Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die Architektur- und Städtebauentwicklung der 1960er/ 1970er Jahre bisher eher im Allgemeinen und dadurch nur wenig differenziert oder im Speziellen nur selten anhand spezifischer Bau-

32  Ebd., S. 137. 33  Vgl. N. N.: Ehemaliges Athleten-Domizil von 1972 ist in 30 Jahren zum beliebten Familien-Quartier geworden. In: Süddeutsche Zeitung 15.07.2002/Seiß, Reinhard: Wohnsatellitenglück. In: DBZ 11/2006, S. 18/Kaune, Juliane: Ihme-Zentrum. Zwischen Idyll und Betonbaustelle. In: HAZ 26.07.09/Kopietz, Andreas: Die „Schlange“ zieht wieder Mieter an. Das Haus über der Autobahn, vor 20 Jahren eine bautechnische Revolution ist das Getto-Image los. Berliner Zeitung 02.06.2000 http:// www. berliner-zeitung.de / archiv / das – haus – ueber – der - autobahn – vor - 20-jahren – eine - bautechnische – revolution – ist – das - getto-image - los – die – schlange – zieht - wieder - mieter - an, 10810590, 9804420.html, 21.12.2012, 8:55, Seiß, Reinhard: Schaurig, aber gut. Wohnpark Alt Erlaa in Wien 1973–1985. In: Baumeister 6 2011, S. 72ff.

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steine erarbeitet wurde.34 An dieser Stelle wird die vorliegende Untersuchung anknüpfen, und einen spezifischen Aspekt dieser Entwicklung, nämlich den Großwohnkomplex als eigenständigen, städtischen Baustein, in den Architekturdiskurs etablieren. Dabei können Großwohnkomplexe, wie alle städtebaulichen und architektonischen Entwicklungen, nicht unabhängig vom Zeitgeist (Architektur, Städtebau, Gesellschaft) analysiert werden. In der vorliegenden Untersuchung wird aus diesem Grund vor der Analyse der spezifischen Fallbeispiele die architektonische und städtebauliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts in Westeuropa, die mit der Entwicklung von Großwohnkomplexen in Verbindung stehen, ausführlich wiedergegeben. Dabei werden insbesondere die Aspekte thematisiert, die die Entstehung von Großwohnkomplexen beeinflussten und heute ein differenzierteres Verständnis dieser städtebaulichen Typologie erlauben. Anhand eines Vortrags, den Regula Lüscher35 einleitend zu einem Symposium über Großwohnsiedlungen am 13.02.2012 in Berlin hielt, sollen die oben genannten Aspekte des Forschungsinteresses zusammengefasst werden. Regula Lüscher unterscheidet in ihrem Vortrag vier Typen von Großwohnsiedlungen. Dabei beschreibt sie neben anderen Typologien die „Hochhausensembles der 1970er-Jahre“36 und thematisiert die „monofunktionale[n, K.B.] Großsiedlungen“37 dieser Zeit. Damit spricht Regula Lüscher jedoch nur Teilaspekte der 1970er Jahre-Wohnbebauung an. Großwohnkomplexe in ihrer spezifischen Eigenart werden nicht thematisiert. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an, die den Großwohnkomplex als Stadtbaustein in die Diskussionen einbringt. Die These ist, dass mit dem Verständnis über die Qualitäten der Großwohnkomplexe auch andere Gebäudetypologien dieser Zeit aufgewertet werden können. Die Forderung von Regula Lüscher, der Frage nachzugehen, „Was macht diese Orte überhaupt städtisch?“38, wird anhand der vorliegenden Untersuchung am Beispiel „Großwohnkomplex“ aufgezeigt. Der Umgang mit dem öffentlichen Raum, zentrales Thema der vorliegenden Untersuchung, wird auch von Regula Lüscher gefordert und zusammen mit partizipatorischen Aspekten als besonders notwendig erkannt.39 34  Vgl. Kapitel „Forschungsstand“. 35  Senatsbaudirektorin aus Berlin, 2012. 36  Lüscher, Regula: Begrüßung. In: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Hrsg.): IBA-Symposium. Leben mit Weitsicht – Großwohnsiedlungen als Chance. Berlin 2012, S. 4. 37  Ebd., S. 4. 38  Ebd., S. 5. 39  Vgl. ebd., S. 5.

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F ORSCHUNGSDESIGN Zielsetzung, Fragestellung und Hypothesen Großwohnkomplexe wurden bisher weder als eigenständige städtebauliche Typologie erkannt, noch kategorisiert oder bewertet. Ein erster Schritt der Erkenntnisgewinnung wird es demnach im Rahmen der vorliegenden Untersuchung sein Großwohnkomplexe zu benennen, eine Definition und Abgrenzung zu verwandten Typologien aufzuzeigen und damit Großwohnkomplexe in den Diskurs über die Architektur und den Städtebau der 1960er/1970er Jahre zu etablieren. Ziel der Arbeit ist es im Folgenden, spezifische Qualitäten gebauter Großwohnkomplexe zu erforschen und als allgemeingültigere Potenziale zu veranschaulichen. Diese Potenziale im Sinne von Grundlagen oder Voraussetzungen für spezifische Qualitäten, besitzen Großwohnkomplexe noch heute. Die Analyse bietet damit die Möglichkeit, mithilfe der erarbeiteten Potenziale zum einen Handlungsfelder für den Umgang mit bestehenden Großwohnkomplexen aufzuzeigen und zum anderen Impulse für den Umgang mit zeitgenössischen Planungsaufgaben im urbanen Raum zu bieten. Die Untersuchung wird damit im Grunde unter der Fragestellung, welche Potenziale Großwohnkomplexe besitzen, erarbeitet. Diese Fragestellung wird in jedem Teil der Arbeit durch untergeordnete Fragestellungen ergänzt: Im ersten Kapitel wird geklärt, welches architektonische Wahrnehmungsverständnis und welches Verständnis der Begriffe Urbanität, Komplexität, Öffentlichkeit und Privatheit, als Leitbegriffe der Architektur und des Städtebaus der 1970er Jahre, dem Bau von Großwohnkomplexen zugrunde liegt. Im Anschluss wird auf unterschiedlichen Ebenen erarbeitet, was die theoretischen und geschichtlichen Grundlagen dieser Gebäudestruktur bildet. Im darauf folgenden Hauptforschungsteil wird die oben formulierte Hauptfragestellung anhand der Analyse von drei Fallstudien erarbeitet und im Schlussteil der Arbeit, unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus den vorangehenden Kapiteln, beantwortet. Die übergeordnete Hypothese der Untersuchung ist dabei, dass Großwohnkomplexe Potenziale besitzen und dass diese, transformiert und auf die jeweilige Situation angepasst, neue Qualitäten für künftige Wohnarchitektur im städtischen Kontext hervorrufen können. Grundlage dieser Hypothese ist die Feststellung, dass die Bewohnerzufriedenheit in Großwohnkomplexen noch heute hoch ist, obwohl die öffentliche Meinung ein eher negatives Bild von diesen Gebäudestrukturen besitzt.40 Dabei kann die Idee, viele Funktionen des täglichen Le40  Vgl. dies und das folgende mit dem Kapitel „Forschungsinteresse“.

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bens mit einer verdichteten Wohnstruktur zu verbinden, heute, insbesondere im Zusammenhang mit demografischen Wandlungsprozessen, als zukunftsfähig angesehen werden: Ältere Menschen, alleinerziehende Elternteile oder Singles profitieren im besonderen Maße von der „Stadt der kurzen Wege“ und der Gemeinschaft innerhalb eines Wohnkomplexes. Ebenso können Großwohnkomplexe, das wird die Analyse zeigen, eine Urbanität erzeugen, die andere Stadtmorphologien nicht entstehen lassen. Damit kann die Idee der Großwohnkomplexe, mit verdichteten Wohngebäuden und privaten Freiräumen, Nutzungsmischung und heterogen Bewohnerstrukturen, heute wieder als zukunftsweisend angesehen werden. Aufbau der Arbeit Die Untersuchung mit dem Titel „Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre“ wird in mehreren Schritten erarbeitet. Im Forschungshintergrund werden die für die Arbeit relevanten Begriffe im spezifischen Verständnis der 1970er Jahre erarbeitet und in einem Resümee in den thematischen Kontext der Arbeit gestellt. Im darauf folgenden Kapitel „Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild“, werden der gesellschaftliche Kontext, der geschichtliche Hintergrund und die bauliche Umsetzung unter dem Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ einen umfassenden Überblick über die architektonische und gesellschaftliche Situation der 1970er Jahre geben. Im Hauptforschungsteil der Arbeit, der Analyse von drei Fallbeispielen, werden in einem ersten Schritt, anhand einer umfassenden Analyse eines Fallbeispiels die spezifischen Qualitäten des Projekts erforscht, um in einem zweiten Schritt und im Vergleich mit den Qualitäten der weiteren Fallbeispiele, Potenziale von Großwohnkomplexen im Allgemeinen zu erkennen. In einem Schlusskapitel werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst, bewertet und darauf aufbauend in einem Ausblick weitere Forschungsfelder eröffnet. Innerhalb der Untersuchung wird demnach der Bogen von theoretischen Aspekten über spezifische Fallbeispiele hin zu deren Qualitäten und in der Abstraktion zu Potenzialen geschlagen. Die theoretischen Aspekte, die die ersten Teile der Arbeit prägen, werden dabei im Verlauf der Arbeit zunehmend von praxisrelevanten Ansätzen abgelöst. Methode Die Untersuchung ist von einer linearen Struktur geprägt. Die Kapitel bauen inhaltlich, der Reihenfolge entsprechend, aufeinander auf. Alle Kapitel sind über

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diese klare Struktur hinaus von Exkursen unterbrochen, die jeweils ein ergänzendes Thema inhaltlich differenzierter aufzeigen. Dabei wird in den Exkursen als kurze Ergänzung ein thematisch angrenzender Aspekt näher erläutert oder vertiefende und ergänzende Informationen gegeben und Interviews mit Zeitzeugen, Architekten oder Bewohnern von Großwohnkomplexen integriert. Die Exkurse eröffnen damit neue Erkenntnisse, erweitern das jeweilige Themenfeld und bilden auch subjektiv eingefärbte, persönliche Sichtweisen und Gedanken zum Thema ab. Jeweils als Abschluss der Kapitel der ersten und zweiten Gliederungsebene werden Zusammenfassungen erarbeitet und Resümees gezogen. Während dabei in den Zusammenfassungen die wichtigsten Aspekte des Kapitels noch einmal herausgearbeitet werden, liegt der inhaltliche Schwerpunkt der Resümees in der Einordnung der Erkenntnisse in den Gesamtforschungskontext der Arbeit. Kapitel „Forschungshintergrund“ Der erste Teil der Arbeit, der Forschungshintergrund, wird methodisch mithilfe einer Quellen- und Literaturrecherche erarbeitet. Dabei wurden die Kapitel inhaltlich nach Begriffspaarungen strukturiert und sind von Forschungsergebnissen, Tendenzen und Stichworten, die das Verständnis dieser Begriffe im Kontext der 1970er Jahre widerspiegeln, geprägt. Abschließend werden die Erkenntnisse in einem Resümee interpretiert und in den Zusammenhang der Forschungsarbeit eingebettet. Kapitel „Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild“ Der an den „Forschungshintergrund“ anschließende Teil der Arbeit, das Kapitel mit der Überschrift „Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild“, basiert primär auf Quellenrecherchen, wird darüber hinaus jedoch durch die beschriebenen Exkurse vervollständigt. Die methodische Mischung aus Quellenrecherche und Leitfadeninterviews in diesem Kapitel hat das Ziel, dass sich der Forscher und Leser durch die Analyse unterschiedlicher Sichtweisen aus der Entstehungszeit und heute von einer eingeschränkten, zeitgenössischen Sichtweise lösen kann. Das Verstehen von Hintergründen, Zielen, Anforderungen und dem Zeitgeist, in deren Kontext Großwohnkomplexe entstanden, kann zu einer Objektivierung der persönlichen Sichtweise führen.41

41  Vgl. Kapitel „Forschungshintergrund“ und darin (psychologischer) Ästhetikbegriff: Subjektive Wahrnehmungsprägung des Menschen durch seine persönliche Erfahrungswelt.

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Unter dem Stichwort „reflektiertes Zurücktreten“ werden die Grundlagen (gesellschaftliche Situation sowie architektonischer und städtebaulicher „Zeitgeist“) anhand von Interviews und Gesprächen erarbeitet. Sie ermöglichen in einem späteren Schritt eine objektivere Bewertung der Qualitäten. Diese Kapitel werden erkenntnisorientiert erarbeitet, sodass sie abgeschlossene Untereinheiten zu einem Themenkomplex bilden und Verknüpfungen, Rückschlüsse, Teilergebnisse und Interpretationen zulassen. Für die Befragungen in diesem Kapitel, jedoch vorausblickend auch für die Befragungen während der Analyse der Fallbeispiele, wurde das „qualitativoffene Verfahren“ gewählt und die Interviews oder Gespräche wurden als „faceto-face“, also als persönliche Befragungen oder als Gruppengespräche durchgeführt. Die Methode der Leitfadeninterviews stellt in dieser Arbeit für die individuellen Befragungen ein angemessenes Verfahren dar, da der Interviewende die Struktur des Interviews durch seine Fragen zwar vorgibt, jedoch keine standardisierten Antwortmöglichkeiten aufzeigt42 und somit neue Erkenntnisse im Gesprächsverlauf zulässt. Die Ergebnisse der Gespräche werden auf ihren architektonischen und städtebaulichen Gehalt untersucht, mittels qualitativer Inhaltsanalyse strukturiert und anschließend hermeneutisch interpretiert, um somit die Analyse der baulichen Strukturen zu ergänzen. Kapitel „Fallstudien: München, London, Graz“ Die folgenden Kapitel, die Kategorisierung von Großwohnkomplexen, die Erarbeitung der forschungsleitenden Thesen sowie die Analyse von Fallbeispielen und die Auswertung und Bewertung der Ergebnisse, werden als Hauptforschungsteil der Arbeit angesehen. Die Forschungen werden als qualitative Forschung mithilfe von drei Fallstudien durchgeführt. Aufgrund der Entscheidung mehrere Fallbeispiele zu untersuchen, entspricht der Forschungsteil einem „multiple-case design“.43 Um den unterschiedlichen Typen von Großwohnkomplexen in ihrer Individualität gerecht zu werden, wird nicht eine standardisierte und linear ablaufende quantitative Forschungsmethode gewählt, sondern die Untersuchung mithilfe der qualitativen Methode durchgeführt. Entsprechend dem Vorgehen in qualitativen Forschungsprozessen werden die forschungsleitenden Thesen anhand der Fallbeispiele überprüft und möglicherweise verändert, sodass

42  Vgl. Scholl, Armin: Die Befragung. Konstanz 2003, zweite überarbeitete Auflage: Konstanz 2009, S. 10f. 43  Vgl. Yin, Robert: Case Study Research. Newbury Park 1989, 4. Auflage: Thousand Oaks 2009, S. 46ff.

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Abb. 6: Fallbeispiele – Brunswick Center, London/Olympisches Dorf, München/Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter

Quelle: Privatarchiv

ein weiterer Forschungsdurchlauf mit neu definierten Parametern möglich ist oder das Forschungsfeld durch neue Erkenntnisse ergänzt wird. Die grundlegende Hypothese der Arbeit, dass Großwohnkomplexe Qualitäten besitzen, die, in die heutige Zeit transformiert und angepasst, Antworten auf zeitgenössische, städtebauliche Fragen geben können, muss im Laufe der Forschung durch spezifischere Hypothesen untermauert und belegt werden. Thomas Brüsemeister schreibt dazu in seinem Buch über qualitative Forschung: „Ohne feste Hypothese zu besitzen, die man überprüfen könnte, müssen sich qualitative ForscherInnen in ein Untersuchungsfeld begeben. Dort müssen sie sich von Entdeckungen überraschen lassen, die sie auf der Basis von Beobachtungen, Interviews oder Dokumenten machen. Zentrale Stichworte sind das „Prinzip der Offenheit“ und „Sensibilisierung“. […] Es gibt allenfalls vage Untersuchungshypothesen, welche die ForscherInnen in eine ungefähre Richtung lenken. Man befindet sich bildlich gesehen im Dschungel einer fremden Subkultur.“44 Die qualitative Forschungsmethode bietet also für die vorliegende Forschungsarbeit den Vorteil, dass von der Gesamtheit abweichende Einzelfallergebnisse als Kontrast in die Untersuchung einfließen können, ohne von den statistischen Werten überlagert zu werden. Der Einzelfall, hier die Untersuchung eines Großwohnkomplexes, wird demnach in sich geschlossen durchgeführt und erst im Anschluss in Bezug zum größeren Kontext im Hinblick auf die Gesamttheorie gesetzt.45 Jedes der drei Fallbeispiele wird anhand von zwei Analyseebenen, die nacheinander ablaufen und inhaltlich aufeinander aufbauen, untersucht. In einem ersten Schritt wird das Fallbeispiel mithilfe von Literaturrecherchen und Bildern beschrieben und charakterisiert. Im Anschluss wird das gewählte Beispiel vor Ort anhand vorher festgelegter, für alle Fallstudien im Grunde gleicher Metho44  Brüsemeister, Thomas: Qualitative Forschung. Wiesbaden 2008, S. 23f. 45  Vgl. ebd., S. 19ff.

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den analysiert. Dabei werden die gefundenen Entwurfsmerkmale in Bezug zum „Leben im Großwohnkomplex“ gesetzt. Ergänzend werden Gespräche mit Experten wie Bürgerinitiativen, Architekten und Bewohnern geführt, die einen weiteren Einblick in die heutige Nutzung der Großwohnkomplexe geben. Durch die schrittweise Erarbeitung der Ergebnisse unter Zuhilfenahme der Überlagerung von Entwurfsmerkmalen aus der Entstehungszeit und der heutigen Nutzung der Großwohnkomplexe, können die erkannten Qualitäten als „vom zeitlichen Kontext gelöst“ angesehen werden. Experteninterviews Im Kontext der qualitativen Forschungsarbeit wurden im Rahmen der Erarbeitung des Hintergrundwissens Interviews mit unterschiedlichen „Experten“ und anhand eines thematischen Leitfadens geführt. Ohne festgelegte Fragestellungen oder vorgegebene Antwortmöglichkeiten ergab sich die Möglichkeit, über die konkreten Fragestellungen der Forscherin hinaus Informationen über das Leben im Großwohnkomplex und Hintergrundinformationen über die Planungsprozesse zu erhalten. Die face-to-face-Gespräche hatten narrativen Charakter, wobei die Interviewpartner frei sprachen und auf eingeworfene Fragestellungen reagierten. Der Gesprächsleitfaden wurde dabei individuell angepasst und in den unterschiedlichen Interviews somit verschiedene thematische Schwerpunkte gesetzt. Als Interviewpartner standen Monika Großmann, Bewohnerin des Ihmezentrums in Hannover und Vorsitzende der Bürgerinitiative BLIZ (Bürgerinitiative Linden-Ihme-Zentrum) sowie Wolf Bertelsmann, Architekt der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße zur Verfügung. Im Rahmen der Fallbeispiele wurden Barbara Wohn, Bewohnerin des Olympischen Dorfes, Monika Mühlenbeck-Krausen, ebenfalls Bewohnerin des Olympischen Dorfes, Manuela FeeseZolonitski, Mitglied der Einwohner-Interessen-Gemeinschaft des Olympischen Dorfes, Stefan Goedeckemeyer, Bewohner und am Bau des Olympischen Dorfes beteiligter Architekt, Stuart Tappin, Vorsitzender der Interessengemeinschaft des Brunswick Centers und Eugen Gross sowie Hermann Pichler, Architekten der Werkgruppe Graz und Planer der Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter sowie Dr. Johann Theurl, Bewohner der Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter interviewt. Die Experteninterviews spiegeln die subjektive Meinung der Gesprächspartner wider. Bei der Auswahl der Gesprächspartner wurde jedoch im Vorfeld Wert darauf gelegt, dass ein grundsätzliches Verständnis für Architektur und Städtebau, insbesondere der 1960er/1970er Jahre vorliegt. Dies ist nicht nur bei den Architekten dieser Zeit klar erkennbar, sondern gleichzeitig bei den Bewohner der Großwohnkomplexe, die sich in Interessengemeinschaften engagieren

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und ein grundsätzliches Verständnis der gebauten Umgebung und der Verortung des Großwohnkomplexes in der Architekturgeschichte besitzen. Generierung von Ergebnissen Im Anschluss an die individuelle Analyse aller Großwohnkomplexe werden die gefundenen Qualitäten der Fallbeispiele in einer vergleichenden Analyse gegenübergestellt und übergeordnete Aussagen zu den Potenzialen von Großwohnkomplexen gesucht. Die Struktur der Generierung von Ergebnissen kann wie folgt dargestellt werden: Aus der Analyse des Fallbeispiels heraus ergeben sich fallspezifische Qualitäten, die in einem weiteren Schritt, unter Einbezug der anderen Fallbeispiele, zu Potenzialen abstrahiert werden. Diese Potenziale bieten „Möglichkeiten“, bestimmte Qualitäten in Großwohnkomplexen zu erzeugen, wenn sie richtig angewendet werden. In einem letzten Schritt werden diese Potenziale anhand weiterer Großwohnkomplexe und verwandter Gebäudetypologien bzw. Stadtstrukturen untersucht, um ggfs. vorhandene Schwächen aufzuzeigen und die Potenziale bzw. Qualitäten von spezifischen Großwohnkomplexen zu verdeutlichen und zu verifizieren. In allen Stadien der Untersuchung wird, gemäß des Ansatzes der qualitativen Forschung, die „Gegenstandsangemessenheit“ eine zentrale Bedeutung einnehmen. Die gesammelten Daten dürfen dabei nicht Theorien untergeordnet werden, sondern die Methoden sind dem Forschungsgegenstand jeweils anzupassen.46 Übergeordnete Forschungsmethode Die vorgestellte, mehrgliedrige Methode, anhand fachlichen Hintergrundwissens, der Analyse von Plänen und Aufzeichnungen sowie, in einem zweiten Schritt anhand einer vor-Ort-Analyse Qualitäten bestehender Projekte zu analysieren, um diese in vergleichenden Analysen mit weiteren Fallbeispielen in allgemeingültigere Potenziale zu transformieren, kann auch auf andere architektonische Situationen angewendet werden. Damit eröffnet die vorliegende Untersuchung eine neue architektonische Forschungsmethode im Kontext klassischer Fallstudien. Ziel dieser Arbeit ist es demnach nicht nur, Großwohnkomplexe zu analysieren, zu verstehen und Hilfsmittel zu generieren, um verdichtete städtische Strukturen transformieren zu können oder neu zu planen, sondern darüber hinaus beispielhaft die vorgestellte, übergeordnete Forschungsmethode zu erproben. Im weiteren Sinne kann die Arbeit damit in den Kontext der Forschungen 46  Vgl. ebd., S. 28.

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über „Architekturästhetik“ nach Ralf Weber eingeordnet werden, der einleitend zur Publikation „Aesthetics and Architectural Composition“ sein Grundverständnis zur Architekturästhetik formuliert: Architekturästhetik ist nicht nur Teil des theoretischen Rahmens in welchem Architektur bewertet wird (Rezeptionsästhetik), sondern bildet gleichzeitig die Basis für Instrumente und Methoden Architektur zu gestalten (Produktionsästhetik).47 Gestaltung unterliegt demnach Theorien, Mustern und Modellen, die in der Retrospektive analysiert werden können. Das Verständnis welche gestalterischen Entscheidungen zur Architekturtypologien geführt haben, die sich rückblickend auf lange Zeit bewährt haben, erscheint als eine zielführende Forschungsmethode. Im Rahmen dieser übergeordneten Forschung werden im Verlauf der Arbeit nicht nur die drei Fallstudien methodisch im Fokus stehen; es wird vielmehr innerhalb der Analysen, jedoch ebenso bereits in der Darstellung des Hintergrunds, ein Methodenmix entwickelt, der unterschiedlichste Erkenntnisebenen eröffnet und so Ergebnisse generiert, die über jene klassischer Fallstudien hinausgehen. Hier zeigt sich der innovative Gehalt des übergeordneten Forschungsansatzes. Eine Bewertung der Methode kann erst nach Abschluss der Untersuchung und in der praxisnahen Anwendung der Ergebnisse erfolgen. Die Methode kann jedoch ebenso auf weitere Forschungsfelder und Gebäudetypologien angewendet werden, um mit den Ergebnissen das persönliche „Archiv“ des Gestaltenden weiter zu vervollständigen.

Q UELLENLAGE

UND

F ORSCHUNGSSTAND

Im Folgenden werden zusammenfassend die Quellenlage und der Stand der Forschungen im thematischen Bereich der vorliegenden Untersuchung beschrieben. Dabei werden die wichtigsten Publikationen der Primär- und Sekundärliteratur aufgezeigt, ein vollständiges Literaturverzeichnis befindet sich im Anhang der Arbeit.

47  Vgl. Weber, Ralf: Aesthetics and Architectural Composition?! In: Weber, Ralf/Amann, Matthias Albrecht u. A. (Hrsg.): Aesthetics and Architectural Composition. Mammendorf 2005, S. 14.

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Quellenlage Im Allgemeinen ist die Quellenlage zu Architektur und Städtebau der 1960er/1970er Jahre als gut und differenziert einzuschätzen. Hervorzuheben sind dabei die Dokumentationen über Forschungsprojekte vor allem in Deutschland sowie eine Vielzahl von Publikationen, die das zeitgenössische Architekturgeschehen dokumentarisch wiedergeben und damit die Epoche gleichzeitig prägten. Diese Quellenlage ist auf der einen Seite auf die Verwissenschaftlichung von Planungsprozessen, der darin begründeten Initiierung von Forschungsvorhaben und deren Publikation zurückzuführen, auf der anderen Seite spiegeln diese Publikationen das gesellschaftliche Interesse an der Zukunft und einer „neuen“ Architektursprache dieser Zeit wider. Im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre entstand eine Reihe von Publikationen, die die neue Architektursprache dokumentarisch darstellen oder Teilaspekte betrachten. Die länderspezifischen Ausdifferenzierungen werden während der Analyse dieser Publikationen ebenso deutlich, wie die Entwicklung der Architektursprache in dieser Zeit.48 Auch Architekturzeitschriften wie „Baumeister“, „Bauen und Wohnen“ oder „Arch+“ spiegeln die Diskussionen der Zeit wider.49 Mithilfe dieser Publikationen kann der architektonische und städtebauliche Kontext der Entwicklung von Großwohnkomplexen aufgezeigt werden. Besonders hervorzuheben, dies wird die vorliegende Arbeit in Kapitel „Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild“ zeigen, sind die Entwicklungen in Großbritannien. Die Publikation „New Directions in British Architecture“ zeigt diese Entwicklungen auf und thematisiert nicht nur realisierte Objekte, sondern auch gleichwertig Projekte von utopischen Architektur- und Städtebauphantasien wie „Walking Cities“ oder „Plug-in-City“ (Jon Herron/Peter Cook 1964) bis zum Maßstab 48  Vgl. Spengelin, Friedrich: Menschengerechte Wohnungs- und Siedlungsformen. Stuttgart 1963/ Buchanan, Colin: Verkehr in Städten. Aus dem Englischen von Hinrich Lehmann-Grube. London 1963, deutsche Ausgabe: Essen 1964/Banham, Reyner: Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik? Stuttgart 1966/Besset, Maurice: Neue französische Architektur. Stuttgart 1967/Ragon, Michael: Ästhetik der zeitgenössischen Architektur, Neuchatel 1968/Joedicke, Jürgen: Moderne Architektur. Stuttgart 1969/Landau, Royston: New Directions in British Architecture. New York 1968/ Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976 /Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981. 49  Vgl. beispielhaft Baumeister 7/1969 „Wohnungsbau in Deutschland“/Bauen und Wohnen 3/1962 „Wohn- und Siedlungsbauten“/Arch + 4/1968 „Bedarfsplanung, Optimierungsmodelle, Entscheidungsverfahren“.

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vorfabrizierter Einzelgebäude wie der „Circular Tower“ von Warren Chalk 1964. In der Publikation „Megastructure“ von Reyner Banham werden 1976 erstmals komplexe realisierte und utopische Bebauungsstrukturen explizit thematisiert, zusammengetragen und chronologisch eingeordnet. Auch Großwohnkomplexe wie das Brunswick Center werden dargestellt und als „Megastructure“ benannt. Großwohnkomplexe bzw. Komplexbebauung als spezifischer Stadtbaustein und städtebauliches Planungsziel wurden explizit in einer Publikation von 1970 thematisiert. Unter dem Titel „Zur Diskussion: Innenstadt“ wurden am Beispiel Hannovers Entwicklungsgebiete konzentrisch am Rande der Innenstadt aufgezeigt, die mithilfe komplexer Bebauungsstrukturen eine hohe Attraktivität erreichen und die dazwischenliegenden Bereiche positiv beeinflussen sollten.50 Gleichzeitig wurden Projektdokumentationen oder -beschreibungen veröffentlicht, die die Planung, deren Grundlagen und die Realisierung von Großwohnkomplexen oder verwandten Gebäudestrukturen beschrieben.51 Dabei ist die projektbezogene Quellenlage, beispielsweise der untersuchten Fallbeispiele, durchaus unterschiedlich. Während das Projekt „Olympisches Dorf“ in München vielfältig dokumentiert wurde52, ist die Anzahl der Quellen zum Projekt „Terras-

50  Vgl. Landeshauptstadt Hannover (Hrsg.): Zur Diskussion: Innenstadt. Hannover 1970, S. 10. 51  Vgl. Ludmann, Harald/Riedel, Joachim: Neue Stadt Köln-Chorweiler. Stuttgart/Bern 1967/Adrian, Hanns/Adrian, Marianne/Zimmermann, Peter: Planung und Durchführung großer komplexer Bauvorhaben. In: Stadtbauwelt Heft 39, 1973/Deutsche Bauzeitschrift (Hrsg.): Verdichtete Wohnformen. Gütersloh 1974/Joedicke, Jürgen (Hrsg.): Toulouse le Mirail. Geburt einer neuen Stadt. Stuttgart 1975. 52  Vgl. N.N.: Bauten der Olympischen Spiele 1972 München. Stuttgart 1969/Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970/Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1972/N.N.: Olympia 72 Die neuen Sportstätten in 100 Bildern. München 1972.

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senhausiedlung Graz St. Peter“ gering.53 Auch das Brunswick Center in London wurde zur Planungs- und Bauzeit fachlich kaum dokumentiert.54 Als dritter Baustein dieser fallspezifischen Dokumentationen wurden in den 1960er/1970er Jahren personenbezogene Publikationen veröffentlicht, die (auto-) biografisch gebaute Werke oder spezifische Vorstellungen zukünftigen Städtebaus oder architektonisch-gesellschaftliche Zielvorstellungen von Architekten beschrieben.55 Insbesondere in den 1970er Jahren wurden Dokumentationen von Forschungsprojekten veröffentlicht, die im Laufe der 1960er Jahre initiiert wurden und Themenbereiche wie „städtebauliche Verdichtung“, neue Stadtbaukonzepte und Gebäudetypologien sowie die Planung und Durchführung von Demonstrativbauvorhaben behandelten.56 Gleichzeitig entstanden zusammenfassende Pub53  Vgl. Gross, Eugen: Brief an das Institut für Umweltforschung und Entwicklungsplanung 1973/Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen, Planen. Wien (Hrsg.): Demonstrativbauvorhaben Graz-St. Peter. Zusammenfassender Schlussbericht. Wien 1975. 54  Vgl. Barsley, Michael: The Changing Face of Bloomsbury. In: Evening Standard 3.5.1967/Crosby, Theo: Brunswick Center, Bloomsbury, London. In: Architectural Review. 10/1972. Vol. 152, Nr. 908. 55  Vgl. Weyl, Heinz: Stadtsanierung und neue Städte in England. Essen 1961/Schwangenscheidt, Walter: Die Nordweststadt. Stuttgart 1964/Karl Krämer Verlag (Hrsg.): Eckhard Schulze-Fielitz Stadtsysteme II. Stuttgart 1973/Dahinden, Justus: Akro-Polis Frei-Zeit-Stadt. Stuttgart 1974/Ragon, Michael: Wo leben wir morgen? Aus dem Französischen von Jörg Sellenriek. Paris 1963, deutsche Ausgabe: München 1967. 56  Vgl. Forschungsgesellschaft für den Wohnungsbau im ÖLAV (Hrsg.): Österreichische Richtlinien für Demonstrativ-Bauvorhaben. Wien 1964/Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Informationen aus der Praxis – für die Praxis. Bebauungspläne von Demonstrativmaßnahmen. Bonn-Bad Godesberg 1970/Severino, Renato: Totaler Raum. Quantität und Qualität im Bauen. München 1971/ Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Städtebauliche Forschung. Terrassierte Bauten in der Ebene: Beispiel Wohnhügel. Bonn 1973/ Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Städtebauliche Verdichtung. Dortmund 1975/Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Informationen aus der Praxis – für die Praxis. Praxis des Umgangs mit erhaltenswerter Bausubstanz. Bonn-Bad Godesberg 1975/Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Versuchsund Vergleichsbauten und Demonstrativmaßnahmen. Heidelberg Emmertsgrund. Planung unter sozialen Aspekten. Bonn – Bad Godesberg 1976/Institut für Landes- und

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likationen oder Veröffentlichungen von Vorträgen mit der Darstellung städtebaulicher Entwicklung, deren Leitbildern und daraus resultierenden Zukunftsaussichten sowie soziologische Forschungen zur Stadt.57 Mechthild Schumpp fasst dabei schon 1972 unter dem Titel „Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft“ die Entwicklung historischer Stadtutopien zusammen und erläutert „zeitgenössische städtebauliche Zukunftsmodelle“.58 Bereits in den 1960er Jahren und zu Beginn der 1970er Jahren entstanden weltweit kritische Publikationen zum Städtebau. Dazu gehören unter anderen Publikationen wie Jane Jacobs „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“, „Die gemordete Stadt“ von Elisabeth Niggemeyer und Wolf Siedler oder Alexander Mitscherlichs „Thesen zur Stadt der Zukunft“, die auf soziologischer Ebene das zeitgenössische Architekturgeschehen der 1960er Jahre beleuchteten.59 Zu Beginn der 1970er Jahre wurde eine Reihe von Publikationen veröfStadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Städtebauliche Verdichtung im Modellvergleich. Dortmund 1976/Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Städtebauliche Forschung. Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte. Bonn - Bad Godesberg 1976/Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Städtebauliche Verdichtung in Nordrhein-Westfalen. Dortmund 1977. 57  Vgl. Hillebrecht, Rudolf: Städtebau heute? – von Ebenezer Howard bis Jane Jacobs. Vortrag aus dem Jahr 1965. Tübingen 1966/Goffman, Erving: Verhalten in sozialen Situationen: Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh 1971/Becker, Heidede/Keim, K. Dieter: Wahrnehmung in der städtischen Umwelt – möglicher Impuls für kollektives Handeln. 1972, 4. Auflage mit kommentiertem Literatur Nachtrag: Berlin 1978/Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Stadt und Sozialstruktur. München 1974/ Atteslander, Peter: Dichte und Mischung der Bevölkerung. Raumrelevante Aspekte des Sozialverhaltens. Berlin/New York 1975/Jüngst, P./Pfomm, K./Poppinga, O./Schulze-Göbel, H. (Hrsg.): Wahrnehmung und Nutzung städtischer Umwelt. Kassel 1977/Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Zusammenhang von gebauter Umwelt und sozialem Verhalten im Wohn- und Wohnumweltbereich. Passau 1978. 58  Vgl. Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertationsschrift: Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft. Göttingen 1970, Gütersloh 1972. 59  Vgl. Jacobs, Jane: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Frankfurt am Main 1963/Siedler, Wolf Jobst/Niggemeyer, Elisabeth: Die gemordete Stadt. Abgesang auf

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fentlicht, die zukünftige gesellschaftliche, ökonomische und politische Entwicklungen thematisieren. Darin ist bereits ein Strukturwandel lesbar, der sich in den ersten Jahren der 1970er Jahre in Europa vollzog.60 Als Standardwerke, die die Fachdiskussionen nicht nur der 1960er/1970er Jahre geprägt haben, sondern gleichzeitig die Grundlagenwerke des fachlichtheoretischen Hintergrunds der vorliegenden Untersuchung bilden, können unter anderem die Publikationen von Kevin Lynch (1960), Hans Paul Bahrdt (1961), Robert Venturi (1966), Aldo Rossi (1966) oder Collin Rowe (1978) angesehen werden.61 Putte und Straße, Platz und Baum. Berlin/München 1964, zweite Auflage: Berlin/München 1978/Mitscherlich, Alexander: Thesen zur Stadt der Zukunft. Frankfurt am Main 1971/Die Neue Sammlung. Staatliches Museum für angewandte Kunst (Hrsg.): Profitopli$. München 1972/Forschungsstelle für Siedlungsgestaltung (Hrsg.): Rettet unsere Städte – Jetzt! Kiel 1972. 60  Vgl. Buchan, Alastair (Hrsg.): Europas Zukunft – Europas Alternativen: sechs Modelle für das Westeuropa der siebziger Jahre. London 1969, deutsche Ausgabe: Opladen 1969/Jürgensen, Harald: Märkte in der Entwicklung: Bauwirtschaft in den 1970er Jahren. Vortrag im Rahmen des Deutschen Stahlbautages Mainz. Köln 1972/Meadows, Dennis/Meadows Donella/Zahn, Erich/Milling, Peter: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Aus dem Amerikanischen von Hans-Dieter Heck. New York 1972, Stuttgart/Krämer, Hans R.: Die Europäische Gemeinschaft und die Ölkrise. Baden-Baden 1974 . 61  Vgl. Conrads, Ulrich (Hrsg.): Kevin Lynch. Das Bild der Stadt. Aus dem Amerikanischen von Korssakoff-Schröder, Henni/Michael, Richard. Cambridge 1960, deutsche Ausgabe: Berlin 1965/Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Reinbek 1961/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978/Rossi, Aldo: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen. Aus dem Italienischen von Arianna Giachi. Venedig 1966, Düsseldorf 1973/Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974/Krier, Rob: Stadtraum/Urban Space. Erstes Erscheinen in Deutsch 1975 als „Stadtraum in Theorie und Praxis an Beispielen der Innenstadt Stuttgarts“. Erschienen 1979 als „Urban Space“. Deutsche Neuauflage: Solingen 2005/Alexander, Christopher/Ishikawa, Sara/Silverstein, Murray: A Pattern Language. New York 1977/Arnheim, Rudolf: Die Dynamik der architektonischen Form. Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann. Berkley/Los Angeles/London 1977, deutsche Ausgabe: Köln 1980/Weber, Ralf: On the Aesthetics of Architecture. Adlershot 1995.

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Sekundärliteratur Architektur und Städtebau der 1960er/1970er Jahre rücken, das wurde bereits im Forschungsinteresse formuliert, seit einigen Jahren wieder in den Fokus von Öffentlichkeit und Forschung und begründen dabei ein umfangreiches Repertoire an Sekundärliteratur über diese Epoche. Bereits in den 1980er Jahren wurde eine kulturhistorische Diskussion angestoßen, die sich mit den 1960er/1970er Jahren als gesellschaftliche, kulturelle und politische Epoche in Europa auseinandersetzte. Diese Diskussion wird durch zahlreiche Publikationen zwischen 1980 und 2010 belegt.62 Architekturgeschichtliche Forschungen und Dokumentationen wurden seit Mitte der 1980er Jahre publiziert, wobei der Schwerpunkt in den ersten Jahren auf die allgemeine architekturgeschichtliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts gelegt wurde.63 Architektur- und Städtebaukonzepte sowie theorien der 1960er/1970er Jahren wurden erstmals im Jahr 1980 in der Fachzeitschrift „Bauwelt“ in einem thematischen Heft behandelt und 1995 durch Gerhard Boeddinghaus als eigenständige Epoche zusammenfassend analysiert und dokumentiert.64 Im Jahr 2011 wurde eine Publikation veröffentlicht, in der die Strömung des „Strukturalismus“ in Architektur und Städtebau in der ge62  Vgl. Marwick, Arthur: British Society since 1945. 4. Auflage. London 1982, London 2003/Dietz, Gabriele (Hrsg.): Klamm, Heimlich & Freunde: Die siebziger Jahre. Berlin 1987/Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Sechziger. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Düsseldorf/Wien/New York 1987/Hoffmann, Hilmer/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Kultur unseres Jahrhunderts 1970 – 1990, Düsseldorf/Wien/New York 1990/Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 60er Jahre. München 2003/Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn 2003/Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 70er Jahre. München 2004/Kastendiek, Hans/Sturm, Roland (Hrsg.): Länderbericht Großbritannien: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. 3. Aktualisierte und neu bearbeitete Auflage. Bonn 1994, Bonn 2006/Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008. 63  Vgl. Herlyn, Ulfert/Saldern, Adelheid von/Tessin, Wulf (Hrsg.): Neubausiedlungen der 20er und 60er Jahre. Ein historisch–soziologischer Vergleich. Frankfurt am Main 1987/Müller-Raemisch, Hans-Reiner: Leitbilder und Mythen in der Stadtplanung 1945-1985. Frankfurt am Main 1990. 64  Vgl. Urbanität durch Dichte – Die gescheiterte Hoffnung. Bauwelt 48, 76. Jahrgang 1985/ Boeddinghaus, Gerhard (Hrsg.): Gesellschaft durch Dichte. Kritische Initiativen zu einem neuen Leitbild für Planung und Städtebau 1963/1964. Braunschweig 1995.

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schichtlichen Entwicklung dargestellt und zeitgenössische „strukturalistische“ Entwurfsprozesse und Projekte aufgezeigt werden.65 Gebaute Projekte wurden in Fachzeitschriften ab den 1980er Jahren, in Publikationen seit den 1990er Jahren dokumentarisch-analytisch aufbereitet.66 Auch die Fallbeispiele in München, Graz und London wurden dokumentarisch aufgearbeitet oder in Form von Vorträgen thematisiert, wobei die Projektarchitekten oft Herausgeber der Publikation oder Vortragende waren und somit eine gute Dokumentation über Hintergründe, Planungsziele und Konzepte entstand.67 Artikel aus Fach- oder Tages- bzw. Wochenzeitungen vervollständigen die Sekundärliteratur zu den Forschungsobjekten.68 Mit der Publikation „Architektur und Städtebau der sechziger Jahre“ wurde 2003 vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz eine Publikation veröffentlicht, die die 1960er Jahre unter denkmalschutzrechtlichen Aspekten 65 Valena, Tomas/Avermaete, Tom/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Structuralism reloaded. Rule-based design in Architecture and Urbanism. London 2011. 66  Vgl. Hufnagel, Victor: Grosswohnhausanlage „Am Schöpfwerk“, Wien 12. In: Transparent, 1/2 1981/DEGEWO (Hrsg.): Autobahnüberbauung Berlin Schlangenbader Straße. Ein Bauvorhaben der DEGEWO. Berlin 1980/Seidel, Ernst/Bertelsmann, Wolf (Hrsg.): Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße: Vom Abenteuer, das Unmögliche zu wagen. Berlin 1990/Gleiniger, Andrea: Die Frankfurter Nordweststadt. Frankfurt/Main 1995/Heathcote, David: Barbican. Penthouse over the city. West Sussex 2004/Jacob, Brigitte/Schäche, Wolfgang (Hrsg.): 40 Jahre Märkisches Viertel. Berlin 2004/Risselada, Max/Seiß, Reinhard: Wohnsatellitenglück. In: DBZ Heft 11 2006a. 67  Vgl. Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980/Interview aus dem Jahr 2011 mit Eugen Gross. Durchgeführt im Rahmen eines Seminars an der TU Graz/Gross, Eugen: Wie beeinflusste der Strukturalismus die Grazer Schule der Architektur? Unveröffentlichter Vortrag im Rahmen eines Symposiums an der TU Graz 2010/Hodgkinson, Patrick: The Brunswick Project. Veröffentlichung im Rahmen einer Veranstaltung mit künstlerischen Interventionen im Brunswick Center 4.4.– 6.4.2003. 68  Vgl. Petzold, Peter: 10 Jahre Olympisches Dorf. In: der Architekt, 3/1983/Matzig, Buchholz, Sonja: Das nacholympische Dorf. In: db 2/88/Gerhard: Das olympische Dorf in München. In: Bauwelt 1993 Heft 38/N.N: Stadt hilft die Kosten der Sanierung schultern. In: Süddeutsche Zeitung, 04.11.2003/N.N.: … in die Jahre gekommen. In: db10 2001/Brügge, Peter: „So etwas wird keiner mehr bauen“. In: Der Spiegel 31/1982 /N.N.: Olympiadörfler sind keine Ehemaligen. In: Süddeutsche Zeitung, 26.06.2010/N.N.: Olympiadorf bleibt Olympiadorf. In: Süddeutsche Zeitung, 27.10.09/N.N.: St. Peter: Schlechtes Image, zufriedene Bewohner. In: Wohnbau, Heft 5, 1981.

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beleuchtet und den Anstoß für weitere Diskussionen, Vorträge und Publikationen zum Umgang mit dem „gebauten Erbe“ dieser Zeit gibt.69 Mit dem Forschungsschwerpunkt „Großwohnkomplex „ gliedert sich die vorliegende Untersuchung, in den Kontext weiterer Untersuchungen und Forschungsprojekte über Architektur und Städtebau der 1960er/1970er Jahre in Europa ein. Als Grundlage und als Verständnishintergrund gelten dabei die Untersuchungen von Birgit Wolter und Thomas Wüst, die sich mit der „Gestalt des städtischen Raumes“ oder dem Thema „Urbanität“ beschäftigten, jedoch den Fokus ihrer Arbeiten nicht explizit auf die Entwicklungen der 1960er/1970er Jahre legten.70 Als weitere Grundlagenwerke zur vorliegenden Untersuchung zählen unter anderem, „Raumsoziologie“ von Martina Löw, „Neue Urbanität“ von Hartmut Häussermann, „Die europäische Stadt. Mythos und Wirklichkeit“ von Dieter Hassenpflug oder die Publikation „Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild“ von Andrea Gleiniger und Georg Vrachilotis.71 Forschungsstand Seit dem Jahr 2000 werden vermehrt spezifische Themen der 1960er/1970er Jahre anhand von Forschungsprojekten oder im Rahmen von Veranstaltungen oder Ausstellungen erarbeitet.72 Auch Fachzeitschriften, das wurde bereits im 69  Vgl. Forschungsinteresse und Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Bonn 2003/Buttlar, Adrian von/Heuter, Christoph (Hrsg.): denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre. Wiederentdeckung einer Epoche. Berlin 2007/Hassler, Uta/Dumont dʼAyot, Catherine (Hrsg.): Bauten der Boomjahre. Paradoxien der Erhaltung. Zürich 2009. 70  Vgl. Wolter, Brigit: Die Gestalt des städtischen Raumes. Dissertation. Dresden 2006/Wüst, Thomas: Urbanität. Ein Mythos und sein Potential. Dissertation. Wiesbaden 2004. 71  Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001/Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter: Neue Urbanität. Frankfurt am Main 1987/Hassenpflug, Dieter (Hrsg.): Die Europäische Stadt. Mythos und Wirklichkeit. Münster 2000, zweite Auflage: 2002/Berking, Helmut/Löw, Martina (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden 2005/Meyer, Kurt: Von der Stadt zur urbanen Gesellschaft. München 2007/Gleininger, Andrea/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild. Basel/Boston/Berlin 2008. 72  Vgl. Fezer, Jesko (Hrsg.): Housing the street. Halbstarker Urbanismus des Team Ten ab 1953. Berlin 2001/ETH Bibliothek (Hrsg.): Mensch und Raum. Justus Dahinden. Stuttgart/Zürich 2005/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia

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Forschungsinteresse dokumentiert, widmen sich vermehrt diesem Thema.73 Insbesondere Untersuchungen über Architektur und Städtebau der 1960er/1970er Jahre sind im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit interessant, da darin spezifische Aspekte der Architektur und des Städtebaus der 1960er/1970er umfassend analysiert werden und so den thematischen Rahmen für die Untersuchung über Großwohnkomplexe bilden. Gleichzeitig entstanden Forschungsarbeiten, die sich mit Begriffen wie „Raum“, „Dichte“ oder „Struktureller Architektur“ auch, jedoch nicht nur im Kontext der 1960er71970er Jahre auseinandersetzen und damit einen Beitrag zum wissenschaftlichen Hintergrund der vorliegende Forschungsarbeit leisten.74 Besonderes Forschungsinteresse an der Epoche der 1960er/1970er Jahre scheinen die utopischen Architekturmodelle der 1960er/1970er Jahre zu wecken. So kann die Untersuchung von Thilo Hierig aus dem Jahr 1980 als eine der ersten wissenschaftlichen Forschungen zu den Architekturutopien der 1960er Jahre genannt werden.75 Auch Stephan Strauß beschäftigt sich mit einem spezifischen, utopischen Städtebaukonzept, der Raumstadt von Eckhard SchulzeFielitz.76 Seit dem Jahr 2000 wird in unterschiedlichen Orten weltweit eine Ausstellung über die Gruppe „Archigram“ präsentiert, die die Entwicklungen und Projekte der Gruppe zeigt.77 Eine zusammenfassende Darstellung vieler utopischer Projekte erschien 2008 anlässlich einer Ausstellung mit dem Titel „Megastructure reloaded“, die nicht nur zum Ziel hatte die Megastrukturprojekte der 1960er Jahre dokumentarisch aufzubereiten, sondern auf ihre „…Tauglichkeit

of the present. Rotterdam 2005/van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008/Clement, Alexander: Brutalism. Post-war British Architecture. Ramsbury 2011. 73  Vgl. Kapitel „Forschungsinteresse“. 74  Vgl. Agotai, Doris: Architekturen in Zelluloid. Der filmische Blick auf dem Raum. Bielefeld 2007 /Roskamm, Michael: Dichte. Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum. Bielefeld 2011/Warmburg, Joaquin Medina/Leopold, Cornelie (Hrsg.): Strukturelle Architektur. Zur Aktualität eines Denkens zwischen Technik und Ästhetik. Bielefeld 2012. 75  Vgl. Hierig, Thilo C.: Die utopischen Architekturmodelle der 60er Jahre. Dissertation. Düsseldorf 1980 . 76  Vgl. Strauß, Stephan: Eckhard Schulze-Fielitz und die Raumstadt. Dissertation. Dortmund 2005. 77  Vgl. http://www.archigram.net/ 21.12.2012, 7:40.

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und Anwendbarkeit für die städtebaulichen Probleme der Gegenwart“78 zu prüfen. Silke Langenberg fokussierte mit der Untersuchung „Bauten der Boomjahre“ nicht nur die allgemeinen Grundlagen dieser Zeit, sondern spezialisierte Ihre Forschung dann auf die in den 1960er/1970er Jahren entstandene Warenhausarchitektur und Hochschulbauten.79 Eine eher theoretisch orientierte Untersuchung veröffentlichte Michael Hecker 2007.80 Darin thematisiert der Autor den „Einfluss strukturalistischer Theorien auf die Entwicklung architektonischer und städtebaulicher Ordnungs- und Gestaltungsprinzipien in West-Deutschland im Zeitraum 1959–1975“ und eröffnet dabei die These, dass die Strukturdebatte zu einer „…neuen Denkweise, Ästhetik und Funktionalität in Architektur und Städtebau geführt […] [habe, K.B.], in der sich die zeitgenössischen Assoziationen und symbolischen Wertsetzungen widerspiegelten.“81 Mit der Publikation „Rückkehr der Wohnmaschine“ von Maren Harnach (2012) wird eine zeitgenössische Entwicklung von 1960er/1970er-JahreGebäuden thematisiert: Die Autorin beschreibt in der Publikation zu ihrer Untersuchung die gesellschaftliche Aufwertung großmaßstäblicher Gebäudeformen am Fallbeispiel London.82 Clare Melhuis veröffentlichte 2006 eine Untersuchung mit dem Titel „The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury“, worin der Großwohnkomplex Brunswick Center unter wahrnehmungsspezifischen Aspekten im Rahmen einer philosophisch-phänomenologischen Arbeit erläutert wird.83 Im Jahr 2013 wurde eine Dissertation veröffentlicht, die unter dem Titel „Das Olympische Dorf München. Planungsexperiment und Musterstadt der Moderne“ den Fokus auf die Planungsgeschichte und den Entwurfsprozess dieser Gebäudestruktur legt. Die Autorin Natalie Heger geht darin der Frage nach, „[...] inwiefern dem Olympischen Dorf in Bezug auf den Planungsprozess ein exempla-

78  van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 10. 79  Vgl. Langenberg, Silke: Bauten der Boomjahre. Architektonische Konzepte und Planungstheorien der 60er und 70er Jahre. Untersuchung. Dortmund 2006. 80  Vgl. Hecker, Michael: structurel I structural. Dissertation. Stuttgart 2007. 81  Ebd., S. 436f. 82  Vgl. Harnack, Maren: Rückkehr der Wohnmaschinen. Sozialer Wohnungsbau und Gentrifizierung in London. Veröffentlichung der Dissertationsschrift. Bielefeld 2012 83  Vgl. Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick. Veröffentlichung der Dissertationsschrift in abgewandelter Form. London 2006.

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rischer Stellenwert im zeitgeschichtlichen Kontext zugeschrieben werden kann.“84 Trotz des heute bereits hohen Grades an wissenschaftlicher Aufbereitung der Architektur und des Städtebaus der 1960er/1970er Jahre sowie der dazugehörigen kulturellen, politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen, wurde der „Großwohnkomplex“ als eigenständiges städtebauliches Objekt noch nicht Thema einer Forschungsarbeit. Es ist demnach Anliegen dieser Arbeit, „Großwohnkomplexe“ als städtebauliche Typologie in der Diskussion über den Städtebau der 1960er/1970er Jahre zu verankern, eine Kategorisierung der verschiedenen Ausformulierungen dieser Gebäudestruktur zu etablieren und die Qualitäten zu diskutieren. Damit wird sich die Untersuchung in die Reihe der Forschungen über spezifischen Aspekte der Architektur und des Städtebaus der 1960er/1970er Jahre einordnen und dieses Forschungsfeld um einen Mosaikstein ergänzen. Der übergeordnete Ansatz der Untersuchung, aus den gefunden Qualitäten Potenziale zu entwickeln, die später auf Großwohnkomplexe, verwandte Gebäudetypologien oder verdichte Bebauungsstrukturen im Allgemeinen angewendet werden können, stellt darüber hinaus einen neuen Forschungsansatz in der Architekturtheorie dar.

84 Heger, Natalie: Das Olympische Dorf München. Planungsexperiment und Musterstadt der Moderne. Veröffentlichung der Dissertationsschrift. Berlin 2014, S. 15.

Forschungshintergrund

Der im folgenden Kapitel dargestellte Forschungshintergrund wird das Verständnis für die in der vorliegenden Untersuchung notwendigen Grundbegriffe entwickeln. Das Kapitel ist methodisch von einer Literaturrecherche geprägt und wird die unterschiedlichen Diskursstränge anhand verschiedener Publikationen aufzeigen. Diskutiert werden im vorliegenden Kapitel die Begriffe „Ästhetik“ (im Diskurs der 1960er/1970er Jahre als Verständnishintergrund für die Gestaltung von Großwohnkomplexen und im Allgemeinen Verständnis als Interpretationshilfe der gewonnenen Erkenntnisse und der eigenen Wahrnehmung), die Begriffe Stadt und Urbanität (Stadt im soziologischen Verständnis der Bewohner im Stadtraum als Grundlage der Entwicklung von Großwohnkomplexen und Urbanität als das Ergebnis aktiven Bürgertums und als Leitbild in den 1960er/1970er Jahren), die Begriffe Komplexität und Struktur (Komplexität und Vielfältigkeit sowie Struktur als Gestaltungsmerkmale rückten in den 1960er/1970er Jahren wieder vermehrt in das Interesse von Planern) und Öffentlichkeit und Privatheit (als Pole gegenübergestellt oder in Überlagerung der Zonen wurde Öffentlichkeit und Privatheit in den 1960er/1970er Jahren neu diskutiert). Während der Begriff „Ästhetik“ mit den Unterbegriffen „Architektur-“ und „Stadtraumästhetik“ alleinstehend dargestellt wird, werden die Begriffe „Stadt und Urbanität“, „Komplexität und Struktur“ sowie „Öffentlichkeit und Privatheit“ als Begriffspaarungen diskutiert. Nach einer theoretischen Annäherung an die Begriffe „Ästhetik“ sowie „Stadt und Urbanität“ insbesondere im spezifischen Verständnis der 1960er/1970er Jahre, wird der Blick im Folgenden auf die architektonischen und städtebaulichen Diskussionen in den 1960er/1970er Jahren gerichtet. Dabei werden die Begriffe „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ im Kontext der Entstehungszeit von Großwohnkomplexen dargestellt und im Anschluss die Begriffspaarung „Komplexität“ und „Struktur“ anhand konkreter Entwicklungen in den 1960er/1970er Jahren erläutert. Eine inhaltlich exponierte Position nimmt im Kapitel des Forschungshintergrundes,

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entsprechend dem Titel der Untersuchung, der Begriff der „Urbanität“ ein, da der in den 1960er Jahren aufkommende Wunsch nach Urbanität die städtebaulichen Diskussionen dieser Zeit maßgeblich prägte. Ziel des Kapitels „Forschungshintergrund“ ist es, ein Verständnis für die theoretischen Grundlagen und Diskurse der genannten Begriffe aufzubauen. Dieser Verständnishintergrund wird es im Folgenden erlauben, nicht nur die Entstehung von Großwohnkomplexen in einen theoretischen Gesamtkontext einordnen zu können, sondern gleichzeitig die Ergebnisse der Arbeit in den Diskursfeldern und den architekturtheoretischen Zusammenhängen zu verorten. Einen Anspruch auf vollständige Darstellung aller Diskurse, Protagonisten und Ansätze, die die hier dargestellten Begriffe prägen, kann diesem Kapitel, aufgrund der oben beschrieben Ziele, jedoch nicht zugrunde gelegt werden. In einem Resümee werden die Erkenntnisse im Hinblick auf die Gesamtthematik der Untersuchung eingeordnet und ihre Relevanz für das Verständnis von Großwohnkomplexen zusammenfassend aufgezeigt.

ÄSTHETIK Der Begriff „Ästhetik“ wird im Folgenden, nach einer kurzen Diskussion über die Entstehung, vornehmlich im Verständniszusammenhang der 1960/1970er Jahre thematisiert. Dies wird Aufschluss darüber geben, in welchem Verständnis des Begriffes Großwohnkomplexe entstanden. Das Diskursfeld wird im Folgenden um die Unterbegriffe Raum, Architekturästhetik und Stadtraumästhetik erweitert, wobei diese wiederum nicht vornehmlich die Diskussionen der 1960/1970er Jahre widerspiegeln, sondern ein Verständnis für die Wahrnehmung und Bewertung von (Stadt-) Räumen eröffnen, das im Hauptforschungsteil der Arbeit, der Analyse der Fallbeispiele, angewendet werden kann. Im Jahre 1750 wurde von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) erstmals der Ästhetikbegriff und die damit in Verbindung stehenden Diskussion als wissenschaftlicher Zweig der Philosophie thematisiert. Baumgarten erarbeitete den Ästhetikbegriff als „die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis[...]“.1 Diese sinnliche Erkenntnis, die Baumgarten mit dem „phaenomenon“ gleichsetzt, wird am Maßstab der ästhetischen Wahrheit gemessen, ähnlich wie die

1

Schweizer, Hans Rudolf (Hrsg.): A.G. Baumgarten. Theoretische Ästhetik. Hamburg 1988, S. 3.

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Verstandserkenntnis nach Baumgarten an der logischen Richtigkeit gemessen werden kann. Zum Ende des 18. Jahrhunderts wendete sich durch Immanuel Kant (1724– 1804) das Verständnis des Ästhetikbegriffs zu einer Subjekt bezogen Betrachtungsweise: „…nicht die Dinge bedeuten etwas, das wir zu enträtseln hätten, sondern wir begreifen und „bedeuten“ die Dinge als Erscheinung.“2 Diese Wendung zum Subjekt begründete die Bewegung der psychologischen Ästhetik. Eduard von Hartmann (1842–1906) ging in diesem Verständnis noch weiter: Ästhetische Qualitäten könnten nicht Objekten zugeordnet werden, vielmehr seien die Qualitäten ausschließlich an subjektive Erscheinungen geknüpft.3 Eduard von Hartmann geht jedoch gleichzeitig davon aus, dass ein Objekt bei allen „normal organisierten Menschen“ die gleichen Empfindungen auslöst, sodass dadurch eine gewisse Objektivität entsteht. Im Verlauf des Ästhetikdiskurses des 20. Jahrhunderts werden diese gegensätzlichen Standpunkte weiterhin diskutiert, wobei unter anderem Theodor W. Adorno (1903–1969) eine Lösung dieses Streits aufzuzeigen versuchte. Für Adorno kann Ästhetik dabei weder „von oben“ (Subjektivität) noch „von unten“ (Erkenntnistheorie) verstanden werden: „Das Ästhetische konstituiere sich weder dadurch, daß [sic!] ein Äußeres auf ein Subjekt trifft, noch dadurch, daß [sic!] das Subjekt Äußeres vereinnahmt und assimiliert, sondern dadurch, daß [sic!]sich Objektives im Subjekt ereignet.“4 Damit grenzt er das Subjekt zwar nicht aus, ordnet es jedoch der Objektivität unter.5 Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommende Gestalttheorie begründet die Wahrnehmung als einen Zusammenhang, der mehr bedeutet als die Summe der wahrgenommenen Einzelteile. Der Betrachter eines Objekts erfasst dieses in 2 

Allesch, Christian G.: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Habilitationsschrift. Göttingen 1987, S. 201.

3 

Vgl. dies und das Folgende: Ebd., S. 269.

4 

Ebd., S. 451.

5 

Im Zusammenhang mit dieser Diskussion etablierten sich m 20. Jahrhundert die Begriffe „Produktionsästhetik“ und „Rezeptionsästhetik“. Die Rezeptionsästhetik bezieht sich dabei im Gegensatz zur produktiven Leistung („Schaffungsprozess und Gewordensein des Wirklichen selbst“ Egenhofer, Sebastian: Produktionsästhetik. Zürich 2010, S. 7) auf die rezeptive Leistung und wird mit einem „Erwartungshorizont“ beschrieben, den, nach Hans Robert Jauss, jeder (Betrachter eines Kunstwerks und jeder Leser von Literatur) individuell besitzt und der damit die Betrachtung hermeneutisch beeinflusst. (Vgl. Allesch, Christian G.: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Habilitationsschrift.Göttingen 1987, S. 463).

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seiner Ganzheit. Erich Jeansch und Lasloz Grünhut erläutern spezifischer: „…denn das Primäre sind nicht die einzelnen Striche [...] aus denen sich sekundär ein Ganzes aufbaut, sondern wir erleben ursprünglich das Ganze [...] aus denen wir nur durch mühsame Entwicklung der Analyse Elemente herauslösen können.“6 Daraus ergibt sich, dass je besser der Wahrnehmende Einzelteile durch ihre Struktur zu einem Ganzen zusammenfassen kann, desto komplexer können bei gleicher Wahrnehmungsanstrengung die Einzelteile sein.7 Im städtebaulichen Kontext erläutert Birgit Wolter 2006 den Begriff der Gestalt als „…die Zusammenfassung der Elemente auf der Basis eines Strukturprinzips…“8 und erklärt weiter: „Die Eigenart der Teile und ihrer Verbindung sowie die Besonderheit des Entstehungsprozesses verleihen der Gestalt ihre Identität und beeinflussen gleichzeitig die Wirkung der gestaltbildenden Elemente. Eine Stadt kann eine solche eigenständige Gestalt darstellen.“9 Im Kontext dieser Gestalttheorie, können Rudolf Arnheims (1904–2007) Gedanken im architekturästhetischen Diskurs als wegweisend angesehen werden wobei Arnheim wiederum von seinen Vorgängern und Lehrern Max Wertheimer (1880–1943) und Kurt Koffka (1886–1941) sowie seinen Zeitgenossen Jean Piaget (1896–1980) und James Jerome Gibson (1904–1979) geprägt wurde. In seinem Buch „Die Dynamik der architektonischen Form“ schlägt Arnheim den Bogen zur Architekturwahrnehmung und versucht unter anderem anhand von gebauten Beispielen, wahrnehmungsrelevante Parameter aus ihrem sozialen, gesellschaftlichen und individuellen Kontext zu lösen und die „…allgemeingültige Grundlage der menschlichen Wahrnehmung…“10 zu erforschen, um in einem zweiten Schritt anzufangen zu verstehen, „…was unter besonderen Umständen aus ihnen wird.“11 Näher wird auf die spezifische Betrachtung der Architekturästhetik Arnheims im gleichnamigen Abschnitt dieses Kapitels eingegangen.

6 

Grünhut, Lasloz: Über Gestaltpsychologie und Gestalttheorie in: Jaensch, Erich / Grünhut, Lasloz: Über Gestaltpsychologie und Gestalttheorie. Langensalza 1929, S. 101.

7 

Vgl. zu den Begriffen Struktur und Komplexität das Kapitel „Komplexität und Struk-

8 

Wolter, Brigit: Die Gestalt des städtischen Raumes. Dissertation. Dresden 2006, S. 33

9 

Ebd., S. 33.

tur“.

10  Arnheim, Rudolf: Die Dynamik der architektonischen Form. Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann. Berkley/Los Angeles/London 1977, deutsche Ausgabe: Köln 1980, S. 12. 11  Ebd., S. 12.

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Psychologische Ästhetik bedeutet nach dem Verständnis der genannten Forscher und Praktiker also das Verhältnis von Subjekt zu Objekt und unterliegt dem Verständnis, dass das Objekt seinen Sinn verliert, sobald man es von der Subjektivität des Wahrnehmenden trennt. Neben diesem Verständnis von der Wechselwirkung zwischen Objekt und Subjekt ist für diese Untersuchung ebenso die soziologische Perspektive relevant, wobei deutlich wird, dass die Wahrnehmung immer kulturell und durch gesellschaftliche Konventionen geprägt ist: Jeder Mensch erfährt seine Umwelt immer symbolisch, was dem Wahrgenommenen Sinn und Bedeutung verleiht. Der Ästhetikdiskurs im zeitlichen Kontext der Großwohnkomplexe Während einleitend die chronologische Entwicklung des Ästehtikdiskurses kurz aufgezeigt wurde, wird nun der Begriff im zeitlichen Kontext der 1960er/1970er Jahre diskutiert. Es wird deutlich, dass in dieser Zeit der Begriff pragmatischer interpretiert wurde und oftmals technische Möglichkeiten und starke Leitbilder das Diskussionsfeld bestimmten. Der nun folgende Abschnitt soll demnach vielmehr aufzeigen, in welchem Verständnis von Ästhetik Großwohnkomplexe entstanden, als weitere chronologische Entwicklungen darzulegen. Ein im Jahr 1977 veröffentlichter Artikel in der Zeitschrift „Ekistics“ erläutert die Grundlage ästhetischen Empfindens und die Verarbeitung visueller Informationen im menschlichen Gehirn im Kontext der Wahrnehmung von Architektur und Stadt. So beschreibt der Autor drei Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmechanismen: die emotional-biologisch geleitete Wahrnehmung und die bewusste Wahrnehmung, wobei die bewusste Wahrnehmung in rechter und linker Gehirnhälfte unterschieden wird.12 Die linke Hirnhälfte sei dabei dafür zuständig, viele Detailinformationen der Wahrnehmung in interne Modelle und Schemen zu vereinfachen. Die rechte Gehirnhälfte sei für das ganzheitliche Bewusstsein zuständig, was der Autor mit dem Phänomen, dass das Ganze wesentlich bedeutungsvoller ist, als die Summe der Einzelteile, also der Gestalttheorie, gleichsetzt. Der dritte Mechanismus dagegen läge abseits des Bewusstseins und wird mit „basic instinct“ umschrieben wobei die Wahrnehmungsimpulse direkt im Zentrum für Stimmung und Verhalten Reaktionen hervorrufen können. Hier, so der Autor, werde die Wahrnehmung symbolhaft interpretiert während das Bewusstsein eher nach Mustern und Rhythmus in der Architektur sucht. 12  Vgl. dies und das Folgende: Smith, Peter F.: Esthetics in cities. In: Ekistics 265 1977, S. 301ff.

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Deutlich macht der Autor jedoch abschließend, wie stark, ob bewusst oder unbewusst Architektur auf den Menschen wirkt: „Architecture is the one unavoidable art. It can be enriching, even therapeutic, or it can be enormously destructive. At least we should be aware if the dimensions of the responsibilities we shoulder when we decide to be architects or planners or administrators.”13 Erkenntnisse wie diese über die Wahrnehmungsmechanismen im menschlichen Hirn führten in den 1960er/1970er Jahren nicht nur in Architektur und Städtebau zu einem umfassenderen wissenschaftlichen Verständnis über Wahrnehmungsaspekte. Außerdem stellt Jürgen Hasse in seinem Buch „Die Wunden der Stadt. Für eine neue Ästhetik unserer Städte“ rückblickend fest, dass in den 1960er – 1980er Jahren in vielen westlichen Industrienationen, wie auch in Deutschland, die Ingenieure die Architekten verdrängten. „Die Dominanz der Technik über die kreative Gestaltung impliziert kein ästhetisches, sondern ein funktionalistisches Verhältnis zur Planung menschlicher Lebensräume.“14 Ähnlich empfindet Arnheim, wenn er einführend zur Publikation „Die Dynamik der architektonischen Form“ erläutert, dass Architekten, Fachleute, Lehrer und Studenten „…von einer aktiven Auseinandersetzung mit der künstlerischen Formgebung wenig hielten oder sie gar als eine nutzlose Ablenkung von den schwerwiegenden sozialen Verpflichtungen des Architekten herunterspielten.“15 Ebendiese Tendenz zur Verwissenschaftlichung von Planungs- und Gestaltungsprozessen im Hinblick auf die Entwicklung der Stadt kritisiert gleichzeitig Sibyl Moholy-Nagy in der Publikation „Die Stadt als Schicksal“ von 1968. „Städte regieren sich selbst gemäß ungeschriebener Übereinkommen, die auf Vielfältigkeit, Gegensätzlichkeit, Traditionsbewusstsein, Fortschrittlichkeit und uneingeschränkter Duldung persönlicher Werte basieren. Es ist der unabänderliche Charakter der Wissenschaft, dass sie spezialisiert, abgrenzend, wertindifferent und rein quantitativ sein muss. Mit einer erstaunlichen Neigung zu widersinnigen Vergleichen versuchen wir qualitative Probleme der städtischen Gesellschaft mit quantitativen Statistiken zu lösen.“16 13  Ebd., S. 306. 14  Hasse, Jürgen: Die Wunden der Stadt. Für eine neue Ästhetik unserer Städte. Wien 2000, S. 23. 15  Arnheim, Rudolf: Die Dynamik der architektonischen Form. Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann. Berkley/Los Angeles/London 1977, deutsche Ausgabe: Köln 1980, S. 9. 16  Moholy-Nagy, Sibyl: Die Stadt als Schicksal. Geschichte der urbanen Welt. Aus dem Amerikanischen von Sibyl Moholy-Nagy. New York 1968, deutsche Ausgabe: München 1970, S. 10.

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Der zu Beginn der 1960er Jahre im selben Kontext aufkommende Wunsch nach ehrlichem Einsatz echter Materialien wie Stahl, Glas und Beton wurde unter anderem aus Großbritannien kommend unter dem Namen „Brutalismus“ umgesetzt. 1966 veröffentlichte Reyner Banham eine Publikation mit dem Titel „Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik?“ und beschreibt darin die Entstehung und bauliche Umsetzung dieser Architektur-Strömung. Dass im Titel dieser Publikation der Ästhetikbegriff aufgegriffen und in den Gegensatz zu Ethik gestellt wird erscheint ungewöhnlich, insbesondere dadurch, dass im Textbeitrag auf diesen Titel abgesehen von einer Randbemerkung nicht eingegangen wird. Es wird jedoch in weiteren Publikationen deutlich, dass die Begründer des „Brutalismus“ argumentierten, dass es sich bei ihrem Architekturverständnis vielmehr um eine Ethik als um Ästhetik handele, womit sie ein Programm oder eine Einstellung verdeutlichen wollten. Dadurch wird für den Begriff der Ästhetik deutlich, dass er in diesem Verständnis im Diskursfeld des „Schönheitsbegriffs“ verstanden wurde und, da er als Gegenpol zur einer Ethik dargestellt wird, die in diesem Zusammenhang eine architektonische Haltung ausdrückt, eher als etwas „Schöngeistiges“ herabgestuft wird. Im Kapitel „Der Strukturalismus und seine Vertreter“ wird der Aspekt des „Brutalismus“ und der ideologische Hintergrund in der Chronologie der westeuropäischen Architekturgeschichte nochmals aufgegriffen und im Hinblick auf die Entwicklung der Großwohnkomplexe weiter thematisiert. In der 1968 veröffentlichten Publikation „Ästhetik der zeitgenössischen Architektur“ wird einleitend der Begriff der Ästhetik ebenfalls mit Schönheit gleichgesetzt, was zwar das Verständnis von Ästhetik auf einen eingeschränkten Diskurskreis reduziert, jedoch in dieser Publikation als Ausgangspunkt einer Argumentationskette genutzt wird: Der Autor beschreibt zum einen die Internationalisierung von Schönheit im Kontext eines kollektiven architektonischen Stils als dessen Schöpfer Le Corbusier genannt wird, zum anderen eine ästhetische Revolution bedingt durch die Verwendung von Stahl und Glas, „… die der Fassade ihre Autonomie gegenüber der Gerüststruktur des Gebäudes“17 ermöglicht. Weiter werden die technischen Möglichkeiten thematisiert, die zu freien Formen führen: „… Bauwerke, die nicht mehr auf ihren Fundamenten ruhen, sondern nur noch im Boden verankert sind, vermitteln ein völlig neues ästhetisches Gefühl.“18 Im Diskursfeld der psychologischen Ästhetik vertritt Peter F. Smith in seiner Publikation aus dem Jahr 1979 die Ansicht, dass nicht das Objekt selber eine 17  Ragon, Michael: Ästhetik der zeitgenössischen Architektur, Neuchatel 1968, S. 8. 18  Ebd., S. 8.

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Qualität besitze, sondern dass ausschließlich der Betrachter ihm diese zuordnet. Er konstatiert einleitend, dass der Funktionalismus die Ästhetik vernachlässigt habe und die unbestimmten Dinge wie Ästhetik und Symbolik eine Abwertung erfahren19, wobei auch er die Benutzbarkeit und nutzerbezogene Funktionalität als wichtiges Element zur Bewertung von Architektur herausarbeitet. Er kritisiert die in den 1970er Jahren herrschende Vorstellung, „…daß [sic!] der ästhetische Wert etwas Absolutes ist und außerhalb von Zeit und Raum existieren kann“20 und sieht das Ziel der Publikation in diesem Zusammenhang darin, „…eine Grundlage für die ästhetische Bewertung von Architektur zu schaffen.“21 Anhand von städtebaulichen Beispielen zeigt der Autor sein Verständnis für Wahrnehmung städtebaulicher Situationen auf, wobei hier nur drei Aspekte aus der Argumentation aufgegriffen werden sollen. Unter dem Begriff der „holistischen Ästhetik“ wird analog der Gestalttheorie das Phänomen beschrieben, dass Einzelteile die sich zu einer Gesamtheit zusammenfügen dann mehr sind als die Summe dieser Einzelteile. „Sie bilden ein Ganzes, das irgendwie wesentlich bedeutungsvoller ist als die Summe der Teile.“22 Die „teleologische Ästhetik“ beschreibt „das Fortschreiten zu einem Höhepunkt“:23 Ein Teil der Stadt, zum Beispiel eine Kathedrale, kann eine ästhetische Anziehungskraft ausüben; sie aus der Entfernung zu sehen „weckt die Neugier und erzeugt den Reiz der Erwartung“,24 das Ankommen löst die angespannte Erwartung. Dagegen steht die „lineare Ästhetik“, die die Einheitlichkeit von Gestaltung als ästhetischen Wert ansieht. Darunter ist nicht die Gleichheit von Gebäudestrukturen zu verstehen, sondern ein einheitlicher Städtebau ohne erkennbaren Höhepunkt. Im Kontext der Gestalttheorie erläutert Robert Venturi in der Publikation „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“ von 1966 unterschiedliche Gestaltungstheorien. Neben der „gleichwertigen Kombination“ von Elementen, der Ganzheit, erläutert er das „sowohl als auch“ unterschiedlicher Elemente, den Widerspruch. Jedoch ist dabei ein hohes Maß an Unterschiedlichkeit einzelner Elemente im Gesamtzusammenhang der Gestalt nur dann möglich, wenn die Einzelteile einen Verweisungszusammenhang untereinander und in Bezug auf die Gestalt aufweisen. Das bedeutet, dass das einzelne Element auf etwas ande19  Vgl. Smith, Peter F.: Architektur und Ästhetik. Aus dem Englischen von Claudius Coulin. London 1979, deutsche Ausgabe: Stuttgart 1981, S. 12. 20  Ebd., S. 11. 21  Ebd., S. 14. 22  Ebd., S. 111. 23  Ebd., S. 112. 24  Ebd., S. 121.

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res „[…] außerhalb als ihrer selbst verweisen […]“25 muss. Jedoch betont Venturi weiter, dass insbesondere in Bezug auf komplexe und widersprüchliche Architektur das „Ganze“ unverzichtbar wird. Jürgen Joedicke greift diese Thematik der Gestalttheorie in einer Publikation aus dem Jahr 1975 auf und überträgt sie in die Praxis: „Raum und Gestalt, die für manche Architekten keineswegs der Ausgangspunkt der Überlegungen sind, sondern erst im Laufe des Planungsprozesses entwickelt werden, sprechen den Betrachter zunächst und am unmittelbarsten an.“26 Einen weiteren Ansatz des Ästhetikverständnisses unter dem Aspekt der menschlichen Erkenntnis erläutert Popper in seiner Publikation „Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf“. Seiner Ansicht nach setzt Wahrnehmung eine gewisse Erwartung voraus, das heißt die Beobachtung wird genutzt, um die Erwartung zu bestätigen oder zu korrigieren.27 Diese Vorstellung ist aus dem Grunde interessant, als das sie, anders als viele andere Erkenntnistheorien, nicht von einer Wahrnehmung ausgeht, die aus der Erfahrung und Prägung des Menschen die persönliche Beobachtung interpretiert, sondern dass die Erwartung vor der Beobachtung bereits vorhanden ist und ausschließlich diese Erwartung falsifiziert oder verifiziert werden kann. Exkurs: Zwischen Ästhetik und Architekturästhetik: Zum Begriff „Raum“ Der gedankliche Sprung vom Begriff der Ästhetik zur Architekturästhetik wird über den Raum als elementarer Bestandteil von Architektur vollzogen und soll an dieser Stelle nur als Überleitung in aller Kürze diskutiert werden. Im Allgemeinen kann ein Raum in diesem Zusammenhang als „…die Summe der wahrnehmbaren Beziehungen zwischen Orten (Körpern)“28 definiert werden. „Raum entsteht [also, K.B.] durch das Entfernen von Masse, er zeichnet 25  Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978, S. 139. 26   Joedicke, Jürgen (Hrsg.): Toulouse le Mirail. Geburt einer neuen Stadt. Stuttgart 1975, S. 113. 27  Vgl. Popper, Karl Raimund: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Aus dem Amerikanischen von Hermann Vetter. Berkley 1972, 2. Deutsche Ausgabe: Hamburg 1974, S. 373. 28  Technische Universität Braunschweig (Hrsg.): Eine Analyse von Nutzungsverpflechtungen und ihrer Bezugsebenen. Mehrzwecknutzung. Multifunktionalität. Urbanität. Braunschweig 1972, S. 18.

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sich dadurch aus, dass er gerade nicht Masse oder Körper ist.“29 Dabei prägen die raumumschließenden, dreidimensionalen Bestandteile neben den „Dingen“ im Raum entscheidend die Wahrnehmung. Darüber hinaus kann ein Raum jedoch nicht ausschließlich über raumbildende oder gefäßartige Eigenschaften definiert werden, sondern ist gleichzeitig geprägt von seiner spezifischen Eigenart. Die absolutistische Raumvorstellung (Raum als Behälter von Dingen/Menschen) wird also ergänzt durch eine relativistische Vorstellung (funktionaler Raum): Raum wird in den Handlungskontext eingebunden anstatt ausschließlich den Hintergrund des Handelns zu bilden.30 So muss auch der wahrnehmende Mensch in die Diskussion über den Raumbegriff eingebunden werden: „Der architektonische Freiraum führt kein Eigendasein als „Raum an sich“; er steht als sinnlich aktuelle Raumumwelt in Verknüpfung mit dem Menschen und seinem Raumsinn, der vom Tastsinn der Haut, der Sehfähigkeit des Auges und dem Hörvermögen geprägt wird.“31 Einen Überblick über die Bandbreite der in der Forschung diskutierten Raumbegriffe bis 1964 zeigt Wolfgang Meisenheimer auf: der Lebensraum, der sowohl geprägt ist vom Wahrnehmungs- als auch vom Umwelt- bzw. Funktionsraum, dem Anschauungsraum der eine Idealisierung des erlebten Wahrnehmungsraums darstellt und dem klassischen, naturwissenschaftlichen Räumen der Mathematik und Physik32. Eine weitere Erläuterung des Raumbegriffs zeigt Bernd Krämer 1983 auf und unterscheidet dabei zwischen „konkreter Raum“ und „abstrakter Raum“. Während unter dem Begriff abstrakter Raum die physikalischen, mathematischen oder metaphysischen Räume eingeordnet werden, spielt im Bereich des konkreten Raums die individuelle Wahrnehmung bei der Erfahrung des Umweltraums (architektonischer Raum, Verkehrsraum) oder des Erlebens und Verhaltensraum eine übergeordnete Rolle.33 Im konkreten architektonischen Zusammenhang und im Kontext der vorliegenden Arbeit sowie der weiteren Begriffserläuterung wird deutlich, dass in monofunktionalen Räumen der Raum ganz spezifisch die Grundlage für nur eine bestimmte Funktion bildet und multifunktionale Räume dagegen einen größeren Möglichkeitsraum bieten. Insbesondere in den 1960er/1970er Jahren standen in

29  Wolter, Brigit: Die Gestalt des städtischen Raumes. Dissertation. Dresden 2006, S. 35. 30  Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001, S. 264. 31  Rauda, Wolfgang: Raumprobleme im europäischen Städtebau. München 1956, S. 11. 32  Vgl. Meisenheimer, Wolfgang: Der Raum in der Architektur. Aachen 1964, S. 172. 33  Vgl. Krämer, Bernd: Der Raumbegriff in der Architektur. Hannover 1983, S.33.

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diesem Zusammenhang Begriffe wie Flexibilität, Variabilität und Mobilität als Zielvorstellungen von „Raum“ im Zentrum der Diskussion.34 Auf der soziologischen Ebene können darüber hinaus „Handlungsräume“ entstehen, die nicht materiell definiert werden, sondern sich durch die Gesellschaftsstrukturen bedingen. Dabei wird in den letzten Jahren die Tendenz deutlich, dass sich Räume zunehmend überlagern (weit entfernte Räume werden durch den Einsatz von Medien in anderen Räumen erfahrbar) und vernetzen (Kommunikation und Verkehr ermöglichen „Raumsprünge“ innerhalb kurzer Zeit) wobei die tradierte Vorstellung des „Behälters“ gleichzeitig seine Relevanz behält.35 Auf städtebaulich-geschichtlicher Ebene ist im Raumverständnis in den 1960er/1970er Jahren ein Bruch spürbar: „Es ist die Wende […] von der Funktionalität zur Urbanität, welche Architektur wieder mit städtischen Raumformen identifiziert […]“36erklärt Walter Prigge rückblickend und in Bezug auf die Postmoderne der 1980er Jahre. Diese Entwicklung wird in der vorliegenden Arbeit eine entscheidende Rolle spielen, da diese Wende zu einer (Wieder-) Entdeckung von städtischem Raum führte, die als Grundlage der Konzeption von Großwohnkomplexen angesehen werden kann.37 Architekturästhetik Der Ästhetikbegriff und insbesondere der Architekturästhetikbegriff in unserem heutigen Verständnis der subjektiven Wahrnehmung ist, wie Ralf Weber einleitend zum Dresdener Internationalen Architektursymposium 2004 beschreibt, die Folge einer Veränderung im Verlauf des 18. Jahrhunderts von einem objektiven, an Theorien, Ordnungssystemen und kompositorischen Leitfäden stützenden Verständnis von Architekturästhetik zu einem subjektiven, gefühlsorientierten Verständnis.38 Eine umfassende Publikation zu dem Begriff der Architekturäs34  Vgl. Technische Universität Braunschweig (Hrsg.): Eine Analyse von Nutzungsverpflechtungen und ihrer Bezugsebenen. Mehrzwecknutzung. Multifunktionalität. Urbanität. Braunschweig 1972, S. 34. 35  Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001, S. 266ff. 36  Prigge, Walter: Zeit, Raum und Architektur. Zur Geschichte der Räume. Köln 1986, S. 11. 37  Vgl. beispielhaft Kapitel „ Der Strukturalismus und seine Vertreter“. 38  Vgl. Weber, Ralf: Aesthetics and Architectural Composition!? in: Weber, Ralf / Amann, Matthias Albrecht u. A. (Hrsg.): Aesthetics and Architectural Composition. Mammendorf 2005, S. 12.

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thetik veröffentlichte Rudolf Arnheim 1980 in deutschsprachiger Ausgabe. Raumwahrnehmung, als Wahrnehmung sowohl von Innen- als auch von Außenräumen, ist demnach immer geprägt von den Objekten im Raum und ihren Beziehungen zueinander.39 Sie entwickeln ein Kräftefeld, so genannte Anschauungskräfte, die zu einem Bestandteil der Wahrnehmungsfelder werden und jeweils abhängig von der gegebenen Struktur sind.40 Arnheim greift auf die Gestalttheorie zurück, indem er den Wahrnehmungsprozess von den im Raum platzierten Objekten zum einen als von der „Ganzheit zum Einzelteil“ erfahrbar, zum anderen als „Stück für Stück“ erlebbar beschreibt.41 Gesamtheiten setzen sich demnach aus geometrisch einfachen Einheiten zusammen, wobei den einzelnen Teilen unterschiedlich viel Autonomie verliehen wird. „…die Anschauungsdynamik einer solchen Struktur [ist damit, K.B.] viel komplexer [...], als die Formen auf den ersten Blick erwarten lassen“.42 Daneben spielt für Arnheim in der Wahrnehmung von Raum und Objekten die Dimension der Zeit eine entscheidende Rolle. Während die wahrgenommenen Räume in Wirklichkeit dreidimensional erlebbar sind, kann das Auge nur eine punktuelle Situation zweidimensional erfassen. Erst eine Bewegung im Raum macht diesen erfahrbar und führt dazu, dass die zeitliche Abfolge in einer räumlichen Gleichzeitigkeit endet.43 Darüber hinaus entwickelt sich ein Vorstellungsbild, das insbesondere Situationen, die nicht gleichzeitig wahrgenommen werden können, wie zum Beispiel Innen und Außen, gleichzeitig wirken lässt.44 Zusammenfassend kann erklärt werden, „[…] daß [sic!] wir ein dreidimensionales Objekt nur dann als eine Ganzheit erfassen können, wenn wir über die aus unserem Blickwinkel stammenden Informationen hinausgehen.“45 In Folge dieser Gedankengänge wird deutlich, dass mit diesen Informationen nicht nur Wahrnehmungsobjekte gemeint sind, die zum Zeit- und vom Standpunkt des Betrachters nicht erfasst werden können, sondern insbesondere auch Informationen, die der Betrachter aus seiner individuellen Erfahrung, der Erinnerung und der Interpretation der Situation herstellt. 39  Vgl. Arnheim, Rudolf: Die Dynamik der architektonischen Form. Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann. Berkley/Los Angeles/London 1977, deutsche Ausgabe: Köln 1980, S. 26. 40  Vgl. ebd., S. 39. 41  Vgl. ebd., S. 74. 42  Ebd., S. 195. 43  Vgl. ebd., S. 158. 44  Vgl. ebd., S. 98f. 45  Ebd., S. 116.

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Den derzeitigen Stand der Architekturästhetik beschreibt Weber in der oben erwähnten Publikation sowohl als ein Verständnis aus dem historischen Zugang heraus (Architektur steht immer in Kontinuität mit seiner Geschichte), als auch auf die Konzentration auf Erlebnis und Wahrnehmung von Architektur sowie auf die Herstellung und die dabei angewendeten Prinzipien (Rezeption und Produktion).46 Weber erläuterte bereits 1995 in seinem Buch „On the Aesthetics of Architecture“ im Kapitel „Spatial Form in Architecture“, dass die Wahrnehmung von Architektur sich deutlich von der Wahrnehmung von Objekten des täglichen Lebens unterscheidet und dabei immer geprägt ist von Nutzung und Bedeutung des Raums sowie von Licht, Geräuschen, Habtik, Gerüchen, Temperatur und Bewegung. Ein Gebäude unterscheidet sich demnach von anderen visuell wahrnehmbaren Formen dadurch, dass es immer den betretbaren Innenraum sowie den zu erfahrenden Außenraum besitzt. Auch Weber beschreibt, dass ein Gebäude durch seine Größe und das Verhältnis von Innen- zu Außenraum nie zu einem bestimmten Zeitpunkt ganzheitlich wahrgenommen werden kann. Der Betrachter muss sich um das Objekt und in dem Objekt bewegen, um es zu erfahren.47 In dieser Argumentationsreihe bezieht sich Weber im Kontext der Gestalttheorie insbesondere auf Konrad Lorenz, der in einem Aufsatz von 1959 beschreibt: „Jene zentrale Repräsentation des Raums, die als Vorstufe menschlicher Anschauungsform bei vielen Organismen vorhanden ist, entstand selbstverständlich nur bei frei beweglichen Lebewesen, die gezwungen waren, ihre Bewegungen im Raum zu orientieren“48 und eröffnet damit ein Verständnis zur Entwicklung des menschlichen Wesens in Bezug auf Raum. Im Rahmen der Diskurse über Architekturästhetik wird häufig der Begriff „Atmosphäre“ verwendet, mit welchem ein Raum oder Stadtraum beschrieben wird. Insbesondere jedoch das objektive Beschreiben von Atmosphäre ist problematisch, vielmehr ist es ein Gefühl, das der individuelle Mensch beim Erfahren eines Raums erlebt. Dirk Beacker (Soziologe) erläutert dazu in einem Vortrag im Rahmen des 1. Essener Forum Baukommunikation, dass „…die Atmosphäre einer Stadt exakt davon lebt, in welchem Verhältnis das Bekannte und Unbe-

46  Vgl. Weber, Ralf: Aesthetics and Architectural Composition!? in: Weber, Ralf/Amann, Matthias Albrecht u. A. (Hrsg.): Aesthetics and Architectural Composition. Mammendorf 2005, S. 15. 47  Vgl. Weber, Ralf: On the Aesthetics of Architecture. Adlershot 1995, S. 131ff 48  Lorenz, Konrad, Gestaltwahrnehmung als Erkenntnisleistung in: Schneider, Martina (Hrsg.): Information über Gestalt. Düsseldorf 1974, S. 110.

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kannte, das Vertraute und Unvertraute, das Zugängliche und Nichtzugängliche in ihr strukturiert ist.“49 Nach Bernd Kniess (Architekt, Stadtplaner) sind die wesentlichen Komponenten ästhetischer Raumwahrnehmung der Raum, das Subjekt und der zeitliche Ablauf50. Kniess schließt dabei darauf, dass durch das Wissen, dass Atmosphäre der Raum sei, „[…] der sich aufspannt zwischen der physischen Präsenz von Raum in Abhängigkeit von seiner Wahrnehmbarkeit durch das Subjekt[…]“,51 der Architekt unter Anwendung spezifischer Regeln Atmosphäre als Produzent entwickeln kann. Stadtraumästhetik Das Verhalten von Menschen in Stadträumen wird, analog dem Verhalten in jeder anderen Art von Raum, weniger von den tatsächlichen physischen Strukturen als von subjektiv wahrgenommenen Aspekten geprägt. Diese selektive Wahrnehmung entsteht unter anderem im stadträumlichen Kontext aus dem Aspekt der „Reizüberflutung“ heraus: der Mensch versucht den Raum zu erfassen, indem er bekannte Strukturen routinemäßig ausblendet und nur so die Möglichkeit erhält, neue, veränderte Strukturen zu erfassen und zu verarbeiten. Die Kernaussage dieser selektiven Wahrnehmung fasst Wulf Tessin in der Publikation „Ästhetik des Angenehmen“ von 2008 zusammen: „Räume werden unterschiedlich wahrgenommen, sowohl in Richtung auf das was man sieht, als auch in Richtung, wie das Wahrgenommene auf einen wirkt und wie man es bewertet.“52 Weiter stellt Tessin die Theorie auf, dass für eine ästhetische Wahrnehmung entweder eine offensichtliche Absicht des Produzenten erkennbar sein müsse, eine gesellschaftliche Konvention dem Wahrnehmenden sagt, dass dies ein ästhetisches Objekt sei oder dass das zu Bewertende von seinem üblichen/alltäglichen Aussehen abweicht.53

49  Beacker, Dirk: Atmosphäre als synthetisches Gestaltungselement in: Schmidt, J. Alexander/Jammers, Reinhard: Atmosphäre – Kommunikationsmedium der gebauten Umwelt. Essen 2005, S. 35. 50  Kniess, Bernd: Atmosphäre – Domäne des Architekten? in: Schmidt, J. Alexander/Jammers, Reinhard: Atmosphäre – Kommunikationsmedium der gebauten Umwelt. Essen 2005, S. 59. 51  Ebd., S. 65. 52  Tessin, Wulf: Ästhetik des Angenehmen. Wiesbaden 2008, S. 12. 53  Vgl. ebd., S. 17.

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Dagegen beschreibt Jürgen Hasse, dass der Realraum sich (immer) beim Hinzutreten „[…] als solcher zurückzieht, um im sinnlich empfindenden Eintauchen emotional zudringlich zu werden.“54 Dabei unterscheidet er nicht wie Tessin, ob der Raum überhaupt als ästhetisch wahrnehmbar angesehen werden kann, sondern beschreibt das Hinzutreten als einen Prozess, der in jeder Situation auftritt. Ebenso erläutert Jürgen Hasse, dass nach Schmitz die Atmosphäre ein „[…] räumlich ergossenes Gefühl, das einer Situation auf der Objektseite entspricht..“55 sei, und macht damit deutlich, dass Teile des sinnlich Wahrnehmbaren nicht ausschließlich individuell geprägt sind. Um auf den großmaßstäblicheren, tatsächlichen Stadtraum zurückzukommen kann aufgezeigt werden, dass jeder Stadtraum nach Hasse aus einem kulturellen Raum, einem euklidischen Raum und einem heimatlichen Raum besteht, wobei die Verbindung dieser Räume und die Bedingung für diese Räume immer die festen Dinge im Realraum, die Gebäude, sind.56 Ähnlich argumentiert Birgit Wolter wenn sie beschreibt, dass trotz medienbedingt veränderter Wahrnehmungsparameter heute der Mensch seine räumliche Umwelt als einen Raum wahrnimmt, „[…] der durch Flächen begrenzt, durch Elemente gegliedert, durch Linien strukturiert ist […]“57 Die Autorin stellt fest, dass ein Stadtraum nur dann seine Funktion für eine Stadtgemeinschaft erfüllen kann, wenn er genutzt und angenommen wird, womit sich der Bogen zum im folgenden Abschnitt thematisierten Begriff der Urbanität schlagen lässt. Unter architekturästhetischen Gesichtspunkten stellt Wolter jedoch dabei die Frage: „Welchen Einfluss übt die räumliche Wirkung eines Ortes auf eine zustimmende Einstellung der Nutzer aus?“58 und versucht diese Wirkung im Folgenden mit der Theorie des Körper-Raum-Verhältnisses (architektonischer Körper im Verhältnis zum städtischen Raum), welche sie um das Verhältnis von Mensch und Raum ergänzt, zu beantworten. Auch in dieser Annäherung an die Stadtraumästhetik wird die bereits beschriebene Dipolarität zwischen Objekt (hier Raum) und Rezipienten deutlich, ohne die ein Verständnis des Begriffes Ästhetik und im Speziellen Stadtraumästhetik nicht erreicht werden kann. 54  Hasse, Jürgen: Die Wunden der Stadt. Für eine neue Ästhetik unserer Städte. Wien 2000, S. 27. 55  Ebd., S. 26. 56  Vgl. ebd., S. 32. 57  Wolter, Birgit: Die Gestalt des öffentlichen Raums in: Weber, Ralf/Amann, Matthias Albrecht u. A. (Hrsg.): Aesthetics and Architectural Composition. Mammendorf 2005, S. 236. 58  Ebd., S. 237.

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In der unter dem Aspekt der Architekturästhetik bereits zitierten Publikation von Ralf Weber beschreibt der Autor eine Analysemöglichkeit von Stadträumen durch das Erkennen relevanter und raumbildender physischer Strukturen. Dabei stellt er einleitend zum siebten Kapitel seiner Publikation fest, dass ein Gebäude im Stadtraum immer seine Umgebung prägt, die Wahrnehmung des Gebäudes jedoch ebenso von dieser Umgebung geprägt ist.59 Im Folgenden untersucht Weber Stadträume in ihrer physischen Ausformulierung mit den umfassenden Gebäuden, ihrer Fassadengestaltung, den Höhenund Seitenverhältnissen der Plätze sowie den im Raum platzierten Objekten. Dabei führt Weber unter anderem folgende Begriffe zur Kategorisierung der relevanten Wahrnehmungsparameter städtischer Plätze an: Zentralität, Dichte, Grenzen und räumliche Aufteilung. Es wird deutlich, dass Plätze durch diese Parameter unterschiedlich kraftvoll erscheinen und die Ausdruckstärke darüber hinaus ebenfalls unterschiedlich im Raum gewichtet werden kann. Im Anschluss an seine Ausführung analysiert er verschiedene Stadträume anhand der genannten Parameter. Abschließend fasst er zusammen, dass Architektur-Erfahrung und Architektur-Wahrnehmung unter anderem durch die Komposition sinnlich stimulierender Parameter wie Form, Oberfläche, Farbe und die Einfügung in den städtischen Kontext bedingt sind.60 Diese Schritte der Stadtraumanalyse können als folgende Erkenntnisschritte der Wahrnehmung angesehen werden: •





die rational erklärbaren und authentischen Gegebenheiten wie die Ausformulierung der umfassenden Gebäuden, ihrer Fassadengestaltung, den Höhen- und Seitenverhältnissen der Plätze sowie den im Raum platzierten Objekten, den weniger objektiv belegbaren und nur durch Bewegung im Raum und im Kontext der Umgebung erfahrbaren Aspekte wie Zentralität, Grenzen, räumliche Aufteilung und räumliche Dichte, die Komposition sinnlich stimulierender Muster wie Form, Oberfläche, Farbe und Einfügung in den städtischen Kontext.

Die drei Kategorien verdeutlichen die Schritte von sachlich bewertbaren Parametern über Erfahrungsbereiche bis hin zur sinnlichen Wahrnehmung. Diese praktischen Ansätze zur Wahrnehmung von Stadträumen zeigen einige Parallelen zu der 1975 erschienenen Publikation von Rob Krier mit dem Titel 59  Vgl. Weber, Ralf: On the Aesthetics of Architecture. Adlershot 1995, 131 60  Vgl. ebd., S. 131ff.

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„Stadtraum“ auf. Auch hier zeigt der Autor, unter dem Aspekt der Kritik an den zu dieser Zeit vorherrschenden städtebaulichen Ansätzen, Parameter auf, die die Wahrnehmung von Stadträumen prägen. Auch wenn Rob Krier nicht wie Weber den Anspruch erkennen lässt, den Ästhetikbegriff zu erläutern oder anhand von Beispielen zu verdeutlichen, wird auch bei ihm klar, dass Stadtraumästhetik immer ein Dialog zwischen physischen Gegebenheiten (Gebäuden) und dem Wissen, dass man sich an einem städtischen Ort befindet, darstellt: „Erst die klare Ablesbarkeit seiner geometrischen Grundmerkmale und ästhetischen Qualitäten lässt uns den Außenraum bewusst als Stadtraum erleben.“61 Damit wird deutlich, dass die Erkenntnis, die Wahrnehmung architektonischer Räume unterscheide sich durch die Bewegungsmöglichkeit innerhalb des Raums grundsätzlich von der Wahrnehmung von Objekten, auch für Stadträume zutrifft. Auch hier bewegt sich der Rezipient im Raum und kann diesen nie in einer Situation ganzheitlich wahrnehmen. Bezug nehmend auf die Erkenntnisse Webers, dass Architektur-Erfahrung und Architektur-Wahrnehmung von der Komposition sinnlich stimulierender Parameter bedingt sind, stellt Wolfgang Hasse fest, dass die in der Postmoderne entstandene Bildhaftigkeit von Städten zu einer „Ästhetisierung“ von Stadträumen führt, die im Gegensatz zu einer Steigerung von sozialer Lebensqualität steht. Vielmehr stellt Hasse fest, dass es beim Bildhaften bliebe, „…denn dem Fortschritt der Ästhetisierung entspricht kein Zugewinn an Urbanität.“62 Damit eröffnet Hasse die Diskussion über die heutige und zukünftige Stadtgestaltung mit dem Ziel von Urbanität, wobei er für eine Stadtplanung der Zukunft erhaltende, konservierende sowie restaurative Maßnahmen als grundlegend ansieht um eine historische Kontinuität zu bewahren.63

61  Krier, Rob: Stadtraum/Urban Space. Erstes Erscheinen in Deutsch 1975 als „Stadtraum in Theorie und Praxis an Beispielen der Innenstadt Stuttgarts“. Erschienen 1979 als „Urban Space“. Deutsche Neuauflage: Solingen 2005, S. 24. 62  Hasse, Jürgen: Die Wunden der Stadt. Für eine neue Ästhetik unserer Städte. Wien 2000, S. 42. 63  Vgl. ebd., S. 46.

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S TADT

UND

U RBANITÄT

Stadt Bereits seit den 1920er Jahren64 zeichnet sich in den Diskursen über den Begriff Stadt und seine Bedeutung ein wesentlicher Verständnisstrang ab: Eine Stadt erhält ihre Bedeutung erst durch ihre Bürger, durch das partizipative „urbane Leben“. „Ihre reine Stofflichkeit […] ist tote Substanz. Zum städtischen Element werden die Stoffe erst durch das Leben sozialer Systeme.“65 In diesem Zusammenhang setzte sich der Philosoph und marxistische Soziologe Henri Lefebvre (1901–1991) mit der urbanen Welt auseinander und thematisierte dabei das Verhältnis von Stadtbürgern und ihrer Lebensumgebung. Lefebvre entwickelte sich im Laufe der 1960er Jahre zu einem Kritiker des neuen Städtebaus in Frankreich und zum Verfechter einer gewachsenen Stadt66, die er mit einem lebendigen Wesen vergleicht, „…ein lebendiges Wesen, das allmählich eine Struktur abgelagert hat.“67 Im Gegensatz dazu steht für ihn die neue, funktionale Stadt, in welcher alles klar und eindeutig erscheint. Er kritisiert: „Die Überraschung? Das Mögliche? Verschwunden aus diesem Ort, der doch der Ort der Möglichkeiten sein sollte.“68 Schon Ende der 1950er Jahre begann der Künstler Constand Nieuwenhuys (1920–2005) sich mit einer utopischen Stadtidee zu beschäftigen, die er bis 1969 stetig weiterentwickelte. „New Babylon“ war dabei nicht nur die Idee einer Stadt, vollständig überdacht, klimatisiert und als Struktur über der Landschaft schwebend, sondern vielmehr die Idee einer vollständig neuen Gesellschaft: „…ein Leben ohne festen Ort, umhertreiben in einer unermesslichen urbanen Landschaft sich ständig verändernder Atmosphären. Arbeit ist durch den techno-

64  Unter anderen durch Siegfried Kracauer (1889 – 1966). Vgl. Holste, Christine: Kracauer als Vermittler einer neuen Formensprache in: Holste, Christine (Hrsg.): Kracauers Blick. Anstöße zu einer Ethnographie des Städtischen. Hamburg 2006, S. 104. 65 Hasse, Jürgen: Die Wunden der Stadt. Für eine neue Ästhetik unserer Städte. Wien 2000, S. 13. 66 Vgl. auch: Lefebvre, Henri: Le droit à la ville. Paris 1968, S. 57ff. 67  Lefebvre, Henri: Einführung in die Modernität. Frankfurt am Main 1978, S. 140. 68  Ebd., S. 144.

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Abb. 7: New Babylon

Quelle: Wigley, Mark: Constantʼs New Babylon: the hyper-architecture of desire. Rotterdam 1998, S. 213

logischen Fortschritt überflüssig geworden; die freiwerdende Energie wird zu „kollektiver Kreativität“ gebündelt.“69 Weniger utopisch und eher auf soziologischer Ebene beschreibt Lewis Mumford (1885–1990) die Stadt in ihrer historischen Entwicklung und kommt in seiner Erläuterung 1961 zu dem Schluss, dass man die Stadt „als einen Schauplatz aktiven Bürgersinns verstehen [muss, K.B.], wo Erziehung und ein farbiges, selbstständiges Leben des Einzelnen sich abspielen.“70 Zur Illustration seiner Vorstellung zeigt er fußläufig erschlossene Stadtzentren mit vielfältigen Funktionen, die das allgemeine, bauliche Verständnis von Stadt in den 1960er Jahren widerspiegelten und verdeutlicht, welche sozialen und gesellschaftlichen Ideen damit verbunden waren. Kevin Lynch (1918–1984), amerikanischer Stadtplaner und Schüler Frank Lloyd Wrights (1867–1959), entwickelte in der Publikation „The Image of the City“71 1960 eine Analysemethode städtischer Räume wobei sein Hauptinteresse 69  Lootsma, Bart: Constant in: Brandlhuber, Arno (Hrsg.): Bart Lootsma. Koolhaas, Constant und die niederländische Kultur der 60er. Aus dem Englischen von Silvan Linden. Nürnberg 2006, S. 10/Vgl. auch Kapitel „Utopische Megastrukturen“. 70   Mumford, Lewis: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Aus dem Amerikanischen von Helmut Lindemann. London 1961, dritte deutsche Auflage: München 1984, S. 798. 71  Weitere Publikationen und Texte von Kevin Lynch sind zusammengefasst in der Publikation „City Sense and City Design“ herausgegeben von Tridib Banerjee und Michael Southworth 1990.

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„sich auf die Beziehung zwischen Vorstellungsbild und physischer Form“72 bezieht. Anhand konkreter Stadtraumanalysen in Form von Bürgerbefragungen und einer Interpretation dieser Aussagen anhand physischer Strukturen war sein Ziel, einen zusammenfassenden Plan zu erstellen, der mithilfe graphischer Darstellung die Schwächen, Stärken und Möglichkeiten von Stadträumen aufzeigt.73 Analog der teleologischen Stadtvorstellung von Peter F. Smith74 kommt Lynch zu der Erkenntnis, dass Städte die Elemente „Wege“, „Grenzlinien“ (Ränder), „Bereiche“, „Brennpunkte“, „Merk- und Wahrzeichen“ besitzen. Bei der Bewertung spielt dann das physische Bild, zum Beispiel einer Schnellstraße, eine ebenso große Rolle wie die Anschauung (Weg oder Grenze), wobei eine physische Realität unterschiedliche Anschauungen erzeugen kann.75 Die genannten Elemente können sich innerhalb einer Stadt überlagern, verstärken oder gegenseitig schwächen. Es entsteht eine spezifische Identität der Stadt und des Raums.76 Lynch beschreibt weiter, dass die Planung der Stadt Orientierungsebenen miteinander verknüpfen muss, um damit ebenfalls eine Identität des Raums zu schaffen. Unter Orientierungsebene versteht Lynch dabei auf der einen Seite die Möglichkeit ein Gebäude aus unterschiedlichen Standpunkten der Stadt zu „erkennen“ und zu verorten und auf der anderen Seite eine Kontinuität im physischen Wandel der Umgebung zu erhalten.77 Er unterstreicht damit nochmal die Notwendigkeit von Orientierungspunkten, die er, wie weiter oben beschrieben, mit der Darstellung der Stadtelemente bereits thematisierte. Ähnlich argumentierte schon Siegfried Kracauer in den 1920er Jahren, als er nach der „unsichtbaren Kraft“ der Stadträume suchte, die Erinnerungen weckt.78

72  Conrads, Ulrich (Hrsg.): Kevin Lynch. Das Bild der Stadt. Aus dem Amerikanischen von Korssakoff-Schröder, Henni/Michael, Richard. Cambridge 1960, deutsche Ausgabe: Berlin 1965, S. 27. 73  Vgl. ebd., S. 37. 74   Vgl. Kapitel „Ästhetik“ und die Erläuterungen zur teleologischen Ästhetik im Unterkapitel „Der Ästhetikdiskurs im zeitlichen Kontext der Großwohnkomplexe“. 75  Vgl. Conrads, Ulrich (Hrsg.): Kevin Lynch. Das Bild der Stadt. Aus dem Amerikanischen von Korssakoff-Schröder, Henni/Michael, Richard. Cambridge 1960, deutsche Ausgabe: Berlin 1965, S. 60ff 76  Vgl. ebd., S. 102f. 77  Vgl. ebd., S. 105. 78  Vgl. Holste, Christine: Kracauer als Vermittler einer neuen Formensprache. In: Holste, Christine (Hrsg.): Kracauers Blick. Anstöße zu einer Ethnographie des Städtischen. Hamburg 2006, S. 105.

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Auch Aldo Rossi (1931–1997) sucht in einer Publikation von 1966 nach dem spezifischen „Mehr“ der Stadt. Dabei beschreibt Rossi, sowohl im funktionalen als auch im stadträumlichen Verständnis, die Stadt konstituierenden Elemente als primäre Elemente. Dazu gehören öffentliche Einrichtungen, Geschäftshäuser und Dienstleistungsbetriebe der städtischen Infrastruktur. Rossi macht deutlich, dass sie die Stadt nicht nur durch ihre Funktion prägen, sondern auch durch ihre Präsenz im Stadtraum, wobei er das Beispiel von Baudenkmälern anführt, die trotz wechselnder Funktionen der Stadt unbedingt zugehörig erscheinen und die Wahrnehmung dieser beeinflussen.79 Die Erkenntnis, die sich seiner Ansicht nach aus der Stadtplanung der Moderne ergibt, beschreibt Rossi im Folgenden damit, dass die genannten stadtbildenden Elemente (primäre Elemente) nicht von einer übergeordneten Gestaltung überformt oder vernichtet werden dürfen: „[...] bei der Stadtplanung im modernen Sinn versucht man eine homogene, koordinierte, zusammenhängende Umgebung zu schaffen, deren Gesetze, Motive und Ordnungsprinzipien sich nicht aus der historisch gewordenen Realität der bestehenden Stadt ergeben, sondern einen Plan dessen darstellen, wie die Stadt sein sollte. [...] Auf eine ganze Stadt angewandt führen sie zu keinem positiven Ergebnis, sondern zerstören häufig eine vorhandene Ordnung und damit die Kontinuität der Stadtgestalt. Denn diese Stadtkonzeption reduziert die Struktur einer Stadt auf das bloße Stadtbild und macht damit aus ihr eine Geschmacksfrage. Sinnvoller Städtebau müsste dagegen von einer Stadtkonzeption ausgehen, die alle strukturellen Elemente in ihre Planung einbezieht.“80 Einen weiteren Aspekt der „Stadt“ fügt Otto Walther Haseloff der Diskussion hinzu, indem er in seiner Publikation „Die Stadt als Lebensort“ von 1970 erklärt, dass der „[…] spezifische Reiz städtischen Daseins [...] sich gerade aus der engen wechselseitigen Verflechtung vielfältiger Funktionen des Arbeitens, des Freizeitverhaltens, des Wohnens und der zwischenmenschlichen Kommunikation“81 ergibt. Als Antwort auf die funktionale Stadt mit der Trennung der Funktionen wurde unter diesem Verständnis in den 1960/1970er Jahren vermehrt eine funktionale Mischung gefordert. Dabei war das Ziel nicht „[...] ein möglichst präzise formuliertes städtebauliches und architektonisches Endprodukt [..], sondern im Gegensatz dazu ein jeweils möglichst großer städtebaulicher und

79  Vgl. Rossi, Aldo: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen. Aus dem Italienischen von Arianna Giachi. Venedig 1966, Düsseldorf 1973, S. 73f. 80  Ebd., S. 103. 81  Haseloff, Otto Walter (Hrsg.): Die Stadt als Lebensform. Berlin 1970, S. 185.

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nutzungsmäßiger Entfaltungsspielraum […]“.82 Vielfältigkeit und die Möglichkeit persönliche Eigenschaften auszuleben wird durch variable Räume ermöglicht.83 Lewis Mumford erläutert in der 1961 in Amerika erschienenen Publikation „Die Stadt“ die Stadtentwicklung beginnend bei der Antike bis in die Gegenwart. Schon zu diesem Zeitpunkt kritisiert der Autor die Umsetzung der „neuen Stadtplanung“ der autogerechten Stadt und verdeutlicht den Wunsch nach menschlichem Maßstab in der Planung. Abschließend formuliert er warnend, dass nicht die Technologie den Menschen der Zukunft beherrschen darf, sondern dass „[…] vielfältige Berufe, vielfältige kulturelle Tätigkeiten und die vielfältigen persönlichen Eigenschaften der Menschen […]“84 das städtische Zusammenleben bestimmen sollen. Es wird dabei deutlich, dass das Verständnis von Stadt in den 1960er/1970er Jahren von einem technologischen Fortschrittglauben geprägt war, dass jedoch gleichzeitig Kritik an dieser Entwicklung geäußert wurde. Eher im philosophischen Zusammenhang des Raumverständnisses beschreibt der Autor Otto Friedrich Bollnow 1963 in der Publikation „Mensch und Raum“, den erlebten Raum „[…] wie er sich dem konkreten menschlichen Leben erschließt“85, erklärt jedoch, dass es sich dabei nicht um die subjektive Färbung des erlebten Raums, sondern vielmehr „[…] um den Raum selber, insofern der Mensch in ihm lebt und mit ihm lebt […]“86, handelt. Er grenzt diesen erlebten Raum trotzdem klar gegen den mathematischen Raum ab, indem er das Leben und Handeln im Raum anführt, was einen mathematischen Raum erst zu einem erlebten Raum macht. Dieses Verständnis des erlebten Raums kann gleichzeitig auf Innenräume, städtische Räume oder Freiräume angewandt werden. Es schließt den Kreis zur allgemeinen Ästhetik- und Urbanitätsdiskussion und bestätigt damit das Zusammenspiel von physischer Struktur, subjektiver Wahrnehmung und entsprechendem Handeln. In den 1960er Jahren entwickelte sich aus diesem Verständnis heraus ein Forschungsfeld zur Wahrnehmung des städtischen Raums. Schlagwörter im Zusammenhang mit diesen Forschungen wurden, wie in der Publikation von 82  Sieverts, Thomas: Planung und Spielraum in: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974, S. 81. 83  Vgl. ebd., S. 82. 84  Mumford, Lewis: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Aus dem Amerikanischen von Helmut Lindemann. London 1961, dritte deutsche Auflage: München 1984, S. 804. 85  Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum. Stuttgart 1963, S. 18. 86  Ebd., S. 18.

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Kevin Lynch weiter oben bereits thematisiert, neben den Begriffen „Ordnungsprinzip“ und „Wiedererkennung“ jedoch ebenso „städtische Kommunikationsmuster“ und „Komplexität des städtischen Raums“. So untersucht eine Studie von 197287 die Bedürfnisse von Menschen im städtischen Raum anhand von Wahrnehmungstheorien, wobei in diesem Fall die Wahrnehmung in einem erkenntnis- und handlungsorientierten Kontext verstanden wurde. Als einen entscheidenden Einflussfaktor auf die Diskurse über städtische Wahrnehmung müssen die Gedanken Robert Venturis88 zur Komplexität von Architektur angesehen werden. Venturi entwickelte damit in den 1960er Jahren einen Gegenpol zum „Purismus der Moderne“ und zum freistehenden, autarken Gebäude nach dem Vorbild Le Corbusiers. Grundlage seiner Überlegungen war das Missverhältnis zwischen den komplexen Bedürfnissen an das Gebäude und der geforderten Einfachheit der „modernen“ Gestaltung.89 Im Kontext der Multifunktionalität von Räumen, wie sie weiter unten unter dem Aspekt des Wohnens beschrieben wird, kann nach Venturi auch „Mehrdeutigkeit“ in der Wahrnehmung „[…] nützliche Flexibilität bedeuten.“90 Venturi postuliert zusammenfassend: „Städte sind, wie die Architektur des einzelnen Bauwerks, vielfältig und widersprüchlich.“91 Ende der 1970er Jahre veröffentlichten Christopher Alexander, Sara Ishikawa und Murray Silverstein nach acht Jahren Forschungsarbeit die Publikation „A Pattern Language“ als zweite Publikation einer Serie. Während der erste Teil, „A Timeless Way of Building“ eher auf theoretischer Ebene die Grundlage für den zweiten Teil bildet, wird im zweiten Teil eine „pattern language“, also eine Sprache der Muster entwickelt und anhand konkreter städtischer Phänomene beschrieben, die es ermöglichen soll, „zeitlos“ zu planen und bauen.92 Mit Bil87  Vgl. Becker, Heidede/Keim, K. Dieter: Wahrnehmung in der städtischen Umwelt – möglicher Impuls für kollektives Handeln. Berlin 1972, 4. Auflage mit kommentiertem Literatur Nachtrag: 1978. 88  Vgl. Kapitel „Komplexität und Struktur“. 89  Vgl. Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck, New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978, S. 25. 90  Ebd., S. 50. 91  Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978, S. 83. 92   Vgl. Alexander, Christopher/Ishikawa, Sara/Silverstein, Murray: A Pattern Language. New York 1977, S. x.

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dern, Zeichnungen und Texten veranschaulichen die Autoren in wiederkehrender Form die einzelnen „Stadtbaumuster“ und greifen dabei viele bereits durch vorhergehende Publikationen bekannte Aspekte auf. Besonders an dieser Publikation ist jedoch, das wird in einer Buchrezession von 1978 deutlich, dass nicht objektive, wissenschaftliche Erkenntnisse dargelegt werden, sondern subjektive, „intuitive Überzeugungen und Gründe“ die Grundlage der „pattern language“ bilden.93 Menschliches Verhalten, demokratische Architektur und das Verstehen vorhandener Bebauungsmuster führen zu einer Sprache, die sich nicht nur auf einen wissenschaftlichen Diskurs beschränkte, sondern die Stadtgestalt als ganzheitlich zu verstehendes Phänomen darstellte. Seit den 1990er Jahren wird die Stadt im soziologischen Stadtverständnis, ähnlich dem philosophischen Verständnis von Urbanität, als Ergebnis des Verhältnisses von Stadtbürger und gebauter Umwelt erkannt. „…kein Ding, sondern Prozess, gleichermaßen Resultat wie Voraussetzung kultureller Praktiken, in denen die Akteure immer schon involviert sind.“94 Damit weisen die Autoren auf die Veränderungsmöglichkeiten des partizipierenden Bürgers hin. Gleichzeitig verweisen sie auf eine Studie Janet Abu-Lughods95, die anhand der Fallbeispiele New York, Chicago und Los Angeles die individuelle Persönlichkeit von Städten erforscht. Unter anderem wird dabei deutlich, dass „…die Konstruktion der städtischen Räume eine entscheidende Rolle in der Biografie der Städte spielt.“96 Bauliche Umwelt und Bewohner bilden damit ein Ganzes, das das Verständnis und den Begriff „Stadt“ prägt. In den zeitgenössischen Diskursen über den Begriff der Stadt taucht oft das „Idealbild“ der europäischen Stadt auf.97 „[D]as ist in unserer bildlichen Vorstellung ein „organischer“, der Topografie angepasster Grundriss, artikulierte (distinkte) Übergänge von privaten zu öffentlichen Räumen, Rhythmus und Polarität von engen Gassen und weiten Plätzen, großen Gebäuden und kleinen Häusern, sakralen und profanen Territorien (symbolisiert von Kirche und Rathaus) und

93  Dominguez, Martin: „A Pattern Language“ – mehr als eine Buchbesprechung. In: B+W 7/8 1978, S. 319f. 94  Berking, Helmut/Löw, Martina (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden 2005, S. 13. 95  Vgl. Abu-Lughod, Janet: New York, Chicago, Los Angeles. Minneapolis 1999 96  Berking, Helmut/Löw, Martina (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden 2005, S. 18.

97 Vgl. auch Montgomery, John: Making a City: Urbanity, Vitality and Urban Design. In: Journal of Urban Design 1998, Vol3, Nr.1, S. 93–116.

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von Stadt und Landschaft.“98 Ein entscheidendes Element der europäischen Stadt ist dabei der Begriff der Urbanität und die damit verknüpften Assoziationen, wie unter der Überschrift „Urbanität“ in diesem Kapitel umfassend diskutiert wird. Ohne bereits eine direkte Rückbesinnung auf die „europäische Stadt“ zu formulieren, entstand bereits in den 1960er Jahren der Wunsch nach „Urbanität“, der im städtebaulichen Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ verankert wurde. Thomas Wüst nennt als Bestandteile der urbanen Stadt „[...] demokratische Ideale, emanzipatorische Gelegenheiten und die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre“99 und knüpft damit an das Urbanitätsverständnis von Hans Paul Bahrdt (1918–1994)100 an. Urbanität Bereits 1951 in der CIAM101 Tagung von Bridgewater wurde „den vier klassischen Grundlagen modernen Städtebaus […] als fünfte die Forderung nach urbaner Atmosphäre hinzugefügt“102 und damit erstmals offiziell im Städtebau thematisiert sowie als Forderung postuliert. Jedoch erst etwa zehn Jahre später, zu Beginn der 1960er Jahre, begann ein Paradigmenwechsel und das Leitbild der durchgrünten und aufgelockerten Stadt wurde abgelöst von dem Wunsch nach der dichten und urbanen Stadt. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff „Urbanität“, in Folge der steigenden Kritik an der funktionalen Trennung von Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Erholung, wodurch in den Städten das öffentliche Leben eingeschränkt wurde, wieder thematisiert. Kontrastierend zu der Funktionstrennung wurde das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ kommuniziert und als Antwort auf die städtebauliche Kritik angesehen. Gleichzeitig ent98 

Hassenpflug, Dieter: Die europäische Stadt als Erinnerung, Leitbild und Fiktion in: Hassenpflug, Dieter (Hrsg.): Die Europäische Stadt. Mythos und Wirklichkeit. Münster 2002, S. 30.

99 

Wüst, Thomas: Urbanität. Ein Mythos und sein Potential. Dissertation. Wiesbaden 2004, S. 100.

100  Vgl. folgendes Kapitel „Urbanität“. Hans Paul Bahrdt sucht in den Begrifflichkeiten „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ einen Maßstab für Urbanität. 101  CIAM: Congrès Internationale dʼarchitecture Moderne. Der CIAM war eine zwischen 1928 und 1959 regelmäßig stattfindende Reihe von Tagungen für Architekten und Stadtplaner. Die Ergebnisse der Tagungen hatten einen großen Einfluss auf die Architektur- und Städtebauentwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 102  Joedicke, Jürgen: Utopie und Realität in der Stadtplanung. In: Bauen und Wohnen 1964, Heft 1, S. 1.

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stand durch utopische Städtebauentwürfe und schnell anwachsenden Megastädte ein neues Verständnis von städtischem Raum und urbanem Zusammenleben. Der zunehmende Verkehr rückte in das Bewusstsein der Stadtplaner und zwang diese zu neuen Verknüpfungen von gebauter Umwelt und den öffentlichen wie privaten Verkehrsmitteln. Erstmals wurde „Urbanistik“ als eine interdisziplinäre Wissenschaft thematisiert und entsprechend untersucht. Die Partizipation der Bürger auf kommunaler politischer Ebene veränderte das Verhältnis der Bürger zur Stadt, gemeinschaftliche Wohnprojekte wurden gefördert und eine offene Kommunikation interessierter Bürger an städtebaulichen Vorhaben wurde vermehrt unterstützt. Aus diesen Aspekten heraus entwickelte sich ab Mitte der 1960er Jahre ein Urbanitätsverständnis, das durch Dichte, Funktionsmischung, dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit sowie Multifunktionalität im privaten und öffentlichen Raum geprägt war. Die Förderung von Kommunikationsmöglichkeiten im öffentlichen Raum wurde dabei als verbindendes Mittel getrennter Funktionsbereiche erkannt. Edgar Salin (1892–1974) erläuterte 1960 in seiner Rede vor dem Deutschen Städtetag den Begriff „Urbanität“ in seiner geschichtlichen Entstehung als ein Ergebnis der „aktiven Mitwirkung einer Stadtbürgerschaft am Stadtregiment“ und fasst aus diesem Verständnis heraus und im Hinblick auf die Problemstellungen der Stadt des 20. Jahrhunderts folgende Forderungen an die Städte zusammen: Die Stadt als solche müsse durch ihr explosionsartiges Wachstum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts „[…] geformt, neu gegründet und neu begründet werden“103, die Entballung der Städte dürfe nicht die Aushöhlung der Stadt bedeuten, die Stärkung des Kerns sei in den bevorstehenden Stadtentwicklungen das entscheidende Moment, die Verkehrsplanung müsse den technischen Fortschritt in Betracht ziehen und dabei ebenso dem Kern der Stadt eine besondere Bedeutung zuweisen, die Umweltverschmutzung müsse als Problem städtischer Agglomeration erkannt und Maßnahmen zur Verbesserung der Verhältnisse gefunden werden und der Bildung und Bildungsstätten müsse eine zentrale Rolle im Städtebau der Zukunft zugesprochen werden. Als wichtigsten Punkt kehrt Salin heraus, dass die Stadt wieder in einen lebendigen Organismus, in eine Gemeinschaft von Stadtbürgern verwandelt werden müsse.104 Bei diesen Forderungen wird deutlich, welche unterschiedlichen Aspekte Urbanität vereint und dass das städtisch Gebaute zwar in den 1960er Jahren einen höheren Stellenwert als noch im grundlegenden

103 Salin, Edgar: Urbanität. In: Deutscher Städtetag (Hrsg.): Erneuerung unserer Städte. Bonn 1960, S. 25. 104 Vgl. ebd., S. 25ff.

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Urbanitätsverständnis der Griechen und Römer einnahm,105 der Bürger jedoch auch im Urbanitätsverständnis der 1960er Jahre entscheidend zur Urbanität einer Stadt beiträgt. Deutlich wird, dass auch weitere Autoren der 1960er und 1970er Jahre diese Meinung vertreten. So beschreibt Hans Paul Bahrdt 1974 als Maßstab für Urbanität den Grad, „in dem Privatheit und Öffentlichkeit als separate Handlungsräume gegeneinander abhebbar werden.“106 Diese Definition von Urbanität wird auch in einer Publikation der technischen Universität Braunschweig von 1972 hervorgehoben. Hier wird Isolation als negative Konsequenz aus der Stadtplanung der funktionalen Stadt verdeutlicht: „Das Fehlen der Polarität Öffentlichkeit-Privatheit wird verursacht durch Strukturpläne, die dem Prinzip der Entmischung folgen, der räumlichen Funktionstrennung von Arbeit, Versorgung und Wohnen, Freizeit [...] und dem dadurch hervorgerufenen Anwachsen des Indivi105  Vgl. Salin, Edgar: Urbanität. In: Deutscher Städtetag (Hrsg.): Erneuerung unserer Städte. Bonn 1960: Salin beschreibt die Entstehung des Begriffs Urbanität als die Übersetzung vom griechischen Wort Asteiotes, welches den „Adel von Bildung und Leistung und Geist, die Vornehmheit der inneren und äußeren Haltung und der sicherer Takt im Umgang mit Lehrern und Freunden, mit Hoch- und Gleich- und Niedrig-Stehenden“ beschreibt (S. 11). Nach Salin erlebte die Urbanität nach dem Zerfall der städtischen Kultur in Griechenland eine Renaissance im römischen Reich, wobei Edgar Salin auch an diesem Punkt deutlich macht, dass nicht allein die Existenz einer Stadt Urbanität begründet, sondern sich erst eine städtische Kultur entwickeln muss. Dies dauerte im römischen Reich nach der Eroberung Griechenlands noch dreiviertel Jahrhunderte „ehe die Worte urban und Urbanität Eingang fanden“ (S. 12). Salin fasst diese römische und griechische Grundlage der Begriffe zusammen, indem er beschreibt, dass die Urbanität nicht losgelöst von der aktiven Mitwirkung einer Stadtbürgerschaft am Stadtregiment anzusehen sei (Vgl. S. 13f). In der neuzeitlicheren Geschichte tauchen, nach Salin, die Begriffe Urbanität und urban im englischen und französischen Sprachraum im 18.Jahrhundert wieder auf: In England bildete Urbanität zu diese Zeit kein Zielbild, in Frankreich dagegen wurden die Begriffe im Zusammenhang mit der griechisch und römischen Bedeutung benutzt und gingen damit in den Sprachgebrauch wieder ein (Vgl. S. 16f). Edgar Salin erläutert im frühen 20. Jahrhundert zumindest eine Atmosphäre von Urbanität in deutschen Städten gefunden zu haben, die geprägt war durch einen wachen Bürgersinn, das Nachwirken einer großen Vergangenheit sowie eine stolze Verbundenheit mit der Stadt (Vgl. S. 21). 106 Helle, Horst Jürgen: Der urbanisierte Mensch? In: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974, S. 17.

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dualverkehrs [...]“107. Neben dieser Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit wird der Dichtebegriff im Städtebau und in der Urbanitätsdiskussion vermehrt aufgegriffen. Louis Wirth beschreibt in seinem Aufsatz „Urbanität als Lebensform“ von 1974 die Stadt „[…] als eine relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen“108 und stellt weiter fest, dass „[...] die mit Urbanität assoziierten Merkmale umso stärker hervortreten, je größer, je dichter besiedelt und je heterogener eine Gemeinde ist“.109 Daraus wird die klare Verknüpfung zwischen Stadt und Urbanität erkennbar, die jedoch nicht zwangsläufig durch spezifisch städtisch-bauliche Strukturen entsteht, sondern immer auch gesellschaftlich geprägt ist. Wirth versucht mithilfe empirischer Methoden Urbanität zu definieren und geht damit einen Schritt über die psychologisch-philosophische Annäherung hinaus, die, wie beschrieben, das Urbanitätsverständnis im Allgemeinen prägt. Er versteht seine Theorie der Urbanität, die sich auf die Parameter Bevölkerungszahl, Siedlungsdichte und Heterogenität der Einwohner bezieht, als ein Werkzeug der Stadtsoziologie um „[…] eine klare Vorstellung von der Stadt als sozialer Wesenheit […]“110 zu erlangen und hat mit dem Aufzeigen dieser Variablen das Feld für weitere soziologische Forschungen eröffnet. François Barré fordert in einem Artikel mit dem Titel „The Desire for Urbanity“ das Urbanitätsverständnis an die neuen Gegebenheiten des Autoverkehrs oder der Industrie, anzupassen. Dabei ist für den Autor Urbanität überall und in jedem Maßstab vorzufinden. Urbanität vernetzt die Stadt und berührt dabei das Gebaute.111 Im gleichen Zusammenhang erläutert Jean Nouvel, dass Urbanität für ihn städtische Komplexität bedeute und informelle Treffen, lebendige Straßen, einen spezifischen kulturellen Charakter und personalisierten Gebrauch von Raum beinhalte.112

107 Technische Universität Braunschweig (Hrsg.): Eine Analyse von Nutzungsverpflechtungen und ihrer Bezugsebenen. Mehrzwecknutzung. Multifunktionalität. Urbanität. Braunschweig 1972, S. 53. 108 Wirth, Louis: Urbanität als Lebensform in: Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Stadt und Sozialstruktur, München 1974, S. 48. 109 Ebd., S. 49. 110 Wirth, Louis: Urbanität als Lebensform. In: Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Stadt und Sozialstruktur. München 1974, S. 64. 111 Vgl. Barré, François: The Desire for Urbanity. In: AD II/2 – 1980, London 1980, S. 6. 112 Vgl. Nouvel, Jean: Impossible Urbanity, In: AD II/2 – 1980, London 1980, S. 14.

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Bewegt man sich weiter im wissenschaftlichen Diskurs des Urbanitätsbegriffs, kann aus empirischer Sicht Urbanität in den 1970er Jahren durch Begriffe wie Arbeits- und Erwerbschancen in einer Stadt, Wohnangebote, Attraktionen im Kultur- und Freizeitbereich sowie die Quantität und Qualität der Spiel- und Handlungsräume definiert werden. Heidede Becker und Klaus Dieter Keim mahnen in ihrem 1974 veröffentlichtem Text „Urbanität und blockierte Erfahrung“ gleichsam: „Was nun ansteht, sind – im Rahmen einer UrbanistikForschung zu leistende – Analysen der eigentlichen entwicklungsbestimmenden Prozesse, die das jeweilige Erscheinungsbild der Stadt formen und die Auseinandersetzung des Bewohners mit der so geprägten städtischen Lebenswelt im Wesentlichen steuern.“113 Ein weiterer Ansatz des Urbanitätsverständnisses aus den 1970er Jahren setzt Urbanität in den Kontext der Nutzungsverflechtungen: Dabei können die Begriffe Mehrzwecknutzung und Multifunktionalität für die Bezugsebenen „Raumzelle“ und „gebauter Komplex“ genutzt werden. Der Begriff Urbanität steht dann für die Bezugsebene Stadtquartier. Daraus folgt, dass Urbanität „[...] die Zusammenfassung […] vieler gleicher und verschiedener Nutzungen innerhalb der jeweiligen Bezugsebene“114 ist, wobei diese Definition nur einen kleinen Aspekt von Urbanität beleuchtet. Entscheidende weitere Veröffentlichungen, Veranstaltungen und Ereignisse wie die Publikation „Die autogerechte Stadt“ von 1959, der Beginn der Bürgerbeteiligung in den 1960er Jahren, die Städtebautagungen 1963/1964 mit dem Thema Gesellschaft durch Dichte, der Buchanan Report 1963, die Gründung des Deutschen Instituts für Urbanistik 1973 und das Denkmalschutzjahr 1975 prägten das Urbanitätsverständnis dieser Zeit und stellen die Chronologie der Entwicklung dar. Zusammenfassend können die Themen Dichte, Verkehr und Partizipationsansätze den 1960er Jahren zugesprochen werden. „Kennzeichnend für die Städtebau-Diskussion der Jahre um 1970 war dann die stark soziologische Ausrichtung“115, während die Themen Stadtsanierung, Verwissenschaftlichung der Planung, Rückbesinnung auf die Geschichte sowie Kritik an verfehlten städtebaulichen Planungen der vorherigen Jahre mit den Jahren um 1975 verbunden werden können. 113  Becker, Heidede/Keim, K. Dieter: Urbanität und blockierte Erfahrung. In: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. München 1974, S. 54. 114  Technische Universität Braunschweig (Hrsg.): Eine Analyse von Nutzungsverpflechtungen und ihrer Bezugsebenen. Mehrzwecknutzung. Multifunktionalität. Urbanität. Braunschweig 1972, S. 33. 115  Reinborn, Dietmar: Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1996, S. 239.

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Internationalen Tendenzen der 1970er Jahre stehen in einer engen Verknüpfung mit den beschriebenen Leitideen und dem Urbanitätsverständnis zwischen 1960 und 1980 im deutschsprachigen Raum. Dies wird schon in den oben zitierten Publikationen deutlich, die in Teilen international veröffentlicht wurden. Insbesondere durch die CIAM entwickelte sich in Westeuropa ein ähnliches Verständnis von Stadt und Stadtraum, ebenso wie sich Wandel und Veränderungen im Allgemeinen gleichzeitig vollzogen. Damit lassen sich international ganz ähnliche Tendenzen wie die für Deutschland beschriebenen ablesen. Intensiver werden die oben angesprochenen Aspekte Soziologie, Urbanistik, Partizipation, Verkehr bzw. die autogerechte Stadt und Dichte, auch im Kontext internationaler Ansätze, unter der Überschrift „Geschichtlicher Hintergrund – städtebauliche Leitbilder und Architektur“ thematisiert. Im Kontext des aufgezeigten Urbanitätsverständnisses der 1970er Jahre wird deutlich, wie Großwohnkomplexe mit ihren vielfältigen Funktionen, der Trennung des Auto- und Fußgängerverkehrs, unterschiedlicher Gebäudetypologien und flexiblen Wohngrundrissen die in diesem Kapitel thematisierten Bestandteile des Urbanitätsverständnisses der 1970er Jahren vereinen und so die Illusion von Stadt innerhalb eines größeren Stadtgefüges schaffen.116 Im Jahr 1980 wurde im Rahmen der 11. Biennale in Paris erstmals ein Schwerpunkt auf Architektur und Städtebau gelegt und unter dem Titel „Urbanität“ unterschiedliche städtebauliche Projekte präsentiert. In einer Einleitung zur gleichnamigen Publikation wird die Kritik an der „Stadt der Moderne“ als Ausgangspunkt angeführt, und eine „Rückbesinnung auf Urbanität“ gefordert. „We have to rediscover colour, noise, gradients, materials, the rhythm of lighting, the atmosphere of a city full of accidents. Surprise must remain possible, the eruption of the non-assigned, the force of diversion, sudden and then gradually accepted.”117 Damit bezieht sich der Autor eher auf weiche Faktoren wie Atmosphäre, das Unerwartete und Spontane, das als Zusammenspiel von Stadtbürger und Städtebau angesehen wird. Ohne die Entwicklungen des Urbanitätsdiskurses der 1960er und 1970er Jahre zu thematisieren, bezieht sich der Autor auf die in der „Moderne verlorene Urbanität“ und erläutert, dass sie, anders als im Verständnis der 1960er/1970er Jahre, wo Urbanität mehrheitlich durch Aspekte wie Dichte, Multifunktionalität und Nutzungsvielfalt von Stadträumen zu realisieren versucht wurde, vor allem durch die Stadtbewohner, ihren Gewohnheiten, Bemühungen und ihre Gesellschaftlichkeit zu erreichen sei.118 Gleichzeitig führt 116  Vgl. Höhns, Ulrich (Hrsg.): Das ungebaute Hamburg. Hamburg 1991, S. 213. 117  Barré, François: The Desire for Urbanity. In: AD II/2 – 1980, London 1980, S. 7. 118  Vgl. ebd., S. 6.

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François Barré in Anlehnung an Hans Paul Bahrdt an, dass die „Transaktion zwischen Öffentlichkeit und Privatheit“ entscheidend für die Kommunikation und Interaktion sei, die die Grundlage von „Urbanität“ darstelle.119 Eine im Kontext des Urbanitätsdiskurses ebenso viel zitierte Publikation wie die Edgar Salins trägt den Titel „Neue Urbanität“ und erschien 1987. Die Autoren Hartmut Häußermann und Walter Siebel (Soziologen) beschreiben im Kontext anhaltender Stadtflucht seit den 1960er Jahren unter dem Begriff „Reurbanisierung“ die Tendenz des Zurückkehrens bestimmter Bevölkerungsgruppen in innenstadtnahe Wohnquartiere und machen dafür einen gesellschaftlichen Wandel verantwortlich. Weiter thematisieren sie eine zunehmende Segregation in den Städten, im Zuge derer Minderheiten wie Arbeitslose oder Migranten in Großsiedlungen am Stadtrand gedrängt werden und gleichzeitig „Yuppies“ und „Alternative“ die zentrennahen Altbauquartiere einnehmen. Als ebenso relevant für die „Neue Urbanität“ thematisieren die Autoren unter anderem die räumlichen Veränderungen der Arbeitsplatzsituationen, die neuen Medien und die Kommunikation sowie Schrumpfungsprozesse von Städten. Unter dem Begriff „Urbanisierung“ verstehen die Autoren demnach nicht nur eine Veränderung der Siedlungsweise (Verstädterung), sondern auch den Wandel der Berufs- und Haushaltsstrukturen sowie der Lebensweisen.120 Diese Argumentation greift ebenso auf den sozialen Aspekt des städtischen Zusammenlebens zurück und überführt ihn, analog dem Titel „Neue“ Urbanität, in ein neues Verständnis von Stadt nach gesellschaftlichen Veränderungen in den Jahren zuvor. Die Autoren kritisieren indirekt das von Salin geprägte Verständnis von Urbanität als eine Lebensart der bürgerlichen Schicht der Stadtbewohner und fordern, dass die neue Urbanität aus „sozialen Bewegungen heraus“ entstehen müsse.121 Walter Siebel fasst acht Jahre nach dieser Veröffentlichung in einem Text von 1995 unter dem Titel „Was macht die Stadt urban“ fünf Dimensionen von Urbanität zusammen: •



Die Frage der Funktionen, ausgehend von der Trennung der Funktionen nach der Charta von Athen und der folgenden Forderung nach kleinteiliger Funktionsmischung wie von Jane Jacobs 1963 postuliert. Sozialökologisch ist nach Salin die Urbanität abhängig von der Größe der Stadt, der Dichte und der Heterogenität der Bevölkerung, was jeweils be-

119 Vgl.ebd., S. 7. 120  Vgl. Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter: Neue Urbanität. Frankfurt am Main 1987, S. 186 . 121  Vgl. ebd., S. 203.

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• • •

dingt wird durch den Einzugsbereich eines städtischen Markts und die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Sozialpsychologisch ist Urbanität nach Hans Paul Bahrdt die „Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit“122. Die politische Soziologie sieht in Urbanität die Bildung und Leistung eines Städters sowie seine Partizipation an der Stadt (nach Salin 1960). Die fünfte Dimension beschreibt Siebel aus der zivilisationsgeschichtlichen Perspektive heraus als den Ort der Emanzipation vom Naturzwang und der Erleichterung des Lebens entgegen dem täglichen Kampf um das Überleben.123

Analog dem in unterschiedlichen Facetten vorgestellten Verständnis von Urbanität (neben baulichen Strukturen) als gesellschaftliche Kraft wurden in der Publikation von Peter Hall und Ulrich Pfeiffer „Urban 21“ anlässlich der EXPO 2000, die heutige, weltweite Stadtsituation sowie die zukünftigen Entwicklungen im Kontext von Arbeit und Wohlstand, sozialer Gesellschaft, Wohnen, Ökologie, Verkehr, Lebensqualität und Demokratie thematisiert.124 Abweichend von dem beschrieben Gedankengängen Edgar Salins 1960 unterscheidet der Soziologe Dieter Hassenpflug 2002 in seiner Publikation „Die europäische Stadt. Mythos und Wirklichkeit“ zwischen der sozialen, der funktionalen und der ästhetischen Urbanität. Dabei erscheint „die soziale Urbanität“ als die am stärksten an das von Edgar Salin beschriebene Urbanitätsverständnis anknüpfende Komponente, nämlich die Tugenden des citoyen, also Selbstbewusstsein, Toleranz und Weltläufigkeit, Aufgeklärtheit, Skepsis und Fähigkeit zur Distanz, geistige Mobilität und intellektuelle Aufgeschlossenheit, Neugier und Innovationsfreude. Weiter beschreibt Hassenpflug die funktionale Urbanität als „Leistungsfähigkeit des städtischen Raums“ unter den Aspekten Zentralität (die Nähe von Funktionen und Nutzungen), Funktionsvielfalt (Wohnen, Arbeiten, Erholen, Sport sind räumlich nah verfügbar), Nutzungsmischung (ein städtischer Raum wird für unterschiedlichste Aktivitäten genutzt) und Funktionspluralismus (unterschiedlichste Räume koexistieren). Abschließend geht Hassenpflug auf die ästhetische Urbanität ein, die die „…Atmosphäre bzw. den Gefühls- und Erlebniswert der Stadt…“ betrifft. Er führt dabei das Mythenpotenzial einer Stadt an, die Kohärenz der Zeichen und Formen, den Raumpluralismus („Räume 122  Siebel, Walter: Was macht eine Stadt urban? Zur Stadtkultur und Stadtentwicklung. (Oldenburger Universitätsreden, Nr. 61) Oldenburg 1994, S. 6. 123  Vgl. ebd., S. 5ff. 124  Vgl. Hall, Peter/Pfeiffer, Ulrich (Hrsg.): Urban 21. München 2000, S. 29ff.

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unterschiedlicher Geschwindigkeit, Spiritualität, Dichte und Durchlässigkeit“), lokale und regionale Kontextbezogenheit sowie artikulierte und gestaltet Übergänge zwischen Privatheit und Öffentlichkeit sowie zwischen Stadt und Land.125 Seit den 1960er Jahren, auch inspiriert von dem oben beschriebenen Vortrag Edgar Salins, wird der Begriff Urbanität im allgemeinen Verständnis einer lebendigen, durchmischten Stadt mit partizipierendem Stadtbürgern verwendet. Es besteht jedoch weiterhin eine fortwährende Diskussion über den tieferen Inhalt und die Bedeutung des Begriffs. Thomas Wüst setzt sich in der Publikation „Urbanität. Ein Mythos und sein Potenzial“ aus dem Jahr 2004 mit dem Begriff auseinander und stellt durch einen Vergleich mit einer Definition des Begriffs „Mythos“ heraus, dass es sich bei dem Begriff Urbanität um einen solchen handelt. Er fasst in seiner Publikation die Diskurse über Urbanität zusammen und stellt sie unter den Oberbegriffen sozio-kulturelle bis baulich-städtebauliche Größe (räumliches und gesellschaftliches Urbanitätsverständnis), Erfüllung bis Unsinn (Urbanität als positiv besetzter Begriff und städtebauliche Zielvorstellung), Prozess bis Produkt (Urbanitätsverständnis im gesellschaftlichen Wandel oder als das Produkt desgleichen), exklusiv bis gewöhnlich (Urbanität als Charakteristik einer vergangenen Epoche) und stadtgebunden bis ubiquitär (städtische und gesellschaftliche Bedingungen für Urbanität) in thematischen Sinnzusammenhängen und kontroversen Diskussionen vor.126 Damit macht Wüst deutlich, dass neben dem viel beschriebenen gesellschaftlichem Urbanitätsverständnis, welches die Publikationen über den Begriff der Urbanität bis heute prägt, weitere Diskursfelder in der Literatur eröffnet werden. Insbesondere in den 1970er Jahren war der Diskurs über Urbanität „[...] dominiert von städtebaulichen Aspekten“127. Dabei wurde Urbanität im allgemeinen Sprachgebrauch als Synonym für „lebendiges, städtisches Leben“ gebraucht und damit in seinem Wortsinn banalisiert.128 Auf der anderen Seite entstand erst dadurch die Möglichkeit, dieses „einfache Bild“ durch städtebauliche Entwürfe zu visualisieren, was mit dem städtebaulichen Leitbild der 1960er/1970er Jahre, „Urbanität durch Dichte“, unterstrichen wurde.

125  Vgl. Hassenpflug, Dieter: Die europäische Stadt als Erinnerung, Leitbild und Fiktion in: Hassenpflug, Dieter (Hrsg.): Die Europäische Stadt. Mythos und Wirklichkeit. Münster 2002, S. 43. 126  Vgl. Wüst, Thomas: Urbanität. Ein Mythos und sein Potential. Dissertation. Wiesbaden 2004, S. 51ff. 127  Ebd., S. 63. 128  Vgl. ebd., S. 63.

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Ähnlich der zitierten Feststellung Webers im Kapitel Stadtraumästhetik, dass Stadträume vom Betrachter immer im Verständnis des Gesamtgefüges bewertet werden, scheint dies auch für Urbanität zu gelten: Williams Holly Whyte stellt in einer 1980 veröffentlichten Studie fest129, dass Stadträume in großen Städten belebter und aktiver seien als analoge Räume in kleineren Städten. Das Verhalten im Stadtraum steht also ebenfalls direkt damit in Verbindung, in welcher Stadt man sich befindet. Durch das Aufzeigen des Verständnisses der Begriffe Ästhetik, Stadt und Urbanität in den 1960er/1970er Jahren wird ein praxisorientierter Ansatz deutlich. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass in diesem Kapitel, neben philosophischen Ansätzen, insbesondere im Zuge der Erläuterung der Begriffsverständnisse der 1960/1970er Jahre architektonische Publikationen herangezogen wurden, die stärker den baulichen und konkret soziologischen Aspekt hervorheben, als auf die philosophischen Diskurse einzugehen. Ebenso wird der Ästhetikbegriff in vielen herangezogenen Publikationen im Sinne des „Schönheitsbegriffs“ thematisiert, was jedoch nicht als unbedingt spezifisch für die 1960er und 1970er Jahren angesehen werden muss. Trotz dieser Einschränkung wird deutlich, dass in den 1960er und 1970er Jahren die funktional-technischen Gesichtspunkte der Planung im Vordergrund standen und neue Baumaterialien sowie ein neues Architekturverständnis begründeten.

Ö FFENTLICHKEIT

UND

P RIVATHEIT

Wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben tauchen die Begriffe „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“, insbesondere auch als Begriffspaarung, in den Diskursen über Stadt und Urbanität immer wieder auf. Sie sind als kontrastierende, räumliche und soziale Zustände ein Merkmal der städtischen Umgebung und damit ebenso wie der Begriff „Urbanität“ entscheidend für den theoretischen Hintergrund der Arbeit. Während die strenge Polarität dieser Begriffe im dörflichen Kontext oft aufweicht, scheint die Wechselbeziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit etwas typisch städtisches zu sein, die sich aus der selbstgewählten Distanz zum „Fremden“ ergibt. „Die sorgfältig gepflegte Distanz hat zur Folge, daß [sic!] nur ein kleiner, zufälliger, abstrakter Ausschnitt der Persönlichkeit sichtbar wird. Will man sich keine Blöße geben, so wird man bemüht sein, Persönliches, das für die Offenheit sozialer Kontakte zu empfindlich ist, abzude129  Vgl. Whyte, Wlliams Holly: The Social Life of Small Urban Spaces. Tuxedo 1980, 7. Auflage Washington 1988.

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cken, zu privatisieren.“130 „Die äußerlich erkennbare Erscheinungsform des Verhaltens ist deshalb weniger ein natürlich hervorgewachsener Ausdruck eines Innern, sondern vielmehr ein ‘Sich-geben’, ein Auftreten, ein Sich-darstellen oder auch ein abstraktes, von der Sache um die es geht, abgelöstes Geben von Zeichen.“131 Im Gegensatz zum Leben in dörflichen Gemeinschaften zeichnet die Stadt dabei insbesondere aus, dass man die Möglichkeit von Begegnungen hat, ohne diese gezwungenermaßen zu erleben.132 Gleichzeitig weicht im Vergleich zur gelebten und politischen Öffentlichkeit des römischen Reiches,133 die das Verständnis von Öffentlichkeit in westlichen Gesellschaftsstrukturen prägt, die Öffentlichkeit heute einer wachsenden Intimität und Privatheit. Diese Entwicklung beginnt mit der Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem die Öffentlichkeit im westlichen Europa im 18. Jahrhundert, zum Beispiel in Städten wie Paris oder London, ihre Blütezeit erlebte.134 Während im 18. Jahrhundert die Koexistenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit durch fehlende Individualität stabilisiert wurde135, erstarkte im Verständnis der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts der Wunsch nach individueller Persönlichkeit. Das rationale Zweck-Mittel-Denken der Gesellschaft wich einer emotionalen, innerlichen und offenen Gemeinschaft von Individuen.136 Zur inhaltlichen Einführung in die Begrifflichkeiten wird die Publikation „Großstädte von morgen“ von Hans Paul Bahrdt, publiziert 1961, herangezogen. In dieser Veröffentlichung beschreibt der Autor die Polarität der städtischen Öffentlichkeit und Privatheit aus der historischen Entwicklung heraus. Unter der Kapitelüberschrift „Öffentlichkeit und Privatheit als Grundform städtischer Vergesellschaftung“ macht der Autor unter sozialwissenschaftlichem Aspekt 130  Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Reinbek 1961, S. 42. 131  Ebd., S. 43. 132  Vgl. Schroer, Markus: Stadt als Prozess. Zur Diskussion städtischer Leitbilder in: Berking, Helmut/Löw, Martina (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden 2005, S. 337. 133  Vgl. dazu den Abschnitt „Urbanität“ wo ebenfalls das öffentliche Stadtleben der „res publica“ als Grundlage für den Begriff der Urbanität und des urbanen Bürgertums erläutert wurde. 134  Vgl. Sennet, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. New York 1974, deutsche Ausgabe: Frankfurt am Main 1983, S. 71. 135  Vgl. ebd., S. 134. 136  Vgl. ebd., S. 284.

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deutlich, in welch enger Verflechtung Privatheit und Öffentlichkeit zum städtischen Leben stehen. Hans Paul Bahrdt geht auf die Öffentlichkeit ein, indem er die Darstellung des Individuums im öffentlichen Raum als ein geplantes und teilweise reflektiertes Verhalten beschreibt. Die Selbstdarstellung erfährt im öffentlichen Raum einen höheren Stellenwert und Gesten und Verhaltensweisen werden der städtischen Umwelt angepasst. Im Gegensatz zum dörflichen Kontext sind dabei insbesondere der Kontakt und die Distanz zu Fremden ausschlaggebend, die in einem Dorf seltener stattfinden.137 Unter dem Aspekt der Privatheit verdeutlicht Bahrdt, dass diese immer in Wechselwirkung und in Abgrenzung zur Öffentlichkeit empfunden wird: „Die Absonderung, die Abschirmung nach außen läßt [sic!] die kleine soziale Umwelt in ihrer Einheit und Eigenart im Unterschied zur Außenwelt bewußt [sic!] werden und ermöglicht, daß [sic!] ihre latente Eigengesetzlichkeit zum Zuge kommt. Bewußter [sic!] Ausbau und Kultivierung der engsten sozialen und dinglichen Umwelt zu einem in sich geschlossenen System eigener Art: Das sind die positiven Bestimmungen der Privatheit.“138 Im vorliegenden Kapitel werden im Folgenden die Begriffe des öffentlichen Raums und der Privatheit in zwei Unterkapiteln erarbeitet und anschließend thematisch in Bezug zum Thema der Arbeit gesetzt. Während im Kontext der Öffentlichkeit Themen wie Stadtraum, Wahrnehmung und Urbanität im Zusammenhang mit dem menschlichen Verhalten in diesen öffentlichen städtischen Räumen thematisiert werden, soll nach einer Einführung unter dem Begriff der Privatheit das Wohnen hervorgehoben werden. Forschungsfelder und -ansätze aus beiden Bereichen werden ebenfalls thematisiert. Da sich Öffentlichkeit und Privatheit als Begriffspaar im Rahmen der Kritik an der „Stadtplanung der Moderne“ und im Hinblick auf zukünftige Stadt- und Gebäudeplanung erst zu Beginn der 1960er Jahre etablierten beziehen sich die folgenden Ausführungen zum größten Teil auf Publikationen aus dieser Zeit. Unter der Überschrift „Öffentlicher Raum“ werden nach einer Einführung Ansätze dargestellt, die das Verhältnis menschlicher Aktivität und baulicher Umgebung im öffentlichen Raum thematisieren. Wie oben bereits angedeutet ist das Kapitel inhaltlich in zwei Segmente untergliedert: Unter der Überschrift „Urbanität im Kontext des Begriffs Öffentlichkeit“ werden die funktionalen Möglichkeitsräume und ihre Bedingungen erläutert. Im Anschluss wird in einem Exkurs dargelegt, in welchem Zusammenhang der öffentliche Raum und Segre137  Vgl. Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Reinbek 1961, S. 43f. 138  Ebd., S. 53.

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gationsprozesse in Städten stehen. Abschließend sind unter dem Thema „Forschungen und Studien zum Begriff der Öffentlichkeit im Stadtraum in den 1960er/1970er Jahren“ wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungsfragen aufgeführt, die insbesondere das Interesse am öffentlichen Raum in dieser Zeit aufzeigen. Gleichzeitig werden auch durch zeitgenössische Studien derzeitig aktuelle Fragestellungen dargelegt. Im Kontext der Polarität zwischen Privatheit und Öffentlichkeit spielt das Wohnen als individueller Rückzugsort eine entscheidende Rolle. Der Aspekt des Wohnens wird im Anschluss an die Ausführungen zur „Öffentlichkeit“ erarbeitet. Unter der Überschrift „Die neue Gesellschaft“ wird in diesem Kapitel die Gesellschaft als Grundlage für architektonische Veränderungen innerhalb des Wohnens erläutert. Dieses Verständnis basiert primär auf Publikationen, die unter architektonischen Gesichtspunkten die neuen Wohnformen beschreiben und dabei auf eine neue Gesellschaftsstruktur verweisen. Im Kontext der Großwohnkomplexe und der dazugehörigen Ausführungen über die theoretischen und geschichtlichen Hintergründe der Bauform, wird das neue Gesellschaftsbild, das in den 1960er Jahren in Deutschland entstand, nochmals hintergründlicher verdeutlicht. Ein Aspekt dieses neuen Gesellschaftsbilds war das gemeinschaftsorientierte Wohnen, dessen Ansatz sich grundlegend auf die Architektur der Wohnung auswirkte. Unter dem Titel „Gemeinschaftliches Wohnen; Polarität zwischen Separation und Gemeinschaftlichkeit“ wird dieser Aspekt beleuchtet und unterschiedliche Formen des gemeinschaftlichen Wohnens aufgezeigt. Im Anschluss wird das „Wohnen im Verhältnis zum Stadtraum“ thematisiert. Unter den Stichworten „Flexibilität, Nutzungsneutralität, Raumsysteme“ werden abschließend Forschungsansätze in Bezug auf das Wohnen aufgezeigt. Zusammenfassend erweitert dieses Kapitel das Wissen und das Verständnis für die Begriffe Öffentlichkeit und Privatheit, die in den 1960er/1970er Jahren eine neue Aktualität erfahren haben und damit auch im Kontext der Planung von Großwohnkomplexen eine entscheidende Rolle spielten. Mit diesem Kapitel wird der Forschungshintergrund abgeschlossen. Öffentlicher Raum Der Paradigmenwechsel in den Leitbildern von der „aufgelockerten Stadt“ zum Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ begründete ebenso ein neues Verständnis für den öffentlichen Raum. Während in den Nachkriegsjahren dem öffentlichen städtischen Raum weniger Bedeutung zugemessen wurde als dem Streben nach der funktionalen Stadt mit weitläufigen, großzügigen Wohnquartieren und öffentlichen (Grün-)Flächen mit der klaren Trennung der Funktionen, verlagerte

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sich das Verständnis mit dem Wunsch nach „Urbanität durch Dichte“ ebenfalls zu dichten, städtischen, öffentlichen Orten mit engen Straßen, Gassen und Plätzen. Klaus Humpert spricht in einem Artikel von 1994 rückblickend von einem Paradigmenwechsel im Verständnis zum öffentlichen Raum in der Mitte der 1960er Jahre und unterstreicht den damals wiederentdeckten Wunsch nach dem „alten Stadtraum“.139 Humpert führt weiter aus, dass es sich dabei um einen anhaltenden und noch nicht abgeschlossenen Prozess handelt und hebt nochmals zum einen die Verbindung von Stadtraum und Öffentlichkeit, zum anderen die Kraft, die von dem neuen Verständnis der Stadt gegenüber ausgeht hervor: „In der Wiederentdeckung der Stadträume und damit der öffentlichen Räume scheint sich ein tiefer Wandel unserer Weltanschauung abzuzeichnen.“140 Verdeutlicht wird dieser Paradigmenwechsel ebenso an einer Vielzahl von Publikationen, Forschungen und Seminarberichten die zumeist in den 1970er Jahren erschienen und thematisch die Öffentlichkeit in Städten in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben zum Inhalt haben.141 Sie spiegeln Forschungsergebnisse über gesellschaftliche Kontakte in öffentlichen Räumen und Bezug in auf die Gestaltung der Räume und den Verkehr wieder, geben Einblicke in visionäre Raumkonzepte, deren offene Struktur einen großen Nutzungsspielraum und eine hohe Flexibilität zulässt oder beschäftigen sich unter dem Aspekt der architektonischen wie städtebaulichen Planung mit dem sozialen Verhalten verschiedener Menschen in öffentlichen Räumen, um nur einige Beispiele zu nennen und daran die Breite der Forschungsfragestellungen, die in diesem Zusammenhang in den 1970er Jahren entwickelt wurden, aufzuzeigen. Dabei veröffentlichten der oben bereits zitierte Autor Hans Paul Bahrdt, Soziologe und Urbanitätsforscher, sowie Jane Jacobs und Alexander Mitscherlich, als Kritiker der modernen Stadtplanung, schon früh (1961, 1963 und 1965) ihre Publikationen. Die Autoren Mitscherlich und Jacobs gehen schon damals auf das Problem der mangelnden Öffentlichkeit ein, sie fordern die Straßen und Plätze 139  Vgl. Humpert, Klaus: Die neue Lust am Stadtraum. In: Aminde, Hans-Joachim (Hrsg.): Plätze in der Stadt. Ostfildern-Ruit 1994, S 34. 140  Ebd., S 41. 141  Vgl. beispielsweise Goffman, Erving: Verhalten in sozialen Situationen: Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh 1971/Severino, Renato: Totaler Raum. Quantität und Qualität im Bauen. München 1971/Gehl, Jan: Life between buildings. Using public space. Aus dem dänischen von Jo Koch, Kopenhagen 1971, englische Ausgabe: New York 1986/Whyte, Wlliam Holly: The Social Life of Small Urban Spaces. Tuxedo 1980, 7. Auflage Washington 1988.

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der Stadt wieder als öffentlichen und kommunikativen Raum zu begreifen und ihn nicht funktionalistischen Gesichtspunkten zu unterwerfen. Auf diese Publikationen wird unter dem Aspekt der theoretischen und geschichtlichen Einordnung der Großwohnkomplexe in einem weiteren Kapitel intensiver eingegangen. Urbanität im Kontext des Begriffs Öffentlichkeit Im Jahr 1889 veröffentlichte Camillo Sitte (1843–1903) eine Publikation über den Städtebau, in welcher er die Wirkung von Stadträumen auf die Bewohner analysiert. Es wird in dieser Publikation, wie auch in vielen darauf folgenden Untersuchungen über Stadträume, deutlich, dass es einige Parameter der Gestaltung gibt, die eine grundsätzlich positive Wahrnehmung hervorrufen. Dazu zählen die Geschlossenheit des Platzes, eine klar eingehaltene Hierarchie der Gebäude, die aufeinander abgestimmte Gesamtwirkung der Gebäude sowie die Kontrastwirkung eines Stadtraums zu weiteren Räumen.142 Eine als positiv empfundene Wahrnehmung führt zu einer erhöhten Aufenthaltsqualität, die wiederum weitere Öffentlichkeit bedingt. Jan Gehl, Autor der Publikation „Life between buildings“ von 1986, teilt das öffentliche Leben im Stadtraum in drei Kategorien: die notwendigen Tätigkeiten wie Warten, sich Fortbewegen, Arbeiten oder Einkaufen, die optionalen Aktivitäten und die sozialen Aktivitäten. In der Kategorie der optionalen Aktivitäten sowie der sozialen Aktivitäten ist die Abhängigkeit von der Gestaltung des Raums am stärksten ausgeprägt.143 Eine gegenseitige Bedingung dieser Aktivitäten liegt dabei auf der Hand144, denn je mehr (freiwillige) Aktionen im öffentlichen Raum stattfinden, desto mehr soziale Interaktion kann entstehen. Demgegenüber sind die notwendigen Aktivitäten nahezu unabhängig von der Raumgestalt. Es wird also deutlich, dass die soziale Interaktion ausschlaggebend für den Aufenthaltswert im öffentlichen Raum ist. Das bedeutet ebenfalls, dass in Räumen, die Nutzungen aufweisen, die den Menschen, und sei es nur durch notwendige Aktivitäten, zum Aufenthalt auffordern, ein Möglichkeitsraum entsteht, der weitere Besucher zum Aufenthalt im selben animiert. Viele Forschungen haben ergeben, dass sich im Raum aufhaltende Menschen dazu beitragen, dass dieser 142  Vgl. Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Vermehrt um „Grossstadtgrün“ Wien 1909, fünfte Auflage: Wien 1922, S. 162ff. 143  Vgl. auch Studie von Wolter, Birgit: Die Gestalt des städtischen Raumes. Dissertation. Dresden 2006. 144  Vgl. Gehl, Jan: Life between buildings. Using public space. Aus dem dänischen von Jo Koch, Kopenhagen 1971, englische Ausgabe: New York 1986, S. 13ff.

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Raum auch für weitere Akteure attraktiv erscheint. Die Möglichkeit, andere Menschen bei ihren Aktivitäten im Stadtraum zu beobachten, sei es beiläufig oder gezielt, fördert die Aufenthaltsqualität und die Verweildauer am Ort. Sehen, Bekannte treffen und gemeinsame, spontane Aktivitäten gemischt mit funktionsgebundenen Abläufen können die Grundlage für ein belebtes, städtisches Quartier erzeugen. Baulich ist es also notwendig neben den Funktionen wie Einkaufen und Wohnen oder Arbeiten auch Aufenthaltsräume zum Beobachten, Treffen und zum Austausch zu bieten. Dabei werden, der These des Beobachtens entsprechend, dem Geschehen zugewandte, offene Sitzmöglichkeiten bevorzugt gewählt. Sozialisation, Interaktion, Information, Kommunikation und Identität sind nach Heinz Rohm in diesem Zusammenhang ebenfalls entscheidende Aspekte der Aneignungsprozesse im öffentlichen Raum.145 Architektur und Städtebau können also den Rahmen für unterschiedliche Funktionen, Aufenthaltsmöglichkeiten und soziale Interaktion bieten. Es wird jedoch darüber hinaus sowohl anhand älterer als auch neuester Forschungen über die Aufenthaltsqualitäten von öffentlichen Räumen deutlich, dass diese Qualitäten von weiteren Faktoren abhängig sind. Alle Faktoren wirken gemeinsam und bedingen sich gegenseitig, sodass (bauliche) Parameter nicht eindeutig festgelegt werden können. Zusammenfassend können die Aspekte Wetter, Sonne und Verschattung, Grünflächen, Sitzmöglichkeiten, Nutzungsdichte, Multifunktionalität, Mischung aus notwendigen, optionalen und sozialen Aktivitäten, dem Angebot an Restaurants und Imbissen, der Proportion des Raums und das Maß an räumlicher Geschlossenheit, Stadtmöbel und markante Orientierungspunkte sowie der Wiedererkennungswert des Ortes als relevant und durchaus gleichwertig betrachtet werden. Hinzu kommen immaterielle Reize wie Gerüche, Geräusche, Aktivitäten, Helligkeiten und Symbole, deren „Zusammenwirken […] [die, K.B.] Ausgangsbedingung für eine mehr oder weniger starke Beziehung zwischen Mensch und städtischer Umwelt“146 ist. Zusammenfassend erläutern die Autoren Becker und Keim 1972, dass das Verhalten von Menschen im Stadtraum nicht ausschließlich von der baulichen Umwelt abhängt, diese jedoch bis zu einem bestimmten Grad das Handeln beeinflussen kann. „Mindestens ebenso wichtig sind die Aktivitäten, die Nut145  Vgl. Rohm, Heinz: Aufgabe und Bedeutung von Fußgängerzonen. In: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974, S. 165ff. 146  Becker, Heidede/Keim, K. Dieter: Wahrnehmung in der städtischen Umwelt – möglicher Impuls für kollektives Handeln. Berlin 1972, 4. Auflage mit kommentiertem Literatur Nachtrag: 1978, S. 110.

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zungsmöglichkeiten und Zwecke, die durch die Gebäude und Freiräume stimuliert oder behindert werden.“147 In einem weiteren Forschungsprojekt über die Nutzung öffentlicher Räume in New York arbeitet der Autor William Whyte heraus, dass das Angebot die Nachfrage erzeugt148 und dass gut gestaltete Plätze Menschen zum Aufenthalt ermuntern, die ohne das Angebot den Raum nicht genutzt hätten. Damit rückt der Autor den Raum von einem gestalteten Ort, der auf die Bedürfnisse der Menschen reagiert, in den Bereich des Agierens und gibt ihm die Möglichkeit, die Nutzung der Menschen zu beeinflussen. Damit ist der Grundstein für viele weitere Forschungen über die Nutzungsqualitäten des Raums gelegt, die, mit dem Ziel Parameter für eine anregende, auffordernde Gestaltung zu finden, Stadträume analysieren. Eine Studie aus dem Jahr 1997 macht deutlich, dass im Zuge der Planung öffentlicher Orte „neben ihrem technisch-räumlichen Bezug die Aspekte sozialund gemeinwesenorientierter Problemlagen systematisch zu berücksichtigen“149 sind, denn während „[…] in den Wahrnehmungsmustern das Maß kollektiver Raumwahrnehmung hinsichtlich Feld und Schärfe (Mix von Grenzziehungen und Orientierungsräumen) strukturiert wird, zeigt sich besonders in den sozialen Aspekten der Raumaneignung – fokussiert in Raumbewertungsmustern unterschiedlicher Komplexität und Intensität – deren Schlüsselfunktion für Identifikationsprozesse.“150 Exkurs: „Aktive Öffentlichkeit“ und Sozialverhalten Eng verbunden mit den Überlegungen zum öffentlichen Leben in der Stadt ist also das öffentliche Sozialverhalten der Bewohner. Die Publikation von Friedrichs und Triemer mit dem Titel „Soziale und ethnische Segregation in deutschen Städten“ fasst unterschiedliche Untersuchungen zu diesem Thema zusammen und kommt zu dem Schluss, dass das Sozialverhalten und damit Segregationsprozesse in Anhängigkeit stehen, bzw. durch zu geringe oder zu hohe soziale Mischung bedingt werden. Weiter führen die Autoren aus, dass soziale Mischung eines Wohngebiets vor allem dann positive Effekte erzielt, wenn 147  Ebd., S. 51. 148  Vgl. Whyte, Wlliams Holly: The Social Life of Small Urban Spaces. Tuxedo 1980, 7. Auflage Washington 1988, S. 16. 149  Künkel, Klaus/Simonis, Udo Ernst (Hrsg.: Identitätsbildung und Stadtentwicklung. Frankfurt am Main 1997, S. 9. 150  Ebd., S. 12.

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das Gebiet möglichst klein ist, denn schon innerhalb eines größeren Wohngebiets kann Segregation auftreten,151 ein hoher Anteil an Wohnungseigentümern vorhanden ist. (Dies bringt positive soziale Effekte für das Gebiet mit sich, da Eigentümer eher an nachbarschaftlichen Aktivitäten teilnehmen und vermehrt auf ihr Wohnumfeld achten),152 eine hohe räumliche Konzentration gegeben ist, die zu mehr Kontaktchancen führt, welche, wenn sie genutzt werden, wiederum in einem Abbau von Vorurteilen münden.153

Insbesondere der dritte der aufgeführten Punkte führt zurück zum übergreifenden Thema dieses Kapitels, der Öffentlichkeit im städtischen Raum. Aus dem Wunsch nach einer baulichen Konzentration, die zu mehr Kontaktchancen führt, kann weiter abgeleitet werden, dass öffentliche Orte, wie Plätze und Aufenthaltsbereiche für soziale Interaktion notwendige Voraussetzung sind. Ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle durch die Öffentlichkeit ist dabei ein ebenso positiver Nebeneffekt von räumlicher Konzentration und Aneignung des städtischen Raums. Darüber hinaus müssen unterschiedliche Wohnungsstrukturen für unterschiedliche Lebenssituationen und Familiengrößen geboten werden, um ein möglichst vielfältiges und gemischtes Wohnquartier zu erzeugen. Gebiete, die im beschriebenen Maße dichte Strukturen und belebte Räume aufweisen werden oft als urban bezeichnet. Urbanität bedeutet dabei nicht nur eine hohe Gebäudedichte und kleinteilige Funktionsmischung, sondern ebenso den Menschen als Stadtbewohner und seiner Partizipation am öffentlichen Leben. Die Polarität zwischen Öffentlichkeit und Privatleben, also die Distanz zwischen Wohnung und Stadtraum, spielt dabei ebenfalls eine entscheidende Rolle.154 Es wird also deutlich, dass ein heterogenes, durchmischtes Stadtquartier mit einem hohen Maß an Öffentlichkeit in gestalteten, ansprechenden Außenräumen die Möglichkeit für soziale Mischung eröffnet und damit Segregationsprozesse verlangsamen oder verhindern kann. Denn „Heterogenität ist […] zu fördern, z.

151  Vgl. Friedrichs, Jürgen/Triemer, Sascha: Gespaltene Städte? Soziale und ethnische Segregation in deutschen Großstädten. Wiesbaden 2008, zweite Auflage: 2009, S. 18. 152  Vgl. ebd., S. 18. 153  Vgl. ebd. Grafik, S. 72. 154  Vgl. Begriffserläuterung „Urbanität“ in diesem Kapitel.

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B. zum Erlernen von Toleranz bei sozialen und kulturellen Unterschieden, Konfrontation mit anderen Lebensstilen usw..“155 Die Praxis zeigt jedoch bei diesen hoch gesteckten Zielen sozialer Mischung, dass dies nahezu ausschließlich innerhalb einer mittleren Bevölkerungsschicht möglich und sinnvoll erscheint. In ein Wohngebiet mit Bewohnern überdurchschnittlichen Einkommens Sozialwohnungen mit der Hoffnung auf eine gute, soziale Interaktion zu bauen, erscheint für beide Parteien als nicht glücklich und wird in den seltensten Fällen funktionieren. Es ist demnach abzuwägen, in welchem Maß soziale Mischung sinnvoll erscheint. Im Weiteren soll, basierend auf dieser Überlegung, eher von der sozialen Mittelschicht der Bevölkerung ausgegangen werden, wenn ein gegenseitig befruchtendes Zusammenleben thematisiert wird. Funktionierende Beispiele sind heute zumeist Wohnquartiere mit relativ geringen Mietkosten, in welchen sich sowohl Studentenwohnungen, Sozialwohnungen, aber auch angeeignet und großzügig ausgebaute Wohnungen höheren Standards befinden, deren Bewohner gleichermaßen die „Urbanität“ dieses gemischten Wohnquartiers schätzen. Forschungen und Studien zum Begriff der Öffentlichkeit im Stadtraum in den „60er/“70er Jahren Der thematische Schwerpunkt von Forschungsansätzen zum Thema der Stadt in den 1960er/1970er Jahren lag häufig auf dem Aspekt des individuellen und kollektiven Handelns in öffentlichen Räumen. Dabei standen Stichwörter wie Distanzhandeln, Behavior Setting, Privatheit sowie Dichte- und Engereaktionen im Vordergrund der Forschungen. Als übergeordnete Begriffe zu diesen Feldern wurden Begriffe wie „Wahlfreiheit“ und „Interaktionskontrolle“ eingeführt. Baulich bildet sich die „Wahlfreiheit“ eines Individuums durch multifunktionale Räume ab. Interaktionskontrolle dagegen beschreibt das private oder öffentliche Handeln oder territoriale Verhaltensweisen im öffentlichen Raum unter Berücksichtigung baulicher Strukturen.156 Das „Dichteempfinden“ im Gegensatz zur physischen Dichte (Bewohnerdichte oder Geschossflächenzahl) ist dabei für die Forschenden ein schwer messbarer Wert. Vergleichbar mit dem Begriff „Lärm“, wobei nur der Schall gemessen werden kann, ist „Dichte“ nur in einer Gegenüberstellung von subjek155  Atteslander, Peter: Dichte und Mischung der Bevölkerung. Raumrelevante Aspekte des Sozialverhaltens. Berlin/New York 1975, S. 71. 156  Vgl. Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Zusammenhang von gebauter Umwelt und sozialem Verhalten im Wohn- und Wohnumweltbereich. Passau 1978, S. 13.

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tivem Dichteempfinden des Menschen und messbarer baulicher (physischer) Dichte quantifizierbar.157 Im Forschungsbericht zum Projekt „Auswirkung der Verdichtung auf Wohnumwelt und Wohnverhalten in Demonstrativbauvorhaben“ wird deutlich, dass Wohnquartiere unabhängig von der tatsächlichen, physischen Dichte dann von den Bewohnern als verdichtet beschrieben wurden, wenn die Wohnqualität gleichzeitig als eher niedrig beschrieben wurde. „Dichte“ scheint demnach ein negativ besetzter Begriff in der Bewertung des eigenen Wohnquartiers zu sein. Im Gegenzug konnte jedoch keine tatsächliche Abhängigkeit zwischen empfundener Wohnqualität und dem Grad der physischen Verdichtung festgestellt werden.158 Ein weiterer Forschungsschwerpunkt zum öffentlichen Raum war in den 1960er/1970er Jahren die Orientierung des Menschen im Stadtgefüge durch Orientierungszeichen und prägnante Raumereignisse, die gestaltend eingesetzt werden können. Es wurde die These vertreten, dass mentale Karten, so genannte „cognitive maps“, individuell erzeugt werden und sich der Mensch somit im Stadtraum orientiert und Entfernungen abschätzt. Während einige Forschungen davon ableiten, dass öffentliche Orte einen Wiedererkennungswert brauchen, um häufig aufgesucht und genutzt zu werden (vgl. Birgit Wolter, Kevin Lynch) stellen Andere die Frage, welche baulichen Maßnahmen ergriffen werden müssen, um mithilfe der „cognitive map“ ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Wohnquartier oder Stadtteil zu erzeugen.159 In den letzten Jahren hat sich die Fragestellung im Forschungsgebiet des öffentlichen Raums dahingehend geändert, dass nun eine Erhöhung der Wahrnehmungs- und Aufenthaltsqualität von städtischen Räumen durch planerische Entscheidungen untersucht wird. Birgit Wolter stellt dazu mithilfe von Wahrnehmungs- und Ästhetiktheorien sowie theoretischen Ausführungen zur Stadt, Raum und zur Gestalt Thesen auf, warum bestimmte Stadträume dem Menschen als Aufenthaltsort attraktiver erscheinen als andere und damit die Öffentlichkeit an diesem Orten fördern. Sie stellt fest, dass

157  Vgl. Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Auswirkung der Verdichtung auf Wohnumwelt und Wohnverhalten in Demonstrativbauvorhaben. Bonn 1979, S. 53. 158  Vgl. Ebd., S. 133f. 159  Vgl. Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Zusammenhang von gebauter Umwelt und sozialem Verhalten im Wohn- und Wohnumweltbereich. Passau 1978, S. 57.

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ein einfacher, geordneter Raum, der im klaren Kontrast zur städtischen Umwelt steht, leichter in Erinnerung behalten und damit als öffentlicher Ort angenommen wird,160 jeder Ort nach der Theorie des ökologischen Realismus einen Aufforderungscharakter gegenüber dem Wahrnehmenden hat, wobei es im öffentlichen, städtischen Raum primär um das Angebot des Verweilens im Raum geht,161 ein städtischer Raum dann ästhetischen Wert besitzt, wenn eine geordnete Gesamtgestalt aus komplexen und vielfältigen Einzelteilen besteht.

Als Ergebnis hält Wolter im Hinblick auf die Gestalttheorie fest, dass, je komplexer die Einzelteile eines Raums sind, desto klarer und geordneter sollte der Gesamteindruck wirken und umgekehrt, je einheitlicher die Fassaden des umbauten Raums sich darstellen, desto heterogener kann die Höhenentwicklung und desto geringer kann der Grad der Umschlossenheit eines städtischen Raums sein.162 Das Forschungsfeld der Umweltpsychologie erreichte ebenfalls in den 1960er/191970er Jahren aus den USA kommend Deutschland und etablierte sich als Forschungsfeld des öffentlichen Raums. Die Umweltpsychologie als ein wissenschaftliches Teilgebiet der Psychologie beschäftigt sich mit der Wechselwirkung von Mensch und Umwelt. Raum wird dabei als Umwelt menschlichen Handelns verstanden, wobei die Phänomenologie Edmund Husserls (1859– 1938), mit dem erkenntnisorientierten Ansatz menschlicher Raumwahrnehmung aufgegriffen wird.163 „Nicht die objektive oder physikalische Umwelt kann der Ausgangspunkt einer psychologischen Umweltanalyse und Theoriebildung sein, sondern die Umwelt als konkret erfahrbares, erlebbares Umherum. [...] Phäno160  Vgl. Wolter, Brigit: Die Gestalt des städtischen Raumes. Dissertation. Dresden 2006, S. 155. 161  Vgl. ebd., S. 171. 162  Vgl. ebd., S. 225. 163  Vgl. Edmund Husserl (1859–1938). Husserl begründete die „Phänomenologie“ als ein erkenntnisorientiertes Verständnis der Wahrnehmung und sieht dabei den Erkenntnisgewinn in der unmittelbaren Erscheinung. Er errichtete „auf phänomenologischer Grundlage eine neue, empirische Psychologie“ (dies und das Folgende: Allesch, Christian G.: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Habilitationsschrift. Göttingen 1987, S. 322) und erhob dabei den wissenschaftstheoretischen Anspruch, dass für eine ästhetische Aussage „vor aller psychologischen Reflexion [eine] [...] Klärung phänomenaler Tatbestände“ zu betreiben sei.

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menologisch fundierte Umweltanalysen richten sich auf die konkrete, materielle und sinnhafte Beschaffenheit der Umwelt“164, erläutert Lenelis Kruse in diesem Kontext in der 1974 vorgelegten Untersuchung mit dem Titel „Räumliche Umwelt“. Weitere umfangreiche Forschungen zu den unterschiedlichen Aspekten der Umweltpsychologie wurden in Form von Kongressen und Veröffentlichungen165 diskutiert und unter anderem am Institut für Städtebau und Landesplanung der Universität Karlsruhe erarbeitet und veröffentlicht. Während auf der einen Seite das Forschungsfeld der Umweltpsychologie die unterschiedlichen Forschungsaspekte abzugrenzen versucht,166 wird auf praxisorientierter Ebene über Aspekte wie die Wegewahl von Autofahrern, das Verhalten von Fußgängern, die Wahrnehmung bestimmter Bereiche der Stadt und die Umsetzung der Erkenntnisse in Planungsaufgaben diskutiert.167 Die oben im Zusammenhang mit der Diskussion des Stadtbegriffs in den 1960er/1970er Jahren angesprochenen „cognitiv maps“ spielen nach diesen Erkenntnissen auch im Bereich der Umweltwahrnehmung und Orientierung eine übergeordnete Rolle. Als Gegenpol zum Begriff Öffentlichkeit steht der Begriff Privatheit. Neben der Thematisierung von Öffentlichkeit sowie der Abgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit spielte dieser Begriff auch dadurch eine übergeordnete Rolle in den 1960er/1970er Jahren, da durch die gesellschaftlichen Entwicklungen neben Tendenzen zum Gemeinschaftlichen das Individuum und damit die Privatheit immer mehr in den Fokus rückte.168 Privatheit: Wohnen Privatheit ist eine eher neuere „Erfindung“. Sie kann in Deutschland auf den Beginn des 19. Jahrhunderts beziffert werden und geht mit dem oben beschriebenen, wachsenden Individualitätsverständnis einher. Früher galt die Schlafstätte als Behausung, Großfamilien, in dörflicher Umgebung auch das Vieh, lebten unter einem Dach zusammen, ohne den Anspruch auf Privatheit. „Die Funktionalität des Behaustseins entstand im Ineinandergreifen von Tätigkeit und räumli164  Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag einer psychologischen Umwelttheorie. Berlin 1974, S. 153f. 165  Vgl. z.B. Kaminski, Gerhard (Hrsg.): Umweltpsychologie. Perspektiven – Probleme – Praxis. Stuttgart 1976/Lammers, Gadso (Hrsg.): Verhalten in der Stadt. Karlsruhe 1977. 166  Vgl. ebd. 167  Vgl. Lammers, Gadso (Hrsg.): Verhalten in der Stadt. Karlsruhe 1977 168  Vgl. u. A. Kapitel „ Gesellschaftlicher Kontext“.

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chen Bezügen; eine Trennung nach den Gesichtspunkten des sich Zurückziehens, der Raumspezialisierung, war nur sehr rudimentär vorhanden. Privatheit als besondere Existenzform gab es nicht, weder bei städtischen Bürgern, Handwerkern, noch bei Bauern und auch kaum beim Adel.“169 Unter zeitgenössischen, psychologischen Gesichtspunkten wird Privatheit von Lenelis Kruse (1980) beleuchtet: Sie spricht von Privatheit als dem Gegensatz des Öffentlichen, als weniger offiziell oder amtlich sowie als etwas, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Darüber hinaus ist Privatheit die Grundlage des Individuellen, einer persönlichen Meinung oder Handlung und erreicht einen intimen und vertrauten Charakter.170 Diese Reihung erläutert die unterschiedlichen Stufen des Privaten, von etwas inoffiziellen über die individuelle Meinung bis zu intimen Gedanken. Verdeutlicht wird im Hinblick auf die architektonische Umsetzung dieser Wechsel im Verständnis der Individualität auf der Umschlagseite der Zeitschrift Bauwelt von 1972. Dort werden Ansichten von mehrgeschossigem Wohnbau im Verlauf der Nachkriegsjahre bis in die 1970er Jahre skizziert: Die Darstellung einer monotonen Fassadenstruktur betitelt mit dem Schlagwort „gestern“, unterstreicht als Ideologie dieser Bauweise: „alle sind gleich“. Im Gegensatz dazu steht die Zeichnung einer differenzierteren Fassadenstruktur mit dem Titel „heute“ und der Ideologie: „wenige wissen wie verschieden alle sind“. Abschließend blickt der Autor in die Zukunft und zeigt unter dem Titel „morgen?“ eine abwechslungsreiche Fassadenstruktur mit austauschbaren Raummodulen. Hier wird unter Ideologie beschrieben: „jeder hat das Recht auf individuelle Identität in dem von ihm augenblicklich genutzten Teil der gebauten Umwelt“.171 Deutlich wird, dass die Individualisierung der Umwelt und der privaten Wohnung als positive Entwicklung und als Verbesserung der Wohnverhältnisse angesehen wird.

169  Hackelsberger, Christoph: Wohnen – ja, aber wie. In: Spengelin, Friedrich/Nagel, Günter/Lutz, Hans (Hrsg.): Wohnen in den Städten? Lamspringe 1984, S. 37. 170  Vgl. Kruse, Lenelis: Privatheit als Problem und Gegenstand der Psychologie. Bern 1980, S. 30ff. 171  Vgl. Bauwelt 1972, Heft 23; Titelbild.

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Abb. 8: Titelseite Bauwelt 23/1972

Quelle: Bauwelt 23, 5. Juni 1972, 63. Jahrgang; Titelbild

Als spezifische Situation der Privatheit kann dabei das Wohnen angesehen werden. Während im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Wohnen durchaus gelebt wurde, entdecken sowohl Martin Heidegger (1889–1976) als auch Henri Lefebvre (1901–1991) mit dem Beginn des funktionalistischen Bauens einen Bruch in der poetischen Dimension des traditionellen Hauses.172 Beide formulierten eine vergangene Poesie des Wohnens, die weit über die technische und räumliche Dimension hinausgeht und durch die moderne Städteplanung und Architektur verdrängt wird. Entsprechend der Abstufungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit ist auch die Wohnung als Wohnraum eines Individuums, einer Familie oder Wohngemeinschaft, nicht in allen Räumen gleichmäßig privat. Während der Wohnraum als repräsentativer Raum genutzt, wird um Gäste zu empfangen, besitzen die Schlaf- und Arbeitszimmer durchaus intimeren Charakter. Der Wohnraum ist

172  Vgl. Meyer, Kurt: Von der Stadt zur urbanen Gesellschaft. München 2007, S. 268.

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demnach eine „[...] soziale Zwischenstufe, zwischen einem öffentlichen Ort [...] und dem privaten Schlafzimmer.“173 Die neue Gesellschaft Neue Wohnformen wurden in den 1960er/1970er Jahren oft im Hinblick auf eine kommende, neue Gesellschaft konzipiert oder mindestens mit dieser begründet. Entscheidend für diese Haltung ist das Verständnis, dass „[...] die Krise der Stadt [...] eine Krise der Bürger“174 sei, und demnach die Schwierigkeiten der Stadtplanung unter anderem mit dem Verständnis einer neuen Gesellschaft gelöst werden könnten. In der architektonischen Planung und baulichen Umsetzung der 1960er / 1970er Jahre drücken sich im konkreten Wohnumfeld die Emanzipation der Frau und die Selbstständigkeit von heranwachsenden Kindern in offenen Grundrissen und flexibel abtrennbaren Bereichen aus. Eine mit dem Wohnraum verbundene Küche fördert die Kommunikation der Hausfrau mit der Familie. Michel Ragon führt dazu unter dem Titel „Die Wohnung der Zukunft“ aus: „Die Hausfrau, die nun nicht mehr Küchensklavin ist, kann dadurch an der Unterhaltung der Gäste teilnehmen und gleichzeitig die Zubereitung des Essens besorgen. Was die Kinder betrifft, so haben sie vom Tätigkeitsbereich der Eltern getrennte eigene Zimmer, was sie Selbstständigkeit lehren soll.“175 Die Zukunft des Wohnens wird darüber hinaus in einer Flexibilität gesehen, die das Wechseln von Wohnungen durch einen möglichst geringen Anteil an freistehenden, privaten Möbeln erleichtert.176 Neben diesen konkreten architektonischen Umsetzungen innerhalb der Wohnung erscheint in den 1960er/1970er Jahren das Freizeitverhalten, begründet durch Verkürzungen der Arbeitszeiten, als wesentlicher Bestandteil der Wohnforschung. In futuristischen Ansätzen von Wohngebieten, wie dem der Frei-ZeitStadt von Justus Dahinden177 erkennt man ein neues Verständnis der Gesellschaft und des Wohnverhaltens. Die im Folgenden thematisierten Formen des 173  Steiner, Dietmar: Ich glaube, ich lerne das Wohnen nie. In: Verlag Austria Press (Hrsg.): Wohnen morgen. Wien 1992, S. 10. 174  Helle, Horst Jürgen: Der urbanisierte Mensch? In: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974, S. 13. 175  Ragon, Michel: Wo leben wir morgen? Mensch und Umwelt – Die Stadt der Zukunft. Aus dem Französischen von Jörg Sellenriek. Berkley 1963, deutsche Ausgabe: München 1967, S. 65. 176  Vgl. ebd., S. 66. 177  Vgl. Dahinden, Justus: Akro-Polis. Frei-Zeit-Stadt. Leisure City. Stuttgart 1974.

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Abb. 9: Justus Dahinden – Freizeitstadt

Quelle: ETH Bibliothek (Hrsg.): Mensch und Raum. Justus Dahinden. Stuttgart/Zürich 2005, S. 53

gemeinschaftlichen Wohnens sind ebenfalls Grundlagen eines neuen Wohnverständnisses im Kontext der Gesellschaft. Gemeinschaftliches Wohnen; Polarität zwischen Separation und Gemeinschaftlichkeit In der Publikation „Gemeinschaftsorientiertes Wohnen“ wird neben der privaten Wohnung eine Halböffentlichkeit, das „Wohnumfeld“ thematisiert. Es geht dabei um einen „Zwischenraum“ zwischen der Privatheit der Wohnung und der Öffentlichkeit der Straße, die mehreren Familien und Einzelpersonen zugänglich ist, jedoch durch einen beschränkten Benutzerkreis eine Intimität behält. Die Autoren beziehen sich in diesem Kontext auf die Publikation von Hans Paul Bahrdt und stellen die von ihm klar postulierte Polarität zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in Städten in Frage. Sie fordern eine „[…] Wohnumwelt als einem der künstlichen Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit enthobenen Bereich: nicht die Isolation einer Intimsphäre, die man doch nicht (zumindest im „hochbürgerlichen“ Sinne) ausleben kann, und nicht die anonyme Öffentlichkeit, die Status-, Leistungs- und Konkurrenzsituationen der Gesellschaft.“178 Gemäß einer von den Autoren angeführten Studie liegen die Schwierigkeiten von „neuen Wohnquartieren“ darin, dass öffentliche Räume zur informellen Kommunikation 178  Schmidt-Relenberg, Norbert/Stumpf, Ulrich/Tonshoff, Heiko/Hübenbecker, Klaus: Gemeinschaftsorientiertes Wohnen. Stuttgart 1973, S. 17.

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Abb. 10: Urbanes Wohnen. Projekt für gemeinschaftliche Wohnformen, Köln

Quelle: N.N.: Urbanes Wohnen Köln. In: Bauwelt, 1973, Heft 17, S. 756

fehlen und Kontakte ausschließlich im Privatbereich der Wohnung stattfinden können. Dieses unerwünschte Eindringen in den Privatbereich könnte durch halböffentliche Kommunikationszonen im geforderten Wohnumfeld verhindert werden.179 Als Potenziale dieses gemeinschaftlichen Wohnumfelds werden einige Faktoren aufgezählt: Arbeitsteilung, flexible und gemeinschaftliche Betreuungsmöglichkeiten von Alten oder Kindern, Förderung von sozialem Verantwortungsbewusstsein aller Bewohner sowie Mehrfachnutzung einiger Gebrauchsgegenstände und gemeinschaftlichen Wohnraums. Weiter führen die Autoren verschiedene Kombinationsmöglichkeiten zwischen gemeinschaftlichen und privaten Bereichen aus, wobei das mögliche Spektrum von relativ klarer Trennung der einzelnen Privatbereiche über eine gleichwertige Mischung bis zu einem gemeinschaftlichen Wohnen mit privaten Rückzugsmöglichkeiten reicht. Der Wunsch nach Veränderung im Gebiet des Wohnungsbaus wird auch an der Vielzahl der Neugründungen von Vereinen oder Genossenschaften deutlich, die unter anderem mithilfe einer Partizipation der künftigen Bewohner am Planungsprozess sozialräumlich neue Wohnkonzepte entwickelten. So plante eine Bürgerinitiative in Köln unter dem Titel „Urbanes Wohnen“180 zu Beginn der 1970er Jahren ein großmaßstäbliches, vielfältig nutzbares Gebäude im Stadtzentrum mit unterschiedlichen Funktionsbereichen und öffentlichen wie gemeinschaftlich genutzten Flächen. Es wurde nach „sozialen Einrichtungen“ gesucht, „…die über die ausschließliche Versorgung mit Wohnraum hinausgehen und Probleme wie Umwelt, Beteiligung des Einzelnen an der Planung, zwischen179  Vgl. ebd., S. 18. 180  Zu den Architekten gehörte u. A. Erich Schneider-Wessling. Vgl. dazu: SchneiderWessling, Erich: Fluxus + urbanes Wohnen. Bauten und Visionen der 60er Jahre von Erich Schneider-Wessling. Köln 1999.

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menschliche Beziehungen, Berufstätigkeit der Frau und Betreuung der Kinder einschließen.“181 Es sollte ein Gebäude entstehen, „[...] in dem Mitglieder verschiedener sozialer Schichten und Altersgruppen wohnen, ihre Freizeit verbringen, aber unter Umständen auch arbeiten können.“182 Aus der Planung heraus entwickelte sich eine Struktur, die einem Großwohnkomplex unter architektonischen und stadtplanerischen Gesichtspunkten sehr nahe kommt. Dabei sollten laut Planung jeweils bis zu sieben Wohnungen einem halböffentlichen Gemeinschaftsbereich zugeordnet werden.183 Auffällig in diesem Projekt war die hohe planerische Durchdringung der Grundrisse, die jeweils mehreren Wohnungen einen gemeinschaftlichen Erschließungsraum zuordnete. Kinder- und Jugendbereichen wurde ein hohes Interesse entgegengebracht und Kindergärten und Jugendeinrichtungen in die Bebauungsstruktur integriert. Thesen zur Gestaltung des „urbanen Wohnens“ waren unter anderen, dass die aktive Teilnahme des Bürgers an der Gestaltung von kleineren und größeren Gemeinschaften die Grundlage für aktives demokratisches Verhalten schafft, dass die Individuation eine Voraussetzung für Kommunikation sei und dass halböffentliche Zonen und gemeinschaftliche Einrichtungen die notwendige Ergänzung zum Wohnen seien um diese Ansätze umzusetzen.184 Die konkreten Planungen verdeutlichen die Überzeugung von Planern und potenziellen Bewohnern, dass gemeinschaftlicher Raum Potenziale für das Wohnen bieten kann. Realisiert wurde das Gebäude letztlich jedoch nicht. Gleichzeitig wurde unter dem Titel „kollektive Wohnformen“ eine Artikel veröffentlicht, der die oben beschrieben Ansätze unterstreicht: „Die wachsende Zahl von Wohngemeinschaften läßt [sic!] darauf schließen, daß [sic!] echte Wohnbedürfnisse vorliegen, zumal sie sich eigenständig, ohne Unterstützung der Öffentlichkeit, ohne entsprechendes Wohnungsangebot und im Grunde gegen den Willen der Gesellschaft entwickelt haben.“185 Weitere Artikel und Veröffentlichungen verdeutlichen den hohen Stellenwert und das Interesse an kollektiven Wohnformen und gemeinschaftlich genutzten Bereichen im Wohnumfeld zu Beginn der 1970er Jahre. 181  N.N.: Urbanes Wohnen in Köln. In: Bauwelt 1973, Heft 17, S. 753. 182  Ebd., S. 753. 183  Vgl. N.N.: Urbanes Wohnen Köln. In: Bauwelt, 1973, Heft 17, S. 753–757 184  Vgl. Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Bürgerinitiative bei der Planung von Wohnung, Wohnumwelt und Stadt. Bonn 1975, S. 9. 185  Meyer-Ehlers, Grete/Haußknecht, Meinhold/Rughöft, Sigrid: Kollektive Wohnformen in: Bauwelt, 1973, Heft 17, S. 743.

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Wohnen im Verhältnis zum Stadtraum In Anlehnung an die Kritik der zu damaliger Zeit überwiegend gebauten, frei im Raum stehenden Wohnzeilen und -türme dachte Friedrich Spengelin als einer der ersten schon im Jahr 1963 über neue Wohnformen nach. Er kritisierte die zeilenartigen Wohngebäude der Nachkriegsarchitektur, indem er das Fehlen räumlicher Beziehungen und übergeordneter Strukturen, das Fehlen eines „Fluidums“ das er mit Raumklima umschreibt, in diesen Wohngebäuden aufzeigt.186 In einer Rede, die er im Rahmen einer Tagung über das Thema „Wandel im Wohnungsbau?“ beim Landesgewerbeamt Baden-Württemberg hielt, wird deutlich, dass Spengelin das Wohnen nicht als reine Zweckerfüllung, sondern vielmehr als kommunikatives Medium des sozialen Zusammenlebens ansah. Dabei thematisiert Spengelin sowohl die private Wohnung als auch die städtebauliche Umgebung: „Der Auftrag an die Architekten lautet meines Erachtens: umbauten Raum zu schaffen, der den Menschen einfriedigt und nicht preisgibt – eine Wohnform, die das Individuum schützt und ihm denkbar größte Freiheit im Privaten gibt. Diese Wohnung muß [sic!] aber hingestellt sein in eine durch Städtebau geformte Umgebung, die die Schutztendenz unterstützt und doch gleichzeitig in der räumlichen und maßstäblichen Beziehung der einzelnen Häuser untereinander jedem Element seinen unverwechselbaren Platz im Ganzen zuweist.“187 Als zukunftsweisende Bauformen erläutert Spengelin dabei die Maisonette, das Terrassenhaus, das Reihenhaus und Teppichsiedlungen. Bei einer entsprechenden Gestaltung des Außenraums sieht er in diesen Bauformen die Möglichkeit kommunikationsfördernder Wohnformen, die sowohl das Private schützen als auch das halböffentliche Leben fördern. Als Schlagwort kann dabei die „atmosphärische Dichte“ zitiert werden, die das Bild der neuen Stadt in Anlehnung an die alte, gewachsene mittelalterliche Stadt, verkörpert.188

186  Vgl. Spengelin, Friedrich: Menschengerechte Wohnungs- und Siedlungsform. Stuttgart 1963, S. 7. 187 Ebd., S. 6f. 188  Vgl. ebd., S. 10.

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Abb. 11: Totaler Raum. Gestaltungsvorschlag System 1

Severino, Renato: Totaler Raum. Quantität und Qualität im Bauen. München 1971, S. 101

Flexibilität, Nutzungsneutralität, Raumsysteme: Forschungsansätze der 1960er/1970er Jahre Flexibilität, Überlagerung von Nutzungsstrukturen, vorfabrizierte Raumsysteme, die individuell zusammen geschlossen ganze Wohnsysteme erschaffen sowie Wohnstrukturen, die mit geringfügigem baulichen Aufwand neuen Wohnansprüchen genügen können, sind Schlagwörter und Ansätze, auf welchen viele Forschungsarbeiten der 1960er/1970er Jahre basieren. Die Autoren der Publikation „Totaler Raum“ aus dem Jahr 1971 sind sich dabei sicher: „Flexibilität wird die Haupteigenschaft der künftigen Architektur sein, da sie die natürliche technologische Antwort auf die Dringlichkeiten des modernen Lebens ist. Flexibilität wird durch die Steigerung der Möglichkeiten, jedweden Raum an alle nur denkbaren Umstände anzupassen, erreicht.“189 Raummodule auf einer gerasterten Grundfläche ergeben im Zusammenschluss jeweils ein Vielfaches der Grundeinheit und eröffnen dadurch einen hohen Variationsgrad.190 Dies kann sowohl auf der Ebene des privaten Wohnens zur Anwendung kommen als auch im Maßstab der Stadt funktionieren. Raumsysteme können dabei im großmaßstäblichen Zusammenhang sowohl horizontal als auch vertikal zusammengefügt werden 189  Severino, Renato: Totaler Raum. Quantität und Qualität im Bauen. München 1971, S. 89. 190  Vgl. z.B. Konstruktionssystem von Wohneinheiten in Schmidt-Relenberg, Norbert/Stumpf, Ulrich/Tonshoff, Heiko/Hübenbecker, Klaus: Gemeinschaftsorientiertes Wohnen. Stuttgart 1973, S. 35 oder Severino, Renato: Totaler Raum. Quantität und Qualität im Bauen. München 1971, S. 62ff.

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und so „Teppichsiedlungen“, Terrassenhäuser und Hochhäuser bilden.191 Ansätze dieser Art wurden in den 1960er/1970er Jahren in unterschiedlichsten Arten veröffentlicht. Die gesellschaftstheoretische Grundidee, die die Autoren mit ihren Ideen verkörperten, wird im folgenden Zitat deutlich: „Die Geometrie des Totalen Raums, der jegliche Form annimmt, solange er den Beziehungen zwischen persönlichen und mit anderen geteilten Bedürfnissen Rechnung trägt, ist daher eine unendliche, dynamische Geometrie ständig untereinander verbundener Volumen. Die Möglichkeit dem Totalen Raum jede Form – wie gewünscht und benötigt – zu geben, ist eine Bürgschaft für die Achtung vor der Dimension der Freiheit.“192 Der Autor sah in seinem Konzept des „Totalen Raums“ eine Antwort auf die Technologie, den Fortschritt und die wachsenden Städte ohne Individualität: 193 Dabei ist der totale Raum eher als Methode mit flexiblen Raumsystemen, fließenden Raumzusammenhängen und einer zeitlichen Komponente zu verstehen. „Funktionsobjekte und Rahmenkomponenten werden von den Anforderungen des Entwurfs und der Herstellung geformt und können nach der freien Wahl des einzelnen angeordnet werden.“194 Im konkreten Wohnumfeld bedeutet das, dass Räume ohne eine spezifische Nutzung, wie sie zum Beispiel das Bad oder die Küche aufweisen, als möglichst nutzungsneutral und flexibel gestaltbar ausgeführt werden sollten. Bewegliche Trennwände ermöglichen eine flexible und tägliche Anpassung an die Bedürfnisse. Die Autoren führten dabei die Begriffe Flexibilität für zeitnahe Nutzungsänderungen und Variabilität für die Änderungsmöglichkeiten der baulichen Substanz ein.195 Eine Studie über „flexible Wohnungen“ erforschte mithilfe von Nutzerbefragungen die praktische Umsetzung von variabel und flexibel gestalteten Wohnungsgrundrissen. Grundlage war dabei, dass vor Einzug der Bewohner diese auf die räumliche Gestaltung der Wohnung Einfluss hatten. Das Ergebnis der Studie macht deutlich, dass die Partizipation in der Grundrissentwicklung deutlich zu einer hohen Wohnqualität beiträgt, spätere Grundriss- oder Nutzungsän-

191  Vgl. Severino, Renato: Totaler Raum. Quantität und Qualität im Bauen. München 1971, S. 135ff. 192  Ebd., S. 143. 193  Vgl. ebd., S. 42. 194  Ebd., S. 44. 195  Vgl, Schmidt-Relenberg, Norbert/Stumpf, Ulrich/Tonshoff, Heiko/Hübenbecker, Klaus: Gemeinschaftsorientiertes Wohnen. Stuttgart 1973, S. 19.

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derungen jedoch seltener realisiert wurden.196 Zur selben Erkenntniss kam ein Projekt mit dem Titel „Wohnvorstellungen der jungen Generation“, wobei flexible Grundrisse ebenfalls als wünschenswert kommuniziert wurden, die Nutzung jedoch hinter den Möglichkeiten zurück bleibt197. Damit relativiert sich der hohe Forschungseinsatz, der in den 1960er/1970er Jahren in die Erforschung variabler Raumsysteme investiert wurde. Bezeichnenderweise hat sich aus heutiger Sicht ebenso kaum einer der oben beschrieben Ansätze durchgesetzt. Nichtsdestotrotz bilden sie die gedankliche Grundlage in welchem Kontext Großwohnkomplexe umgesetzt wurden. Zusammenfassend kann erklärt werden, dass multifunktionale Räume eher als planerisch-organisatorisches Problem angesehen werden sollten und nicht unbedingt ein Versetzen von Wänden bedingen. Der Autor der Publikation „Variabel nutzbare Häuser und Wohnungen“, Ulrich Schroeder, macht darüber hinaus deutlich, dass in Eigentumswohnungen oder Eigenheimen die Bereitschaft bauliche Maßnahmen zu ergreifen höher angesiedelt ist, als in einem Mietverhältnis, welches bei veränderten Wohnbedürfnissen gekündigt werden kann.198

K OMPLEXITÄT

UND

S TRUKTUR

Komplexität Eine allgemeine Definition des Begriffes Komplexität im Kontext der gestaltgebenden Wissenschaft lautet: „Komplexität ist ein Begriff, der den Umfang der Beschreibung eines Systems oder die Menge an Zeit angibt, die erforderlich ist, um ein System zu erschaffen“199. Damit wird der Begriff als ein Mittel zum Messen von einfachen bis „komplexen“ Systemen angenommen. Eine weitere Definition sucht eine Erklärung über den Vergleich der Begriffe „komplex“ und „kompliziert“. Ausgehend von der Einfachheit bedeutet kompliziert eine Summe 196  Vgl. Gaupp-Kandzora/Merkel, Horst: Flexible Wohnungen. Nutzererfahrungen. Stuttgart 1978. 197  Vgl. Naffin, Götz/DuBois-Reymiónd, Michael u. A. (Hrsg.): Wohnvorstellungen der jungen Generation. Coburg 1970. 198  Vgl. Schroeder, Ulrich: Variabel nutzbare Häuser und Wohnungen. Wiesbaden/Berlin 1979, S. 38ff. 199  Terzidis, Kostas: Algorithmische Komplexität. In: Gleininger, Andrea/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild. Basel/Boston/Berlin 2008, S. 75.

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des einfachen, das ebenso wieder in seine Einzelteile, die einfachen, zerlegt oder „entfaltet“ werden kann. Komplex ist jedoch ein System, das nicht („ungestraft“) vereinfacht werden kann und demnach nicht in einzelne, einfache Einheiten zerlegbar ist.200 Im Rahmen der Architekturgeschichte ist Komplexität als Gestaltungsmerkmal im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und der Moderne in der Architektur aus dem Repertoire der Architekten nahezu verschwunden.201 Erst in den 1950er und 1960er Jahren, mit der Steigerung wissenschaftlicher Erkenntnisse in unterschiedlichen Fachrichtungen und dem Fortschreiten technischer Möglichkeiten bis zu der Entwicklung von Datenverarbeitungsgeräten, wurde der Begriff Komplexität auch in der Architektur wieder aufgegriffen und als Gestaltungsaspekt wiederentdeckt. „[…] am Ende war es vor Allem das provokante, seit den 50er Jahren entwickelte und 1966 erstmals publizierte Plädoyer für Komplexität und Widerspruch von Robert Venturi, mit dem eine Begrifflichkeit und am Ende eine Wahrnehmungskategorie in den Architekturdiskurs (zurück-) geholt wurde, die zu diesem Zeitpunkt vor allem von der sich vor naturund computerwissenschaftlichem Hintergrund formierenden Komplexitätswissenschaft beansprucht worden war.“202 Venturis Thesen sind im Zusammenhang der 1950er Jahre zu sehen, die, geprägt durch die Moderne, Einfachheit, Reduziertheit und Ortsunabhängigkeit als Grundparameter für die Gestaltung ansahen. Für Venturi reichten diese „puristischen Formen und Funktionen“ nicht mehr aus „[...] um die Vielfalt, Brechungen und Dynamik der urbanen Lebenswelt der Menschen im nachindustriellen Zeit-

200  Vgl. Bellut, Clemens: „Ach Luise, lass… das ist ein zu weites Feld“. In: Gleininger, Andrea/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild. Basel/Boston/Berlin 2008, S. 111. 201  Dabei lagen dieser Abkehr zwei Tendenzen zugrunde: eine ideologische Grundhaltung sowie die Funktion. Die ideologisch Grundhaltung der Ablehnung des Ornaments führt zu glatten und monotonen Fassaden, gleichzeitig ermöglichen industrielle Fertigungsmethoden eine serielle Bauweise immer gleicher Elemente (ökonomisch/funktional bedingt). Vgl. Gleininger, Andrea: „Das schwierige Ganze“ oder die (Wieder-) Entdeckung der Komplexität in der Architektur. In: : Gleininger, Andrea/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild. Basel/Boston/Berlin 2008, S. 46ff. 202  Gleininger, Andrea/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild. Basel/Boston/Berlin 2008, S. 9.

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alter […] zu erfassen.“203 Aufgrund technischer und baukonstruktiver Entwicklungen, in Verbindung mit dem gestellten Bauprogramm und vielfältiger, kontextbezogener und auf den Entwurf einflussnehmender Randaspekte ist nach Venturi die Architektur in den 1960er Jahren konfliktreicher geworden. Diese Konflikte gelte es nicht zu negieren, sondern sie als „Vielfalt und Widerspruch“ in der Architektur zu analysieren und für Entwürfe zu nutzen.204 Das Kredo Mies van der Rohes (1886–1969) „Weniger ist Mehr“205 wird dabei von Venturi als eine Eliminierung von Komplexität und „deren Reduktion als Mittel der Ausdrucksteigerung“ kritisiert.206 „Die Forderung nach dem Bauen und Wohnen für das Existenzminimum, die der klassischen Moderne einen Teil ihrer sozialen und gesellschaftlichen Legitimation verschafft hatte, war ebenso zur Grundlage von architektonischen und städtebaulichen Vereinheitlichungsstrategien geworden, wie das Postulat des Internationalen Stils eine ortsunabhängige und entkontextualisierte Abstraktion der architektonischen Form bewirkt hatte […] Doch je mehr die Komplexität der Lebens- und Funktionszusammenhänge zum Gegenstand der Vereinfachungsstrategien technokratischer Planungsprozesse auf der einen und der Vereinheitlichung durch industrielle Fertigungsprozesse auf der anderen Seite geworden war, desto sichtbarer wurden ihre Defizite.“207

In den 1960er/1970er Jahren entwickelte sich ein neuer Wissenschaftsdiskurs, die Informationstheorie, mithilfe derer, auf architekturtheoretischer Ebene, eine „exakte quantitative Messung“ von Komplexität möglich wurde.208 Dieser Theo203  Mainzer, Klaus: Komplexität. Strategien ihrer Gestaltung in Natur, Gesellschaft und Architektur. In: Gleininger, Andrea/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild. Basel/Boston/Berlin 2008, S. 89. 204  Vgl. Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978, S. 23. 205  „Weniger ist mehr“ im Sinne einer Parole für eine Reduzierung auf das Wesentliche. 206  Vgl. Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978, S. 26. 207  Gleininger, Andrea: „Das schwierige Ganze“ oder die (Wieder-) Entdeckung der Komplexität in der Architektur. In: Gleininger, Andrea/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild. Basel/Boston/Berlin 2008, S. 45f. 208  Vgl. Maderthaner, Rainer: Komplexität und Monotonie aus architekturpsychologischer Sicht. In: Perspektiven. Der Aufbau. Band 33 1978, S. 257.

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rie liegt zugrunde, dass ein Anschauungsbild/-objekt „umso „informativer“ [ist, K.B.], je mehr unterschiedliche Bildinhalte vorkommen […] und je unregelmäßiger diese angeordnet sind […].“209 In Verbindung mit der „subjektiven Ebene“ des Wahrnehmens (eine unbewusste Reduktion der Komplexität auf ein Maß, welches eine Verarbeitung der Informationen zulässt) lassen sich zwei Extreme erkennen: Erreicht die Komplexität ein so hohes Maß, dass die beschriebenen Verarbeitungsmechanismen nicht mehr ausreichen, führt dies zu Desorientierung und dem Wunsch nach Abschirmung210. Auf der anderen Seite führt jedoch ebenso Reizarmut, also Monotonie, zu „[...] allgemeinem Konzentrationsmangel, Gefühlsarmut, Aggressionen und depressiven Verstimmungen.“211 Ein mittleres Maß an Komplexität, in Abhängigkeit von der subjektiven Prägung des Betrachters, erscheint demnach also am angenehmsten. Struktur In den Diskussionen über Komplexität, Gastalttheorie, und (Architektur-) Ästhetik wird häufig ebenfalls der Begriff der „Struktur“ genannt. In diesem Zusammenhang stellen Alison und Peter Smithson (Mitglieder des Team Ten) fest: „Gebäude sollte man von Anbeginn nur als Fragmente auffassen, die in sich die Möglichkeit schließen mit anderen Gebäuden zusammenzuwirken: Sie sollten selbst Glieder in umfassenderen Ordnungen sein. Der einzig gangbare Weg für die Städteplanung besteht darin, in allen ein Gefühl für Struktur zu entwickeln; denn wenn ein Gefühl der Verantwortung für die Notwendigkeit einer Gesamtstruktur nicht vorhanden ist, kann auch eine von außen auferlegte Struktur nicht weiterhelfen.“212

Einer allgemeinen Definition des Begriffes im architektonischen Kontext nähert sich der Autor der Publikation „structurel structural“ vom lateinischen Grundbegriff an. Struktur steht demnach von seinem Ursprung an im Zusammenhang mit der Konstruktion von Architektur. „So wird bis heute in der Architektur mit Struktur das tektonische Gefüge eines Bauwerkes bezeichnet.“213 In der weiteren Entwicklung des Begriffes, insbesondere im Hinblick auf den Strukturalismus209  Ebd., S. 257. 210  Vgl. Ebd., S. 258. 211  Ebd., S. 258. 212  Smithson, Alison/Smithson, Peter: Bauen und Gemeinschaftsstruktur in: Kepes, Gyorgy (Hrsg.): Struktur in Kunst und Wissenschaft. Brüssel 1967, S. 112. 213  Hecker, Michael: structurel I structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 54.

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gedanken, bildet sich eine „Doppeldeutigkeit“ heraus: Eine Struktur kann zum einen als die Gesamtheit von einzelnen, unabhängigen Komponenten betrachtet werden, und zwar in einem konkreten Verständnis von fassbaren Elementen, zum anderen bezeichnet der Begriff Struktur ein Modell von abstrakten Ordnungssystemen, die trotz Veränderbarkeit einzelner Komponenten Bestand haben.214 Eine durch die zeitliche Dimension erweiterte Definition schlägt Gyorgy Kepes (1906–2001) vor: „Grundsätzlich ist Struktur die geschaffene Einheit von Teilen und Verbänden. Sie ist ein Beispiel dynamischer Kohäsion, in dem Haupt- und Zeitwort-Form und formen – gleichzeitig vorhanden und austauschbar sind: ein Beispiel zusammenwirkender Kräfte, verstanden als eine einzige räumlich-zeitliche Ganzheit.“215 Ähnlich wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema Komplexität diesen Begriff auch im Kontext der Architektur und die Architekturentwicklung an sich prägte, bedingte auch das Erkennen biologischer/natürlicher Strukturen in den 1960er Jahren eine „Strukturdebatte“, die viele Wissenschaftsbereiche und auch die Kunst und Architektur miteinbezog. „Struktur hat eine solche formale Wichtigkeit erhalten, daß [sic!] sie zum zentralen Zug im architektonischen Entwurf wurde.“216 Die folgende Zusammenfassung wird im Gesamtüberblick über den Forschungshintergrund die erläuterten Begriffe in den Kontext des Forschungsthemas, „Großwohnkomplexe“, einordnen und aufzeigen, welchen Stellenwert diese Begriffe im Verständnis der Architektur der 1960er/1970er Jahre und im Speziellen der Großwohnkomplexe besitzen. Dabei ist festzuhalten, dass der erste Teil des Forschungshintergrunds, die Erläuterung der Begriffe Ästhetik, Stadt und Urbanität, eher einem allgemeineren Verständnis dienen. Die folgenden Ausführungen zielen bereits auf den inhaltlichen Kontext der Arbeit und bereiten so das Verständnis für weitere Erläuterungen vor.

R ESÜMEE – E RKENNTNISSE F ORSCHUNGSTHEMA

FÜR DAS

Die Begriffe Ästhetik, Stadt und Urbanität sowie Öffentlichkeit und Privatheit stehen in einem inhaltlich engen Zusammenhang zu dem Forschungsthema „Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe 214  Vgl. ebd., S. 55f. 215  Kepes, Gyorgy (Hrsg.): Struktur in Kunst und Wissenschaft. Brüssel 1967, S. x. 216  Ebd., S. xii.

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der 1970er Jahre“. Um während der Analyse dieser Gebäudestrukturen die gesuchten Potenziale der Großwohnkomplexe erkennen und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen belegen zu können, müssen vorher die Grundlagen der Wahrnehmung von Architektur im Stadtraum, sowie das Verständnis von Stadt, Urbanität, Öffentlichkeit und Privatheit geklärt werden. Zu diesem Zweck werden nun die zu Beginn des Kapitels beschriebenen Begriffe im Verständnis der Großwohnkomplexe zusammengefasst und im Kontext der Forschungsarbeit eingeordnet. Während unter der Überschrift Ästhetik und Stadtraumästhetik die für die Forschungsarbeit relevanten Wahrnehmungsaspekte noch einmal im Kontext der psychologischen Ästhetik diskutiert werden, fasst der darauf folgende Abschnitt unter der Überschrift „Stadt und Urbanität“ die für das Verständnis der Großwohnkomplexe wichtigsten Merkmale dieser Begriffe zusammen. Abschließend wird die Polarität der Begriffe Öffentlichkeit und Privatheit im Kontext der 1960er/1970er Jahre diskutiert und ihr Stellenwert im Planungsprozess der 1970er Jahre aufgezeigt. Die öffentliche Diskussion der Begriffe Ästhetik, Stadt und Urbanität erlebte in den 1960er/1970er Jahren, bedingt durch einen Strukturwandel der Städte, eine neue Dimension. Während die Nachkriegsjahre von der Notwendigkeit Wohnraum zu schaffen geprägt waren, „…waren die 60er Jahre das Jahrzehnt eines durchgreifenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses [...]; auch der Städtebau hatte sich diesen Anforderungen an ein möglichst reibungsloses Funktionieren im Sinne einer grundlegenden Erneuerung anzupassen.“217 „Nicht mehr überwiegend quantitative Probleme, wie z.B. die Durchsetzung hygienischer Mindestbedingungen, Sicherung von Verkehrswegen und Wohnraumbeschaffung stehen im Vordergrund, sondern Probleme der Qualitätsverbesserung der Umwelt als Teil der Lebensqualität, unter Einschluss der Möglichkeiten der Selbstentfaltung des einzelnen Bürgers, gewinnen an Gewicht.“218 Damit wird deutlich, dass insbesondere in den 1960er/1970er Jahren die wissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen der Wahrnehmung, des Raums und der Architektur einen neuen Stellenwert und ein neues Verständnis begründeten. So wird zum Beispiel in der Publikation von Elisabeth Konau „Raum und soziales Handeln“ die Verknüpfung der Begriffe als bis dato vernachlässigt 217  Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Zur Neuauflage des Buches „Die moderne Großstadt“. In: Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Hans Paul Bahrdt. Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hamburg 1961 4. überarbeitete Auflage: Opladen 1998, S. 14. 218  Sieverts, Thomas: Planung und Spielraum in: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974, S. 72.

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thematisiert und Raum als Bestandteil der soziologischen Forschungen etabliert. Die Publikation „A Pattern Language“ fasst viele der in den 1960er/1970er Jahre diskutierten Aspekte zusammen und entwirft eine Sprache, mit dem Ziel, die darin aufgezeigten Muster als Bausteine für die konkrete Planung anwenden zu können, was, unabhängig von der inhaltlichen Tiefe der Muster, einer starken Vereinfachung des komplexes Systems Stadt und einem wissenschaftlichem Regelwerk nahe kommt. Es entstanden vermehrt Forschungen zum Themenbereich der Stadt und bildeten den wissenschaftlichen Hintergrund der Planungen.219 Soziologen, Urbanitätsforscher, technische Fachberater und Verkehrsplaner wurde vielerorts in den Planungsprozess integriert.220 Es bestanden zu diese Zeit ein großes Bedürfnis nach fassbaren Regeln und wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Thematik der Stadtgestalt und Architektur, um insbesondere die Kommunikation mit der Gesellschaft über diese Themenbereiche zu ermöglichen: „Mithilfe der allgemeinen Ergebnisse und fallbezogener Studien [...] scheint es möglich, Gestaltprobleme zu analysieren, Entscheidungen im ästhetischen Bereich über alternative Modelle systematisch vorzubereiten, diskutierbare Kriterien für die Entscheidung über ästhetische Sachverhalte zu liefern [...].“221 Zusammenfassend werden in der Publikation „Zeit, Raum und Architektur“ von 1986 die Zusammenhänge der Begriffe verdeutlicht: „[…] das „Wissen“ um jene komplexen Zusammenhänge – das ist der soziale Raum „Stadt“ als vorausgesetzter Kontext architektonischer Arbeit – gibt den Hinweis darauf, die Artikulation des „Sozialen“ im Diskurs des Raumes der architektonischen Arbeit und nicht als soziale Position im Raum des subjektiven Bewußtseins [sic!] zu verorten.“222 Weiter führt der Autor aus: „In dieser konstitutiven Bedeutung des Raumes für eine urbane Lebensweise treffen sich die differenten Analysestrategien, die dieses Verhältnis von Architektur, Stadt und Lebensweise als „sozialräumliche“ Beziehung untersuchen.“223 219  Vgl. beispielsweise Mumford, Lewis: The City in History. London 1961 (dt. 1963)/Kevin Lynch: Image of the City. Cambridge 1960 (dt. 1965)/Rossi, Aldo: Lʼarchitettura della città. Venedig 1966 (dt.1973). 220  Vgl. beispielsweise Alexander Mitscherlich als Berater und Gutachter für die Projekte Heidelberg Emmertsgrund und Olympisches Dorf in München. 221  Pahl, Jürgen: Gestaltorientierte Stadtplanung. In: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974, S. 66. 222  Prigge, Walter: Zeit, Raum und Architektur. Zur Geschichte der Räume. Köln 1986, S. 150f. 223  Ebd., S. 151.

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Ästhetik und Stadtraumästhetik Schon in der frühen Diskussion über die „psychologische Ästhetik“ und im Verlauf vieler weiterer Diskurse wird das Spannungsverhältnis zwischen einem subjektiven und einem erkenntnistheoretischen Ästhetikverständnis aufgezeigt.224 Während das eine Lager die Phänomenologie und Erkenntnistheorie verfolgt, die die Subjektivität eher auszuklammern versucht, argumentiert das andere Lager aus dem Verständnis der sinnlichen Erkenntnis heraus. Dazu gehört der kognitive Ansatz, dass die Umwelt vom Subjekt rezipiert wird, anstatt dass die Umwelt ausschließlich auf das Subjekt wirkt. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts legt der Philosoph Eduard von Hartmann die Grundlage für dieses Verständnis, indem er davon ausgeht, dass ein Objekt bei allen „normal organisierten Menschen“ die gleichen Empfindungen auslöst, sodass dadurch eine gewisse Objektivität entsteht.225 Diese Verständnis soll im Folgenden für die weitere Argumentation übernommen und so verstanden werden, dass diese „normal organisierten Menschen“ als Menschen ähnlicher gesellschaftlicher, kultureller oder geschichtlicher Prägung anzusehen sind und somit die Subjektivität von homogenen Gruppen eine Objektivität bedingt. Dieser Aspekt wird in der vorliegenden Untersuchung dadurch relevant, dass in der Analyse der Großwohnkomplexe die gesellschaftliche, politische und geschichtliche Prägung sowie der damals stark auf Utopien ausgerichtete Zeitgeist im Architekturgeschehen in Bezug zu dem heutigen Verständnis von Architektur gesetzt werden muss. Dadurch kann schon allein in diesem Bereich argumentativ herausgearbeitet werden, warum Großwohnkomplexe heute in der öffentlichen Sicht völlig anders wahrgenommen werden als vor 40 Jahren. Dass insbesondere am Beispiel „Großwohnkomplex“ viele weitere Wahrnehmungsaspekte einfließen, erweitert diese Argumentationskette, ohne sie zu stören. Unter dem Aspekt des Einflusses der individuellen Prägung vom Betrachter auf seine persönliche Wahrnehmung, stellen die Autoren der Publikation „Wahrnehmung in der städtischen Umwelt – möglicher Impuls für kollektives Handeln“ zusammenfassend die vier Stufen der Wahrnehmungstheorie vor: 1) Informationsaufnahme, 2) Orientierung, 3) Symbolisierung und 4) Identifizierung. Die Stufen 1 und 2 verkörpern dabei das „Wissen von“ und können erst nach der Verknüpfung des Gesehenen mit einer Bedeutung die Stufen 3 und 4 (das „Wissen über“) erreichen. Erst in einer weiteren Erkenntnisebene, der Ebe-

224  Vgl. dies und das Folgende in der ausführlicheren Diskussion in Kapitel „Ästhetik“ 225  Vgl. Allesch, Christian G.: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Habilitationsschrift. Göttingen 1987, S. 269.

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ne der dritten Ordnung, kann das Wissen über die Bedeutung der gemachten Erfahrungen Handlungsprozesse ermöglichen.226 Der Begriff der Stadtraumästhetik ist in seiner spezifischen Argumentationsreihe weit weniger alt als die allgemeine Ästhetikdiskussion und steht in enger kausaler Verbindung mit der Architekturästhetik. Dabei ist die Erkenntnis entscheidend, dass die Wahrnehmung von Architektur und damit von Raum im Gegensatz zur Wahrnehmung eines üblichen Kunstobjekts eine körperliche Wahrnehmung ist, die man in Folge des Eintretens, Durchschreitens und Umgehens erst in seiner Gänze erfährt.227 Ähnlich verhält es sich mit der Stadtraumästhetik, wobei die Räume aufgrund ihrer Größe ebenso nur beim Bewegen ganzheitlich wahrgenommen werden können. Darüber hinaus können Stadträume niemals autark erfahren werden, sondern wirken immer im Kontext der Stadt. Es besteht im Stadtraum ebenso eine Wechselwirkung zwischen dem Gebäude, welches seine Umgebung prägt und der Wahrnehmung des Gebäudes, die wiederum von dieser Umgebung geprägt ist.228 Darüber hinaus kommt im Stadtraum der Aspekt der öffentlichen Funktion hinzu: Birgit Wolter stellt in einem Textbeitrag im Buch Webers fest, dass ein Stadtraum nur dann seine Funktion für eine Stadtgemeinschaft erfüllen kann, wenn er genutzt und angenommen wird – was ihn wiederum von einem Kunstobjekt und der Wahrnehmung desgleichen unterscheidet. Die bereits beschriebenen Thesen, dass • •

die Subjektivität ähnlich konstituierter Gruppenmitglieder eine gewisse Objektivität bedingt und dass die Wahrnehmung von Architektur und damit von Stadtraum eine körperliche Wahrnehmung ist,

werden im Folgenden als Bewertungsgrundlage von Architekturwahrnehmung aufgebaut. Diese Grundlage kann sowohl der bei persönlichen Bewertung von Stadträumen als auch bei der Bewertung von Aussagen anderer Menschen über Stadträume herangezogen werden. Aus diesem Verständnis heraus wird weiter gefolgert, dass die Grundideen nicht zeitgenössischer Objekte nur mithilfe des Verständnisses der Entstehungs226  Vgl. Becker, Heidede/Keim, K. Dieter: Wahrnehmung in der städtischen Umwelt – möglicher Impuls für kollektives Handeln. Berlin 1972, 4. Auflage mit kommentiertem Literatur Nachtrag: Berlin 1978, S. 35f. 227  Vgl. Rudolf Arnheim in Kapitel „Architekturästhetik“. 228  Vgl. Ralf Weber in Kapitel „Stadtraumästhetik“.

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zeit herausgearbeitet werden können. Dies wird zu einem objektiveren Verständnis der architektonischen Situation führen. Auf der anderen Seite kann aus dem oben beschriebenen Wahrnehmungsverständnis von Architektur und Stadtraum gefolgert werden, dass eine Gesellschaft mit unterschiedlicher kultureller, religiöser, sozialer und geschichtlicher Prägung nur dann nachbarschaftlich miteinander leben kann, wenn die Architektur einen gewissen Grad an Objektivität erreicht. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer gesellschafts- und kulturspezifischen Aneignung des öffentlichen und privaten Raums. Diese Erkenntnis erarbeitete auch Kevin Lynch 1959: „Wenn wir beabsichtigen, Städte zu bauen, an denen sich eine große Anzahl von Menschen der verschiedensten Verhältnisse erfreuen soll [...], so werden wir sogar gut daran tun, uns auf die physische Klarheit des Bildes zu konzentrieren und die Entwicklung der Bedeutung abzuwarten, ohne direkt auf sie hinzuwirken.“229 Insbesondere im Hinblick auf räumliche Segregation, wie sie unter dem Aspekt der Öffentlichkeit beschrieben wurde, erscheint dieser Ansatz sinnvoll. Stadt und Urbanität Der Begriff der Stadt wurde in den 1960er/1970er Jahren im Kontext der Nutzungsverpflechtungen und Multifunktionalität diskutiert, was eine klare Abtrennung zu früheren Leitbildern bedeutete. In den 1960er/1970er Jahren etablierte sich das Verständnis, dass sich die Stadt als komplexes System aus den gebauten Strukturen sowie aus dem Leben der Stadtbürger und Besucher zusammensetzt, wobei die Leitbegriffe Urbanität, Zentralität, Dichte und Mischung dieses Zusammenspiel ausdrücken. Die unterschiedlichen Ebenen der Mehrzwecknutzung reichen dabei vom Gesamtkontext Stadt bis zum individuellen Wohnbereich. In dieser Multifunktionalität von Gebäuden oder Räumen sah Robert Venturi Gestaltungsmerkmale, die nicht negiert, sondern vielmehr herausgearbeitet und damit ablesbar werden sollten.230 Die Diskussionsstränge über Stadt und Urbanität bilden im Hinblick auf das Forschungsthema der vorliegenden Untersuchung den Hintergrund der Bewertung von Großwohnkomplexen sowohl auf städtebaulicher als auch auf soziologischer Ebene. Ein wichtiges Merkmal der Großwohnkomplexe im Kontext der 229  Conrads, Ulrich (Hrsg.): Kevin Lynch. Das Bild der Stadt. Aus dem Amerikanischen von Korssakoff-Schröder, Henni/Michael, Richard. Cambridge 1960, deutsche Ausgabe: Berlin 1965, S. 19. 230  Vgl. Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978, S. 50.

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Gesamtstadt ist dabei, dass sie sich zentrumsnah befinden: Das Durchschreiten des Stadtraums, das Ankommen und der Eintritt in den Großwohnkomplex sind damit sowohl für die Wahrnehmung des Stadtteils als auch des Objektes selber entscheidend. Damit spielt der städtische Nahbereich eines Großwohnkomplexes eine wichtige Rolle in der Wahrnehmung und Interpretation des Raums. Gleichzeitig stehen damit Großwohnkomplexe sowie das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ im Kontrast zu ebenfalls in den 1960er Jahren einsetzenden Suburbanisierungstendenzen, dem Bau von Großwohnsiedlungen sowie großflächiger Einfamilienhausbezirke im suburbanen Raum, die mit dem Verweis auf das „klassische Bild der zentrumsorientierten europäischen Stadt“ kritisiert wurden.231 Die wissenschaftliche Erforschung des komplexen Systems der Stadt hat insbesondere in den 1970er Jahren unterschiedliche Theorien erzeugt. Entscheidend für die Einordnung der Großstruktur des Wohnkomplexes im Stadtraum wird dabei die Theorie der „mental maps“, die individuell unterschiedliche gedankliche Stadtpläne darstellen, mithilfe derer sich der Mensch im Stadtraum orientiert.232 Orientierungspunkte können dabei sowohl Hochpunkte wie Hochhäuser oder Sendemasten, als auch auffällige Gebäude und Grünanlagen oder Gewässer sowie Stadtautobahnen sein, die als primär unüberwindbar empfunden werden und somit abgrenzend wirken. Städtebauliche Dichte und Weite spielen in der Wahrnehmung und Verarbeitung als „mental map“ dabei ebenso eine Rolle, wie Bebauungsstruktur und Nutzung. Großwohnkomplexe, wie sie in der vorliegenden Arbeit diskutiert werden, werden dabei insbesondere durch ihre Struktur, die Größe, die Prägnanz der Gestaltung und die Vielfalt an Funktionen als markantes Objekt im Stadtraum und damit als Orientierungspunkt wahrgenommen. Das Verständnis der „mental maps“ kann im Kontext der vorliegenden Forschungsarbeit ebenso in Großwohnkomplexen als Teil der Gesamtstadt ihre Anwendung finden. Dabei wird deutlich, dass die Orientierung im näheren Wohnumfeld ebenso von den von Lynch erarbeiteten Elementen wie Wegen, Grenzlinien, Bereichen, Brennpunkten, Merk- und Wahrzeichen geprägt ist. Die Entwicklung und Nutzung mentaler Karten als ein Kommunikationsmedium städtischer Wahrnehmung erscheint in diesem Zusammenhang noch heute als adäquates Mittel. 231  Vgl. Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Zur Neuauflage des Buches „Die moderne Großstadt“. In: Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Hans Paul Bahrdt. Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hamburg 1961 4. überarbeitete Auflage: Opladen 1998, S. 18. 232  Vgl. dies und das Folgende: Kevin Lynch in Kapitel „Stadt“.

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Heterogenität in der Gestaltung von (städtischen) Räumen, von Aktivitäten und Nutzungen sowie heterogene Bevölkerungsstrukturen bilden die Grundlage urbaner Orte. Dabei wird die Qualität eines städtischen Raums häufig an der Menge und Häufigkeit von Besuchern, deren Aufenthaltsdauer und Aktivitäten gemessen. Diese Nutzungsvielfalt von Räumen führt zu dem Begriff der Urbanität, der im engen Verhältnis mit der Stadt steht. Urbanität zur Beschreibung eines Stadtquartiers mit unterschiedlichen Bewohnerstrukturen, Nutzungsverflechtungen im öffentlichen Raum sowie am gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Leben partizipierende Bewohnern wurde in den1960er Jahren aufgegriffen und zum Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ überführt. Dabei stellt sich jedoch die Frage der Banalisierung des Begriffs und einer damit einhergehenden Missinterpretation. Dies wird insbesondere dort deutlich, wo die bauliche Struktur dem Leitbild kompromisslos unterworfen wurde. So entstand zum Beispiel das „Märkische Viertel“ in Berlin mit einer hohen Dichte an Bewohnern durch großmaßstäbliche Wohnhochhäuser, eine damit erhoffte Urbanität blieb jedoch aus. In Erinnerung an die oben beschriebenen Grundsätze des Begriffs der Urbanität und die Diskussion dieses Begriffs im 20. und 21. Jahrhundert wird deutlich, dass nur durch Öffentlichkeit, öffentliche Kommunikationsbereiche, Freizeitangebote, Arbeitsplätze und Einkaufmöglichkeiten ein gewisses „Mehr“ an Urbanität erzeugt werden kann. Die in den 1960er/1970er Jahren häufig thematisierte Polarität zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, die in den unterschiedlichen Typologien der Großwohnkomplexe zu finden ist, war in diesem Kontext eine entscheidende Erkenntnis und unterscheidet Großwohnkomplexe von anderen Großwohntypologien. Öffentlichkeit und Privatheit Öffentlichkeit und Privatheit, das wird auch in der Definition von Großwohnkomplexen verdeutlicht, spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung dieser Gebäudestruktur. Dabei sind in diesem Zusammenhang drei Aspekte zu bewerten: • •

die geplante Öffentlichkeit in Großwohnkomplexen mit Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung oder zum Einkaufen, die Polarität zwischen dieser Öffentlichkeit und dem privaten Wohnraum in unmittelbarer räumlicher Nähe und mit direkten Sichtbezügen bzw. halböffentliche Zwischenzonen,

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der private Wohnraum mit den in den 1960er/1970er Jahren entwickelten neuen Grundrissen und der Nutzungsvariabilität und Flexibilität des Wohnraums.

Dem Leitbild der „Urbanität durch Dichte“, aus welchem sich die Großwohnkomplexe entwickelten, liegt zugrunde, dass die unterschiedlichen Funktionen des städtischen Lebens innerhalb hoher Nutzungsdichte zusammengeführt werden. Diese Idee verkörpern die Großwohnkomplexe und legen damit den Grundstein für die oben genannten Aspekte von öffentlichem Raum und Privatheit. Gestaltete Aufenthaltsbereiche, Spielplätze und weitere, unterschiedliche Möglichkeitsräume bilden dabei die bauliche Vorleistung zur Aneignung und können als Parameter für eine hohe individuelle Nutzungsdichte angesehen werden. Die dichte architektonische Gesamtstruktur mit klar definierten Raumkanten und baulich gefassten Außenräumen prägen die Großwohnkomplexe und grenzen sie damit klar von anderen Bebauungsstrukturen ab. Bezug nehmend auf die Kritik an der „modernen Stadtplanung“ kann in diesem Kontext eine Vernachlässigung des öffentlichen Raums in der modernen Stadtplanung gesehen werden.233 Die in modernen Stadtplanungskonzepten der 1950er Jahre frei stehenden Hauszeilen bilden eigenständige Körper im Raum, die Raumkanten sind nicht gefasst und der Bezug zur Nachbarbebauung fehlt. Der Gestalttheorie nach besitzt diese Stadtstruktur keine Gestalt, es bildet sich aus den Einzelteilen keine zusammengehörige Gesamtheit. Dies führte dazu, dass kaum aneignungsfähige urbane Orte geschaffen werden. Als Reaktion ziehen sich die Bewohner weitestgehend aus der Öffentlichkeit des nahen Wohnumfelds zurück und verstärkten damit die in vielen Publikationen als Kritikpunkt angeführte „Verödung des öffentlichen Raums“. Es wird damit deutlich, dass sich der Wechsel der Leitbilder in den 1960er Jahren auch und insbesondere in einem neuen Verständnis für den öffentlichen Raum abzeichnete. Großwohnkomplexe sind, trotz ihrer durchmischten Funktionsstruktur, im Grunde von dem Aspekt des Wohnens geprägt. Wie die Ausführungen oben zeigen, wurden in den 1960er/1970er Jahren das Wohnen überdacht und flexible, dem individuellen Bedürfnis angepasste Wohnformen entworfen. Wie in vielen anderen (architektonischen) Forschungszweigen wurde auch das Wohnen wissenschaftlich untersucht, um die neuen Bedürfnisse der Gesellschaft auszuloten. Die zitierte Feststellung Venturis, dass Mehrdeutigkeit nützliche Flexibilität 233  Vgl. Humpert, Klaus: Die neue Lust am Stadtraum. In: Aminde, Hans-Joachim (Hrsg.): Plätze in der Stadt. Ostfildern-Ruit 1994, S. 30ff.

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bedeutet, kann in diesem Zusammenhang wie folgt interpretiert werden: Die gefordert Nutzungsflexibilität muss nicht allein durch funktionale Aspekte erfüllt werden, sondern macht nach Venturi gleichzeitig eine Mehrdeutigkeit in der Wahrnehmung notwendig. Der dabei auf den ersten Blick entstehende Widerspruch zwischen der Forderung nach Objektivität (der Gestaltung von Räumen zur Erleichterung der Nutzung durch unterschiedliche Benutzergruppen) und Komplexität kann anhand Venturis Erläuterungen aufgehoben werden: Komplexität bedeutet nicht eine „Übergestaltung“, sondern vielmehr die Abgrenzung der Einfachheit zur Banalität. 234 In Bezug auf die beschriebenen Wohnstrukturen und neuen Wohnkonzepte wird rückblickend heute jedoch deutlich, dass sich die wenigsten der angedachten Konzepte im großen Maße durchgesetzt haben. Gleichzeitig werden einige in den 1960er Jahren entwickelte Wohnstrukturen, bedingt durch den demografischen Wandel und die alternde Bevölkerungsstruktur, seit einigen Jahren wieder erfolgreich erprobt. So kann die Grundidee des „Mehrgenerationenhauses“ auf das gemeinschaftliche Wohnen zurückgeführt werden, in dem alleinerziehende Elternteile oder ältere Menschen Betreuungsmöglichkeiten innerhalb der Wohngemeinschaft finden. Im Gesamtzusammenhang des Forschungshintergrunds wird deutlich, dass, wenn die Architektur und der Städtebau der 1960er/1970er Jahre allein aus dem Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ begründet und analysiert werden, ausschließlich eine Teilaspekt des in dieser Zeit aktuellen Stadt- und Architekturverständnisses aufgegriffen wird. Der verdichtete Städtebau und die großmaßstäbliche Architektur sind das komplexe Ergebnis, das wird in diesem Kapitel deutlich, von unterschiedlichsten Umbrüchen und neuen wissenschaftlichen Ansätzen: Die Umweltpsychologie als neuer Forschungszweig zum Subjekt im Raum, die Thematisierung und das neue Verständnis der Öffentlichkeit und ihrer Bedeutung für die Stadt, der Begriff der Urbanität im Zusammenhang mit dem partizipierenden Bürger sowie ein neues Gesellschaftsbild, das gemeinschaftliches und gleichwertiges Miteinander aller Bewohner zum Ziel hat, sind nur einige von vielen Faktoren. Hinzu kommen politische Veränderungen, wachsender Wohlstand und technische Entwicklungen, die ebenfalls das Bild der 1960er/1970er Jahre prägen. Im folgenden Kapitel werden nun über die Diskussion des theoretischen Kontextes, der geschichtlichen Einordnung, der baulichen Umsetzung sowie anhand von Beispielen ein Verständnis für Architektur und 234  Vgl. Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978, S. 27.

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Städtebau in dieser Zeit entwickelt. Dabei werden die im Rahmen des Forschungshintergrunds entwickelten Aspekte zum Verständnis und zur Theoriebildung immer wieder herangezogen.

Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild

Das Kapitel „Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild“ hat das Ziel, die dem Bau dieser Gebäudestruktur zugrunde liegenden architektonischen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Hintergründe aufzuzeigen. Dazu wird in einem ersten Schritt die Gesellschaft der 1960er/1970er Jahre thematisiert, um dann über die europäischen Entwicklungen von Architektur und Städtebau zwischen 1920 und 1960 im Folgenden das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ ausführlich darzustellen. Abschließend werden die Umsetzung der aufgezeigten Grundlagen anhand von Beispielen (praxisnahen, textlichen Veröffentlichungen, Forschungen und gebauten Objekten) herausgearbeitet und die Veränderungen in der Wahrnehmung der Großwohnkomplexe von der Entstehungszeit bis heute aufgezeigt. Das Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“ ergänzt dieses Kapitel und veranschaulicht die Entwicklung städtebaulich verdichteter Bebauungsstrukturen anhand einiger realisierter Beispiele. Das Kapitel dokumentiert mithilfe von Bildern und kurzen Texten städtebauliche und architektonische Bebauungstypen, die nicht nur den „Zeitgeist“ dieser Epoche widerspiegeln, sondern gleichzeitig die Entstehung von Großwohnkomplexen beeinflussten. Geforscht wird im vorliegenden Kapitel mithilfe der Quellen- und Literaturrecherche, wobei gleichzeitig Zeitungs- und Zeitschriftenartikel untersucht werden, die eine öffentliche Meinung und eine fachliche Sicht auf die Großwohnkomplexe zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Ausdruck bringen. Durch Gespräche mit Planern von Großwohnkomplexen, Zeitzeugen oder heutigen Bewohnern, wird das aus der Recherche gewonnene Verständnis von Architektur, Städtebau und Gesellschaft der 1970er Jahre ergänzt. Zusammen wird so ein umfassendes Bild der Gedanken und Leitbilder der Architektur und des Städtebaus der 1960er/1970er Jahre aufgezeigt und die Umsetzung der

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Wohnbebauung in Form von Großwohnkomplexen als zeitspezifischer Gebäudetypus darin verortet. Dieses Kapitel kann, insbesondere im Hinblick auf die differenzierten gesellschaftlichen, politischen jedoch ebenso architektonischen und stadtplanerischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in den westeuropäischen Ländern, nicht alle Facetten in Bezug auf Politik, Gesellschaft, Architektur oder Städtebau aufzeigen. Vielmehr wird das Kapitel im Abschnitt „gesellschaftlicher Hintergrund“ anhand der Entwicklungen in Deutschland, Österreich und Großbritannien beispielhaft Tendenzen verdeutlichen und damit aus einzelnen Aspekten ein Bild dieser Zeit skizzieren. Die folgenden Kapitel beziehen sich thematisch auf die Architektur von Großwohnkomplexen und das städtebauliche Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ und haben nicht den Anspruch einer übergeordneten Darstellung der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts in (West-) Europa. Mit dieser Einschränkung ergibt sich die Möglichkeit ein Verständnis für die Situation zu gewinnen, die den Bau von Großwohnkomplexen begleitete, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit auf allen Ebenen erheben zu müssen. Es soll also nochmal verdeutlicht werden, dass aus jeder Entwicklung, gesellschaftlich oder architektonisch bzw. stadtplanerisch, nur beispielhafte Entwürfe, Konzepte und Zusammenhänge aufgezeigt werden können. Der Gesamtzusammenhang aller Entwicklungen würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit bei Weitem überschreiten. Die im geschichtlichen Teil gewählten Abgrenzungen durch Jahreszahlen dürfen im Kontext der Überlagerungen unterschiedlicher Tendenzen nur als Richtwerte angesehen werden und sollen der groben zeitgeschichtlichen Einordnung dienen.

G ESELLSCHAFTLICHER K ONTEXT Politisch befand sich Europa zu Beginn der 1970er Jahre in einer komplexen Situation. In einer Publikation von 1969, in der Zukunftsszenarien der politischen Entwicklung Europas aufgezeigt wurden, beschreiben die Autoren, dass die internationale Politik der 1960er Jahre der Vielfältigkeit eines Kaleidoskops gleiche, wobei sich wirtschaftliche und politische Impulse mit Ängsten und Gewohnheiten auf der einen Seite und mit neuen Hoffnungen und Möglichkeiten auf der anderen Seite mische.1 1 

Vgl. Buchan, Alastair (Hrsg.): Europas Zukunft – Europas Alternativen: sechs Modelle für das Westeuropa der siebziger Jahre. London 1969, deutsche Ausgabe: Opladen 1969, S. 153.

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Dabei war Europa weiterhin geprägt von den Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion. Im Kontext der Weltpolitik wird das Gleichgewicht der Kräfte in Europa im Jahr 1969 als das Ergebnis eines asymmetrischen Verhältnisses zwischen der Sowjetunion und den USA beschrieben: „Die europäischen Beteiligten sind den starken Kräften ausgesetzt, die auf die Bewahrung des Bestehenden abzielen; ein Zustand, der durch das zentrale Gleichgewicht, das auf der Fähigkeit zu gegenseitiger Vernichtung beruht, unweigerlich verfestigt wird.“2 Neben diesen politischen Machtverhältnissen entwickelten sich weltweit Tendenzen, die im Folgenden kurz beleuchtet werden um im Anschluss, unter Berücksichtigung der spezifischen Eigenheiten der beispielhaft gewählten Länder, näher erläutert zu werden. Dabei wurden Deutschland, Österreich und Großbritannien als Untersuchungsobjekte gewählt, da die drei Projekte, die in den Fallstudien der vorliegenden Arbeit untersucht werden, in diesen Ländern beheimatet sind und so der gesellschaftliche Kontext hier als Grundlage der Analyse und Ergebnisgenerierung bereits erarbeitet werden kann. Die sechziger Jahre waren in Westeuropa und den USA von Veränderungen in der Gesellschaft, die vielfach von Jugendbewegungen ausgingen, geprägt.3 Eine linksorientierte, liberale Gesellschaft entwickelte sich in Abkehr von konservativen Lebensmodellen der 1950er Jahre. Arthur Marwick schreibt dazu: „The formation of new subcultures and movements, generally critical of, or in opposition to, one or more aspects of established society.“4 Gleichzeitig, so der Autor weiter, war diese Generation geprägt von Individualität und Selbstverwirklichung, die sich in der Gründung von Clubs, Restaurants, Design Studios oder Kunstgalerien zeigte.5 Die Jugendkultur, die sich in Musik, neuen Kunstrichtungen und Kleidungsstilen zeigte, hatte schnell Einfluss auf junge Erwachsene und löste sich damit vom rein oppositionellen Hintergrund. Die technologischen Entwicklungen wie Fernsehen, Telefon und erste Computer veränderten international nicht nur Kommunikationsmuster, sondern auch das Rollenverständnis von Frau und Mann. Ein Rückgang der wöchentlichen Arbeitszeit begründete zudem eine freizeitorientiertere Gesellschaft. Diese gesellschaftlichen Veränderungen waren von einem hohen Maß an Öffentlichkeit geprägt: „The most rebellious action, the most obscure theories, the wildest cultural extremism, 2  3 

Ebd., S. 150. Vgl. Marwick, Arthur: The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy and the United States, c. 1958-c.1974. Oxford/New York 1998, S. 17

4 

Ebd., S. 17.

5 

Vgl. dies und das folgende: Ebd., S. 17ff.

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the very „underground“ itself: all operated as publicity as possible, and all, thanks to the complex interaction with commercial interests and the media, attracted the maximum publicity.“ Gleichzeitig prägte die Möglichkeit, durch Reisen fremde Kulturen und Länder kennenzulernen und Lebensstile oder Gebrauchsgegenstände mitzubringen und sich anzueignen, die kulturellen Eigenheiten eines Landes. Das politische Interesse der Bevölkerung erstarkte, wobei diese Entwicklung insbesondere durch eine Friedens- sowie Bürgerrechtsbewegung nicht nur in den USA, sondern auch in den Ländern Europas geprägt war. Auch die 1970er Jahre sind von unterschiedlichen Aspekten geprägt. Die Ölkrisen 1973 und 1979 veränderten Europa unter ökonomischen Gesichtspunkten ebenso wie politisch motivierte, neue Formen des Terrorismus durch die Untergrundorganisationen ETA (Euskadi Ta Askatasuna) in Spanien, brigadi rossi in Italien oder die RAF (Rote Armee Fraktion) in Westdeutschland. Auch gewaltsame Auseinandersetzungen in Nordirland zwischen Katholiken und Protestanten prägten diese Zeit.6 Das optimistische und zukunftsorientierte Denken der 1960er wich pessimistischeren Zukunftseinschätzungen in der Bevölkerung.7 Gleichzeitig erlebte Europa eine Erstarkung von sozial motivierten Bewegungen, die sich in der Frauenbewegung, im Naturschutz oder Friedensbewegungen ausdrückten.8 Die Liberalisierung von Lebensstilen, begonnen in den 1969er Jahren, wurde damit weitergeführt und das Individuum in der Gesellschaft gestärkt. Ebenfalls entstand in den 1970er Jahren ein neues Demokratiebewusstsein in Europa.9 Im Gegensatz zu den Jahren visionärer und zukunftsorientierter Planungsansätze und Ideen der 1960er Jahren können die 1970er Jahre im Allgemeinen als pragmatischer, realitätsnäher und effizienter angesehen werden.10 Deutschland in den 1960er/1970er Jahren Die Entstehung von Großwohnkomplexen ist von dem städtebaulichen Leitbild der „Urbanität durch Dichte“, zentrumsnahem, verdichtetem Bauen und einer Funktionsverflechtung innerhalb eines Stadtquartiers sowie der Multifunktionalität öffentlicher Räume geprägt. Der hohe Stellenwert von Wissenschaft und 6 

Vgl. Kaelble, Hartmut: The 1970s in Europe: A Period of Disillusionment or Promise? London 2010, S. 7f.

7 

Vgl. ebd., S. 9f.

8 

Vgl. ebd., S. 13.

9 

Vgl. ebd., S. 21.

10  Vgl. ebd., S. 17.

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Forschung, die Suche nach belegbaren Parametern für Architektur und Stadtgestaltung, sowie der Glaube an wissenschaftliche Planbarkeit mithilfe der Auswertung empirisch gesammelter Daten prägten, das werden die folgenden Kapitel zeigen, ebenso den Hintergrund der Entstehung von Großwohnkomplexen, wie technische Innovationen, neue Baumaterialien und die Suche nach Anwendungsmöglichkeiten die Planung beeinflussten. Aus architektursoziologischer Betrachtungsweise änderte sich das Verständnis von Individuum und Gesellschaft. „Während in der Nachkriegsphase die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse in den Vordergrund gestellt wurde und den Bedürfnissen des Einzelnen nur eine untergeordnete Bedeutung zukam, erhielt das Individuum in der zweiten Phase gegen Ende der 1960er Jahre innerhalb des Kollektivs einen höheren Stellenwert.“11 Gleichzeitig ist in Deutschland ein gesellschaftlicher Wandel spürbar. Während die 1960er Jahre von Wachstum, Vollbeschäftigung und Wohlstand in Verbindung mit dem Ausbau des Sozialstaates geprägt waren, ergibt sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ein Umdenken, das durch pessimistischer formulierte Zukunftsaussichten und ein neues ökologisches Verständnis zum Ausdruck kam. Dieser wirtschaftliche Paradigmenwechsel wird auf gesellschaftlich-kultureller Ebene von einem Paradigmenwechsel bereits in den 1960er Jahren überlagert, der heute als ein „neu erwachtes Kulturbewusstsein“ interpretiert werden kann.12 Architektur im Zeichen technischen Fortschritts Eine entscheidende Entwicklung, die seit den 1950er Jahren weltweit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik beeinflusste, war die Möglichkeit der zivilen Nutzung der Kernenergie. Im Kontext des technischen Fortschrittglaubens der 1960er Jahre erschien die Kernenergie als entscheidende Grundlage für das weitere wirtschaftliche Wachstum. Im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Entwicklungen fasst Gabriele Metzler 2003 in einem Text über die 1960er Jahre zusammen: „Fortschritt erschien als die Summe aus Kernenergie und Sozialwissenschaften“13, und schlägt damit den Bogen zum Machbarkeitsdenken der 1960er Jahre, das auf die Verwissenschaftlichung von politischen und wirt11  Hecker, Michael: structurel I structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 147. 12  Vgl. Ortner, Laurids: Überschaubar machen und verdichten. In: Aminde, HansJoachim: Plätze in der Stadt. Ostfildern-Ruit 1994, S. 96. 13  Metzler, Gabriele: „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“ Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit. In: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn 2003, S. 779.

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schaftlichen Entscheidungsvorgängen, einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess und dem technischen Fortschrittglauben fußte. Diese Verwissenschaftlichung von Planung und Politik, neue Forschungsansätze in der Medizin, die bereits genannte zivile Nutzung der Kernenergie, Entwicklungen in Luft- und Raumfahrt und ein höherer Stellenwert des Umweltschutzes prägten im Folgenden die 1970er Jahre.14 Dabei unterstreicht die Mondlandung 1969 im Hinblick auf den technologischen Fortschritt zwei entscheidende Wendepunkte: zum einen den Beweis, dass die Landung auf dem Mond und die Erforschung des Weltraums möglich sei und zum anderen den Einsatz neuer Medien wie dem Fernsehen, das eine „live“ Berichterstattung der ersten Schritte auf dem Mond ermöglichte.15 Diese Ereignisse prägten auch die Architektur der folgenden Jahre. Während erste Überlegungen zur Besiedlung des Mondes oder des Planeten Mars theoretisch diskutiert wurden, wurden auch konkret neue Bauformen, innovative Materialien und visionäre Projekte für die Besiedlung des Weltraums entwickelt. Die utopischen Megaprojekte, die im weiteren Verlauf des Kapitels vorgestellt werden, verdeutlichen diesen Ansatz. Utopische und nicht realisierte Projekte wie „Leisure City“ können mit der Faszination der Gegensätzlichkeit von Innen- und Außenwelt interpretiert werden, die eine mögliche Besiedlung des Mondes prägen würden. Die autarke, freizeit- und lustorientierte Innenwelt steht einer Außenwelt gegenüber, die ausschließlich als Verbindung der Gebäude durchquert wird. Bezogen auf die Vision der Besiedlung des Weltraums nahm der Baustoff Glas eine neue Bedeutung an: „Das verheißungsvolle Material Glas, [...] wandelte sich jetzt zur panzerhaften Trennwand zwischen lebenbewahrendem Innenraum und lebenbedrohendem Außenraum.“16 In diesem Zusammenhang stehen die in den 1970er Jahren vielfach verwendeten, getönten Glasscheiben, die eine Sicht nach Außen ermöglichen, ohne die Sicht nach innen zu eröffnen. Einen futuristischen Ansatz, der die gesellschaftliche Situation der westlichen Welt in den 1960er Jahren darstellt, entwickelte Pablo Soleri 1970 als Projekt einer futuristischen Arche, die den Menschen nach der Zerstörung der Welt durch die Atombombe im Weltraum aus seiner Sicht retten könne. Eine der Erdoberfläche nachempfundene Landschaft, mit Wasser, Luft und einer Stadt im Innern einer Raumkapsel, die im Weltraum kreist, sollte der 14  Vgl. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006, S. 231ff. 15  Vgl. Vogt, Adolf Max: Architektur – Sinneshaushalt und Architektur. Drei Ortsbefunde. In: Hoffmann, Hilmer/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Kultur unseres Jahrhunderts 1970-1990, Düsseldorf/Wien/New York 1990, S. 153. 16  Ebd., S. 154.

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Abb. 12: Piano/Rogers – Centre Pompidou, Paris

Quelle: Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Kultur unseres Jahrhunderts. Die Sechziger. Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 144

Menschheit eine neue Heimat bieten.17 Neben diesen futuristischen und nicht realisierten Projekten wurden jedoch ebenso, zum Beispiel mit dem „Centre Pompidou“18 in Paris, Projekte realisiert, die die Technikfaszination der Zeit ausdrücken. Politik und Gesellschaft Rückblickend können die 1960er Jahre in Deutschland und Europa als ein Jahrzehnt des Wandels angesehen werden. Politisch wechselte in Deutschland im Verlauf der 1960er Jahre die Regierungsspitze vier Mal: Nach Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und der großen Koalition zwischen 1966 und 1969 unter dem christdemokratischen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, gewann 1969 erstmals die SPD die Bundestagswahl und Willy Brandt wurde erster sozialdemokratischer Bundeskanzler. Eine solche Tendenz zur Abkehr von der konservativen Politik war zu Beginn der 1970er Jahre in ganz Europa und den USA zu spüren.19 Diese Zeit der Liberalisierung und Reformen dauerte von etwa 1959 bis 1973, schloss damit an die Zeit des Wiederaufbaus an und wurde von der 17  Vgl. ebd., S. 155f. 18  Centre Pompidou von den Architekten Renzo Piano/Richard Rogers, Fertigstellung 1977. 19  Vgl. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006, S. 187.

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ersten Ölkrise im Jahr 1973 beendet. Die 1968 auftretende, von Studenten initiierte, öffentliche Protestbewegung gegen die Amerikanisierung und die amerikanische Außenpolitik sowie gegen den Kapitalismus wurde in Deutschland von einer Kritik am „System“ überlagert, die ebenfalls eine Liberalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche zum Ziel hatte. Kritikpunkte waren unter anderem die konservative Politik der Bundesregierung, die mangelhafte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und die fehlende Akzeptanz der „künstlerischen Moderne“. Gleichzeitig veränderte sich die Gesellschaft durch die Medien und den steigenden Tourismus: Die Ess- und Konsumgewohnheiten veränderten sich und eine neue, international geprägte Jugendkultur entstand.20 Rückblickend wird festgestellt, dass „1968 und die Folgen […] [zusammenfassend als, K. B.] politische Protestbewegung, Generationenkonflikt, Kulturrevolution, Renaissance marxistischen Denkens, Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Durchbruch einer liberalen Sexualmoral, Entstehung einer neuen Frauenbewegung, Verharmlosung und Legitimation von Gewalt bis hin zum Terrorismus“21 angesehen werden kann. Dabei wird die Bedeutung dieser Protestbewegung für die Bundesrepublik Deutschland heute in zweierlei Hinsicht dargestellt: Zum einen kann Sie als „zivile Nachgründung“ der deutschen Demokratie angesehen werden, wobei die Partizipation des Volkes als entscheidender Faktor angesehen wird, zum anderen werden diese Jahre als eine Kultur- oder Bewusstseinsrevolution22 bezeichnet. „So oder so: Der Eindruck eine zweiten „Stunde Null“ umrankt die Jahreszahl 1968.“23 Bereits seit dem Ende der 1950er Jahre entstand jedoch international eine neue Jugendkultur, die sich in klarer Abkehr zur geordneten Welt der „Erwachsenen“ in öffentlichen Protesten zeigte. Neue Musik wie die der „Beatles“ oder der „Rolling Stones“ verkörperte das Gefühl der „Protestkultur“. Die Jugendbewegung suchte die subjektive und gefühlsorientierte, jedoch öffentliche Lebensweise und verdeutlichte damit die klare Haltung gegen die konservative Generation ihrer Eltern. „Es war diese merkwürdig ambivalente, kulturell vielgestaltige Mischung: Einerseits lebte man gern die amerikanische neue Popkultur mit ihrer Musik, dann auch mit der Bildenden Kunst [...] andererseits wandte man sich zuneh20  Vgl. Hickethier, Knut: Protestkultur und alternative Lebensformen. In: Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 60er Jahre. München 2003, S. 11ff. 21  Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006, S. 269. 22  Vgl. Ebd., S. 254. 23  Ebd., S. 269.

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mend aggressiver gegen die Weltpolitik der USA und ihre Eingriffe in andere Länder, die die USA immer an der Seite totalitärer Regime sah.“24 In den 1970er Jahren regierte Willy Brandt Deutschland von 1969 bis 1974. Ihm folgte Helmut Schmidt bis 1982. Im Gegensatz zum Fortschrittsglauben der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre und dem Wahlversprechen Brandts „Mehr Demokratie wagen“25 erklärte Schmidt 1980 in Bezug auf seine Politik des Krisenmanagements und die Frage nach zukunftsorientierten Denkmodellen: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“26 und verdeutlicht damit den bereits thematisierten Wandel im gesellschaftlichen und auch politischen Verständnis zukünftiger Entwicklungen zum Ende der 1970er Jahre. Im Kontext der Frauenbewegung wurden die alten Ordnungsprinzipien mit klarer Rollenverteilung aufgebrochen und eine Individualisierung der Lebensstile beider Geschlechter setzte ein.27 Die Unabhängigkeit der Frau wurde durch Bildung und Erwerbstätigkeit gefestigt. Klassische Bindungen wie Ehe und Familie wurden in Teilen zu Gunsten von Lebens- und Wohngemeinschaften aufgegeben. Gleichzeitig lösten sich früher langfristig bestehende Bindungen an einen Lebensort, einen Arbeitsplatz oder die Wohnung auf und eine Beweglichkeit in Begegnungen und Beziehungen rückte an deren Stelle.28 „Mit den Stichworten Individualisierung, Pluralisierung und Flexibilisierung fassen wir eine Transformation der Gesellschaft nach dem großen Boom, die aus sich heraus neue Anforderungen, eine neue Dynamik und veränderte Erwartungen im Rahmen der Alltagskultur und der privaten Lebensführung hervorbrachte.“29

24  Hickethier, Knut: Protestkultur und alternative Lebensformen. In: Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 60er Jahre. München 2003, S. 20. 25  Willy Brandt in seiner Regierungserklärung von 28.10.1969, vgl. Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Sechziger. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 13. 26  Schmidt, Helmut, 1980. 27  Vgl Doering-Manteufel, Anselm: Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. In: Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 323. 28  Vgl. Koch, Uwe: gelockerte Bindungen. In: Dietz, Gabriele (Hrsg.): Klamm, Heimlich & Freunde: Die siebziger Jahre. Berlin 1987, S. 16. 29  Doering-Manteufel, Anselm: Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. In: Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 324.

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Ökonomie Die bauwirtschaftlichen Entwicklungen des Wohnungsbaumarktes in den 1960er Jahren bilden zwei unterschiedliche Themenschwerpunkte: Zum einen bildete die Bauökonomie insbesondere in den frühen 1960er Jahren aus bautechnischer Sicht eine Architektur der Rationalität und des maximalen Profits aus, die neben der anhaltenden Wohnungsnot einen weiteren Grund zur Entstehung immer gleicher und monotoner Gebäudetypologien in den neuen Siedlungen, insbesondere in den Satellitenstädten, darstellten. Ein weiterer Themenschwerpunkt in der Betrachtung der ökonomischen Gesichtspunkte der Architektur in den 1960er/1970er Jahren sind die Bauherren großer, komplexer Wohnanlagen, ihre Ziele und wie sich die architektonische Gestaltung durch die neuen Finanzierungskonzepte änderte. Großwohnkomplexe der 1960er/1970er Jahre sind, wie die Definition bereits zeigte, von einem hohen Anteil an Eigentumswohnungen geprägt. Anders als viele Großsiedlungsbauvorhaben der Nachkriegszeit (1950er bis 1960er Jahre), als Wohnungsbaugenossenschaften staatlich geförderte Sozialwohnungen errichteten, wurden Großwohnkomplexe von privaten Bauträgern finanziert um später gewinnorientiert als Eigentumswohnungen verkauft werden zu können. Die „öffentlichen“ Räume und Tiefgaragen wurden dabei den Wohnungen zugeordnet und sind damit anteilig Eigentum der Wohnungsbesitzer.30 Unabhängig von diesen spezifischen Eigentumsverhältnissen bei Großwohnkomplexen waren die Bautätigkeiten der 1960er/1970er Jahre auf unterschiedlichen Ebenen von einer Gewinnmaximierung geprägt, während die Arbeitsproduktivität im Laufe der 1960er Jahre deutlich anstieg.31 Rationelle Bauweisen, Vorfertigung und das Erstellen großmaßstäblicher Siedlungen gleichen Schemas sollten nicht nur die noch immer anhaltende Wohnungsnot lindern, sondern gleichzeitig möglichst günstigen, zeitgemäßen neuen Wohnraum schaffen.32 Die Entwicklungen reichten bis zu Städten aus Systembauteilen, wie das Beispiel

30  Die daraus resultierenden Schwierigkeiten in Bezug auf Instandhaltungsmaßnahmen, Sanierung oder Entwicklung der gewerblichen Flächen werden in den Fallbeispielen und Projektbeschreibungen individuell thematisiert.. 31  Vgl. Westerhoff, Horst-Dieter (Bearb.): Der Einfluß des Strukturwandels im Bauvolumen auf die Bauwirtschaft. Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Essen. Düsseldorf 1973, S. 30f. 32  Vgl. Deutscher Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumplanung e. V. (Hrsg.): Rudolf Sperner. Bauwirtschaft und künftiger Städtebau. Vortrag am 23. Juni 1968 in Rüsselsheim. Köln-Mühlheim 1968, S. 18f.

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Metastadt Wulfen zeigt.33 Auch andere Bautätigkeiten, wie die von Bildungsbauten, öffentlichen Einrichtungen, Gewerbebauten oder großen Warenhäusern wurden rationalisiert. Im Rahmen dieser Rationalisierungstendenzen und den Tendenzen zur Vorfertigung und Systembauweise wurde dem Stahlbau eine wachsende Bedeutung an der Gesamtbautätigkeit zuteil. Als Vorteile des Stahlbaus wurden die Möglichkeit in die Höhe zu bauen, was durch die Verknappung des Bodens in den Städten notwendig wurde, die großen Spannweiten des Stahlbaus, die funktional frei bespielbar und veränderbar seien, die weniger lärmbelastenden Baustellen sowie die geringeren Bauzeiten angegeben.34 Mit dem Ziel die ästhetischen und technischen Maßstäbe von Planung durch den Aspekt der Bauökonomie zu ergänzen wurde im Jahr 1972 in Stuttgart ein Institut für Bauökonomie gegründet. 35 Diese Gründung verdeutlicht nicht nur den damaligen Forschungsbedarf in diesem Bereich, sondern gleichzeitig die in dieser Zeit entstandene Notwendigkeit der Kostenplanung und -kontrolle in der Praxis. „Die Fähigkeit zur Kostenplanung wird damit zum wichtigen Qualifikationsmerkmal der Architekturbüros für die Auftragsvergabe.“36 Heute, und bereits seit Mitte der 1960er Jahre, wird häufig der mangelnde gestalterische Entwurf in vielen Gebäuden dieser Zeit kritisiert. Dabei wird die Rationalisierung der Planungszeiten in den Vordergrund gerückt: „Die Architekten und Investitionsmanager hatten kaum Zeit die Pläne zu zeichnen und zu verstehen, waren von den absurdesten Terminsetzungen gedrängt, um das Geld möglichst schnell arbeiten zu lassen, die Mieten zu kassieren – keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit für einen klugen oder gar phantasievollen Entwurf…“37 Wohlstand Auf gesellschaftlicher Ebene sind die 1960er Jahre von den Auswirkungen des „Wirtschaftswunders“, einem kontinuierlich wachsenden Wohlstand (Vollbe-

33 Vgl. Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“ und darin die Ausführungen zur Metastadt Wulfen. 34  Vgl. Jürgensen, Harald: Märkte in der Entwicklung: Bauwirtschaft in den 1970er Jahren. Vortrag im Rahmen des Deutschen Stahlbautages Mainz. Köln 1972, S. 21ff 35  Vgl. Institut für Bauökonomie (Hrsg.): Bauök-Papiere. Stuttgart 1972, S. 3. 36  Ebd., S. 3. 37  Klotz, Heinrich: Die Ökonomie triumphiert. In: Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Sechziger. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 133.

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schäftigung, Einkommenssteigerung, soziale Sicherheit38), hohem Steueraufkommen, einer Verringerung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit und einem höheren Freizeitanteil, einer Erhöhung der Mobilität (Tourismus und Verkehr39) sowie dem Ausbau des Sozialstaats geprägt. Erst die Ölkrisen 1973 und insbesondere 1979 können als Zäsur in dieser Entwicklung und als Ausgangspunkt eines Strukturwandels erkannt werden. Jarausch beschreibt die 1970er Jahre in diesem Zusammenhang als eine Übergangsepoche, „[…] deren Selbstbild zwischen Krisengefühl und Aufbruchsstimmung schwankt.“40 Ein auch für die Stadtplanung entscheidender Aspekt war die Erhöhung der Mobilität und die Individualisierung des Verkehrs. Während einerseits versucht wurde, den Individualverkehr in den Städten durch einen Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel einzuschränken, erhöhte sich aufgrund der wachsenden Städte und der Zersiedlung des Umlandes andererseits der Bedarf an Individualverkehr weiter. Im Bereich des innerstädtischen Wohnungsbaus wurden Lösungen gesucht, den Erschließungs- und den ruhenden Verkehr mit dem Wohnungsbau zu verbinden.41 Unter anderem daraus resultierend entstanden Wohngebäude mit einem unterirdischen Parkgeschoss, aus denen sich die Konzeption der Großwohnkomplexe weiterentwickelte. Bereits 1965 wurde im Verlauf eines Wettbewerbs über ein innerstädtisches Wohnquartier festgestellt: „Man ist gezwungen, mit zwei oder mehreren Verkehrsniveaus zu arbeiten, wobei ein Niveau, unter der Erde, für den Motorverkehr und für Parkzwecke und ein reines Fußgängerniveau in Terrainhöhe eine Mindestanforderung sind.“42

38  Vgl. Jarausch, Konrad Hugo: Verkannter Strukturwandel. In: Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 9. 39  Vgl. Koch, Uwe: gelockerte Bindungen. In: Dietz, Gabriele (Hrsg.): Klamm, Heimlich & Freunde: Die siebziger Jahre. Berlin 1987, S. 13. 40  Jarausch, Konrad Hugo: Verkannter Strukturwandel. In: Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 10. 41  Vgl. Klemmert, Horst/Rumpf, Peter: Integrationsmodelle. Entwicklung von komplexen Wohnanlagen mit integrierter Fahr- und Fußgängererschließung. In: Bauwelt 1974, Heft 17, S. 642ff. 42  Möller, Svend Erik: Vorschläge für das Wohnen in der Stadt. In: Bauwelt 1965, Heft 31, S. 855.

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Abb. 13: „Wirtschaftlicher und sozialer Strukturwandel und Städtebau“

Quelle: Tamms, Friedrich (Hrsg.): Rudolf Hillebrecht. Die Auswirkungen des wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandels auf den Städtebau. Köln/Opladen: 1964, S. 14,15

Aufgrund der wachsenden Massenproduktion von Gütern und der damit in Verbindung stehenden Auslagerung ganzer Industriezweige in andere Länder erfolgte in Deutschland in den 1960er/1970er Jahren eine Veränderung des Arbeitsmarktes. Dies hatte einen massiven Rückgang der Anzahl Erwerbstätiger im Bereich der Industrie zur Folge, während das Dienstleistungsgewerbe expandierte. „Die Welt der traditionellen Industriegesellschaft, wie sie international in den euroatlantischen Ländern seit den 1890er Jahren bestand, ging ihrem Ende entgegen.“43 Die oben unter dem Stichwort „Gesellschaft“ genannten Veränderungen, der Wunsch nach Selbstbestimmung der Frau, Geburtenrückgang und einer liberalen Gesellschaft mit veränderten Wertvorstellungen, veränderten den Ar-

43  Doering-Manteufel, Anselm:Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen: In: Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 314.

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beitsmarkt ebenfalls bedeutend. Diese Veränderungen wurden ab Mitte der 1970er Jahre erkannt und neue politische Ziele formuliert.44 Bildung In den 1960er Jahren gewann Bildung als „Humankapital“ in der politischen Diskussion einen erhöhten Stellenwert. In einer zu Beginn der 1960er Jahre publizierten OECD45 Studie erreichte Westdeutschland ein Ergebnis, das einen Rückstand gegenüber anderen Nationen aufwies und zum Handeln zwang. Georg Picht veröffentlichte in diesem Zusammenhang 1964 eine Publikation mit dem Titel „Die deutsche Bildungskatastrophe“ und löste damit eine öffentliche Diskussion aus. Nach dem Prinzip „Aufstieg durch Bildung“ wurde nun gefordert, die Zahl der Abiturienten und Studenten zu erhöhen und dabei schon im Vorschulalter eine angemessen Anzahl an Betreuungsmöglichkeiten anzubieten. Im Zeitraum vom Ende der 1950er Jahre bis Anfang der 1970er Jahre verdoppelte sich durch diese Bemühungen die Studentenzahl, es wurden neue Hochschulen gebaut und der Anteil der studierenden Frauen nahm zu.46 Gesamtschulen als neuer Ansatz im Bildungssystem wurde im Hinblick auf das längere gemeinsame Lernen gegründet.47 Architektonisch und städtebaulich bildeten diese Gesamtschulen ebenfalls eine neue Typologie. Flexible Raumnutzungsmöglichkeiten, Wirtschaftlichkeit im Bau und in der Nutzung sowie ein hoher Ausnutzungsgrad aller Räume führten zu Gebäudestrukturen, die in ihrer Komplexität und Multifunktionalität Ähnlichkeiten mit den Grundsätzen der Großwohnkomplexe aufweisen. Terrorismus Zu Beginn der 1970er Jahre entwickelten sich, unter anderem aus der „68er“ Revolution heraus, eine kleine Gruppe gewaltbereiter Terroristen, die im Kontext eines internationalen Befreiungskampfes gegen den Imperialismus kämpf-

44  Vgl. Jarausch, Konrad H.: Verkannter Strukturwandel. In: Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 19f. 45 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 46  Vgl. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006, S. 244. 47  Vgl. Preuss-Lausitz, Ulf: Aufstieg durch Bildung. In: Dietz, Gabriele (Hrsg.): Klamm, Heimlich & Freunde: Die siebziger Jahre. Berlin 1987, S. 38.

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te.48 Durch ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft, Entführungen und Morde an Politikern und Personen des öffentlichen Lebens, schürten sie ein Gefühl der Angst. 1977 erreichte der Kampf in Deutschland seinen Höhepunkt. Von Seiten der Terroristen wurde versucht bereits inhaftierte „Köpfe der RAF“ durch weitere Entführungen freizupressen. Im Herbst 1977 begingen führende Mitglieder der RAF im Gefängnis Selbstmord, erst im Jahr 1998 löste sich die RAF offiziell auf. Heute versuchen Forschungen darüber Aufschluss zu geben, warum sich insbesondere in Deutschland eine solch stark linksextreme Gruppierung formierte, die mit Gewalt versuchte, ihre Ziele durchzusetzen. Als Erklärung kann die NS-Vergangenheit Deutschlands herangezogen werden: „Man wird deshalb sozialpsychologische Voraussetzungen, die mit dem Nationalsozialismus (bzw. dem italienischen Faschismus) und seiner gesellschaftlichen Verarbeitung zu tun haben, in Rechnung stellen müssen, um die zerstörerische Radikalität dieses Teils des bundesdeutschen Generationenkonfliktes zu ergründen.“49 Eine wichtige Erkenntnis war jedoch in der Zeit nach dem Terrorismus, dass der noch junge, demokratische Staat auch solchen Krisen gewachsen waren.50 „[D]er Rechtsstaat ging nicht in die Knie. [...] Die Terroristen haben den Staat nicht aus den Angeln heben können.“51 Wertewandel Im Verlauf der 1960er Jahre war ein Wertewandel in der Bundesrepublik zu beobachten, der sich in den letzten Jahren des Jahrzehnts beschleunigte und insbesondere im Jahr 1968 in der Öffentlichkeit einen hohen Stellenwert einnahm. Das Individuum wurde proklamiert und alternative Lebensentwürfe entdeckt. Bei der Entwicklung dieses Wertewandels verknüpften sich unterschiedliche Stränge: „Eine moderne Massenkultur breitete sich aus, neue, amerikanisch geprägte Kulturmuster, Lebens- und Denkstile überlagerten die traditionellnationalen, ein gesamtgesellschaftlicher Egalisierungstrend zeitigte weitreichende Folgen, Wohlstandserfahrungen bestimmten das Leben der meisten, das Konsum- und Freizeitverhalten orientierte sich am Wirtschaftswunder, die Medienlandschaft, besonders die flächendeckende Verbreitung des Fernsehens erweiterte den individuellen Erfahrungsraum, die gesellschaftlichen Reformdebatten 48  Vgl. dies und das Folgende: Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006, S. 340ff. 49  Ebd., S. 343. 50  Vgl. ebd., S. 346. 51  Ebd., S. 346.

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bewirkten auf längere Sicht eine Umorientierung und einen Einstellungswandel, und begleitet von einem Generationswechsel schritt so im öffentlichen und privaten Leben eine Säkalusierung weiter voran.“52 Im Laufe der Jahre entwickelte sich die Konsumgesellschaft auf unterschiedlichsten Ebenen, zuerst im Kontext von Standardwaren, später im Zusammenhang mit alternativen Lebensentwürfen. Auch diese alternativen Lebensentwürfe konnten sich den Konsumgütern jedoch nicht entziehen und prägten sie durch neue Impulse gleichzeitig mit. Zeitgleich setzte jedoch Kritik an der Konsumgesellschaft ein: Auf künstlerischer Ebene setzte sich der „Nouveau Réalisme“ mit dieser „Waren- und Wegwerfgesellschaft“ auseinander, wobei „Happenings“ und „Konzeptkunst“ die gewöhnlichen Wahrnehmungsmuster veränderten. Die Pop Art griff in klassische Kunstproduktionstechniken ein und setzte sich dabei ebenfalls mit der „Welt des Konsums“ auseinander.53 Umweltschutz In den 1970er Jahren wurde das ökologisches Verständnis zum Schutz der Umwelt geweckt: Die Kernaussage einer vom „Club of Rome“ in Auftrag gegebenen Studie mit dem Titel „The Limits to Growth“ (veröffentlicht 1972) war, dass die Grenze des wirtschaftlichen Wachstums bald erreicht sei, was zu Lebensmittelknappheit und Rohstoffmangel führen würde. Im Kontext der während der Studie entwickelten Schlüsselbegriffe Umweltverschmutzung, Weltbevölkerung, Weltwirtschaft und Technologie wurde ein Ungleichgewicht zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern kritisiert und entsprechend ein Gleichgewicht gefordert: „Ein harmonischer Gleichgewichtszustand der Weltwirtschaft, des sozialen und ökologischen Gleichgewichts muss ein gemeinsames Ziel sein, das auf einer gemeinsamen Überzeugung beruht und allen Gewinn bringt.“54 Obwohl die Zukunftsszenarien der Studie ausschließlich auf computerbasierten Verknüpfungen von Daten rührte, wurde sie als reale Zukunftsvision interpretiert und diskutiert und nahm somit einen hohen Stellenwert im ökologischen und gesellschaftlichen Umdenken zu Beginn der 1970er Jahre ein. Noch vor dem „Ölpreisschock“ von 1973 entwickelte sich 1972 ein Zusammenschluss 52  Ebd., S. 254. 53  Vgl. de Nuys-Henkelmann, Christian: Happening ist überall. In: Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Sechziger. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 31. 54  Meadows, Dennis/Meadows Donella/Zahn, Erich/Milling, Peter: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Aus dem Amerikanischen von Hans-Dieter Heck. New York 1972, Stuttgart 1972, S.174.

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früherer Umweltinitiativen unter dem Namen „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz“. „Im Verlauf der siebziger Jahre wandelte sich Umweltschutz so von einem exklusiven Sachproblem der Eliten in Administration und Industrie zu einem in den Medien kontrovers debattierten Politikfeld, eine Entwicklung, die bald starke Auswirkungen auf die Handlungsbedingungen aller umweltpolitischen Akteure hatte.“55 Dies hatte einen Wandel im gesellschaftlichen Selbstverständnis zur Folge. Die öffentliche Umweltschutzbewegung, später gepaart mit einer Anti-Atomkrafthaltung, und die Kritik an der Verkehrsplanung und dem Städtebau der vergangenen Jahre rief Bürgerinitiativen und Protestbewegungen hervor, wobei sich im Verlauf der 1970er Jahre die Prioritäten immer wieder verschoben. In Verbindung mit politischen Überzeugungen und einem sozialen Verständnis ging aus diesen Protestbewegung im Jahr 1980 die Partei „die Grünen“ hervor, die sich in den folgenden Jahren zu einer etablierten Bundespartei entwickeln sollte.56 Jedoch nicht nur auf politischer Ebene verfestigte sich der Umweltgedanke: Auch im Bauprozess wurde über umwelt- und ressourcenschonende Bauweisen und über die damit einhergehende Notwendigkeit der Reduzierung von Transportwege und Kosten nachgedacht. In einem kurzen Artikel in der Zeitschrift „Bauen und Wohnen“ erläuterte Franz Füeg in diesem Zusammenhang auch die Vorteile von nutzungsunabhängigen Bauweisen, die eine spätere Veränderbarkeit erleichtern: „Demnach wäre das Bauen von großen Räumen und von Räumen, die einfach verändert werden können, ein Bauen also, das weniger genau festgelegten Funktionen folgt, umweltfreundlicher.“57 Österreich in den 1960er/1970er Jahren Die folgende Darstellung der Entwicklung österreichischer Kultur, Politik und Gesellschaft in den 1960er/1970er Jahren werden als Ergänzung zu den ausführlichen Darstellungen der Entwicklungen in Deutschland im selben Zeitraum angesehen. Da sich viele Entwicklungen, sei es die allgemeine Tendenz zu 55  Hünemörder, Kai F.: 1972-Epochenschwelle der Umweltgeschichte? In: Brüggemeier, Franz-Josef/Engls, Jens Ivo (Hrsg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945. Frankfurt am Main 2005, S. 140. 56  Vgl. Doering-Manteufel, Anselm: Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. In: Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 321. 57  Füeg, Franz: Am Rande: Umweltfreundlichkeiten II. In: Bauen und Wohnen1974, Heft 4, S. 137.

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linksorientierter Politik, das Jahr 1968 als ein „Wendepunkt“ in der Beziehung von Gesellschaft, Kultur und Politik oder auch die Entwicklung von StädtebauUtopien und zukunftsorientierten, technisierten Bauweisen in den unterschiedlichen Ländern Europas glichen und ebenso einige bereits beschriebenen Ereignisse wie der Flug zum Mond 1969 international Veränderungen auslösten, wird sich die Beschreibung in diesem Abschnitt auf die österreichisch-spezifischen Prozesse in diesen Jahren beschränken. Ziel ist es, eine Vorstellung über die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen zu erhalten, um das Fallbeispiel „Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter“ einordnen zu können. In den 1960er Jahren kam es auch beeinflusst durch die Entwicklungen in den USA, in Österreich, ähnlich wie in den weiteren Ländern Westeuropas, zu einer Liberalisierung der Gesellschaften. Musikrichtungen wie Jazz oder Rock „n“ Roll, das Aufbrechen von Rollenbildern in den Familien, zunehmende Demokratisierung der Bevölkerung unter dem Stichwort „Basisdemokratie“ sowie eine zunehmende Reiselust und damit neue Erfahrungen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen trugen in den 1960er zu dieser Liberalisierung bei.58 Ähnlich wie in Deutschland kam es auch in Österreich zu einem Wechsel der Regierungspartei von der seit dem Ende des 2. Weltkriegs regierenden christdemokratischen ÖVP59 zu einem Wahlerfolg der sozialdemokratischen SPÖ60 im Jahr 1970.61 Während in Deutschland mit der Ölkrise 1973, einem wachsenden Umweltbewusstsein und dem Denkmalschutzjahr 1975 sowie weiteren Entwicklungen auch auf architekturtheoretischer Ebene die 1970er Jahre bereits durch Umbrüche und Veränderungen geprägt waren, werden die 1970er Jahre in Österreich noch als kontinuierliche Weiterentwicklung der 1960er Jahre beschrieben. Offensichtlich traten die Veränderungsprozesse hier also verzögert auf: „Die 1970er Jahre waren eine Art goldenes Zeitalter der Modernisierung für Österreich. Der in den Visionen des 19. Jahrhunderts vorweggenommene gesellschaftliche Fortschritt 58  Vgl. Schwendter, Rolf: Das Jahr 1968 War es eine kulturelle Zäsur? In: Sieder, Reinhard/Steinert, Heinz /Tálos, Emmerich (Hrsg.): Österreich 1945 – 1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Wien 1995, S. 168ff. 59  Österreichische Volkspartei. 60  Sozialistische bzw. seit 1991 Sozialdemokratische Partei Österreichs, Minderheitsregierung mithilfe der FPÖ. 61  Vgl. Eder, Hans: Die Kreisky-Ära. In: Sieder, Reinhard/Steinert, Heinz/Tálos, Emmerich (Hrsg.): Österreich 1945 – 1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Wien 1995, S. 188f.

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kam in dieser Periode gewissermaßen zu seiner Vollendung, unter Bedingungen hoher Prosperität und sozialen Friedens. Dies war allerdings der Abschluss einer Entwicklung und nicht der Auftakt zu einer gleichgearteten Zukunft – zunehmende Arbeitslosigkeit, die Finanzkrise des Wohlfahrtsstaates, massive Widerstände gegen den technischen Fortschritt als Umweltzerstörer und ein Meinungsumschwung, besonders unter den Arbeitern, zugunsten rechter politischer Positionen sind bereits gegen Ende dieser Periode zum Vorschein gekommen.“62

Die österreichische Architekturentwicklung in den 1950er–1970er Jahren war ähnlich wie in Deutschland erst von einer Weiterentwicklung der „Moderne“ geprägt, die im Wohnungsbau in vielen Fällen zu frei im Raum stehenden Zeilenbauten mit monotonen Fensterelementen führten. In den 1960er Jahren entstand dann aus der Kritik an der „Moderne“ zeitgleich mit der weltweiten Entwicklung von utopischen Architektur- und Städtebauentwürfen auch in Österreich mit den Architekturgruppen Hans Hollein, Walter Pichler oder der Werkgruppe Graz eine technik- und zukunftsorientierte, innovative Architektursprache. Die „Dichte und Vielfalt“ dieser Entwürfe insbesondere in Wien und Graz führten zur Bezeichnung „The Austrian Phenomenon“.63 Als Besonderheit der österreichischen Architektur kann in dieser Zeit die Verbindung von Kunst und Architektur dargestellt werden. So vermischten sich Professionen von Künstlern und Architekten: „Und daß [sic!] gar Architekten selber auch freie Künstler sind und manchmal sogar auch umgekehrt, das können nur Blüten einer spezifisch österreichischen Durchdringungskultur sein, deren Wurzeln weit zurück reichen.“64 Diese „Mischung“ von Kunst und Architektur spiegelte sich insbesondere zu Beginn der 1960er Jahren in den an die englischen Entwicklungen der Archigram Gruppe und Pop Architektur angelehnten Entwürfen von Haus Rucker und Co oder Coop Himmel(b)lau wider.65 Der Kontext für die Entwicklung von Großwohnkomplexen ist also in Österreich der 1960er Jahre ein ähnlicher, wie in weiten Teilen Europas bzw. 62  Fischer-Kowalski,

Marina:

Sozialer

Wandel.

In:

Sieder,

Reinhard/Steinert,

Heinz/Tálos, Emmerich (Hrsg.): Österreich 1945 – 1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Wien 1995, S. 210. 63  Vgl. Stempl, Markus: “Nicht auf dem Boden, sondern in der Luft.” Drei exemplarische Raumstadt-Projekte. In: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 170. 64  Bode, Peter M.: Österreichische Architektur seit 1960. In: Bode, Peter M.: Architektur aus Österreich seit 1960. Wien 1980, S. 11. 65  Vgl. auch Kapitel „Utopische Megastrukturen“.

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Deutschlands. Die Planungen für das Komplexbauvorhaben Graz St. Peter entstanden ab 1965 also in einer Zeit der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. Die Fertigstellung fiel, wie die vieler weiterer Großwohnkomplexe, in die 1970er Jahre (1978) wo sich auch in Österreich bereits weitere Wandlungsprozesse ankündigten. Großbritannien in den 1960er/1970er Jahren Die britischen Architektur- und Städtebaudiskussion der 1960er/1970er Jahre waren von dem „New Towns Act“ im Jahr 1946, dem „County of London Plan“ aus dem Jahr 1951 sowie von den Protagonisten des Brutalismus, Strukturalismus und Mitgliedern des Team Ten wie Alison und Peter Smithson oder der Architekturzeitschrift „Archigram“ geprägt. Auf diese Entwicklungen wird aufgrund ihrer engen Verbindung zu der Entwicklung von Großwohnkomplexen in der vorliegenden Arbeit separat und ausführlicher in den Kapiteln „Geschichtlicher Hintergrund“ und „1960–1975 Urbanität durch Dichte“ eingegangen. Das vorliegende Kapitel soll dagegen, wie im vorhergehenden Teil über die österreichische Architektur bereist angesprochen, die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Großbritanniens in den 1960er/1970er Jahren kurz aufzeigen. Grundlage auch dieses Kapitels ist die ausführliche Darstellung der Entwicklungen in Europa anhand des Beispiels Deutschland. Änderungen, Abweichungen oder besondere Erkenntnisse, die für die Entstehung der Großwohnkomplexe und insbesondere für das später vorgestellte Fallbeispiel Brunswick Center prägend waren, werden ergänzend im Folgenden dargestellt. Entgegen der Entwicklungen in Deutschland und Österreich, wo nach 1945 die konservativen Parteien bis 1969 bzw. 1970 regierten, war Großbritannien in dieser Zeit politisch linksorientiert. Dies änderte sich erst in den 1980er Jahren mit der konservativen Regierung unter Margret Thatcher. Die gesellschaftlichen Entwicklungen Großbritanniens, wie die Jugendbewegungen in den 1950er/1960er Jahren oder die Entwicklung der Popkultur66, waren stark durch die Einflüsse der USA stark geprägt und können in einigen Bereichen als Vorbild für die bereits beschriebenen Entwicklungen in Deutschland und Österreich angesehen werden. In den 1950er/1960er Jahren bildeten sich europaweit oppositionelle Jugendbewegungen, die gegen das „Bürgerliche“ eine eigene Kultur 66  Zur Entstehung der „Popkultur“ siehe auch: Gohrisch, Jana: Populär- und Jugendkulturen. In: Kastendiek, Hans/Sturm, Roland (Hrsg.): Länderbericht Großbritannien: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. 3. aktualisierte und neu bearbeitete Auflage. Bonn 1994, Bonn 2006, S. 340ff.

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stellten. Aus den politischen Entwicklungen heraus war diese Gegenbewegung jedoch in Großbritannien offensichtlich eher kulturbezogen als gesellschaftlich oder politisch revolutionär. Gleichzeitig entwickelten sich jedoch gesellschaftliche Spannungen im Vereinigten Königreich, Irland oder im nach Unabhängigkeit strebenden Wales. In den 1950er Jahren verstaatlichte die Labour Regierung neben Eisenbahnen, Fluggesellschaften Busunternehmen und U-Bahnen auch die Versorgungssysteme von Strom, Gas und Öl, die Kohle- und Stahlindustrie, Überseekabel sowie Reisebüros, Krankenhäuser und die Bank of England und bildete ein umfassendes Sozialsystem aus.67 Eine Bildungsreform versprach Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche aller Klassen und Universitäten wurden ausgebaut bzw. neu gegründet.68 „Charakteristisch für die Stimmung jener Jahre ist die Tatsache, daß [sic!] all dies in weitgehendem politischen Konsens vor sich ging.“69 Getragen wurde diese Verstaatlichung von hohen Steuersätzen. Es herrschte in Großbritannien dieser Zeit „[…] eine gewisse Zufriedenheit, wenn nicht gar Selbstgefälligkeit.“70 Während sich gleichzeitig Frankreich, Italien, Deutschland, und die Benelux-Länder in den 1950er Jahren zur europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammenschlossen, trat Großbritannien nach mehrmaligen Versuchen, die jeweils an der ablehnenden Haltung Frankreichs scheiterten, dem Wirtschaftsbündnis erst im Jahr 1973 bei.71 In den 1960er Jahren sank die wirtschaftliche Kraft Großbritanniens beträchtlich.72 Die vielen staatlichen Unternehmen wurden zur Last und die Währung verlor an Wert. Zeitgleich traf die Ölkrise von 1973 auch Großbritannien schwer, jedoch begann das Land zu dieser Zeit Öl aus Vorkommen in der Nordsee zu fördern. Damit verspielte Großbritannien jedoch die Konkurrenzfähigkeit in andersartigen Energiegewinnungsmöglichkeiten wie der Atomenergie, was sich langfristig wirtschaftlich negativ auswirkte.73 Mitte der 1970er Jahre stand Großbritannien dann vor einer Krise: „…[H]ohe Arbeitslosigkeit, exorbitante Inflation (25% im Sommer 1975) und ein erschreckendes internationales Zahlungsbilanzdefizit.“74 An dieser Situation 67  Vgl. Maurer, Michael: Geschichte Englands. Stuttgart 2000, S. 345f. 68  Vgl. ebd., S. 347. 69  Ebd., S. 346. 70  Ebd., S. 349. 71  Vgl. ebd., S. 352. 72  Vgl. ebd., S. 353. 73  Vgl. ebd., S. 354. 74  Ebd., S. 355.

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zerbrach Großbritanniens Labour Regierung – vor allem, da die Verknüpfung von Gewerkschaft und Politik keine harten Sparmaßnahmen zuließ. Parallel zu diesen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen Großbritanniens entstand in den 1950er Jahren eine von amerikanischen Vorbildern beeinflusste Popkultur. „Die nach dem Krieg erhöhte Geburtenrate, wirtschaftliche Prosperität […] und technische Entwicklungen rückten zum ersten Mal Jugendliche als eine besondere Konsumentengruppe in den Blick der Freizeitindustrie.“75 Dabei grenzten sich die Jugendlichen durch die Identifikation mit spezifischen Subkulturen voneinander ab. Gemeinsam war jedoch all diesen Jugendkulturen, dass sie von „[…] der dominanten bürgerlichen Kultur abwichen.“76 Aus diesen kulturellen Entwicklungen gingen unter anderem die Beatles und die Rolling Stones als weltweit prägende Bands der neuen Kultur der sechziger Jahre hervor.77 Ihr Erfolg führte jedoch außerdem zur Entstehung einer Fülle von weiteren Bands die die neue Pop Kultur verbreiteten. Gleichzeitig führten in Großbritannien Filme und Kinos zu einem neuen Freizeitverhalten: „But after pop, the most potent evidence if intellectual and artistic renewal in Britain was to be found in the cinema. Three tendencies […] can be detected: a perceptive social criticism and social satire; an authentic presentation of working-class life styles; and genuine innovation both in technique and in breaking away from the purely naturalistic film.“78

Zeitgleich mit diesen jugendkulturellen Entwicklungen spitzte sich der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland in den 1960er Jahren zu einem bewaffneten Bürgerkrieg zu.79 Die Einforderung von Bürgerechten war ebenso Ausdruck der „soziokulturellen Veränderungen“ wie Autonomieforderungen von Schottland und Wales im selben Zeitraum. Dies wird in der Literatur in Verbindung mit den Protesthaltungen europäischer Nachbargesellschaften

75  Gohrisch, Jana: Populär- und Jugendkulturen. In: Kastendiek, Hans/Sturm, Roland (Hrsg.): Länderbericht Großbritannien: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. 3. aktualisierte und neu bearbeitete Auflage. Bonn 1994, Bonn 2006, S. 351 76  Ebd., S. 351. 77  Vgl. Marwick, Arthur: British Society since 1945. 4. Auflage. London 1982, London 2003, S. 104. 78  Ebd., S. 107. 79  Vgl. Sturm, Roland: Großbritannien. Wirtschaft - Gesellschaft - Politik. 2. überarbeitete Auflage. Opldaden 1991, Opldaden 1997, S. 288ff.

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unter dem Stichwort der „68er Generation“ und der „Infragestellung überkommener Werte“ zusammengefasst.80 Die gesellschaftlichen Entwicklungen, erläutert an den beispielhaft gewählten Ländern Deutschland, Österreich und Großbritannien prägten, das wurde bereits thematisiert, die Entstehung von Großwohnkomplexen. Im Folgenden Exkurs wird eine Publikation beschrieben, die nach Erscheinen im Jahr 1961 mehrfach neu aufgelegt und angepasst wurde und damit die Möglichkeit birgt, gesellschaftliche Veränderungsprozesse in dieser Zeit anhand der veränderten oder ergänzten Textpassagen aufzuzeigen. Exkurs: Gesellschaftlicher Wandel und Architektur – die Neuauflage der Publikation „Die moderne Großstadt“ von 1969 Hans Paul Bahrdt hat mit der Publikation „Die moderne Großstadt“ im Jahr 1961 einen entscheidenden Grundstein zum Urbanitätsverständnis der 1960er und 1970er Jahre gelegt. Die Publikation wird noch heute „[...]zu den verbreitesten stadtsoziologischen Publikationen“81 gezählt. Wie bereits in Kapitel „Öffentlichkeit und Privatheit“ dargelegt ist für Hans Paul Bahrdt insbesondere das Wechselspiel von Öffentlichkeit und Privatheit im Stadtraum entscheidend für den Faktor Urbanität. In dem in diesem Kapitel dargestellten Zusammenhang wird diese Publikation noch einmal angeführt, da der Autor das Buch, nach erstem Erscheinen im Jahr 1961 im Jahr 1969 neu auflegte und nicht nur eine reflektierte und an der ersten Auflage orientierte neue Einleitung schrieb, sondern gleichzeitig im Text einige Passagen ergänzte. Anhand dieser Publikation sind Änderungen in seinem Denken ablesbar, die nicht nur von einer veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung zeugen, sondern auch das Verständnis vieler Leser dieser Zeit entscheidend geprägt haben werden. Aus den beschriebenen Anmerkungen Bahrdts geht hervor, dass städtebaulich die 1961 noch positiv bewertete Auflösung des Häuserblocks zu Gunsten einer aufgelockerten Bebauung bereits 1969 revidiert wurde. „Er [der Baublock, K.B.] könnte in verdichteten citynahen Innenstadtgebieten u. U. eine neue Funktion erhalten.“82 80  Vgl. Kastendiek, Hans/Stinshoff, Richard: Zur Entwicklung Großbritanniens seit 1945. In: Kastendiek, Hans/Sturm, Roland (Hrsg.): Länderbericht Großbritannien: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. 3. aktualisierte und neu bearbeitete Auflage. Bonn 1994, Bonn 2006, S. 104. 81  Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Opladen 1998, S. 7. 82  Ebd., S. 118.

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Hans Paul Bahrdt erläutert weiter, dass die Gesellschaft öffentlicher und politischer geworden sei und, auf den Städtebau bezogen, eine „[…] wachsende Neigung [...] zu „kühnen“ Lösungen und „großen“, manchmal absichtlich „brutalen“ Formen […]“83 aufweise. Der Autor berichtet, dass die 1961 formulierten Forderungen nach ein „Privatraum unter freiem Himmel“ in den folgenden Jahren durch Terrassenhausstrukturen realisiert werden konnten84 und abschließend, dass der 1961 geforderte Mut zur Utopie durch den technischen Fortschritt in Teilen erfüllt wurde, es jedoch nun notwendig sei, diese Utopien auf eine realistisches Maß herunterzubringen, um Realisierungsmöglichkeiten zu erlauben.85 Im Jahr 1998 schreibt der Autor in der bisher letzten Auflage des Buches rückblickend und in Bezug auf den Wandel im Urbanitätsverständnis, dass der Begriff der Urbanität in den 1970er Jahren von der politischen Bedeutung gelöst und rein auf ökonomische Parameter wie Dichte und Konzentration reduziert worden sei.86 Zusammenfassung: Die Gesellschaft der 1960er/1970er Jahre Die 1960er Jahre sind, das wurde im vorliegenden Kapitel deutlich, in den meisten Ländern Westeuropas von wechselnden politischen Machtverhältnissen und einem nach der Zeit des Wiederaufbaus in den 1950er Jahren stetig wachsenden Wohlstand geprägt. In den frühen 1960er Jahren wurden in Deutschland Defizite im Bildungswesen erkannt, die durch eine Reform der Schulen und Universitäten zu kompensieren versucht wurde.87 Partizipationsgedanken in Politik und Planung führten auf architektonisch-städtebaulicher Ebene zu Bürgerbeteiligungen. 1968 regten sich weltweit Protestbewegungen, die sich gegen die Gesellschaft und die Politik richteten. Während sich daraus in Deutschland eine kleinere radikale Gruppierung abspaltete, die im Kontext einer weltweiten, linksextremistischen Bewegung gegen die Bundesrepublik Deutschland als demokratisch kapitalistischen Staat kämpfte,88 initiierte die gemäßigte Protestbewegung der „68er“ europaweit eine Kulturrevolution und damit einen Wertewandel hin zu 83  Ebd., S. 176. 84  Vgl. ebd., S. 178. 85  Vgl. ebd., S. 187. 86  Vgl. ebd., S. 17. 87  Vgl. Absatz „Bildung“ in Kapitel „Deutschland in den 1960er/1970er Jahren“. 88  Vgl. dies im Absatz „Terrorismus“ in Kapitel „Deutschland in den 1960er/1970er Jahren“ und das Folgende im Absatz „Politik und Gesellschaft“ ebd..

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einer liberalisierten Gesellschaft. Unter anderem ausgelöst durch den „Ölpreisschock“ von 1973 und internationale Publikationen über Natur- und Umweltzerstörung sowie -katastrophen begann ab 1973 ein Umdenken im Bereich des Umweltschutzes.89 Der „Ölpreisschock“ zeigte auch wirtschaftliche Folgen, und die Weltwirtschaft geriet in eine Rezession.90 Politisch wurde nun nicht mehr ausschließlich zukunftsorientiert gedacht, sondern das „Bewahren“ und „Sichern“ in den Vordergrund gestellt. Ein übergeordneter Aspekt, der alle beschriebenen Bereiche des öffentlichen Lebens insbesondere der 1960er Jahre prägte, ist die Idee der „Planbarkeit“ und „Machbarkeit“. Während das folgende Kapitel zeigen wird, dass Planung und Wissenschaft den Städtebau und die Architektur dieser Zeit maßgeblich beeinflussten, wird in den Publikationen über die 1960er Jahre ebenso deutlich, dass „Planung“ in den Bereichen Arbeitsmarkt-, Umwelt- oder Agrarpolitik, Bildung und Wirtschaft einen hohen Stellenwert besaß. Dieser hohe Stellenwert wurde dadurch erreicht, dass sich zum Beispiel politische Entscheidungen wissenschaftlich legitimieren ließen und sich damit „[…] auf (vermeintlich) objektiver, rationaler Grundlage […]“91 bewegten, sobald wissenschaftliche Forschungen in diesem Bereich angestellt wurden. Der Glaube an die Planbarkeit komplexer Abläufe mündete in einem Wissenschaftszweig, der „Zukunftsforschung“, der in vielen westlichen Ländern gefördert wurde.92 Die „Machbarkeit“ entwickelte sich dabei aus der allgemeinen Fortschrittsgläubigkeit der Zeit und wurde durch die beschriebenen wissenschaftlich untermauerten Planungsentscheidungen verstärkt. Die gesellschaftlichen Veränderungen und die positiven wirtschaftlichen Entwicklungen sowie die Zunahme des tertiären Sektors führten auf städtebaulicher Ebene zu neuen Anforderungen und Bauformen.93 Die „rasch anwachsende Bauproduktion [brauchte, K. B.] auch neue und viel größere städtebauliche 89  Vgl. Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 70er Jahre. München 2004, S. 9. 90  Vgl. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006, S. 338. 91  Metzler, Gabriele: „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“ Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit. In: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn 2003, S. 783. 92  Vgl. ebd., S. 782. 93  Vgl. Müller-Raemisch, Hans-Reiner: Conclusio zu den Leitbildern und Mythen in der Stadtplanung 1945 – 1985. In: Müller-Raemisch, Hans-Reiner: Leitbilder und Mythen in der Stadtplanung 1945 – 1985. Frankfurt am Main 1990, S. 181.

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Programme, die mit dem alten Leitbild von Auflockerung und Gliederung nicht mehr zu erfüllen waren.“94 Es wurde in diesem Kapitel deutlich, dass die Entwicklungen der 1960er/1970er Jahre von kontroversen Facetten beherrscht wurden. Die schnellen Entwicklungen überlagerten sich in der Architektur aufgrund der langen Planungs- und Ausführungszeiten. Ebenso entstanden in der Gesellschaft und Politik gleichzeitig widersprüchliche Tendenzen. Diese Zerrissenheit spiegelt sich in vielen widersprüchlichen Publikationen und Kommentaren von Architekten dieser Zeit wider und begründet damit gleichzeitig die heterogene Architekturentwicklung zwischen Aufbruch und „alten Werten“, zwischen Innovation und Denkmalschutz. Ingeborg Flagge erläutert im Kontext einer Ausstellung über die Architektur der 1960er Jahre in Deutschland zusammenfassend: „Hier das Ende des Wiederaufbaus, dort der Beginn einer internationalen Bedeutung. Hier laut Konrad Adenauer „keine Experimente“ dort Wachstumsoptimismus und der uneingeschränkte Glaube an das technisch Machbare. 1961 findet der erste bemannte Raumflug statt, aber auch der Bau der Mauer durch die DDR. Hier noch verbreitet die unpolitischen Werte der 50iger Jahre wie Fleiß und Sparsamkeit, dort der Protest einer außerparlamentarischen Opposition 1965 gegen den Eintritt der USA in den Vietnamkrieg. Hier die Idee von einer Chancengleichheit für alle im Rahmen deutscher Bildungsreform, dort 1968 die Zerstörung der Hoffnung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz durch den Einmarsch der Sowjets in Prag. Im Städtebau beginnt der Ruf nach „Urbanität durch Verdichtung“. Die wieder aufgebauten Städte platzen aus den Nähten.“95

Die Polaritäten zwischen technischem Fortschritt, Planung und Kultur der 1960er/1970er Jahre werden in der Gegenüberstellung der Erkenntnisse aus dem Forschungshintergrund und Kapitel „Gesellschaftlicher Kontext“ deutlich. Während auf theoretisch-planerischer Ebene der technischer Fortschritt, Zukunftsgläubigkeit, Planbarkeit und Machbarkeit, Grundlagen des Denkens waren, kam auf gesellschaftlicher Ebene eine Denkweise hinzu, die das freie, utopische, soziale, emanzipierte und demokratische Leben forcierte. Dabei basierten die planerischen Ansätze auf festen Regeln und planbaren, strukturierten Abläufen wobei dagegen auf gesellschaftlich-künstlerischer Ebene das „Happening“, das Spontane und Ungeplante Hintergrund des Denkens war.

94  Ebd., S. 181. 95  Flagge, Ingeborg: Die 60er, URL: http://www.mai-nrw.de/Ingeborg-Flagge-Die60er.157.0.html 25.2.2011/11:00.

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Der gesellschaftliche Wandel und die öffentlichen Protestbewegungen förderten den Glauben an Veränderungen und eine freiere Lebenskultur. Die Internationalisierung und Amerikanisierung verschaffte internationalen Architekturkritikern und Architekten Gehör in Deutschland wobei gleichzeitig die unterschiedlichen Besatzungsmächte die jeweilige Region mit nationalen Denkmodellen beeinflussten. Bedingt durch die geringe Anzahl realisierter Projekte bildeten Großwohnkomplexe in dieser heterogenen Zeit nur einen kleinen Anteil am Wohnungsbaugeschehen96, wobei ihre Planungszeit in den meisten Fällen in die 1960er Jahre einzuordnen ist und die Umsetzung meist bis in die frühen 1970er Jahre hinein reichte.97 Im folgenden Kapitel wird nun die Entwicklung der Großwohnkomplexe von der Entstehung des Städtebaus der Moderne mit Großwohneinheiten im Sinne eines gemeinschaftlichen Wohnens über die Grundlagen der Charta von Athen und die autogerechten Stadt sowie der Kritik daran bis zum Leitbild der Urbanität durch Dichte, Tendenzen des Strukturalismus und utopischen Megastrukturen verfolgt. Dieses Kapitel wird auf speziell architektonisch- bis städtebaulicher Ebene die bereits im vorliegenden Kapitel thematisierten gesellschaftlichen Grundlagen für den Bau von Großwohnkomplexen vervollständigen.

G ESCHICHTLICHER H INTERGRUND – L EITBILDER UND ARCHITEKTUR

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Das vorliegende Kapitel zeigt skizzenhaft und in aller Kürze die architektonischen und städtebaulichen, sich teilweise überlagernden, teilweise gegenseitig beeinflussenden Entwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa auf und setzt sie in den Kontext der Entwicklung von Großwohnkomplexen. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 bleiben weitgehend ausgeklammert, da in dieser Zeit in Deutschland keine dem Verständnis der Großwohnkomplexe dienenden Entwicklungen im städtebaulichen und architektonischen Kontext 96  In den 1960er Jahren verringerte sich allgemein der Anteil des Wohnungsbaus am Gesamtbauvolumen von 38% auf 34%. Vgl. Westerhoff, Horst-Dieter (Bearb.): Der Einfluss des Strukturwandels im Bauvolumen auf die Bauwirtschaft. Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Essen. Düsseldorf 1973, S. 12. 97  Vgl. Beispiele von Großwohnkomplexen im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“.

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Abb. 14: Beispielplanung Gartenstadt Letchworth (1903)/Welwyn Garden City (1920/1921)

Quelle: Mansfield, Howard: Cosmopolis. Yesterday“s cities of the future. New Brunswick 1990, S. 42/Evans, Hazel (Hrsg.): New Towns. The British experience. London 1972, S. 12

entstanden und auch die Entwicklungen in anderen europäischen Staaten wenig zur Entstehung von Großwohnkomplexen beitrugen. In der Recherche zum vorliegenden Kapitel wurde deutlich, dass die unterschiedlichen Grundlagen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, dem sozialistischen Ansatz gemeinschaftlichen Wohnens und dem kapitalistischen Grundsätzen, auch zu unterschiedlichen Ausformulierungen von Großwohneinheiten geführt haben. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird jedoch ausschließlich die Entwicklung westlich geprägter Großwohneinheiten thematisiert, da diese eine Grundlage der später entwickelten Großwohnkomplexe bilden. Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Utopie der individuellen Freiheit des Einzelnen in der gemeinschaftlichen Gesellschaft, die Le Corbusier seinen städtebaulichen Entwürfen zugrunde legte, ebenfalls nur am Rande thematisiert. Die vorliegende Arbeit widmet sich, vor Allem in diesem Kapitel, eher der architektonischen und stadtplanerischen Umsetzung und thematisiert die, diesen Entwicklungen zugrunde liegenden, soziologischen Grundsätze nur begleitend. Nach einem kurzen Exkurs zum Konzept der Gartenstadt Ebenezer Howards wird der Beginn des modernen Städtebaus in den 1920er Jahren dargestellt um im Anschluss auf die Umsetzung des Leitbilds der modernen Stadt einzugehen und abschließend die Kritik daran aufzuzeigen.

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Exkurs: Die englischen Gartenstädte nach Ebenezer Howard Als eine der Grundlagen der städtebaulichen und architektonischen Entwicklungen im frühen 20. Jahrhunderts in Westeuropa ist die Idee der Gartenstadt Ebenezer Howards anzusehen. Im Kontext der insbesondere in den Städten zunehmenden Bevölkerungszahlen und den schlechten hygienischen Verhältnissen entwickelte Ebenezer Howard Ende des 19. Jahrhunderts in England die Idee einer autarken, durchgrünten Stadt mit geringer Wohndichte außerhalb der überfüllten und verschmutzten Großstadt, die durch kleineres Gewerbe, Industrie und Ackerbau möglichst selbstversorgend funktioniert. „Neben dem Wohnen im Grünen war es ihm [Howard, K.B.] besonders wichtig, dass das Gelände in den Besitz einer gemeinnützigen Körperschaft übergeht, die jeglichen Verkauf und Spekulation mit Grundbesitz ausschließen sollte.“98 Die Wohngebiete wurden in Nachbarschaften unterteilt, die mit weiträumigen Grünanlagen voneinander abgesetzt wurden.99 Trotzdem legte Howard in seinen Planungen alles daran, „[…] dem neuen Gebilde städtischen Charakter zu geben und den Bewohnern neben den Vorteilen einer von landwirtschaftlichen Flächen umgebenen und mit Hausgärten (zirka 180m²) ausgestatteten guten Wohnanlage alle Vorzüge städtischer Lebensform zu sichern: im Zentrum [...] liegen Rathaus, Konzert- und Vortragshalle, Theater, Bibliothek, Museum, Bildergalerie und Krankenhaus; Markt- und Ladenflächen, Freizeit und Wandelhallen umgeben das Zentrum[...]“100

Aufgrund der geplanten Eigenständigkeit der Städte wurde das Verkehrssystem auf das Innere der Stadt konzentriert, nur wenige Verkehrswege verbanden die Stadt mit der Agglomeration. Innerstädtisch war das Verkehrssystem von achsialen Verbindungen und Ringstraßen geprägt, die zum einen eine Verbindung der Nachbarschaften untereinander versprach und zum anderen durch die Ringstraßen das Zentrum entlasten und ein schnelles Fortbewegen gewährleisten sollten. Durchsetzt wurden diese Städte von maximal 30.000 Einwohnern mit gemeinschaftlichen Einrichtungen, wobei die unterschiedlichen Funktionen voneinander 98 

Pahl, Walter: Die Gartenstadt. Visionen und Wirklichkeit am Beispiel der Gartenstädte Dresden-Hellerau und Mannheim. (Im Rahmen der LTA Forschungsreihe, Heft 36/2000) Mannheim 2000, S. 5.

99 

Vgl. dies und das folgende. Llewelyn-Davies, Richard: Changing goals in design: the Milton Keynes example. In: Evans, Hazel (Hrsg.): New Towns. The British experience. London 1972, S. 102.

100  Hillebrecht, Rudolf: Städtebau heute? – von Ebenezer Howard bis Jane Jacobs. Vortrag aus dem Jahr 1965. Tübingen 1966, S. 159f.

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getrennt und konzentrisch angeordnet wurden. Die Städte gehörten zu einer Agglomeration mehrerer Gartenstädte, die sich ebenfalls konzentrisch um die nächstgrößere Stadt herum ansiedelten.101 Die ersten nach diesen Ideen entstanden Gartenstädte waren Letchworth 1903 von Raymond Unwin und Welwyn Garden City 1920 (Louis de Soissons). Architektonisch zeichneten sich die Gebäude dieser Gartenstädte durch eine „feingliedrige Raumbildung“ und die Ausbildung von „Schwellenbereichen von Öffentlichkeit und Privatheit“ aus und erreichten durch Erker und Wintergärten eine Durchdringung von Innen- und Außenräumen.102 Gleichzeitig impliziert das Konzept der Gartenstadt soziale, ökonomische, gesundheitlich-hygienische und kulturpädagogische Ziele. 1920er Jahre: Der Beginn des modernen Städtebaus Initiiert durch städtebauliche Entwürfe und Utopien wie Le Corbusiers „Stadt für drei Millionen Einwohner“ (1922), Ludwig Hilbersheimers „Hochhausstadt“ (1924) oder Frank Lloyd Wrights „Broadacre City“ (1932) entstand in den 1920er/1930er Jahren eine Diskussion über die moderne Stadtplanung, die die Grundlage der Bewegung des funktionalistischen Städtebaus bilden sollte. Auf dem Kongress des CIAM 1933 wurden diese Überlegungen erstmals in einem großen Rahmen der Öffentlichkeit vorgestellt. Während bei den Entwürfen Le Corbusiers eine Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholung propagiert wurde und die Wohnanlagen dabei in parkähnlich gestalteten Grünräumen stehen sollten, entwickelte Ludwig Hilbersheimer ein Stadtbaumodell, das auf einer vertikalen Schichtung der Funktionen basiert: „Aufbauen der einzelnen Stadtelemente, funktionell voneinander geschieden, der Höhe nach. Gewissermaßen zwei Städte übereinander.“103 Im unteren Bereich der Stadt würden die Geschäftsstadt sowie der Autoverkehr angeordnet, darüber die Ebene der Wohnstadt mit dem Fußgängerverkehr. Die öffentlichen Verkehrsmittel sollten unterirdisch angeordnet werden. Der städtebauliche Entwurf sieht damit eine vertikale Staffelung der Funktionen vor, wobei nicht nur die Hauptfunktionen des Wohnens und Arbeitens in einem Gebäude gegeben sind, sondern gleichzeitig “…auch alles andere zum Leben Erforderliche.“104 101  Vgl. Illustration in: Schaffer, Frank: “The new town movement”: Evans, Hazel (Hrsg.): New Towns. The British experience. London 1972, S. 12. 102  Vgl. Durth, Werner/Sigel, Paul: Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels. Berlin 2009, S. 183. 103 Hilbersheimer, Ludwig: Groszstadtarchitektur. Stuttgart 1927, S. 17. 104 Ebd., S. 18.

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Abb. 15: Le Corbusier – Ville Contemporaine (1922)/Ludwig Hilbersheimer – Hochhausstadt (1924)/Frank Lloyd Wright – Broadacre City (1932)

Quelle: Hildebrandt, Hans (Hrsg.): Le Corbusier. Städtebau. Aus dem Französischen von Hans Hildebrandt. Paris 1925, Stuttgart 1929, S. 204/Durth, Werner/Sigel, Paul: Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels. Berlin 2009, S. 220/Mansfield, Howard: Cosmopolis. Yesterday“s cities of the future. New Brunswick 1990, S. 51

Die von Wright etwa 10 Jahre später entwickelte Broadacre City beschreibt eine radikale Abkehr von städtischen Agglomerationen zu einem „non urban development.“105 Nach den Gedanken Frank Lloyd Wrights sollte jeder Familie ein „acre“ (ein Morgen, etwa ¼ Hektar) Land gehören, das sie aus der „Sklaverei der Stadt“ befreien sollte. Die landwirtschaftlich genutzten Flächen sollten mit kleinen Fabriken durchsetzt sein und die Menschen sollten von der Landwirtschaft, als Fabrikarbeiter oder vom Handel leben.106 Dem Beginn des modernen Städtebaus liegt, das zeigen die angeführten Beispiele, der Begriff „Stadtlandschaft“ in unterschiedlichen Gewichtungen der Begriffe Stadt und Landschaft zugrunde: „Bis in die fünfziger und sechziger Jahre, über alle politischen Einschnitte hinweg, sollte „Stadtlandschaft“ ein Leitbild städtebaulicher Entwicklungen abgeben. Auf Jahrzehnte hin war das Wort positiv gewichtet.107 Weder Ludwig Hilbersheimer noch Frank Lloyd Wright machen in ihren theoretisch geprägten Stadtbauideen differenzierte Aussagen zur architektonischen Gestaltung der neuen Stadt. Die städtebaulichen Entwürfe blieben in einem Rohzustand, der die konzeptionellen und übergeordneten städtebaulichen

105 Mansfield, Howard: Cosmopolis. Yesterday“s cities of the future. New Brunswick 1990, S. 50. 106 Vgl. dies und das Folgende ebd., S. 50. 107  Vgl. Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900. Ludwigsburg/Berlin 2005, 2. Auflage Ludwigsburg/Berlin 2006, S. 150.

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Ansätze dieser Stadtbauutopien verdeutlicht. Dagegen entwickelte Le Corbusier im Kontext der „Ville contemporaine“ 1922 die Großwohneinheit als Prinzip des Wohnungsbaus und damit als Baustein der zeitgenössischen Stadt. Dabei sah er zwei Bebauungstypen vor, die eine klare Klassenzugehörigkeit der Bewohner verkörpern: Der erste Typus sah eine offene Bebauung mit mäandernden Wohnhausbändern und mit öffentlichen Einrichtungen im ersten Geschoss über der freien Bewegungsfläche für Fußgänger im Erdgeschossbereich vor. Der zweite Bautyp, eher für die „großbürgerliche Führungsschicht“ entworfen, war eine kompakte Bebauung, die sich in geschlossenen Wohneinheiten, ähnlich einer Blockrandbebauung mit einer öffentlichen Grünfläche im Innern, darstellt; so genannte „Villenblocks“. Beide Bautypen sollten die Einrichtungen des öffentlichen Lebens und der gesellschaftlichen Kommunikation sowie kulturelle Unterhaltungsstätten beinhalten, wobei die Villenblocks zusätzlich hotelartige Serviceeinrichtungen erhielten. Argumentativ arbeitet Le Corbusier in der Publikation „Grundfragen des Städtebaus“ die Vorteile von Großwohneinheiten heraus: Durch die Ansammlung vieler Bewohner (1.000 bis 2.000 Menschen) können Gemeinschaftseinrichtungen unterhalten und Hausarbeiten an Beschäftigte vergeben werden. „Jede Wohnung ist in Wirklichkeit ein zweistöckiges Haus, eine Villa mit einem Ziergarten, gleichgültig in welcher Höhe sie liegt. [...] Die Straße ist nicht nur jene der Wagen, sie setzt sich in die Höhe fort durch geräumige Treppenanlagen [...] sie verzweigt sich weiterhin in verschiedenen Höhen in Gehsteigen die [...] in Korridoren auslaufen, auf die sich die Türen der Villen öffnen.“108

Neben den beschriebenen Städtebau-Utopien von Hilbersheimer, Wright und Le Corbusier entwickelte Antonio SantʼElia (1888–1916) schon 1914 Zeichnungen einer utopischen Stadt, die durch Terrassenhausstrukturen, Verkehrsführung und Verdichtung stark an Großwohnkomplexe der 1970er Jahre erinnern. Antonio SantʼElia kann einer italienischen Avantgarde-Gruppe zugerechnet werden, die bereits seit 1909 unter der Bezeichnung „Futuristen“ Artikel, Manifeste und Programme verfasste und zu der SantʼElia 1914 hinzustieß. Die grundsätzliche Ablehnung der Futuristen gegenüber herrschenden Lebens- und Denknormen verbildlichte sich in einer radikalen Architekturvorstellung, in der sie

108  Hildebrandt, Hans (Hrsg.): Le Corbusier. Städtebau. Aus dem Französischen von Hans Hildebrandt. Paris 1925, Stuttgart 1929, S. 178f .

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Abb. 16: Antonio SantʼElia – Terrassenhaus (1914)

Quelle: Schmidt-Thomsen, Jörg Peter: Floreale und futuristische Architektur. Das Werk von Antonio SantʼElia. Dissertation. Detmold 1967, S. 300

eine Erneuerung der Städte durch die Zerstörung des Bestehenden anstrebten.109 Es wurde eine dynamische Architektur gesucht, die sich mobil und beweglich vom Bauplatz löst110, entmaterialisierte Luftarchitektur111, die eher einer Atmosphäre gleicht112. Dabei entwickelten die Vertreter des Futurismus kaum zeichnerischen Entwürfe oder Modelle, sondern beschränkten sich auf textliche Äußerungen.113 Geprägt war die Architekturvorstellung von der neuen Ingenieurskunst, Industrie- und Kraftwerkarchitektur, der Faszination von „elektrischem Licht und farbiger Beleuchtung“ und sollte für das menschliche Kollektiv, die Masse entwickelt werden.114 Neben den textlichen Äußerungen entwickelte SantʼElia jedoch, als Ausnahme von oben beschrieben Vertretern des Futurismus, auch Zeichnungen zu seinen Städtebau- und Architekturutopien. In den Jahren 1913/1914 entstanden 109  Schmidt-Thomsen, Jörg Peter: Floreale und futuristische Architektur. Das Werk von Antonio SantʼElia. Dissertation. Detmold 1967, S. 93f. 110  Vgl. ebd., S. 102f. 111  Vgl. ebd., S. 100f. 112  Vgl. ebd., S. 101. 113  Vgl. ebd., S. 103. 114  Vgl. ebd., S. 99.

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Skizzen einer „neuen Stadt“, „[…] die sich über dem Verkehr, „über dem lärmenden Abgrund“ […] erheben müsse […] [und, K.B.] der Begeisterung seiner Zeit für die technischen Errungenschaften allgemein, besonders aber für die Erfindungen von neuen Transportmittel […]“115 entsprach. In diese „citta nuova“ entwarf SantʼElia Verkehrswege auf mehreren Ebenen und Gebäude, die als „gewaltige Maschinen“116 verstanden wurden. Aber auch auf städtebaulicher Ebene verdeutlichte SantʼElia in den Zeichnungen seine Grundsätze von „Symmetrie und achsialer Ordnung“.117 1945–1960: Umsetzung des Leitbilds der „Charta von Athen“ und die Kritik daran Im Folgenden werden nun die Ziele und Leitvorstellungen des Städtebaus der Moderne nach 1945 aufgezeigt. Im Anschluss wird, nach einem kurzen Exkurs über die Konzeption der „Wohnmaschine“ Le Corbusiers, auf die Umsetzung des städtebaulichen Leitbilds in Europa, anhand der repräsentativen Beispiele Deutschland, Frankreich und Großbritannien, eingegangen. Dabei werden auch die unterschiedlichen Zeiträume thematisiert, die, wie schon im vorherigen Kapitel beschrieben, eine Überlagerung der Entwicklungen aufzeigen. „Die autogerechte Stadt“ als internationales Problem der Nachkriegszeit wird im Anschluss ebenso thematisiert wie die Kritik am Städtebau der Moderne als „Ausgangspunkt für eine neues Leitbild“ beschrieben wird. Der 1933 in Athen abgehaltene „Congrès Internationale dʼArchitecture Moderne“ stellt einen Meilenstein in der Geschichte der „modernen“ Stadtplanung dar. Die Erkenntnisse, die auf einer Schiffsreise zum Tagungsort von Künstlern, Architekten und Politikern unter anderem durch Le Corbusier, aus der Analyse europäischer Großstädte heraus entwickelt wurden, wurden dort der Öffentlichkeit präsentiert. 1943 publizierte Le Corbusier die Ergebnisse dieses Kongresses und wurde, nach 1945, zum Protagonisten der „modernen“ Stadtplanung. Im großen Stil kamen die städtebaulichen Leitbilder der aufgelockerten Stadt erst nach dem 2. Weltkrieg und im Zusammenhang mit der daraus resultierenden Wohnungsnot zur Anwendung.

115  Ebd., S. 161. 116  Vgl. ebd., S. 161. 117  Vgl. ebd., S. 162.

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Der moderne Städtebau nach Le Corbusier Le Corbusier formulierte in einer 1957 in Frankreich erschienenen Publikation folgende Kritikpunkte am Zustand der europäischen Stadt, die für ihn die Grundlage einer neuen Stadtgestalt bildete: Er kritisiert eine allgemeine Überbevölkerung der Stadt sowie ihren schlechten baulichen Zustand, die Überbevölkerung insbesondere des historischen Kernes der Stadt, die dichten Wohnviertel ohne Grün- und Erholungsräume, die darüber hinaus aus hygienischen Aspekten heraus falsch im Stadtraum situiert seien und die unkontrollierte Ausbreitung der Stadt, die zum Einen zu zusammenhanglosen Vorstädten, zum Anderen zu immer größeren Entfernungen zwischen Wohngebieten und Erholungsräumen führe. Er kritisierte nun darüber hinaus die Einteilung der Quartiere nach Klassenunterschieden der Bevölkerung, die Blockrandbebauung, die einem Großteil der Wohnungen keine optimalen Belichtungsverhältnisse ermögliche und die willkürliche Verortung der Gemeinschaftseinrichtungen und Schulen im Stadtraum.118 Die engen, „licht- und luftlosen“ Hinterhöfe der Großstädte wurden dabei zum Symbol der Kritik. Zusammenfassend können die durch die Kritik formulierten Forderungen als eine übergeordnete Struktur der kompakten Stadt festgehalten werden: Zonierung nach Funktionen mit möglichst kurzen Wegen zwischen Wohnen und Arbeiten und die Ansiedlung des Wohnraums in der „besten“ Lage der Stadt, klare Grenzen ihrer Ausbreitung und die Realisierung aufgelockerter Wohngebiete mit Wohneinheiten, Gemeinschaftseinrichtungen und öffentlichen Einrichtungen im Grünen. Das zentrale Anliegen Le Corbusiers lässt sich dabei auf den sozialen Aspekt des Zusammenlebens komprimieren: Sein Verständnis von der Wirkung des Städtebaus und der Architektur auf den Menschen und der verantwortungsbewusste Umgang mit dieser „Macht der Architektur“ charakterisiert diese Grundhaltung.119 Gleichzeitig verdeutlicht Le Corbusier die Funktionen des Gebäudes durch die in der Fassade klar ablesbaren ein- oder zweigeschossigen Wohnungen, die Ladenstraße, die sich mit einer Lammellenstruktur in der Fassade abzeichnet und das abgesetzte Dachgeschoss mit Gemeinschaftseinrichtungen. Bezug nehmend auf die bereits thematisierten und für die Entwicklung von Großwohnkomplexen einflussreichen Begriffe wie Nachbarschaft, Kommunikationsräume und Gemeinschaftseinrichtungen in den städtebaulichen Planungen

118  Vgl. Grassi, Ernesto (Hrsg.): Le Corbusier. An die Studenten. Die „Charte dʼAthènes“. Aus dem Französischen von Hugo Seinfeld. Hamburg 1962, S. 73ff. 119  Vgl. Besset, Maurice: Neue französische Architektur. Stuttgart 1967, S. 23.

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Abb. 17: Le Corbusier – Unité dʼhabitation

Quelle: Macetti, Silvio: Großwohneinheiten. Berlin 1968, S. 66

Le Corbusiers, wird der folgende Exkurs mit dem Titel „Wohnmaschine“ die Umsetzung dieser Theorien in der architektonischen Praxis kurz erläutern. Exkurs: Wohnmaschine – Gemeinschaft und Privatheit Die Entwicklung der „Wohnmaschine“ kann zeitlich zwischen der Entwicklung des Villenblocks in den 1920er Jahren und der Umsetzung des Leitbilds der modernen Stadtplanung nach 1945 verortet werden und setzte die Gedanken einer vertikalen Verteilung der städtischen Funktionen innerhalb eines Gebäudes fort.120 In Anlehnung an einen Ozeandampfer sollte die Wohnmaschine nicht nur eine hohe technische Funktionalität, sondern ebenfalls alle Funktionen des täglichen Lebens beinhalten. Realisiert wurde die erste „Unité dʼHabitation“ in Marseille in den Jahren 1945–1952. Das Gebäude wurde durch Betonpfeiler über den Erdboden erhoben, sodass sich ein fließender Raum auf dem Erdbodenniveau ergibt. Das Gebäude besteht aus 15 Geschossen mit einer Erschließungsstraße auf jeder zweiten Ebene im Innern des Gebäudes und daran angegliederten, zweigeschossigen Wohnungen. Ergänzt werden die Wohngeschosse durch eine zweigeschossige Ladenstraße auf dem siebten und achten Geschoss des Gebäudes und Gemeinschaftseinrichtungen auf dem Dach. Die Übergänge von

120  Vgl. Peterek, Michael: Wohnung. Siedlung. Stadt. Paradigmen der Moderne 1919– 1950. Berlin 2000, S. 289.

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Innen- zu Außenraum wurden durch „brises soleil“ und Loggien thematisiert, die sowohl als Sonnenschutz dienen als auch gleichzeitig als Puffer zwischen Privatwelt und Außenraum angesehen werden können. Die strenge Ausrichtung der aneinandergereihten Wohnungen mit visuellen Trennungen der privaten Außenbereiche und die geplanten großen Abstände zwischen den Wohngebäuden sollen eine möglichst störungsfreie Privatsphäre der Familie ermöglichen, die ihre Nachbarn weder hören noch sehen. Es „[…] erfolgt eine weitgehende Verkapselung der Wohnung und deren bewußte [sic!] räumliche Ablösung [...] von ihrem physischen Umfeld.“121 Während im Städtebau die Trennung der Funktionen seit den frühen Städtebaumodellen der 1920er Jahre aufgenommen wurde, wurden nun die erweiterten Funktionen des Wohnens innerhalb der Wohnmaschine auf soziologischer Ebene diskutiert. Handlungen innerhalb der privaten Wohnung wurden als Funktionen interpretiert und gemäß dieser Abläufe die Wohnung entworfen. Es entstand im theoretischen Denken eine Analogie zwischen Funktionen und Verkehrswegen im Stadtraum und Handlungen und Handlungsabläufen in der Wohnung.122 „Dies markiert den Versuch, in der Architekturtheorie den Anschluß [sic!] zu finden an die Sozialwissenschaften; und dort an jene Richtung, die am weitesten vorgedrungen schien zu praktischer Anwendung – die „wissenschaftliche Organisation der Arbeit““.123 Ein weiterer entscheidender Aspekt, der bereits in anderen Bereichen der vorliegenden Arbeit diskutiert wurde, ist das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Die in sich autark funktionierende Wohnmaschine beinhaltet, analog einer funktionsfähigen Stadt, neben privaten Wohnungen nach dem „Haus im Haus“-Prinzip auch halböffentliche Gemeinschaftseinrichtungen im Gebäude und auf dem Dach. Die Bezüge zur Außenwelt sind für den „Betrieb“ der Maschine nicht notwendig und werden nur rein visuell (der Blick in den Grünraum) geboten.124 Die Erschließungsgänge werden ausschließlich als Verkehrswege interpretiert, Kommunikationszonen befinden sich, von der Funktion der Erschließung getrennt, in den Gemeinschaftseinrichtungen auf dem Dach, in der Ladenstraße und in der öffentlichen Halle im Erdgeschoss. Die tatsächliche Umsetzung des „Leitbilds der modernen Stadtplanung“ in den 1940er/1950er Jahren wich häufig von den von Le Corbusier formulierten 121  Ebd., S. 416. 122  Vgl. Hilpert, Thilo: Die funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvision – Bedingungen, Motive, Hintergründe. Braunschweig 1978, S. 105. 123  Ebd., S. 98. 124  Vgl. Peterek, Michael: Wohnung. Siedlung. Stadt. Paradigmen der Moderne 1919– 1950. Berlin 2000, S. 335f.

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Zielvorstellungen ab und entwickelte sich in den europäischen Ländern durchaus unterschiedlich. Im Folgenden werden nun anhand der beispielhaft ausgewählten Länder Frankreich, Großbritannien und Deutschland, die Umsetzungen in aller gebotenen Kürze aufgezeigt. Ziel soll es dabei sein, die Unterschiede der Umsetzung herauszuarbeiten und die aus dieser Umsetzung resultierende Kritik, die in den 1950er Jahren in Europa und den USA aufkam, im Anschluss zu veranschaulichen. In dieser Analyse werden in den USA erschienene Publikationen ebenfalls thematisiert, da sie einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklungen in Europa nahmen. Die Umsetzung des modernen Städtebaus in Westeuropa Gesellschaftliche Veränderungen, die Zunahme des Verkehrs und neue Kommunikationsmöglichkeiten in den 1940er Jahren im Zusammenhang mit den städtebaulichen Grundlagen der „Charta von Athen“ von 1933 bildeten den Hintergrund der Umsetzung des modernen Städtebaus. Diese Grundlagen können übergreifend für das Verständnis der Entwicklungen in Europa genutzt werden, die Umsetzungen und insbesondere die unterschiedlichen Zeiträume werden im Folgenden jedoch anhand der beispielhaft gewählten Länder Frankreich (unter dem Stichwort „Grands Ensembles“ und „Villes Nouvelles“), Großbritannien (New Towns) und Deutschland (Großwohnsiedlungen) aufgezeigt.125 Grundsätzlich sind Architektur und Städtebau in den Nachkriegsjahren und damit im Wiederaufbau vieler europäischer Städte von der modernen Stadtplanung mit den oben beschriebenen Ideen und Grundlagen geprägt. In Frankreich entstanden im Rahmen des Massenwohnungsbaus in der Peripherie der Großstädte Wohngebiete mit frei im Grünraum stehenden Wohnscheiben, mäandernden, lang gezogenen Wohngebäuden und Wohntürmen, die „grands ensembles“. Die Argumente für diese Bebauungstypen wurden in unterschiedlichen französischsprachigen Publikationen veröffentlicht126: Der Flächenbedarf bei Wohnscheiben ist um ein vielfaches geringer als bei freistehenden, kleineren Gebäudetypen. Die Trennung des Automobilverkehrs und der Fußgänger führt zu einem konfliktfreien nebeneinander, großflächige, aus den Abstandsflächen der Wohnscheiben resultierende und als Parklandschaft geplante Freiräume zwischen den 125  Die Auswahl dieser drei Länder erfolgte aus den Überlegungen heraus, möglichst inhaltlich und zeitlich unterschiedliche Entwicklungen im Rahmen des modernen Städtebaus aufzuzeigen. Dabei können Deutschland, Frankreich und England stellvertretend für die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern angesehen werden. 126  Vgl. beispielhaft Boll, André: Habitation moderne et urbanisme. Paris 1950, S. 22ff.

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Abb. 18: Typische Bebauung der Pariser Banlieu (1950er Jahre)/Wohnkomplex in Evry (1970er Jahre)

Quelle: Nikolaus Hellmayr (Hrsg.): Experiment Stadt. Die französischen Villes Nouvelles zwischen Projekt und Bild. Graz 1994, S. 10/Lucan, Jacques: Architecture en France (1940–2000). Paris 2001, S. 236

Gebäuden dienen als Erholungsraum für die Bewohner. Publikationen über gebaute Wohnsiedlungen in Frankreich beschreiben die Individualität der Lösungen als jeweils eine Antwort auf die spezifischen Fragestellungen jeder Ausgangssituation.127 Eine allgemeine Aussage über die städtebauliche sowie architektonische Gestaltung kann dadurch nicht erfolgen. Es wird jedoch deutlich, dass der Typus einer autarken Wohnmaschine mit einer Verbindung von Funktionen innerhalb des Gebäudes selten umgesetzt wurde. Vielmehr wurden die Einkaufszentren und die öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten oder Kirchen am Rande der Wohngebiete geplant.128 Für den zunehmenden Verkehr wurden großflächige Parkplätze ausgewiesen und das „Abstandsgrün“ der Wohnhäuser wurde zur fußläufigen Erschließung der Gebäude genutzt. In den 1960er Jahren gerieten die Wohnquartiere der „grands ensembles“, beispielsweise in der Pariser Banlieue, durch „[…] ihre zu starke Abhängigkeit von Paris, mangelnde Infrastrukturen […] [fehlende, K. B.] Arbeitsplätze und

127  Vgl. Besset, Maurice: Neue französische Architektur. Stuttgart 1967, S. 39. 128  Vgl. z.B. Les Grands Terres von Marcel Lods oder Wohnsiedlung Emmaus von Georges Candilis in: Ebd., S. 44ff/Scotteville-les-Rouen in: Morand, Francois: Urbanisme. Paris 1956, S. 11.

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infrastrukturelle Einrichtungen“129 in die Kritik. In Abkehr zu den beschriebene Planungsgrundlagen des CIAM, „[…] die für das Fiasko der rationalistischen und monotonen Wohnsiedlungen […] verantwortlich gemacht[…]“130 wurden, entstand das Konzept der „Villes Nouvelles“. „Als „neue urbane Zentren“ definiert, sollten sie klare Markierungspfeiler im peripheren Gewebe konstituieren.“131 Die „Villes Nouvelles“ von denen in der Peripherie von Paris fünf Städte realisiert wurden, wurden jeweils für 500.000 – 1.000.000. Einwohner geplant und sollten alle urbanen Funktionen in geeigneter Durchmischung besitzen.132 Dabei sollte die Größe der Ansiedlungen den neuen Städten „urbanen“ Charakter verleihen und infrastrukturelle und kulturelle Einrichtungen wie Theater oder Großkaufhäuser erlauben.133 Eine Trennung von Fußgängern und motorisiertem Verkehr wurde gefordert und in den Stadtzentren vielerorts umgesetzt. So entstanden beispielsweise in „Evry ville nouvelle“ komplexe Wohnbebauungstypen, die optisch an Großwohnkomplexe erinnern.134 Mit Ähnlichkeiten zu den „Grands Ensembles“ in Frankreich entwickelten sich die Wohngebiete in Deutschland. Die in unterschiedlichen Publikationen zusammengefassten Richtlinien für den zukünftigen Städtebau richten sich stark nach den grundsätzlichen Forderungen der „Moderne“. In der praktischen Umsetzung entstanden ebenfalls Wohnscheiben, meist in etwas kleineren Maßstäben als in Frankreich, etwa fünf geschossige Zweispänner, sowie Wohnhochhäuser als städtebauliche Bezugspunkte. Die öffentlichen Einrichtungen wie Schulen oder Kindergärten wurden auch hier in den Grünräumen geplant. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich entstanden die Großwohnsiedlungen an den Stadträndern der großen Städte. Während in Deutschland, ausgehend von den USA, schnell eine Kritik an der Verödung des öffentlichen Raums in diesen Wohngebieten formuliert wurde und dies zu einem Umdenken der funktional gegliederten Stadt führte, basierten die Planungen in Frankreich bis auf wenige Ausnahmen noch bis weit in die 1970er Jahre hinein auf den Konzepten der

129  Hellmayer, Nikolaus: Experiment Stadt. Die französischen Villes Nouvelles zwischen Projekt und Bild. Veröffentlicht im Rahmen der Ausstellung „Experiment Stadt“. Graz 1994, S. 14. 130  Ebd. S. 15. 131  Ebd. S. 14f. 132  Vgl. ebd. S. 15. 133  Vgl. ebd. S. 20. 134  Vgl. auch Exkurs Frankreichs städtebauliche Experimente – Komplexbebauungstypen in den „Villes Nouvelles“.

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„Grands Ensembles“ und „Villes Nouvelles“.135 Tendenzen zur Verdichtung entstanden in Frankreich in den 1960er und 1970er Jahren dabei vermehrt in den Zentren dieser Gebiete und sollten das öffentliche Leben bündeln. In einer Publikation über „Neue französische Architektur“ aus dem Jahr 1967 wird neben den Erläuterungen über die klassischen Großwohnsiedlungen darauf verwiesen, dass diese Großwohnsiedlungen bereits gescheitert seien. Als Weiterentwicklung wird ein verdichtetes Quartier dargestellt, in dem die Funktionen des öffentlichen Lebens durchmischt werden. Dazu wurde vermehrt das Zentrum genutzt und damit die Dichte und Komplexität der Großsiedlung erhöht.136 So entstand beispielsweise in den Jahren 1969–1982 ein neues Stadtzentrum in Ivry sur Seine, das durch die Komplexität in der Gestaltung, Heterogenität und Funktionsmischung als Großwohnkomplex angesehen werden kann. In Großbritannien zeigte sich eine andere Situation. Die Gartenstadtbewegung, die wie bereits beschrieben in den USA und in vielen europäischen Staaten weiterentwickelt wurde, wurde in Großbritannien in den 1940er Jahren in ihrer eigentlichen Konzeption als eigenständige Stadt zur Entlastung der Großstadt umgesetzt. Der „New Towns Act“ von 1946 bildete die Grundlage des zukünftigen Städtebaus. Eine der ersten Siedlungen, „Harlow New Town“ wurde als Stadt für 80.000 Einwohner geplant und setzt sich aus den Bausteinen Wohnen in ein- bis dreigeschossigen Reihenhäusern oder niedrigen Geschosswohnungsbauten und vereinzelten zehngeschossigen Wohntürmen, öffentlichen Einrichtungen sowie einem Zentrum mit Einkaufsmöglichkeiten, Hotels und Verwaltungsbauten zusammen. Unter dem Stichwort „Nachbarschaften“ wurden Subeinheiten gebildet, die übergeordnet jeweils aus 3.500–6.000 Einwohnern bestehen und eine Grundschule, ein Verwaltungs- und ein kleines Einkaufszentrum beinhalteten. Eine weitere Unterteilung erfolgte in etwa 150–400 Wohneinheiten, die jeweils mit einem Gemeinschaftszentrum und Spielplätzen eine eigene Nachbarschaft bilden. Die Stadt besitzt dementsprechend eine Unterteilung vom privaten Wohnhaus über die halböffentliche Nachbarschaft und die Nachbarschafts-Cluster bis hin zum öffentlichen Zentrum der Stadt.137 Gleichzeitig werden aber die Tendenz der Trennung der Funktionen und frühe Überlegungen zur Verkehrsplanung deutlich. „Die verhältnismäßig einfache und übersichtliche Gliederung der wichtigsten Flächennutzungen – Wohngebiete, Industriegebiete und zentrale Geschäfts- und Wirtschaftsgebiete – hat einfache Strukturen der 135 Zur Situation des französischen Städtebaus in den 1970er Jahren vgl.: Ascher, Francois/Giard, Jean: Demain la ville? Urbanisme et politique. Paris 1975 . 136  Vgl. Besset, Maurice: Neue französische Architektur. Stuttgart 1967, S. 223ff. 137  Vgl. Gibberd, Frederick: Town Design. London/New York 1953, S. 290ff.

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Bewegungsvorgänge entstehen lassen. Fahrten über längere Strecken wurden auf besonderen Straßenzügen zusammengefasst. Die Wohngebiete wurden vor dem Eindringen des Durchgangsverkehrs und des abkürzenden Querverkehrs sorgsam geschützt.“138 Diese Maßnahmen entsprechen den beschriebenen Leitsätzen Le Corbusiers. Dem Geschosswohnungsbau wurde im Vergleich zu den die Stadtplanung prägenden Wohnscheiben in Frankreich oder Deutschland in Großbritannien jedoch weniger Interesse beigemessen. Vielmehr entstanden Wohngebiete mit freistehenden Einfamilienhäusern oder Reihenhäusern jeweils mit eigenem Garten und nur vereinzelt mehrgeschossige, linear angeordnete Wohngebäude. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Stadtplanung, mehr noch als die „Grands Ensembles“ in Frankreich oder die Großwohnsiedlungen in Deutschland, die sich in der Peripherie der großen Städte ansiedelten, losgelöst von den historisch gewachsenen Städten Großbritanniens geplant und umgesetzt wurden. Sie sollten als autarke Städte funktionieren und die Großstädte mit der vorherrschenden Überbevölkerung entlasten. Während in Deutschland und insbesondere in Frankreich die Großwohnsiedlungen bis in die 1960er bzw. 1970er Jahre umgesetzt wurden, wurde in Großbritannien bereits die „2. Generation“ der New Towns mit verdichteten Zentren geplant, die die Funktionen Wohnen, Einkaufen, Arbeiten und Verkehr verbanden. „Besonders im Zentrum hat man, anders als in den ersten Neuen Städten, bewußt [sic!] auf eine Konzentration der Bebauung hingewirkt. Das geschah unter anderem in der Absicht, den Fußgängerverkehr ins Zentrum zu fördern.“139 Parallel zu der Entstehung dieser „New Towns“ wurde die Situation und der Wiederaufbau der zerstörten Städte diskutiert. Hier wurde im Rahmen einer verdichteten Bauweise die Verteilung des Verkehrs auf unterschiedlichen Ebenen vorgeschlagen.140 Mit Projekten wie Park Hill in Sheffield oder Robin Hood Gardens in London wurden Gebäudetypologien geschaffen, die sowohl mit den Ideen Le Corbusiers verknüpft werden können und gleichzeitig die strukturalistischen Ansätze des Team Ten verkörpern.141 138  Buchanan, Colin: Verkehr in Städten. Aus dem Englischen von Hinrich LehmannGrube. London 1963, Essen 1964, S. 165. 139  Ebd., S. 166. 140  Vgl. Tripp, Herbert Alker: Town planning and road traffic. London 1942, 6. Auflage: London 1951, S. 27. 141  Vgl. Strukturalismus und das Team Ten (Golden Lane Housing Competition) in Kapitel „Der Strukturalismus und seine Vertreter“ sowie die Erläuterungen zu den Projekten Park Hill und Robin Hood Gardens im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“.

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Abb. 19: Umgestaltung Fitzroy Square, London (1963)

Quelle: Buchanan, Colin: Verkehr in Städten. Aus dem Englischen von Hinrich Lehmann-Grube. London 1963, Essen 1964, S. 149

Die autogerechte Stadt Seit der Industrialisierung wurde in vielen Publikationen die Verkehrsplanung als entscheidender Bestandteil der Weiterentwicklung der Städte angesehen. Aufgrund der Zerstörung vieler Städte ergab sich nach dem 2. Weltkrieg vermehrt die Möglichkeit, den Wiederaufbau unter Berücksichtigung prognostizierter Verkehrssituationen zu planen. Insbesondere durch die Veröffentlichung des „Buchanan Reports“ und die Publikation „Verkehr in den Städten“ wurden weitere Ansätze zur Lösung der anwachsenden Verkehrsproblematik in den Städten zu Beginn der 1960er Jahre in die öffentliche Diskussion gebracht. Darin wurden sich überlagernde Verkehrssysteme vorgeschlagen, die eine autorfreie Fußgängerebene zuließen und den ruhenden Verkehr in Tiefgaragen vorsahen, um so möglichst verdichtete und vom Autoverkehr freie Innenstädte und Zentren zu realisieren.142 Kritik als Ausgangspunkt für ein neues Leitbild Zu Beginn der 1960er Jahren wurden sowohl im englischsprachigen Raum als auch in Deutschland mehrere Publikationen veröffentlicht, die eine Kritik an der damaligen Stadtplanung zum Ausdruck brachten. Angeführt durch Jane Jacobs Veröffentlichung „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (Erstveröffentlichung 1961, USA) führte die Diskussion über „modernen Städtebau“ zu den Veröffentlichungen „Die gemordete Stadt“ (1964) von Wolf Jobst Siedler und 142  Vgl. auch Kapitel „Wissenschaftliche Studien und Umsetzung des Leitbilds“ worin die Verkehrsplanung als ein Bestandteil des Leitbilds der „Urbanität durch Dichte“ beschrieben wird.

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Elisabeth Niggemeyer und Alexander Mitscherlichs „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ (1965) bzw. „Thesen zur Stadt der Zukunft“(1971). Die Kritiken, Wünsche und Anregungen vieler weiterer Publikationen ähneln sich, sodass in diesem Kapitel die genannten Publikationen als Rahmen dienen sollen. Obwohl die Publikation von Jane Jacobs in den USA erschien und den amerikanischen Städtebau kritisierte, bezog sich Jacobs in vielen Bereichen ebenfalls auf die Entwicklungen Europas und ließ eine Anwendung ihrer Ergebnisse sowohl auf den europäischen Städtebau als auch auf den Städtebau der USA zu. Hauptkritikpunkte dieser und aller weiteren Publikationen waren die Entmischung der Funktionen, Suburbanisierungstendenzen durch vermehrte Nutzung des Autos zum Erreichen immer weiter außerhalb der Städte angelegter Wohnsiedlungen, die Entwicklung der geordneten und mit ungenutzten Grünräumen durchsetzten, weitläufigen Wohnsiedlungen zu Schlafstädten ohne Öffentlichkeit und die daraus resultierende Verödung des öffentlichen Raums. „Es ist überall dasselbe [...]: Die familiengerechte, durchgrünte Bauweise hat als Preis Sterilität und aseptische Ordentlichkeit. Die alten Viertel hatten zwar kein Grün, aber die Nachbarn trafen sich auf ihnen und hielten ihren Tratsch ab; die neuen geben das Fünffache an Grünfläche, aber man durchmißt [sic!] sie nur noch auf dem Wege zur Arbeit.“143 Es erscheint also, dass mit der Kritik am funktionalistischen Städtebau das Thema der Komplexität/Ordnung zum entscheidenden Aspekt herausgearbeitet werden kann: „Es gibt Dinge, die noch armseliger sind als direkte Häßlichkeit [sic!] oder Unordnung, und dazu gehört unehrliches Vortäuschen von Ordnung, das häufig aus Unkenntnis geschieht und die Existenz echter Ordnungsgesetze verdeckt oder gar vernichtet.“144 Gleichzeitig wird deutlich, dass die Komplexität nicht nur im gestalterischen Kontext als Forderung formuliert wird, sondern dass gleichzeitig komplexe Überlagerungen von Nutzungen für eine funktionierende Stadt von Nöten seien.145 Aus unterschiedlichen, bereits in den 1950er Jahren verfassten Aufsätzen entstand 1964 die Publikation „Die gemordete Stadt“. Sie thematisiert das „verlöschen des eigentlich Städtischen“, das fehlende „emotionale Stadterlebnis“ und fasst die Kritik an der modernen Stadtplanung zusammen: „Der Städtebauer hat mit dem Hinterhof auch Lebensäußerungen wie den Nachmittagsbummel und 143  Siedler, Wolf Jobst/Niggemeyer, Elisabeth: Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum. Berlin/München 1964, zweite Auflage: Berlin/München 1978, S. 9. 144  Jacobs, Jane: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Frankfurt am Main 1963, S. 18. 145  Vgl. ebd., S. 91.

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das abendliche Flanieren aus seinem Gebilde verbannt.“146 Dieser soziologische Aspekt wird rückblickend auch von Müller-Reamisch erkannt und in der Publikation „Leitbilder und Mythen in der Stadtplanung“ im Jahr 1990 veröffentlicht: „Die [...] Fehleinschätzung lag in der Hoffnung, die physisch geschaffenen Nachbarschaften würden in einer Großstadt auch sozial funktionieren.“147 Thilo Hilpert erläutert zusammenfassend in einer Publikation von 1978 die Hintergründe der entstehenden Kritik am Beispiel der funktionellen Stadt Le Corbusiers: „Es sollte zu keinen Mischungen mehr kommen, keinen Überschneidungen mehr zwischen den Aktionsräumen. Die Ordnung der Stadträume wird der von spezialisierten Arbeitsplätzen nachgeformt. Das ist der organisationstheoretische Hintergrund für die heute viel kritisierte Planungspolitik einer „Entmischung“. Durch die Verminderung von Nutzungskomplexität tritt nicht nur eine Dämpfung des Streß [sic!], sondern eine Verarmung der Reizatmosphäre ein. Es verschwindet, was in den Räumen ein Feld urbaner Stimulation konstituiert hatte.“148 „Die Übertragung des betrieblichen Rationalisierungsmodells auf die Organisation der Stadt war der ungeeignete Versuch, einen sich auflösenden Stadtraum als Lebensraum zu bewahren. Damit wurde eine Beseitigung von Mischzonen vor allem im Zentrum legitimiert, die Mischung vielfältiger Aktivitäten zerlegt in Einzelverrichtungen, jedoch im Planungssystem Le Corbusiers erneut verknüpft zu einer geordneten Aktionsfolge…“.149

Hilpert erläutert außerdem, dass Kritik an der funktionellen Stadt bereits von Hugo Häring 1926 formuliert wurde: Der Mensch in der funktionellen Stadt sei ausschließlich als Teil der wirtschaftlich, betrieblich und fortschrittlich organisierten Stadt geplant. Individualität sei nicht möglich.150 Abschließend erklärt Hilpert, dass seiner Meinung nach die Interaktion als weitere Funktion der Stadt fehle: „[I]m System der „Funktionellen Stadt“ war solchen räumlichen Struktu146  Siedler, Wolf Jobst/Niggemeyer, Elisabeth: Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum. Berlin/München 1964, zweite Auflage: Berlin/München 1978, S. 9. 147  Müller-Raemisch, Hans-Reiner: Die „Moderne Stadt“ und die Stadt der Tradition. In: Müller-Raemisch, Hans-Reiner: Leitbilder und Mythen in der Stadtplanung 1945–1985. Frankfurt am Main 1990, S. 41. 148  Hilpert, Thilo: Die funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvision – Bedingungen, Motive, Hintergründe. Braunschweig 1978, S. 258. 149  Ebd., S. 276. 150  Vgl. ebd., S. 259.

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ren, in denen sich Kontaktverhältnisse konstituieren konnten, keine Funktion im „alltäglichen Zyklus der Aktivitäten“ zugewiesen. Mit der tradierten Morphologie des Stadtraumes wird in einer für die Stadtgeschichte einmaligen Operation gebrochen. Im Modell der „aufgelockerten Stadt“ hört der offene Raum auf, wirklich sozial definierter Raum zu sein.“151 Auf städtebaulich – räumlicher Ebene konstatiert Rob Krier ergänzend: „Der Stadtraum ist in der Charta von Athen nicht definiert worden.“152 Bereits im Forschungshintergrund wurde die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit thematisiert, die im Leitbild der Urbanität durch Dichte seit den 1960er Jahren wieder verstärkt aufgegriffen und insbesondere die Öffentlichkeit als Planungsgrundlage herausgearbeitet wurde. So formuliert auch Mitscherlich in der Publikation „Thesen zur Stadt der Zukunft“ 1971: „Das bedrückende Klima so vieler Wohn- und Gartenvorstädte beruht auf seiner artifiziellen, unstädtischen Grundstruktur; nämlich daß [sic!] hier das Alternieren zwischen Öffentlichkeit und Privatheit nicht stattfinden kann, sondern daß [sic!] diese Orte eigentlich nur eine Zusammenballung von Privaträumen darstellen. [...] so scheint es mir – vor allem im Hinblick auf jene Gruppen, die dort ganztägig leben werden, überaus erstrebenswert, ein Stück weit städtisches Leben zu fördern und dafür die Grundlagen zu schaffen.“153 Diese Einschätzung kann als Überleitung zum Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ verstanden werden. Im Anschluss an die nun folgende Zusammenfassung wird in Kapitel „Urbanität durch Dichte“, ergänzend zu den Erläuterungen zum städtebaulichen Leitbild, der Strukturalismus, die Arbeit des Team Ten und utopische Megastrukturen thematisiert. Zusammenfassung: Der geschichtliche Hintergrund von Großwohnkomplexen Die städtebaulichen und gesellschaftlichen Utopien der 1920er Jahre in Westeuropa basierten, begründet durch die Industrialisierung, zumeist auf den stadträumlichen Veränderungen wie dem zunehmenden Verkehr in den Städten und dem ausufernden städtebaulichen Wachstum. Die Ansätze zur Regelung der 151  Ebd., S. 286f. 152  Krier, Rob: Stadtraum/Urban Space. Erstes Erscheinen in Deutsch 1975 als „Stadtraum in Theorie und Praxis an Beispielen der Innenstadt Stuttgarts“. Erschienen 1979 als „Urban Space“. Deutsche Neuauflage: Solingen 2005, S. 132. 153  Mitscherlich, Alexander: Thesen zur Stadt der Zukunft. Frankfurt am Main 1971, S. 132f.

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Verkehrsproblematik auf unterschiedlichen Ebenen führten zu Städtebauutopien, die in den Bildern zum Film Metropolis von 1925/1926 beispielhaft zum Ausdruck kommen. Neben Konzepten von Le Corbusier und Ludwig Hilbersheimer, die, in unterschiedlichen Gewichtungen, die Verbindung von Natur und Stadt suchten, erschien mit „Broadacre City“ von Frank Lloyd Wright 1935 in den USA eine Städtebaukonzeption, die in klarer Abkehr zur kompakten Stadt eine Verlandschaftlichung forderte. Als eine Grundlage dieser Entwicklungen ab den 1920er Jahren ist die Idee der Gartenstadt Ebenezer Howards anzusehen, wobei diese nicht nur die städtebauliche Grundkonzeption von Einfamilienhäusern im Grünen mit öffentlichen und privaten Gärten zum Ziel hatte, sondern gleichzeitig „lebensreformerische Absichten“ verfolgte.154 Das Konzept der Gartenstadt implizierte gleichzeitig soziale, ökonomische, gesundheitlich-hygienische und kulturpädagogische Ziele. Diese frühen Ansätze verdeutlichen damit den gesellschaftlichen Aspekt dieser Planungen und Zukunftsutopien. Es finden sich dort bereits Ansätze des „Gemeinschaftlichen“ und dessen städtebauliche Umsetzung in Form von Gemeinschaftseinrichtungen für die Bewohner. Die Idee, ein Gebäude mit notwendigen Einrichtungen des öffentlichen und gemeinschaftlichen Lebens auszustatten155 kann, weit interpretiert, als ein Vorläufer der Entwicklung von Großwohnkomplexen angesehen werden, auch wenn sich in vielen weiteren Aspekten die gesellschaftlichen Ansätze beider Gebäudetypologien unterscheiden. Le Corbusier hatte die Vorstellung, in den „modernen Städten“ auch „moderne Menschen“ leben zu lassen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgten die Planer von Großwohnkomplexen. Großwohnkomplexe wurden jedoch zu einer Zeit realisiert, in der sich die Gesellschaft bereits von traditionellen Lebensentwürfen löste und neue Wohnkonzepte für eine veränderte Gesellschaft gesucht wurden.

154  Vgl. dies und das Folgende: Peterek, Michael: Wohnung. Siedlung. Stadt. Paradigmen der Moderne 1919–1950. Berlin 2000, S .39. 155  Vgl. Wohntyp „immeuble villa“ (als Vorläufer der Unité dʼhabitation) im Entwurf der „ville contemporaine“. In diesem frühen Konzept wurden ein Hotelservice, Erholungs- und Gemeinschaftseinrichtungen sowie private Außenräume geplant. Vgl. Peterek, Michael: Wohnung. Siedlung. Stadt. Paradigmen der Moderne 1919–1950. Berlin 2000, S. 278.

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Abb. 20: Szene aus dem Film Metropolis (1925/1926)

Quelle: Jacobsen, Wolfgang/Sudendorf, Werner (Hrsg.): Metropolis. Ein filmisches Laboratorium der modernen Architektur. Stuttgart/London 2000, S. 108

Die im Kontext des theoretischen Hintergrunds als relevant für die Entwicklung von Großwohnkomplexen herausgearbeitete Begriffspaarung „Öffentlichkeit und Privatheit“ zieht sich als Thema durch die städtebauliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Mit diesem Aspekt kann rückblickend auch eine klare Unterscheidung zwischen der „Wohnmaschine“ Le Corbusiers und der „Gartenstadtbewegung“ getroffen werden: Die Projekte im Zeichen der Gartenstadtbewegung rückten den öffentlichen, gemeinschaftlichen Raum durch kleinteilige, private Gebäudestrukturen und durch die spezifischen, der Öffentlichkeit zugewandten Grundrisse in den Vordergrund und stellten beide Pole klar trennbar gegenüber.156 Die Wohnmaschine, als Solitär „schwimmend“ im öffentlichen Grünraum platziert, erzeugt dagegen innerhalb des Gebäudes durch gemeinschaftlich nutzbare Flächen wie das Foyer und eine Einkaufszeile im Innern ein Halböffentlichkeit im Wohnhaus. Diese Halböffentlichkeit kann jedoch nicht mit einem öffentlichen Außenraum gleichgesetzt werden. Auch die vielfältig nutzbaren Dachflächen als gemeinschaftlich nutzbare Außenräume sind durch ihre exponierte Lage von der Umgebung abgehoben und können nicht mit einem öffentlichen Außenraum auf Erdgeschossniveau gleichgesetzt werden. Großwohnkomplexe unterscheiden sich also als weitere städtebauliche Typologie von beiden Strukturen, da mit ihnen öffentlicher Stadtraum innerhalb einer 156  Vgl. ebd., S. 416.

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geschlossenen Bebauungsstruktur geschaffen wurde, was einen konzeptionell neuen Stadtbaustein bedeutete. Neben der Kritik an der mangelnden Öffentlichkeit im modernen Städtebau der Nachkriegszeit können auf theoretischer Ebene die Aspekte der fehlenden Komplexität (Differenzierung) und der dadurch entstehenden Eintönigkeit zusammenfassend als Hauptkritikpunkt angeführt werden. Die Multifunktionalität der gewachsenen Stadt wurde durch die nach Funktionen getrennte Stadt der Moderne ausgeschlossen.157 Wie oben bereits beschrieben, kann man feststellen, dass sich die nutzungsspezifische Grundkonzeption Le Corbusiers (Villenblocks von 1922), die später in realisierten Gebäuden in Teilen umgesetzt wurde, auch in den Großwohnkomplexen der 1970er Jahre widerspiegelt. Dieses gesellschaftliche Anliegen wurde jedoch in der überwiegenden Umsetzung der modernen Stadtplanung in Europa nach dem 2. Weltkrieg kaum integriert (mit Ausnahme der Gartenstadtidee und der Idee der durchgrünten Stadt, die in den Konzeptionen der britischen „New Towns“ seit 1949 aufgegriffen wurden). Die Durchdringung des gesellschaftlichen Denkens Le Corbusiers mit dem Ziel „individueller Freiheit in kollektiver Organisation“158 konnte in der „Charta von Athen“ nicht in der notwendigen Deutlichkeit herausgearbeitet werden. Dies lässt die These zu, dass nicht die Idee der funktionellen Stadt, sondern vielmehr die Missachtung der dazugehörigen gesellschaftlichen Aspekte zu den in heutiger Zeit in die Kritik geratenen Großwohnsiedlungen führte. Eine Erläuterung erarbeitete Thilo Hilpert 1978 in der Publikation „Die Funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvisionen – Bedingungen, Motive, Hintergründe.“: „Aber wirklich „kollektives Leben“, die Vielzahl sozialer Kontakte, ist in die sozialen Grundlagen für sein Stadtmodell kaum eingegangen; auch der in Athen erarbeitete „Kode“ für Stadtplanung hat davon kaum mehr als „kollektive Organisation“ erfasst. Die „individuelle Freiheit“, die sich auf der Grundlage einer geordneten Daseinsorganisation entfalten sollte, ist nicht mit einem System sozialer Beziehungen vermittelt worden. Der von Le Corbusier beschriebene Mensch ist ein Einzelwesen, dem sich individueller Entfaltungsraum erschließt durch eine „Organisation der kollektiven Funktionen“. Dieser Raum ist

157  Vgl. beispielsweise Siedler, Wolf Jobst/Niggemeyer, Elisabeth: Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum. Berlin/München 1964. 158  Vgl. Le Corbusier: La ville radieuse. Éléments dʼune doctrine dʼurbanisme pour lʼéquipement de la civilisation machinist. Paris 1933, Neuauflage: Paris 1964, S. 106.

162 | URBANITÄT DURCH DICHTE? wohl eher eine Privatsphäre als das Feld der Öffentlichkeit. Solche Initiativen konnten nicht genügen, die „Leerräume“ mit sozialem Leben zu füllen.“159

Bezogen auf die Kritik am realisierten, modernen Städtebau (hier beispielhaft an den Großwohnsiedlungen, Grands Ensembles oder New Towns mit den frei im Raum stehenden Wohnscheiben und Türmen dargestellt) ist jedoch einschränkend festzuhalten, dass die städtischen Gegebenheiten, wie die mangelhaften hygienischen Bedingungen der industriellen Stadt Anfang des 20. Jahrhunderts oder die Kriegszerstörungen nach 1945, ausschlaggebend für die Entstehung der Großwohnsiedlungen am Stadtrand waren und dabei eine deutliche Verbesserung der Lebensgrundlage und -qualität der Bewohner erreicht wurde. Im Zeitraum der Umsetzung in den Nachkriegsjahren kamen dann zusätzlich gesellschaftliche Veränderungen hinzu, die dazu führten, dass die Menschen, unabhängig von der Bebauungsstruktur, durch neue Kommunikationsmittel wie Telefon oder Medien wie Fernsehen und Radio weniger öffentlichkeitsbezogen lebten und so die Nutzung und Wahrnehmung des öffentlichen Raums in der Stadt einer Veränderung unterlag.

1960–1975 U RBANITÄT

DURCH

D ICHTE

In der Chronologie der städtebaulich-theoretischen Entstehung von Großwohnkomplexen nehmen die 1960er Jahre eine besondere und komplexe Zwischenposition ein. Während zu Beginn der 1960er Jahre erste Kritik zum funktionalistischen Städtebau der Moderne entstand, wurden diese aufgelockerten Bauformen durch bereits laufende Planungsverfahren weiter umgesetzt. Dies wird im Hinblick auf die notwendigen Planungszeiträume verständlich. Ähnlich verhält es sich in den folgenden Jahren. Resultierend aus der Kritik am Städtebau der Nachkriegszeit entwickelten sich international erste Projekte mit höherer Wohndichte. Im Laufe der Realisierung und nach der Fertigstellung hoch verdichteter, sich jedoch noch immer im Stadtrandgebiet ausbreitenden Großsiedlungen (Satellitenstädte) in Deutschland, wurde festgestellt, dass „Urbanität durch Dichte“ nur im Zusammenhang mit Mehrfachnutzung und Funktionsvielfalt entsteht und innerstädtisch zur Verdichtung der Städte beitragen muss.160 Diese Erkenntnis 159  Hilpert, Thilo: Die funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvision – Bedingungen, Motive, Hintergründe. Braunschweig 1978, S. 256f. 160  Vgl. Atteslander, Peter: Dichte und Mischung der Bevölkerung. Raumrelevante Aspekte des Sozialverhaltens. Berlin/New York 1975.

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entstand Mitte der 1960er Jahre im Zusammenhang mit der „Lösung“ der Verkehrsproblematik durch die Überbauung der Verkehrswege und Parkflächen.161 Überlagert wurde diese Erkenntnis von international veröffentlichten, utopischen Projekten, die eine neue Gesellschaft und damit verbundene Architektur und Städtebau prognostizierten.162 Zur Ausführung kamen die aus diesen Zusammenhängen geplanten „Komplexbebauungen“, zu denen Großwohnkomplexe zählen, ab Mitte der 1960er Jahre. International sind im Laufe der 1960er Jahre in Abkehr zur aufgelockerten Stadt der Moderne vielerorts Tendenzen zum verdichteten Bauen ablesbar. Wie jedoch bereits im Kapitel „Die Umsetzung des modernen Städtebaus in Westeuropa“ erläutert, liefen diese Prozesse in den europäischen Ländern zeitversetzt und in unterschiedlichen Gewichtungen ab. Im Folgenden wird unter dem Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ auf die Entwicklungen in Westdeutschland eingegangen. Zu diesem Zweck werden in Westdeutschland veröffentlichte wissenschaftliche Studien zu Erläuterung herangezogen (Kapitel „Wissenschaftliche Studien und Umsetzung des Leitbilds“). Im Exkurs zu den „Britischen New Towns“ werden im Anschluss die Entwicklungen zum verdichteten Bauen in Großbritannien aufgezeigt. Ziel ist es, einen Verständnishintergrund für die Entstehung von „Komplexbebauungen“ aufzubauen, ohne zu weit in angrenzende Entwicklungen (vgl. Satellitenstädte in „Abgrenzung des Forschungsthemas“) einzutauchen. „Urbanität durch Dichte“ als Leitbild des Städtebaus der 1960er/1970er Jahre ist von einem neuen Urbanitätsverständnis geprägt, das bereits im Kapitel der Begriffserläuterungen unter dem Stichwort „Urbanität“ und dabei insbesondere im Verständnis der 1960er/1970er Jahre aufgezeigt wurde. Dabei kommt die Grundhaltung der Protagonisten dieser Zeit bereits zum Ausdruck. Im vorliegenden Kapitel wird demnach der Fokus der Betrachtung nicht auf dem Urbanitätsverständnis und dem daraus resultierenden Leitbild liegen, sondern vielmehr weitere Einflussfaktoren, die das Leitbild prägen, darstellen. Im Anschluss an diese städtebauliche Annäherung werden die Themenkomplexe „Strukturalismus“, die Arbeit des Team Ten und utopische Stadtbaumodelle sowie visionäre Megastrukturen dieser Zeit erarbeitet und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Leitbilds und der Großwohnkomplexe aufgezeigt. Auch hier überlagern sich alle vorgestellten Entwicklungen, sodass die Reihenfolge nicht chronologisch, sondern nur inhaltlich gelesen werden kann. 161  Vgl. Buchanan, Colin: Verkehr in Städten. Aus dem Englischen von Hinrich Lehmann-Grube. London 1963, deutsche Ausgabe: Essen 1964, S. 136ff. 162  Vgl. Kapitel „Utopische Megastrukturen“.

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Wie im Forschungshintergrund, aber auch in anderen Themengebieten bereits analysiert, stehen in den 1960er/1970er Jahren die Begriffe „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ im Fokus der städtebaulichen Betrachtung. Gleichzeitig wird in den 1960er Jahren der Begriff der Komplexität in das städtebauliche Vokabular eingeführt und im Gegensatz zur geplanten und oft als steril kritisierten Ordnung der „Moderne“ dargestellt. Das vorliegende Kapitel „Urbanität durch Dichte“ sowie das daran anschließende Kapitel „Wahrnehmung der Großwohnkomplexe“ wird anders als die vorherigen Themenkomplexe nicht ausschließlich über Literaturrecherche erarbeitet, sondern bildet auch methodisch den Einstieg in den Hauptforschungskomplex der Arbeit. Mithilfe von zusätzlichen Exkursen werden die Themenbereiche Komplexbebauung, utopische Megastrukturen und die spezifische Wahrnehmung eines Großwohnkomplexes jeweils unter Bezugnahme auf Experten auf diesem Gebiet untersucht. Ziel dieser Exkurse wird es sein, unterschiedliche Sichtweisen der Thematik darzustellen und in Publikationen oft zitierte und damit einschlägige Standpunkte mit weiteren, individuellen Standpunkten zu ergänzen oder kritisch zu hinterfragen. Methodisch erarbeitet werden diese Exkurse durch Experteninterviews und die Auswertung von Zeitschriftenartikeln im Zusammenhang mit weiteren veröffentlichten Publikationen. Wissenschaftliche Studien und Umsetzung des Leitbilds Aus den im vorherigen Kapitel beschriebenen Kritikpunkten heraus entwickelte sich seit Beginn der 1960er Jahre ein Umdenken im Bereich der Stadtplanung. Entgegen der Forderungen der „Moderne“, wurde das dichte und lebendige Zentrum der Stadt wieder in den Fokus der Betrachtung gesetzt. Urbanität als Schlagwort dieser neuen Stadtplanung wird zum einen wissenschaftlich untersucht und zum anderen, insbesondere durch die enge Verknüpfung des öffentlichen Bereichs mit dem privaten Wohnraum, in neuen Wohnquartieren umgesetzt. Öffentliche Räume erhielten dabei einen hohen Stellenwert und wurden als Synonym für eine lebendige, individuelle und demokratische Gesellschaft angesehen.163 Die Entstehung städtebaulicher Utopien in den 1960er Jahren verdeutlicht den technologischen Fortschritt sowie den Glauben an die Umsetzbarkeit der theoretischen Modelle von Stadt in zukünftigen, realen

163  Vgl. die Ausführung zur Strukturalismusdebatte im folgenden Kapitel und insbesondere das Ziel von Kommunikation durch Überscheidung von öffentlichen und privaten Räumen.

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Planungsaufgaben.164 Aufbauend auf den Entwürfen von Megastrukturen und im Zusammenhang mit einem weltweiten Anstieg der Stadtbevölkerung entstanden gedanklich bereits Megastädte oder Megapoli sowie Zusammenschlüsse dieser Stadtstrukturen zu „Ecumenpolis“. Der Verkehr, öffentliche Transportwege und Mobilität der Nutzer waren ein übergeordneter Bestandteil der Planungen.165 Die Schlagwörter von Planungen großen Maßstabs sowie kleineren Entwürfen auf konkret städtebaulicher Ebene waren Planungsdemokratie, Kommunikation, Veränderbarkeit, Nutzungsverflechtung und Multifunktionalität, wobei viele dieser Begriffe sowohl im privaten Umfeld als auch im Zusammenhang mit öffentlichen Bereichen und städtebaulichen Entscheidungen angewandt wurden.166 Partizipation wurde im Kontext der Individualisierung gefordert und kam in unterschiedlichen Projekten zur Anwendung.167 Unter dem Stichwort „Mehr Demokratie wagen“168 wurde unter anderem die Partizipation der Bürger in Planungsprozessen gefordert und gleichzeitig die Bildung als ein für alle geltender Grundwert herausgearbeitet. Architektonisches und städtebauliches Ziel war es, nicht nur für eine neue, freie und demokratische Gesellschaft neue Wohnformen zu finden, sondern die Gesellschaft durch die Architektur und den Städtebau zu formen.169 Der im Kapitel „Komplexität und Struktur“ bereits thematisierte Begriff der Komplexität erhält in den 1960er Jahren eine Anwendung im Städtebau: „Waren die Planer der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ der Fünfzigerjahre bestrebt gewesen, mit räumlichen und gestalterischen Mitteln klare Zäsuren zu setzen und somit für ein gewisses Maß an Orientierung und Überschaubarkeit im Wohnumfeld zu sorgen, so wurde nun oftmals genau das Gegenteil angestrebt. An die Stelle rhythmisch gruppierter Solitärbauten inmit164  Vgl. beispielhaft die Publikation Megastructure von Reyner Banham 1976. 165  Vgl. die Publikation und die Diskussion um den Buchanan Report 1963. 166  Vgl. beispielhaft die Publikation „Eine Analyse von Nutzungsverpflechtungen und ihrer Bezugsebenen. Mehrzwecknutzung. Multifunktionalität. Urbanität „ aus dem Jahr 1972. 167  Vgl. beispielhaft das Projekt „Urbanes Wohnen“ einer Kölner Bürgerinitiative Anfang der 1970er Jahre. 168  Willy Brandt in seiner Regierungserklärung von 28.10.1969, vgl. Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Sechziger. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 13. 169  Vgl. Kampffmeyer, Hans/Spengelin, Friedrich/Siedler, Wolf Jobst: „Zu Beginn der 60er Jahre hatten wir das Gefühl: Jetzt müssen wir von Grund auf neu anfangen.“ in: Urbanität durch Dichte – Die gescheiterte Hoffnung. Bauwelt 48, 76. Jahrgang, 1985, S. 330.

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ten steriler Rasenflächen traten vernetzte, kleinteilige Strukturen aus Wohnwegen, Spielhöfen, öffentlichen Plätzen und abgeschirmten Kleinstgärten vor den Erdgeschossen.“170 Im vorliegenden Kapitel wird das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ von unterschiedlichen Standpunkten beleuchtet. Neben der Erläuterung der Hintergründe, die zur Entstehung des Leitbildes beigetragen haben, und den ersten Versuchen zur Umsetzung des Leitbilds werden die wissenschaftlichen Ansätze, die den Städtebau dieser Zeit prägten, dargelegt. Im Folgenden wird der Fokus auf den spezifischen Stadtbaustein „Komplexbebauung“ gelegt und mit Exkursen zu den französischen „Villes Nouvelles“ und den britischen „New Towns“ die Entstehung von komplexen Gebäudestrukturen in Frankreich und Großbritannien aufgezeigt. Ein weiterer Exkurs zeigt in vertiefender Sicht die Ansätze der Planer Friedrich Spengelin und Hanns Adrian auf, die sich mit Komplexbebauungen im städtebaulichen Kontext beschäftigten. Die Hintergründe des städtebaulichen Leitbilds: Kommunikation, Verkehr, gesellschaftliches Leben und die Zunahme des tertiären Sektors Kommunikation als wiederentdeckter, integraler Bestandteil eines komplexen Stadtgefüges wurde in den 1960er Jahren vermehrt wissenschaftlich untersucht und sowohl als Indikator für funktionierenden Städtebau als auch in den Kritiken über moderne Stadtplanung glorifizierend als ein verlorener Bestandteil städtischer Lebensformen dargestellt. In einer Publikation von Karolus Hell aus dem Jahr 1971 mit dem Titel „Kommunikation und Entfremdung“ stellt der Autor die in Bezug auf ältere und neuere Wohnsiedlungen entscheidende Frage, ob die Bedingungen zur Kommunikation ebenso für „neue“ Wohnquartiere gelten, oder ob diese aufgrund ihrer baulichen Struktur „[…] wesentliche Momente städtischer Bedingungen […]“171 entbehren. Die Ergebnisse der vergleichenden Studie zwischen einem Altbauquartier und einer neueren Wohnsiedlung in München zeigen ein durchaus unterschiedliches Kommunikationsverhalten: Während in Altbauquartieren die nachbarschaftliche Kommunikation eher reserviert, oberflächlich und unter Vermeidung von Konflikten abläuft, zeitgleich jedoch die informellen Kontakte während der Einkäufe in Bedienungsläden stattfindet, wurden die nachbarschaftlichen Kontakte in Neubaugebieten als von einem höheren persönlichen Niveau geprägt beschrieben. Dies führt dazu, dass Nach170  Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Bonn 2003, S. 33f. 171  Hell, Karolus: Kommunikation und Entfremdung. Stuttgart 1971, S. 18.

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barn sich auch gegenseitig aushelfen und unterstützen, sich dabei jedoch gleichzeitig ein höheres Konfliktpotenzial durch haushaltspezifische Probleme bietet. Die informellen Kontakte in der Öffentlichkeit sind gemäß der Studie in „Neubaugebieten“ dagegen eher gering, auch bedingt durch den hohen Stellenwert von Selbstbedienungsläden in diesen Wohnquartieren und den als ausschließlich zielorientierte Handlung vorgenommenen Einkäufen. Auf Quartiersebene stellt der Autor heraus, dass die Bewohner der Altbauquartiere eher den öffentlichen Umgang innerhalb des Quartiers pflegen und dort die Bedürfnisse des täglichen Bedarfs decken können, während die Bewohner der Neubausiedlung zwar persönliche Kontakte im nachbarschaftlichen Kreis pflegen, der öffentliche Raum des Quartiers jedoch wenig für persönliche Kontakte genutzt wird. Hinzu kommt, dass die Orientierung außerhalb des eigenen Wohnquartiers insbesondere zur Innenstadt ungleich höher ist als in Altbauquartieren.172 Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die „[…] bloße Addition großer Zahlen von Wohneinheiten, das räumlich enge Zusammenleben großer Zahlen von Menschen, die sich allesamt als Privatiers fühlen, die ihre [Neubau-, K. B.] Siedlung ausschließlich als Wohnbereich erleben, die auch an den sogenannten „Orten der Begegnung“ in ihrer sozialen Rolle bestimmbar sind, [...] städtische Öffentlichkeit in einer überkommenen Stadtquartieren vergleichbaren Form nicht hervorbringen“173 kann. Einschränkend ist für die Interpretation der Ergebnisse dieser Studie jedoch anzumerken, dass die Sozialstruktur beider Wohngebiete zum Zeitpunkt der Studie wahrscheinlich durchaus unterschiedlich war und einige Verhaltensmuster in diesen Unterschieden begründet sein können.

172  Vgl. Hell, Karolus: Kommunikation und Entfremdung. Stuttgart 1971, S. 148ff. 173  Ebd., S. 154.

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Abb. 21: „Traffic Architecture.“ Ganzheitliche Planungen von Verkehr und Gebäude (1964)

Quelle: British Road Federation (Hrsg.): Buchanan and after. London 1964, S. 11

Verkehr Der Buchanan Report, veröffentlicht 1963, folgerte aus der Situation des Verkehrs in Städten mit seinem sprunghaften Anstieg der Fahrzeugdichte, den daraus folgenden Verkehrsunfällen, Lärm und Verschmutzung sowie dem dafür nicht ausgelegten Straßennetz, dass der motorisierte Verkehr und die Fußgängerwege getrennt werden müssten und dass die städtischen Agglomerationen eine bestmögliche Anbindung an den Verkehr innerhalb ihrer Struktur erhalten sollten.174 So wurde ein gegliedertes System aus Hauptverkehrsstraßen, Quartiersstraßen und lokalen Verteilern vorgeschlagen, das durch ein Fußgängerwegenetz überlagert wird. Wie bereits zum Abschluss des Kapitels „Umsetzung des städtebaulichen Leitbilds“ erwähnt wurden unter dem Stichwort „Verkehrsarchitektur“ zu Beginn der 1960er Jahre Kombinationen aus Gebäuden, Parkmöglichkeiten und Verkehrsverbindungen angeregt.175 Diese Konzeption der vertikalen Staffelung ist nicht neu: Schon seit den 1920er Jahren werden vertikal überlagernde Straßensysteme diskutiert, die die Fußgänger vom Autoverkehr in einer oberhalb angeordneten Ebene trennen.176 Die dabei skizzierten Vorschläge einer Verbindung bzw. einer Integration von Verkehrsraum und Architektur finden sich in der Konzeption der Großwohnkomplexe wieder. Noch deutlicher werden diese Gebäude, die ruhenden und fließenden Verkehr in der Erschlie-

174  Vgl. British Road Federation (Hrsg.): Buchanan and after. London 1964, S. 3ff. 175  Vgl. ebd., S. 10f. 176  Vgl. Hilbersheimer, Ludwig: Groszstadtarchitektur. Stuttgart 1927, S. 18f.

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ßungsebene unterhalb einer autarken Fußgängerebene beinhalten, in der Publikation „Verkehr in den Städten“ von 1964 dargestellt: Für die Neukonzeption eines innerstädtischen Großstadtviertels wird, in Abkehr zu Vorschlägen für kleinere Städte, ein Stadtviertel mit Hochhausscheiben geplant, die sowohl die Hauptverkehrsachse als auch die Anlieferung und den ruhenden Verkehr im Erdgeschossniveau und in zwei Untergeschossen beinhalten. Gleichzeitig werden in den Gebäuden Einkaufsmöglichkeiten und Wohnraum geplant. „Zur Verwirklichung solcher Pläne wäre eine fast revolutionäre Behandlung des Grundeigentums und der Planungsprobleme erforderlich [...] Das Kraftfahrzeug erzwingt förmlich eine völlig neue Gestalt der Städte. Der von uns beschriebene Plan vermittelt einen Eindruck von der Art der erforderlichen Anlage. Er zeigt, daß [sic!] es durchaus möglich wäre, ein dichtes, vielgestaltiges, interessantes, lebhaftes und blühendes städtisches Environment zu schaffen, mit dem gleichzeitig die Vorzüge des Kraftfahrzeuges weitgehend ausgenutzt werden könnten.“177 Diese Erläuterung eröffnet bereits den Blick auf die Konzeption der „Komplexbebauung“, die nachfolgend ausführlich vorgestellt wird. Die Verkehrsproblematik in den europäischen Städten der Nachkriegszeit und die aufgezeigten Lösungsmöglichkeiten können damit als ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung von Großwohnkomplexen angesehen werden. Neben den Forschungen und der Entwicklung neuer Strategien zum Umgang mit dem Pkw-Verkehr wurden auch die öffentlichen Verkehrsmittel als dichtestrukturierend für die Stadtentwicklung erkannt. In einem 1972 erschienen Artikel mit dem Titel „Das Hamburger Dichtemodell“ schlagen die Autoren vor, entlang der Schnellbahnlinien, konzentrisch um die Haltestelle verdichtete Bebauungsstrukturen zu schaffen, die sich in unmittelbarer Nähe der Stationen nochmals weiter verdichten und gleichzeitig ein Geschäftsgebiet ausbilden. Soziale Einrichtungen, Kirchen, Schulen und Jugendheime sollten sich bei diesem Entwurf jeweils in den Randgebieten des zweiten Ringes angliedern. Gemäß der Darstellung der Autoren ergibt sich durch dieses System jeweils eine lineare Struktur verdichteter Wohngebiete entlang der Haupttrassen der Schnellbahn. In den Räumen zwischen diesen Linien wurden Grünflächen und weniger verdichtete Wohngebiete vorgeschlagen. Das System wurde dabei sowohl auf regionale als auch auf städtische Verkehrsführungen angewendet, wobei die regionalen Achsen eher aus einer Reihung von Einzelsiedlungen bestanden und die städtischen Achsen zusammenhängende verdichte Siedlungsbänder ausbildeten. „Das Hamburger Dichtemodell soll die Chance zur Ausschöpfung des großstädtischen 177  Buchanan, Colin: Verkehr in Städten. Aus dem Englischen von Hinrich LehmannGrube. London 1963, deutsche Ausgabe: Essen 1964, S. 146.

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Abb. 22: Das Hamburger Dichtemodell (1972)

Quelle: Krüger, Till/Rathmann, Peter/Utech, Joachim: Das Hamburger Dichtemodell. In: Stadtbauwelt Heft 36 1972, S. 297

Angebots und zu den damit verbundenen Entfaltungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen bieten. Dichte, vielfältig genutzte Baugebiete an den Schnellbahnhaltestellen sollen für die äußere Stadt und das Umland zu Kommunikationsbereichen werden, die zur Erhöhung des Wohn- und Freizeitwertes beitragen.“178 Gesellschaftliches Leben Ohne das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ explizit zu benennen wird in einer Publikation von 1968 der Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Veränderungen und der Entstehung von Großwohneinheiten beschrieben. Diese werden in den Kontext der verdichteten Bauweise eingeordnet: „Die Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolution und die weitere Entwicklung der kulturellen Revolution führen zur weiteren Vergesellschaftung der Lebenstätigkeit. Das bedeutet die stärkere Entwicklung der gesellschaftlichen Seite des Wohnens, die Verlagerung von Funktionen des Wohnens in gesellschaftliche Einrichtungen. Neue Wechselbeziehungen zwischen dem individuellen häuslichen und dem gesellschaftlichen Leben, zwischen Wohnung und gesellschaftlichen Einrichtungen treten auf. Dabei fordert die Ökonomie der Zeit und des Raums eine optimale Annäherung und eine möglichst enge Verbindung der gesellschaftlichen Einrichtungen mit der einzelnen Wohnung. In Anbetracht der Verdichtung der Bebauung und in Hinblick auf die Bedeutung der Hygiene

178  Krüger, Till/Rathmann, Peter/Utech, Joachim: Das Hamburger Dichtemodell. In: Stadtbauwelt Heft 36 1972, S. 293.

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werden die hygienischen Anforderungen an Sonne, Sauberkeit, Durchlüftung und Ruhe sowie Erholungs- und Sportmöglichkeiten noch weit wichtiger, als sie schon heute sind.“179

Darüber hinaus spielte die kulturelle Revolution in Europa, bedingt durch opportunistische Jugendkulturen und die Abkehr von konservativen Lebensentwürfen, eine entscheidende Rolle in der Entwicklung neuer Bebauungstypen bzw. in der Akzeptanz multifunktionaler und gemeinschaftlicher Räume.180 Der Rückgang der wöchentlichen Arbeitszeit führte zudem zu einer spaß- und freizeitorientierteren Gesellschaft. Die Verwissenschaftlichung von Planungs- und Entscheidungsprozessen sowie der „positive Blick“ einer Wohlstandsgesellschaft in die Zukunft verstärkten das Vertrauen in die Planbarkeit großer, komplexer Bebauungsstrukturen. Gleichzeitig spielte der Kalte Krieg und die Bedrohung durch die Atombombe ebenso eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Gebäudetypologien, die sich von der Außenwelt abschotteten und im Inneren eine freizeitund spaßorientierte Lebenswelten bot. Die Zunahme des tertiären Sektors Die Verwissenschaftlichung der Planungen setzt in den 1960er Jahren ein und ist, neben den bereits im Kapitel „Gesellschaftlicher Kontext“ erläuterten Zusammenhängen auf wirtschaftstheoretischer Ebene durch den französischen Volkswirtschaftler Jean Fourastié geprägt. In einer Veröffentlichung von 1949 prognostiziert er anhand der wirtschaftlichen Zusammenhänge der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zukunft der Gesellschaft „als Ergebnisse des wirtschaftlichen Lebens“ und konnte damit die frühen städtebaulichen Entwicklungen der Nachkriegsgeschichte richtig voraussehen: Der Funktionswandel der Stadtzentren zum primär vom tertiären Sektor geprägten Stadtbild wurde so durch seine Theorie belegt. „Nach Fourastiés fortschrittsgläubiger, konvergenztheoretischer Konzeption schlägt sich der technische Fortschritt, gemessen an der Kategorie Arbeitsproduktivität, in der „tertiären Zivilisation“ vor allem durch Abnahmen des primären und sekundären Sektors und durch das Heranwachsen des tertiären Sektors nieder.“181 Die menschliche Arbeitskraft wir durch die Maschine ersetzt, „…der technische Fortschritt schafft Unabhängigkeit, Freiheit und Individuali-

179  Macetti, Silvio: Großwohneinheiten. Berlin 1968, S. 47f. 180  Vgl. dies und das Folgende: Kapitel „Gesellschaftlicher Kontext“. 181  Schubert, Dirk: Stadtplanung als Ideologie. Berlin 1981, S. 199.

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tät.“182 Daraus folgerte Jean Fourastié für den Städtebau, dass die Riesenstädte überholt seien und der Mensch wieder zu der aufgelösten Wohnweise zurückkehre.183 Damit wurde ab den 1960er Jahren die Beziehung zwischen Städtebau und Wirtschaft erkannt und in Planungsprozessen integriert. Dem Problem der Verödung der Stadt in den Abendstunden durch ausschließliche Ansiedlung tertiärer Funktionen im innerstädtischen Kerngebiet begegnete man in den 1960er Jahren mit dem Versuch, Bürogebäude dezentral in neuen Gebieten zu verorten. Unter diesem Aspekt entstanden Entlastungszentren wie die „City Nord“ in Hamburg, „München Arabellapark“ oder die „Frankfurter Bürostadt Niederrad“; Bürostandorte „im Grünen“ außerhalb der Kernstadt mit Hochhäusern und repräsentativen Verwaltungsbauten.184 Die dogmatische Umsetzung des Leitbilds: Satellitenstädte, Trabantenstädte, Großwohnsiedlungen Zu Beginn der Umsetzung des Leitbilds der „Urbanität durch Dichte“ in den frühen 1960er Jahren entwickelte sich die „Struktur der Großform“ in Form hoch verdichteter Wohnzentren mit mäandernden Wohnarmen von mehreren hundert Metern Länge und gleichzeitig einer vertikalen Staffelung der Höhen. „Die meisten der städtebaulichen Formen [...] waren zur „Struktur“ geworden. Struktur, das ist jene stetige Wiederholung gleicher oder ähnlicher Elemente, die auf eine Gliederung des Raums hinausläuft, ohne selbst Raum im klassischen Sinne des Städtebaus zu schaffen.“185 Diese, in der vorliegenden Arbeit als (verdichtete) Großwohnsiedlungen, Trabanten- oder Satellitenstädte bezeichneten Wohnquartiere entstanden, ähnlich der vorangegangen Konzeption aufgelockerter Bebauung an den Stadträndern der großen Städte. Sie unterscheiden sich durch den hohen Verdichtungsgrad von Großwohnsiedlungen der 1950er Jahre. Diese „Verdichtung“ wurde jedoch ausschließlich in Form von Dichtekennzahlen wie Einwohner pro Fläche thematisiert, eine räumlich Dichte entstand in diesen Siedlungen nicht. Die wenig gestalteten, großen Abstandsflächen mit öffentlichen (Grün-) Räumen wurden teilweise durch Parkplätze besetzt. Ein quartiers182  Fourastié, Jean: Die grosse Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts. Aus dem Französischen von Burkart Lutz. Paris 1949, deutsche Ausgabe: Köln 1954, S. 302. 183  Vgl. ebd., S. 304. 184  Vgl. Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Bonn 2003, S. 30. 185  Müller-Raemisch, Hans-Reiner: Urbanität durch Dichte. In: Müller-Raemisch, Hans-Reiner: Leitbilder und Mythen in der Stadtplanung 1945 – 1985. Frankfurt am Main 1990, S. 73.

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bezogenes Ladenzentrum vervollständigte meist den neuen Stadtteil.186 Als Beispiel können in Deutschland das „Märkische Viertel“ in Berlin oder Teile der Bebauungsstruktur von „Köln Chorweiler“ angeführt werden, die jedoch gleichzeitig in ihrer Unterschiedlichkeit die Vielfalt der Entwicklungen ausdrücken. Städtebauliche Verdichtung in der wissenschaftlichen Forschung Das neue städtebauliche Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ begründete eine Reihe von Forschungsvorhaben, die sich auf theoretischer bis praxisorientierter Ebene mit Verdichtungskonzepten auseinandersetzen und zum Ziel hatten das richtige Maß an Verdichtung anhand klarer Parameter definieren zu können. Während viele Forschungsvorhaben erst zu Beginn der 1970er Jahre initiiert und erst ab 1975 veröffentlicht wurden, wurde in Großbritannien bereits 1970 eine Studie mit dem Titel „Low rise high density housing study“ veröffentlicht. Dabei wurden, größtenteils mit Hilfe empirischer Werte, Wegeführungen, Entfernungen zu Parkplätzen, halböffentliche und öffentliche Freiflächen oder die Anzahl und Größe von Kinderspielplätzen untersucht.187 In Deutschland wurden in unterschiedlichen Studien und unter den forschungsleitenden Titeln „Städtebauliche Verdichtung“ (1975), „Städtebauliche Verdichtung im Modellvergleich“ (1976), „Städtebauliche Verdichtung in Nordrhein-Westfalen“ (1977) und „Städtebauliche Verdichtung und ihre Bewertung“ (1979) folgende Forderungen herausgearbeitet und im jeweils anschließenden Forschungsvorhaben weiter behandelt: Verdichtung müsse bei jedem Projekt auf die sozialen Auswirkungen hin abgeschätzt werden und dürfte „…nicht allein aufgrund ihrer technischen Machbarkeit…“188 umgesetzt werden. Die notwendige sozialwissenschaftliche Analyse hat dabei die Schwierigkeit, heterogene Bevölkerungsstrukturen nur über den „mittleren Menschen“ als Durchschnittswert erforschen zu können. Die daraus resultierenden Planungen können sich damit nicht differenziert an kleineren Bevölkerungsgruppen orientieren. Ebenfalls unter der forschungsleitenden Fragestellung nach den Möglichkeiten und Grenzen städtebaulicher Verdichtung veröffentliche das Land Nordrhein Westfalen ein Jahr später die These, dass die Antwort auf diese Frage nicht eine homogene, flächendeckende und gleichzeitig maßvolle Verdichtung sein könne, sondern vielmehr die Gleichzeitigkeit von 186  Vgl. dies und das folgende im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“. 187 Vgl. Gilmour, Andrew/Byrom, Conni/Campbell, Sheila u. A.: Low rise high density housing study. Edinburgh 1970. 188  Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.): Städtebauliche Verdichtung. Dortmund 1975, S. 194.

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hoch verdichteten Strukturen und aufgelockerten Bereichen Ziel der Planungen sein müsse.189 Daraus resultiert die Frage, in welchem Maß sich Verdichtung und Auflockerung in einem Quartier gegenüberstehen müssten. Eine Fortsetzung dieser Forschung inklusive differenzierter Vorgehensweisen und Fragestellungen wurde 1977 veröffentlicht. Hier wurde nun der Versuch unternommen, numerische Dichtewerte festzulegen. Insbesondere der Aspekt der Freiflächenzahl innerhalb verdichteter Wohnquartiere wurde von den Autoren als wichtig herausgearbeitet, wobei diese überirdisch nicht für den ruhenden Verkehr genutzt werden sollten.190 Dass die Veröffentlichung dieses Forschungsprojekts erst in den 1970er Jahren erfolgte, während sich, wie später beschrieben wird, die Zielsetzungen im Städtebau bereits wieder aufgelockerteren Bebauungsstrukturen zuwendeten, ist bemerkenswert. In der Publikation von 1977 wird dieser Wandel im Verständnis verdichteter Bebauungsstrukturen von den Autoren thematisiert, indem sie die maximale Geschossanzahl der Wohnbebauung im Hinblick auf die Geschossflächenzahl nun bei max. acht Geschossen ansehen.191 In den 1960er Jahren geplante, verdichtete Bebauungsstrukturen, wie die Beispiele der Großwohnkomplexe zeigen werden, erreichten dagegen zum Vergleich Geschosszahlen von 15–20 Geschossen in Wohnhochhäusern. Zusammenfassend beschrieben die Autoren folgende Gesichtspunkte „[…] zur Erzielung hoher Wohndichten bei hohem Wohnwert: •

• • • •

sorgfältige Planung und Dimensionierung der nutzbaren Freiflächen im wohnungsangrenzenden Bereich bei nicht weniger als etwa 15qm nutzbarer Freifläche je Einwohner oder etwa 0,5qm je qm Wohnfläche, die Schaffung immissionsgeschützter Freiräume durch entsprechende Stellung der Baukörper, die Zuordnung von privat nutzbaren Freiflächen zu den Wohnungen, Geschosszahlen überwiegend im Bereich von 3 bis 6 Geschossen Überlagerung der Flächen für private PKW Stellplätze mit anderen Nutzungen wie Grün- oder Spielflächen, Geschossflächen oder Straßenflächen

189  Vgl. dies und das folgende: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Städtebauliche Verdichtung im Modellvergleich. Dortmund 1976, S. 9. 190  Vgl. Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.): Städtebauliche Verdichtung in Nordrhein-Westfalen. Dortmund 1977, S. 334. 191  Vgl. ebd., S. 335.

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„gute“ Gestaltung der Baukörper und der Freiräume unter Berücksichtigung des „menschlichen Maßstabs““192

Numerisch ausgedrückt bedeuten diese Forderungen von den Autoren 300–350 Einwohner auf einem Hektar Bruttowohnbauland, wobei dieser Wert gemäß den Autoren ausschließlich in zentralen Lagen realisiert werden sollte. Die Entwicklung zur Komplexbebauung Im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre änderten sich nicht nur die gesellschaftlichen, sondern ebenfalls die theoretischen Grundlagen des verdichteten Städtebaus und damit die Auswirkungen auf die Planung und Umsetzung im großen Maße. Während zu Beginn der 1960er Jahre die Kritik am Leitbild der aufgelockerten Stadt maßgebend für ein radikales Umdenken war, änderte sich diese, in den folgenden Jahren auch kritisierte, strenge Haltung von Verdichtung, zu einer inhaltlich komplexeren Betrachtungsweise. Dies ist sowohl an realisierten Wohngebieten ablesbar193 als auch in theoretischen Publikationen. So zeigt eine übergreifende Analyse über die Auswirkungen von Dichte und Mischung auf das Sozialverhalten der Einwohner von 1975 differenzierte Lösungsstrategien auf und verdeutlicht gleichzeitig die Wertigkeit dieser beiden Aspekte in den Planungstheorien der 1970er Jahre. Es wird deutlich, dass die oft kritisierte Oberflächlichkeit der Planung, durch erhöhte Dichte Urbanität zu erzeugen, spätestens zu Beginn der 1970er Jahre überdacht wurde. Die Aneignung eines Ortes und ihre damit verbundene nachhaltige Nutzbarkeit und Veränderbarkeit wird als Ziel hervorgehoben: „Planung hört nicht auf mit dem Bereitstellen von räumlichen Infrastrukturen, sie beginnt erst mit der Anlernung zu ihrem Gebrauch.“194 Zusätzlich wird die Bereitstellung von Möglichkeitsräumen gefordert: „…[S]tarre Forderungen und einseitige Nutzungsmöglichkeiten lassen kaum Raum für gesellschaftliche Entwicklungen. Es ist deshalb dafür zu sorgen, daß [sic!] bei angegebenen Nutzwerten ein möglichst hoher Grad an Flexibilität gewährleistet werden kann.“195 Die wissenschaftlich ermittelten und für einige Planungsaufgaben genutzten Dichtewerte werden im Kontext der Wahrneh192  Ebd., S. 336. 193  Vgl. Märkisches Viertel und Schlangenbader Straße, beide von Bertelsmann/Heinrich geplant und doch in ihrem theoretischen Hintergrund sowie der baulichen Umsetzung höchst unterschiedlich. 194  Atteslander, Peter: Dichte und Mischung der Bevölkerung. Raumrelevante Aspekte des Sozialverhaltens. Berlin/New York 1974, S. 29. 195  Ebd., S. 30.

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mungstheorien überdacht: Es wird dargestellt, dass empirisch ermittelte Dichtewerte „…über qualitative Erscheinungen, wie das „Dichteerlebnis“, das ein Bewohner einer bestimmten Siedlung tatsächlich empfindet, überhaupt nichts aussagen können.“196 Abschließend wird der Zusammenhang zwischen stadträumlichen Segregationserscheinungen und sozialer Mischung thematisiert (vgl. Exkurs „Aktive Öffentlichkeit“ und Sozialverhalten): „Räumliche Segmentierung darf nicht als strukturierendes Element sozialer Ungleichheit angesehen werden. Sie ist ausschließlich als Indikator dafür zu sehen. Trotzdem ist zu diskutieren, ob bei der Aufhebung räumlicher Segmentierung subkulturelle Verhaltensweisen, die dem Prinzip der offenen Gesellschaft widersprechen, abgebaut werden.“197 Deutlich wird bei allen angesprochenen Aspekten, dass zwar der Grundgedanke der Verdichtung, Mischung, Flexibilität und Mehrzwecknutzung durchaus seine Relevanz behält, die Forderungen nach differenzierten Betrachtungsweisen aller Aspekte im Gegensatz zu einer unreflektierten Anwendung dogmatisch aufgestellter Prinzipien jedoch einen Mehrwert an Lebensqualität erzeugen kann. Eine weitere Publikation verdeutlicht ebenfalls das Hinterfragen der aufgestellten Planungsprinzipien: Roland Günter stellt in einem Zeitschriftenartikel unter dem Titel „Eine Stadtbeobachtungsmethode“, veröffentlicht in der Stadtbauwelt im Jahr 1973, die These auf, dass eine Mischung der Bevölkerung nicht unbedingt zu einer erhöhten Kommunikation führe, denn eine Kommunikation würde vermehrt zwischen Menschen ähnlicher sozialer Schicht stattfinden.198 Damit wird eines der Hauptargumente des Leitbildes der „Urbanität durch Dichte“, nämlich die Mischung unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen durch das Bereitstellen unterschiedlicher Wohnungstypen, in Frage gestellt. Dagegen argumentiert Peter Atteslander in der Publikation „Dichte und Mischung der Bevölkerung“, dass nachbarschaftliche Kontakte jedoch nicht „…die einzig wünschbaren Werte einer demokratischen Gesellschaft…“199 seien, sondern dass das Kennenlernen alternativer Lebensstile sowie das Erlenen von Toleranz ebenso wichtig seien. Dies würde in gesellschaftlich heterogenen Wohnquartieren ermöglicht.200

196  Ebd., S. 45. 197  Ebd., S. 96. 198  Vgl. Günter, Roland: Eine Stadtbeobachtungsmethode in: Stadtbauwelt Heft 37 1973, S. 64ff. 199  Atteslander, Peter: Dichte und Mischung der Bevölkerung. Raumrelevante Aspekte des Sozialverhaltens. Berlin/New York 1975, S. 71. 200  Vgl. ebd., S. 71.

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Abb. 23: Evry ville nouvelle, Wohnbereiche

Quelle: Kockelkorn, Anne: Wuchernde Wohnarchitektur. Die französischen „Proliférants“ der frühen 70er Jahre als staatliches Experiment. In: Arch+203, 2011, S. 39

Wie dieses Kapitel bereits zeigt, hat das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ (verdichtete) Bebauungsstrukturen unterschiedlichster Art begründet. Im Hinblick auf das Thema der Arbeit, Großwohnkomplexe, zeichnen sich im internationalen städtebaulichen Diskurs und in der Betrachtung der realisierten Projekte drei Entwicklungsstränge ab. Die Komplexbebauung als Stadtzentrum der New Towns der 1950er und 1960er Jahre in Großbritannien (vgl. folgender Exkurs: Die britischen New Towns), wobei der Schwerpunkt eher im administrativen und ökonomischen Bereichen lag und Wohnflächen nur untergeordnet realisiert wurden, die Komplexbebauung als städtebauliche Antwort auf konkrete Planungsaufgaben (z. B. Olympisches Dorf für Olympische Spiele 1972 in München, Habitat 67 für die Expo 1967 in Montreal, Schlangenbader als Überbauung einer Autobahn zur Wohnflächengewinnung) und die Komplexbebauung als Teil einer übergeordneten Stadtplanung mit unterschiedlichen Verdichtungszentren (z. B. das Ihmezentrum im Gesamtkonzept der Stadt Hannover, Komplexbebauungstypen in Stadtzentren der „Villes Nouvelles“ z.B. Evry oder Umbau des Stadtzentrum Ivry-sur-Seine, Paris).201 Gleichzeitig gehören zum übergeordneten Stichwort Komplexbebauung, in deren städtebaulichem Verständnis die genannten Großwohnkomplexe einen Einzelaspekt bilden, ebenfalls die Großstrukturen 201  Vgl. diese und die weiteren Beispiele im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“.

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der Bürozentren der 1970er Jahre (z.B. Bürostadt City Nord, Hamburg) oder großmaßstäbliche Einkaufszentren dieser Zeit (z.B. Zentrum der Nordweststadt). Wie einleitend bereits festgelegt, beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf Großwohnkomplexe als konkrete Planungsaufgabe oder als Teil einer übergeordneten Stadtplanung und auf die in der Definition festgelegte Struktur, die die Funktionen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Verkehr und Freizeit innerhalb einer baulichen Gesamtstruktur verbindet. Damit werden die Bürostädte, die verdichteten Zentren der New Towns oder Einkaufszentren aus der intensiven Betrachtung ausgeschlossen und nur beispielhaft und der Vollständigkeit halber erwähnt. Im folgenden Exkurs wir ein spezifischer Entwicklungsstrang im Städtebau Frankreichs kurz aufgezeigt. Dabei handelt es sich um komplexe Verdichtungszentren in neu gegründeten Städten, die eine Antwort auf die in die Kritik geratenen „grands ensembles“ der Pariser „banlieu“ aufzeigen sollten. Der daran anschließende Exkurs wird die Geschichte der britischen New Towns in aller notwendigen Kürze wiedergegeben und die Entwicklung der Stadtzentren dieser New Towns zur komplexen Bebauungsstruktur aufzeigen. Abschließend wird in einem weiteren Exkurs die Komplexbebauung im Zusammenhang mit den Architekten Friedrich Spengelin und Hanns Adrian als städtebaulicher Baustein der Gesamtplanung aufgezeigt und mit individuellen Randerläuterungen zum übergeordneten Thema Komplexbebauung erweitert. Exkurs: Frankreichs städtebauliche Experimente – Komplexbebauungstypen in den „Villes Nouvelles“ Im Zeitraum zwischen Ende der 1960er Jahre und etwa 1975 entstanden auch in Frankreich, im Rahmen der Planung und Realisierung der „villes nouvelles“, komplexe Bebauungstypen. Dabei spielte die Terrassenbauweise eine übergeordnete Rolle und führte zu Gebäuden aus gestapelten Wohnkuben oder Wohnhügeln. Gefördert wurden diese neuen Wohntypen von staatlicher Seite durch das Programm „plan construction“ das nicht nur innovative und technisch neue Bebauungstypen förderte, sondern gleichzeitig den „Markt für junge Architekten“ öffnete.202 Analog der Zielvorstellungen der Planer von Großwohnkomplexen sollten die Gebäude „[...] die Vorzüge des Eigenheims mit Garten, die Lebendigkeit einer dichten innerstädtischen Bebauung und die Funktionalität einer

202  Vgl.

Kockelkorn,

Anne:

Wuchernde

Wohnarchitektur.

Die

französischen

„Proliférants“ der frühen 70er Jahre als staatliches Experiment. In: Arch+203, 2011, S. 39.

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Abb. 24: Cumbernauld Town Center

Quelle: Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 171, 169

modernen Großwohnsiedlung miteinander verbinden[...]“203 Auch strukturalistische Gestaltungsprinzipien wie Erweiterungsmöglichkeiten im Sinne der Grundstruktur und elementierte Bauweisen kamen in den Entwürfen zur Anwendung.204 Komplexität und Vielfältigkeit in der Gestaltung sowie Aneignung und Identifikation im öffentlichen Raum waren nun auch in Frankreich Schlagworte zur Planung neuer Gebäudestrukturen. Im Gegensatz zu Großwohnkomplexen entstanden jedoch in den Gebäudestrukturen Frankreichs nur in Ausnahmefällen funktional durchmischte Quartiere. Vielmehr wurde der Fokus auf die Funktion des Wohnens gelegt und im näheren städtischen Umfeld, jedoch nicht innerhalb der Gebäudestruktur Einkaufsmöglichkeiten, Schulen oder Büroflächen realisiert.205 Exkurs: Die britischen New Towns und die Entwicklung zur Komplexbebauung Die städtebaulichen Entwicklungen Großbritanniens im 20. Jahrhundert, beginnend mit der Publikation „Garden Cities of Tomorrow“ aus dem Jahr 1902 über den New Towns Act aus dem Jahr 1946 und den verdichteten und funktional durchmischten Stadtzentren der späteren New Towns (z. B. Cumbernauld, 1966) bis hin zu Großwohnkomplexen wie dem Barbican in London (1971–1982),

203  Ebd. S. 37. 204  Vgl. dies und das Folgende: Ebd. S. 38. 205  Vgl. im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“: Stadtzentrum von Ivry-sur-Seine als Beispiel eines realisierten Großwohnkomplexes.

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prägten auch die Entstehung von Großwohnkomplexen in anderen europäischen Ländern. Wie bereits im Exkurs „Die englischen Gartenstädte nach Ebenezer Howard“ erläutert, bildet die Idee der Gartenstadt die Grundlage für den New Towns Act aus dem Jahr 1946, der die städtebauliche Entwicklung neuer (Plan-) Städte als Entlastungszentren für die ständig anwachsenden Großstädte zu planen vorgab. Diese politische Vorgabe unterscheidet sich deutlich von Entscheidungen anderer europäischer Staaten, deren städtebauliche Weiterentwicklung eher in den Randbezirken der Städte oder durch innerstädtische Verdichtung stattfand. „Indeed, it is difficult to imagine that British cities themselves would have reached this conclusion had it not been imposed on them by the central governments town planning theories.”206 Die Entlastungsstädte gemäß des New Towns Acts wurden in einer ersten Phase hauptsächlich im Umfeld großer Städte (London, Newcastle, Glasgow und Edinburgh207) geplant und ihr Standort nach natürlichen Ressourcen und einer günstigen Verkehrserschließung gewählt.208 Die erste Generation der New Towns wurde im Sinne der Gartenstädte Ebenezer Howards in Nachbarschaften von 6.000–12.000 Einwohnern unterteilt und stark mit Grünzügen durchsetzt. „Im Unterschied zu frühen Versuchen wurden ihnen aber von vornherein entsprechende Industrie- und Gewerbebereiche zugeordnet, so dass sie niemals den Charakter von Schlafstädten hatten.“209 Im städtischen Zusammenhang wurden diese Nachbarschaften durch ein übergeordnetes Stadtzentrum ergänzt. Aufgrund der einheitlichen Planung der Städte auf Grundlage von Masterplänen kam bald Kritik an der Monotonie der Städte auf. Während in gewachsenen Städten die Dichte zum Stadtzentrum zunimmt, wurden die „New Towns“ mit einheitlicher Dichte und gleichartiger Bebauung im gesamten Stadtgebiet geplant. Es fehlte die gestalterische Vielseitigkeit gewachsener Wohngebiete. Ein weiterer Kritikpunkt, der an die Kritik an der modernen Stadtplanung

206  Gutheim, Frederick: Europe Offers New Town Builders Experience. In: The International City Managers“ Association (Hrsg.): New Towns. A New Dimension of Urbanism. Chicago 1966, S. 14. 207  Vgl. Karte in: Weyl, Heinz: Stadtsanierung und neue Städte in England. Essen 1961, S. 45. 208  Vgl. Dies und das folgende Kirk, C.W.G.T.: New Towns in Great Britain. In: The International City Managers“ Association (Hrsg.): New Towns. A New Dimension of Urbanism. Chicago 1966, S. 7. 209  Weyl, Heinz: Stadtsanierung und neue Städte in England. Essen 1961, S. 44.

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erinnert, war die klare Trennung der Funktionen, Wohnen, Einkaufen und Arbeiten.210 Neue Erkenntnisse zur Verkehrserschließung und -führung traten in der zweiten Generation der New Towns in den 1950er Jahren in der Vordergrund und die Unterteilung der Stadt in Nachbarschaften verlor an Bedeutung. „Neighbourhoods were out of fashion, although the housing is still subdivided into distinct areas….“ 211 In der Entwicklung der New Towns von Mitte der 1940er Jahre bis Mitte der 1950er Jahre wird deutlich, dass sich die Zentren der „neuen Städte“ von kleinen kulturellen, wirtschaftlichen Zentren mit Einkaufsmöglichkeiten zu verdichteten, funktional durchmischten Orten entwickelten, die als Vorbilder für die Entwicklung der Komplexbebauung in anderen europäischen Staaten angesehen werden können. „[T]here has been a move towards more concentrated towns with improved pedestrian access (itself an excellent thing) to more concentrated city centres: Cumbernauld is the prototype.”212 “With the exclusion of traffic from the inner core it was possible to form a series of urban spaces each of which is designed to be in character with its particular function and as these open-air rooms are linked together it was also possible to create a series of inter-related spaces with spatial continuity, surprises and all the other visual devices which are at the roots of civic design.”213 Auch auf architektonischer Ebene, bei der Gestaltung der Einzelgebäude, sind Veränderungen zwischen den Gebäuden der New Towns erster und zweiter Generation sichtbar. Während die ersten New Towns aus freistehenden, zweigeschossigen Einzelgebäuden bestanden, wurde diese Gleichartigkeit von einer Vielfältigkeit in den Gebäudeformen mit dem Ziel einer höheren Urbanität abgelöst.214 Neben den Wohngebieten waren es jedoch insbesondere die Zentren, die Chancen für architektonische Neuerungen boten.215

210  Vgl. Gibberd, Sir Frederick: The master design; landscape; housing; the town centres. In: Evans Hazel (Hrsg.): New Towns, 1972, London, S. 94. 211  Ebd., S. 93. 212  Self, Peter: Introduction. In: Evans Hazel (Hrsg.): New Towns. London 1972, S. 6. 213  Gibberd, Sir Frederick: The master design; landscape; housing; the town centres. In: Evans Hazel (Hrsg.): New Towns, 1972, London, S. 100. 214  Vgl. Ebd., S. 98. 215  Vgl. Kirk, C.W.G.T.: New Towns in Great Britain. In: The International City Managers“ Association (Hrsg.): New Towns. A New Dimension of Urbanism. Chicago 1966, S. 8.

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Abb. 25: Hook – Entwurfskizzen und Schnitt verdichteter Wohnbereich/„Superblock“ (1963)

Quelle: Attia, Abdallah Abd El Aziz: The neighbourhood as a basic unit in planning new towns and town extensions. Dielsdorf 1963, S. 164, 161

Im Kontext dieser Arbeit ist im Hinblick auf verdichtete Zentren insbesondere die Stadt Cumbernauld herauszustellen. Aufgrund des ansteigenden Individualverkehrs wurden städtebauliche Formen gesucht, die Verkehr und städtische Nutzung verbinden sollten. Cumbernauld „[…] were heralded as a complete breakthrough in that they attempted to create unified town by integrating the housing with a multi-level centre of dominant architectural form.“216 Es entstand ein Stadtzentrum mit unterschiedlichen Niveaus für Fußgänger und den PkwVerkehr, hoher baulicher Dichte und einer übergeordneten Gestaltung, die das Zentrum als großmaßstäbliches Gebäude erscheinen lässt.217 In Cumbernauld wurden neben dem verdichteten Stadtzentrum auch höhere Dichten in den Wohnbereichen erprobt. Die höhere Wohndichte wurde „– außer mit den Rücksichten auf die besonderen topografischen und klimatischen Standortbedingungen – auch damit begründet, dass sich die niedrige Dichte der früher erstellten Neustädte als ein Hindernis für die Ausbildung eines urbanen Bewusstseins erwiesen habe.“218 216  Gibberd, Sir Frederick: The master design; landscape; housing; the town centres. In: Evans Hazel (Hrsg.): New Towns. London 1972, S. 92. 217  Vgl. das Projekt Stadtzentrum Cumbernauld im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“. 218  Weyl, Heinz: Stadtsanierung und neue Städte in England. Essen 1961, S. 51.

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Die Planungen einer weiteren Stadt im Umkreis Londons, Hook, aus den Jahren 1957–1960 zeigt eine Verdichtung der Wohngebiete über das Zentrum hinaus auf. Die Wohngebiete, hier als „super-block“ betitelt, sollten überwiegend aus vier- bis fünfgeschossigen Wohnbauten bestehen, in deren Untergeschossen der Verkehr geleitet wird.219 Die Planungen zeigen ein lang gestrecktes Zentrum an deren Seiten jeweils die Wohnbebauung angrenzt. Die Fußgänger bewegen sich im Zentrum auf der Ebene des ersten Geschosses. Diese Ebene treppt sich in den Wohnbereichen bis auf das Erdbodenniveau ab. Diese Planung, die bereits stark an Großwohnkomplexe erinnert, wurde nicht realisiert. Sie zeigt jedoch, dass schon in den 1950er Jahren in Großbritannien Konzepte für komplexe Bebauungsstrukturen entstanden. Mitte der 1960er Jahre wurden im Kontext der Entwicklung weiterer „New Towns“ Ziele formuliert, die die Städte zukünftig erfüllen sollten. Den Einwohnern sollten beispielsweise Wahlmöglichkeiten im Bereich von Schulen, Einkaufsmöglichkeiten oder Arbeitsstätten geboten werden, indem die klaren Nachbarschaften zu Gunsten von übergreifenden, durchmischten Wohngebieten aufgelöst wurden. Verkehr und Kommunikation sollten sich nicht mehr nur auf die Nachbarschaften beziehen, sondern sich über die gesamte Stadt erstrecken. Die Städte wurden nun mit dem Ziel einer heterogenen Bevölkerungsstruktur geplant und erlaubten Veränderungen und Anpassungen an wechselnde Bedürfnisse. Während die ersten New Towns die Bevölkerung aus den überfüllten Großstädten gewannen, wurde in den 1960er Jahren deutlich, dass die Städte in Konkurrenz zu anderen Wohngebieten standen. So wurde die Attraktivität der Stadt als Ziel herausgestellt. Partizipation wurde gefordert und realisiert, indem möglichst viele Entscheidungen den zukünftigen Nutzern überlassen wurden. Alle Ziele wurden im Planungsprozess in Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit untersucht und sollten so eine funktionierende Stadt generieren.220 Diese Zielvorstellungen und ökonomischen Überlegungen deuteten bereits die Verwissenschaftlichung der Planung an, die in den 1960er und 1970er Jahren große Bauprojekte maßgeblich prägten.

219  Vgl. Dies und das Folgende: Attia, Abdallah Abd El Aziz: The neighbourhood as a basic unit in planning new towns and town extensions. Dielsdorf 1963, S. 151ff . 220  Vgl. Llewelyn-Davies, Richard: Changing goals in design: the Milton Keynes example. In: Evans, Hazel (Hrsg.): New Towns: the British experience. London 1972, S. 105f .

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Exkurs: F. Spengelin und H. Adrian – über Dichte im Städtebau: Komplexbebauung Am Beispiel der Stadt Hannover soll in diesem Exkurs ein Großwohnkomplex im städtebaulichen Zusammenhang vorgestellt werden. Dabei werden zum weiteren Erkenntnisgewinn die Architekten Friedrich Spengelin und Hanns Adrian vorgestellt, um anhand dieser konkreten Personen, die in Deutschland als zwei der Protagonisten des verdichteten Städtebaus in Form von Komplexbebauung anzusehen sind, diesen Bautyp als Planungsaufgabe im spezifischen Kontext der Stadt Hannover zu erläutern. Während das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ in der geschichtlichen Entwicklung von der Kritik am Städtebau der Moderne über verdichtete Satellitenstädte hin zu Ansätzen effizienterer Bodenausnutzung durch neue Bautypen im Zusammenhang mit neuen gesellschaftlichen und hygienischen Anforderungen zu unterschiedlichsten Ausformulierungen gekommen ist, ist die aus dem Leitbild resultierende Komplexbebauung ein spezifischer, großmaßstäblicher Stadtbaustein, der nun im Folgenden unter unterschiedlichen Gesichtspunkten beleuchtet wird. Eine anschauliche Zusammenfassung der Grundprinzipien von Groß(wohn)komplexen und die theoretischen Ideen dahinter, liefert Gerd Neumann rückblickend 1985: „„Komplexbauaufgaben“, um dies vorwegzunehmen, waren eine stadtbaupolitische Fiktion. Sie waren der vergebliche Versuch eine Antwort auf die unabweisbare Kritik der Stadtsoziologie und Umweltpsychologie (die allerdings ihre Antwort auch schuldig geblieben sind) an der Krise der Stadtentwicklung. Komplexbauten wurden gedacht als Mischstrukturen vor allem für Kern- oder „kernstädtische“ Gebiete. Exemplarisch zu besonderen Konditionen auf kommunalen Grundstücken gefördert, sollten sie die Richtung zur Krisenbewältigung weisen, mehr noch: Remedur schaffen. Mit ihnen sollte das Wohnen in der Innenstadt in enger Nachbarschaft gewerblicher Nutzung nicht nur funktional, sondern auch wirtschaftlich tragbar gemacht werden, und zwar durch Kostenlastverteilung auf Grundstücken, die reine Wohnnutzung längst nicht mehr zuließen. Mit ihnen sollten aber zudem „flexible“ oder „variable“ technische Strukturen geboten werden, die einen breiten Umnutzungsspielraum zur Anpassung an fernere städtische Entwicklungen möglich erscheinen ließen. Komplexbau war ein zunächst funktionales Konzept (Mischnutzung, Nutzungsadaptabilität), dann auch ein bau- und stadtbauökonomisches Konzept (denn Wiederbelebung der Innenstadt bedeutet Infrastrukturentlastung), schließlich aber von Anbeginn auch fraglos

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ein technokratisches Konzept. Jedenfalls setzte es die technisch-ökonomische Machbarkeit im Zuge einer forcierten Industrialisierung und lieferte dieser zugleich die Kriterien.“221

Gleichzeitig fasst Martina Düttmann in derselben Publikation die Kritik am Städtebau der Nachkriegszeit zusammen und zeigt die damit verbundenen Wünsche an die komplexeren Stadtstrukturen der 1970er Jahre auf: „[U]nd 1968 spätestens war das Märkische Viertel verdammt. Die Wahrheit lag diesmal auf der Straße, im städtischen Raum, den man wahrnimmt mit einem Blick, und den man kennt. Es war eine Wiederentdeckung voller Leidenschaft. Großstrukturen, die in die Landschaft wachsen, was für ein Irsinn; Grünzüge durch die Stadt, lächerlich, man will doch nicht mit dem Rucksack in die City wandern, die Stadt darf ruhig ein wenig rußig sein und laut und ungebärdig, wichtig ist nur der Kiez und die Kneipe an der Ecke und der kleine Laden von altersher und die Oma, die ihre Ellbogen ins Fenster und an allem teilhat. Aus dieser Wahrheit haben dann die 70er gelebt, aber die 60er, denen alles so aufregend erschien, haben sie vorbereitet.222 Sie verdeutlicht damit den entscheidenden Unterschied zwischen dem Großsiedlungsbau, realisiert in den 1950er und 1960er Jahren und den Komplexbebauungsplänen, deren Umsetzung bis in die 1970er Jahre reichte. Die Aussagen stützen damit die in der vorliegenden Arbeit herausgearbeitete These, dass die Unterschiede zwischen Großsiedlung und Großwohnkomplex trotz zeitlicher Überlagerung inhaltlich durch spezifische Parameter herausgestellt werden können. Weiter stellt Düttmann die Verwissenschaftlichung der Planung in Frage und sieht dies auf Kosten der Wahrnehmung und emotionalen Gestaltung.223 Friedrich Spengelin, 1925 in Kempten im Allgäu geboren, studierte bis 1948 an der TU München. 1951 gründete er zusammen mit seiner Frau Ingeborg Spengelin ein Büro in Hannover, wurde 1961 Professor an der TU Hannover und hatte seit 1966 einen Lehrstuhl für Städtebau, Wohnungswesen und Landesplanung inne. Die städtebauliche Grundhaltung Spengelins wird in einem Interview aus dem Jahr 1985 deutlich: „Nehmen Sie die Hauptüberlegungen, die damals von mir formuliert worden sind, das klingt noch heute unheimlich modern. Wohnruhe, Fußgängerzonen, Wohngassen, Plätze, 221  Neumann, Gerd: Vorwärts zur Industrialisierung der Bauproduktion. In: Urbanität durch Dichte – Die gescheiterte Hoffnung. Bauwelt 48, 76. Jahrgang 1985, S. 357. 222  Vgl. Düttmann, Martina: keine abschließenden Urteile. In: Urbanität durch Dichte – Die gescheiterte Hoffnung. Bauwelt 48, 76. Jahrgang 1985, S. 360. 223  Vgl. Ebd., S. 361.

186 | URBANITÄT DURCH DICHTE? Höfe, Trennung und Verknüpfung privater und öffentlicher Flächen, Konzentration der Bebauung, um so die Zersiedlung zu verhindern. Dabei der Versuch, bestimmte, wichtige Charakteristiken des Einfamilienhauses, das nach wie vor Wunschtraum der Deutschen war, in den Geschoßbau zu integrieren; also jeder Wohnung einen Hobbygarten, einem Großteil möglichst einen zusätzlichen Wohnraum innerhalb der Wohnungen als Do-ityourself oder sonstwas; keine abgeschlossene Küche, sondern in Verbindung mit dem Wohnraum, vor allem auch: kein nutzloses „Abstandsgrün“.“224

Schon während eines Vortrags mit dem Titel „Menschengerechte Wohnungsund Siedlungsformen“ unter dem Thema „Wandel im Wohnungsbau“ im Jahr 1963 zeigte Spengelin diese Grundhaltung anhand geplanter oder realisierter beispielhafter Wohnsiedlungen auf. Er forderte einen „Wandel im Qualitativen“225 und erhebt den Wunsch nach „atmosphärischer Dichte“, „lebendiger Gemeinschaft“, „räumlichen und maßstäblichen Beziehungen der einzelnen Häuser zum Ganzen“226 und hebt gleichzeitig das Terrassenhaus als sinnvolle Bebauungsstruktur im Zusammenhang mit anderen Gebäudetypologien hervor.227 1964 machte Friedrich Spengelin auf die Möglichkeiten der Komplexbebauung aufmerksam, als er in einem Vortrag mit dem Titel „Über Verdichtung“ die Grundideen dieses Bautyps als Antwort auf die zunehmende Kritik am aufgelockerten Bauen aufzeigte. Er kritisierte den Einsatz des Begriffs „Dichte“ als unreflektiertes Schlagwort, denn nicht allein Dichte als Quantität, sondern Wohnwert als Qualität müsste gefordert werden. „Eine Zusammenschau des komplexen Gebildes aus Wohnen, Arbeiten, Verkehr, Versorgung, Innen- und Außenraum, ohne Rücksicht auf Bestimmungen und Gesetze aus einer Zeit, die unsere Probleme nicht kannte. Dann könnte vielleicht diese lebendige, wohnliche, mit dichter Atmosphäre erfüllte Stadt entstehen, die stimulierend auf alle Sinne des

224  Kampffmeyer, Hans/Spengelin, Friedrich/Siedler, Wolf Jobst: „Zu Beginn der 60er Jahre hatten wir das Gefühl: Jetzt müssen wir von Grund auf neu anfangen.“ In: Urbanität durch Dichte – Die gescheiterte Hoffnung, Bauwelt 48, 76. Jahrgang, 1985, S. 328 . 225  Spengelin, Friedrich: Menschengerechte Wohnungs- und Siedlungsformen. Stuttgart 1963, S. 5. 226  Vgl. ebd., S. 10. 227  Vgl. ebd., S. 8.

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Abb. 26: Santa Monica – Entwurf für ein Wohngebiet (1962)

Quelle: Spengelin, Friedrich: Menschengerechte Wohnungs- und Siedlungsformen. Stuttgart 1963, S. 15 Menschen wirkt, eine Stadt, die in neuer Form das enthält, was wir an unseren historischen Städten so lieben, [...]“.228

Spengelin fordert Wohnumgebungen, die maximale individuelle Freiheit gewährleisten, deren Gebäude in einem übergeordneten städtebaulichen Kontext eingebunden sind, sich trotzdem eine Beziehung zueinander behalten und „[…] jedem Element einen unverwechselbaren Platz im Ganzen […]“229 zuweisen. Ein hohes Maß an Verdichtung sieht Spengelin nur durch einen Ausschluss des motorisierten Verkehrs aus dem Wohngebiet als realisierbar an: Die Voraussetzung der Verdichtung von 400 Einwohnern pro Hektar beispielsweise beim Helgoländer Unterland war nach Spengelin, „[…] daß [sic!] kein Kraftfahrzeug die engen Straßen durchfährt.“230 Spengelin hebt das Terrassenhaus als sinnvolle Wohnform in verdichteter Bauweise hervor und lobt sowohl die Verbindung von Innen und Außen durch den geschützten privaten Freiraum als auch durch den Blick ins Freie.231 Während die 1960er Jahre von utopischen Stadtbauentwürfen, der Planung von Megapoli sowie Entwürfen zu stadtübergreifenden Tragstrukturen geprägt 228  Spengelin, Friedrich: Zum Begriff Verdichtung. In: Boeddinghaus, Gerhard (Hrsg.): Gesellschaft durch Dichte. Kritische Initiativen zu einem neuen Leitbild für Planung und Städtebau 1963/1964. Braunschweig 1995, S. 195. 229  Ebd., S. 198. 230  Ebd., S. 202. 231  Vgl. ebd., S. 204.

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waren und Gruppierungen wie Archigram die neuen Städte für neue Gesellschaften prognostizierten, erkennt man in Spengelins Entwürfen Stetigkeit, die von einer grundlegenden Überzeugung seiner Ideen zeugt. Spengelin sieht, trotz des Wandels in den Lebensgewohnheiten der Menschen, trotz der Relativierung von Entfernungen durch neue Transport- und Kommunikationsmittel und trotz einer starken Flächenexpansion in der Agglomeration, dass „[…] das ursprüngliche, das kreatürliche Verhältnis des Menschen zu dem ihn direkt umgebenden Raum das gleiche geblieben ist […]“232 und demnach die direkte Umgebung in menschengerechten Maßstäben und in Vielfältigkeit geplant sein sollte. Selber sieht Spengelin seine Architektur, insbesondere seine Entwürfe für großen Siedlungsbau, als städtebauliche Experimente an, die erst in der Benutzung bewertet werden können um danach „Unzulängliches“ mithilfe dieser Erkenntnisse zu verbessern. Er kritisiert: „Ich habe immer gesagt, daß man im Städtebau echte Experimente machen muß, und was bislang geschah, sind meist keine echten Experimente.“233 In einem Forschungsbericht von 1981 zum Thema „Ergänzungs- und Verbesserungsmöglichkeiten bei Gebäuden und Freiflächen in Wohnsiedlungen der 50er bis 70er Jahre durch integrierte Planung“ arbeiten die Autoren Spengelin und Nagel noch einmal die Kernpunkte der ihrer Ansicht nach funktionsfähigen Siedlungsplanung heraus: Einbindung der Gebäude in das Wohnumfeld, Realisierung eines „grünen Zimmers“ als privater Garten vor dem Haus, als Dachterrasse oder als begrünter Balkon, Familien und altengerechte Wohnformen, Nutzungsvariabilität, Gemeinschafträume als „Voraussetzung für kommunikatives, gesellschaftliches Leben in den Wohnsiedlungen“, die Bildung überschaubarer Räume im Außenbereich und ihre Mehrfachnutzung.234 Abschließend konstatieren die Autoren: „Menschen, deren Privatheit auch im Außenraum geschützt ist, können und werden frei und ungezwungen an der Öffentlichkeit partizipieren“235, was noch einmal den Stellenwart der Verbindung der gegensätzlichen 232  Spengelin, Friedrich: Städtebauliche Planungselemente II Gemeinschaftseinrichtungen und Zentren, Studienheft 5. Nürnberg 1967, S. 26. 233  Kampffmeyer, Hans/Spengelin, Friedrich/Siedler, Wolf Jobst: „Zu Beginn der 60er Jahre hatten wir das Gefühl: Jetzt müssen wir von Grund auf neu anfangen.“ In: Urbanität durch Dichte – Die gescheiterte Hoffnung, Bauwelt 48, 76. Jahrgang, 1985, S. 337. 234  Vgl. Nagel, G./Spengelin Friedrich: Ergänzungs- und Verbesserungsmöglichkeiten bei Gebäuden und Freiflächen in Wohnsiedlungen der 50er bis 70er Jahre durch integrierte Planung. Hannover 1987, S. 332ff. 235  Ebd., S. 334.

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Aspekte von Öffentlichkeit und Privatheit in einem ausgewogenen Maße hervorhebt, damit die Verbindung zu den bereits 1961 aufgezeigten Zielen neuer Großstadtplanung herstellt236 sowie die Kontinuität einiger städtebaulicher Konzeptionen hervorhebt. In weiteren Publikationen, auch im Zusammenhang mit seiner Lehrzeit als Professor in Hannover, erläutert Spengelin in unterschiedlichen Zusammenhängen die oben zusammengefassten Parameter: Über „Großformen“ im städtebaulichen Kontext äußert sich Spengelin dabei in einer Publikation zur Grundlagenvorlesung im Jahr 1972, in dem er kritisiert, dass die Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit in heute nicht mehr erlebbare Strukturen zerfließen würden. Eine Lösung sei eine Zusammenfassung der Hauselemente zu Ensembles, die eine Zwischenposition zwischen Haus und Stadt darstellen und die er als Großform bezeichnete.237 Die gewünschte Komplexität dieser Großformen wird im Folgenden verdeutlichet: „Trotzdem darf die Großform nicht zur Vernachlässigung der Gliederung führen. Denn erst diese Gliederung ist es, die dem Menschen die Möglichkeit gibt, die eigene Körperhaftigkeit mit der des Bauwerks, auch des großen, zu vergleichen. Und diese Gliederung kann nicht bloß graphische Unterteilung der Fassaden sein [...], sie ist voll erfaßbar [sic!] erst durch plastische Durchbildung größerer Bauteile, vor allem aber durch die gegenseitige Überschneidung, die auch die räumliche Tiefe herstellt. Dabei scheint es mir wichtig zu sein, daß [sic!] der Maßstab solcher plastischen Durchbildung nicht vom Äußerlichen einer Fassadendekoration, sondern aus den Grundrissen und ihrer Einordnung in das gesamte Bauwerk abgeleitet wird.“238

Eine Tendenz zur differenzierten Bebauung von Großwohnkomplexen wird im Folgenden deutlich: „Die Überlagerung der Großform mit Elementen des Flachbaus gibt die Möglichkeit differenzierter Gestaltung. Dann entsteht ein System von Bezügen, das von der großen Form bis zu kleinen Einheit reicht, das dem Blick ermöglicht, vom nahen, beinahe Ertastbaren, auch auf das Ferne zu schließen.“239 Deutlich wird in diesen Überlegungen Spengelins die gestalterische Sichtweise der Komplexbebauung. Mithilfe von Wahrnehmungsaspekten wie

236  Vgl. beispielsweise Hans Paul Bahrdt mit der Publikation „Die moderne Großstadt“, 1961. 237  Vgl. Spengelin, Friedrich: Allgemeine Grundlagen der Stadtplanung. Hannover 1972, S. 46. 238  Ebd., S. 47. 239  Ebd., S. 47.

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Differenzierung, Komplexität, Maßstab und städtebaulichem Raum erläutert er seine Haltung zu diesen Siedlungsformen. Hanns Adrian arbeitete bis 1972, wie er selber über sich schrieb, als „Leiter eine kleinen Gruppe von Planern, die die Aufgabe hatte, Ideen zu liefern, die der Euphorie der 60er Jahre entsprachen“240 im Stadtplanungsamt Hannover. Für drei Jahre ging Adrian 1972 nach Frankfurt und wurde Stadtrat für Planung und Bau. 1975 kehrte er als Nachfolger des Stadtbaurates Rudolf Hillebrechts nach Hannover zurück. Adrian veröffentlichte 1973 eine Artikel über „Komplexbebauung im Rahmen der Stadterneuerung und Stadtentwicklung“ und bezog sich dabei in weiten Teilen auf die Planungen des Ihmezentrums in Hannover und die damit in Verbindung stehenden geplanten Komplexbebauungen der Stadt. Das Adrian später selbst lange Zeit im Ihmezentrum lebte, kann als anhaltender Zuspruch gegenüber Groß(wohn)komplexen verstanden werden. Im Jahr 1997 kam Adrian noch einmal auf sein grundlegendes Verständnis des Städtebaus und der notwendigen Verdichtung zurück. Die Hauptmerkmale einer funktionierenden Stadt beschrieb er am Beispiel Berlins als Nutzungsmischung, heterogene Funktionen, urbane Aufenthaltsräume und unterhaltsame Streifräume sowie als die Verknüpfung von Öffentlichkeit und Privatheit.241 „Städte finden im Vergleich zu Suburbia Qualität und Identität in der architektonischen und freiräumlichen Inszenierung eines verbindenden Netzes des öffentlichen Raums.“242 Im Rahmen dieses Exkurses wird nun anhand eines Beitrages von Hanns Adrian zur Komplexbebauung „Ihmezentrum“ in Hannover in Verbindung mit einer übergeordneten Stadtplanung beispielhaft der einleitend dargestellte dritte Entwicklungsstrang von Großwohnkomplexen dargestellt, um das Wissen über die vielfachen Hintergründe der Großwohnkomplexe weiter aufzufächern. Adrian zeigt in einem Artikel aus dem Jahr 1973 unter dem Titel „Planung und Durchführung großer komplexer Bauvorhaben“ seine Definition von Komplexbebauung auf: •

„sie unterscheidet sich in Größe und Investitionsumfang deutlich vom Bisherigen;

240  Adrian, Hanns: Meine 70er Jahre in Frankfurt und Hannover. In: Müller-Raemisch, Hans-Reiner: Leitbilder und Mythen in der Stadtplanung 1945 – 1985. Frankfurt am Main 1990, S. 127. 241  Vgl. Stimmann, Hans (Hrsg.): Von der Architektur- zur Stadtdebatte. Berlin 2001, S. 69ff. 242  Ebd., S. 69.

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sie vereint vielerlei Nutzungen; sie wird durch horizontale und vertikale öffentliche und halböffentliche Verkehrswege erschlossen; sie enthält Gemeinschaftsanlagen; sie ordnet verschiedene Einrichtungen – öffentliche und private Bereiche – bewußt [sic!] einander dreidimensional zu; sie ist in sich umbaubar; sie bildet in sich Innen- und Außenräume; sie lässt sich zu weitläufigen Stadtstrukturen zusammenfügen; sie wird einheitlich betrieben; zu ihrem Betrieb werden alle heute bekannten technischen Möglichkeiten genutzt.“243

Mit dieser Definition verbindet Adrian im Folgenden unterschiedliche Aspekte, die das Entstehen von Komplexbebauung begründen: gute Bodenausnutzung in Innenstadtbereichen und die Infrastruktur in Form von überbauten Verkehrswegen oder eine gezielten Verdichtung der städtebaulichen Struktur an Haltestellen der U-Bahn.244 Damit zielte Adrian bereits auf die städtebauliche Gesamtplanung ab, die zum Ziel haben sollte, jeweils hohe Bebauungsdichten an den Haltestellen der U-Bahn zu entwickeln, die in den Zwischenzonen geringer wird. Gleichzeitig verdeutlicht Adrian jedoch, dass hohe Bebauungsdichten erst dann eine hohe Wohnqualität erreichen können, wenn es gelingt „[…] alle in einem Gebiet notwendigen öffentlichen Einrichtungen, Verkehrswege und Freiflächen in ein Gesamtbauwerk „Stadt“ einzubeziehen, sie also mit privaten Nutzungen zusammen dreidimensional zu organisieren [...].“245 Außerdem geht Adrian davon aus, dass die komplexer werdenden Abläufe des täglichen Lebens in der Stadt mithilfe von komplexen Bauvorhaben eine bessere Zuordnung erfahren.246 Als einer der wenigen Planer von Großwohnkomplexen bezieht sich Adrian explizit auf städtebauliche Utopien wie „Paris Spatial“ von Yona Friedman und geht davon aus, dass ein Zusammenwachsen von mehreren Komplexbebauungen einer Stadt zu „[…] einer neuen Stadtstruktur führen […]“247 kann. In einer Publikation mit dem Titel „Zur Diskussion: Innenstadt“, an der Hanns Adrian als Verfasser 243  Adrian, Hanns/Adrian, Marianne/Zimmermann, Peter: Planung und Durchführung großer komplexer Bauvorhaben. In: Stadtbauwelt Heft 39, 1973, S. 125. 244  Vgl. ebd., S. 125. 245  Ebd., S. 125. 246  Vgl. ebd., S. 126. 247  Ebd., S. 126.

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mitwirkte, werden Großkomplexe als neue städtebauliche Bauform präsentiert. Neben den bekannten Merkmalen wie Nutzungsüberlagerung, hierarchischen Verkehrswegen und Dichte beschreibt Adrian Großkomplexe als spezifische und für die Gesamtstadt wichtige Bausteine: „Großkomplexe werden besondere Attraktionen darstellen, einmal wegen der Vielfältigkeit der Angebote, zum anderen aber auch deswegen, weil in ihnen (z. B. durch vertikale Trennung des Fußgängerverkehrs vom mechanischen Verkehr) die Besucher vor Unzuträglichkeiten der heutigen städtischen Umwelt geschützt werden können. Im Stadtbild werden Großkomplexe durch ihre Größe und Höhe, aber auch durch ihre Differenziertheit und ihre unterschiedlichen und neuen Maßstäbe in Erscheinung treten.“248 Großkomplexe können den Autoren zu Folge darüber hinaus, die in den 1960er/1970er Jahren zunehmende Tendenz unterbrechen, dass die Innenstadtbereiche ausschließlich von Dienstleistungsbetrieben und Warenhäusern besetzt und Wohnungen aus marktwirtschaftlichen Gründen kaum noch angeboten werden. Die Autoren fassen zusammen, dass „[...]in Großkomplexen [...] jeder Funktion die für sie wirtschaftlich optimale Lage zugewiesen werden [kann]. [...] Der Bau von Wohnungen wird möglich, wenn die Grundstückskosten zum größeren Teil von gewerblichen Einrichtungen aufgefangen werden können.“249 Im Jahr 1970 legte das Stadtplanungsamt Hannover ein „Innenstadtkonzept“ vor, das einen Ring aus Großkomplexen um die Innenstadt herum vorsah und damit eine sternförmige Entwicklung der Innenstadt initiieren sollte. Das Konzept sah im Westen eine Komplexbebauung mit einem hohen Anteil an Wohnnutzung (das Ihmezentrum), eine großmaßstäbliche Überbauung des Steintorviertels im Nordwesten, die Bebauung des Raschplatzes im Osten und des Aegidientorplatzes im Süd-Osten sowie ein Regierungsviertel im Süd-Westen vor. Das Zentrum der Innenstadt, der Kröpcke, wurde ebenfalls mit einem städtebaulichen Merkzeichen und einer Verbindung über den Hauptbahnhof bis zum Raschplatz in Form einer im Untergeschoss angeordneten, halboffenen Ladenpassage geplant. Realisiert wurden von dieser Bebauungsstruktur ausschließlich das Ihmezentrum, Teile der Bebauung des Raschplatzes mit Büroräumen und Dienstleistungen sowie das Kröpcke-Center und die Ladenpassage „Passarelle“. Während die Planung des Kröpcke-Centers einige gemeinschaftlich genutzte Räumlichkeiten vorsah, wurde diese Planung später zu Gunsten eines großen Kaufhauses aufgegeben. 248  Landeshauptstadt Hannover (Hrsg.): Zur Diskussion: Innenstadt. Hannover 1970, S. 4. 249  Ebd., S. 8.

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Abb. 27: Entwicklungsschwerpunkte in Hannover (1970)

Quelle: Landeshauptstadt Hannover (Hrsg): Zur Diskussion: Innenstadt, Hannover, 1970, S. 11

Unabhängig von diesem konkreten Beispiel wurden Komplexbebauungen als stadtplanerisches Mittel zum Beispiel in Düsseldorf, München und Frankfurt umgesetzt. Um die Innenstädte vom wachsenden Druck des Tertiärsektors zu entlasten, wurden dezentrale Bürostandorte ausgewiesen, und die ersten großmaßstäblichen Shopping Center außerhalb der Städte wie das Main-Taunus Zentrum bei Frankfurt und das Elbe Einkaufszentrum in Hamburg entstanden.250 Auch Stadtzentren nach dem Vorbild der New Towns, wie zum Beispiel das Zentrum der Nordweststadt bei Frankfurt, wurden realisiert. Die Kritik an diesen Bebauungsstrukturen erhob sich schon früh nach ihrer Entstehung.251 So stand beispielsweise in Hannover der wirtschaftliche Misserfolg des Kröpcke-Centers, des Ihmezentrums und der Bebauung am Raschplatz im Vordergrund der Kritik. Die dem Bau des Kröpcke-Centers zugrunde liegen-

250  Vgl. dies und das folgende: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Bonn 2003, 29ff . 251  Vgl. auch Kapitel „ Die Kritik an Architektur und Städtebau der 1960er und 1970er Jahre“.

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de Idee eines „Bürgerhauses“, „[...] als Gemeinschaftshaus und Kommunikationszentrum geplant […]“252 konnte aufgrund hoher Mietforderungen für den ebenfalls geplanten Einzelhandel im Komplex nicht realisiert werden, sodass das Center umgebaut und von einem großen Kaufhauskonzern übernommen wurde. Weitere Ansiedlungen von Kaufhäusern verdrängten immer mehr den Einzelhandel aus der Stadt. Im Ihmezentrum standen die Wohnungen 1977 ebenso leer wie die Verkaufs- und Büroräume der Raschplatzbebauung.253 Der Autor zitiert in dem Artikel den Stadtbaurat Hanns Adrian und stellt seinen Aussagen die Stimmen von Kritikern gegenüber: Hanns Adrian verteidigt die städtebaulichen Ideen eines Gesamtkonzeptes Innenstadt, die Kritiker hingegen verweisen auf die negativen Auswirkungen der wirtschaftlich geprägten Interessen und auf die „[…] Beton-Unwirklichkeit der neuen City […]“.254 Damit endeten die Planungen zu komplexen Großstrukturen zu Beginn der 1970er Jahre. Das Ende der Komplexbebauung im Kontext städtebaulicher Utopien verlief ähnlich schnell wie die utopischen Entwürfe zu Beginn der 1960er Jahre entstanden: „Denken wir nur an die Bau- und Stadtbauutopien der sechziger Jahre, jene technikbesessene und fortschrittstrunkenen Zukunftsvisionen von Megastrukturen und Großklimahüllen, von clip-on-, plug-in und walking cities. Deren „Zukunft“ war schon Anfang der siebziger Jahre pragmatisch zu einer Mode des Technoiden umgedeutet und alsbald ästhetisch verschlissen, lange bevor sie erreicht war [...]“255 Komplexen Bebauungstypen und damit auch Großwohnkomplexen liegen vielfach strukturalistische Ansätze zu Grunde. Im folgenden Kapitel werden diese Ansätze aufgezeigt und die Vertreter sowie die Hintergründe dieser Architekturströmung im Hinblick auf das Verständnis der Entstehung von Großwohnkomplexen dargestellt. Der Strukturalismus und seine Vertreter Der Strukturalismus als Architekturströmung schließt zeitlich und inhaltlich an den Funktionalismus der „Moderne“ an. In den 1950er/1960er Jahren setzte eine Kritik an der Moderne ein, die in weiten Teilen vom Team Ten initiiert wurde und der eine strukturalistische statt funktionalistische Denkweise zugrunde liegt. 252  N.N.: Duldend den Friedenschutt ertragen. In: der Spiegel 32 1977, S. 115. 253  Vgl. ebd., S. 115. 254  Ebd., S. 116. 255  Neumann, Gerd: Vorwärts zur Industrialisierung der Bauproduktion. In: Urbanität durch Dichte – Die gescheiterte Hoffnung. Bauwelt 48, 76. Jahrgang 1985, S. 355.

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„Diese Architektur- (oder Modernismuskritik) kann auch als umfassende Gesellschaftskritik verstanden werden, die in einer Zeit artikuliert wurde, in der der technologische Fortschritt seine Auswirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung sichtbar werden ließ.“256 Die Kritik an der CIAM-Moderne hatte zum Hintergrund, dass diese funktionalistische Architekturauffassung durch die Auseinandersetzung mit der Technik gestalterisch zu einer „Kargheit“ in der Oberflächenbehandlung und zu „einfachen geometrischen Formen“ sowie zu einer „Neutralität der Architektur“ geführt hätte.257 Die auf städtebaulicher Ebene, insbesondere im Wohnungsbau dominierende Einheitlichkeit der Gebäude und der Verlust des Straßenkorridors wurden kritisiert. Die Strömung des Strukturalismus hatte in diesem Zusammenhang unter anderem zum Ziel, den „Platz“ als städtebaulichen Ort wieder zu etablieren und große, homogene Baumassen in kleinere Einheiten zu gliedern.258 Als geografischer Ausgangspunkt der strukturalistischen Bewegung in Architektur und Städtebau können die Niederlande (Anthrophologie) und Japan (Kybernetik)259 sowie das Team Ten aus Großbritannien angesehen werden. „Dabei bewegt sich die Spannweite vom Rückgriff auf gemeinschaftshaltige Beispiele archaischer Kulturen bis hin zu technologischen Lösungsansätzen.“260 Im Laufe der 1960er Jahre entwickelte sich aus diesen Anfängen der Strukturalismus zu einer weltweit anerkannten Architekturströmung und die Grundströmung des anthropologischen Strukturbegriffs verband sich mit dem kybernetisch geprägten Begriff.261 Die Bezeichnungen „Strukturalismus“ oder „Strukturismus“ können dabei auf Piet Blom (Niederlande, Mitte der 1960er Jahre) und Kenzo Tange (Japan, 1966) zurückgeführt werden.262 Die CIAM Tagung in Otterlo im Jahr 1959 gilt als ein Wendepunkt vom Funktionalismus zum Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Der CIAM Kongress war bestimmt von der Idee des menschlichen Zusammenlebens statt funktionaler Organisation, was einen Bruch zum Leitbild der funktionalen und 256  Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 9. 257  Vgl. ebd., S. 25. 258  Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 42 und Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 30. 259  Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 52. 260  Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 39. 261  Vgl. ebd., S. 90. 262  Vgl. ebd., S. 33.

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aufgelockerten Stadt der Nachkriegszeit darstellte.263 Die Kritiker des Funktionalismus, unter anderen das Team Ten, Kenzo Tange und Louis Kahn264, lösten eine Änderung der städtebaulichen Grundkonzeption aus265 und forderten die offizielle Auflösung des CIAM.266 Schon seit 1953 wurden im Rahmen der CIAM Tagungen strukturalistische Themen diskutiert.267 Im Jahr 1956, während der CIAM Tagung von Dubrovnik, wurden Begriffe wie Struktur, Bewegungssystem, Wachstum und Veränderung, Städtebau und Wohnmilieu diskutiert und in das Begriffsrepertoire der Architekten aufgenommen.268 Im Rahmen des strukturalistischen Denkens wurde die „Raum-Zeit Konzeption“ des Funktionalismus durch die „Ort-Ereignis Konzeption“ ersetzt, die, entgegen dem funktionalistischen Ansatz, den Menschen mit einbeziehen sollte.269 Haus, Straße, District und Stadt, in Zusammenhang mit den dort jeweils entstehenden unterschiedlichen Kontaktgemeinschaften, ersetzten die vier Funktionen Arbeiten, Wohnen, Erholen und Verkehr.270 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird das Thema des Strukturalismus im Hinblick auf die Untersuchung der Großwohnkomplexe thematisiert und erhebt dabei nicht den Anspruch einer vollständigen Wiedergabe aller verwandten Entwicklungen.271 Großwohnkomplexe können, das wird dieses Kapitel zeigen, klar den Definitionen und Denkansätzen des Strukturalismus zugeordnet werden. Die Strömung des Strukturalismus kann damit ein übergeordnetes Verständnis für die bereits im Kapitel der Begriffserläuterung diskutierten Themen wie Komplexität, Mehrfachnutzung, Multifunktionalität, Dichte oder Urbanität 263  Vgl. Banham, Reyner: Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik? Stuttgart 1966, S. 70ff. 264  Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 10. 265  Vgl. ebd., S. 26. 266  Vgl. Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 32. 267  Vgl. das folgende Kapitel, Team Ten. Dort werden die Ansätze des Team Ten und die Auflösung des CIAM ausführlicher diskutiert. . 268  Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 36. 269  Vgl. ebd., S. 28. 270  Vgl. ebd., S. 30.

271 Zur inhaltlichen Vertiefung des „Strukturalismus“ Vgl. beispielsweise: Valena, Tomas/Avermaete, Tom/Vrachliotis, Georg (Hrsg.): Structuralism reloaded. Rule-based design in Architecture and Urbanism. London 2011 oder allgemeiner: Ehrmann, Jaques(Hrsg.): Structuralism. New Haven, Connecticut 1966.

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Abb. 28: Die Wohnzelle und die Fassadenansicht

Quelle: Severino, Renato: Totaler Raum. Quantität und Qualität im Bauen. München 1971, S. 106, 107

bilden. Die Themen, die später insbesondere auch die Architektur und den Städtebau von Großwohnkomplexen prägten, wie die Kritik am Funktionalismus, die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit und stadträumliche Orientierung, können ebenfalls dem Strukturalismus zugeordnet werden. 272 Der Strukturalismus als architektonische Strömung wird zu Beginn des folgenden Kapitels unter Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte und Protagonisten beleuchtet, um einen Überblick über die Entwicklung zu erhalten. Neben einem Exkurs zur verwandten Strömung des Brutalismus werden das Team Ten und die Denkweisen der beteiligten Architekten und Stadtplaner als beispielhafte Vertreter sowohl des Brutalismus als auch des Strukturalismus näher vorgestellt. Ein weiteres Unterkapitel trägt den Titel „Trägerstrukturen, Architektur als Halbprodukt“ und thematisiert Herman Hertzbergers Interpretation des Strukturalismus. Im anschließenden Kapitel werden Entwürfe zu utopischen Megastrukturen aufgezeigt und damit der architektonische und städtebauliche Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis hergestellt. Strukturalismus Die Grundhaltung des Strukturalismus als allgemeine geistige Strömung geht von der „Struktur“ aus, einem erweiterbaren „Ganzen“ im Sinne der Gestalttheo272  Vgl. zu den Begriffen das Kapitel „Forschungshintergrund“.

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rie. In den Betrachtungsweisen und Präsentationstechniken der Strukturalisten wandelten sich die Konzepte zu Ansichten von oben, die die erweiterbaren, modulhaften Strukturen veranschaulichten.273 Im städtebaulichen Zusammenhang kann der Strukturalismus als Grundkonzeption angesehen werden, die auf dem Verständnis eines neuen Formbegriffs basiert und auf einem Leitbild der urbanen und mannigfaltigen Stadt aufbaut.274 Die Form löste sich von der spezifischen Funktion, was die Voraussetzungen für Flexibilität, Mehrfachnutzung und Nutzungsüberlagerung bieten sollte und eine Mitbestimmung der Nutzer ermöglichte.275 Das Lösen der Architektur von einer klar definierten Funktion führte demnach zu komplexeren Entwürfen, die eine Vielzahl unterschiedlicher Bedingungen erfüllen konnten. Gemäß der beschrieben Definition des Komplexitätsbegriffs kann dabei dieses „komplexe System“, im Umkehrschluss nicht vereinfacht werden, ohne dass Teile seiner Bedeutung zu verlieren.276 Im städtebaulichen Kontext wurde insbesondere der Sinn für Außenräume (städtische Innenräume), der „Sinn für Plätze, Imagebildung, Stadtgestalt“277 relevant. Städtische Räume erhielten eine neue Aufmerksamkeit und das Verhältnis von Stadt zu Gebäude wurde thematisiert.278 Auf architektonischer Ebene, und dort insbesondere im Wohnungsbau, entstanden, in Abkehr zur thematisierten Einheitlichkeit der Fassadengestaltung der Moderne, komplexere und skulptural geprägte Gestaltungsansätze. Ein „Leitmotiv der Architektur der 1960er Jahre ist das Gestalten mit kubischen, zylindrischen, polygonalen oder auch völlig freiplastischen Volumina, die den Fassaden oder dem ganzen Baukörper nahezu skulpturale Qualitäten verleihen.“279 „Die Entwicklung ging allgemein zum Ungeschliffenen, Kompakten, Elementaren [...] zu einer Brutalisierung der gestalterischen Mittel[...].“280 Gleichzeitig ent273  Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 68. 274  Vgl. ebd., S. 66. 275  Vgl. ebd., S. 66. 276  Vgl. Kapitel „Komplexität und Struktur“. 277  Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 68. 278  Vgl. Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 91. 279  Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Bonn 2003, S. 14. 280  Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Bonn 2003, S. 14. Vgl. ebenso „Exkurs: Brutalismus“ in diesem Kapitel.

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Abb. 29: Strukturalistische Gestaltung

Quelle: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Bonn 2003, S. 17

stand im Sinne des Strukturalismus seit 1953 eine Gliederungsmethodik großer Baumassen. Grundlegend ist dabei der Wunsch nach einer Anpassung der Fassadengestaltung an den menschlichen Maßstab. „Strukturgebend ist insbesondere das Maß der Wohnzelle, die nun visuell erlebbar wird.“281 Neben dem städtebaulichen und architektonischen Verständnis ist der Strukturalismus übergeordnet eine „Denkart“ des 20 Jahrhunderts, die unter Anderem in Kunst, Anthropologie oder Philosophie zum Ausdruck kam. Als Grundprinzip kann das Sprachmodell von Ferdinand de Saussure herangezogen werden.282 „Für de Saussure ist die Sprache (Langue) ein kollektives System, worin der individuelle Mensch spricht (Parole). Die Langue ist unbewußte [sic!] Realität, die das Sprechen strukturiert.“283 Für die Strukturalisten ist eine Struktur „[...]ein Ganzes von Beziehungen, worin die Elemente sich verändern können und zwar so, daß [sic!] diese vom Ganzen abhängig bleiben und ihre Sinn erhalten. Das Ganze ist selbständig in Bezug auf die Elemente. Die Beziehungen der Elemente sind wichtiger als die Elemente selbst. Die Elemente sind auswechselbar, nicht aber die Beziehungen.“284 Auf dieser Verständnisebene hat nach Wilhelm van Bodegraven (1952) der Strukturalismus das Ziel, erweiterbare Strukturen zu 281  Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 106. 282  Vgl. zur intensiveren Beschäftigung mit dem Thema: Brügger, Niels/Vigso, Orla: Strukturalismus. Roskilde 2002. Aus dem Dänischen übersetzt von Elisabeth Bense. Paderborn 2008. 283  Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 14. 284  Ebd., S. 16.

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schaffen, die von Beginn an und in der gesamten Entwicklung eine „Gestalt“ bilden. Das Raster wurde damit zu einem Ordnungsprinzip.285 Im Strukturalismus werden demnach die Einzelteile einer Struktur nicht autark betrachtet, sondern immer als (Bestand-) Teil eines Ganzen. Der „Existenzialismus“, das Ego, steht damit dem Strukturalismus, der Struktur, gegenüber.286 Im Rahmen der Fortschrittsgläubigkeit und der Verwissenschaftlichung der Planung entstand nun auch, unterstützt von der Publikation „Logik der Baukunst“ aus dem Jahr 1963287 und später der Publikation „Architektur als Zeichensystem“ (1971)288, eine Theoretisierung der Gestaltung und des Entwurfes. Dabei lag „[…] das Versprechen der „strukturalistischen Semiotik“ für die Architekturtheorie [...] vor allem in dem generativen, produktiven Aspekt des Begriffes „Struktur“ selbst [...].“289 Im städtebaulichen und architektonischen Zusammenhang prägten insbesondere die Metabolisten um Kenzo Tange und das Team Ten, unter anderen mit Vertretern wie Peter und Allison Smithson, Aldo van Eyck, Herman Hertzberger und Jacob Bakema, die Entwicklung des Strukturalismus. Unter dem Aspekt der Kommunikation gehörten für Kenzo Tange „Kommunikationskanäle in verschiedenen Ausführungen [...] zu jenen Grundlagen, mit denen wir den funktionellen Einheiten von Städten oder riesigen Gebäudekomplexen Struktur verleihen.“290 Dreidimensionale Kommunikationsmuster, die Thematisierung des „Innen und Außen“ und die damit in Verbindung stehenden Übergänge von Öffentlichkeit zu Privatheit finden sich in Entwürfen von Kenzo Tange, Herman Hertzberger und Aldo van Eyck wieder.291 Im Gegensatz zur weiter unten thematisierten Strömung des Architektur-Anthropologen, die den Fortschritt in der Analyse archaischer Grundstrukturen des Menschen sehen, glaubt Kenzo Tange an die „Veränderungsfähigkeit des Menschen“ und plädiert

285  Vgl. ebd., S. 42. 286  Vgl. ebd., S. 16. 287  Vgl. Conrads, Ulrich (Hrsg.): Norberg-Schulz. Logik der Baukunst. Aus dem Englischen

von

Joachim

Neugröschel.

Oslo

1963,

2.

dt.

Auflage

Braun-

schweig/Wiesbaden 1980. 288  Vgl. Carlini, Alessandro/Schneider, Bernhard (Hrsg.): Architektur als Zeichensystem. Tübingen 1971. 289  Schneider, Bernhard: Modelle von anderswo. In Bauwelt 48, 1985, S. 379. 290  Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 50. 291  Vgl. Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 96f.

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für eine „[…] entwurfsthematische Behandlung technischer Neuerungen und kultureller Veränderungen […]“292 (kybernetischer Strukturbegriff). Unter soziologischen Gesichtspunkten wurden im Kontext des Strukturalismus räumliche Bindungen gesucht und „[…] vor allem menschliche und soziale Faktoren wie „Assoziations-Hierarchie, Gemeinschaftsgefühl, Mitbestimmung […]““293 erhielten einen entscheidenden Stellenwert. Nach Louis Kahn war der Sinn für öffentliche Plätze in der modernen Stadtplanung verloren gegangen. Kahn sah die Begegnung von Menschen im öffentlichen Raum „[…] als Wesen und Ursprung der Stadt an.“294 Eine Aneignung der baulichen Struktur und Veränderbarkeit sollte die neue Architektur bieten, ohne die spezifische Formidentität zu verlieren.295 Es wurde nach Formen gesucht, die „[…] vielfältigste Interpretationsmöglichkeiten eröffnen.“296 Es wird jedoch in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass Aneignungsfähigkeit nicht mit „nicht gestalten“ gleichgesetzt werden sollte, sondern nur durch neutrale Gestaltung Möglichkeitsräume zur Aneignung aufzeigt.297 „Die Form soll nach Hertzberger deshalb nicht nur für einen Zweck flexibel und neutral sein, sondern verschiedene Bilder in unterschiedlichen Situationen erzeugen, soll Bedeutung aufnehmen und wieder abgeben.“298 Ebenfalls im soziologischen Kontext suchten die „Architektur-Anthropologen“ aus den Baustrukturen der „Primitiven“, Urvölkern und ihren traditionellen Lebensweisen, neue Konzepte für eine zeitgenössische Gestaltung der Umwelt. Die Architekten bezogen sich dabei ebenfalls auf die Kritik an der technikorientierten Architektur der Zeit und hatten zum Ziel mit der „[…] Freilegung verschütteter Kulturschichten Erkenntnisse über die ursprünglichen Bedürfnisse des Menschen […]“299 zu erlangen. Zu den Architektur-Anthropologen gehörte neben Herman Hertzberger, Aldo van Eyck und Herman Haan auch Jacob Bakema.

292  Ebd., S. 83. 293  Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 42. 294  Ebd., S. 28. 295  Vgl. ebd., S. 58. 296  Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 110 297  Vgl. Nach Hertzberger in Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 64. 298  Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 103. 299  Ebd., S. 81.

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Abb. 30: Strukturalismus – Herman Hertzberger, Bürogebäude (1972)

Quelle: Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 83

Wichtiger Bestandteil des Strukturalismus nach Aldo van Eyck ist das „Reich des Zwischen“. Damit ist von van Eyk der Raum zwischen Individuum und Gesellschaft (Öffentlichkeit und Privatheit) gemeint, die er anhand einer Schwelle thematisiert: „Eine Türe ist ein Ort, geschaffen für eine Ereignis.“300 Für van Eyck änderte sich mit dem Strukturalismus die Beziehung zwischen Architektur und Städtebau: Während der Funktionalismus eine klare Trennung von beiden Disziplinen vollzogen hatte und der künstlerischen Anteil dem funktionalistischen untergeordnet wurde, wurde nun vom Team Ten der Begriff ArchitektUrbanist genutzt.301 Nach Hertzberger geht mit der wachsenden Bedeutung des gemeinschaftlichen Raums das Gebäude immer mehr zum Wohngewebe mit der Wohnzelle als kleinste Einheit über. Die öffentlichen Räume im Gebäude und die Relativierung „[...]des Begriffs Stadt (durch Betonung des Drinnen-Seins) verundeutlicht die Grenze zwischen Gebäude und Umgebung und als letzte Konsequenz verschwindet sie.“302

300  Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 32f, vgl. auch Einleitung zum Kapitel: Ort – Ereignis Konzeption. 301  Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 34. 302  Ebd., S. 54.

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Eine klare Zuordnung von Innen im Gebäude und Außen erscheint nicht mehr existent. Das Gebäude geht in die Stadtstruktur über, der Stadtraum wird zum städtischen Innenraum.303 Die (architektonische) Form, die der Betrachter als Objekt wahrnimmt, wandelt sich im Strukturalismus zu einem Verständnis von der Form als Bedeutungsund Inhaltsträger. „Es geht uns um die Wechselwirkung von Form und Nutzer, was sie einander überbringen und wie sie einander gegenseitig in Besitz nehmen.“304 Exkurs: Brutalismus Der Brutalismus als Architekturströmung wurde ebenfalls von Mitgliedern des Team Ten bereits in den 1950er Jahren thematisiert und überlagert sich dabei mit der Entwicklung des Strukturalismus. Dabei ist jedoch anzumerken, dass der Begriff „Brutalismus“ den für die Architekten wichtigen Aspekt sozialer Bedürfnisse kaum auszudrücken vermark: „The new Brutalism […] is a somewhat misleading title. […] The name suggests exclusively form-interested movement, and neglects the social concerns of this group which were to be influential in the areas of housing and community patterning.”305 Entgegen dem Strukturalismus entwickelte sich der Brutalismus auch nicht aus der Kritik an der „modernen Architektur“, sondern als eine „evolutionäre“ Bewegung, eine „neue Interpretation bisher in der Moderne verankerter Prinzipien“306 und kann als Übergangsströmung zwischen „Moderne“ und Strukturalismus angesehen werden. Dabei bilden später die Grundsätze des Brutalismus die Grundlagen des Strukturalismus.307

303  Vgl. ebd., S. 54. 304  Zitiert nach Herzberger in ebd., S. 56. 305  Landau, Royston: New Directions in British Architecture. New York 1968, S. 26 306  Joedicke, Jürgen: Moderne Architektur. Stuttgart 1969, S. 109. 307  Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 68.

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Abb. 31: Beton brut – Unité dʼhabitation Marseille (1947)

Quelle: Banham, Reyner: Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik? Stuttgart 1966, S. 21, 22

Unter dem Begriff „The New Brutalism“ entwickelte das Team Ten ein radikales Architekturverständnis, welches die „Moderne Architektur der damals verbreiteten reinen Formen“308 thematisierte. Der „New Brutalism“ umschrieb dabei vielmehr „[...]ein Programm oder eine Einstellung zur Architektur“309 als die reine „Ästhetik“ der Gebäude. Begriffe wie Verantwortung, Wahrheit, Objektivität, Material- und Konstruktionsgerechtigkeit sowie Ablesbarkeit310 machen die architektonische wie gesellschaftliche Grundhaltung der „Neuen Brutalisten“ deutlich. Als eine bauliche Verkörperung des Begriffes „Brutalismus“ kann die schon im Jahr 1947 erbaute „Unité dʼHabitation“ von Le Corbusier in Marseille angesehen werden, wobei der in diesem Zusammenhang benutzte Ausdruck „béton brut“ (französisch für Sichtbeton) das Wort Brutalismus in seinem heutigen Sinn prägte. „Und wenn es eine verbale Erklärung dafür gibt, daß [sic!] der Begriff Brutalismus in die meisten Sprachen der westlichen Welt aufgenommen wurde, so ist es die, daß [sic!] Le Corbusier selbst diesen Beton als „béton brut“

308  Banham, Reyner: Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik? Stuttgart 1966, S. 10. 309  Ebd., S. 10. 310  Vgl. Joedicke, Jürgen: Moderne Architektur. Stuttgart 1969, S. 109.

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bezeichnete.“311 Entgegen der früheren, modernen Architektur Le Corbusiers begriffen die Architekten des Brutalismus „[...]das Bauwerk als ein von innen nach außen zu entwickelndes Gebilde und weckte[n, K.B.] wieder den Sinn für die plastischen Qualitäten der Raumbegrenzung.“312 Die Gliederung der Baukörper und das Grundprinzip des Zusammensetzen eigenständiger Raumgruppen zu einem Ganzen313 greift der Entwicklung des Strukturalismus voraus und überlagert sich mit ihr. Zu Beginn der 1970er Jahre breiteten sich diese Grundsätze visuell im Stadtraum durch realisierte Gebäude aus, wobei die Fassadenkonstruktionen aus Sichtbeton, Stahl und Glas, besonders durch den Bauboom dieser Zeit, noch heute das Bild vieler Städte prägt. Vielfach verwendete Materialien sind unregelmäßige Ziegelsteine oder Stahlbeton, manchmal mit zusätzlicher Oberflächenbearbeitung um den rauen Charakter des Werkstoffes zu betonen. Der hier zum Ausdruck kommende „Oberflächenbrutalismus“ hatte nur noch am Rande mit dem oben beschrieben ästhetischen Verständnis vom Brutalismus zu tun.314 Im Kontext des Strukturalismus änderte sich dieses Verständnis in den folgenden Jahren: „Nicht mehr die Erscheinungsform als Umhüllung des Objektes wird als relevant angesehen, sondern die Form als Träger für Inhalt und Bedeutung.“315

311  Banham, Reyner: Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik? Stuttgart 1966, S. 16. 312  Joedicke, Jürgen: Moderne Architektur. Stuttgart 1969, S. 126. 313  Vgl. ebd., S. 124. 314  Vgl. ebd., S. 124. 315  Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 103.

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Abb. 32: Alison und Peter Smithson – „Streets in the Sky“(1953)

Quelle: Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 33

Team Ten Die Auflösung des CIAM durch das Team Ten im Jahr 1959 markiert einen sich seit längerer Zeit abzeichnenden Wendepunkt in der Geschichte des funktionalistischen Städtebaus der Moderne. Schon bei dem CIAM im Jahr 1953 in Aix-enProvence wurden inhaltliche Neuerungen deutlich, die von den späteren Gründungsmitgliedern des Team Ten ausgingen. Unter dem Thema „habitat“ wurden Entwürfe und Überlegungen zu Städtebau und Architektur vorgestellt und diskutiert.316 Das damals seit einigen Jahren verwendete Präsentationssystem einer Matrix bestehend aus vier Zeilen gekennzeichnet mit den vier Funktionen und Spalten, die den Entwurfsgedanken auf den unterschiedlichen Ebenen der Funktionen darstellten, wurde 1953 von einigen Teilnehmern uminterpretiert und für Präsentationszwecke der eigenen Idee genutzt. Victor Bodiansky, Georges Candilis und Shadrach Woods präsentierten so beispielsweise einen Entwurf für ein Wohngebäude in Casablanca unter intensiver Analyse der Lebensweisen vor Ort und in der Tradition ethnologischer Studien. Mit Fotos von traditionellen Bebauungsstrukturen und analytischen Skizzen entwickelten die Architekten ein auf diese traditionellen Lebensweisen basierendes Bebauungssystem.

316  Vgl. Dies und das Folgende: Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 26ff.

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Abb. 33: CIAM 1953 – „house, street, district city“ statt „Wohnen, Arbeiten, Erholen und Verkehr“

Quelle: Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 52

Im Kontext dieses CIAM wurde also von den späteren Mitgliedern des Team Ten der Mensch in das Zentrum des Interesses gerückt und die vier Funktionen der Moderne verloren in den nächsten Jahren immer mehr an Bedeutung.317 Alison und Peter Smithson präsentierten ihren Entwurf zur „Golden Lane housing competition“, ein mehrstöckiges Wohngebäude, das sich insbesondere durch mehrere im Gebäude integrierte offene Erschließungsstraßen auszeichnet, die mit unterschiedlichen städtischen Funktionen belebt werden sollten. Die Idee der Straße als sozialer Aufenthaltsort wurde dabei in den Fokus der Betrachtung gerückt: “It is the idea of the street, not the reality of the street, that is important – the creation of effective group spaces fulfilling the vital function of identification and enclosure making the socially vital life-of-the-streets possible.”318 Die vier Funktionen Wohnen, Arbeiten, Erholen und Verkehr wurden hier, wie bereits einleitend beschrieben, nun ersetzt durch house, street, district, city. 319 Das 317  Vgl. Ebd., S. 20. 318  Smithson, Alison/Smithson, Peter: The idea of the street has been forgotten. In: Fezer, Jesko (Hrsg.): Housing the street. Halbstarker Urbanismus des Team Ten ab 1953. Berlin 2001, S. 30. 319  Vgl. Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 30ff.

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Ziel des 9. CIAM 1953, eine „Charter of Habitat“ zu verfassen wurde jedoch nicht erreicht. Die daraus resultierende Unzufriedenheit einiger Teilnehmer wurde zum Anlass genommen sich im Jahr 1954 als Vorbereitung auf den 1956 folgenden CIAM zu treffen. An diesem Treffen nahmen unter Anderem Jacob Bakema, Aldo van Eyck und Peter Smithson teil und entwickelten eine „Statement of Habitat“ was rückblickend als ein Gründungspapier des Team Tean angesehen werden kann.320 Bis zum Jahr 1956 fanden weitere Treffen des „Team Ten“ statt, wobei die Mitglieder unter anderem den folgenden CIAM in Dubrovnik (1956), ebenfalls unter dem Thema „habitat“, vorbereiteten. In der Vorbereitung auf den Kongress und in Ihren Präsentationen wurden die Begriffe „identity“, „association“, „cluster“ und „mobility“ herausgearbeitet, was eine klare Abkehr von funktionalistischen Denkweisen bezeugte.321 „The Smithsons said the scroll [Serie von Diagrammen, die ihre Ideen verdeutlichten, K.B.] was about „the problem of identity in a mobile society“. They argued that a community should be built up from a hierarchy of associational elements“, and that a designer must aim „to express the various levels of associaton – the house, the street, the district, the city“.”322 Im Anschluss an den Kongress in Dubrovnik folgte 1959 ein CIAM in Otterlo. Obwohl der Titel des Kongresses noch immer „CIAM“ beinhaltete, „CIAM: Research Group for Social and Visual Relationships“, verdeutlicht er gleichzeitig die Veränderungen. Auch die Organisation der Präsentationen ähnelte nun mehr individuellen Gruppendiskussionen in offenen Gesprächsrunden. Der CIAM 1959 in Otterlo sollte das Ende der Kongresse bedeuten. In Otterlo wurden erste strukturalistisch anmutende Entwürfe vorgestellt, wie z.B. das Projekt „Municipal Orphanage“ in Amsterdam von Aldo van Eyck.323 Ebenso wurden die Tendenz zur verdichteten Bauweise, der Mischung von Funktionen sowie die Trennung des Auto- und Fußgängerverkehrs bereits in einem Wettbewerbsentwurf von Peter und Allison Smithson für Berlin deutlich (1957–1958).324 Die strukturalistischen Ansätze der erweiterbaren Strukturen wurden in dieser Zeit entwickelt. Insbesondere die Integration des Faktors Zeit im Zusammenhang mit dem Ort wurde thematisiert: „This growing and changing has two aspects, one in place and one in time. [...] A structure can grow, link by link, to chains of such

320  Vgl. ebd., S. 43. 321  Vgl. ebd., S. 50ff. 322  Ebd., S. 50. 323  Vgl. ebd., S. 68ff. 324  Vgl. ebd., S. 76ff.

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Abb. 34: Aldo van Eyck – Municipal Orphanage (1960)/Alison und Peter Smithson – Wettbewerb Berlin (1958)

Quelle: Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 69/79

units: adaptable to several situations. The time aspect leads to more flexible solutions.“325 Trotz des Endes der regelmäßigen CIAM trafen sich die Gruppe des „Team Ten“ ab 1960 nun in unterschiedlichen Konstellationen regelmäßig.326 In den 1970er Jahren wurden die Gespräche vermehrt auch „vor Ort“, im Rahmen von Besichtigungen gebauter Beispiele abgehalten.327 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung und im Hinblick auf die Entwicklung von Großwohnkomplexen sind beispielhaft drei Entwürfe von Georges Candillis und Shadrach Woods aus den frühen 1960er Jahren hervorzuheben.328 Der Wettbewerbsbeitrag für die Universität Bochum (1962) als eine Antwort auf die großmaßstäblichen Gebäudekomplexe und deren Auswirkungen auf den Menschen durch eine Verzahnung der Landschaft mit der Bebauungsstruktur, 325  Bakema, Jacob Berend: Growth and Change. In: Fezer, Jesko (Hrsg.): Housing the street. Halbstarker Urbanismus des Team Ten ab 1953. Berlin 2001, S. 32. 326  1960 Bagnols-sur-Cʼeze, 1962 Royaumont, 1965 Berlin, 1966 Urbino (Vgl. Zeitleiste in: Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 14f). 327  1971 Toulouse Le Mirail, 1973 Berlin, 1974 Rotterdam, 1975 London, 1976 Spoleto, 1977 Bonnieux (Vgl. Zeitleiste in: Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 14f).

328 Zur weiteren Vertiefung der Denkweisen und Projekte von Georges Candillis, Alexis Josic und Shadrach Woods siehe auch: Avermaete, Tom: Another modern. The post-war architecture and urbanism of Candilis-Josic-Woods. Rotterdam 2005.

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Abb. 35: Candillis/Woods – Wettbewerb Universität Bochum (1962)/Candillis / Woods – Wettbewerb Frankfurter Römer (1963)

Quelle: Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 111/133

ein Entwurf zur Überbauung des Frankfurter Römers (1963) mit einem Grundsystem vielfältiger Möglichkeiten, baulich durch drei übereinanderliegende perforierte Plattformen entwickelt, mit einem Raster aus Fußgängerwegen belegt und mit höheren Gebäuden punktuell ergänzt, und später der Entwurf und die Realisierung des Stadtteils „Le Mirail“ in Toulouse (1961–1971) der sich durch eine übergeordnete und ausschließlich fußläufige Haupterschließungsstraße auszeichnet, an welcher alle Funktionen angeordnet wurden.329 Der Verlauf der Haupterschließung wurde auch in diesem Projekt aus der natürlichen Umgebung heraus entwickelt. Grundlage aller Entwürfe bildete das strukturalistische Denken aus Einzelteilen eine modulare, erweiterbare Gesamtstruktur zu entwerfen. Es wird jedoch deutlich, dass der später hinzukommende Wunsch nach städtebaulicher Verdichtung, die die Bebauung von Großwohnkomplexen auszeichnet, in diesen Entwürfen noch nicht thematisiert wird. Eine Zusammenfassung der Ziele des Team Ten, veröffentlicht in einer Spezialausgabe der Zeitschrift Architectural Design von 1961, wird im Katalog zur Ausstellung „housing the street“ aus dem Jahr 2001 widergegeben: „This new beginning, and the long build-up that followed, has been concerned with inducing, as it were, into the bloodstream of the architect an understanding and feeling for the patterns, the aspirations, the artifacts, the tools, the modes of transportation, and commu-

329  Vgl. Erläuterungen zum Projekt „Toulouse Le Mirail“ im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“.

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nications of present day society, so that he can as a natural thing build towards that society“s realisations-of-itself. In this sense Team 10 is Utopian, but Utopian about the present. Thus their aim is not to theorize but to build, for only through construction can Utopia of the present be realized. For them „to build“ has a special meaning in that the architect“s responsibility towards the individual or groups he builds for, and towards the cohension and convenience of the collective structure to which they belong, is taken as being an absolute responsibility. No abstract Master Plan stands between him and what he has to do, only „human facts“ and the logistics of the situation. To accept such responsibility where none is trying to direct others to perform acts which his control techniques cannot encompass, requires the invention of a working-togethertechnique where each pays attention to the other and to the whole insofar he is able. Team 10 is the opinion that only in such a way may meaningful groupings of buildings come into being, where each building is a live thing and a natural extension of the others. Together they will make places where a man can realize what he wishes to be.”330

Weitere Veröffentlichungen über die Grundsätze des Team Ten fanden sich außerdem unter anderem in der Zeitschrift Le Carre Bleu (gegründet 1957–58), deren editoriale Leitung ab 1962 an Georges Candilis überging.331 Eine weitere Zeitschrift, „Forum“ herausgegeben von Aldo van Eyck und Herman Hertzberger rekapitulierte zunächst die Entwicklung des Team Ten aus den CIAM heraus und entwickelte sich später zu einer von den niederländischen Ansichten geprägten Publikation über strukturalistische Denkansätze. Aldo van Eycks strukturalistische Ansichten wurden hier durch Themen wie „Das Reich des Zwischen“ oder „Die Ästhetik der Anzahl“ deutlich.332 Ein weiteres Beispiel für die strukturalistische Prägung des Team Ten ist eine Autobahnstudie der Smithsons, die zu Beginn der 1960er Jahre veröffentlicht wurde. Dabei wurden Straßen und Verkehrswege als Strukturelement der Städte begriffen und entsprechend in einer 330  Fezer, Jesko (Hrsg.): Housing the street. Halbstarker Urbanismus des Team Ten ab 1953. Berlin 2001, S. 6. 331  Vgl. Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 81. 332  Vgl. ebd., S. 83 und vgl. Kapitel 3.3.2 Der Strukturalismus und seine Vertreter. Architekt-Urbanist als Verkörperung einer neuen Entwurfsauffassung von Wohnungsbau und Städtebau/“Die Ästhetik der Anzahl“, Aldo van Eyck z. B. in Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 34 und „Das Reich des Zwischen“, Alison und Peter Smithson z. B. in Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 30.

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Umplanung für London eingesetzt.333 „The most important thing about roads is that they are big, and have the same power as any big topographical feature, such as a hill or a river; to create geographical, and in consequence social, divisions.”334 Trägerstrukturen, Architektur als Halbprodukt335 Im Hinblick auf die folgenden Darstellungen der utopischen Megastrukturen, in denen vermehrt das System einer Trägerstruktur mit integrierten Modulen auftaucht, werden vorher die theoretischen Hintergründe dieser Systeme erläutert. Auf theoretischer Ebene kann das Prinzip von Trägersystemen und integrierten Modulen, von „spontanem Bauen“ und „Gebraucherpartizipation“, als eine „2Komponenten-Bauweise“ beschrieben werden.336 „Bei der [...] 2-KomponentenBauweise ist der Urheber der Grundstruktur jemand anders als der (oder die) Urheber der Einfüllungen. Die Grundstruktur ist dann als selbstständiges Halbprodukt entworfen, das durch die Einfüllungen der verschiedenen individuellen Gebraucher komplettiert wird. So entsteht das Erscheinungsbild der [...] munteren Vielfalt, wo die ästhetische Kontrolle durch eine einzige Person ausgeschlossen ist.“337 Zu einem Leitbild der 2-Komponenten-Bauweise entwickelte sich die Zeichnung Le Corbusiers zum Projekt „Fort lʼEmpereur“ (1932), wo eine Trägerstruktur mit individuellen Wohnungen, Verkehrswegen oder weiteren Funktionen gefüllt wurde.338 Interpretativ kann die Bauweise mit der Entwicklung der (Bewohner-) Partizipation Ende der 1960er Jahre zusammengeführt werden und stellt einen Zusammenhang zur Demokratisierung der Gesellschaft und der damit einhergehende Individualität der Entfaltung her. Als Grundlage der Entwicklung wird heute die Publikation „Die Träger und die Menschen“339 von John Habra333  Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 44. 334  Smithson, Allison/Smithson, Peter: Mobility. In: Fezer, Jesko (Hrsg.): Housing the street. Halbstarker Urbanismus des Team Ten ab 1953. Berlin 2001, S. 21. 335  Vgl. nach Herman Hertzberger in Lüchinger, Arnulf: 2-Komponenten Bauweise. Den Haag 2000, S. 20. 336  Vgl. ebd. in Bezug auf die Publikation von: Habraken, N. John: Die Träger und die Menschen. Amsterdam 1961. 337  Lüchinger, Arnulf: 2-Komponenten Bauweise. Den Haag 2000, S. 18. 338  Vgl. ebd., S. 19. 339  Habraken, N. John: Die Träger und die Menschen. Das Ende des Massenwohnungsbaus. Aus dem Niederländischen von Arnulf Lüchinger, Amsterdam 1961, deutsche Ausgabe: Den Haag 2000.

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Abb. 36: Le Corbusier – Fort LʼEmpereur (1932)

Quelle: Lüchinger, Arnulf: 2-Komponenten Bauweise. Den Haag 2000, S. 19

ken, deren theoretischen Inhalt Herman Hertzberger in unterschiedlichen Entwürfen in die Praxis transformierte, angesehen. Auch Jacob Bakema beschäftigte sich mit dem oben beschriebenen Systemen, wobei bei allen Entwürfen die Partizipation der zukünftigen Nutzer und damit die individuelle Entfaltung im Vordergrund standen. Gleichzeitig sollte diese Struktur nach Herman Hertzberger eine Form bilden, die mit „Inhalten, Werten und Bedeutungen gefüllt“ werden kann und damit eine „Wechselwirkung von Form und Gebraucher“ herstellt.340 Utopische Megastrukturen Insbesondere in den westlich geprägten Industrienationen wie Westeuropa, Japan und den USA entstanden utopische Städtebauentwürfe. Sie basierten auf der Kritik an den bestehenden Städten, dem prognostizierten Bevölkerungsanstieg im urbanen Raum sowie auf neuen technologischen Möglichkeiten.341 1963 veröffentlichte Michel Ragon in Frankreich eine Publikation mit dem Titel „Wo leben wir morgen?“. Darin thematisierte er die durch neue Werkstoffe möglichen, neuen architektonischen Formen, den räumlichen und unterirdischen Städtebau, die Mobilität, technische Aspekte des neuen Bauens und die Freizeit-Ära

340  Vgl. Nach Herman Hertzberger in Lüchinger, Arnulf: 2-Komponenten Bauweise, Den Haag 2000, S. 21. 341 Vgl. Gleiniger-Neumann, Andrea: Technologische Phantasien und urbanistische Utopien. In: Klotz, Heinrich (Hrsg.): Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion. München 1986, S. 56ff.

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als Hintergrund der Entwicklung neuer städtebaulicher Konzepte.342 Nahezu zeitgleich veröffentlichte Fritz Bergtold eine Publikation mit dem Titel „Die Turmstadt“. Darin wurde bis in konstruktive Einzelheiten eine Stadt in einem Turmgebäude für rund 30.000 Einwohner beschrieben, die neben Wohnungen ebenso Schulen, Restaurants oder Kinos beinhaltete. Vorteile seien, so der Autor, kurze Wege, geringer Baulandbedarf sowie die Zusammenfassung und Mehrfachnutzung von Gütern.343 In beiden Publikationen wird dabei deutlich, dass die Autoren den Utopiegehalt ihrer Vorschläge als gering einstuften und sie als die zukunftsfähige Bauweisen ansahen. Rückblickend führt Mechthild Schumpp in ihrer Publikation „Stadtbau-Utopien und Gesellschaft“ eine „[...] ungewöhnliche Steigerung des Produktionsvolumens“,344 „[...] eine starke Tendenz zur Urbanisierung, ein rasches Wachstum der Bevölkerung und teilweise Knappheit an besiedelbaren Bodenflächen“ sowie die überproportional hohe Entwicklung des tertiären Sektors als Hintergrund utopischer Modelle an. „Die Verstädterung der überbevölkerten Erde ist keine ferne Zukunftsvision, sondern ein Vorgang eruptiver Gewalt, dessen Vorboten schon unsere Gegenwart überschatten und die Realität von morgen ankündigen. [...] Sie [die Architekten und Städtebauer, K.B.] haben als ultima ratio für vorhandene oder zu erwartende Ballungsbereiche Planungen aufgestellt, die Verkehr, Arbeit, Erholung und Wohnen in übereinandergeschichtete Ebenen verlegen, und Bebauungsstrukturen entwickelt, die außer dem Raum unter und auf der Erde insbesondere die dritte Dimension, den freien Luftraum, in Anspruch nehmen [...].“345 Auch gesellschaftliche Faktoren wurden genannt, unterscheiden sich jedoch in ihrer Ausformulierung in den unterschiedlichen Ländern. Als weitere Faktoren können die Forschung und der Fortschritt insbesondere im Sektor der Mobilität (Geschwindigkeit), Raumfahrt und die Entwicklung neuer Materialien angeführt werden. Gleichzeitig fand eine deutliche Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten

342  Ragon, Michael: Wo leben wir morgen? Aus dem Französischen von Jörg Sellenriek. Paris 1963, deutsche Ausgabe: München 1967, Inhaltsstruktur und in Kapitel 3.4.1 „Gesellschaftlich-städtebauliche Veröffentlichung“. 343  Bergtold: Fritz: Die Turmstadt. Berlin 1965. 344  Dies und das folgende: Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertationsschrift: Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft. Göttingen 1970, Gütersloh 1972, S. 100. 345  Deutsche Bauzeitschrift (Hrsg.): Verdichtete Wohnformen. Gütersloh 1974, S. 5.

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statt und die Flexibilität und Mobilität der (Stadt-) Bevölkerung nahm zu.346 Im Hinblick auf die Verbreitung dieser städtebaulichen Utopien erläutert Stephan Strauß in einer Untersuchung über die „Raumstadt“ von Schulze-Fielitz, dass es sich bei den utopischen Megastrukturen der 1960er Jahre um besonders medial aufgearbeitete Entwürfe handelte und insbesondere „[…] diejenigen Projekte besonders nachhaltig rezipiert wurden, die prägnante Images bildeten, von erhöhter visueller und ästhetischer Ausdrucksfähigkeit waren.“347 Um die Fülle der utopischen Entwürfe etwas einzugrenzen348, wurden in der vorliegenden Arbeit drei Oberkategorien, Trägersystem und Konstruktion, Freizeitstadt/Fun und Flexibilität sowie Gesellschaftsutopien und Architektur, gewählt, um darin jeweils beispielhaft Architekten oder Architektengruppen sowie zugehörige Entwürfe zu beschreiben. Damit wird die Unterschiedlichkeit und Ausbreitung der unterschiedlichen Ansätze deutlich, ohne den Anspruch auf eine vollständige Darstellung aller utopischen Entwürfe der 1970er Jahre zu erheben. Die bereits erschienene Vielzahl an Publikationen, insbesondere im Zusammenhang mit einer Vielzahl von Architekturausstellungen, erlaubt einen intensiveren Einstieg in diese Thematik.349 Insbesondere die Publikation „Megastructure, urban futures of the recent past“ von Reyner Bahnham aus dem Jahr 1976 soll als Primärliteratur hervorgehoben werden. In dieser Publikation verknüpft der Autor zeichnerisch dargestellte, utopisch anmutende Architekturobjekte und städtebauliche Entwürfe mit realisierten Projekten und zeigt dabei die Machbarkeit utopischer Projekte und die Parallelen zu realisierten Objekten auf. Obwohl sich gesellschaftliche Veränderungen, die Entwicklung neuer Baumaterialien und der technische Fortschritt in allen utopischen Projekten widerspiegeln, sich Entwicklungen überlagern und Bezüge untereinander herzustellen sind, werden zwei Grundtendenzen in der Fülle der utopischen Modelle erkennbar: Auf eher technischer und konstruktiver Ebenen wurden Trägersysteme (in 346  Vgl. Hierig, Thilo C.: Die utopischen Architekturmodelle der 60er Jahre. Dissertation. Düsseldorf 1980, S. 44ff. 347  Strauß, Stephan: Eckhard Schulze-Fielitz und die Raumstadt. Dissertation. Dortmund 2005, S. 143. 348 Zur inhaltlichen Vertiefung vgl. auch Klotz, Heinrich (Hrsg.): Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion. München 1986, S. 116ff und S. 315ff. 349  Vgl. beispielsweise Hierig, Thilo: Die utopischen Architekturmodelle der 60er Jahre. Dissertation. Düsseldorf 1980 oder: Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertationsschrift: Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft. Göttingen 1970, Gütersloh 1972.

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Abb. 37: Kenzo Tange – Überbauung der Bucht von Tokio (1961)/Arata Isozaki – City in the Air (1962)

Quelle: Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 52/Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Dissertation. Gütersloh 1972, S. 115

flächiger, zwei- und dreidimensionaler Ausbreitung und vertikale Baumstrukturen) entwickelt. Eher im gesellschaftlichen Zusammenhang stehen die Projekte der Mobilität und der „Freizeitstadt“ sowie Projekte, die durch utopische Stadtstrukturen eine neue Gesellschaft zu entwickeln versuchen. Die „Metabolisten“ als Vertreter der ersten Kategorie (Trägersysteme und Konstruktion), „Archigram“ als Protagonist der zweiten Kategorie (Freizeitstadt/“Fun“ und Flexibilität) sowie Constant Nieuwhus (Gesellschaftsutopien und Architektur) werden im Laufe des Kapitels beispielhaft näher erläutert. Trägersysteme und Konstruktion Im Zusammenhang mit den beschriebenen Denkmodellen des Strukturalismus und der „2-Komponenten-Bauweise“ entwickelten die Metabolisten, eine japanische Architektengruppe, die sich 1960 aus der Vorbereitung einer Design Konferenz in Tokyo bildete, Raumsysteme auf der Grundlage von Tragwerken und Nutzungszellen. Der Name „Metabolisten“ wurde von den Mitgliedern der Gruppe350 als eine Erläuterung ihrer Denkweise gewählt: Der Begriff Metabolismus, ein griechisches Wort für das Wort „Veränderung“, wurde von Noboin Kawazoe als „Materialfluss und Energieaustausch zwischen lebenden Organis-

350  Mitglieder waren: Fumihiko Maki, Kisho Kurokawa, Kiyonori Kikutake, Masato Otaka, Arat Isozaki.

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men und ihrer Umgebung“ erläutert.351 Kenzo Tange, später einer der Mitglieder der Metabolisten und Teilnehmer der letzten CIAM Kongresse, entwickelte 1959 mit Studenten des MIT352 ein Trägersystem, das auf einem A-förmigen Tragwerk sowohl Verkehrswege als auch Wohnzellen trägt.353 Während die Gebäudestränge in diesem Projekt durch ihre Krümmung einen öffentlichen Innenraum bilden, ist das im Jahr 1961 vorgestellte Projekt der Überbauung der Bucht von Tokyo in einem höheren Maße von einem linearen und erweiterbaren Strukturprinzip geprägt.354 Zwei Autobahnbrücken, von denen die Brücken der Wohngebiete abzweigen, verbinden das nördliche mit dem südlichen Ufer der Bucht.355 Die Struktur schwebt auf 50m hohen Stelzen über der Bucht und vereint städtische Zentren mit Bürohäusern, Einkaufmöglichkeiten und Freizeiteinrichtungen mit Wohngebieten und öffentlichen Grünflächen. Oscar Newman vergleicht die in diesem Projekt auf konstruktiver Weise entwickelte erweiterbare Struktur mit einem Baum, dessen Blätter (Wohn-) Einheiten darstellen, die je nach Bedarf wachsen, herabfallen und neu entstehen. Nur die Trägerstruktur, der Baum, bleibe permanent erhalten.356 Ähnlich bildete sich beispielsweise das Projekt der „City in the Air“ aus: Eine tragende Grundstruktur schafft Raum für flexibel andockbare Wohneinheiten. „Diese Anordnung – Eingelassenheit veränderlicher Kleinelemente in eine dominierende Baustruktur, ihre Unterordnung unter ein einheitliches gestaltendes Strukturprinzip – soll die Lehre des Shintoismus vom ewigen Wandel der Dinge und der Kontinuität des Ewigen im Vergänglichen symbolisieren.“357 Die Grundlagen Tanges Denkens war die Begriffspaarung Struktur und Symbol. Seiner Ansicht nach waren Architektur und insbesondere 351  Vgl. nach Kawazoe in: Lin, Zhongjie: Kenzo Tange and the metabolist movement. New York 2010, S. 22. 352  Massachusetts Institute of Technology. 353  Vgl. dazu den Exkurs dieses Kapitels. 354  Vgl. Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S 51. 355  Vgl. dies und das Folgende: Urban, Florian: Case Study II: Mega-Tokio-Zen versus Hightech in: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 87. 356  Vgl. Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 46. 357  Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertationsschrift: Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft. Göttingen 1970, Gütersloh 1972, S. 113.

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Städtebau vor 1960 von der Idee geprägt, jedem Raum eine spezifische Funktion zuzuordnen. Seit 1960 dagegen entwickelten sich dynamische Systeme, die er mit Struktur umschrieb. „This system should link together spaces of different qualities and regulate growth and transformation of the city.”358 Mit Symbol umschreibt er die Absicht, die (öffentlichen) Räume mit Bedeutungen und Metaphern zu füllen. “Symbolism is significant in urban design because it serves to balance technology and humanity.”359 Es wird deutlich, dass die Projekte der Metabolisten überwiegend auf weitgespannten, langlebigen Primärstrukturen basierten, die mit kurzlebigen Elementstrukturen ergänzt wurden.360 Es entstanden Projekte mit hoher Nutzungsflexibilität durch Erneuerung und ständig der Wandlung unterworfenen Stadtstrukturen. „Die Stadt selbst wird als offenes System betrachtet, das Veränderungen erlaubt.“361 „Etwas stets Wandelbares [...]. Nicht das Fixierte, sondern das Veränderliche und zugleich die Kontinuität im Vergänglichen ist die Grundlage ihrer Denkweise.“362 Gleichzeitig gingen die Metabolisten von einer Neuordnung der Eigentumsverhältnisse aus: Der Boden und das darauf errichtete Trägersystem, die Infrastruktur, gehört dabei der Gesellschaft, Privateigentum besteht ausschließlich in Form der eingesetzten Wohneinheit.363 Unter dem Stichwort des „Urbanisme spatial“ wurden die meist flächigen, eher zweidimensionalen Trägersystemen der Metabolisten durch die dritte Dimension ergänzt und räumliche Tragwerke entstanden.364 Während in den Strukturen der Metabolisten der Schwerpunkt in der Erweiterbarkeit und Erneuerbarkeit lag, sind die räumliche Tragwerke von der Idee der Mobilität und Flexibilität geprägt: „It consists of a three-dimensional infrastructure (multi-deck spaceframe grid). The usable volumes for homes, offices etc. occupy the voids of this infrastructure, and their arrangement or rearrangement follows the will of the inhabitants […]”365 Das wohl bekannteste Beispiel dieser räumlichen Tragwerke ist das Projekt „Ville Spatial“ von Yona Friedman (1959). Friedman erläuterte 358  Lin, Zhongjie: Kenzo Tange and the metabolist movement. New York 2010, S. 175 359  Ebd., S. 177. 360  Vgl. Joedicke, Jürgen: Moderne Architektur. Stuttgart 1969, S. 156. 361  Ebd., S. 156. 362  Hierig, Thilo C.: Die utopischen Architekturmodelle der 60er Jahre. Dissertation. Düsseldorf 1980, S. 62. 363  Vgl. Joedicke, Jürgen: Moderne Architektur. Stuttgart 1969, S. 156. 364  Vgl. Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S 58. 365  Ebd., S 60.

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dazu: „The ville spatiale has a strict, rigid structure, and it“s within this structure that everything is permitted to take place. But the rigid structure provides a basis.“366 Entgegen der beschriebenen Trägerstrukturen der Metabolisten entwickelte Yona Friedman eine Gitternetzstruktur, die unterschiedlichste Möglichkeitsräume eröffnet. Wichtig ist dabei die Gestaltung durch die Bewohner, die aus vorgefertigten Systemen ihre individuelle Struktur erstellen können. „Vorgegeben werden nur die großen Achsen zum Beispiel für den Verkehr und verschiedene Ebenen als Fußgängerpromenaden und Erschließungsstraßen, alles andere bleibt dem individuellen Gestaltungswillen der Bewohner und den Anpassungsforderungen an eine sich wandelnde Gesellschaft überlassen. Nicht mehr der Architekt ist der Erbauer dieser Städte, sondern die Ingenieure, Techniker und Urbanisten und schließlich die Benutzer selbst sind es.“367 In diesem Verständnis sind, ähnlich dem Denken der Metabolisten, die Trägerstrukturen im Gegensatz zur privaten Wohnzelle staatliches Eigentum.368 Die Mobilität, die Yona Friedman als Grundlage seiner Projekte ansah, war für ihn nicht ausschließlich eine Mobilität der individuellen Wohnung und Veränderbarkeit der Architektur sowie der installierten Raumzellen, sondern gleichzeitig eine Mobilität bei „Eigentum, Ehe, Religion und Staat“369, die er Zyklen unterwerfen wollte, deren regelmäßige Erneuerung erst die Kontinuität erzeugen könnte. Ein Auslaufen der Beziehungen oder Verträge automatisch nach einer bestimmten Zeit würde eine neue Mobilität bedingen. Dagegen Gebäude für die Ewigkeit zu bauen erschien Yona Friedman im Rahmen der sich immer schneller ändernden Grundgegebenheiten als nicht mehr zeitgemäß.370 Entgegen der linearen und flächigen Ausbreitung der Tragstrukturen Friedmans wurden ebenfalls punktförmige Trägerstrukturen entwickelt. Die Trichterhäuser von Walter Jonas eröffnen auf geringem Platzbedarf terrassenförmige Wohnstrukturen. Die sich in das Innere des Trichters öffnenden Wohnungen sind durch die Form und Anordnung vom Verkehrslärm geschützt und erlauben 366  Friedman, Yona in: Verlag Buchhandlung Walther König (Hrsg.): Yona Friedman. Hans Ulrich Obrist. Köln 2007, Köln, S. 33. 367  Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertationsschrift: Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft. Göttingen 1970, Gütersloh 1972, S. 134. 368  Vgl. Ragon, Michael: Wo leben wir morgen? Aus dem Französischen von Jörg Sellenriek. Paris 1963, deutsche Ausgabe: München 1967, S. 169. 369  Yona Friedman in: Ebd., S. 165. 370  Vgl. ebd., S. 166ff.

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Abb. 38: Yona Friedmann – Ville Spatial (1959)/Walter Jonas – Trichterhäuser (1961)

Quelle: Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Dissertation. Gütersloh 1972, S. 133/Ragon, Michael: Wo leben wir morgen? Aus dem Französischen von Jörg Sellenriek. Paris 1963, deutsche Ausgabe: München 1967, S. 127

gleichzeitig eine optimale Besonnung der Räume. Eine Vernetzung der Trichterhäuser untereinander mithilfe von Brückenstrukturen, macht aus Einzelgebäuden Stadtkomplexe. Die Trichterhäuser sind „Grundeinheiten eines geschlossenen sozialen und ökonomischen Raumes und damit auch die flexible Struktur einer richtigen Stadt“.371 Während viele der vorgestellten Projekte keinen direkten Bezug zu später gebauten Großwohnkomplexen aufweisen, liegt doch auch das Thema des „Raum-Urbanismus“372, der das Grundkonzept dieser Projekte bildet, den Großwohnkomplexen zugrunde. Robert Le Ricolais wird dazu in der Publikation von Ragon zitiert: „Nachdem die horizontale Straße nicht mehr funktioniert, machen wir sie doch vertikal. Betrachten wir ein Gebäude nicht mehr als „Individuum“, sondern verknüpfen wir sie untereinander. Urbanismus besteht darin, anstelle des einzelnen Objekts die Gruppe zu sehen. Besiedeln wir den Raum auf verschiedenen Ebenen.“373 Freizeitstadt/„Fun“ und Flexibilität Unter der Kategorie der Freizeitstadt/Fun und Flexibilität werden in der vorliegenden Untersuchung nun im Folgenden gesellschaftlich geprägte, utopische Projekte vorgestellt, die die Architektur des Ereignis (Archigram) thematisieren oder das Freizeitverhalten der Städter architektonisch ausdrücken (Leisure City). 371  Ebd., S. 141. 372  Vgl. ebd., S. 118. 373  Ebd., S. 118.

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Abb. 39: Archigram – Plug in City (1964)/Justus Dahinden – AkroPolis (1974)

Quelle: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 140/ETH Bibliothek (Hrsg.): Mensch und Raum. Justus Dahinden. Stuttgart/Zürich 2005, S. 51

Damit standen diese Projekte in einer Wechselwirkung mit der Gesellschaft und bedingten sich gegenseitig. Im Zuge der industriellen Revolution und der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, erhöhte sich der zeitliche Anteil der Freizeit gegenüber der Arbeitszeit und zog eine Veränderung des individuellen Verhaltens nach sich: Urlaub, Unterhaltung oder Sport wurden entdeckt und spiegelten eine neuen Gesellschaft wider. Gleichzeitig wurde die Kommunikation durch Medien und Telefon auch über weite Entfernungen gefördert und persönliche Kontakte wurden in Teilen durch mediale Kontakte abgelöst. Als eine der bekanntesten Architekturgruppierungen in diesem Zusammenhang sind die Herausgeber der Zeitschrift „Archigram“ zu nennen. Archigram374 entstand, wie einige weitere englische Architekturzeitschriften der 1960er Jahre, aus einer Protesthaltung gegen die vorherrschende Architekturausbildung und aus der entstehenden Popkultur heraus. Die Entwürfe die in der Zeitschrift Archigram erschienen, bildeten dabei vielmehr als die Entwürfe der Metabolisten eine Struktur ab, also keinen fertigen Entwurf, sondern eine Denkweise neuer Architektur.375 Auch in diesem Zusammenhang werden „Eindimensionalität und Monofunktionalität“ der bestehenden, städtischen Räume kritisiert. „Zukünftige Architektur muß [sic!] als soziale Kunst eine Umwelt schaffen, die unmittelbar auf die menschlichen Lebensbereiche bezogen ist und der Erfahrung der Menschen neue Dimensionen eröffnet, will sie nicht hinter der anderen, die Freiheit 374  Bestehend u. A. aus Warren Chalk, Peter Cook, Dennis Crompton, David Green, Ron Herron, Mike Webb.

375 Vgl. dazu die Entwürfe zusammenfassend dargestellt in: Cook, Peter/Chalk, Warren/Crompton, Dennis u. A.: Archigram. London 1972.

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einer Gesellschaft begründenden Einrichtungen zurückbleiben.“376 Während die konstruktive Struktur, die bauliche Umsetzung, ähnlich den bereits beschriebenen Tragwerken aus Gitternetzstrukturen mit multifunktionalen Räumen besteht, kommt bei der Gruppe Archigram die Intention hinzu „[...]den Menschen mit der ihn umgebenden festen materiellen Struktur eins werden zu lassen. Der zentrale Gedanke der Archigram-Gruppe [...] ist die Einrichtung der Umwelt als MenschMaschinen-System im Sinne lernender Maschinen unter fortschreitender Substitution der menschlichen Organe.“377 Eine Orientierung der Entwürfe an realen, technischen Innovationen wie der Raumfahrt wird dabei deutlich. Nicht nur durch diese Grundhaltung unterschied sich die Gruppe von anderen utopischen Strömungen, sondern ebenfalls aufgrund der Darstellungstechniken ihrer Ideen. Mit Collagen und Comic-Strips entwickelte Archigram eine eigene ArchitekturSprache und entfernte sich damit gleichzeitig visuell vom Anspruch, realisierbare Systeme zu entwickeln. Sie argumentierten gleichzeitig, dass Sehnsüchte und Stimmungen räumliche Wechselwirkungen entscheidender bestimmen, als materielle Trennlinien und somit „[...]die Kultivierung des Vergnügens ein integraler Bestandteil des Entwurfs“378 wurde. Ähnlichkeit dazu weist der Entwurf Justus Dahindens zur Akro-Polis auf: „AKRO-POLIS als Frei-Zeit-Stadt ist eine Urbanutopie der westlichen Wohlstandsgesellschaft, deren Sozialutopie die FreiZeit-Gesellschaft ist.“379 Basierend auf dieser freizeit-orientierten Gesellschaft, der bereits diskutierten Kritik an der sich flächig ausbreitenden Stadt und der Trennung der Funktionen, entwickelte Dahinden mit der „Leisure City“ einen Entwurf von Wohnhügeln, die sich zum einen durch ihre Struktur von der Umgebung und den störenden Umwelteinflüssen abschotten, gleichzeitig jedoch einen Innenraum eröffnen, in dem „[...]Privatheit und Öffentlichkeit [...] eng und nahe übereinander angeordnet“380 sind. Ähnlich den Ansätzen von Archigram, die eine Verbindung von Mensch und Maschine suchten, wird im Innenraum der AkroPolis die „[...] Stadtkulisse [...]

376  Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertationsschrift: Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft. Göttingen 1970, Gütersloh 1972, S. 162f. 377  Ebd., S. 163. 378  Steiner, Hadas, A.: Within the big structure in: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 129. 379  Dahinden, Justus: Akro-Polis Frei – Zeit – Stadt, Stuttgart, 1974, S. 20. 380  Ebd., S. 8.

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Abb. 40: Justus Dahinden – AkroPolis (1974)

Quelle: ETH Bibliothek (Hrsg.): Mensch und Raum. Justus Dahinden. Stuttgart/Zürich 2005, S. 52

durch raumverändernde Robotmechanismen“381 angepasst. Trotz dieser futuristischen Ansätze sieht Dahinden diese Stadtstruktur als eine realistische Möglichkeit an, bestehende Stadtgebiete durch Einpflanzen dieser Strukturen zu regenerieren und eine dynamische Weiterentwicklung zu fördern. Auf konstruktiver Ebene ähnelt die Akro-Polis den bereits beschriebenen Trägersystemen: Auch hier werden in eine langlebige Trägerstruktur Raumzellen nach dem Prinzip des Clip-on bzw. Plug-in eingeschoben, der innere Öffentlichkeitsbereich wird in modularer Bauweise entwickelt.382 Gesellschaftsutopien und Architektur Zwischen 1950 und 1970 entwickelte Constant Niewhus eine weitere utopische Stadtstruktur, eine Verkettung städtischer Räume auf unterschiedlichen Ebenen die sich, einmal begonnen, netzartig ausbreiten sollte. New Babylon sollte in Sektoren (je fünf bis zehn Hektar) eingeteilt werden, die die Wohn- und Gemeinschaftsräume innerhalb eines Gebäudes vereinen. Während der Erdboden dem Verkehr vorbehalten wäre, stehen die mehrgeschossigen Gebäude auf Stützen. New Babylon war nicht als statisches System gedacht, sondern vielmehr als eine dynamische Struktur bei deren Gestaltung sich die Bewohner individuell

381  Ebd., S. 10. 382  Vgl. ebd., S. 28ff.

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kreativ beteiligen sollten.383 Entgegen der meisten utopischen Stadtstrukturen besitzt New Babylon kein Zentrum, seine Struktur breitet sich gleichmäßig und mit gleichbleibender Dichte über die Landschaft aus. Constant Nieuwhus Idee lag zugrunde, dass der Mensch durch die Automatisierung von der Arbeit befreit sei: „Die zunehmende Automatisierung der Produktion und die damit einhergehende Befreiung von der Notwendigkeit zu entfremdeter Arbeit schufen einen neuen Typus städtischer Nomaden, wenig ortsgebunden, heimatfern, und auf der Suche nach Zerstreuung.“384 Constant Nieuwhus sah in seiner über dem Erdboden schwebenden und flexiblen Struktur die Grundlage für diesen Bürger, dem individuelle Gestaltungsspielräume innerhalb der Großstruktur eröffnet wurden.385 Auf gesellschaftstheoretischer Ebene wird New Babylon als das „[…] experimentelle Denk- und Spielmodell zur Bildung von Grundsätzen für eine neue, andersartige Kultur“386 angesehen. Im Zusammenhang mit den Gesellschaftsutopien Nieuwhus werden auch Friedmans gesellschaftstheoretische Grundlagen aufgezeigt, die über die in dieser Untersuchung dargestellte Kategorisierung utopischer Strukturen hinausgehen. Im Zusammenhang mit der Gruppe GEAM (Groupe dʼEtudes dʼArchitecture Mobile), deren Mitglieder unter anderen Yona Friedman sowie Eckard Schulze-Fielitz und Frei Otto waren, entstand die Grundlage, dass die Struktur aus Trägersystem und einsetzbaren Zellen individuelle und flexible Spielräume für den Nutzer böte.387 Friedman „[...] berücksichtigte auch die Rechte der Bewohner und die Funktion des alltäglichen städtischen Straßenlebens.“388 Mit dieser individuellen Freiheit, die er dem Bewohner im Sinne des Partizipationsgedankens zusprach, grenzte sich Friedman gleichzeitig von den 383  Vgl. Conrads, Ulrich: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Braunschweig, 2. Auflage 1981, S. 171. 384  Maruhn, Jan: Le Corbusier und seine revolutionären Kinder: Von der ville radieuse nach New Babylon in: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 34. 385  Vgl. McDonough, Tom: Metastruktur: experimentelle Utopie und traumatische Erinnerung in Constants New Babylon in: Vgl. van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 97. 386  Conrads, Ulrich: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Braunschweig 1975, 2. Auflage: Braunschweig 1981, S. 170. 387  Vgl. Tan, Pelin: Yona Friedman und GEAM: „Mobile Architektur“ und das Recht auf Unterkunft in: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 113. 388  Ebd., S. 113.

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Abb. 41: Constant Nieuwhus – New Babylon (1950–1970)

Quelle: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 107, 103

„pittoresquen“ und vom Zufall geprägten Entwürfen von Archigram ab, deren Strukturen noch immer gänzlich architektonisch geprägt waren.389 Stephan Strauß fasst in seiner Untersuchung über die Raumstadt von Schulze-Fielitz die grundlegenden Gedanken Nieuwhus und Friedmans gleichermaßen wie folgt zusammen: „…die Vision einer Freizeitgesellschaft, in der die tägliche Arbeit von Maschinen verrichtet wird und für die ein veränderter Städtebau die Möglichkeit zur Zerstreuung und Beschäftigung bieten müsse; ein weltumspannendes urbanes Konzept, das durch ein all-over ohne Zentren im herkömmlichen Sinne einen deutlich anti-urbanen Zug trägt; die Wandelbarkeit innerhalb der Struktur, die einen selbstbestimmten Umgang mit dem Wohnen ermöglichen sollte.“390 Neben diesen Partizipationsgedanken und den Ansätzen einer vermehrt freizeitorientierten Gesellschaft wurden im Rahmen des technischen Fortschritts (Erforschung des Weltraums) aber auch dessen Folgen (Angst vor einem Nuklearkrieg), veränderten Umwelteinflüssen sowie der Notwendigkeit zur Besiedlung unwirtlicher Orte der Erde aufgrund steigender Bevölkerungszahlen (Wüste und Eislandschaften) sowohl unterirdische als auch mit Kuppeln überspannte Städte entwickelt, die die Bewohner vor schädlichen Umwelteinflüssen schützen soll-

389  Vgl. ebd., S. 114f. 390  Strauß, Stephan: Eckhard Schulze-Fielitz und die Raumstadt. Dissertation. Dortmund 2005, S. 72.

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Abb. 42: Archizoom – Aerodynamic City (1969)/Superstudio – The Continuous Monument. Alpine Lakes (1969)

Quelle: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 199/205

ten.391 Konzepte zur vollständigen Klimatisierung einzelner Zellen bis hin zu gesamten Städten wurden entwickelt. Pflanzen sollten auf Nährboden von der eigentlichen Erdoberfläche losgelöst wachsen können und die Konditionierung der gesamten Lebenswelt würde ein von allen Umwelteinflüssen und Klimaänderungen autarkes Leben ermöglichen. Im Rahmen der Überlegungen zu unterirdischen Lagerstellen für große Firmen in Paris schreibt der Autor Ragon: „Man muss auch berücksichtigen, daß [sic!] beim Eingraben der Untergrundstädte die Landschaften in deren Bereich Veränderungen erleiden würden. So wäre es möglich, die enormen, aus dem Bauch von Paris herausgeholten Erdmassen an der Peripherie zu künstlichen Bergen aufzuschütten, die nicht nur ein ideales Wintersportgelände bilden würden, sondern gleichzeitig als Atomschutzbunker ausgebaut werden können.“392 Als Abschluss der Erläuterung utopischer Stadtmodelle der 1960er Jahre sollen die Arbeiten der Gruppen „Archizoom“ und „Superstudio“ nicht unerwähnt bleiben. Die Entwürfe zeichnen sich durch Monumentalität und Gleichförmigkeit sowie spiegelnde Fassaden aus. Grundlage dieser Haltung war

391  Vgl. dies und das Folgende: Ragon, Michael: Wo leben wir morgen? Aus dem Französischen von Jörg Sellenriek. Paris 1963, deutsche Ausgabe: München 1967, S. 177ff. 392  Ebd., S. 157.

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auf ökonomischer Ebene eine effiziente Bauweise für die „zunehmend verarmende und anwachsende Bevölkerung“393, auf symbolischer Ebene die Reflexion einer immer homogener werdenden Umwelt und eine Monumentalarchitektur im architekturgeschichtlichen Verständnis einer „Materialisierung von Ordnungsvorstellungen.“394 Die Entwürfe bilden homogene Strukturen ab, die sich von der Umgebung abschotten und durch künstliche Belichtung und Belüftung eine freie Anordnung aller Funktionen im Raum erlaubt.395

Allen beschriebenen Projekten utopischen Charakters ist der Grundsatz gleich, dass sie in ihrer Projektentwicklung auf einem relativ abstrakten Niveau blieben und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten kaum aufgezeigt wurden. Mit Großwohnkomplexen, der Metastadt in Wulfen, den Gebäuden für die EXPO ʼ67 in Montreal oder dem Centre Pompidou in Paris wurden vereinzelt jedoch utopisch anmutende Projekte realisiert. Denn „[...] aus der Vorstellungswelt der neuen Utopien angeregt, konnten nun realere Großstrukturen entstehen.“396 Der folgende Exkurs wird am Beispiel des Projekts „Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße“ und einem Interview mit dem an diesem Projekt beteiligten Architekten Wolf Bertelsmann eine Verbindung zwischen den beschriebenen Utopien und der Realisierung von Großwohnkomplexen suchen.

393  Stauffer, Marie Theres: Kritik der reinen Struktur: Utopien von archizoom und superstudio in: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 193. 394  Ebd., S. 193. 395  Vgl. ebd., S. 194. 396  Müller-Reamisch, Hans-Reiner: Urbanität durch Dichte in: Müller-Raemisch, HansReiner: Leitbilder und Mythen in der Stadtplanung 1945 – 1985. Frankfurt am Main 1990, S. 65.

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Exkurs: Gebaute Utopie? Eine Autobahnüberbauung als Wohnquartier „Utopien zu schaffen ist ein legitimes Mittel, nach der Zukunft zu suchen.“397

Im Rahmen des folgenden Exkurses wird eine inhaltliche Verbindung zwischen den vorgestellten utopischen Megastrukturprojekten und tatsächlich realisierten Großwohnkomplexen gesucht. Anhand eines konkreten Projekts, der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin, sowie vergleichend dazu anhand eines „utopischen“ Entwurfs, wird eine Verbindung zwischen gebauter Realität und futuristischen Projekten gesucht. Methodisch basiert der Beitrag auf einem Interview mit Wolf Bertelsmann, Architekt aus Berlin, der als Projektleiter maßgeblich am Bau des beispielhaften Projekts, der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße, beteiligt war. Das Interview gibt Aufschlüsse über die pragmatischen Hintergründe und visionären Ideen, die das Projekt initiierten und begleiteten. Der erhoffte Erkenntnisgewinn dieses Exkurses liegt darin zu erkennen, aus welchen Einflüssen heraus das Projekt entstand und wie aus einer Idee ein reales Gebäude wurde. Die Erarbeitung des Kontextes sowie die Projektdarstellungen erfolgen anhand einer Literaturrecherche. Den Gegenpol zu der Projektvorstellung „Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße“ in Berlin bildet ein Projekt, das ebenfalls mit der Zielsetzung entwickelt wurde, durch die Überbauung von Verkehrswegen neues Bauland zu schaffen: das Projekt der Überbauung des Lower Manhatten Highway mit Wohn- und Geschäftshäusern im Rahmen der Studie „New forms of the evolving city“ von Paul Rudolph (1967). Das Projekt wird in Publikationen über den realisierten Entwurf der Autobahnüberbauung in Berlin aufgeführt; ob es als Vorbild diente und ob sich Ideen dieser Überbauung in der realisierten Baustruktur wiederfinden, wird im Folgenden geklärt. Den theoretischen Einstieg und eine frühe und klare Zusammenfassung vieler utopischer Projekte bildet im Kontext dieses Exkurses ein 1968 veröffentlichter Artikel von Lucius Burckhard: Unter dem Titel „Wert und Sinn städtebaulicher Utopien“ beschreibt der Autor die unterschiedlichen Strömungen utopischer Projekte. Dabei arbeitet er zwei Schwerpunkte heraus: Die neue Urbanität im Kontext schnell wachsender Stadtbevölkerungen und den Aspekt der Verkehrsführung. Er kritisiert nicht, sondern stellt Projekte und Strömungen inhaltlich vor, analysiert die Ziele und verdeutlicht damit die theoretische Reflektion, die 397  Burckhardt, Lucius: Wert und Sinn städtebaulicher Utopien in: Schmid, Reinhard (Hrsg.): Das Ende der Städte? Stuttgart 1968, S. 114 .

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Abb. 43: Paul Rudolph – Überbauung des Lower Manhatten Highway (1967)

Quelle: Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 49, 12

diese Projekte erfuhren. Für den Autor waren es nicht nur Utopien oder unrealistische Gedankenspiele. Lucius Burckhard erklärt: „Die meisten technischen Utopien wären technisch durchaus möglich, vielleicht am Anfang etwas teurer, aber sich rapide verbilligend, wie ja auch andere technische Utopien – das Fliegen zum Beispiel – billig oder wenigstens erschwinglich geworden sind. Nein, diese Entwürfe künftigen Wohnens sind nicht von der Technik her Utopien, sondern von der Beschlußfassung: Wann wird die Gesellschaft gesonnen sein, in dieser Weise zu wohnen?“398 Lucius Burckhardt stellt damit schon früh die Unerreichbarkeit von städtebaulichen Utopien in Frage und verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Städtebau und Gesellschaft. Zum Abschluss seiner Ausführung appelliert der Autor an die Gesellschaft: Nicht die Architekten alleine können Stadt und Urbanität verändern: „Wir [die Autoren, K.B.] verstehen die Utopien also nicht als einen Aufruf zu ihrer Verwirklichung – dann wären sie ja keine, – sondern als einen Verzweiflungsschrei der Gestalter an die Gesellschaft, ihnen endlich die doppelte Last der Formulierung und der Lösung der Aufgaben abzunehmen.“399 Überbauung des Lower Manhatten Highway (1967), Paul Rudolph 1967 initiierte die Ford Foundation Planungen zur Überbauung des Lower Manhatten Highways in New York. Die Realisierung des geplanten Highways werde, so die Befürchtung in den 1960er Jahren, tiefe Einschnitte in der Stadt hinterlas398  Ebd., S. 115. 399  Ebd., S. 129.

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sen und unüberwindbare Grenzen innerhalb der Bebauungsstruktur schaffen.400 Daher wurde eine Lösung gesucht, die sowohl eine Verbindung der beiden Seiten herstellte als auch das geschaffene Bauland oberhalb des Highways nutzte. Mit einer Studie über eine solche Überbauung wurde Paul Rudolph beauftragt. Die Planung und Entwicklung des Konzepts dauerte fünf Jahre und wurde im Jahre 1972 unter dem Projekttitel „ New forms of the evolving city“ vorgestellt – zur Realisierung kam sie jedoch nie. Der Architekt plante entlang des linearen Verlaufs des Highways eine Baustruktur, deren Räume sich in einigen Bereichen verdichten und in anderen Bereichen einer geringeren Höhe und offeneren Formen weichen sollten. Zur Überbauung wurde eine terrassenförmige Struktur gewählt, deren Funktion von Wohn- über Büro- bis hin zu öffentlichen Gebäuden führen sollte. Bilder und Modelle illustrieren anschaulich die Tragstruktur und die Potenziale der Wohnund Arbeitswelt: „These mega-structures of the future proposed housing with roof gardens, offices with balconies and civic and leisure complexes with highlevel walkways enjoying spectacular views over the city and the ocean beyond.“401 Aus den Zeichnungen geht hervor, dass gemäß Paul Rudolphs Vorstellung nicht nur der Highway überbaut werden sollte, sondern auch die Gebäude Raum für weitere Verkehrsmittel bieten könnten. Das Gebäude würde somit nicht nur die herkömmlichen Funktionen wie Wohnen, Arbeiten und Freizeitvergnügen beinhalten, sondern böte die Chance, einen Großteil des innerstädtischen Verkehrs in diesem Bereich zu bündeln. Auch in Deutschland wurde das Konzept der Überbauung von Verkehrswegen in unterschiedlichen Projekten untersucht. So entstanden Ende der 1960er Jahre Entwürfe zur Überbauung des Kölner Westbahnhofs und des Münchener Hauptbahnhofs mit terrassierten Punkthochhäusern.402

400  Vgl. dies und das Folgende: Monk, Tony: The Art and Architecture of Paul Rudolph. London 1999, S. 71. 401  Ebd., S. 72. 402  Vgl. Schneider-Wessling, Erich: Fluxus + urbanes Wohnen. Bauten und Visionen der 60er Jahre von Erich Schneider-Wessling. Köln 1999, S. 39.

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Abb. 44: Georg Heinrichs und Partner – Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße Berlin (1971 – 1982)

Quelle: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 79, 83

Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße (1971–1982): „Der letzte Dinosaurier“403 Im Jahr 1971 entstand im Büro des planenden Architekten Georg Heinrichs und Partner die Idee, die im Planungsprozess befindliche Randbebauung einer neuen Autobahntrasse in Berlin Wilmersdorf durch die Konzeption der Überbauung der Autobahn zu ersetzen. Während in vorangegangenen Planungsstadien unterschiedliche Entwürfe zur Bebauung des Gebiets mit Zeilenstrukturen und unter Berücksichtigung des Schallschutzes sowohl für die neue als auch für die bestehende Bebauung des Quartiers vorgelegt wurden, entwickelte sich nun die pragmatische Idee, man könne die Autobahn doch terrassenförmig überbauen.404 „Was bei flüchtiger Betrachtung zunächst utopisch bzw. futuristisch anmutete, erwies sich nach eingehender Prüfung als durchaus verlockende und realisierbare Alternative zur ursprünglich geplanten Randbebauung.“405 Damit war der Grundstein für die Umsetzung eines bis dahin futuristischen Gedankenmodells einiger Großstädte gelegt. Wolf Bertelsmann, zu dieser Zeit Projektleiter im Büro Georg Heinrichs und Partner und späterer Partner des 403  Wolf Bertelsmann 2010 in Bezug auf die Autobahnüberbauung als das bis heute letzte, realisierte Wohnungsbau-Großprojekt in Berlin. 404  Vgl. Wolf Bertelsmann 2010. 405  Laue, Felix-Erik: Die stadtplanerische Anregung in Abwandlungen in: Seidel, Ernst/Bertelsmann, Wolf (Hrsg.): Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße: Vom Abenteuer, das Unmögliche zu wagen. Berlin 1990, S. 10.

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Architekten, betont jedoch, dass utopische Entwürfe wie das beschriebene Projekt Paul Rudolphs diese Idee nicht initiiert hätten. Pate dafür stand seiner Aussage nach auch keine neue Städtebaukonzeption. Das Projekt habe sich vielmehr aus den Gegebenheiten vor Ort entwickelt.406 Die Idee der Mehrfachnutzung von Verkehrsflächen war zu dieser Zeit auch in West-Berlin nicht neu: Aufgrund seiner isolierten geografischen Lage war das Bauland begrenzt. Gleichzeitig entwickelte sich in den 1960er Jahren begründet durch die wachsende Mobilität eine Kritik an Siedlungen im Stadtrandgebiet. So wurde eine Verdichtung der Innenstadtbereiche gewünscht. Ähnlich der vorgestellten frühen Konzepte für Verkehrswegüberbauungen wurde auch in diesem Fall auf eine terrassenförmige Baustruktur zurückgegriffen. Gemäß den Ansätzen utopischer Projekte wurde nicht nur eine Überbauung der Autobahn geplant, sondern damit eine Wohnstruktur entwickelt, die ihren gedanklichen Ursprung in verdichteten Großwohnsiedlungen wie dem Märkischen Viertel in Berlin hat.407 „Es waren natürlich die Zeiten, in denen man in diesen Größenordnungen gedacht hat“408, sodass auch die Überbauung der Autobahn in einer Länge von 600 Metern nicht als unrealistisch erschien. Das Projekt wurde mithilfe von Soziologen weiterentwickelt. So entstand ein eigener Stadtteil mit allen Funktionen des täglichen Lebens in unmittelbarer Nähe der Wohnungen, darunter ein Einkaufszentrum sowie Parkmöglichkeiten in den Tiefgeschossen unterhalb der Autobahn und Eingangsebene. Hervorzuheben sind ebenfalls die unterschiedlichen Wohnungsgrundrisse, die durch das Bereitstellen von Wohnraum für Alleinstehende bis zu Familien jeder Lebenssituation angemessen erschienen. Eine soziale Mischung war unbedingt erwünscht und wurde durch dieses heterogene Wohnungsangebot umgesetzt. Eine Altenwohnanlage wurde ebenso integriert wie großflächige Spielbereiche im verkehrsfreien Innenhof des Komplexes. Offene Zugänge zum Innenhof integrieren die Freiräume in die Stadt und schaffen so eine noch heute funktionierende Gebäudestruktur inmitten eines urbanen Berliner Wohnquartiers. Um die notwendige Tiefe des Gebäudes auf den Wohnetagen vollständig ausnutzen zu können, wurden oberhalb der Autobahnröhren im „Bauch“ des Gebäudes, die Kellerräume der Mieter angeordnet. Angrenzend finden sich Hobbyräume, die jedem Mieter zu Verfügung stehen und eine Erweiterung der eigenen Wohnung darstellen. Spiel- und Gemeinschaftsräume, verbunden mit 406  Vgl. Wolf Bertelsmann 2010. 407  Das Büro Heinrichs und Partner plante und realisierte als Vorgänger des Projekts Schlangenbader Straße das Märkische Viertel in Berlin. 408  Wolf Bertelsmann 2010.

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Abb. 45: Georg Heinrichs und Partner – Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße Berlin

Quelle: DEGEWO ( Hrsg.): Autobahnüberbauung Berlin Schlangenbader Straße. Berlin, etwa 1980, S. 35

Räumen für soziale und kulturelle Angebote vervollständigen die bauliche Verkörperung einer sozialen Gemeinschaft. Eine Dachterrasse für private Feiern mit einem Weitblick über Berlin steht den Bewohnern ebenso zur Verfügung wie anmietbare Gästewohnungen. Im Innern des Gebäudes, auf der vierten Etage, erstreckt sich eine gemeinschaftliche Innenstraße über die gesamte Gebäudelänge, die allen Wohnungen, unabhängig von den Wetterbedingungen, eine direkte, fußläufige Anbindung an das Einkaufszentrum gewährleistet. Diese Idee wurde von der von Le Corbusier entwickelten Wohnstraße übernommen, die der Architekt in den „Wohnmaschinen“ der 1940er bis 1960er Jahre realisierte. Viele der beschriebenen gemeinschaftlichen Anlagen im Innenraum des Gebäudes sind heute nicht mehr nutzbar. Durch Vandalismus sahen sich die Betreiber, eine Berliner Wohnungsgenossenschaft, die DeGeWo409 gezwungen die Wohnstraße für die allgemeine Nutzung der Bewohner zu verschließen und auch die Dachterrasse ist heute nicht mehr frei zugänglich. Insbesondere zum Ende der 1980er Jahren verschlechtere sich das Wohnumfeld im Großwohnkomplex Schlangenbader Straße und die Kriminalität nahm zu. Durch privates Wachpersonal und bauliche Veränderungen konnten diese Probleme in den 1990er Jahren mehrheitlich gelöst werde. Der Durchgang durch das Haus, der eine Querung der

409  DeGeWo, heute DeGeWo Aktiengesellschaft ist eine 1924 gegründete Wohnungsgesellschaft in Berlin.

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Autobahn für den fußläufigen Verkehr bedeutete, ist heute aus Sicherheitsgründen nicht mehr gestattet. In den Wohnetagen des Projekts „Schlangenbader Straße“ befinden sich jeweils vier Wohneinheiten an einem Flur, sodass eine überschaubare soziale Subeinheit im Großwohnkomplex entsteht. Die Grundrisse selbst sind von großen Balkonen und Terrassen geprägt, die eine Erweiterung der Wohnungen in den Außenbereich darstellen.410 Durch die terrassenförmige Struktur eröffnet sich die Möglichkeit einer Schrägverglasung oberhalb der Wohnräume, die eine tiefe Belichtung der Wohnungen zulässt und gleichzeitig im Pflanztrog der darüber liegenden Wohnung integriert ist. Entscheidendes Entwurfsmerkmal der Grundrisse ist die Möglichkeit eines „Rundlaufs“ innerhalb der Wohnung: Über einen Einbauschrank gelangt man in das Badezimmer, welches wiederum an den abgetrennten WC Bereich anschließt. Von dort gelangt man über den Flur in eine offen „Barküche“ und in den eigentlichen Wohnraum der Wohnung. Kinderzimmer beziehungsweise Arbeitsraum können durch Faltwände flexibel mit dem Wohnraum verbunden werden.411 Größere Wohnungen wurden in Teilen über mehrere Geschosse realisiert. Die Wohnflächen reichen von 42m² für EinZimmer-Wohnungen bis zu 120m² bei Maisonettwohnungen. Als Vorbild dieser durchmischten Sozialstruktur nennt Wolf Bertelsmann die frühen Berliner Hinterhöfe, die durch ihre pragmatische Gebäudereihung eine Durchmischung unterschiedlicher Klassen hervorrief und Begegnungen ständig ermöglichte.412 Von außen wirkt der Gebäudekomplex „Schlangenbader Straße“ durch seine sich klar von der umgebenden Bebauung abhebende und farbige Fassadengestaltung sowie durch den Maßstab innerhalb der Stadt eher unmaßstäblich und fremd. Ziel der Architekten war es trotz der Großmaßstäblichkeit die Fassade mithilfe kleinteiliger Strukturen aufzulösen. Nicht die gesamte Gebäudestruktur sollte als homogener Körper wirken, vielmehr wurde darauf Wert gelegt, trotz der nicht vermeidbaren Größe einen individuellen menschlichen Maßstab zu wahren. Wolf Bertelsmann ist noch heute von der Konzeption und Umsetzung des Gebäudes überzeugt: „Viel konsequenter kann man eigentlich nicht bauen.“ Er findet, dass der Wohnwert der terrassierten Anlage heute wie damals „[...]eine Qualität [bietet, K.B.], die es nirgendwo gibt in der Stadt.“413

410  Vgl. dies und das Folgende Wolf Bertelsmann 2010. 411  Vgl. dazu beispielsweise Grundrisse in: DEGEWO: Autobahnüberbauung Berlin Schlangenbader Straße. Ein Bauvorhaben der DEGEWO. um 1980, Berlin, S. 18 412  Vgl. Wolf Bertelsmann 2010. 413  Wolf Bertelsmann 2010.

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Während im Jahr 1980 ein Artikel in der „Bauwelt“ erschien, in welchem der Autor die Planung der Autobahnüberbauung insbesondere im Hinblick auf die Verkehrsplanung deutlich kritisierte414, wurde im Jahr 2000 anlässlich des 20jährigen Bestehens des Komplexes ein überwiegend positiv formulierter Artikel veröffentlicht. Gelobt werden die „großzügigen Balkone“ und „ausgefeilten Grundrisse“ sowie der hohe Wohn- und Freizeitwert. „Mit seiner beeindruckenden Größenordnung von ca. 600m Länge und bis zu 46m Höhe setzt das Gebäude markante Zeichen in der City West. Dabei ist es den Planern gelungen, die sieben aneinandergereihten Wohnkörper, die Randbebauung mit einer Mischnutzung von Gewerbe, Dienstleistern und Wohnen und die großzügig zwischen diesen Gebäuden eingebetteten Grün- und Spielflächen so zu konzipieren, dass sich insgesamt eine harmonische „Landschaft“ präsentiert.“415 Aus strukturalistischer Sichtweise lässt sich die Qualität wie folgt beschreiben: „[...] die architektonische Qualität [offenbart sich] nicht in der Betrachtung des Hauses als Objekt, sondern erst in der Wahrnehmung des Raumes.“416 Im Jahre 2002 erhielten die Architekten Heinrichs und Bertelsmann für das Projekt der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße den „Renault Traffic Award“ in der Kategorie „Historischer Award“. In einem Vergleich der beiden beschriebenen Projekte wird eine ähnliche Grundkonzeption deutlich: Geprägt durch die Notwendigkeit, verdichteten Wohnraum zu realisieren und gepaart mit der Erkenntnis, dass Stadtautobahnen ein bestehendes Wohngebiet durchtrennen und damit gewachsenen Strukturen nachhaltig stören können, wurden Überbauungen von Verkehrswegen in den 1960er/1970er Jahren vermehrt diskutiert. Obwohl Wolf Bertelsmann als projektbeteiligter Architekt die Verbindung zu utopischen Projekten verneint und ihren Vorbildcharakter abstreitet, wird doch deutlich, dass der zum Entstehungszeitpunkt eines solchen Projekts herrschende Zeitgeist immer einen Einfluss auf die Ideen und Entwürfe der planenden Architekten hatte. Der Vergleich zwischen dem realisierten Projekt und dem als utopisch angesehenen Entwurf von Paul Rudolph verdeutlicht, dass im Grunde nicht das realisierte Projekt als „ge414 Vgl. Stimmann, Hans: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin. In: Düwel, Jörn/Mönninger, Michael (Hrsg.): Von der Sozialutopie zum städtischen Haus. Texte und Interviews von Hans Stimmann. Berlin 2011, S. 63ff. 415  N.N.: Die Schlange feiert Jubiläum. In: bi. bauwirtschaftliche Information 2000, Heft 5, S. 32. 416  Krohn, Carsten: Case Study II: Berlin. Der grosse Hügel oder die Idee, eine Autobahn zu überbauen. In: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 76.

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baute Utopie“ angesehen werden muss, sondern dass sich vielmehr die Frage stellt, in welchem Maße die anderen Projekte wirklich als utopisch angesehen werden können. Dass weitere „Utopien“ nicht zu Realisierung kamen hängt demnach offensichtlich nicht mit dem Grad der „Utopie“ zusammen, sondern unter Umständen nur mit der mangelnden Dringlichkeit der Realisierung in den 1960er Jahren und den im Kapitel „Die Kritik an Architektur und Städtebau der 1960er und 1970er Jahre“ näher beschrieben Entwicklungen in den 1970er Jahren, die zu einer strikten Abkehr vom großmaßstäblichen, zukunftsweisenden und experimentellen Entwürfen führten. Wie schon Lucius Burckhard 1968 formulierte, war man in den 1960er Jahren der Realisierung einiger Utopien offensichtlich näher, als die Retrospektive dieser Entwürfe es heute vermuten lässt. Zusammenfassung: Architektur und Städtebau der 1960er und 1970er Jahre Die geschichtliche Entwicklung, erläutert in den vorangegangenen Kapiteln, zeigt, dass sich die Stadtplanung in Europa, aufgezeigt anhand der drei beispielhaften Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien, zwar im gleichen Kontext der Moderne und der sich daran anschließenden Kritik bewegte, das daraus resultierende Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ jedoch in unterschiedlichen Zeiträumen und Ausformulierungen umgesetzt wurde. Es ist in diesem Zusammenhang deutlich geworden, dass die Entwicklung der verdichteten Zentren der „New Towns“ in Großbritannien maßgeblich die Entstehung von Großwohnkomplexen im deutschsprachigen Raum und in Großbritannien geprägt hat.417 Während in Frankreich Großwohnsiedlungen bis in die 1970er Jahre nach dem Bild der aufgelockerten Stadt geplant wurden und nur vereinzelt Großwohnanlagen und Großwohnkomplexe mit einem höheren städtebaulichen Verdichtungsrad wie zum Beispiel „Toulouse-Le-Mirail“ oder die Zentren von „Ivry-sur-Seine“ und „Evry ville nouvelle“ entstanden, scheint in Großbritannien die Entwicklung der Großwohnsiedlungen im kontinentaleuropäischen Sinn übersprungen worden zu sein. Als Leitplanung des Städtebaus nach 1945 und im Rahmen des „New Towns Act“ stand für die notwendigen Entlastungsstädte die Entwicklung der Gartenstadt Pate. Schon zu Beginn der 1950er Jahre wurden erste Überlegungen zu verdichteten Zentren dieser „New Towns“ entwickelt und damit die ersten Vorläufer von Großwohnkomplexen realisiert. 417  Vgl. dazu auch das Interview mit Stefan Goedeckemeyer im Rahmen der Fallstudie Olympisches Dorf, München.

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Ein weiterer Entwicklungsstrang, der die Entstehung der Großwohnkomplexe insbesondere im Kontext der Erschließungsstruktur prägte, waren die Überlegungen zur Lösung der wachsenden Verkehrsproblematik. Diese waren unter anderem bedingt durch den „Buchanan Report“, der die Notwendigkeit eines Raums für den fußläufigen Verkehr, der getrennt von den Hauptverkehrswegen erfolgen sollte, propagierte. „Their [die Autoren des Buchanan Report, K.B.] solution was extreme, its financing inconvinceable, and although it seems to have had no direct influence, the fact that such a vision could be produced under the aegis of the British Civil Service had an enormous effect in legitimizing megastructures as a proper solution for urban ills.“418 „Urbanität durch Dichte“ als städtebauliches Leitbild der 1960er/1970er Jahre und als Hauptthema des vorliegenden Kapitels muss als übergeordnetes Sinnbild vielfältiger Entwicklungen angesehen werden und wurde demnach einer differenzierten Betrachtungsweise unterzogen. Die beschriebenen städtebaulichen und architektonischen Entwicklungen der „Moderne“ in den 1950er Jahren bilden dabei die Grundlage einer radikalen Abkehr vom funktionalistischen Bauen mit dem Ziel, durch Verdichtung im Sinne von Multifunktionalität und Nutzungsüberlagerung, jedoch auch durch bauliche Dichte eine neue „Urbanität“ zu entwickeln. Neben der dogmatischen Umsetzung dieser baulichen Verdichtungstendenzen und der Entstehung von Satellitenstädten mit einer hohen Wohndichte, jedoch kaum vorhandenen Nutzungsüberlagerungen, entstanden aus dem Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ komplexere Bebauungsstrukturen, zu welchen Großwohnkomplexe gezählt werden. Auf städtebautheoretischer Ebene419 wird deutlich, dass in den 1960er Jahren, in Abkehr zum „modernen“ Städtebau, die Stadt als ein Gefüge, das sich aus unterschiedlichen Aspekten zusammensetzt, wieder in den Fokus rückt: Die historische Entwicklung einer Stadt, die dadurch entstehende individuelle Färbung oder Atmosphäre und stadtspezifische Bausteine führen zu einem „Mehr“, das, nach Aldo Rossi, in der rein funktionalen Gliederung der „modernen Stadt“ vergeblich zu suchen ist. Dabei ist gleichzeitig auf gesellschaftstheoretischer Ebene eine Unterscheidung von der rein auf Funktionen und klaren Ordnungen setzenden Gesellschaft, die die Masse über das Individuum stellt und einer Ge-

418  Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S 146. 419  Dies und das Folgende: Auf städtebautheoretische Ebene nach Aldo Rossi, vgl. Text im Kapitel „ Stadt“ (Rossi, Aldo: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen. 1966/1973).

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sellschaft, die dadurch konstituiert ist, dass sie die Freiheit des Einzelnen in der Gemeinschaft findet, feststellbar.420 Ein entscheidender Aspekt, der das Verhältnis der vorgestellten utopischen Projekte zu Großwohnkomplexen aufzeigt, ist die Feststellung, dass es sich in beiden Fällen um eigenständige Organismen handelt, die in eine vorhandene Stadtstruktur eingefügt werden. Reyner Banham prägte für diese StadtStrukturen bereits im Jahr 1976 den Begriff „Megastructure“.421 Die von Banham aufgezeigte Definition von „Megastructures“, als „modulare Einheiten“, die partiell oder sogar unendlich erweiterbar sind und als Trägerwerke für einsetzbare kleinere Einheiten und konstruktives System dienen, das voraussichtlich länger hält, als die Module, führt damit in die Nähe der konstruktiven Grundstruktur von Großwohnkomplexen.422 Auch wenn in Großwohnkomplexen das System der austauschbaren Elemente (plug in) nicht prägend war, so ist doch die Grundstruktur eines tragenden Rasters sowie flexiblen Innenräumen auch in Großwohnkomplexen zu finden. Ein weiterer prägender Aspekt des Städtebaus und der Architektur der 1960er/1970er Jahre liegt in der „neuen“ Betrachtung des Raums als eine „Durchdringung“ von Innen- und Außenraum.423 Beide Pole wurden nicht mehr nur separat als städtebauliches oder skulpturales Objekt und (ausgehöhlter) Innenraum betrachtet, sondern eine Verbindung geschaffen und Innen- und Außenraum als Gleichzeitigkeit angesehen. Gemäß dem strukturalistischen Ansatz wurde der Außenraum als städtischem Innenraum interpretiert.

420  Aus der Strukturalismusdebatte. Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 16ff. 421  Vgl. Stempl, Markus: “Nicht auf dem Boden, sondern in der Luft.” Drei exemplarische Raumstadt-Projekte. In: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 169 . 422  Vgl. Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 8. 423  Vgl. dies und das folgende: Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Cambridge 1941, deutsche Ausgabe Ravensburg 1965, S. 33.

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U MSETZUNG DES STÄDTEBAULICHEN L EITBILDS W AHRNEHMUNG DER G ROSSWOHNKOMPLEXE

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Praxisbezogene Grundlagen der Realisierung von Großwohnkomplexen Erarbeitet man weiterhin chronologisch die Entstehung der Großwohnkomplexe so wird deutlich, dass im Verlauf der 1960er Jahre ein Wandel in der Umsetzung der unter der theoretischen Betrachtung des Leitbilds der „Urbanität durch Dichte“ genannten, übergeordneten Ziele stattfand. Seit Beginn der 1960er Jahren wurden großmaßstäbliche, verdichtete Wohnsiedlungen an den Stadträndern gebaut (Satellitenstädte). Gleichzeitig kam jedoch Kritik an diesen Siedlungsstrukturen auf, die die durch das Leitbild prognostizierte Urbanität nicht zu erzeugen vermochten. Die Kritik überlagerte sich mit der anhaltenden Kritik an den Großwohnsiedlungen der 1950er Jahre. Publikationen wie „For Everyone a Garden“ oder „Profitopolis“ griffen diese Kritikpunkte an den entstehenden Siedlungen auf und eröffneten neue Wege zur Umsetzung des Leitbilds. Dies legte den Grundstein für die Entwicklung der Großwohnkomplexe. Erste Planungen zur Realisierung eines großmaßstäblichen innerstädtischen Quartiers liefen in London seit den 1950er Jahren für das „Barbican Center“ (erbaut 1971– 1982). Zwischen 1961 und 1971 wurde ein kleineres Quartier, „Lillington Gardens“, ebenfalls in London, bereits realisiert. Auch mit der Weltausstellung 1967 in Montreal wurden unterschiedliche utopisch anmutende Projekte realisiert, unter ihnen das „Habitat 67“, eine großwohnkomplexartige Struktur übereinandergestapelter Wohnmodule.424 Vergleicht man die bauliche Entwicklung der Großwohnkomplexe mit den theoretischen Ausarbeitungen zu diesem Thema, so wird noch einmal folgender Verlauf der Entwicklung deutlich: Die Kritik an der modernen Stadtplanung führt zu einem radikalen Umdenken und zu einer dogmatischen Anwendung der neuen Planungsprinzipien mit der übergeordneten Anforderung nach Verdichtung (vgl. beispielhaft Märkisches Viertel in Berlin). Erst nach der Realisierung der ersten Siedlungen und der dabei entstehenden Kritik an den nicht „menschengerechten“ Wohnhochhäusern ohne Individualität wurden die Leitsätze überdacht und mit differenzierteren und nachhaltigeren Lösungsansätzen ergänzt. Diese neuen Ansätze führten zu den in der vorliegenden Untersuchung

424  Vgl. die Beispiele im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“.

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thematisierten Großwohnkomplexen. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel angedeutet, kam es ab Mitte der 1970er Jahre zu einem weiteren Einschnitt: Durch die Ölkrise und die Anfänge des ökologischen Bauens sowie durch eine stagnierende Anzahl an Realisierungen großmaßstäblicher Projekte durch aufkommende Rezessionsängste, wurden diese Ideen auch auf theoretischer Ebene nicht fortgesetzt. Die Realisierung von Großwohnkomplexen beschränkt sich also demnach, bis auf wenige Ausnahmen, auf den kurzen Zeitraum zwischen 1968 und 1975. Städtebauliche Forschungsprojekte Im Verlauf der 1960er Jahren entstand eine Reihe von Publikationen, die sich auf praxisorientierter Ebene mit zukünftigem Städtebau auseinandersetzten. Wie bereits auf unterschiedlichen Ebenen dargelegt, spielt hierbei die Verwissenschaftlichung der Planung eine entscheidenden Rolle: Neben Untersuchungen zu verträglicher Dichte, neuen Baumaterialien, Verkehrsplanung oder StädtebauSoziologie, wurden einige Forschungen zu konkret städtebaulichen Projekten veröffentlicht sowie Demonstrativbauvorhaben initiiert und wissenschaftlich begleitet.425 Gleichzeitig wurden einige Publikationen veröffentlicht, die sich auf architektonischer Ebene mit neuen, verdichteten Bebauungsstrukturen wie Terrassenhäusern, Teppichsiedlungen oder Wohnhochhäusern beschäftigten. Während die auf wissenschaftlichen Forschungsprojekten basierenden Veröffentlichungen vermehrt im deutschsprachigen Raum entstanden, sind die gesellschaftlich-städtebaulichen Veröffentlichungen internationaler geprägt. Während der überwiegende Teil von Demonstrativbauvorhaben von Zeilenbaustrukturen, die mit punktförmigen Wohnhochhäusern durchsetzt wurden oder von Einfamilienhausgebieten geprägt waren426, wurden außerdem einige verdichtete Bebauungsstrukturen dokumentiert, deren wissenschaftliche Analyse als eine Grundlage der Entwicklung von Großwohnkomplexen im deutschsprachigen Raum angesehen werden kann.427 Der Begriff der Dichte sowie die städte425  Vgl. beispielhaft die Schriftenreihe des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, die Publikationen „Informationen aus der Praxis – für die Praxis“ des Bundesministeriums für Städtebau und Wohnungswesen oder die Veröffentlichungen des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen. 426  Vgl. Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Informationen aus der Praxis – für die Praxis. Bebauungspläne von Demonstrativmaßnahmen. Bonn-Bad Godesberg 1970. 427  Vgl. Demonstrativbauvorhaben Heidelberg Emmertsgrund.

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Abb. 46: Moshe Safdie – Puerto Rico Habitat (1974)

Quelle: Safdie, Moshe: For everyone a garden. Cambridge 1974, S. 129, 125

bauliche Umsetzung und wissenschaftliche Bewertung des Begriffs spielte dabei eine entscheidende Rolle und wurde im Kapitel „Urbanität durch Dichte“ bereits ausführlich und unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Forschung thematisiert. Im Folgenden werden beispielhaft drei Forschungsprojekte vorgestellt und ihre Verbindung zu Großwohnkomplexen aufgezeigt: Eine Forschungsarbeit analysiert und bewertet utopische Megastrukturprojekte und dokumentiert diese unter dem Titel „Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte“. Ein weiteres Forschungsprojekt beschäftigt sich mit dem Terrassenhaus als Gebäudetypologie, das als ein Bindeglied zwischen architektonischem Objekt und städtebaulicher Figur angesehen werden kann. Abschließend wird die Entwicklung und Realisierung eines Demonstrativbauvorhabens, der Siedlung Heidelberg Emmertsgrund, dargestellt. Ziel dieses Kapitels soll es sein, einen Überblick über die Bandbreite unterschiedlichster städtebaulicher Forschungsprojekte zu erhalten, um aus den Ergebnissen die Zusammenhänge mit Großwohnkomplexen aufzeigen zu können. „Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte“ (Bonn 1976) Das Forschungsvorhaben „Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte“ wurde mit dem Ziel initiiert, neue Städtebaukonzeptionen in einer vergleichenden Analyse aufzubereiten und die Erkenntnisse unter anderem anhand des realisierten Fallbeispiels Metastadt Wulfen für zukünftige Aufgaben nutzbar zu machen. In unterschiedlichen entstehungsgeschichtlich bedingten Kategorien wie Großform, Biologie, Manifest, Stadtorganisation, Raumstadt, Baukasten, Zelle, Betonvorfertigung oder Stadtbauprojekte wurden unter anderem die „Trichterstadt“ von Walter Jonas (Schweiz), das „Habitat Puerto Rico“ in San Juan von Moshe Safdie (Puerto Rico), die „Plug-in-City“ von Peter Cook (Großbritannien) oder das

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Raumstadtprojekt von Yona Friedman (Frankreich) analysiert.428 Realisierte Projekte, wie neben dem Metastadtprojekt Wulfen auch die Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter von der Werkgruppe Graz (Österreich), waren ebenfalls Teil der Analyse. In dem Forschungsprojekt ging es um die Frage, „[…] ob utopische Stadtbauentwürfe als in die Zukunft projizierte Ordnungsvorstellungen in der aktuellen Planung von Nutzen sein könnten und wie sie gegebenenfalls nutzbar gemacht werden könnten.“429 „Neuartige und zukunftsweisende städtebauliche Konzeptionen und Entwürfe[...]“430 sollten „[...] nicht insgesamt als utopische Forderungen abgetan, sondern als Möglichkeitsmodelle der Zukunft, als denkbare Alternativen des künftigen Städtebau ernst genommen und einer ausführlichen Analyse unterzogen werden.“431 Das Forschungsvorhaben basiert auf der Erkenntnis, dass „[...]gerade die seit 1960 auf der Woge der wachsenden Kritik an dem gegenwärtigen Zustand der Städte erarbeiteten und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemachten Entwürfe […] hinsichtlich ihrer Problembezogenheit und Lösungsvorschläge realer als historische Stadtbauutopien [sind, K.B.], weil sie aktuelle soziale und technische Entwicklungen aufgreifen und die darin erkennbaren Entwicklungslinien in die Zukunft fortführen.“432 Methodisch orientiert sich das Forschungsprojekt an komplexen Matrizen, in welchen die zu untersuchenden Beispiele ihren spezifischen Merkmalen nach eingeordnet wurden, um im Anschluss vergleichend analysiert zu werden. Ein wichtiger Aspekt der Forschungsarbeit bestand darin, die Gestaltung der Projekte ebenfalls zu bewerten. Dies erfolgte über die Stichworte Fassadengliederung, Bauform, räumliche Gliederung und Zeichensystem wobei jedem Stichwort Unterkategorien zugeordnet wurden, in die die Projekte anschließend eingeordnet wurden. Die aus der umfangreichen Analyse entwickelten Ergebnisse waren die Erkenntnis, dass dreidimensionale, städtebauliche Großformen im Analysebereich der Öffentlichkeit, Kommunikation und Interaktion aufgrund „[…] der engen Zuordnung von Wohnungen, von Arbeitsplätzen und Versorgungseinrichtungen, der Bündelung von Verkehrsstraßen bei punktuell verdichteten Stadteinheiten und der unterirdi-

428  Vgl. Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Städtebauliche Forschung. Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte. Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 18f. 429  Ebd., S. 17. 430  Systemplan e.V.: Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte. Abschnitt II. Heidelberg 1974, S. 1. 431  Ebd., S. 1. 432  Ebd., S. 13.

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schen Fahrwegführung“433 als positiv zu bewerten sind. Als negativ bei diesen Bauformen stellten die Autoren fest, dass im Gegensatz dazu die weniger öffentlichen Anforderungen, wie Separation, Regeneration und Bildung nur durch ergänzend hinzugefügte Maßnahmen wie die Schaffung von Freigeschossen oder Dachgärten erfüllt werden können.434 Der Aspekt der Gestaltung wird in der Bewertung von Stadtbaukonzepten insbesondere dadurch wichtig, dass diese Strukturen „[…] aufgrund des stark von konventionellen Formen abweichenden äußeren Erscheinungsbildes, vorschnellen subjektiven Urteilen ausgesetzt sind.“435 Die Autoren weisen darauf hin, dass nachdem die utopischen Entwürfe und Konzepte in den 1960er/1970er Jahren durch den technischen Fortschritt realisierbarer erschienen, nicht mehr die Machbarkeit im Vordergrund stand, sondern, dass die Umsetzung „[...]in zunehmende Maße von der politisch bestimmten Priorität und damit mobilisierungsfähiger Ressourcen für die gestellte Aufgabe“436 abhing. „Nicht der hohe Anspruch der technischen Idee, sondern die hohe Anforderung an die begrenzten volkswirtschaftlichen Ressourcen bestimmen in den meisten Fällen den Utopiegehalt neuer Stadtbauentwürfe.“437 Gleichzeitig stellten die Autoren heraus, dass einige Entwürfe „…Lücken inhaltlicher und formaler Art…“438 aufweisen, die im Hinblick auf die zukünftige Stadtentwicklung „…über Denkanstöße nicht hinausreichen.“439 „Terrassierte Bauten in der Ebene – Beispiel Wohnhügel“ (Bonn 1973) Terrassenbauten spielen im Gesamtzusammenhang von Großwohnkomplexen als einzelne Bebauungsstruktur eine übergeordnete Rolle. Terrassierte Bauten erlauben individuelle Außenräume im Geschosswohnungsbau ohne direkten Sichtkontakt mit Nachbarn, eröffnen durch ihre zurückspringenden Fassaden und 433  Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Städtebauliche Forschung. Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte. Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 12. 434  Vgl. ebd., S. 12. 435  Ebd., S. 12. 436  Systemplan e.V.: Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte. Abschnitt II. Heidelberg 1974, S. 18. 437  Ebd., S. 18. 438  Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Städtebauliche Forschung. Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte. Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 219. 439  Ebd., S. 219.

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trotz ihrer Höhe offen wirkende öffentliche Räume und erlauben trotz Einhaltung der Abstandsflächen eine dichte Bebauungsstruktur. Im Rahmen des oben genannten Forschungsvorhabens, „Terrassierte Bauten in der Ebene“, wurden Terrassenhäuser wissenschaftlich untersucht. Die Erforschung der „[...]mit dem Terrassenwohnhaus erzielbaren Verdichtungsmöglichkeiten“440 war Hauptbestandteil des Forschungsvorhabens. Der folgende Exkurs zum Bautyp Terrassenhaus soll einleitend diese Gebäudetypologie erläutern, um im Anschluss die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Forschungsvorhabens darzustellen. Exkurs: Terrassenhaus Terrassenhäuser sind ein besonderer städtebaulicher Baustein in der Entwicklung verdichteter Wohnquartiere und Großwohnkomplexe. Im Rückblick auf die Geschichte des terrassierten Bauens wird deutlich, dass in frühen Entwürfen Anfang des 20. Jahrhunderts die Terrassierung hauptsächlich dazu diente, „Terrassenflächen zu gewinnen, die den Verkehr je nach Verkehrsmittel, Menge und Geschwindigkeit auf mehreren Ebenen verteilen sollten.“441 Erst in den 1950er Jahren entstanden erste Terrassenbauten an Berghängen in der Schweiz, die als Vorläufer späterer „terrassierter Bauten in der Ebene“ angesehen werden können. Es zeigte sich bereits in diesem Projekten, dass die terrassierte Bebauung neue Beziehungen zwischen öffentlichem Raum und privatem Bereich eröffnen können.442 Terrassierte Bauten wurden in den 1960er Jahren in unterschiedlichen utopischen Projekte angewendet und gleichzeitig als Einzelobjekte in vorhandenen oder neuen städtischen Agglomerationen realisiert. In den im vorherigen Kapitel beschriebenen Projekten von Yona Friedman, Kenzo Tange oder den Trichterhäusern von Justus Dahinden wurde ebenfalls unterschiedliche Konfigurationen von Terrassenhäusern entwickelt und als Baustein eingesetzt.

440  Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Städtebauliche Forschung. Terrassierte Bauten in der Ebene: Beispiel Wohnhügel. Bonn 1973, S. 5. 441  Ebd., S. 24. 442  Vgl. ebd., S. 36.

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Abb. 47: Wohnhügel in Marl (1965)

Quelle: Reuter, Tilman (Hrsg.): Wohnzentren. Projekte und Bauten. Stuttgart 1971, S. 23

Das Hügelhaus als ein Solitär im Stadtraum stellt eine an das Terrassenhaus angelehnte und mindestens zweiseitig erschließbare Sonderform des Terrassenhauses dar. „Ihre Wohneinheiten haben mit den Terrassenhäusern große vorgelagerte Terrassen gemeinsam, ruhen aber nicht auf natürlichen Hängen, sondern auf eine künstliche Tragkonstruktion. Im Innern des Wohnhügels entsteht ein Hohlraum, der für Garagen, Eingangs-, Abstell-, und technische Räume und für Gemeinschaftseinrichtungen benutzt werden kann.“443 Grundlage der Entwicklung von Terrassenhäusern am Hang, als Wohnhügel oder einseitig ausgerichtet und freistehend, ist die geringe Bodenausnutzung und der damit möglich werdende hohe Verdichtungsgrad im Zusammenhang mit den Vorteilen eines Einfamilienhauses. „Man wohnt ungestört, distanziert, aber nicht isoliert.“444 Zugleich wurden industrielle Bausysteme gefördert, die die Wirtschaftlichkeit erhöhten. Eine für ein Stadtzentrum von dem Göttinger Architekten Brandi entwickelte Bebauungsstruktur verbindet Terrassenhausstrukturen mit modularer Bauweise: „Bis auf die tragenden Ebenen und Mauern sind alle Baustrukturen

443  Deutsche Bauzeitschrift (Hrsg.): Verdichtete Wohnformen. Gütersloh 1974, S. 141. 444  Junck, Robert: Terrassenturm und Sonnenhügel. Düsseldorf 1970, S. 25.

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Abb. 48: Wohnpyramide/Anwendung des Bautyps: Olxmpisches Dorf, München

Quelle: Junck, Robert: Terrassenturm und Sonnenhügel. Düsseldorf 1970, S. 18/24

flexibel. Jederzeit können die Räume umgeordnet und die verschiedenen Funktionen verändert werden.“445 Das Terrassenhaus oder Hügelhaus als städtebauliches Objekt steht jedoch im Gesamtkontext, wenn auch in Bezug auf den Geschosswohnungsbau und das Thema der Großwohnkomplexe, im besonderen Fokus weiterer neuer urbaner Wohnformen. 1966 erschien eine Publikation mit eben diesem Titel, „Neue urbane Wohnformen“, worin das Gartenhofhaus und Teppichsiedlungen neben Terrassenhäusern als weitere Stadtbausteine thematisiert werden. Entscheidende Erkenntnis, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung der Großwohnkomplexe, ist dabei: „Erst wenn der Verkehr aus den Zwischenräumen zwischen der bebauten Fläche herausgenommen und durch die Baublöcke hindurch geführt wird, erhalten wir eine neue Anordnung. Die Straßenfläche wird zur Freifläche. Verwirklicht werden kann dieses System durch Gartenhofhäuser, Wohnhügel, Terrassenhäuser, Trichterhäuser.“446 Gleichzeitig wird die auf theoretischer und ideologischer Ebene viel diskutierte Begriffspaarung „Öffentlichkeit und Privatheit“ im konkret baulichen Zusammenhang thematisiert. Halböffentliche Wohnwege und Sichtkontakte vom privaten in den öffentlichen Raum werden dabei sowohl bei flachen Bebauungsstrukturen als auch im Hinblick auf mehrgeschossige Terrassenwohnhäuser vorgeschlagen.447 Nachdem der Begriff „Dichte“ aus wissenschaftlicher Sicht bereits im Kapitel „Urbanität durch Dichte“ thematisiert wurde, soll im Kontext des Forschungsvorhabens „Terrassierte Bauten in der Ebene“ auf den von den Verfassern thematisierten soziologischen Dichtebegriff eingegangen werden. Die Verfasser erläutern diesen Begriff mit dem Wunsch der Bewohner nach Kommunikation und Kontakten, nach funktionaler und sozialer Mischung sowie nach 445  Ebd., S. 31. 446  Hoffmann, Ot/Repenthin, Christoph: Neue urbane Wohnformen: Gartenhofhäuser Teppichsiedlungen, Terrassenhäuser. Berlin/Frankfurt am Main/Wien 1966, S. 8. 447  Vgl. ebd., S. 18f.

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Mobilität.448 Gleichzeitig muss der Wunsch der Menschen nach einem Eigenheim im Grünen berücksichtigt werden. Dabei wird das Terrassenhaus von den Autoren als eine mögliche Lösung dargestellt, die einen „[…] Privatraum unter freiem Himmel […]“449 ebenso ermöglicht, wie „[…] eine eindeutige Unterscheidung von öffentlichem und privaten Raum…“450 die bei dichter Bebauung gemäß der Autoren unabdingbar sei. Außerdem sollten Eigentumsverhältnisse im Geschosswohnungsbau gefördert werden. In den Ergebnissen des Forschungsvorhabens wird deutlich, dass Terrassenbauten die räumliche Dichte in Wohngebieten dadurch fördern können, dass geringe Abstandsflächen auf Erdgeschossniveau realisiert werden, die mit den Geschossstaffelungen in den oberen Geschossen deutlich größer werden. In Zusammenhang mit vorgelagerten, privaten Gärten im Erdgeschossbereich ergeben sich schmale Fußgängerwege zwischen den Gebäuden.451 Die Nutzung der innenliegenden Flächen der Gebäude oder der Untergeschosse als Parkplätze führen zu einer autofreien Anlage. Dieses Prinzip der Verdichtung durch Terrassenbauten kommt in vielen Großwohnkomplexen zur Anwendung. Auch klimatisch ergeben sich Vorteile aus der Terrassenstruktur: Die Begrünung der Terrassen erzeugt sommerlichen Wärmeschutz, filtert Staub und erzeugt Sauerstoff. Gleichzeitig erwirken die Pflanzen durch ihre kühle Oberflächentemperatur auf den Blättern eine natürliche Zirkulation.452 Das Forschungsprojekt geht darüber hinaus auf Aspekte wie mögliche Raumtiefen in Abhängigkeit mit dem Tageslicht und die Einwirkung von Verkehrslärm auf die Wohnungen in Terrassenhäusern ein. In allen Fällen wird das Terrassenhaus als sinnvolle Alternative zu herkömmlichen Bauformen bewertet. Demonstrativbauvorhaben Mit der Ausweisung zu Demonstrativbauvorhaben wurden Projekte nicht nur wissenschaftlich begleitet, sondern gleichzeitig die Forschung und Umsetzung dieser vom Staat finanziell unterstützt. Österreichische Demonstrativbauvorhaben, wie das Fallbeispiel Graz St. Peter zeigen wird, richteten sich dabei in ihren Leitlinien nach den Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland. Grundsätzlich wurden als Demonstrativbauvorhaben in Österreich nur Wohngebiete inkl. 448  Vgl. Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Städtebauliche Forschung. Terrassierte Bauten in der Ebene: Beispiel Wohnhügel. Bonn 1973, S. 140ff. 449  Ebd., S. 144. 450  Ebd., S. 144. 451  Vgl. Schemazeichnung in: Ebd., S. 325. 452  Vgl. ebd., S. 326f.

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Abb. 49: Demonstrativbauvorhaben Heidelberg Emmertsgrund

Quelle: Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Versuchsund Vergleichsbauten und Demonstrativmaßnahmen. Heidelberg Emmertsgrund. Planung unter sozialen Aspekten. Bonn – Bad Godesberg 1976, S. 8

Folgeeinrichtungen und Verkehrserschließung ausgewiesen.453 Neben Grundlagen wie der Auswahl immissionsfreier Baugrundstücke sollten die Gebäude „intimes Wohnen“ und eine ausreichende Belichtung und Besonnung ermöglichen sowie eine Mischung unterschiedlicher Wohnungsgrößen eröffnen.454 Die Durchführbarkeit des Projekts sollte in drei Abschnitten erfolgen können. Öffentliche Grünflächen mit Kinderspielplätzen wurden ebenso gefordert, wie Einstellmöglichkeiten für Pkw. Demonstrativbauvorhaben Heidelberg – Emmertsgrund (ca. 165 Einwohner/Hektar) Der Stadtteil Heidelberg Emmertsgrund ist die Umsetzung eines Demonstrativbauvorhabens, das aufgrund einer steigenden Wohnungsnachfrage Ende der 1960er Jahre initiiert wurde. Für 10.000–12.000 Menschen sollten auf einer Fläche von etwa 72 Hektar Wohnraum geschaffen werden. Heterogene Bebauungsstrukturen mit einer Mischung aus Einfamilienhäusern, Geschoßwohnungsbauten und Appartements wurden in der Planung durch Gemeinschaftseinrichtungen, ein Bürgerhaus und ein Gemeindezentrum im Zentrum der Siedlung,

453  Vgl. Forschungsgesellschaft für den Wohnungsbau im ÖLAV (Hrsg.): Österreichische Richtlinien für Demonstrativ-Bauvorhaben. Wien 1964, S. 6. 454  Vgl. dies und das Folgende: Ebd., S. 7ff.

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angrenzend an die Schule, den Kindergarten und einen Altenwohnstift ergänzt.455 „Das Wohngebiet Emmerstgrund soll zu einem Stadtteil mit weitgehender Eigenversorgung ausgebaut werden.“456 Das städtebauliche Konzept besteht aus einer verdichteten Bebauungsstruktur, die sich auf 500m Länge jeweils südlich und nördlich vom Zentrum erstreckt und größtenteils fußläufig erschlossen wird. Eine „[...]Folge von engen, nur dem Fußgänger vorbehaltenen Straßenräumen mit platzartigen Erweiterungen erfährt ihren Höhepunkt in einem zentralen Bereich.“457 Die Erschließung des Wohngebietes verläuft in zwei Ringstraßen parallel zu dieser Nord-Süd ausgerichteten „Aktivachse“, Parkplätze wurden größtenteils unterirdisch, unterhalb der Fußgängerplattformen realisiert. Alexander Mitscherlich458, im Planungsverfahren als Berater involviert, bewertet das Wohngebiet als „harmonisch“ und „reich an städtischer Variation“.459 Die Gebäude gliedern sich der Hanglage an und ermöglichen immer wieder Ausblicke über das Tal. Rampen und Treppen lockern die Fußgängerbereiche auf und eröffnen kleinteilige Räume. Das Wohngebiet Emmertsgrund besitzt einige der Definition von Großwohnkomplexen entsprechende Parameter, trotzdem kann es aufgrund der peripheren Lage am Stadtrand und der trotz der beschriebenen Maßnahmen relativ geringen räumlichen Dichte sowie der Erschließungsstruktur nicht als Großwohnkomplex angesehen werden. Es ist jedoch gut mit dem Zentrum der Großwohnsiedlung „Nordweststadt“ oder den britischen „New Towns“ und ihren verdichteten Zentrumsstrukturen vergleichbar. Im Gegensatz zu Großwohnkomplexen in bestehenden innerstädtischen Bebauungsstrukturen ist bei diesem Beispiel die Abgrenzung zur Umgebung nur schwer definierbar. Während die „Aktivachse“ dieses Demonstrativbauvorhabens durchaus Parallelen zu Großwohnkomplexen aufweist, ist doch die Abgrenzung zu den ebenfalls zeitgleich erstellten, weniger verdichteten Bebauungsstrukturen nicht deutlich. Es wird in diesem Kapitel klar, dass die in den 1960er Jahren aufkommende Forderung nach Verdichtung auf stadtstruktureller und soziologischer Ebene mit 455  Vgl. Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Versuchsund Vergleichsbauten und Demonstrativmaßnahmen. Heidelberg Emmertsgrund. Planung unter sozialen Aspekten. Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 12. 456  Ebd., S. 12. 457  Ebd., S. 111. 458  Alexander Mitscherlich (1908–1982), deutscher Psychoanalytiker und Soziologe. 459  Vgl. Mitscherlich, Alexander In Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Versuchs- und Vergleichsbauten und Demonstrativmaßnahmen. Heidelberg Emmertsgrund. Planung unter sozialen Aspekten. Bonn – Bad Godesberg 1976, S. 15.

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wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Forschungsvorhaben und Demonstrativbauvorhaben untermauert wurden. Ebenfalls zeigen diese beispielhaft ausgewählten Forschungsprojekte, dass städtebauliche Utopien durchaus als realisierbar eingeschätzt wurden und einen zukunftsweisenden Einfluss auf die Realisierung von neuen Bebauungsstrukturen hatten. Die Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten zu städtebaulichen Themen, die alle von staatlicher Seite finanziert und gefördert wurden, unterstreicht noch einmal den Glauben an sowohl die Wissenschaftlichkeit von Planung als auch an die herausragende Position der verdichteten Bauweise im Kontext der Stadtplanung in den 1960er und 1970er Jahren. Gesellschaftlich städtebauliche Veröffentlichungen Neben den beschriebenen wissenschaftlich strukturierten Forschungsprojekten wurden in den 1960er/1970er Jahren auch zukunftsweisende Publikationen veröffentlicht, die die Entwicklung der Stadtplanung weniger wissenschaftlich, als auf ideologischer Ebene thematisierten. In diesem Zusammenhang werden hier nun vier Veröffentlichungen beispielhaft vorgestellt. Die Publikation „Wo leben wir morgen?“ aus dem Jahr 1963 (Originalfassung) zeigt utopische und realisierte Projekte gleichermaßen als Vorschläge zur zukünftigen Stadtplanung auf. „Profitopolis“, eine Ausstellungspublikation aus dem Jahr 1972 (München), ist eine eher wirtschaftlich-politisch geprägte Publikation und „For Everyone a Garden“ beschreibt aus soziologischer bzw. aus Nutzersicht die Vorteile neuer Bebauungsstrukturen. “Wo leben wir morgen?“ ist eine in Frankreich erschienene Publikation, die sich, ebenfalls basierend auf der Kritik an der „modernen Stadtplanung“, mit zukünftiger Stadtentwicklung auseinandersetzt, indem sie aus unterschiedlichen Untersuchungszusammenhängen utopische Projekte und realisierbare Entwürfe vorstellt. Als Grundlage der Publikation werden erneut die wachsende Weltbevölkerung, die Verkehrsproblematik in den Städten und der steigende Wohlstand, durch den eine freizeitorientierte Gesellschaft erwächst, herangezogen. Die „tertiäre Zivilisationsstufe“ prägt, so die Zukunftsaussichten, die künftigen Megastädte. Als städtebauliche Antwort auf diese Entwicklungen wird die „Besiedlung des Raumes“, also eine dreidimensionale Stadtplanung vorgeschlagen. Die „Masthäuser“ von Frei Otto, Yona Friedmans „Paris Spatial“ oder die „Trichterhäuser“ von Walter Jonas werden als zukunftsfähige Baustrukturen vorgestellt. Auch Behausungen auf dem Mond werden diskutiert und konkrete Vorschläge zur Konstruktion vorgestellt.460 Die Überlegungen reichten bis zu 460  Vgl. Ragon, Michel: Wo leben wir morgen? Aus dem Französischen von Jörg Sellenriek. 1963, München 1976, S. 134f.

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Abb. 50: „Die komplexe Lösung einer Wohngegend schließt Isolierungen aus [..].“ H.P. Bahrdt,/Moshe Safdie – Dreidimensionales,modulares System (1960)

Quelle: Die Neue Sammlung. Staatliches Museum für angewandte Kunst (Hrsg.): Profitopli$. München 1972, S. 37/Safdie, Moshe: For everyone a garden. Cambridge 1974, S. 54

artifiziellen Raumstrukturen mit autarker Klimatisierung und kontrollierter Geräuschkulisse. Beispielhaft wird dabei Buckminster Fullers Projekt einer geodätischen Kuppel für Teile von Manhatten aufgezeigt.461 Diese Publikation verdeutlicht noch einmal von einer weiteren Perspektive das zukunftsorientierte Denken im Städtebau. Insbesondere die Überlegungen zu dreidimensionalen Raumtragwerken fanden in Großwohnkomplexen in der Realisierung von unterschiedlichen Verkehrsebenen und Dachterrassen sowie in der Stapelung von Funktionen ihre Anwendung. Die Veröffentlichung zur Ausstellung „Profitopolis“ im Jahr 1972 in München zeigt die damalige Situation der Städte in Deutschland auf und eröffnet Lösungsmöglichkeiten, wobei Verdichtung, Multifunktionalität, Zentrumsbildung, Nachbarschaften und gesellschaftliche Vielfalt im Fokus standen. Die Ausstellungspublikation wird mit klaren Forderungen eingeleitet: „Städtebau ist eine politische Aufgabe, die ohne engagierte Partizipation der Bürger nicht geleistet werden kann. Damit unsere Städte wieder menschenwürdig werden [...] müssen die Bürger sich entschließen, mündig zu werden und initiativ an der Gestaltung ihrer Stadt mitzuwirken. Für diesen Entschluss ist die kritische Einsicht in die Miserabilität der städtischen Zustände und in die Möglichkeit und

461  Vgl. ebd., S. 178.

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Notwendigkeiten ihrer Änderungen unerlässliche Voraussetzung.“462 Unter anderem von Hans Paul Bahrdt463 und Alexander Mitscherlich werden die Großwohnsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus der Nachkriegszeit, der „Verlust an Urbanität“ in den Einfamilienhausgebieten am Stadtrand, die „gesellschaftliche Sterilität“ bedingt durch homogene Bebauungs- und Wohnungsstrukturen, der wachsende Bedarf an Verkehrsflächen innerhalb der Stadt, die Gefahren, die für Fußgänger davon ausgehen und die Lärm- und Abgasbelästigung kritisiert. Übergeordnete Kritik bestand jedoch vor allem im Streben nach maximalem Profit innerhalb der Stadtstrukturen. Als Lösung wird die Artikulation der Bedürfnisse von Stadtbewohnern aufgezeigt. Stadtstrukturen mit öffentlichen und halböffentlichen Räumen, visuelle Kontakte und eine Privatsphäre in Verbindung mit der Möglichkeit fußläufiger Erschließung der Stationen öffentlicher Verkehrsmittel, Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf und Gemeinschaftseinrichtungen werden in der Publikation gefordert. Eine gesellschaftliche Vielfalt durch heterogene Bebauungsstrukturen, Multifunktionalität innerhalb von Gebäuden und private und öffentliche Grünräume sowie kinder- und altengerechte Wohnanlagen sollten die Grundlagen neuer Planungsabsichten werden. Das Zentrum müsse als solches wieder erlebbar werden. „Der Mangel an Urbanität in den Wohngebieten unserer Städte, besonders in den Wohntrabanten weit draußen, ist die Folge einer Entmischung der Funktionen, die […] zu einer ständig zunehmenden, […] inhumanen Verödung der übrigen Stadt geführt hat. Urbanität kann nur zurückgewonnen werden, wenn diejenigen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse, die in einem Quartier auftreten, auch in diesem Quartier und nicht anderswo erfüllt werden.“464 Zeichnerisch werden in der Publikation Gebäudestrukturen aufgezeigt, die Ähnlichkeiten zu Großwohnkomplexen darstellen. Da die Ausstellung im Jahr 1971 eröffnet wurde, kann man davon ausgehen, dass die dort formulierten Forderungen bereits in realisierten Großwohnkomplexen besichtigt und als zukunftsfähig eingeschätzt wurden. Konkrete Bezüge zu realisierten Projekten wurden jedoch nicht formuliert. Moshe Safide, Autor der Publikation „For Everyone a Garden“ und Architekt des „Habitat 67“ in Montreal, legt seinen gestapelten, multifunktionalen und kommunikationsfördernden Bebauungsstrukturen unter anderem die theoretischen Modelle der Metabolisten aus den 1960er Jahren zugrunde. Dabei kriti462  Die Neue Sammlung. Staatliches Museum für angewandte Kunst (Hrsg.): Profitopli$. München 1972, S. 5 (Einleitung). 463  Hans Paul Bahrdt (1918 – 1994), deutscher Soziologe. 464  Die Neue Sammlung. Staatliches Museum für angewandte Kunst (Hrsg.): Profitopli$. München 1972, S. 49.

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sierte er jedoch den Mangel an realisierbaren Konzepten.465 Die Ansätze des Autors zu erweiterbaren und veränderbaren Stadtstrukturen können dem strukturalistischen Denken zugeordnet werden: Anhand unterschiedlicher dreidimensionaler Systeme stellt Moshe Safide in der oben genannten Publikation seine Studien vor, in denen Kommunikation und Erschließung jeweils eine übergeordnete Rolle spielen. Ebenso wird das Thema der Gemeinschaftlichkeit und Privatheit innerhalb großer Wohnkomplexe aufgezeigt. „So the identity of the units that make up the community and the identity of each person“s place are important. When you separate houses in space to express their identity, you create another quality of environment [...].”466 Außerdem hebt der Autor die Qualität privater Außenräume hervor: “The fact that you can go from indoors to outdoors make the difference between feeling fairly self-sufficient in the environment and feeling locked into an apartment where you must leave the building just to get some fresh air.”467 Während er abschließend auf die Realisierungsmöglichkeiten solcher Strukturen mithilfe des vorfabrizierten Bauens eingeht, wird in dieser Publikation ebenso deutlich, dass auch die soziologischen Grundsätze die Entwicklung der Wohnkomplexe Moshe Safdies geprägt haben. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, die privaten Außenräume und die Übergänge zwischen der privaten „Zelle“ und dem öffentlichen Raum, die durch eine Halböffentlichkeit ergänzt werden, werden vom Autor hervorgehoben und bilden offensichtlich den Grundsatz seiner Bebauungsstruktur. Wahrnehmung von Großwohnkomplexen Die in der Zusammenstellung im Anhang dargestellten Beispiele zeigen die Unterschiedlichkeit realisierter Großwohnkomplexe und verwandter Gebäudestrukturen auf. Ähnlich unterschiedlich ist die Wahrnehmung dieser komplexen Baustrukturen in der Öffentlichkeit. In dem nun folgenden Kapitel werden erst auf theoretischer Ebene und anschließend anhand konkreter Beispiele die Wahrnehmung von Großwohnkomplexen in der Öffentlichkeit und der Wandel in der Wahrnehmung von der Entstehung bis heute aufgezeigt. Ergänzend zeigt der abschließende Exkurs eine persönliche Einschätzung der Wohn- und Lebenssituation im Großwohnkomplex „Ihmezentrum“. Dass die Wahrnehmung von Großwohnkomplexen nicht immer positiv ist, wurde schon einleitend zu dieser Untersuchung thematisiert. In diesem Kapitel soll jedoch vielmehr darüber hin465  Vgl. Safdie, Moshe: For everyone a garden. Cambridge 1974, S. 2. 466  Ebd., S. 45. 467  Ebd., S. 46.

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aus herausgearbeitet werden, worin diese negative Reputation begründet liegt und warum Großwohnkomplexe, trotz denkbar schlechter Ausgangslage, trotzdem von den Bewohnern als positiv bewertet werden. Theoretische Grundlagen zur Wahrnehmung von Großwohnkomplexen Die Wahrnehmung von Großwohnkomplexen kann auf theoretischer Ebene mithilfe des Begriffes der Stadtraumästhetik untersucht werden. Dabei gilt der Grundsatz, dass Architektur und Stadträume aufgrund ihrer Größe nur beim Begehen und Durchwandern ganzheitlich erfahren werden können.468 In Bezug auf Objekte im Stadtraum wird dabei insbesondere wichtig, dass das Angekommen und die Verortung das Objektes im umgebenden Stadtraum ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt. Es wird damit deutlich, dass die unmittelbare Schnittstelle zwischen umgebenden Stadtraum und Großwohnkomplex für die Wahrnehmung, insbesondere von Menschen die das Innere des Komplexes (noch) nicht besucht haben, entscheidend ist. Ein entscheidender Faktor ist jedoch gleichzeitig die öffentliche Meinung, die durch die Medien ein bestimmtes Bild von Großwohnkomplexen im Allgemeinen und auf regionaler Ebene vom spezifischen Fallbeispiel zeichnet. Dabei wird vermehrt eine oberflächliche Sichtweise dokumentiert, die gleichzeitig durch Berichte über soziale Probleme in den verdichteten Großwohnsiedlungen am Stadtrand genährt wird. In einer Publikation über die „Wahrnehmung und Nutzung städtischer Umwelt“ wird anhand des Beispiels einer Großsiedlung festgestellt, dass die Nutzungsmöglichkeiten der halböffentlichen und öffentlichen Räume eine entscheidenden Rolle bei der Bewertung des Wohnumfeldes spielen: „Diese Handlungsund Erlebnisräume sind so vielseitig und flexibel zu gestalten, daß [sic!] sie kollektive Interaktionsformen begünstigen und zur Überwindung von weit verbreiteter Anonymität, Vereinsamung und sozialer Kontaktlosigkeit beitragen und vor allem das feststellbare öffentlich-politische Desinteresse überwinden helfen.“469 Weiter wird herausgearbeitet, dass Wert auf „kleinräumlich gemischte Nutzungsstrukturen“470 gelegt werden müsste, dass „Variabilität und Flexibilität der Wohnumweltstrukturen“ die Bedürfnisse der Gesellschaft der 1970er Jahre bestmöglich verkörpert und dass, analog vieler Theorien dieser Zeit und im Sinne des Strukturalismus, eine „Neuinterpretation des Beziehungszusammen468  Vgl. Kapitel „Ästhetik“. 469  Jüngst, P./Pfomm, K./Poppinga, O./Schulze-Göbel, H. (Hrsg.): Wahrnehmung und Nutzung städtischer Umwelt. Kassel 1977, S. 246. 470  Vgl. dies und die Folgenden: Ebd., S. 247.

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hangs von Privatheit zu Öffentlichkeit“ notwendig wird. Diese Erkenntnisse über die Grundsätze des verdichteten Wohnungsbaus in den 1960er/1970er Jahren sind nicht neu und wurden im Laufe dieser Arbeit an unterschiedlichsten Stellen dargelegt. Im vorliegenden Kapital soll nun aufbauend auf diesen Grundlagen aufgezeigt werden, welche praxisorientierten Schlüsse aus diesen Erkenntnissen gezogen wurden und zukünftig gezogen werden können. Ein entscheidender Aspekt, der in diesem Zusammenhang insbesondere für die Wahrnehmung von Großwohnkomplexen relevant wird, ist der Aspekt des „Images“. Gemäß Heidede Becker und Klaus Dieter Keim in der Publikation „Wahrnehmung in der städtische Umwelt“ ist das „Image“ die letzte von vier Wahrnehmungsstufen die von einer „objektiven“ Stadtgestalt als „Ist-Umwelt“ über das „Erscheinungsbild“ und das „Vorstellungsbild“ (beides bereits mit steigenden subjektiven Anteilen) bis zum „Image“ reicht.471 „Das Image einer Stadt lässt sich interpretieren als Nivellierung der Vorstellungsbilder vieler zu einem „typischen“.“472 Während Keim und Becker den „werbetechnischen“ Aspekt des Images herausarbeiten und damit eine positive Beeinflussung des Raumbildes mittels Werbetechniken beschreiben, kann für Großwohnkomplexe auch ein negativer Trend und damit die Entstehung eines negativen Images nachgewiesen werden. Es wird deutlich, das beschreiben auch die Autoren der benannten Publikation, dass die Unterscheidung zwischen Bewohnern und Besuchern einer Stadt bzw. eines Großwohnkomplexes unterschiedliche Wahrnehmungen besitzen. Dabei spielt das Image des Objektes/der Stadt bei den Besuchern eine übergeordnete Rolle. Auf den positiven Imageeffekt bezogen führen die Autoren aus: „Durch die besondere Besucherwerbung werden Auswärtige „eingestimmt, indem ihnen Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen suggeriert werden; ihnen wird vorgegeben, wie sie sich zu bewegen und zu verhalten haben. Das heißt: Der Besucher betritt eine Stadt mit einer vorgefaßten [sic!] Meinung und Stimmung.“473 Diese Erkenntnis kann gleichwertig auf einen negativen Imageeffekt angewandt werden. Das Image einer Stadt oder eines Stadtteils kann demnach insbesondere die Wahrnehmung von Besuchern beeinflussen. Transferleistungen von einer Bebauungsstruktur zu einer ähnlichen Bebauungsstruktur des gleichen Entstehungszeitraums werden dabei sowohl positive als auch negative Imagebilder beinhalten; stereotype Erscheinungsformen, wie die Fassadenstrukturen, die 471  Vgl. Becker, Heidede/Keim, K. Dieter: Wahrnehmung in der städtischen Umwelt – möglicher Impuls für kollektives Handeln. 1972, 4. Auflage mit kommentiertem Literatur Nachtrag: Berlin 1978, S. 111f. 472  Ebd., S. 112. 473  Ebd., S. 114.

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der Brutalismus in Teilen hervorgebracht hat, werden somit schnell mit vermeintlich „bekannten“ negativen Aspekten belegt. Zur Wahrnehmung städtischer Umwelt gehört unabhängig von den oben dargestellten Teilbereichen das wie und wie schnell sich der Wahrnehmende im Stadtraum bewegt. Während in vielen Bereichen das Auto als individuelles Verkehrsmittel oder der öffentliche Nahverkehr (Busse/überirdische Straßenbahnen) den Stadtraum mit mittlerer Geschwindigkeit erfahrbar machen, kommt bei unterirdischen Verkehrsmitteln der Effekt des „Auftauchens“ an bestimmten Stellen im Stadtraum ohne eine Wegebeziehung zwischen Start und Endpunkt hinzu. Entscheidend für das Thema der Großwohnkomplexe ist jedoch vielmehr die geringe Geschwindigkeit fußläufiger Erschließung. „Anhalten wenn es einem „Spaß macht“; jemanden treffen, stehenbleiben und mit ihm sprechen; spontan auf Reize der Umwelt, auf Gedanken oder Assoziationen eingehen und die Geschwindigkeit oder Richtung ändern; stehen bleiben und etwas betrachten; beginnen zu laufen, sich setzen, spielen – all das sind integrale Bestandteile der Fortbewegungsart Gehen.“474 Die geringe Gehgeschwindigkeit und die Möglichkeit hoher Flexibilität und Spontanität lässt also Interaktionen im Stadtraum in einem höheren Maße entstehen, als alle weiteren Fortbewegungsmittel dies zuließen. Bestätigt wird dies durch eine Studie der Universität New Hampshire aus dem Jahr 2011: Sie fanden heraus, dass Menschen, „[...]die ihre wesentlichen Erledigungen des Alltags zu Fuß erledigen können [...] stärker am gesellschaftlichen Leben teil[nehmen, K.B.] und [...] ihrer Umwelt stärker [vertrauen, K.B].“475 Die Wahrnehmung von Fußgängern ist dabei durch die geringeren Geschwindigkeiten deutlich differenzierter, sodass kleinteilige Räume und enge Wege in ihrer gesamten Komplexität wahrgenommen werden können und von Fußgängern und Radfahrern angenommen werden. Darüber hinaus wird in Wohngebieten mit mehr oder weniger hauptsächlich fußläufiger Erschließung die Wegeführung wichtig: Zum Erkunden, Entdecken und Spazierengehen sind andere Wege notwendig, als zum zielgerichteten zu Fuß gehen. Während der Spaziergänger „[...]unterschiedliche Wege, die zu bestimmten Stellen führen; die Möglichkeit, verschiedenartige Eindrücke sammeln zu können, etwas entdecken zu können; akustische und optische Ruhe [...]“476 sucht, möchte der handlungsorientierte Nutzer „[...]vor allem zu einer bestimmte Stelle gelangen [...]. Die 474  Garbrecht, Dietrich: Zu Fuß gehen – Anmerkungen zu einem alltäglichen Verhalten in der städtischen Umwelt. In: Lammers, Gadso (Hrsg.): Verhalten in der Stadt. Karlsruhe 1977, S. 246. 475  https://www.pressetext.com/news/20101209003. 02.08.13, 14:30. 476  Machule, Dittmar: Geplante Außenräume. Berlin 1978, S. 74 .

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Erwartungen betreffen zum Beispiel abkürzende Fußpfade, direkte Wege ohne Hindernisse, festen und sauberen Wegbelag usw..“477 Je nach Nutzung mit unterschiedlicher Gewichtung, jedoch beim zufußgehen immer unmittelbar, wirken Einflüsse wie „[…] Licht und Schatten, Farben, die Oberflächen der Wege, Wärme und Kälte, Verkehrslärm und Stimmengewirr, Abgase und Blütenduft.“478 Im Folgenden wird nun die Wahrnehmung realisierter Großwohnkomplexe anhand des Beispiels „Ihmezentrum“ dargestellt. Das Ihmezentrum, geprägt durch großflächige öffentliche Ladenzeilen, liegt heute durch die Insolvenz und dem Wechsel unterschiedlicher Investoren, die seit 1996 eine Revitalisierung des Ihmezentrums planten, seit den im Jahr 2006 begonnen Umbauarbeiten nun bereits seit dem Jahr 2008 in den öffentlichen Bereichen als Großbaustelle brach, während die Wohnungen weiterhin bewohnt werden. Die Entwicklung des „Ihmezentrums“ 1975–2013 Die folgende, beispielhafte Darstellung der Wahrnehmungsentwicklung von Großwohnkomplexen anhand des Projektes „Ihmezentrum“ trägt seinen Schwerpunkt in der Entwicklung der öffentlichen Wahrnehmung von der Entstehung des Komplexes bis heute. Methodisch werden in diesem Teil der Arbeit die unterschiedlichsten Techniken angewendet. Wissenschaftlich einwandfrei belegbare und empirisch ausgewertete Erkenntnisse werden jedoch daraus in diesem Kapitel nicht erwartet werden können. Vielmehr sollen aus unterschiedlichsten Quellen Informationen zusammengetragen werden, die eine Übersicht über die jeweiligen Entwicklungen aufzeigen. Dazu werden auch Zeitzeugeninterviews sowie Zeitschriften- oder Zeitungsartikel wiedergegeben, da aus diesen, zum Zeitpunkt der Erscheinung stets aktuellen Texten, zeitgenössische Sichtweisen aufgearbeitet werden können. Chronologische Entwicklungsstränge werden nachvollzogen und stellen in Verbindung mit den subjektiv geprägten Publikationen der Printmedien eine Übersicht über die Entwicklung der Komplexe dar. Informationen aus dem Internet werden in diesem Fall vermehrt mit einbezogen, da auf den Websites oder Internetauftritten der Großwohnkomplexe hilfreiche Informationen über die Entwicklung zu finden sind. Dass diese nicht immer wissenschaftlich belegbar sind, wurde bereits beschrieben. Um die Stimmung, die sich in der Öffentlichkeit in Bezug auf den jeweiligen Großwohnkomplex gebildet hat, darzustellen, sollte dieses Medium jedoch trotzdem nicht ausgeklammert werden. 477  Ebd., S. 74. 478  Ebd., S. 74.

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Abb. 51: Ihmezentrum Hannover (1972)

Quelle: Röhrbein, Waldemar R. : Hannover nach 1945. In: Mlynek, Klaus/Röhrbein, Waldemar R. (Hrsg.): Geschichte der Stadt Hannover. Band 2 – Von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Hannover 1994, S. 742

Das Ihmezentrum in Hannover ist von einer wechselhaften Geschichte geprägt. Während der Bauzeit wurde das Zentrum als innovativ und zukunftsweisend gelobt und die Größe des Gesamtkomplexes wuchs im Planungsprozess unter wirtschaftlichem Druck auf die dreifache der ursprünglich geplanten Nutzfläche an.479 Marianne Adrian schrieb 1998 rückblickend über das Ihmezentrum: „Das Ihmezentrum ist ein Experiment. Es ist legitimes Kind einer kurzen Zeit, in der alles möglich schien: U-Bahnbau und Stadtumbau, Städtebauförderungsgesetz und Sanierung […], komplexe Großprojekte, Fußgängerstraßen und Modernisierung […]. Die Schlüsselworte dieser Zeit hießen: „Stadtpolitik“ und „Experimenteller Städtebau“. Es sollte […] Jahre dauern, bis das in den 60ern Begonnene zu Ende gebracht war.“480

Jedoch änderte sich die öffentliche Sicht auf das Ihmezentrum bereits kurz nach der Fertigstellung. Bereits 1977 schrieb der „Spiegel“: „Die häßlichen Betonklötze von „Kröpcke-Center“ und „Ihme Zentrum“ sind auch wirtschaftliche

479  Vgl. Röhrbein, Waldemar R.: Hannover nach 1945. In: Mlynek, Klaus/Röhrbein, Waldemar R. (Hrsg.): Geschichte der Stadt Hannover. Band 2 – Von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Hannover 1994, S. 743. 480  Faust e. V. (Hrsg.): Das Linden Limmer Buch. Hannover 1998, S. 204.

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Fehlschläge“481 und spannte damit den Bogen zum ebenfalls in die Kritik geratenden Kröpcke Center in Hannovers Innenstadt.482 Weiter schrieb der Autor populistisch über das „[...] finstere, festungsgleiche Ihme-Zentrum mit 1200 Wohnungen, 90 Einzelhandelsgeschäften und Büros für 1200 Angestellte.“483 Gleichzeitig sind heute rückblickend konzeptionelle Änderungen zwischen dem Wettbewerb und der Realisierung ablesbar: Die Öffnung zum Ihmeufer und ein dort geplanter Hafen wurde nicht realisiert, die Ladenzeile wurde vom Erdgeschossniveau auf das 1. Obergeschoss versetzt und gleichzeitig, mit der Vergrößerung des Bauvolumens, ebenfalls deutlich vergrößert.484 Die positive Reputation, die das Ihmezentrum dann im Laufe der 1980er Jahre erfuhr ist auf die zu dieser Zeit funktionierenden Großmärkte im Norden und Süden des Komplexes sowie auf kleinteilige, teilweise spezialisierte Fachgeschäfte in der Ladenpassage zurückzuführen. Umbauten erwiesen sich jedoch bereits in dieser Zeit als schwierig: Marianne Adrain schrieb 1998 dazu: „Das liegt [...] an baulichen Festlegungen: In mehreren Ebenen dreidimensional miteinander verflochtene Nutzungen mit vielen Verknüpfungspunkten sind nur unter unvertretbar hohen Kosten neu organisierbar.[...] [D]ie mit der baulichen Struktur zusammenhängende Eigentumsordnung […] [erschwert außerdem, K.B.] jeden Umbau. Und [...] die Ladennutzung selbst [trägt, K.B.] nicht unerheblich zu den Schwierigkeiten bei: ihre schnell wechselnde „Ladenmode“, ihre sich seit 1974 ständig verkürzenden „Verfallsdaten“ lassen sich bei wachsendem Flächenanspruch kaum mehr in der normalen Stadt, geschweige denn in einer „komplexen“, verdichteten Struktur verkraften.“485 Die von Adrian angesprochen Eigentumsordnung, die festlegt, dass jedem Wohnungseigentümer ein Teil der öffentlichen Flächen gehört, stellt dabei ein langfristiges Problem bei Umbaumaßnahem dar.486 Nach Auszug des Großfachmarktes Huma Ende der 1980er Jahre und auftretenden Schwierigkeiten in der Vermarktung kleinere Geschäftsflächen wurde im Jahr

481  N.N.: Duldend den Friedensschutt ertragen. In: Der Spiegel Nr. 32 1977, S. 115 482  Das Kröpcke Center wurde in den letzten Jahren umfassend saniert und in Teilen zurückgebaut. (Fertigstellung geplant für 2014). 483  Ebd., S. 115. 484  Vgl. Darstellung des Wettbewerbentwurfes in: Schwab, Gerhard: Differenzierte Wohnanlagen. Stuttgart 1975, S. 84ff . 485  Faust e. V. (Hrsg.): Das Linden Limmer Buch. Hannover 1998, S. 206. 486  Vgl. Interview mit Monika Großmann im folgenden Exkurs sowie Erläuterungen zum Olympischen Dorf.

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1996 eine Revitalisierung des Ihmezentrums beschlossen.487 Während in den folgenden Jahren Schlagzeilen über immer neue Investoren die Pressestimmen prägten, erschien im Jahr 2000 ein Investor, der den Baubeginn für eine Revitalisierung auf das Jahr 2002 terminierte. Während sich der Baubeginn weiter verzögerte wanderte 2002 auch der zweite große Einkaufsmagnet, der Medianfachmarkt Saturn in die Innenstadt Hannovers ab. Die Büroflächen waren durch die negativen Schlagzeilen und das fehlende öffentliche Leben schwer vermietbar und die Stadtwerke, die mit der Anmietung eines großen Büroturms einen hohen Anteil der Büroflächen füllen, drohten mit Auszug. In den folgenden Jahren waren sowohl die Polizei, als auch Stadtbibliotheken, Ämter oder ein Bürgerservice-Center als weitere Mieter im Gespräch. In diesen Jahren verschlechterte sich die öffentliche Meinung über das Ihmezentrum weiter und Schlagzeilen wie „Bröseln in der Betonmaschine-Ihmezentrum in Hannover, das langsam in Richtung Ghetto kippt“488 prägen das Image weitgehend. Im Jahr 2005 wurde schließlich mit dem „Lindenpark“ ein neues Konzept vorgestellt, dessen Baustart auf Anfang 2006 terminiert wurde. Überraschend übernahm ein amerikanischer Investor im Jahr 2006 die Pläne zur Revitalisierung. Der neue Zeitplan sah nun für 2009 erste Geschäftsöffnungen vor. Die weltweite Finanzkrise bedingte jedoch Zahlungsschwierigkeiten, und die Insolvenz des Investors Anfang 2009 führte zu einem Baustopp. Die Erschließung der weiterhin genutzten Wohnungen erfolgt seitdem auf unübersichtlichen und notdürftig hergerichteten Wegen, die mit Bauzäunen die stillliegende Baustelle abgrenzen. Dieser Zustand und der zunehmende Verfall führen weiterhin zu einem negativen Image. Die Presse griff dieses Image auf und berichtet über die Angst der Bewohner, die Revitalisierung finanziell nun selbstständig tragen müssten.489 Eine in den Jahren 2010 und 2011 vorbereitete und von nahezu allen Eigentümern unterschriebene Teilungserklärung führt zu neuen Eigentumsverhältnissen, die eine Vermarktung der Gewerbeflächen erleichtern sollen.

487  Vgl. Großmann, Monika, 2002. Veröffentlich auf der Homepage hhtp://www.blizihmezentrum.de/Frameseite.htm, 02.12.2011, 12.05Uhr. 488  TAZ Nord 02.03.2004. 489  Vgl. Zeitungsartikel der HAZ: „Unsichere Zeiten für das Ihmezentrum“: http://www.haz.de/Hannover/Themen/Unsichere-Zeiten-fuers-Ihme-Zentrum 28.10.12, 16:49.

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Abb. 52: Ihmezentrum Hannover

Quelle: Schwab, Gerhard: Differenzierte Wohnanlagen. Stuttgart 1975, S. 86

Exkurs: Zeitzeugeninterview Anhand eines Leitfadeninterviews mit einer Bewohnerin des „Ihmezentrums“ in Hannover wird der folgende Exkurs Einblicke in die (subjektive) Wahrnehmung von Großwohnkomplexen erlauben. Während der Schwerpunkt der Fragestellungen im Verlauf des Interviews auf den Aspekten „Gesellschaft in den 1970er Jahren in Bezug auf den Bau von Großwohnkomplexen“, „Urbanität als Potenzial“ und „Großwohnkomplexe als Zukunftsmodell“ lagen, bezog sich die Interviewte, Monika Großmann, vermehrt auf die heutige Situation. Die geplanten Veränderungen konnten im Verlauf des Gespräches jedoch in Bezug zur Grundidee des „Ihmezentrums“ aus der Sicht der 1970er Jahre gesetzt werden und ergeben damit eine gute Grundlage anhand derer die erlebten Vorteile des Großwohnkomplexes zur Entstehungszeit herausgearbeitet werden können. Das „Ihmezentrum“ ist ein lang gezogener Gebäudekomplex, der sich am Verlauf des namengebenden Flusses „Ihme“ orientiert. Entscheidendes städtebauliches Element des „Ihmezentrums“ ist eine Bebauung, die die Fußgängerebene allseitig umschließt und vom umgebenden Stadtraum trennt. Gleichzeitig wurden auf dieser Ebene unterschiedlich große Ladenflächen realisiert, die deutlich den täglichen Bedarf der Bewohner überschritten und nur durch zusätzliche Besucher im Zentrum wirtschaftlich getragen werden konnten. Obwohl in den ersten Jahren nach der Eröffnung das „Ihmezentrum“ ein Besuchermagnet war, erlebte das Zentrum in den 1990er Jahren eine hohe Fluktuation innerhalb dieser Ladenzeile. Leerstehende Geschäftsflächen ließen das Zentrum kontinuierlich

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veröden.490 Die stark introvertierte Geste des Zentrums, ohne großzügige Öffnungen zum Grün- oder Stadtraum, erwies sich in diesen Jahren als negativ. Wie die chronologische Erläuterung bereits zeigte, ist das Image des „Ihmenzentrums“ durch negative Schlagzeilen und vorschnelle Schlussfolgerungen in der Öffentlichkeit geprägt. Die Darstellung der Wahrnehmung des Zentrums aus Sicht einer langjährigen Bewohnerin wird dagegen zeigen, wie unterschiedlich die individuelle Wahrnehmung und das öffentliche Bild am spezifischen Beispiel des Ihmezentrums sind. Die abweisende Geste des Zentrums gegenüber der Umgebung, der durch den erheblichen Höhenunterschied bedingte Bruch im kontinuierlichen Wegenetz der Fußgänger entlang des Flusses und im Stadtraum, und die strukturalistisch-brutalistische Fassadenstruktur ergibt einen eher negativ geprägten ersten Gesamteindruck. In der Realität sind die Mietpreise jedoch stabil, 50% Eigentümern bewohnt die Wohnungen selbst und der Wohnungsleerstand liegt im durchschnittlichen Bereich.491 Wie bereits thematisiert, wurde das „Ihmezentrum“ um ein vielfaches größer gebaut als es die ursprünglichen Planungen vorsahen. In dieser Zeit standen sich stadtplanerische Ansichten und der Wunsch nach hohen wirtschaftlichen Erträgen gegenüber. Als größtes Problem sieht Monika Großmann rückblickend die Entscheidung an, dass die durch die Bewohner durch den Besitz von Anteilen am Gesamtbauwerk ein Mitspracherecht besitzen und jeweils für Sanierungsund Umbaumaßnahmen das Einverständnis aller Wohnungseigentümer eingeholt werden muss. Dies führt in den seltensten Fällen zu einer Beschlussfähigkeit.492 Als positiven Aspekt arbeitet Monika Großmann im Laufe des Gespräches die Konstruktion des Gebäudekomplexes heraus: Die Wohn-, Büro- und Geschäftshäuser wurden aus einem Konstruktionsraster von sechs mal acht Metern entwickelt, was einfache Grundrissveränderungen innerhalb der eigenen Wohnung ermöglicht und damit Individualität erzeugt. „Wo kann man sich sonst die Wohnung so frei gestalten?“493, fragt Monika Großmann im Laufe des Gesprächs. Im Ihmezentrum wurden nach Angaben von Monika Großmann überwiegend Wohnungen mit 80–100m2 gebaut, die Penthäuser besitzen Grundrisse von 100–200m2 Fläche.494 Die Einzimmerappartements erreichen etwa 40m2 Wohnfläche. Als problematisch wird von Monika Großmann das Hochhaus 490  Großmann, Monika, 2002. Veröffentlich auf der Homepage hhtp://www.blizihmezentrum.de/Frameseite.htm, 02.12.2011, 12.05Uhr. 491  Vgl. Monika Großmann 2011. 492  Vgl. Monika Großmann 2011. 493  Monika Großmann 2011. 494  Vgl. dies und das Folgende: Monika Großmann 2011.

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Abb. 53: Beispielgrundrisse, Ihmezentrum Hannover

Quelle: Schwab, Gerhard: Differenzierte Wohnanlagen. Stuttgart 1975, S. 87

„Ihmeplatz 1“ mit etwa 180 Wohneinheiten genannt. Das Gebäude wurde als Studentenwohnheim mit Ein- bis Zweizimmerwohnungen geplant. Die Wohnungen wurden jedoch später als Appartements verkauft und zumeist vermietet. Heute befinden sich einige Wohnungen und Gebäude im „Fondbesitz“, wobei diesem Fond jedoch oft die finanziellen Mittel zur Sanierung der Wohnungen fehlen, sodass eine Aufwertung weiterhin aussteht. Monika Großmann wohnt nun seit etwa 20 Jahren im Ihmezentrum, hat sich bereits seit den 1970er Jahren mit dem Zentrum beschäftigt und kennt die Entstehungsgeschichte. Ihre Entscheidung für das Ihmezentrum fiel mit dem Wunsch nach stadtnahem Wohnen. Monika Großmann erläutert, dass bereits während der Planungsphase der Wohnungen vierseitige Fragebögen an potenzielle Käufer und Eigentümer einer bestimmten Wohnung verteilt wurden, und daraufhin die Wohnung nach den individuellen Wünschen der Nutzer ausgebaut wurden. Es wurden Vorschläge zur Balkonbepflanzung erarbeitet, da die Bepflanzung auf großen Höhen speziellen Anforderungen unterliegt. Als Vorteil nennt Monika Großmann die behindertengerechte Erschließung der Wohnungen im Ihmezentrum. In Bezug auf die Nutzung des öffentlichen Raums im Laufe der 1970er Jahre berichtete die Bewohnerin von „schönen Brunnen und Sitzmöglichkeiten“ die insbesondere im Sommer häufig genutzt wurden. Eisdielen und Bäckereien wurden als informelle Treffpunkte genutzt. Hanns Adrian wird von Monika Großmann in Bezug auf das öffentliche Leben im Großwohnkomplex mit den Worten zitiert: “Ich bin froh, dass ich hier wohne, dann muss ich nicht alleine

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frühstücken“.495 Unter Anderem beschreibt Monika Großmann diese soziale Nähe mit dem Ausdruck „Puschenwohnung“ da man mit den Hausschuhen zum Einkaufen gehen könnte. Sie berichtete, dass in den 1980er Jahren die Menschen mit ihrem Einkaufswagen bis vor die Wohnungstür fahren konnten. Monika Großmann beschreibt in diesem Zusammenhang die zwischenzeitliche Planung eines anderen Investors als positiv, der eine großzügige Außenanlage auf der offenen Ebene plante und dort Kunst und Kultur im öffentliche Raum sowie die Ansiedlung von Galerien und Ateliers plante. Dies wäre ein Umbau „[...]im Sinne der 1970er Jahre“496 gewesen, jedoch wollte die Stadtverwaltung nicht in ein solches, vermeintlich wirtschaftlich wenig ertragreiches Projekt investieren. Unabhängig von den Umplanungsvorschlägen ist und bleibt das Wohnen im Ihmezentrum nach Aussage von Monika Großmann jedoch „toll“.497 Sie habe vor etwa 20 Jahren ihr Haus verkauft um in diese Wohnung einzuziehen. Als entscheidendes Kriterium sieht Monika Großmann das stadtnahe Wohnen und die Möglichkeit des gemeinschaftlichen Wohnens. Man könne sich jedoch im Ihmezentrum ebenfalls abschotten, ohne das Gefühl zu haben, in einem Großwohnkomplex mit höherer Dichte zu wohnen. „Man trifft sich dann nur am Briefkasten“.498 Als positiv unterstreicht Monika Großmann ebenfalls die Nachbarschaftshilfe: „Wenn man jemanden braucht ist jemand da“. Sie unterstreicht den Zusammenhang von der gemeinschaftlichen Fläche im Zentrum des Komplexes und der „Freiheit“ der Wohnungen, die nach außen orientiert sind. Da alle Balkone in die gleiche Richtung zeigen und durch Wände visuell voneinander getrennt sind, hat man nicht das Gefühl der Dichte und engen Nachbarschaft. „Wenn man nicht will, sieht und hört man nichts von den Nachbarn. Man wohnt völlig allein.“499 Monika Großmann empfindet ihre Wohnung „wie ein eingeschobenes Einfamilienhaus, wie ein Reihenhaus gestapelt“.500 Diesen Eindruck führt sie darauf zurück, dass pro Flur jeweils nur wenige Wohnungen angeschlossen sind und so eine soziale Kontrolle ermöglicht wird. Sie sieht diese Kleinteiligkeit in der großen Masse als Qualität an. Monika Großmann gibt jedoch, wie anfangs bereits beschrieben, zu Bedenken, dass der Maßstab durch die Veränderungen in der Planungszeit, „verrutscht“ sei.

495  Vgl. Monika Großmann nach Adrian 2011. 496  Monika Großmann 2011. 497  Vgl. Monika Großmann 2011. 498  Monika Großmann 2011. 499  Monika Großmann 2011. 500  Monika Großmann 2011.

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Unter den Nachbarn entstehen „[...] wenn man möchte“501 soziale Kontakte und eine soziale Kontrolle. Gemeinschaftliche Aktivitäten entwickeln sich daraus nach Aussage von Monika Großmann jedoch kaum, private, nachbarschaftlich-freundschaftliche Kontakte werden jedoch gepflegt. Monika Großmann berichtet von einer Rentnerwohngemeinschaft, die viele Jahre gemeinsam im Ihmezentrum gelebt hat. Insbesondere ältere Menschen ziehen innerhalb des Ihmezentrums vermehrt um und erschließen sich damit neue Möglichkeiten. Monika Großmann empfindet insbesondere die Kombination von Wohnen und Einkaufen in unmittelbarer Nähe zueinander als positiv. Zusammenfassung: Verdichtete Bebauungsstrukturen und ihre öffentliche Wahrnehmung Das Kapitel „Umsetzung des städtebaulichen Leitbilds und Wahrnehmung der Großwohnkomplexe“ zeigt die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Theorien und beispielhaften Publikationen, die der Entstehung von Großwohnkomplexen zugrunde liegen, auf. Dabei wird wiederum die Verwissenschaftlichung von Planungsprozessen ebenso deutlich, wie das Interesse an konkreten Forschungsergebnissen zu städtebaulichen Objekten während der Planungszeit, in der Durchführung und Nutzung. Neben den wissenschaftlichen Auswertungen thematisieren die Veröffentlichungen dieser Zeit sowohl soziologische als auch wirtschaftliche oder architektonisch-städtebauliche Fragestellungen. Die Projekte, wie sie im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“ vorgestellt werden, eröffnen einen Überblick über das internationale Baugeschehen im Kontext von Megastrukturen und Verdichtung und zeigen damit Strömungen und Vorbilder auf, die der Realisierung von Großwohnkomplexen zugrunde liegen. Im Zusammenhang mit den vorgestellten Projekten und den unterschiedlichen Veröffentlichungen erscheint die Entwicklung von Großwohnkomplexen sowohl auf städtebaulicher wie auch auf architektonischer und gesellschaftlicher Ebene als eine logische Konsequenz der Forderungen, Anregungen und formulierten Ziele dieser Zeit. Im Zusammenhang der Wahrnehmung von Großwohnkomplexen lassen sich folgende zeitliche Entwicklungen zusammenfassen: Die Euphorie, die während der Planungszeit aller Großwohnkomplexe im Zusammenhang mit verdichteten Bebauungsstrukturen spürbar war, ebbte oft mit Fertigstellung dieser Projekte ab. Dies lag hauptsächlich am Zeitraum der Fertigstellung in den frühen 1970er Jahren, wobei diese Zeit bereits von Rezessionsängsten innerhalb der Bevölke501  Monika Großmann 2011.

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rung geprägt war, deren Begründung in wirtschaftlich geringere Wachstumsraten und negativ formulierte Zukunftsaussichten sowie in einem neuen Umwelt- und Denkmalschutzbewusstsein lag. Damit verloren die Großwohnkomplexe als Bebauungsstruktur ihre gesellschaftliche Akzeptanz. Die großdimensionierten Gebäudekomplexe und die „brutalistischen“ Fassadenstrukturen der 1960er/1970er Jahre Architektur wurden schnell zum negativen Synonym eines Jahrzehnts voller (gescheiterter) Zukunftsträume. In der Zeitschrift „archithese“ wird im Jahr 2010 rückblickend, bezogen auf ein großmaßstäbliches Gebäude der 1960er/1970er Jahre in London, zusammengefasst: „Es dürfte in der Tat die rohe Ästhetik des Brutalismus, insbesondere seine „ehrliche“ Verwendung der Materialität sein, die zu kulturellen Entwertung [...] beigetragen hat.“502 In den Untersuchungen über die Wahrnehmung der Großwohnkomplexe im Wandel der Zeit stellt sich heraus, dass die Bewertung der Bewohner immer deutlich positiver ausfiel, als die öffentliche Sicht dies vermuten ließ. Während in der öffentlichen Sichtweise die Projekte lange und auf unterschiedlichen Ebenen negativ besetzt waren, konnten die Bewohner die räumlichen und funktionalen Qualitäten in der täglichen Nutzung erleben. Die positive Wahrnehmung der Bewohner begründet sich dabei oft darin, dass sich durch den Erwerb von Eigentum ein hohes Identifikationspotenzial ergibt, das zu Selbstorganisation und zu der Entwicklung von Kulturvereinen im Quartier führt. Diese Identifikation mit der gebauten Umwelt kann als entscheidendes Merkmal dieser Bebauungsstruktur, der dortigen Eigentumsverhältnisse sowie der Nutzungsvielfalt und damit von Großwohnkomplexen angesehen werden. Teilweise bereits nach kurzer Zeit auftretende erhebliche Baumängel, begründet in einem hohen innovativen Anteil nicht nur auf konzeptueller Ebene, sondern ebenso in der Verwendung neuer Baustoffe und Techniken, verstärkten das negative, öffentliche Image zunehmend. Differenzierte Eigentumsverhältnisse und ein hoher Anteil an privaten „öffentlichen Räumen“ führt zu andauernden Verhandlungen über die Kostenübernahme und erhöht damit den Sanierungsstau, der zum negativen Image beiträgt. Unabhängig von den notwendigen Sanierungsmaßnahmen ist jedoch seit kurzer Zeit (2010/2011) ein Wandel spürbar, der die Qualitäten der 1960er/1970er Jahre durch Publikationen und Ausstellungen sowie öffentlichen Diskussionsrunden hervorzuheben versucht.503 502  Sewing, Werner/Dreher, Florian: Aus der Poesie des Alltags ersonnen. In: archithese 2/2010, S. 51. 503  Vgl. Veranstaltung der Architektenkammer Niedersachsen, 2011: „Zwischen Nierentisch und Postmoderne“ mit einer Ausstellung über 1960er Jahre Bauten in Niedersachsen.

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Die Entwicklungen der Großwohnkomplexe im Einzelnen sind jedoch von so komplexen und individuell unterschiedlichen Parametern geprägt, dass eine wissenschaftlich fundierte Aussage zu der Akzeptanz in der Öffentlichkeit jedes Großwohnkomplexes im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist.504 Im nun folgenden Abschnitt wird, der Chronologie der Entwicklung folgend, die zu Beginn der 1970er Jahre aufkommende Kritik am Städtebau und der Architektur der 1960er Jahre im Fokus der Betrachtung stehen und damit die Literaturrecherche über die geschichtlichen, gesellschaftlichen, architektonischen wie städtebaulichen Hintergründe der Entstehung von Großwohnkomplexen abschließen.

D IE K RITIK AN ARCHITEKTUR UND S TÄDTEBAU DER 1960 ER UND 1970 ER J AHRE Der Städtebau und die Architektur der 1960er/1970er Jahre zeichnen sich durch ein rigides Architekturverständnis aus. Vorhandene Bebauungsstrukturen wurden selten als erhaltenswert eingestuft und die neue Architektur, nach der internationalen Kritik an den Großwohnsiedlungen am Stadtrand nun vermehrt wieder im gewachsenen Stadtgefüge platziert, überstieg oft den Maßstab der vorhandenen Strukturen und ersetzte dabei die gewachsene, kleinteilige Bebauung. Unter dem Stichwort „Stadtsanierung“ wurden vielfach gewachsene Stadtstrukturen abgebrochen um (aus wirtschaftlicher Sicht) eine Aufwertung zu erreichen.505 Obwohl das Städtebauförderungsgesetz die Stadtsanierung mit der Behebung „städtebaulicher Missstände“ begründete, wurde Kritik auf sozialer Ebene laut: Die Boden- und Mietpreise stiegen im Rahmen von Sanierungsprojekten, sodass sozial Schwächere aus angestammten Gebieten verdrängt wurden. Legitimiert wurde diese Stadtsanierung durch eine streng zukunftsorientierte Haltung, dem beschriebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Optimismus und einem hohen technischen Fortschrittsglauben. Eine neue Architektursprache für eine neue Gesellschaft wurde gesucht und architektonisch zum Ausdruck 504  Vgl. Ihmezentrum, das unter Anderem begründet durch die Insolvenz des Investors heute seit Jahren einer Baustelle gleicht und damit in der Öffentlichkeit negativ rezipiert wird. 505  Vgl. dies und das Folgende: Andritzky, Michael/Beisel, Dieter/Brackmann, Helmut/Dratz, Uli/Günter, Roland: Stadtsanierung oder Stadtzerstörung? In: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974, S. 124ff.

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gebracht. Heute wird deutlich, dass sich viele dieser großmaßstäblichen Gebäude noch immer deutlich von der umgebenden Bebauung abzeichnen und als Solitäre und wie Relikte vergessener Utopien im Stadtgefüge zurückbleiben. Hinzu kommt, dass die öffentliche Meinung gegenüber Bebauungsstrukturen der 1960er/1970er Jahre negativ besetzt ist. Der Wandel in der Wahrnehmung dieser Architektur erfolgte in den 1970ern Jahren abrupt und durch unterschiedliche Ereignisse bedingt. Die Veröffentlichung der Publikation „Grenzen des Wachstums“ im Jahr 1972, die Ölkrise 1973, das europäische Denkmalschutzjahr 1975 und ein steigendes Umweltbewusstsein bildeten den Grundstein für einen klaren und in kürzester Zeit umgesetzten Paradigmenwechsel in Gesellschaft und Politik, der sich direkt in Architektur und Städtebau niederschlug. Im vorliegenden Kapitel der Untersuchung werden verschiedene Publikationen und Ereignisse, die diesen Paradigmenwechsel bedingten und im weiteren Verlauf stärkten, aufgezeigt. Dabei ist das Kapitel chronologisch aufgebaut, sodass sich Erläuterungen zu den gewählten Publikationen, geordnet nach ihrem Erscheinungsjahr, mit der Beschreibung von Ereignissen in der Aufzählungsreihenfolge mischen. Das Kapitel wurde methodisch mithilfe einer Literaturrecherche erarbeitet. Ein markantes Beispiel des angedeuteten Paradigmenwechsels, gepaart mit unbedachten Fehlinvestitionen als dem Ergebnis einer unterlassenen Marktanalyse, ist das Freizeit- und Vergnügungszentrum „Schwabylon“ in München. Im folgenden Exkurs wird die Entwicklung des Projektes von der Idee, über die Realisierung mit Fertigstellung im Jahr 1973, bis hin zum Leerstand bereits im Jahr 1974 und dem Abriss fünf Jahre später aufgezeigt. Exkurs: „Schwabylon“ Das Vergnügungs- und Freizeitzentrum „Schwabylon“ kann als eine Umsetzung der Städtebau- und Gesellschaftsutopie „Leisure City“ des schweizerischen Architekten Justus Dahinden angesehen werden. Auf theoretischer Ebene beschäftigte sich Justus Dahinden mit dem in den 1960er Jahren entstehenden gesellschaftlichen Strukturwandel sowie mit seinen Theorien zu einem Wandel im Freizeitbewusstsein der Gesellschaft.506 Durch den stetigen Rückgang der täglichen Arbeitszeit und durch den Wandel vom Produktionsgewerbe zur Dienstleistungsgesellschaft müssen, nach Dahinden, neue Umwelten geschaffen werden, die eine Funktionsüberlagerung beinhalten: „Echte Freizeitmündigkeit entwickelte sich erst mit der Umstellung der gewohnten Funktionstrennungen in 506  Vgl. ETH Bibliothek (Hrsg.): Mensch und Raum. Justus Dahinden. Stuttgart/Zürich 2005, S. 48ff.

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der Stadt hin zu einem urbanen Integrationssystem genannt Freizeitstadt.“507 Im Zusammenhang mit diesen Theorien und seinen Entwürfen zur Freizeitstadt508 steht die Realisierung von „Schwabylon“, einem Gebäudekomplex bestehend unter anderem aus einem Freizeitzentrum, einem Schwimmbad und Einkaufsmöglichkeiten. In einem Artikel in der Zeitung „Die Zeit“ nennt der Architekt seinen Entwurf ein „urbanosoziales Experiment“509 dessen „[...]geschlossener Architekturraum zu jeder Tages- und Nachtzeit die Machbarkeit eines gezielten Audio visuellen Milieus zulässt“.510 „Damit ist es möglich, Atmosphäre, Stimmung, Überraschung zu schaffen und eine Gefühlskultur zu erzeugen, die in den meisten Öffentlichkeitsbereichen unserer gewachsenen Städte fehlt.“511 Initiiert und realisiert wurde das Projekt „Schwabylon“ von einem privaten Investor. Zur Bebauung gehörte das Entertainmentzentrum mit einer Einkaufspromenade, Schwimm- und Eishalle, Spielcasino, Restaurants und einem Nachtclub, der auch über das benachbarte Hotel erschlossen werden konnte und in dem in großen Aquarien Haie schwammen. Darüber hinaus wurden ein Hotel, Büros und Wohnungen realisiert, die hinter dem Gebäude des Freizeitzentrums als Hochhäuser platziert wurden. Während die Zeitschrift „Der Spiegel“ im Jahr 1971 noch positiv von dem im Bau befindlichen Projekt berichtete512, wurde schon sechs Jahre später, im Jahr 1977, ein Investor für die Neubebauung des Grundstücks nach Abriss des mit grellen Farben gestalteten Zentrums des Gebäudekomplexes „Schwabylon“ gesucht. Der schnelle Niedergang des Projektes wurde insbesondere durch die Mietkündigungen der Ladenbesitzer bedingt, da die Einkaufsmöglichkeiten von den Besuchern kaum angenommen wurden und die Läden schließen mussten. Während auch die Eislaufhalle kurz nach der Eröffnung schließen musste, war das Schwimmbad noch einige Jahre in Betrieb. Als Grund für die schnelle negative Entwicklung wird von Herbert Binder im Jahr 1975 angeführt, dass der Anspruch an eine Freizeitstadt als Realisierung einer „Urbanutopie“ nicht erfüllt werden konnte, da das innenräumliche Konzept 507  Ebd., S. 49. 508  Vgl. die Erläuterungen in Kapitel „Utopische Megastrukturen“. Unter dem Aspekt der Freizeitstadt/Fun“ und Flexibilität werden utopische Stadt- bzw. Gebäudeentwürfe zur Spaß und Entertainment suchenden „Gesellschaft der Zukunft“ vorgestellt. 509  Vgl. Dahinden, Justus in: Stankiewirt, Thomas: Ende eine Geisterstadt in: Die Zeit, Nr. 25, 1978. 510  Ebd.. 511  Ebd.. 512  Vgl. N.N.: Schwabylon. Unterm Dach. In: Der Spiegel Nr. 17, 1971, S .68.

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Abb. 54: Justus Dahinden – Schwabylon 1973

Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schwabylon.png 06.02.2013 7:30

nichts mehr als das Schema konventioneller Kaufhausplanung widerspiegelte.513 Gleichzeitig ist zu bemerken, dass die „Poparchitektur des abgestuften, fensterlosen, orangefarbenen Baues […] bei den Münchnern nie richtig an[kam, K.B.]. Auch der peripherere Standort ist in mehrerer Hinsicht von Nachteil.“514 In der Analyse dieses Projektes auf städtebaulicher und architektonischer Ebene wird deutlich, dass offensichtlich die Abschottung zur Umgebung, ein für Dahinden positiv besetzter Aspekt, ein Problem in der späteren Nutzung darstellte. Dabei war diese Abschottung in der theoretischen Haltung Dahindes ein zentrales Thema, da, gemäß seiner Theorie, nur innerhalb eines autarken Systems die von ihm formulierten Ansprüche an Individualität und Gemeinschaft oder die Zusammenführung von Öffentlichkeit und Privatheit erfüllt werden könnten. 515

513  Vgl. Binder, Herbert: In stiller Ruh ruht Schwabylon. In: der Architekt, 2/1975, S. 93. 514  Ebd., S. 93. 515  Vgl. Karl Krämer Verlag (Hrsg.): Justus Dahinden. Stuttgart 1974, S. 7.

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Publikationen und Ereignisse Die im Folgenden thematisierte Publikation, „Rettet unsere Städte, jetzt!“, die Erläuterungen zur Ölkrise und dem Denkmalschutzjahr sowie die Publikationen über die „Charta von Machu Pichu“ zeigen den Verlauf des Paradigmenwechsels anschaulich auf und zeigen beispielhaft die unterschiedlichen Aspekte dieses Wandels. Die abschließend thematisierte Publikation „Wo wohnen wie bauen?“ aus dem Jahr 1978 verdeutlicht die Ergebnisse des Wandels auf architektonischer wie städtebaulicher Ebene. Rettet unsere Städte – jetzt! 1972 Anfang der 1970er Jahre wurde auf unterschiedlichen Ebenen Kritik am Städtebau der vergangen Jahre laut. So fokussierte sich in der Publikation „Rettet unsere Städte, jetzt!“ die Kritik auf den sogenannten „Bäder Skandal“ und den „Stadtsanierungsskandal“. Die Herausgeber der Publikation kritisieren die “Unzulänglichkeit des bisherigen Planungsgeschehens“516 und ziehen beispielhaft die Entwicklung der Tourismusarchitektur an der Nord- und Ostseeküste des ehemaligen Westdeutschlands sowie geplante Stadtsanierungen heran. Ihr Ziel ist es, der „[...]durch das gegenwärtige Planungs- und Baugeschehen hervorgerufenen Umweltzerstörung Einhalt zu gebieten.“517 Die Autoren weisen auf die Gefahr hin, „[...]welche entsteht, wenn die auf die Dauer ihres Urlaubes aus den „Betonburgen“, den Supermietskasernen in den Ballungsräumen, flüchtenden erholungsbedürftigen Menschen wieder in die gleiche unwirtliche und unmaßstäbliche Umwelt, nämlich in die „Betonburgen“ der Erholungsorte, verpflanzt werden“518 und appellieren daran, diese Fehler nicht auch in den anstehenden Stadtsanierungsaufgaben ebenfalls zu begehen. Anhand von Studien, Zeitungsberichten und beispielhaften Planungen unterstreichen die Autoren ihre Aussagen und greifen dabei methodisch auf das gleiche Repertoire der wissenschaftlichen Annäherung zurück wie die Stadtplaner der 1960er Jahre. Die Autoren beschreiben jedoch die Lösung des Problems in dem Verständnis, dass die Bauleitplanung kein „Mittel zur Gestaltung, sondern lediglich ein Mittel zur Sicherung einer vorher bereits entwickelten Gestalt“519 sei und stellen damit einen klaren Kontrast zum Planungsverhalten der 1960er/1970er Jahre auf. 516  Forschungsstelle für Siedlungsgestaltung (Hrsg.): Rettet unsere Städte – Jetzt!, Kiel 1972, S. 3. 517  Ebd., S. 1. 518  Ebd., S. 1. 519  Ebd., S. 6.

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Die Ölkrise 1973 Die erste Ölkrise im Jahr 1973 verdeutlichte den westlichen Industrienationen ihre Abhängigkeit von den erdölproduzierenden Ländern. In Folge des „Nahostkonfliktes“ reduzierten die OPEC Staaten die Fördermengen und übten so Druck auf westliche Staaten aus. Die Krise führt nicht nur zu einer weltweiten Rezession, sondern verursachte in einigen europäischen Staaten Maßnahmen, die insbesondere ein gesellschaftliches Umdenken erzeugten, da die Bevölkerung in einem hohem Maße direkt betroffen war: „Die Möglichkeit, unter Schonung des industriellen Verbrauchs von Mineralöl Sparmaßnahmen anzusetzen, wird in der Tat vorrangig erwogen, um die Produktion auf einem möglichst hohen Stand zu sichern und den Verlust von Arbeitsplätzen als Folge der Ölkrise möglichst zu vermeiden.“520 In Deutschland wurde so im Rahmen dieser Krise an vier Wochenenden der autorfreie Sonntag und Geschwindigkeitsbegrenzungen eingeführt. Auch die Umstellung der Uhren auf Sommerzeit basiert auf die Maßnahmen dieser Zeit. Die Ölkrise wirkte sich demnach direkt auf das tägliche Leben der Einwohner Europas aus und kann damit als ein wichtiger Bestanteil in der Abkehr des gesellschaftlichen Denkens in Bezug auf zukunftsorientierte und fortschrittsgläubige Planung angesehen werden. Wie bereits im Kapitel „Deutschland in den 1960er/1970er Jahren“ erläutert, sind die frühen 1970er Jahre durch ein neues Umweltbewusstsein geprägt. Insbesondere die Veröffentlichung der Studie „The Limits to Growth“ im Jahr 1972, aber auch die Gründung des „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz“ in Deutschland sowie die Gründung und Etablierung der Partei „die Grünen“ in den 1980er Jahren unterstreicht diese Entwicklung und begründet die kritische Haltung gegenüber dem radikalen, fortschritts- und technologiebasierten Städtebau der 1970er Jahre.521

520  Krämer, Hans R.: Die Europäische Gemeinschaft und die Ölkrise. Baden-Baden 1974, S. 59. 521  Vgl. auch Kapitel „Umweltschutz“.

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Denkmalschutzjahr 1975 Das europäische Denkmalschutzjahr 1975 änderte bereits in den Vorbereitungen als auch während der Tagungen und Veranstaltungen im Jahr 1975 die fachliche und öffentliche Sicht auf das junge bauliche Erbe Europas. Entscheidend war das neue Verständnis von Denkmalpflege in Bezug auf die Gesamtstadt und dabei insbesondere das Ziel, dem schonungslosen und unreflektierten „Kahlschlag“ der 1970er Jahre Einhalt zu gebieten. Neben dem Schutz von „Kirchen, Burgen und Schlössern“ ging es nun auch um „Schutz der alten städtischen Bauensembles, der überkommenden Häuserzeilen, der traditionellen Wohnquartiere als aktuelle Erlebnisräume.“522 „Schonung“, „Pflege“ und „behutsame Weiterentwicklung“ waren die Schlagworte für zukünftiges Handeln. „Nachdem Kriegszerstörtes in Deutschland längst wieder aufgebaut ist, die sogenannte verkehrsgerechte Stadt jedenfalls in Großstädten und Ballungszentren verwirklicht wurde und schließlich die Bollwerke des Wohlstandes aus Beton, Glas und Stahl inmitten unserer Innenstädte errichtet wurden, wächst nun die Sehnsucht der Bürger nach überschaubaren, vertrauten, urbanvitalen Topographien.“523 Dieses Zitat leitet eine Publikation aus dem Jahr 1975 ein, in welcher die „Praxis mit erhaltenswerter Bausubstanz“ erläutert wird. Sie wurde innerhalb der Schriftenreihe „Stadtentwicklung“ des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau herausgegeben und beweist die neuen (Forschungs-) Ansätze in Bezug auf den Denkmalschutz nicht nur in Deutschland. Insbesondere die historischen Stadtzentren rückten in den Fokus der Autoren und eine praxisrelevante und zukunftsorientierte Haltung wurde dargelegt. Ablesbar ist auch, dass offensichtlich in diesem Jahr erstmals der „Erhaltungsgedanke im Städtebau“ publiziert wurde und eine Sanierung gegenüber einem Abriss und eines Neubaus als sinnvolle Alternative angesehen wurde: „Sanierung sollte nicht nur Beseitigung, sondern auch Regeneration alter Bausubstanz sein können.“524 Die Charta von Machu Pichu, 1977 Als Reaktion auf die Veränderungen im architektonischen und stadtplanerischen Denken wurde im Jahr 1977 eine Konferenz in Peru einberufen, die unter dem Namen „Charta von Machu Pichu“ symbolträchtig und in Anlehnung an die „Charta von Athen“ die neuen (Städtebau-) Konzeptionen zusammenzustellen 522  Bundesbaublatt 1975, Heft 5, S. 212. 523  Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Informationen aus der Praxis – für die Praxis. Praxis des Umgangs mit erhaltenswerter Bausubstanz. Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 7. 524  Ebd., S. 10.

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versuchte. Bereits der Name setzt damit ein Zeichen gegenüber der Architektur und dem Städtebau der 1960er Jahre, die explizit ein von den Grundsätzen der „Charta von Athen“ abweichende städtebauliche und architektonische Konzeption forderte und mit dem Brutalismus und Strukturalismus umsetzte. Grundsätzlich Neues wurde in der „Charta von Machu Pichu“ nicht beschrieben, zusammenfassend wird die Situation in diesen Jahren von Gerd Albers in der Bauwelt 1979 und in Verbindung mit einem Artikel über die Charta als durch Pragmatismus geprägt beschrieben und dass „…kleine Schritte, behutsamer Umbau [...] an die Stelle umfassender Planungskonzeptionen und perfekter Rationalität des Planungsprozesses getreten“525 seien. Collage City, 1978 Die Publikation „Collage City“ von Colin Rowe und Fred Koetter beschreibt in den ersten Kapiteln städtebauliche und soziale Utopien und erläutert den „Erfolg“ dieser Theorien insbesondere der „städtebaulichen Vision der zwanziger Jahre“ mit einem erlöserischen Potenzial, das den Utopien zugeschrieben wurde.526 „Es war ein Licht, das Energie erzeugte und das, als es mit den ruhigeren Kräften einer liberalen Tradition und den romantischen Direktiven eines eben flügge gewordenen Avantgardismus verbunden wurde, der modernen Architektur die Geschwindigkeit eines Geschosses verlieh, welche ihr erlaubte, wie eine apokalyptische Entladung aus einer neu entwickelten Waffe in das 20. Jahrhundert einzudringen.“527 Später kritisieren die Autoren an der „Stadt der Moderne“ unter anderem, dass die Gebäude in der natürlichen Umgebung immer mehr zu verschwinden schienen: „Unbedingt erforderliche Bauten erscheinen, soweit möglich, als feingliedrige und in das natürliche Kontinuum unauffällig eingedrungen Dinge…“528 Die Trennung der Funktionen, das Klären und „Aufräumen“ von Stadtgefügen, wir am Beispiel von zwei Entwürfen für Paris (1861) und Amsterdam (1934) dargestellt, wird kritisiert: „Ihnen fehlt es am Vulgären oder an der langweiligen Aufschneiderei und am Selbstbewusstsein…“529 Das, was die Stadt neben der Architektur eigentlich bedingt, ist durch die modern Stadtplanung verloren gegangen.

525  Albers, Gerd: Zur Lage. In: Bauwelt 1979, Heft 24, S. 128. 526  Vgl. Rowe, Colin/Koetter, Fred: Collage City. Cambridge/London 1978, 3. deutsche Auflage: Basel/Boston/Berlin 1988, S. 43. 527  Ebd., S. 43f. 528  Ebd., S. 75. 529  Ebd., S. 79.

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Die Kritik der Autoren richtete sich jedoch nicht ausschließlich an die Utopien des frühen 20. Jahrhunderts, sondern schloss die utopischen Projekte der 1960er Jahre mit ein: „Auf jeden Fall leiden die Ergebnisse der „Sciencefiction“, ob systemorientiert oder neofuturistisch, an den gleichen Umständen, welche die Ville Radieuse heimsuchen – Missachtung des Kontextes, Misstrauen gegen die gesellschaftliche Kontinuität, die wörtliche Anwendung symbolischer utopischer Modelle, die Annahme, dass die existierende Stadt zum Verschwinden gebracht werde; und wenn heute angenommen wird, dass die Ville Radieuse schlecht ist, Trauma und Verwirrung schafft, fällt es nicht leicht, zu verstehen, wie Science-fiction, welche die Übel zu steigern scheint, irgendwie in der Lage sein soll, das Problem zu mildern.“530 Deutlich wird in dieser Publikation, dass die Untersuchungen und die daraus resultierenden Kritiken nicht auf städtebaulich-praktischer Ebene durchgeführt wurden, sondern dass die Autoren die zumeist utopischen Projekte auf emotionaler und gesellschaftstheoretischer Ebene diskutierten. So war es ihnen auch möglich, unabhängig von den konträren Zielsetzungen und Realisierungsansätzen der Utopien der 1920er und 1960er Jahre, Gemeinsamkeiten als Kritikpunkte zu finden und zu benennen. Gemeinsamkeiten besaßen die Utopien nämlich, und das wird in dieser Publikation von Colin Rowe und Fred Koetter noch einmal deutlich, darin, dass alle auf einer Neuordnung der Stadt, einer „Tabula rasa“Taktik basierten und mit dem neuen Theorien einen Städtebau für eine jeweils neue Gesellschaft schaffen wollten. Zusammenfassend wird im Anschluss an die Kritik in den erarbeiteten Theorien Colin Rowes und Fred Koetters dann auch deutlich gemacht, dass die Zeit der Utopien nun vorbei sei und vielmehr in den gewachsenen Gefügen realitätsnäher gearbeitet werden müsste. Während in der ersten Theorie, der „Collisoin City und die Strategie der Bricolage“ noch die Gegensätzlichkeit des neuen und alten herausgearbeitet werden sollte, wird in der Weiterführung dieser Theorie in „Collage City und die Wiedereroberung der Zeit“ eine Verschmelzung der Utopien und Realitäten der Geschichte angestrebt. Beide, wird einleitend erläutert, sind „… ein Vorschlag zur schöpferischen Desillusionierung, gleichzeitig ein Aufruf zu Ordnung und Unordnung; zum Einfachen und Komplexen, zum Nebeneinander von dauerndem Bezugnehmen und zufälligen Geschehen, von Privatem und Öffentlichem, von Erneuerung und Tradition, von rückwärts gerichteter und prophetischer Geste.“531

530  Ebd., S. 54. 531  Ebd., S. 15 .

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Wo Wohnen wie bauen, 1978 Im Jahr 1978 äußert sich Hermann Laupsien in einem Artikel in der Publikation „Stadtbild zwischen Anspruch und Moderne“ negativ zu den verdichteten Wohnstrukturen der 1960er/1970er Jahre. Er kritisiert die Umsetzung des Wunschs „[...]nach höherer städtebaulicher Dichte sowohl in Geschäftsbereichen als auch für Wohnquartiere, um eine größere „Urbanität“ zu erreichen, indem man möglichst viele Menschen in geballten Baublöcken zusammenführt.“532 Er kritisiert weiter: „Man erfand Kommunikationsziele und Begegnungstheorien und zwängte sie in bauliche Formen. In Wirklichkeit liefen diese Überlegungen an dem sozialen Verhalten der Menschen vorbei, da mit Radio und Fernseher Medien zur Verfügung standen, die ideologisch begründete Sondereinrichtungen überflüssig machten. Insofern sind die massigen, hohen, verdichteten, geschichteten Wohnkolosse eine modische Erscheinung. Wie sehr dies stimmt, zeigen auch die Versuche, die großen Baumassen durch Angliederung von weniger geschoßreichen Wohnblocks zu relativieren. Es entstanden Kombinationen von einbis zwanziggeschossigen Bauten – mit den entsprechenden Zwischenstufen –, sodass die Bewohner der ein- oder zweigeschossigen Familienhäuser sich zwar gegenseitig nicht in die Gärten schauen konnten, wohl aber dulden mussten, dass ganze Hochhauswände sich über sie neigten. Die Planer hatten nicht aus dem Bedürfnis nach Intimität, sondern hatten mit Massenmodellen gespielt, den Wohnkomplex also mit einer Plastik verwechselt. Das begann mit der Berliner Ausstellung Interbau im Hansaviertel (1957) und hat bis in die 70er Jahre angehalten: ein modisches Spiel mit Kuben und nicht Formentwicklung aus innerer, auf den Menschen bezogene Aufgabenerfüllung!“533

Ebenso steht in dem Artikel das Terrassenhaus und nicht zuletzt der Wohnhügel aufgrund der im Erdgeschoss zu großen und im obersten Geschoss zu geringen Bautiefe in der Kritik.534 Der Autor greift im Folgenden weitere Gestaltungsprinzipien der 1960er Jahre, wie die serielle Reihung der Fassadenstrukturen oder das Streben nach Urbanität, das in seinen Augen in den gemäßigten Zonen Mitteleuropas und aufgrund hoher Wohnungsstandards kaum entstehen kann, an. Gleichzeitig wird die Materialwahl an vielen Gebäuden kritisiert: „Sichtbeton, Brutalismus mit Beton – das alles sind Modeworte, die verklingen und mit dem

532  Tamms, Friedrich: Stadtbild zwischen Anspruch und Moderne. In: Laupsien, Hermann (Hrsg.): Wo wohnen wie bauen? Düsseldorf 1978, S. 40. 533  Ebd., S. 40f. 534  Vgl. ebd., S. 41f.

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wirklichen Wesen dieses neu entwickelten Baustoffs nichts zu tun haben.“535 Ohne konkrete Lösungsvorschläge herauszuarbeiten schließt der Autor den Artikel mit den Worten: „Vernunft allein schafft keine Kunst, sie nährt keine Seele.“536 Der Autor umfasst damit den Aspekt der bereits ausführlich thematisierten Verwissenschaftlichung der Planung in den 1960er/1970er Jahren und kritisiert die teilweise dogmatische Umsetzung. Zusammenfassung: Das Ende verdichteter, komplexer und „futuristischer“ Gebäudestrukturen Das Ende des strukturalistischen Denkens, der Entwicklung von Megastrukturen und des verdichteten Bauens wird zum Ende der 1970er Jahre deutlich: Das Denkmalschutzjahr von 1975 sowie die Entwicklungen des ökologischen Bauens als Reaktion auf die Erkenntnis der zunehmenden Umweltzerstörung sowie ein tiefgehender Einschnitt im Verständnis eines kontinuierlichen ökonomischen Wachstums, unter anderem begründet durch die Publikation „The Limits to Growth“ des „Club of Rome“ sowie die Wiederentdeckung des historischen Kontextes von Städten, führten zu einem Umdenken in Architektur und Städtebau. „So scheinen Ende der 1970er Jahre, mit der wiederum einseitigen, emotional geführten Debatte um einen Regionalismus in der Architektur und den Erhalt der alten Stadt, wichtige Aspekte des vorangegangenen Erkenntnisprozesses verloren gegangen zu sein, insbesondere der integrative Umgang mit wissenschaftlichen und technischen Innovationen.“537 Es wird gleichzeitig deutlich, dass die bis heute geführte Diskussion und Kritik an der Architektur und dem Städtebau der 1960er und 1970er Jahre, die sich auf Aspekte wie „unkritische Fortschrittsgläubigkeit“, „Negierung humaner Bedürfnisse“ und mangelnde Komplexität bezieht, die im vorherigen Kapitel thematisierte Strukturdebatte kaum berücksichtigt. Ähnlich den entstandenen Großwohnkomplexen werden die geführten Diskussionen zum Strukturalismus verkannt und entsprechend nicht weiterentwickelt. Michael Hecker stellt zum Ende seiner Untersuchung über die Auswirkung des Strukturalismus auf die westdeutsche Architektur der 1960er und 1970er Jahre zwei Thesen auf, mit welchen er das abrupte Ende des Strukturalismus zu erklären versucht: Er erläutert, dass seiner Ansicht nach „konzeptionelle und technologische“ Architektur von einer Beteiligung der Industrie abhängig gewe535  Ebd., S. 47. 536  Ebd., S. 48. 537  Hecker, Michael: structurel structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 324.

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sen sei. Die Industrie verlor jedoch durch das abnehmende Wirtschaftswachstum und die Sättigung des Wohnungsmarktes das Interesse an der Entwicklung neuer Baukonzepte. Damit verschwand seiner Argumentation folgend mit dem Rückzug der Industrie aus dem Innovationssektor gleichzeitig die Weiterentwicklung von unter anderem strukturalistischen Gebäudetypologien. Als zweite These führt Hecker an, dass die Architekten sich im Rahmen dieser Entwicklung zum einen instrumentalisieren ließen, zum anderen willentlich die durch die Rationalisierung des Bauens aufkommende neue Bedeutung des Architekten annahmen. Nachdem die Industrie nun die Innovationen einschränkte und auch der gesellschaftliche Rückhalt nicht mehr gegeben war, änderten auch viele Architekten ihre Ansichten.538 Zusammenfassend ist zu bemerken, dass alle genannten Faktoren zusammen das gesellschaftliche Bild auf Architektur und Städtebau der 1970er Jahre prägen. Dass viele Großwohnkomplexe, deren Fertigstellung auf den Beginn der 1970er Jahre fällt, kurz nach ihrer Entstehung ein negatives Image erhielten, ist auch mit dem im letzten Kapitel beschriebenen Paradigmenwechsel in der Öffentlichkeit erklärbar. Der Baustoff Beton als sichtbares Element und die „brutalistische“ Fassadengestaltung wurde zum Sinnbild der 1960er Jahre und geriet ebenfalls in die Kritik. Durch den Denkmalschutz wurde man sich der kleinteiligen Strukturen der „alten“ Stadt bewusst. Bei einer Tagung im Jahr 1976 wurden Projekte mit „[…] Dächelchen, Gaupen, Fensterchen […]“539 präsentiert und die Kritik geäußert, man sei „[…] zu funktionalistisch, zu puritanisch, zu ehrlich gewesen […]“540 Die „[...]Mammutbau-Aufgaben in großer Zahl gehören der Vergangenheit an […]“541 Auch Bundeskanzler Helmut Schmidt erläuterte 1980 auf die Frage nach Denkmodellen der Zukunft und Bezug nehmend auf die visionären Vorstellungen Willy Brandts: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ 542 und verkörpert damit die gesellschaftlichen Vorstellungen dieser Zeit. Gleichzeitig wird jedoch ebenfalls deutlich, dass die Kritik und der Wandel in den 1970er Jahren nichts mit den Grundlagen der Ideen im Sinne von Nutzungsmischung, gemeinschaftlichem Wohnen und heterogenen Wohnungsstrukturen zu tun hatte, sondern vielmehr mit einem Strukturwandel in größerer Form und sich dadurch bedingt ein Ablehnung der entstandenen Bebauungsstrukturen ergab. Diese grundsätzliche und radikale Ablehnung führte nicht nur zu dem 538  Vgl. den gesamten Absatz: Ebd., S. 329f. 539  Hoffmann, Ot: nach-denken+ver-dichten. Darmstadt 1979, S. 11. 540  Ebd., S. 11. 541  Ebd., S. 12. 542  Vgl. Kapitel „Politik und Gesellschaft“.

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negativen Image, das unter anderen Bebauungsstrukturen dieser Zeit wie auch Großwohnkomplexe noch heute besitzen, sondern auch dazu, dass die grundlegenden Ideen nicht im Sinne einer kontinuierlichen Städtebau-Geschichte weitergedacht wurden. Ebenfalls wird in der Darstellung über die Kritik am Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ deutlich, dass die Kritik der 1970er Jahre in Teilbereichen nicht differenziert ausgearbeitet wurde, sondern schon damals vermehrt unterschiedliche Konzepte übergreifend umfasste, und dabei spezifische Qualitäten übersehen wurden. So wird in der Kritik von Hermann Laupsien angeführt, die Planer hätten nicht aus dem Bedürfnis nach Intimität gehandelt, sondern nur mit Massenmodellen gespielt und hätten die theoretischen Modelle von Kommunikation und sozialer Interaktion in bauliche Umsetzungen gezwängt.543 Dies steht im klaren Widerspruch zu strukturalistischen Ansätzen, den Menschen und sein soziales Verhalten in den Fokus der Betrachtung zu bringen und das „Innen und Außen“, die privaten und öffentlichen Freiräume, aktiv in die Planung der Wohngebiete einzuarbeiten. Die Kritik macht damit jedoch gleichzeitig auch deutlich, dass die Architektur der 1960er/1970er Jahre, wie alle anderen Epochen auch, gute und weniger gelungene Strukturen hervorgebracht hat. Besonders ist jedoch, dass die Kritiken ein negatives Image der gesamten Architektur der 1960er/1970er Jahre bedingte und diese Sichtweisen heute nur langsam aufgebrochen werden. Von der Kritik geblieben ist bis heute jedoch vielfach die Abneigung gegen den Baustoff Beton als Fassadenmaterial, das durch natürliche Alterungsprozesse vielerorts sanierungsbedürftig ist. Außerdem wurden die Gebäude der 1960er/1970er Jahre, durch experimentelle Gestaltung, neuartige Fertigungsmethoden oder innovative Systembauweisen baufachlich oft mangelhaft erstellt, sodass auch auf dieser Ebene der Sanierungsbedarf hoch ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass der rigide Umgang mit der historischen Bausubstanz in den 1960er/1970er Jahren vermehrt in die Kritik gerät.

R ESÜMEE – E RKENNTNISSE

FÜR DAS

F ORSCHUNGSTHEMA

Das Kapitel Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild zeigt anhand gesellschaftlicher, geschichtlicher, architektonischer sowie städtebaulicher Ent543  Vgl. Tamms, Friedrich: Stadtbild zwischen Anspruch und Moderne. In: Laupsien, Hermann (Hrsg.): Wo wohnen wie bauen? Düsseldorf 1978, S. 40f.

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wicklungen die Grundlagen der Entstehung von Großwohnkomplexen auf. Es wird deutlich, dass sich alle beschriebenen Faktoren im Laufe der Entwicklung überlagerten und gegenseitig bedingten. Über die Betrachtung von Einzelaspekten wurde damit im Kapitel „Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild“ ein Gesamtbild der architektonischen und städtebaulichen Situation in den 1960er/1970er Jahren in Westeuropa skizziert. Auch wird deutlich, dass noch weitere Bezüge zu unterschiedlichen Bereichen, wie dem der Entwicklungen außerhalb Westeuropas oder der intensiveren Betrachtung verwandter Gebäudestrukturen aufgegriffen werden könnten, die jedoch den Umfang der vorliegenden Arbeit bei Weitem übersteigen würden. Trotzdem bietet das Kapitel, insbesondere durch die gesetzten Exkurse ein umfassendes Bild der Entwicklungen und lädt zu intensiverer Betrachtung von Einzelaspekten durch weiterführende Literatur ein. In der chronologischen Reihenfolge der städtebaulich relevanten Ereignisse und Publikationen zwischen 1945 und 1985544, die zur Entstehung von Großwohnkomplexen beigetragen haben, wird deutlich, dass, während die 1950er Jahre im Grunde von den Leitsätzen der aufgelockerten Stadt oder der organischen Stadtbaukunst geprägt waren, bereits 1951 die urbane Atmosphäre als fünfte städtische Funktion gefordert wurde und sich 1955 die ersten Partizipationsgedanken eröffneten. Zum Ende der 1950er Jahren entstanden mit Yona Friedmans Entwürfen zu „Paris Spatial“ und den Metabolisten aus Japan erste Städtebauutopien. Gleichzeitig hielt Edgar Salin 1960 einen Vortrag mit dem Titel „Urbanität“ und eröffnete damit die Diskussion über die Zukunft der Städte. Kritik an den Großstädten wurde durch Jane Jacobs 1961 veröffentlicht und Hans Paul Bahrdt thematisierte in seiner Publikation „Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau“ von 1961 die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit und forderte damit die Öffentlichkeit in den Fokus der städtebaulichen Entwicklung einzubeziehen. In den 1960er Jahren überlagern sich die Ansätze des „Team Ten“ mit den Erkenntnissen über Verkehr in den Städten aus dem „Buchanan Report“ und kritischen Publikationen wie „die gemordete Stadt“ oder die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ mit einer durch Kevin Lynch in seiner Publikation „Das Bild der Stadt“ initiierten neuen Lesart der Stadtraumwahrnehmung. Das Ende der 1960er Jahre ist von zunehmend prozessualen und wissenschaftlichen Planungen bestimmt. Zu Beginn der 1970er Jahre setzt sich ein zurückhaltendes Planungsverhalten durch. Die Publikation „The Limits to Growth“ wurde veröffentlicht und sagte eine Zukunft mit gerin544  Vgl. das Folgende in: Müller-Reamisch, Hans Reiner: Leitbilder und Mythen in der Stadtplanung. Frankfurt am Main 1990, S. 188ff.

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gerem Wachstum voraus. Diese Entwicklung setzte sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre fort und bedingte eine Abkehr von großmaßstäblichen Bebauungsstrukturen und ein ökologisches Verständnis in den Planungen. Komplexität in der Gestaltung wurde von Robert Venturi Ende der 1970er Jahre in den Fokus der Betrachtung gerückt. Großwohnkomplexe entstanden in diesem Zusammenhang in den 1960er / 1970er Jahren in einer Zeit gesellschaftlicher Veränderungen und wurden durch diese Entwicklungen nicht nur in der Konzeption, sondern auch in der konkreten Umsetzung maßgeblich geprägt. So hatte die Gesellschaft im Kontext der Frauenbewegung oder der Entstehung von Wohngemeinschaften und Kommunen einen Einfluss auf die Entwicklung neuer Wohngrundrisse.545 Der wachsende Wohlstand führte in den 1960er Jahren zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Wohnfläche und die liberalere und optimistisch in die Zukunft blickende Bevölkerung legitimierte nicht nur visionäre und zukunftsweisende Architekturutopien, sondern unterstütze ebenso ihre Umsetzung.546 Der wirtschaftliche Aufschwung und die damit gewonnene soziale Sicherheit in den 1960er Jahren förderten freie Denkmodelle und der technologische Fortschritt ließ utopische Projekte realisierbar erscheinen. Die 1970er Jahre waren dagegen von gedämpftoptimistischen Zukunftsszenarien547 sowie sozialen Herausforderungen wie Geburtenrückgang und einer multikulturellen Gesellschaft548 geprägt. Mechthild Schumpp stellte in ihrer Publikation „Stadtbau-Utopien und Gesellschaft“ abschließend fest, dass während im „Zusammenhang mit den frühen Utopien soziale Krisen und Umbruchsituationen im Vordergrund standen, sind es heute [1970, K.B.] nicht selten Krisen der Anpassung an eine rasche technisch-ökonomische Entwicklung, die sich zu verselbständigen droht.“549 Gleichzeit stellte sie fest, dass „[...]utopische Phantasie offenbar nur dann in Erscheinung treten kann,

545  Vgl. Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 70er Jahre. München 2004, S. 13f. 546  Vgl. Hoffmann, Hilmar/Klotz, Heinrich (Hrsg.): Die Sechziger. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 143f. 547  Vgl. beispielsweise die Publikation des „Club of Rome“: „Grenzen des Wachstums“. 548  Vgl. Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 70er Jahre. München 2004, S. 13. 549  Schumpp, Mechthild: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft. Überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertationsschrift: Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft. Göttingen 1970, Gütersloh 1972, S. 191.

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wenn die gesellschaftlich bedingten Repressionen nicht so übermächtig sind, daß [sic!] sie utopisches Denken schlechthin erdrücken.“550 Obwohl die städtebauliche Typologie der Großwohnkomplexe primär als das Ergebnis der Kritik am modernen Städtebau verstanden wird, wurde im vergangen Kapitel ebenso deutlich, dass auch Entwicklungen aus den 1920er Jahren Einflüsse auf Großwohnkomplexe ausübten. Bereits in dieser Zeit entstanden städtebauliche Utopien, die eine Lösung der prognostizierten Verkehrsproblematiken in der vertikalen Staffelung von Städten suchten. Außerdem können Großwohnkomplexe als das Ergebnis einer Weiterentwicklung der Idee des gemeinschaftlichen Wohnens seit den 1920er Jahren angesehen werden. Die Wurzeln von Großwohnkomplexen reichen damit bis zum Beginn des modernen Städtebaus zurück. In den 1960er Jahren, das wurde in den weiteren Untersuchungen der vorliegenden Untersuchung deutlich, entwickelten sich insbesondere in Großbritannien Tendenzen, die prägend für die Entstehung von Großwohnkomplexen wurden. Dabei spielte nicht nur die Entwicklung der verdichteten Zentren der „New Towns“ eine entscheidende Rolle, sondern ebenso die spezifische Prägung der Begriffe „Brutalismus“ und „Strukturalismus“ oder die futuristischen Entwürfe der Gruppe Archigram. Am prägendsten für die Realisierung von Großwohnkomplexen waren dabei das strukturalistische Denken in Bezug auf die Gesamtgestalt eines städtebaulichen Objekts und der „Brutalismus“, dessen Grundsätze sich in Materialentscheidungen und in Fassadenstrukturen widerspiegeln. Wie bereits einleitend erläutert, werden Großwohnkomplexe heute kaum explizit als eigenständige, städtebauliche Struktur oder architektonisches Objekt thematisiert. Kritische Stimmen gegenüber diesen Strukturen müssen demnach differenziert betrachtet werden. Die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Thema „Großwohnkomplex“ kann dabei sowohl mit der geringen Anzahl der realisierten Projekte zusammenhängen, als auch mit einem Unverständnis gegenüber den wichtigen Unterscheidungsmerkmalen von Großwohnsiedlungen der 1950er–1960er Jahre und den Großwohnkomplexen der 1970er Jahre im städtebaulichen wie architektonischen Kontext.551

550  Ebd., S. 191. 551  Vgl. Kapitel „Abgrenzung zu verwandten Gebäudestrukturen“ in der Einleitung.

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Quelle: Privatarchiv

Abb. 55: Zusammenfassung der Entwicklungen, die die Grundlage der Entstehung von Großwohnkomplexen bilden

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In der Zeit zwischen 1945 und 1975 kam es vielfach zu sich überlagernden und sich aufeinander beziehenden sowie in die Kritik geratenden, städtebaulichen Leitbildern. Schon in den 1970er Jahren vermischten sich dadurch in öffentlichen Diskussionen und in der individuellen Betrachtung die Kritik an den Großwohnsiedlungen der 1950er (moderne Stadtplanung) und die der 1960er Jahre (Satellitenstädte) mit der Realisierung der Großwohnkomplexe zum Ende der 1960er und in den 1970er Jahren. Ungeachtet ihrer teilweise hohen Qualität,

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insbesondere im Umgang mit dem öffentlichen Raum, wurden die Großwohnkomplexe schnell in die allgemeine Kritik am Städtebau mit einbezogen. Der Maßstab der Großwohnkomplexe im Stadtraum, der Baustoff Beton und die Reihung immer gleicher, vorfabrizierter Elemente erinnert dabei an die kritisierten verdichteten Großwohnsiedlungen und ließen eine unreflektierte Ausweitung der Kritik von den Großwohnsiedlungen auf die Großwohnkomplexe zu. Es wird deutlich, dass Kritik insbesondere in Bezug auf die „Unmaßstäblichkeit“ großer städtebaulicher Strukturen im Stadtraum geäußert wird: „Große Wohnsiedlungen sind groß; außerhalb der Größenordnung von Menschen. Das kollektive Prinzip erfordert Dimensionen, die größer sind als diejenigen, die der Mensch traditionell seinen Gruppierungen zugrunde gelegt hat.“552 Die Kritik an den Großwohnkomplexen mündete in einem Strukturwandel im Verlauf der 1970er Jahre, der, ähnlich radikal wie etwa 20 Jahre zuvor die städtebauliche Verdichtung gefordert wurde, nun auf maßstäbliche Gestaltung im Städtebau setzte und ökologische Gesichtspunkte in den Vordergrund treten ließ. Damit endete direkt nach der Realisierung vieler der in dieser Arbeit thematisierten Großwohnkomplexe Anfang der 1970er Jahre die Periode der Megastruktur. Schon 1973 konstatierte Reyner Banham: „Die Megastruktur ist tot“553. Rückblickend ist dabei festzustellen, dass die Geschichte des Städtebaus im 20. Jahrhundert in Westeuropa im Grunde von einer kontinuierlichen Entwicklung geprägt war, die zwischen Verdichtung und Auflockerung oszilliert. So wurde, vereinfacht zusammengefasst, als Reaktion auf die überfüllten Städte Anfang des 20. Jahrhunderts eine Auflockerung gefordert, die in den 1960er Jahren wiederum durch den Wunsch nach Verdichtung ersetzt wurde. Kaum 15 Jahre später wurde diese Städtebaukonzeption wiederum von aufgelockerteren Bebauungsformen abgelöst. Seit einigen Jahren ist heute nun wieder eine Tendenz zum innerstädtischen, verdichteten Bauen spürbar. Als Ergänzung zu den vorangegangenen Kapitel werden nun im Folgenden unter dem Thema „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“ realisierte Beispiele großmaßstäblicher Gebäudestrukturen aufgezeigt und erläutert. Dabei werden sowohl verschiedene Typologien aufgezeigt, die die Entwicklung von Großwohnkomplexen auf unterschiedlichste Art prägten, als auch Großwohnkomplexe selber dargestellt.

552  Moles, Abraham A.: Mit den Augen eines Psychologen. Psycho-Pathologie großer Wohnsiedlungen. In: Bauwelt 1972, Heft 50, S. 1910. 553  Banham, Reyner (1973) in: van der Ley, Sabrina/Richter Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 14.

Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele

Großwohnkomplexe, definiert als heterogen überbaute und funktional durchmischte Großstrukturen mit fußläufigen Erschließungsbereichen im öffentlichen Raum und Parkmöglichkeiten in Tiefgaragen unterhalb des Komplexes, sind das Ergebnis vielfältiger Entwicklungen und Umbrüche im gesellschaftlichkulturellen, technischen, architektonischen und städtebaulichen Bereich im Verlauf der 1950er bis 1970er Jahre. Im Kontext der Forschungsarbeit „Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre“ bietet die Beispielsammlung einen Überblick über realisierte Projekte dieser Zeit und ergänzt die in der Untersuchung erarbeitete, chronologische Darstellung der architektonischen und städtebaulichen Entwicklungen. Durch das Aufzeigen und Herstellen von Bezügen zu Großwohnkomplexen dient die Beispielsammlung nicht nur als Dokumentation realisierter Projekte, sondern unterstreicht den in der Untersuchung beschriebenen „Zeitgeist“, das Denken über verdichteten Wohnungsbau dieser Zeit und zeigt damit den Hintergrund für die Entstehung von Großwohnkomplexen auf. Gleichzeitig veranschaulicht die Darstellung die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der entstandenen Konzepte. Alle vorgestellten Projekte bieten ein oder mehrere städtebauliche und architektonische Elemente, die in der Realisierung von Großwohnkomplexen ebenfalls zur Anwendung kamen. So werden modulare Bauten, Terrassenhausstrukturen, strukturalistische Ansätze, städtebauliche Verdichtung sowie die Entwicklung verdichteter Stadtzentren dargestellt. Ergänzend und um die Unterschiedlichkeit der Entwicklungen in weiteren Ländern zu berücksichtigen werden Beispiele aus Italien aufgezeigt, wo die städtebauliche Entwicklung eher in einzelnen, freistehenden, großmaßstäblichen Wohnkomplexen mündete, die nur wenig Bezüge zu Großwohnkomplexen aufweisen. In einem Ausblick werden in aller Kürze zeitgenössische Projekte verdichteten Bauens dargestellt.

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Im Gegensatz zum Hauptteil der Arbeit wird in dieser Beispielsammlung die geografische Einschränkung auf Westeuropa geöffnet um Einflüsse und Entwicklungen aus anderen Ländern ebenfalls zu betrachten. Aus Gründen der Lesbarkeit werden die Projekte typologisch geordnet und unter den Überschriften „Zwischen Utopie und Realität“, „Solitärbebauung“, „Italien“, „Strukturalismus“, „städtebauliche Projekte“, „Stadtzentren“, „Großwohnkomplexe“ sowie „Ausblick: Großwohnkomplexe heute?“ dargestellt. Die in den Projektüberschriften vermerkten Jahreszahlen bilden den Zeitpunkt der Fertigstellung ab und dienen der groben zeitlichen Einordnung der Projekte. Die dargestellten Beispiele können im Rahmen der Forschungsarbeit nur einen kleinen Teil der tatsächlich weltweit entwickelten und realisierten Projekte in diesem Zusammenhang aufzeigen. Mit den Beispielen sollen vielmehr die Unterschiedlichkeiten der Projekte herausgearbeitet und Bezüge zu der Entwicklung von Großwohnkomplexen aufgezeigt werden.

Z WISCHEN U TOPIE

UND

R EALITÄT / MODULARES B AUEN

Entwürfe utopischer (Mega-) Strukturen prägten die Zeit der Planung und Realisierung von Großwohnkomplexen. Dabei spielten jedoch eher das Wissen von den Utopien, der gesellschaftliche Kontext, das Machbarkeitsdenken und die grundsätzlichen futuristischen Ideen eine Rolle, als dass die Entwürfe tatsächlich als Vorbilder oder Planungsgrundlagen von Großwohnkomplexen angesehen wurden. Die im Folgenden dargestellten, realisierten Beispiele nehmen durch ihre Konzeption und städtebauliche wie architektonische Ausformulierung eine Zwischenposition zwischen Utopie und Realität ein und unterstreichen den teilweise schmalen Grat zwischen architektonischer Fiktion und realisiertem Objekt.

V OM T ERRASSENHAUS ZUM G ROSSWOHNKOMPLEX | 287

Abb. 56: Nagakin Capsule Tower, Innenräume

Quelle: van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 93/ Lepik, Andreas: Wolkenkratzer. München 2005, S. 88

Nagakin Capsule Tower, Tokio (Japan 1972) Der „Nagakin Capsule Tower“ von Kisho Kurokawa stellt eine Verbindung zwischen gedachter Utopie und realisiertem Projekt her. Das Konzept sah Kleinstwohnungen für den flexiblen Geschäftsreisenden oder Pendler in der Stadt Tokio vor. Das Projekt begründete sich in einer schnelllebigen Gesellschaft durch die wachsende Bevölkerung, insbesondere in den japanischen Großstädten und durch den geringer werdenden Anteil an Wohnungen innerhalb des Innenstadtgebietes von Tokio. Das Gebäude besteht aus zwei quadratischen Betonkernen, die die Erschließung und Versorgung der Wohnzellen gewährleisten und das statische Gerüst bilden.1 Durch die modulare Fertigung konnte das Wohnhaus in nur 30 Tagen montiert werden.2 Gemäß vieler Projekte dieser Zeit basiert das System auf flexiblen, vorgefertigten Raumzellen, die in einer Trägerstruktur montiert wurden. Mehrere Zellen können miteinander verbunden werden, sodass neben der Kleinstwohnung auch weitere Grundrisskonfigurationen möglich sind. Die Einrichtungen zum Beispiel des Badezimmers bestehen aus vorgefertigten Fieberglas-Zellen, die das Leben auf engsten Raum ermöglichen sollten. Die Fassade der Türme ist von den einzeln eingehängten Wohnzellen geprägt und bildete „…eine sehr komplexe und von außen nicht unmittelbar verständliche Struktur.“3 Das Konzept dieser Zellenstruktur wurde in weiteren Entwürfen 1

Vgl. Lepik, Andreas: Wolkenkratzer. München 2005, S. 88.

2 3

Vgl. Kisho Kurokawa: Metabolism in Architecture. London 1977, S. 105. Lepik, Andreas: Wolkenkratzer. München 2005, S. 89.

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Abb. 57: Metastadt Wulfen

Quelle: Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900. Ludwigsburg/Berlin 2005, 2. Auflage Ludwigsburg/Berlin 2006, S. 355/van der Ley, Sabrina/Richter, Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 185

eingebracht. So entwarf der Architekt beispielsweise eine ganze Stadt aus Zellenstrukturen (Capsule Village). Die praxisorientierte Planungsgrundlage der Zell-Architektur basiert auf den metabolistischen und wissenschaftlichen Forschungen über vorfabriziertes Bauen. „The elements and image, while mass-produced, were actually based on traditional models of the farmhouse and tatami mat. […] looked at one way it seemed totally futurist, from another angle totally traditional.”4 Die Metatstadt, Wulfen (Deutschland 1974) Der Architekt Richard Dietrich entwarf in den 1960er Jahren ein „Metastadtkonzept“, das in der Hauptverwaltung des Fertighausherstellers Okal in München (1973) sowie in einem Wohngebiet in „der neuen Stadt Wulfen“ (1974) nördlich von Marl zur Anwendung kam.5 Die übergeordnete Idee der Metastadt kann mit den Städtebaukonzeptionen Yona Friedmanns (Paris Spatial) oder SchulzeFielitz (Raumstadt) verglichen werden. Eine Rahmenstruktur überspannt und erweitert damit vorhandene, gewachsene Stadtstrukturen. Ein entscheidender Aspekt in der Entwicklung der Metastadt-Konzeption war für den Architekten, dass die „[...] Meta-Stadt [...] nicht wie ein Trabantenstadt plötzlich auf der grünen Wiese [entsteht, K.B.], sondern in einem kontinuierlichen schrittweisen Wachstum aus der alten Stadt, übergehend in die neue Substanz.“6 Richard Diet4 5 6

Kisho Kurokawa: Metabolism in Architecture. London 1977, S. 15. Vgl. Herwig, Oliver: Das Ende einer Utopie? In: db 12/99, S. 71. Dietrich, Richard in: Junck, Robert: Terrassenturm und Sonnenhügel. Düsseldorf 1970, S. 70.

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rich verfolgte dabei nicht nur das Ziel einer neuen technischen Möglichkeit des industriellen und modularen Bauens, sondern auch das einer neuen Gesellschaft.7 „Zunächst wachsen Pylone in den Himmel, dann klammert sich die horizontal ausgreifende Stadt an diese; ein orthogonales Raster entsteht, das sich frei im Raum entfaltet. Im nächsten Schritt siedeln die Bewohner der Mietskasernen in die luftigen Neubauten um, während die alten Behausungen abgebrochen werden und verschwinden. Die Metastadt wächst weiter während unter ihr ein See entsteht […] eine perfekte Idylle […]“8 In der Umsetzung der Metastadtkonzeption in der neuen Stadt Wulfen wurde von den geplanten über 400 Wohneinheiten sowie einem Ladenzentrum, einem Schwimmbad und Hotels nur ein kleiner Anteil von etwa 100 Wohneinheiten mit wenigen Nebeneinrichtungen realisiert.9 „In Wulfen wurde keine Metastadt realisiert, sondern nur eine Prototyp des Metatstadt-Bausystems“10 erläutert der Architekt rückblickend. Es wurden 80 verschiedene Grundrisstypen ebenso realisiert wie verschiedenen Erschließungssysteme, ein Kindergarten und eine Passage mit Geschäften.11 Eine grundlegende Planungsentscheidung zum Metastadtprojekt war die Flexibilität in der Nutzung durch versetzbar, leichte Trennwände innerhalb der statischen Struktur.12 Dabei wurden die Nutzungen in der konkreten Realisierung in Wulfen jedoch durch Festlegungen auf maximale Nutzlasten eingeschränkt.13 Schon 1976 wird die Realisierung der Metatstadt Wulfen in Frage gestellt und diskutiert, ob die Zeit nicht über das System hinweggegangen sei, denn „großräumige und hochfliegende sozio-technische Systeme“ seien bereits zu Beginn der 1970er Jahre zu den Akten gelegt worden.14 Im Jahr 1987 wurde das Wohngebäude in Wulfen wegen Bauschäden und Leerstand zurückgebaut.

7 8 9 10 11

Vgl. Herwig, Oliver: Das Ende einer Utopie? In: db 12/99, S. 72. Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 73. Dietrich, Richard: Von der Metastadt zum Brückenbau. In: Der Architekt 7/97, S. 444. Vgl. N. N.: Metastadt – Anfang und Ende einer Utopie? Bauwelt 1976, Heft 33, S. 1011.

12 Vgl. ebd., S. 1006. 13 Vgl. ebd., S. 1010. 14 Vgl. einleitend zum „Bauwelt Gespräch“. N. N.: Metastadt – Anfang und Ende einer Utopie? Bauwelt 1976, Heft 33, S. 1004.

290 | URBANITÄT DURCH DICHTE?

Die Weltausstellung in Montreal und das „Habitat 67“ (Canada 1967) Die Weltausstellung 1967 in Montreal wurde als Plattformen für strukturalistische Bauten und Megastrukturprojekte genutzt. Diese Gebäude machten die Stadt nach Reyner Bahnham zum „Mega Montreal of the mid sixties“15 und können als ein gesamtheitliches historisches Phänomen angesehen werden.16 „In the end, however, this historical phenomenon must be defined by its products; however diverse in detail, les Mégas de Montréal were perceived as a comprehensible grouping of architecture united by ambition, inguity and the ground on which they stood.”17 Das Gelände der Expo „67 in Montreal bestand aus mehreren künstlichen und natürlichen Inseln, die durch Schienenverkehr und Fußgängerbrücken verbunden wurden. Eine Monorailstrecke überlagert sich auf einer mittleren Ebene mit den Fußgängern auf dem Erdboden und den Schnellzügen auf der dritten Ebene und „[...] bildeten [...] die perfekte Verkehrssimulation aus dem Bilderbuch der Megastruktur-Planer.“18 Frei Otto entwickelte für den deutschen Pavillon eine freie Seilkonstruktion, der „Dome“ von Buckminster Fuller hatte geodätische Kuppeln und pneumatische Tragwerke zum Vorbild und das Ausstellungsgebäude „Man the Producer“ von Guy Desbarats bestand aus einem Raumtragwerk. Neben vielen Gebäuden, die von Sibyl Moholy-Nagy nachträglich kritisch als „architektonische Fun Hats“ charakterisiert wurden, wobei „[…] nicht die geringste Beziehung zwischen der Form und dem Ausstellungsmaterial der Pavillons […[“19 bestehe, ragen die Seiltragwerke und die geodätische Kuppel als Objekte heraus und faszinieren durch „[…] die Haut selbst, die Licht spendet, vor Wetter schützt, ein angenehmes akustisches Klima schafft. [...] Was beeindruckt, ist die unglaublich schwerelose Konstruktion, ist der kaum merkliche Wechsel zwischen Innen und Außen – eigentlich nur ein Hindurchgleiten durch eine Membran [...]“20

15 Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 105.

16 Vgl. ebd., S. 105. 17 Ebd., S. 105. 18 van der Ley, Sabrina/Richter Markus(Hrsg.): Megastructure reloaded, Berlin, 2008, S. 14.

19 Moholy-Nagy, Sibyl: Expo „67 in: Bauwelt 1967, Heft 28/29, S. 689. 20 Ruhnau, Werner: Lobbrief auf Klimaschutzhüllen in: Bauwelt, 1967, Heft 34/35, S. 855.

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Abb. 58: Das Gelände der Weltausstellung in Montreal, Habitat 67

Quelle: Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 104/Reuter, Tilman (Hrsg.): Wohnzentren. Projekte und Bauten. Stuttgart 1971, S. 95

In Bezug auf die in der vorliegenden Untersuchung thematisierten Großwohnkomplexe soll aus diesen Projekten zur Weltausstellung das „Habitat 67“ von Moshe Safdie herausgegriffen werden. Das Habitat besteht aus gestapelten und ineinander verschachtelten Wohnkuben mit unterschiedlichen Grundrissgrößen und -formen. Es kann als „… eine Mischung aus klassischem A-FrameTerrassenhaus und labyrinthischem Betonkisten-Plug-in …“21 in die Reihung von Megastrukturprojekten eingeordnet werden. Eine Tiefgarage im Untergeschoss erlaubt den Bewohnern das Parken in unmittelbarer Nähe der eigenen Wohnung, die Erschließung erfolgt vertikal über Aufzüge, die in Fußgängerpassagen auf vier unterschiedlichen Niveaus münden. Von dort werden die Wohnungen auf mittleren Ebenen zwischen diesen halböffentlichen Passagen erschlossen.22 Die Planungen eines Einkaufbereiches in der Nähe eines zentralen öffentlichen Platzes wurden in der Ausführung nicht realisiert.23 Die Bebauungsstruktur des „Habitat 67“ kann den strukturalistischen Gedanken zugeordnet werden, da sie auf Grund der Stapelung individueller Kuben gleichwertig als identitätssteigernd durch Ablesbarkeit des Einzelteils im Gesamtkomplex (Gliederung der Baumassen) und als flexibles System neutraler Raumeinheiten interpretiert werden kann. 24

21 van der Ley, Sabrina/Richter Markus (Hrsg.): Megastructure reloaded. Berlin 2008, S. 14.

22 Vgl. Safdie, Moshe: For everyone a garden. Cambridge 1974, S. 63. 23 Vgl. ebd., S. 82. 24 Vgl. Hecker, Michael: structurel I structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 98f.

292 | URBANITÄT DURCH DICHTE?

T ERRASSENHÄUSER UND H ÜGELHÄUSER ( STÄDTISCHE ) S OLITÄRBAUTEN

ALS

Terrassenhäuser nehmen in der Entwicklung von Großwohnkomplexen einen besonderen Stellenwert ein. Sie bilden als Einzelgebäude im Gesamtkomplex einen architektonischen Grundbaustein, der nicht nur eine hohe räumliche Dichte mit gleichzeitiger Weite in den Obergeschossen erlaubt, sondern außerdem jeder Wohneinheit eine vorgelagerte Terrasse als privaten Außenraum bietet. Das klassische Terrassenhaus wurde in Großwohnkomplexen und in Form von solitären Wohngebäuden ebenso realisiert wie Gebäudetypen, die private Terrassen durch eine Stapelung einzelner Wohnkuben erreichte. Schwächen von (klassischen) Terrassen- und Hügelhäusern sind die Räume im Innern des Gebäudes, die keine natürliche Belichtung erfahren. Unterschiedliche Ansätze diese Räume als Abstellräume, Pkw Stellplätze oder Erschließungswege zu nutzen wurden dabei im Laufe der Entwicklungen erprobt. Eine besondere Form des Terrassenhauses entstand 1967 in Marl. Aus dem Konzept des Terrassenhauses heraus wurde ein Wohnhügel entwickelt, der als eine Weiterentwicklung des hangliegenden Terrassenwohnhauses angesehen werden kann. Der durch die Struktur entstehende Innenraum des Wohnhügels wurde hier durch Gemeinschafts- oder Abstellräume sowie Garagen nutzbar gemacht. Girondelle, Bochum (Deutschland 1969) Das Terrassenwohnhaus Girondelle in Bochum besitzt eine zweiseitige terrassierte Fassade in Ost-West Ausrichtung. Sie gleicht durch die steile Höhenentwicklung jedoch eher einer städtebaulichen Zeilenstruktur als einem „Wohnhügel“. Die Erschließung erfolgt in den unteren Geschossen durch innenliegende Flure, in den oberen Geschossen über Laubengänge. Die kubische und modulare Gesamtstruktur des Gebäudes wird durch versetzte Vor- und Rücksprünge erreicht, die jeweils die Terrassen der darüber liegenden Wohnungen bilden.25 Das Gebäude steht im städtischen Gesamtzusammenhang mit weiteren Wohngebäuden und grenzt an eine das Wohngebiet erschließende Fußgängerpromenade.26

25 Vgl. N.N. Terrassenhaus Girondelle in Bochum. In: Bauwelt 1972 Heft 46, S. 1755. 26 Vgl. Deutsche Bauzeitschrift (Hrsg.): Verdichtete Wohnformen. Gütersloh 1974, S. 143ff.

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Abb. 59: Girondelle, Bochum/Tapachstr. Stuttgart

Quelle: Deutsche Bauzeitschrift (Hrsg.): Verdichtete Wohnformen. Gütersloh 1974, S. 143/Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Städtebauliche Forschung. Terrassierte Bauten in der Ebene: Beispiel Wohnhügel. Bonn 1973, S. 217

Tapachstrasse, Stuttgart (Deutschland 1970) Die Wohnanlage Tapachstrasse in Stuttgart Rot besteht aus einer Terrassenhausstruktur und vorgelagerter Teppichhaussiedlung und erweitert damit die Solitärbebauung des verdichteten Terrassenwohnhauses mit weiteren verdichteten Bebauungsstrukturen. Alle Wohnungen besitzen einen nach Süden ausgerichteten privaten Freiraum, der an das Schlaf- und Wohnzimmer angrenzt. Dies „[…] bewirkt, dass im Ergebnis kaum mehr ein Unterschied zwischen dem Wohnwert der „Eigenheime“ und dem der „Geschoßwohnungen“ festzustellen ist.“27 Die Küche und Essplätze sind zum erschließenden Laubengang angeordnet und erlauben so die Kommunikation mit dem „öffentlichen“ Außenraum. Die Erschließung für den motorisierten Fahrverkehr erfolgt über ein unterirdisches Parksystem, das eine autofreie, fußläufige Erschließung der Gebäude auf Erdgeschossniveau ermöglicht. Der spanische Architekt Ricardo Bofill soll hier im Zusammenhang der verdichteten Solitärbebauung herausgehoben werden, da er in den 1960er Jahren innerhalb kurzer Zeit mehrere kleinere Wohnkomplexe in Spanien baute und dabei inhaltlich Zusammenhänge zum Strukturalismus und der Gruppe Archigram herstellte. Seine Gebäude orientieren sich an der Umgebung und bestehen aus übereinander gestapelten, jeweils zueinander versetzten Kuben, sodass sich sowohl in der Fassadenstruktur als auch in den Innenräumen erlebnisreiche

27 N.N.: Terrassenhaus Tapachstrasse in Stuttgart-Rot. In: Bauwelt 1972 Heft 46, S. 1752.

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Blickachsen ergeben. Die Bedürfnisse der Bewohner, Funktionsmischung und die Erschließungsstruktur waren für Ricardo Bofill in diesem Zusammenhang wiederkehrende Gestaltungsmerkmale. Barrio Gaudi, Rues (Spanien 1968) Im Jahr 1968 stellte Bofill eine Wohnstruktur fertig, die mit Wohnungen, Bars und Geschäften eine Funktionsvielfalt aufwies und dessen angestrebtes Ziel es war „[…] to retain the agreeable atmosphere of the streets and plazas of the old town in a modern urban setting. To this effect, a primary network of two broad avenues was laid out across the Barrio for rapid circulation of automobiles; a secondary network, for slow traffic, parking space, and pedestrian ways; and a third, strictly for pedestrians, extending from the ground floor to all levels of the building.”28 Durch die Berücksichtigung der Beziehungen der Menschen untereinander und „gewisser Aspekte früherer Städte“ sollte ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl entstehen.29 Kafkaʼs Castle, Barcelona (Spanien 1968) Im gleichen Jahr stellte Bofill ein Projekt in der Nähe von Barcelona fertig. Kafkaʼs Castle befindet sich außerhalb des städtischen Kontextes und sucht in der Variation der Kuben eine Verbindung zur umgebenden Landschaft. In diesem Projekt beschreibt der Autor die Kuben als Zellen, und verweist damit ebenfalls auf strukturalistische Gedanken. Mit einem nicht realisierten Projekt (City in Space, 1972) für Madrid legte Bofill den Grundstein für eine weitere Wohnstruktur in Sant Just Devern (Walden 7, 1975) nahe Barcelona. In beiden Projekten suchte der Architekt nach den aus seiner Sicht im Städtebau der 1960er Jahre verloren gegangenen Aspekten wie Gemeinschaft und persönlicher Aneignung öffentlicher Räume.30 Während der „City in Space“ eine modulare und flexible Bauweise zu Grunde liegt und damit den Fokus auf neue Baustrukturen legte, wurde in der Realisierung des Projektes „Walden 7“ der Fokus auf die Bewohner gelegt und anregende (Innen)räume der Struktur im Kontrast zur „Mittelmäßigkeit“ der Umgebung geplant.31 Hauptmerkmale der Bebauungsstruktur sind vier große Patios zu welchem sich die Wohnungen größtenteils orientieren. „The central space is differentiated and shielded from the outside for use by the peo28 Rizzoli International Publikations (Hrsg.): Ricardo Bofill. New York 1988, S. 28. 29 Vgl. Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 96.

30 Vgl. Rizzoli International Publikations (Hrsg.): Ricardo Bofill. New York 1988, S. 44 31 Vgl. Ebd., S. 42, 44.

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Abb. 60: Barrio Gaudi/Kafkaʼs Castle

Quelle: Rizzoli International Publikations (Hrsg.): Ricardo Bofill. New York 1988, S. 33/ 31

ple. Recovering the street and the plaza for the benefit of the community, it generates an interior world apart from the exterior chaos. […] The social areas of the apartments are connected throughout in order to break away from the tradition of functionally closed spaces.”32 Es wird in diesen Beispielen deutlich, dass in der Kategorie der Solitärbauten gestapelte Kuben (Ricardo Bofill) sowie Terrassenstrukturen (Tapachstrasse) und Mischformen (Girondelle) zur Anwendung kamen. Alle Konstruktionen verbildlichen den strukturalistischen Ansatz der vorfabrizierten Zellenbauweise, die zwar nicht in allen Projekten dogmatisch zur Anwendung kam, jedoch diesem Ansatz einen architektonischen Ausdruck verlieh. Einige dieser Gebäude können bereits als kleinere Wohnkomplexe angesehen werden, da die Funktionsmischung und Heterogenität der Wohnungsgrundrisse sowie die Gestaltung öffentlicher Räume bereits einige Definitionsparameter von Großwohnkomplexen erfüllt. Es wird gleichzeitig deutlich, dass alle beschriebenen Typen von Solitärbauten in Großwohnkomplexen als städtebaulicher Einzelbaustein zur Anwendung kamen.33

32 Ebd., S. 44. 33 Vgl. beispielhaft Graz St Peter: zu Hochhäusern gestapelte Kuben, Terrassenstruktur/Olympisches Dorf in München: Terrassenhäuser/Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin: Hügelhaus mit innenliegender Autobahn.

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I TALIEN Auch in Italien wurden in den 1960er/1970er Jahren großmaßstäbliche Gebäudestrukturen realisiert, die sich jedoch eher an den Ideen der Wohnmaschine Le Corbusiers und den städtebaulichen Grundsätzen der „Moderne“ orientierten. Die Funktionen des täglichen Lebens wurden somit vermehrt innerhalb einer Gebäudestruktur verbunden anstatt, wie die Definition und die Erläuterungen zu Großwohnkomplexen zeigen, öffentliche Freiräume zu gestalten. Auch die Erschließung erfolgte, das werden die folgenden Beispiele zeigen, größtenteils durch horizontale „Straßen“ innerhalb des Gebäudes. Deutlich wird dies insbesondere an dem Projekt „Forte Quezzi“ in Genua, das als Realisierung der Ideen Le Corbusiers für Algier angesehen werden kann. Gleichzeitig wurden die Projekte jeweils in der Peripherie großer Städte geplant, was einen weiteren deutlichen Unterschied zu Großwohnkomplexen aufzeigt. Trotz dieser Unterschiede zu Großwohnkomplexen werden einige Beispiele im Folgenden dargestellt, um die Tendenzen des Wohnungsbaugeschehens in Italien beispielhaft darzulegen. Die Gebäude können der Architekturströmung des Brutalismus zugeordnet werden. Forte di Quezzi, Genua (Italien 1960) Die Gebäude des Quartiers Forte die Quezzi erstrecken sich der Topografie folgend als langgezogene Gebäudekörper entlang der Höhenlinien einer Hügelkette am Stadtrand von Genua.34 Durch horizontale Fußwege auf der ersten und vierten Ebene des Gebäudes, die Bezüge zu den „Streets in the Sky“ von Alison und Peter Smithson (Großbritannien) zulassen, wird die Fassade gegliedert. Das Quartier besteht aus fünf Gebäuden unterschiedlicher Höhe und Länge und bildet damit ein eigenes, städtisches Quartier.

34 Vgl. Tafuri, Manfredo: History of Italian Architecture, 1944–1985. Aus dem Italienischen von Jessica Levine Boston 1989, 1. Italienische Ausgabe Turin 1982, S. 47.

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Abb. 61: Forte di Quezzi/Gallaratese

Quelle: Tafuri, Manfredo: History of Italian Architecture, 1944–1985. Aus dem Italienischen von Jessica Levine Boston 1989, 1. Italienische Ausgabe Turin 1982, S. 110ff, Belluzzi, Amedeo/Conforti, Claudia: Guide allárchitettura moderna. Architettura Italiana 1944–1994. Bari 1985, 3. Auflage. Bari 1994, S. 157

Gallaratese, Mailand (Italien 1974) Der Gebäudekomplex Gallaratese wurde von den Architekten Carlo Aymonino und Aldo Rossi in den 1960er Jahren geplant. Er besteht aus mehreren Gebäude, die sich an einen zentralen Platz, der einem Amphitheater nachempfunden wurde, orientieren.35 Die Gebäude besitzen unterschiedliche Wohnungstypologien von Maisonettewohnungen über ebenengleiche Appartements und Terrassenwohnungen und werden über innenliegende Flure erschlossen. Geplant waren außerdem öffentliche Bereiche, Ladenzeilen und öffentliche Einrichtungen wie Schulen, die jedoch kaum realisiert wurden. „Indeed, it is as if the size, complexity and availability of these buildings were expected to promote some kind of communal life half-way between the idea of a „palais social“ and that of a civic centre. A kind of intuitive counterform designed for a society still unborn.“36

35 Vgl. http://housingprototypes.org/project?File_No=ITA021, 03.05.2013, 12:00. 36 Nicolin, Pierluigi: Housing Complex at the Gallaratese Quarte. Tokyo 1981, S. 1.

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Abb. 62: La Vele di Scampia/Corviale

Quelle: http://www.bing.com/maps 2.6.2013,14:20 (Mit Genehmigung von Microsoft)/ Watson, Victoria: Utopian Adventure: The Corviale Void. Surrey/Burlington 2012, S. 94

La Vele di Scampia, Neapel (Italien 1975) La Vele di Scampia ist ein im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus gefördertes Projekt in der Peripherie von Neapel. Der Name lässt sich auf die charakteristische Gebäudeform zurückführen, die die Gebäude wie Segel (Vele) wirken lassen. Das Projekt besteht aus vier (ehemals sieben) Wohngebäude gleicher Kubatur mit großflächigen Grünräumen in den Zwischenzonen. Die Erschließung der Wohnungen erfolgt über offene Laubengänge und Treppenhäuser im Innern der Baustruktur. In den 1990er Jahren wurden drei der Gebäude zurückgebaut. Corviale, Rom (Italien 1982) Ein weiteres bekanntes Projekt ist das Gebäude „Corviale“ am Stadtrand von Rom. Es ist mit einer Länge von 1.000 Metern, zehn Geschossen und etwa 1.000 Wohneinheiten das längste Hochhaus Europas. Auch in diesem Projekt wurde gemäß der Entwürfe Le Corbusiers eine Erschließungsebene auf Höhe des siebten Geschosses realisiert.37 Das Gebäude wird in seiner Fassadenstruktur damit zum einen durch die kontinuierliche Linie dieser Erschließungsebene geprägt als auch durch fünf senkrechte Erschließungstürme, die das Gebäude in der Länge strukturieren. Im Innern des Gebäudes wurden langgezogene, schmale Innenhöfe ausgebildet, die eine zusätzliche Belichtung bieten sollen. Öffentliche Einrich37 Vgl. dies und das Folgende. http://www.housingprototypes.org / project?File_ No=ZT A004, 03.03.13, 12:00

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tungen und Einkaufsmöglichkeiten befinden sich in niedrigerer Bebauung in unmittelbarere Nähe zum Gebäudekomplex.

T EAM T EN /S TRUKTURALISMUS Das Team Ten spielt in der Architekturgeschichte der 1960er/1970er Jahre eine besondere Rolle wobei die Strömungen des Brutalismus und des Strukturalismus dieser Architektengruppe zu einem großen Teil zugerechnet werden können. Die architektonische Umsetzung der theoretischen Ideen des Team Ten wird in dieser Beispielsammlung kurz anhand des Projektes „Robin Hood Gardens“ von Peter und Alison Smithson in London dargestellt. Dabei wird jedoch deutlich, dass vielmehr die Einflüsse des Strukturalismus im Allgemeinen die Entstehung von Großwohnkomplexen beeinflusste, als dass die Ideen des Team Ten, wie sie im Projekt Robin Hood Gardens umgesetzt wurden, die Planung von Großwohnkomplexen prägten. Robin Hood Gardens, London (Großbritannien 1972) Robin Hood Gardens ist ein Wohnprojekt im Londoner East End. Die Architekten Alison und Peter Smithson setzten sich dabei zum Ziel in dem „sozialen Brennpunkt“ einen neuen städtischen Fixpunkt zu definieren.38 Die zwei gefalteten Gebäudescheiben wurden dabei entlang der Grundstücksgrenze platziert und bilden einen zweiseitig umschlossenen, topografisch gestalteten Hof. „Mit der Geste schützender Hände wird das Herzstück des Entwurfs, die stress free zone […] von Lärm und seiner Umgebung abgeschirmt.“39 Auf gebäudetypologischer Ebene dominiert die Idee der „Streets in the Sky“, einem öffentlichen Raum auf allen Ebenen des Gebäudes. Die „Straßen“ zeichnen sich in den nach außen orientierten Fassaden der Gebäude deutlich ab. Im Projekt Robin Hood Gardens wurden Maisonettwohnungen sowie Appartements auf einer Ebene realisiert.

38 Vgl. Sewing, Werner/Dreher, Florian: Aus der Poesie des Alltags ersonnen. In: archithese 2/2010, S. 49.

39 Ebd., S. 49f.

300 | URBANITÄT DURCH DICHTE?

Abb. 63: Robin Hood Gardens

Quelle: Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 174, 177

Ähnlich wie das Projekt Park Hill in Sheffield kann das Projekt als eine spezifische Weiterentwicklung der Wohnmaschine Le Corbusiers angesehen werden. „Die eigentliche englische Neuinterpretation der kontinentalen Moderne war jedoch die Umdeutung der Unités von Le Corbusier vom Solitär zur vernetzten Struktur von Scheiben, die in allen Höhen von einem infrastrukturellen Wegesystem zu Clustern urbaner Vitalität vernetzt wurden.“40 Ein Entwurf, der die eigentliche, großmaßstäbliche Idee der „Streets in the Sky“ darstellt wurde von den Architekten Smithson während eine Wettbewerbs für Berlin dargestellt. Dort bilden sich die „Straßen“ netzartig über die vorhandenen Gebäudestrukturen aus. Mit ihren strukturalistischen Ansätzen stellten die Smithsons gleichzeitig einen Bruch zur Moderne Le Corbusiers dar. Ebenfalls von Mitgliedern des Team Ten wurde in Frankreich ein städtebauliches Projekt, Toulouse le Mirail, geplant und bis 1972 realisiert. Dieses Projekt wird im Folgenden Kapitel „Städtebauliche Projekte“ näher erläutert.

S TÄDTEBAULICHE P ROJEKTE Großwohnkomplexe unterscheiden sich in ihrer städtebaulichen und architektonischen Konzeption maßgeblich von weiteren Projekten der 1960er/1970er Jahre. Wie die Abgrenzung zu verwandten Gebäudestrukturen in der Einleitung zum Hauptteil des Forschungsprojektes zeigt gibt es, unabhängig von der Entstehungszeit, nur wenige Parallelen zu Großwohnsiedlungen oder Satellitenstädten. Insbesondere der Umgang mit dem öffentlichen Raum, in Großwohnkomplexen

40 Ebd., S. 48.

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als städtischer Innenraum gestaltet, heterogene Bebauungs- und Wohnungstypologien sowie die Trennung der Verkehrswege auf unterschiedlichen Ebenen, ihre Position im gewachsenen Stadtgefüge und nicht zuletzt ihre Größe unterstreichen den besonderen Charakter dieser Gebäudestruktur. Die im Folgenden dargestellten Beispiele vervollständigen damit nicht nur die Darstellung unterschiedlicher Bebauungsstrukturen der 1960er/1970er Jahre, sondern fördern auch ein Verständnis für die Andersartigkeit von Großwohnkomplexen sowie die damit in Verbindung stehende Abgrenzung zu verwandten, städtebaulichen Strukturen. Auch in skandinavischen Ländern wurden Projekte höherer Wohndichte mit fußläufiger Erschließung und in vorfabrizierter Bauweise getestet. (Vgl. z. B. West Orminge, nahe Stockholm)41 Entscheidend ist jedoch die Erkenntnis, dass in den skandinavischen Ländern vermehrt niedrigere Gebäudestrukturen geschaffen wurden und natürliche Materialien oder Beton mit einer klaren Holzschalungsmaserung eingesetzt wurden. Eine Nutzungsmischung wurde auch in diesen Wohngebieten eingeplant, jedoch zumeist in horizontaler statt vertikaler Schichtung ausgeführt. Die Ähnlichkeit zu Großwohnkomplexen ist eher gering. Terrassenhaussiedlung, Halen (Schweiz 1961) Ein besonders früh realisiertes Projekt (Fertigstellung bereits 1961), das durch seine geringe Größe und mittleren Verdichtungsgrad zwischen architektonischem Solitär und stadtplanerischem Ensemble schwebt, ist die Terrassenhaussiedlung in Halen bei Bern. Grundlage des Konzeptes war es Gemeinschaftlichkeit und ungestörte Privatheit möglichst eng baulich miteinander zu verknüpfen. Die Siedlung wurde in Hanglage terrassiert errichtet und beinhaltet neben einer Tiefgarage mit eigener Tankstelle ebenfalls ein gemeinschaftlich nutzbares Schwimmbad. Durch die Terrassenstruktur ist jeder Wohnung ein Garten als Dachterrasse vorgelagert.42 Die Erschließung erfolgt über den autofreien Wohnhof, angrenzend befinden sich die öffentlichen Bereiche wie Läden und ein Restaurant.

41 Vgl. Curman, Jöran/Gillberg, Ulf: A prefabricated low–rise Housing Estate. Stockholm 1969.

42 Vgl. Junck, Robert: Terrassenturm und Sonnenhügel. Düsseldorf 1970, S. 25.

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Abb. 64: Terrassenhaussiedlung, Halen/Park Hill Sheffield

Quelle: Banham, Reyner: Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik? Stuttgart 1966, S. 171, Joedicke, Jürgen: Moderne Architektur. Stuttgart 1969, S. 118

Park Hill Sheffield (Großbritannien 1961) Das Quartier Park Hill in Sheffield wurde im Jahr 1953 als Sanierung eines bestehenden, innerstädtischen Quartiers initiiert. Geplant wurden mäandernde Wohngebäude, die je nach Topographie zwischen 4 und 14 Geschossen erreichen, wobei die Geschosse gleichbeliebend auf einer Höhe verlaufen. Grundgedanke der Planungen waren die von den Architekten Ivor Smith und Jack Lynn entworfenen „Streets in the Air“ (vgl. auch Alison und Peter Smithson: Golden Lane Housing Competition 1951/52) die nicht nur zur Erschließung der Wohnungen dienen, sondern nachbarschaftliches, halböffentliches Leben fördern sollten.43 Die Straßen, angeordnet auf jeder dritten Etage, wurden nach vorhandenen Straßen benannt und mit einer Breite von 3,50 Metern so ausgebildet, dass eine Aneignung stattfinden sollte. Diese „Wege“ erstrecken sich über die gesamte Länge der Gebäude und springen dabei von einer Gebäudeseite auf die andere um „Straßenecken“ wie in gewachsenen Stadtgefügen zu erreichen und die Erschließung mit Treppen und Aufzügen an die Wohnwege anzuschließen. Das Quartier besteht aus 995 Wohnungen als Geschosswohnungstypen und Maisonetten sowie vier „Pubs“, Einkaufsmöglichkeiten und ein Gemeindezentrum.44 Fertiggestellt wurde das Projekt im Jahr 1961 und 1998 unter Denkmalschutz gestellt. In den letzten Jahren wurden umfangreiche Sanierungsmaßnahmen durchgeführt.

43 Vgl. dies und das Folgende: Gold, John R.: The Practice of Modernism. Modern architects and urban transformation 1954–1972. Abingdon 2007, S. 215 ff.

44 Vgl. dies und das Folgende: Harwood, Elain: England. A guide to post-war listed buildings. London 2000, S. 1.26.

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Abb. 65: Hamburg Steilshoop, im Bau

Quelle: Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900. Ludwigsburg/Berlin 2005, 2. Auflage Ludwigsburg/Berlin 2006, S. 341

Hamburg Steilshoop (Deutschland 1971) Das Projekt Hamburg Steilshoop wurde in den Jahren 1969–1975 in etwa acht Kilometer Entfernung zum Zentrum Hamburgs errichtet. Ziel der Planungen war eine „in sich tragfähige Einheit mit hoher Einwohnerzahl auf engem Raum und kompletter Infrastruktur.“45 Aus einem Zentrum mit einem Einkaufszentrum, Büroflächen und einem Gemeindezentrum entwickeln sich spiegelgleich jeweils zehn etwa gleichgroße Ringe aus Hochhäusern. Die Parkflächen wurden jeweils am offenen, nordwestlichen Rand der Ringbebauung realisiert. An den Rändern dieser Großstruktur wurden Reihen- und Einfamilienhäuser realisiert. Ein Altenwohnheim komplettiert das neue Quartier. Die Erschließung des Gebietes erfolgt durch eine übergeordnete „Sammelstraße“ im Süden der Bebauung und fußläufige Durchwegung zwischen den Wohnringen.46 Die sich innerhalb der Wohnringe bildenden Innenhöfe wurden als Grünräume für die Bewohner von Steilshoop gestaltet und jedem Gebäudering wurden zusätzlich Gemeinschaftseinrichtungen zugeordnet.

45 Vgl. Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Hamburg-Steilshoop.15 Jahre Erfahrung mit einer Großsiedlung. Bonn 1985, S. 9.

46 Vgl. dies und das Folgende: Ebd., S. 24.

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Abb. 66: Toulouse Le Mirail, Luftaufnahme/Wegenetz der Fußgänger

Quelle: Lucan, Jacques: Architecture en France (1940–2000). Paris 2001, S. 173/ Besset, Maurice: Neue französische Architektur. Stuttgart 1967, S. 228

Le Mirail, Toulouse (Frankreich 1972) Die Stadterweiterung von Toulouse „Le Mirail“ stellt ein französisches Beispiel strukturalistischer Stadtbaukonzepte dar. Geplant und realisiert wurde das Projekt von Georges Candillis, Shadrach Woods und Alexis Josic, alle Mitglieder des Team Ten. In der Publikation „structurel structural“ wird das Projekt als formgebend für die Konzepte der gefassten, fußläufig erschlossenen Wege unter strukturalistischen Aspekten genannt: In diesem Projekten versuchten die Architekten „…das Prinzip natürlichen Stadtwachstums an vorgegebenen Linien mit dem Ordnungsprinzip der traditionellen Straße zu kombinieren. Hierdurch kam es zu einer Neuinterpretation des tradierten Straßenraums. Auf Basis eines sechseckigen Rasters wurden polygonale Wachstumslinien konzipiert, an die sich Gebäude, Fußwege, Versorgungs- und öffentliche Infrastruktureinrichtungen anlagern sollten.“47 Diese Fußgängerpassage bildet das verbindende Element aller Funktionen im neuen Stadtteil und wird in Teilen zu einem Bestandteil der Bebauung, wenn sie, zwei Stockwerke oberhalb der Erdgeschossebene, das Shoppingcenter und Gemeinschaftsanlagen erschließt.48 Der ruhende und der Erschließungsverkehr befinden sich auf Erdgeschossniveau. „Das Ziel der linearen Konzentration der urbanen Tätigkeiten ist es, der Straße den Wert zurückzugeben, der ihr in ihrer ursprünglichen Funktion im städtischen Leben zukommt. 47 Hecker, Michael: structurel I structural. Dissertation. Stuttgart 2007, S. 93. 48 Vgl. Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hrsg.): Team Ten in search of a Utopia of the present. Rotterdam 2005, S. 166.

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Die Zentrums-Straße, Reich des Fußgängers, der hier von der Versklavung durch das Auto befreit ist, passt sich dem Geist unserer Zeit nach Veränderung, Beweglichkeit und Wachstum an.“49 Trotz des in den Projektbeschreibungen thematisierten Ziels der Verdichtung entlang der „Zentrums-Straße“ und weniger verdichteten Randzonen unterscheidet sich die Bebauungsstruktur in vielen Bereichen deutlich von Großwohnkomplexen und auch die Weitläufigkeit des Gebietes stellt Unterschiede zu Großwohnkomplexen dar. Die oberhalb der Erdgeschossebene angeordnete Fußgängerstraße, der entscheidende Entwurfsbaustein des Projektes, wurde jedoch nur in kleinen Teilbereichen ausgeführt. Gleichzeitig bilden insbesondere die mehrgeschossigen Wohnhochhäuser mit monotonen Fassadenstrukturen durch ihre großen Abstandflächen nur in geringen Teilen urbane städtische Orte aus. Die Unterschiedlichkeit der realisierten Wohngebäude von Scheibenhochhäusern über niedrigere Bebauung von zwei bis vier Geschossen und Einfamilienhäusern als Teppichsiedlungen und die Ausbildung von gemeinschaftlich genutzten Flächen und Gebäude bildet jedoch den Versuch einer Durchmischung und Vielfältigkeit ab. Chorweiler, Köln (Deutschland 1972) Die „Neue Stadt Köln Chorweiler“ wurde seit 1957 als ein Stadtteil und als Erweiterung der Stadt Köln geplant. Baubeginn war 1960, das Zentrum der neuen Stadt wurde Anfang der 1970er Jahre fertig gestellt. Grundlage der Planungen war eine durchmischte, autarke Stadt, die gleichzeitig als ein Stadtteil der Stadt Köln mit etwa 100.000 Einwohnern verstanden wurde.50 Das Gesamtbauprojekt wurde in mehrere Bauabschnitte unterteilt, deren Funktionen zwar in der Gesamtplanung bereits gegliedert waren, jedoch in ihrer jeweiligen spezifischen Ausformulierung schrittweise entwickelt wurden. Ziel war es eine heterogene Bebauungsstruktur durch unterschiedliche zeitspezifische Einflüsse zu erhalten. „Es dürfte zweifellos der Lebendigkeit, der Vielgestaltigkeit und dem Erlebnisreichtum in dem Gesamtbereich zugutekommen, wenn der Zeitgeist an den jeweiligen Bauabschnitten ablesbar ist.“51

49 Joedicke, Jürgen (Hrsg.): Toulouse le Mirail. Geburt einer neuen Stadt. Stuttgart 1975, S. 19.

50 Vgl. Ludmann, Harald/Riedel, Joachim: Neue Stadt Köln-Chorweiler. Stuttgart/Bern 1967, S. 8.

51 Ebd., S. 8.

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Abb. 67: Chorweiler, Modellfoto

Quelle: Ludmann, Harald/Riedel, Joachim: Neue Stadt Köln-Chorweiler. Stuttgart/Bern 1967, S. 83

Die neue Stadt entstand demnach aus Einzelbauaufgaben bzw. in Bauabschnitten, wobei das Hauptzentrum und das angrenzende Wohngebiet Chorweiler als städtebaulich verdichtet und damit für die vorliegende Arbeit am relevantesten angesehen werden kann. Weitere Stadtteile die sich um das Zentrum anordnen sind eher von Einfamilienhäusern unterschiedlichster Typen geprägt; heterogene Strukturen entstanden durch vereinzelte Mehrfamilienhäuser und Wohnhochhäuser.52 Hier wurde der ruhende Verkehr überirdisch realisiert, nur vereinzelt wurden Tiefgaragen einzelnen Mietshäusern zugeordnet. Im Gegensatz zu den umliegenden Wohngebieten wurde das Hauptzentrum mit dem Ziel eines hohen Anteils an Mischnutzung geplant. Es entstanden Fußgängerzonen mit unterirdischen Parkmöglichkeiten und Parkhäusern und damit ein höherer Grad an Verdichtung im Kerngebiet. Auch hier wurde Variation in der Gestaltung durch unterschiedliche Träger und Architekten gesucht. Wohnungen, Büros und Ladenflächen für den Einzelhandel sowie Kleingewerbe wurden hier genauso realisiert wie Kaufhäuser, ein Kino und ein Schwimmbad.53 In den Wohngebieten in unmittelbarer Nähe zum Zentrum entstanden Mehrfamilienhäuser in mäandernder Bauweise sowie Terrassenhausstrukturen.54 Zwei Grünräume ziehen sich in das Gebiet. An diesen Grünbereichen, die von den Wohnhochhäusern „eingerahmt“ wurden, sind Flachbaugebiete und Einfamili52 Vgl. ebd., S. 52ff. 53 Vgl. ebd., S. 84. 54 Vgl. dies und das Folgende: Ebd., S. 98ff.

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enhausgebiete ausgewiesen und realisiert worden. Von dort steigen die räumliche Dichte und die Wohndichte kontinuierlich zum Zentrum an. Im Zusammenhang mit den Planungen des Zentrums wurden theoretische Überlegungen zu dem „Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit“ angestellt. Grundlage, wie in vielen Projekterläuterungen dieser Zeit, war auch in den Planungen für die neue Stadt Köln Chorweiler, dass es: „[...] keine Ausschließlichkeiten [gibt, K.B.], sondern nur ein „sowohl als auch“, Privatheit und Öffentlichkeit, Stube und Straße, geschlossen und offen, Stadt und Landschaft. Sich zwischen diesen Polen einzurichten ist die raumordnerische Aufgabe.“55 Die Wohngebäude bilden, als Analogie zum Wohnraum der Geborgenheit und Ausblick gleichzeitig eröffnet, geschützte Stadt-Räume. Ziel sollte eine kompakte Stadt sein: „[…] ein „Ausufern“ sowie Kleinteiligkeit sollten vermieden werden.“56 Zeitgleich äußerten die Autoren Kritik an den ausschließlich verdichteten Großwohnsiedlungen ohne Raumstrukturen. Denn Licht und Hygiene zu leisten reiche nicht aus, wenn man den Bedarf nach Anlehnung und Geborgenheit gleichzeitig negiert.57

55 Ebd., S. 45. 56 Ebd., S. 45. 57 Vgl. ebd., S. 46.

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Abb. 68: Bijlmer, Luftaufnahm/Heidelberg Emmertsgrund

Quelle: Groenendijk, Paul/Vollaard, Piet: Guide to modern architecture in the Netherlands. Rotterdam 1987, 3. Auflage Rotterdam 1998, S. 198/Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.): Versuchs- und Vergleichsbauten und Demonstrativmaßnahmen. Heidelberg Emmertsgrund. Planung unter sozialen Aspekten. Bonn – Bad Godesberg 1976, S. 59

Bijlmer, Amsterdam (Niederlande 1973) Das Wohnquartier Bijlmer bei Amsterdam ist ein großmaßstäbliches städtebauliches Projekt, das zu Beginn der 1970er Jahre realisiert wurde. Mehrere, gleichartige, wabenförmig angeordnete Gebäudezeilen umschließen halböffentliche Grünzonen. Die inneren Bereiche sind ausschließlich fußläufig erreichbar. Großflächige, teilweise mehrgeschossige Parkplätze sind im Außenbereich des Quartiers angeordnet und eine Metrostrecke durchquert auf einer erhöht liegenden Trasse den Grünraum. Heidelberg Emmertsgrund (Deutschland 1975) Ende der 1960er Jahre entstand im Rahmen eines Demonstrativbauvorhabens an einem Hanggrundstück süd-östlich von Heidelberg der Stadtteil HeidelbergEmmertsgrund. Ziel der Planungen war es eine möglichst autarke „Stadt“ zu realisieren. Neben Wohngebäuden in Form von Geschosswohnungsbauten, Einfamilienhäusern oder Appartements wurden Gemeinschaftseinrichtungen, Kindergärten und ein Altenwohnheim geplant. Eine Fußgängerplattform erlaubt eine fußläufige Erschließung des Stadtteils entlang einer Hauptachse an der sich sowohl das Zentrum als auch weitere Ladenzeilen angliedern. Die Erschließung des Fahrverkehrs verläuft unabhängig von den Fußgängerzonen ebenfalls entlang der Nord-Süd Achse des Gebiets.

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Abb. 69: Märkisches Viertel

Quelle. Feireiss, Kristin/Commerell, Hans-Jürgen: Das Märkische Viertel. Idee – Wirklichkeit – Vision. Berlin 2004, S. 5

Märkisches Viertel, Berlin (Deutschland 1974) Das Märkische Viertel in Berlin ist in Deutschland eines der bekanntesten Großprojekte im Wohnungsbau der 1950er–1970er Jahre. Die Planungen begannen in den frühen 1960er Jahren. Das Konzept sah eine Trabantenstadt für etwa 140.000 Bewohner ca. zehn Kilometer nördlich des Berliner Stadtzentrums vor. Die Verwirklichung einer städtebaulichen „Vision“ von „demokratischer Architektur“ für die durchschnittliche Berliner Bevölkerung war das hoch gesteckte Ziel der Planer und Beteiligten. Eine durchmischte Bewohnerschaft sollte in gleichartigen, in den Höhen gestaffelten „Ketten vertikaler Hauselemente“ wohnen.58 „Städtebaulich genial, sozial ausgewogen und demokratisch – das Märkische Viertel schien perfekt.“59 Städtebaulich ist das Märkische Viertel durch Wohnhochhäuser in mäandernden, lang gezogenen Formen geprägt, die in drei städtebaulichen Großformen vorhandene Einfamilienhausgebiete umschließen.60 Unterschiedliche Farbkonzepte sollten die Baukörper gliedern oder sie durch die Farbgebung der Landschaft anpassen. Ein Grünzug sowie weite Flächen mit niedriger Bebauung, Parkplätzen und Erschließungsstraßen, Abstandsgrün und gestalteten Erholungsräumen mit Seen und Sportplätzen umgeben die Hochhäuser. Ein Zentrum mit Ladenzeile vervollständigt das Quartier. In den 1970er Jahren vermehrte sich 58 Vgl. Bodenschatz, Harald: Kultobjekt Märkisches Viertel. In: Jacob, Brigitte/Schäche, Wolfgang (Hrsg.): 40 Jahre Märkisches Viertel. Berlin 2004, S. 18f.

59 Ebd., S. 19. 60 Vgl. dies und das Folgende: Feireiss, Kristin/Commerell, Hans-Jürgen (Hrsg.):Das Märkische Viertel. Idee-Wirklichkeit-Vision. Berlin 2004, S. 6/12.

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eine Kritik an unzureichenden sozialen Infrastruktureinrichtungen wie Kindertagesstätten und -gärten, Schulen und Freizeiteinrichtungen. Gleichzeitig wurde die schlechte Verkehrsanbindung ebenso kritisiert wie die mangelnden Arbeitsplatzangebote im Quartier. Diese Kritik führte seit den 1980er Jahren zu baulichen Mängelbeseitigungen an den Gebäuden, Verbesserungen der Infrastruktureinrichtungen und einer Wohnumfeldverbesserung. Dabei ist im städtebaulichen Zusammenhang der vorliegenden Arbeit insbesondere die Wohnumfeldverbesserung interessant, da Tendenzen einer stärkeren Verdichtung, Zonierung und das Ausweisen multifunktionaler, jedoch nutzungs- und aneignungsorientierter Räume ablesbar sind. Insbesondere die nutzungsorientierten Freianlagen wie Mietergärten oder kleinteilige Parks, die Platzierung von Kunstwerken und die Schaffung städtischer Plätze sowie die Betonung der Hauseingänge und die Realisierung von Tiefgaragenstellplätzen standen dabei im Vordergrund.61 Das Märkische Viertel ist ein Beispiel der ersten Ansätze des verdichteten Bauens wobei das Leitbild der „Urbanität durch Dichte“ in einer Erhöhung der Geschosszahlen umgesetzt wurde. Die dadurch notwendig werdenden Abstandsflächen ließen jedoch, insbesondere in den Jahren vor der Verbesserung der öffentlichen Räume kaum Aneignung und Nutzungen zu, die für viele Großwohnkomplexe prägend sind. Alexander Road Estate, London (Großbritannien 1978) Das „Alexandra Road Estate“ in London, etwa acht Kilometer vom Stadtzentrum entfernt stellt ein weiteres Beispiel dichter, autofreier Wohnsiedlung im Stadtgebiet dar und bietet Wohnraum für etwa 1.600 Bewohner.62 Entlang einer Eisenbahntrasse erstreckt sich das Gebiet auf etwa 500 Metern Länge. Die Planungen begannen in den 1960er Jahren, zur Ausführung kam das Projekt 1972–1978.

61 Vgl. Hotze, Benedikt: Wohnumfeldverbesserung von den 80er Jahren bis heute. In: Jacob, Brigitte/Schäche, Wolfgang (Hrsg.): 40 Jahre Märkisches Viertel. Berlin 2004, S. 63ff.

62 Vgl. dies und das Folgende: Cherry, Bridget/Pevsner, Nikolaus: The buildings of England. London 4: North. New Haven/London 2002, S. 247f.

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Abb. 70: Alexander Road Estate, Haupterschließung/Fassadenausschnitt

Quelle: Privatarchiv

Dem Verlauf der Eisenbahntrasse folgend wurde ein einseitiger, terrassenförmig abgetreppter Gebäudestrang entwickelt, der in Verbindung mit dem gegenüberliegenden, ebenfalls terrassierten Riegel einen schmalen Fußgängerweg ausbildet von welchem die Wohnungen erschlossen werden. „These two rows follow a gentle curve, and, looking west, down this V-shaped valley of concrete, the similarity to the Brunswick center is quite apparent.“63 Die Terrassenstruktur ermöglicht eine gute Belichtung der tiefen Wohnungen. Rückwärtig des zweiten Gebäuderiegels erstreckt sich eine weitläufige Grünzone mit Kinderspielplätzen und Erholungsräumen für die Bewohner, die im Westen wiederrum von einem weiteren Riegel in Geschossbauweise geschlossen wird. Angrenzend an die Grünzonen befinden sich öffentliche Einrichtungen für das Quartier.

63 Clement, Alexander: Brutalism. Post-war British Architecture. Ramsbury 2011, S. 138.

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Abb. 71: Achsiedlung, Bregenz Innenhof/Lageplan

Quelle: Strauß, Stephan: Eckhard Schulze-Fielitz und die Raumstadt. Dissertation. Dortmund 2005, S. 244/Karl Krämer Verlag (Hrsg.): Eckhard Schulze-Fielitz Stadtsysteme II. Stuttgart 1973, S. 58

Achsiedlung, Bregenz (Österreich 1978) Die Möglichkeit zur Umsetzung ihres Raumstadtkonzeptes erhielten die Architekten Schulze-Fielitz mit der Achsiedlung in Bregenz (1971–1978). Ein strenges Raster aus „Hausbausteinen“, die jeweils bis zu acht Wohnungen pro Etage um einen Erschließungskern gruppieren, schafften öffentliche Räume für Fußgänger und Aufenthaltsmöglichkeiten zwischen den Gebäuden. „Die fußläufige Verbindung zwischen den einzelnen Innenhöfen in der Siedlung an der Ach erfolgte über Durchgänge, die zwei Geschosse hoch eingeschnitten sind und in den Innenecken der Höfe ansetzen. Einzelne „Hausbausteine“ sind weggelassen, um im Gefüge größerer Plätze – etwa für einen Kinderspielplatz – oder zur Umgebung öffnende Höfe zu bilden.“64 Der öffentliche Raum spielte dementsprechend in der Konzeption dieser Siedlung ebenfalls eine übergeordnete Rolle. Die Siedlung spiegelt die Raumstadtkonzeption von Schulze-Fielitz wider: Während das dreidimensionale Raumtragwerk in dessen Rastersystem Wohnungsmodule eingesetzt werden sollten nicht zur Anwendung kam, wurde doch die verdichtete und fußläufig erschließbare Wohnanlage den Verkehrstheorien des „Raumstadtkonzepts“ gerecht. Außerdem zeigt der Lageplan differenzierte öffentliche Räume, die durch kurzweilige und verästelte Verbindungswege erschlossen sind und individuelle Qualitäten aufweisen können. Dies geht einher mit der Raumstadtkonzeption der „[...] psychologischen Orientierung [...] durch Varietät von Formen, Farben, Räumen, Situationen, „Merkzeichen“.“65 64 Strauß, Stephan: Eckhard Schulze-Fielitz und die Raumstadt. Dissertation. Dortmund 2005, S. 244.

65 Karl Krämer Verlag (Hrsg.): Eckhard Schulze-Fielitz Stadtsysteme II. Stuttgart 1973, S. 29.

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Abb. 72: Am Schöpfwerk, Wien

Quelle: Hufnagel, Viktor: Grosswohnhausanlage „Am Schöpfwerk, Wien 12. In: Transparent 1/2 1981, S. 5

Am Schöpfwerk, Wien (Österreich 1980) Das Wohnbauprojekt am Schöpfwerk in Wien, auch Großwohnhausanlage genannt, wurde 1975–1980 auf einem 17,7 Hektar großem Grundstück am Stadtrand Wiens als „Versuchswohnbau“ bzw. „als typologisches Experiment“ realisiert. In der letzten Ausbaustufe besitzt die Wohnanlage heute 1.252 Sozialwohnungen. Bauherr war die Stadt Wien. Ziel war eine hohe funktionale Mischung durch gemeinschafts- und soziale Einrichtungen für die Bewohner wie Einkaufsmöglichkeiten, Kindergärten, Arztpraxen sowie Gastronomie. Ziel war es, mit der Bebauung auf die Umgebung zu reagieren, eine „[…] Einordnung in die umliegende, bestehende Zeilen- und Hofbebauung …“66 zu schaffen und die Wohnungen zur optimalen natürlichen Belichtung gen Süden und Westen auszurichten. Städtebaulich wurde eine „konzentrierte und kompakte“ Bebauung angestrebt und die Siedlung als „[…] differenzierte, vielräumige und vielgestaltige, jedoch als ganzheitliche Gesamtform konzipiert. Als baulicher Akzent, als Merkmal der Orientierung, wird das Hochhaus als Eingangspforte bei der UBahnstation situiert.“67 Die unterschiedlichen Gebäudetypologien von oktogonalen Hofhäusern über Terrassenbauten und Wohnhochhäusern bilden einen abgeschlossen Innenhof für die Bewohner aus. Ein weiterer Ansatz war es, die innenliegenden gemeinschaftlich genutzten Flächen aktiv als Raumabfolge zu gestalten, deren Maßstäbe sich an den Höhen der umgebenden Bebauung und an der 66 Hufnagel, Victor: Grosswohnhausanlage „Am Schöpfwerk“, Wien 12. In: Transparent, 1/2 1981, S. 15.

67 Ebd., S. 15.

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gewünschten Nutzung orientiert. Stichworte wie Begegnungs- und Schwellenbereiche wurden durch „[…] eine bewusste horizontale und vertikale Wegführung über Arkaden, Passagen, Stiegenhallen mit Galerien […]“68 gestalterisch umgesetzt. „Die gesamte Anlage wird so ein einziges großes, zusammengebautes, differenziertes Wohnhaus, wobei in der EG-Zone alle Funktionen eines öffentlichen bzw. Gemeinschaftsbereiches erfüllt werden.“69 Auch in diesem Projekt wurden unterschiedlichste Wohnungstypen geplant, um eine heterogene Bewohnerstruktur zu errichten. Die Fahrzeuge werden in Tiefgaragen und Parkpaletten abgestellt. Ein kritischer Artikel über die Siedlung wurde 1998 in der Zeitschrift „Architektur aktuell“ veröffentlicht. Darin wurden bauliche Mängel, ein starkes Sozialgefälle zwischen den Bewohnern des Nord- und Südrings sowie daraus resultierende Abgrenzungserscheinungen, mangelnde Barrierefreiheit, sowie die Sozialstruktur im Allgemeinen (Sozialhilfeempfänger/Altersstruktur) als negativ thematisiert.70 Wohnpark Alt Erlaa, Wien (Österreich, 1978/1985) Der Wohnpark Alt Erlaa wurde in den Jahren 1973–1978 bzw. von 1981–1985 von dem Architekten Harry Glück auf einem 21 Hektar großen Baugrundstück erbaut. Bauherr war die gemeinnützige Siedlungs- und Bauaktiengesellschaft, GISBA, Wien. Der Wohnpark für etwa 10.000 Menschen in 3200 Wohnungen71 besteht aus drei etwa 400 Meter langen und 65 bis 75 Meter hohen Wohnscheiben (22–26 Geschosse), die auf den ersten 13 Geschossen als Terrassengebäude ausgebildet und deren obere Geschosse in Geschossbauweise mit vorgelagerten Loggien errichtet wurden. 35 Wohnungstypen, vom normalen Geschossbau über Maisonettewohnungen bis zu „so genannten Saalwohnungen“ führen zu heterogenen Bevölkerungsstrukturen. 72 Grundgedanke dieser Siedlung, etwa zehn Kilometer süd-westlich vom Stadtzentrum Wiens entfernt, war alle Einrichtungen des täglichen Bedarfs in unmittelbarer Nähe der Wohnung zu realisieren. Ärzte, ein Verwaltungs- und ein Einkaufszentrum befinden sich in einem flacheren Gebäudekomplex im Osten des Gebietes. Gleichzeitig entwickelten die Planer neben großzügigen privaten Terrassen mit Pflanztrögen auf den ersten 13 Geschossen der Gebäude weitläu68 69 70 71 72

Ebd., S. 15. Ebd., S. 15. Vgl. Wögerer, Uli: Architektur menschlich? In: Architektur aktuell 98 1998, S. 53. Vgl. Seiß, Reinhard: Wohnsatellitenglück. In: DBZ Heft 11 2006, S.18. Vgl. N.N.: … in die Jahre gekommen. In: db10 2001, S. 107.

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Abb. 73: Wohnpark Alt Erlaa, Wien Luftbild/Lageplan und Schnitt

Quelle: Seiß, Reinhard: Schaurig, aber gut. Wohnpark Alt Erlaa in Wien 1973– 1985. In: Baumeister 6 2011, S. 72, 75, 78

fige, autofreie und parkähnlich gestaltete Außenräume auf Erdgeschossniveau, die die etwa 180 Meter auseinanderstehenden Wohnscheiben verbinden und mit sozialen Einrichtungen wie Kindergärten, einer Kirche oder Sportmöglichkeiten zusätzlich genutzt werden. Neben diesem Wunsch, „[…] möglichst vielen Großstädtern Ersatz für einen eigenen Garten zu bieten […]“73, verwirklichte der Architekt in dieser Siedlung seine „zweite Wohnbau-Maxime“: Im „Bauch“ der Terrassenhausstrukturen befinden sich Gemeinschaftseinrichtungen, Sporthallen und Hallenbäder, Saunen, Solarien, Kinderspielplätze und Hobbyräume sowie acht Schwimmbecken auf dem Dach der Gebäude zur gemeinschaftlichen Nutzung. Gestalterisch werden die Wohnscheiben jeweils durch acht unterschiedlich hohe Wohntürme mit vertikalen Erschließungselementen gegliedert, und in Teilen durch Flachbauten unterbrochen.74 Parkplätze für Bewohner und Besucher befinden sich jeweils auf zwei Sockelgeschossen der Wohnhochhäuser. Dass die Siedlung noch heute eine hohe Bewohnerzufriedenheit erfährt wurde erst 2001 durch eine Studie zur Wohnzufriedenheit der Bewohner Wiens bestätigt. 75

73 Seiß, Reinhard: Wohnsatellitenglück. In: DBZ Heft 11 2006, S.18. 74 Vgl. N.N.: … in die Jahre gekommen. In: db10 2001, S. 108. 75 Vgl. ebd., S. 108.

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(S TADT -)Z ENTREN Als Reaktion auf die Kritik an den städtebaulichen Planungsgrundsätzen der „Moderne“ und geprägt von der Entwicklung verdichteter Stadtzentren im Rahmen der Planung britischer „New Towns“ entstanden auch in anderen europäischen Städten verdichtete Zentren. Diese Zentren wurden sowohl als kulturelle und wirtschaftliche Mittelpunkte bestehender Städte oder neuer Siedlungen als auch als monofunktionale Bürostandorte zur Entlastung der Innenstädte geplant. Sie weisen durch ihren hohen Grad an Verdichtung sowie die Trennung der Verkehrswege Parallelen zu Großwohnkomplexen auf, unterscheiden sich jedoch gleichzeitig deutlich durch ihre häufig monofunktionalen Nutzungen oder durch einheitliche Gebäudestrukturen. Nordweststadt, Frankfurt (Deutschland 1968) Die Frankfurter Nordweststadt entstand seit 1961 als Stadterweiterung der wachsenden Stadt Frankfurt. Das 150 Hektar große Baugebiet wurde in ein Kulturund Geschäftszentrum im Süd-Osten des Gebietes und drei Wohngebiete mit Nebenzentren aufgeteilt. Während die Nebenzentren den täglichen Bedarf der Anwohner decken sollten, hatte das Nordwestzentrum zum Ziel auch über die Stadtteilgrenzen der Nordweststadt hinaus Besucher anzuziehen. Die Verkehrserschließung der Wohngebiete erfolgt ebenerdig, der ruhende Verkehr befindet sich in Tiefgaragen. Auch das Zentrum wurde vollflächig mit einer Tiefgarage ausgestattet. Die fußläufige Verbindung des Zentrums mit den Wohngebieten erfolgt über ein separates Wegenetz, das die Hauptstraßen durch Fußgängerbrücken überwindet. In den Ausschreibungsunterlagen zum Wettbewerb für das Wohngebiet wurde eine dreidimensionale Gestaltung gefordert und damit der „Raum“ als konzeptioneller Baustein in die Planung mit einbezogen. Walter Schwangenscheidt entwickelte ein System aus Hausgruppen von 5 bis 175 Wohnungen unterschiedlichster Dichte und Bebauungsstruktur. Die Gebäude wurden orthogonal zueinander ausgerichtet und „[…] mit den Baukörpern Außenräume gebildet – das müssen nicht einzelne, von vier Wänden umgebende Räume sein, sondern auch ineinandergreifende große und kleine Räume [...] die alle eine lose Verbindung zur Straße haben.“76 Schulen und Kirchen entstanden an zwei zentralen Stellen im Stadtteil. In der Realisierung bekam Walter Schwangenscheidt damit die Möglichkeit sein in den frühen 1920er Jahren entwickeltes Raumstadtkonzept zu verwirklichen. In der Tradition der Ideen von Hans Bernhard Reichow, Ebenezer 76 Schwangenscheidt, Walter: Die Nordweststadt. Stuttgart 1964, S. 33.

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Howard und Frank Lloyd Wright77 entwarf Walter Schwangenscheidt 1918 bis 1923 ein Stadtsystem, dessen Raumgliederung im Großteil von der Natur geschaffen wird. Walter Schwangenscheid sah Blockstrukturen vor, die sich orthogonal an eine Achse angliederten und in Verbindung mit der Natur gleichzeitig (Block-) Innenräume und Straßenräume bilden.78 Wohnen „… wird zu umfassenden Ausdruck einer neuen fundamentalen Sinngebung: Das in Natur, Tradition und (Familien-) Gemeinschaft eingebettete „Wohnen“ wird zum Synonym von Heimat, Identität und (sozialer) Harmonie schlechthin.“79 In der Realisierung dieses städtebaulichen Konzepts in der Frankfurter Nordweststadt, wobei Straßen und Wohnen klar voneinander getrennt wurden, entwickelten sich die parkähnlich gestaltenden Grünflächen zwischen den Wohnclustern jedoch zu funktionslosen Zwischenräumen. „Eine Binnenzirkulation, die sich im Wesentlichen auf 30 Kilometer parkähnlicher Spazierwege reduzierte, bedeutete visuelle Reizarmut, räumliche Kontrastlosigkeit und Eindimensionalität. Damit einher ging nicht nur der Verlust einer wahrnehmungspschychologischen Dimension und urbaner Komplexität, sondern mit zunehmender Begrünung auch der eines Gefühls von Sicherheit und „sozialer Kontrolle“.“80 Die gewünschte und in den Hausgruppen realisierte dreidimensionale Gestaltung konnte in der Umsetzung nicht die skizzierte und erhoffte hohe Nutzungsdichte erzeugen. Neben dem Konzept der Raumstadt und den in der Nordweststadt realisierten Nachbarschaften in Form von Hausgruppen, ist im Zusammenhang mit dem Studium der Entstehung von Großwohnkomplexen insbesondere das Zentrum der Nordweststadt hervorzuheben. Die Konzeption des Zentrums sah vor, dieses „[...] als „Geschäftskernstadt“, Kulturoase und neue „Stadtteilsmitte“, Verkehrsknotenpunkt und urbanes „Reich des Fußgängers“, in dem all jene Funktionen und Erlebnisbereiche zu einem städtischen Extrakt, einer inselartigen Stadtkrone destilliert wurden, die der Wohnstadt programmatisch entzogen waren“81 herauszuarbeiten. Das Zentrum wurde multifunktional geplant, Restaurants, Kinos, Läden und Büroflächen sowie eine Verkehrsanbindung durch Pkws und öffentliche Verkehrsmittel wurden funktional geschichtet. Bereits der Ausschreibungstext zu diesem Wettbewerb, der losgelöst vom Wohnquartier ausgelobt wurde, forderte diese Multifunktionalität und weist strukturalistische Gedanken auf. 77 Vgl. Verlandschaftlichung des Städtebaus und naturalistische Entwurfsprinzipen im Kapitel „1920er Jahre: Der Beginn des modernen Städtebaus“.

78 79 80 81

Vgl. Gleiniger, Andrea: Die Frankfurter Nordweststadt. Frankfurt/Main 1995, S. 28f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 132. Ebd., S. 128.

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Abb. 74: Zentrum der Nordweststadt

Quelle: Gleiniger, Andrea: Die Frankfurter Nordweststadt. Frankfurt/Main 1995, S. 203, 213

Eine raumbildende Gesamtstruktur, dessen Einzelteile in den Hintergrund treten sollten, und „[…] die Beschwörung des Raumes als ein vornehmlich soziales, gesellschaftliches Ereignis.“82 Während sich ebenfalls eine Architektengemeinschaft bestehend aus van der Broek und Bakema am Wettbewerb beteiligte und eine klare bauliche Abgrenzung des Zentrums von der aufgelockerten Bebauung des Wohnquartiers vorschlug und den Innenraum mittels dreier großformatiger Gebäudekomplexe strukturierte, wurde der Wettbewerb zu Gunsten einer offeneren Bebauungsstruktur von Apel, Becker, Beckert entschieden, die die Fußgängerebene mittels einer Vielzahl von Brücken mit dem Wohngebiet verbindet.83 Der Schnitt durch den Gebäudekomplex verdeutlich die Ähnlichkeit zu Großwohnkomplexen, einzig die Position in nicht innerstädtischen, sondern in einem neu entwickelten Stadtteil sowie die fehlende Wohnnutzung unterscheidet das Zentrum von Großwohnkomplexen gemäß der Definition vorliegender Untersuchung. Stadtzentrum Cumbernauld, bei Glasgow (Großbritannien 1972) Das Stadtzentrum von Cumbernauld, einer eigenständigen und autarken „Entlastungsstadt“ für Glasgow, kann als eines der ersten realisierten städtebaulichen

82 Ebd., S. 202. 83 Vgl. ebd., S. 206ff.

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Abb. 75: Stadtzentrum Cumbernauld

Quelle: Gold, John R.: The Practice of Modernism. Modern architects and urban transformation 1954 – 1972. Abingdon 2007, S. 159

Verdichtungskonzepte auf dem Weg zur Realisierung von Großwohnkomplexen angesehen werden.84 „[...] its commissioning, let alone designing, goes back to the very late fifties[…]. “85 Rückblickend erscheint das Zentrum als „[…]“the most complete megastructure to be built“ and the nearest thing yet to a canonical megastructure that one can actual visit or inhabit.”86 Im Zentrum der New Town Cumbernalud wurden innerhalb einer gesamtheitlichen Gebäudestruktur alle sozialen Einrichtungen und Einkaufsmöglichkeiten der Stadt zusammengefasst. Wohnungen, Kirchen und Schulen dagegen fanden in den angrenzenden Bereichen ihren Platz. Während den Planungen zu Folge der Individualverkehr in mehrgeschossigen Parkhäusern, unsichtbar für den Besucher und flächensparend integriert werden sollte, wurden in der Ausführung weiträumige Parkplätze um das Zentrum herum erstellt.87

84 Zur Geschichte und Entwicklung des Zentrums vergleiche auch „Exkurs: Die britischen New Towns und die Entwicklung zur Komplexbebauung“.

85 Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976, S. 167

86 Ebd., S. 168. 87 Vgl. ebd., S. 170.

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Abb. 76: City Nord, Hamburg

Quelle: Soggia, Sylvia: City Nord. Hamburg 2009, Umschlagseite/S. 202

City Nord, Hamburg (Deutschland 1967/1974) Abweichend von den dargestellten Beispielen neu entwickelter, verdichteter und multifunktionaler Stadtzentren plante Hamburg im Zuge des zweiten Aufbauplans von 1959 ebenfalls ein neues Zentrum, das jedoch ausschließlich der Büronutzung dienen sollte. Die „City Nord“ wurde dabei mit dem Ziel realisiert, die Innenstadt zu entlasten. Hintergrund waren die bereits thematisierte allgemeine Überlastung der Innenstadt durch den Verkehr und die Verdrängung von Wohngebieten und Einzelhandel aus der Innerstadt durch den tertiären Sektor. 88 Neben der architektonischen Gestaltung der Gebäude, die an brutalistische und vor Allem strukturalistische Gestaltungsprinzipien erinnert und Gebäudegrundrisse, die den Zeitgeist der 1960er Jahre durch Großraumbüros und hexagonale Umrisse zum Ausdruck bringen, wurde insbesondere der zweite Bauabschnitt der „City Nord“ unter dem Aspekt der Verkehrstrennung von Fußgängern und dem Pkw-Verkehr geplant. „Somit geht der Fußgänger im Westteil der „City Nord“ auf den Ebenen vier bis fünf Meter über dem Straßenniveau, sozusagen auf Niveau der ersten Etage […] der Gebäude. Entsprechend befinden sich auch die Haupteingänge zu den Bürogebäuden im ersten Obergeschoss. Verbindungswege zwischen den Häusern werden durch ein verzweigtes Brückennetz hergestellt [...].“89 Hintergrund hierbei war jedoch vielmehr die räumliche Flexibilität, da durch das erhöhte Fußgängerniveau der Verkehr auf Erdgeschossniveau ungehindert zirkulieren konnte und sich großräumige Parkflächen ergaben. 88 Vgl. Soggia, Sylvia: City Nord. Hamburg 2009, S. 31. 89 Ebd., S. 45.

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Grundkonzept war es darüber hinaus, die Grünflächen des angrenzenden Stadtparks in das Gebiet hineinzuziehen, um einen Erholungswert für die Mitarbeiter zu erreichen. Neben dem reinen Bürostandort wurde, unter anderem von Friedrich Spengelin, ein Zentrum mit öffentlichen Einrichtungen und Einzelhandel sowie mit Sondergenehmigungen Wohnungen geplant. Neben einem Hotel, Post- und Bankfilialen sollten Restaurants, Bars und kleinere, anmietbare Büroräume geschaffen werden. Die Außenraumgestaltung auf Fußgängerniveau stellte den Übergang zur grünen Parklandschaft her. Trotz dieser planerischen Bemühungen konnte das Zentrum, insbesondere durch den mangelnden Bezug zum umgebenden Stadt- und Straßenraum und der fehlenden Laufkundschaft, sowie durch Freizeitangebote, die die angesiedelten Firmen ihren Mitarbeitern intern zur Verfügung stellten, nicht belebt werden.90 Schon früh regt sich trotz der Planungen zum Ladenzentrum Kritik an der überwiegenden Monofunktionalität der Bürostadt und die Forderung nach einer Mischnutzung, auch in Verbindung mit dem Wohnbaugebiet „Steilshoop“ wurde laut. Die Durchmischung scheiterte jedoch gleichwertig an der Öffentlichkeit, die keine Wohnbebauung in einer Bürostadt akzeptierte als auch an den Investoren, die die Repräsentation ihrer Verwaltungsbauten durch Wohngebäude beeinträchtigt gesehen hätten.91 Die entstandene Monofunktionalität erinnert an die Dogmen der Moderne auch wenn die Bürostadt insbesondere im verdichteten Bereich durch ihre Kompaktheit und vor Allem durch die Architektur der Solitärbauten keine weiteren Ähnlichkeiten zur Moderne aufweist. Die Autoren der oben bereits zitierten Publikation beschreiben diese Dipolarität der „City Nord“ als eine „Vermittlung“ der Prinzipien der „Charta von Athen“ mit den Ideen des „Strukturalismus“.92 Die Bürostadt „City Nord“ weißt entsprechend einige Prinzipen auf, die auch in Großwohnkomplexen ihre Anwendung fanden. Einige Hauptmerkmale wie Multifunktionalität oder Dichte, komplexe und architektonisch-städtebaulich gestaltete Außenräume fanden jedoch keine Anwendung, sodass die Entwicklung der Bürostadt zwar in der Auflistung von Komplexbauten in diesem Zusammenhang nicht fehlen darf, jedoch gleichzeitig nicht als konkretes Beispiel von Großwohnkomplexen angesehen werden kann.

90 Vgl. Ebd., S. 209ff. 91 Vgl. Ebd., S. 61. 92 Vgl. Ebd., S. 75.

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Abb. 77: Les Oylmpiades, Paris

Quelle: Privatarchiv

Les Olympiades, Paris (Frankreich 1974) Das Stadtquartier „Les Olympiades“ im 13. Arrondissement von Paris wurde in den Jahren 1969–1974 von dem Architekten Michele Holley geplant und umgesetzt.93 Mit einer Tiefgarage auf der Ebene des Erdgeschosses, einer großzügigen Fußgängerplattform und Einkaufsmöglichkeiten sowie Büroräumen neben der hauptsächlichen Wohnnutzung des Quartiers erinnert die Gebäudestruktur stark an einen Großwohnkomplex. Abweichend von der beschrieben Definition der Großwohnkomplexe wurden im Projekt „Les Olympiades“ jedoch keine unterschiedlichen Gebäudetypologien geplant; das Quartier besteht vielmehr aus einer Vielzahl von Wohnhochhäuser, die sich um den zentralen Platz gruppieren. Der offene und weite Raum zwischen den Hochhausscheiben wurde auf der Ebene des Fußgängerniveaus durch eingeschossige, zueinander versetzt angeordnete Pavillons räumlich verdichtet. Hier entstehen Passagen und Plätze, die in Verbindung mit Cafés, Restaurants und Läden Aufenthaltsorte für die Bewohner ergeben. Die Pavillons mit pagodenähnlichen Dachformen nehmen Bezüge zum gewachsenen, umgebenden „Asiatischen Viertel“ von Paris auf. Durch die fußläufige Erschließung der Wohnungen über die zentrale Fußgängerplattform wirkt das Quartier belebt. Am südlichen Ende des Quartiers schließt eine zweite, höher gelegene Fußgängerplattform an, die weitere Wohnhochhäuser erschließt.

93 Vgl. dies und das Folgende: Texier, Simon: Paris Contemporain, Paris 2005, S. 152.

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G ROSSWOHNKOMPLEXE In der folgenden Darstellung von Großwohnkomplexen werden alle derzeit bekannten und der Definition von Großwohnkomplexen entsprechenden Projekte aufgezeigt und beschrieben. Die in den Fallbeispielen gewählten Projekte werden dabei textlich nur kurz erläutert, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden. Alle Großwohnkomplexe wurden im Rahmen der Forschungsarbeit besucht und werden im Folgenden sowohl mit den Erkenntnissen aus der Literaturrecherche als auch mit den Erkenntnissen einer kurzen „vor-Ort-Analyse“ beschrieben. Lillington Gardens, London (Großbritannien 1971) Der Wohnkomplex „Lillington Gardens“ wurde zwischen 1961 und 1971 als verdichtetes innerstädtisches Quartier mit unterschiedlichen Funktionen des öffentlichen Lebens sowie einem Altenheim geplant. Es gilt als „low rise, high density“ Struktur. Die Gebäude orientieren sich in ihrer Höhenentwicklung an der vorhandenen Bebauungsstruktur und bieten Wohnungstypen von Ein- bis Vierzimmerwohnungen. Die Flügelbauten der straßenbegleitenden Randbebauung ziehen sich in das Blockinnere und schaffen dort fließende Freiräume auf dem künstlich geschaffenen Fußgängerterrain über den Parkplätzen der Bewohner.94 Auffällig ist die Verwendung von Klinkermaterialien, die dem gesamten Quartier eine einheitliche Gestaltung verleihen und sich durch die Materialwahl von anderen Großwohnkomplexen der 1960er/1970er Jahre unterscheiden. Der Großwohnkomplex Lillington Gardens ist ein vollständig verkehrsberuhigtes Gebiet. Erschlossen werden die Wohnungen fußläufig und durch im Kellergeschoss angeordnete Tiefgaragen. Das Quartier wird durch querende Erschließungsstraßen in drei Wohnquartiere unterteilt, die jeweils durch unterschiedliche Außenraumgestaltungen einen individuellen Charakter besitzen. Während der Bereich im Süden des Quartiers durch enge Räume mit differenzierten Höhenentwicklungen geprägt ist, und die Wohnnutzung durch ein Altenheim ergänzt wird, ist der mittlere Bereich durch einen höheren Anteil an großzügigen, gestalteten Freiflächen auf unterschiedlichen Niveaus geprägt. Neben einer Kirche ist in diesem Quartiersteil ein Kindergarten eingerichtet, der die hauptsächliche Wohnnutzung durchmischt. Der Außenbereich des dritten und kleinsten Teils des Quartiers ist von einer eher linearen Erschließungsstraße und einem Kinderspielplatz geprägt. Während das gesamte Quartier hauptsächlich 94 Vgl. Deutsche Bauzeitschrift (Hrsg.): Verdichtete Wohnformen. Gütersloh 1974, S. 135ff.

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Abb. 78: Lillington Gardens, London: Lageplan/interne Erschließung

Quelle: Reuter, Tilman (Hrsg.): Wohnzentren. Projekte und Bauten. Stuttgart 1971, S. 66/Privatarchiv

aus unterschiedlich hohen (ca. fünf bis siebengeschossigen) Flachdachgebäuden besteht, sind in diesem Teil des Komplexes zwei terrassenartig abgestufte Wohngebäude angeordnet. Hier öffnet sich der in allen Bereichen bis dato privat anmutende Innenraum zu einem öffentlichen Quartiersplatz, der zweiseitig erschlossen ist. Die Terrassengebäude markieren dabei den großzügigen Eingang. Eine diesem Platz vorgelagerte öffentliche Straße ist verkehrsberuhigt ausgebildet. Läden, Gastronomie und kleinere Gewerbeeinheiten sind hier und an einigen weiteren Stellen des Komplexes, jedoch jeweils zur öffentlichen Straße ausgerichtet, in den Erdgeschossbereichen angeordnet. Auffallend ist die Gestaltung der Gebäude mit roten Klinkerfassaden. Die Einheitlichkeit dieser Fassadenstruktur lassen den gesamten Stadtteil einheitlich in Erscheinung treten und verbindet die drei durch Straßen getrennten Teilbereiche optisch. Die Klinkerfassaden ziehen sich teilweise in das Gebäude hinein und lassen die innenliegenden Erschließungsgänge der Wohnung wie Außenräume erscheinen. Diese Struktur erinnert stark an strukturalistische Gestaltungsprinzipien. Auf Grund seiner starken Verzahnung mit dem umgebenden Stadtraum durch die querenden Straßen, sowie durch die Fassadenverkleidung erscheint das Quartier „Lillington Gardens“ auf den ersten Blick kaum als Großwohnkomplex, obwohl es viele in der Definition gennannten Aspekte erfüllt. Die ebenerdige Erschließung und die vielen fußläufigen Erschließungsmöglichkeiten lassen das Quartier im Inneren zwar als eine eigene „Gestalt“ erscheinen, laden jedoch gleichzeitig Bewohner angrenzender Stadtteile zum Durchqueren ein. Auch

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kleine Parks im Inneren und die Verbindung von gewachsenen Elementen mit dem neuen Stadtteil, bilden einladenden Gesten für Besucher und Bewohner.95 Barbican Center, London (Großbritannien 1972/1982) Das „Barbican Center“ in London entspricht in vielen Bereichen der Definition von Großwohnkomplexen, zeigt jedoch gleichzeitig spezifische Eigenheiten auf, die einen direkten Vergleich mit weiteren Großwohnkomplexen erschweren. Durch die Konzentration der Wohnungen auf Wohnhochhäuser und etwas niedrigere Terrassen- bzw. Zeilenbauten wurden auf dem Areal trotz hoher Gesamtdichte weitläufige Grünzonen geschaffen, die durch ihre Gestaltung städtischen Raum bilden und in die Gebäude durch Niveauunterschiede „hineinfließen“. Fußgänger und Pkw-Verkehr sind etagenweise getrennt. “They took Venice as their model for a city where foot and service traffic is completely segregated.”96 Innerhalb des Großwohnkomplexes wurden Läden, Restaurants, eine Schule sowie ein Kulturzentrum realisiert, die im Planungsstadium, unabhängig vom Kulturzentrum, größtenteils der Eigenversorgung der Bewohner dienten. Eine Besonderheit stellt das „Barbican“ außerdem deswegen dar, weil in die Gesamtstruktur des Komplexes vorhandene Bebauung integriert wurde. Das Barbican Center wurde von der Stadt London finanziert. Obwohl die Pläne zur Bebauung des im Krieg zerstörten Viertels bis in die 1950er Jahre zurückreichen, wurde das Barbican Center erst 1982 vollständig eröffnet. Nach den Entwurfsplanungen in den 1960er Jahren wurde der Großwohnkomplex 1965–1972 realisiert. Im Anschluss folgte das Kulturzentrum mit der Eröffnung 1982. Seit 2001 steht der Gebäudekomplex unter Ensembleschutz.

95 Der Text basiert auf eigener Wahrnehmung bei einer Besichtigung des Objektes im Frühjahr 2012.

96 http://www.archinomy.com/case-studies/1152/urban-design-barbican-estate-london, 18.11.11, 12:20.

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Abb. 79: Barbican Center, London: Axonometrie/öffentlicher Raum

Quelle: Schwab, Gerhard: Differenzierte Wohnanlagen. Stuttgart 1975, S. 32/Privatarchiv

Das Barbican ist in seiner Ausdehnung, wie anfangs erwähnt, deutlich größer als andere in dieser Arbeit vorgestellten Großwohnkomplexe. Die Ausdehnung lässt den Besucher die Abmessungen nicht direkt erkennen, man bewegt sich fern von der eigentliche Stadt in einem eigenen Quartier. Die eigene Gestalt erhält das Zentrum durch eine in ihrer Gestaltung klar ablesbare, zusammenhängende Fußgängerpassage, die oberhalb des Straßenniveaus den gesamten Komplex erschließt. Der umgebende Stadtteil ist durch diesen Höhenversprung deutlich abgegrenzt. Das Barbican Center besteht aus drei etwa dreißiggeschossigen Hochhäusern, langgezogenen etwa achtgeschossigen Zeilenbauten und dem großen Kunstzentrum. Die Gebäudezeilen fassen räumlich drei große Höfe, die mit Grün- oder Wasserflächen als Erholungsraum dienen. Im Inneren des Komplexes liegt das Kulturzentrum Barbican als Zentrum an einer großzügig angelegten Wasserfläche. „At the heart of the complex within the embrace of the crescent, a tiled plaza was created with an artificial lake and fountains providing a „street“ from which to access certain parts of the complex as well as for outside tables serving the restaurant.”97 Verkehrstechnisch wird das Barbican über drei Einfahrten erschlossen und besitzt eine gute Anbindung an das öffentliche Nahverkehrsnetz. “The striking architecture – designed by architects Chamberlin Powell and Bon – was commissioned in the late 1950’s as a joint project by the City of London and the government to make it possible for more people to live in the Square Mile, within easy reach of their place of business. […] The end result was achieved by the building of compact blocks housing a total of 2,014 97 Clement, Alexander: Brutalism. Post-war British Architecture. Ramsbury 2011, S. 108.

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flats, arranged around gardens and lakes making best use of all available space with car parking under the flats and pedestrian walkways above ground level away from the busy street noise.”98 Auf Grund der autofreien Fußgängerzonen ist es demnach gelungen eine geschützte und ruhige Atmosphäre innerhalb der Großstadt zu schaffen, die ihre Qualität durch die Mischung von Kultur, Bildung und Wohnbereichen erhält.99 Ziel der Planungen des Barbican waren zur Entstehungszeit einen neuen Lebensraum für eine neue Gesellschaft zu schaffen: „A living space that was English but also European in its ambience and American in its use of technology. From the plans for roof gardens with adjacent kitchens to concept sketches for the theater that evoke the streetscapes of Italien cities, the architects, and their patrons, had a very clear idea about how people should live good life.“100 Auf der Website des Barbicans wird in der Veröffentlichung des Jahresberichtes das Ziel des Kultur- und Musikzentrums heute hervorgehoben: „The Barbican Centre’s vision is to create the model of tomorrow’s international arts and learning centre. We will work together to offer world-class arts which inspire, challenge and amaze.”101 Damit wird deutlich, dass eine Transformation vom Wohngebiet mit angeschlossenem Kulturzentrum über die Revitalisierung in ein neues Konzept mündete, um Besucher in das Zentrum zu locken und dieses zu beleben. Der hohe Anspruch kann offensichtlich heute erfüllt werden.102

98 http://web.archive.org/web/20070203082828/http://www.cityoflondon.gov.uk/ Corporation/our_services/barbican_ estate/concept_and_design.htm, 13.11.11, 9:40.

99 Vgl. Clement, Alexander: Brutalism. Post-war British Architecture. Ramsbury 2011, S. 108.

100 Heathcote, David: Barbican. Penthouse over the city. West Sussex 2004, S. 33 101 http://www.barbican.org.uk/media/upload/about%20barbican/0BarbicanAnnual Review2009–10.pdf, 13.11.11, 9:44.

102 Als weiterführende Literatur zum Barbican siehe auch: Heathcote, David: Barbican. Penthouse over the city. West Sussex 2004 oder Clement, Alexander: Brutalism. Post-war British Architecture. Ramsbury 2011.

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Abb. 80: Olympisches Dorf, München: Lageplan/Nadisee im Grünraum

Quelle: Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 8/N.N.: Olympia 72. Die neuen Sportstätten in 100 Bildern. München 1972, S. 55

Olympisches Dorf, München (Deutschland 1972) Das Olympische Dorf in München wurde zu den Olympischen Spielen im Jahr 1972 erbaut. Es besteht aus einem Zentrum mit Hochhäusern, eine Ladenzeile und einem Studentenwohnheim sowie drei „Wohnarmen“ mit Terrassenhäusern, Reihenhäusern und Bungalows.103 Zwischen den Wohnarmen erstrecken sich zwei Grünzonen bis an das Zentrum und verbinden den städtischen Raum mit dem angrenzenden Grünraum des Olympiaparks. Neben dem Zentrum und den Wohngebäuden wurden im Olympischen Dorf ebenso kulturelle Einrichtungen, eine Schule und Kindergärten sowie ein Kirchenzentrum realisiert. Alle Gebäude wurden im Hinblick auf eine optimale Besonnung positioniert. Die Gebäudehöhen der Wohnarme treppen sich dabei von Norden nach Süden ab. Eine Flexibilität der Wohnungsgrundrisse ist durch die Skelettbauweise gegeben. Im Großwohnkomplex wurde eine Vielzahl von Gebäudetypen und Wohnungsgrundrissen realisiert. Neben den Etagenwohnungen in den Hochhäusern nahe des Zentrums wurden unterschiedlichste Wohnungstypen und -größen innerhalb der Terrassenhäuser realisiert. Reihenhäuser mit Maisonettwohnungen sowie Einfamilienhäuser in Bungalowbauweise vervollständigen das Wohnungsangebot. Dabei war Grundlage der Planungen, dass jeder Wohnung ein privater Freiraum in Form von Balkonen, Terrassen oder Gärten zugeordnet wird. Das Olympische Dorf in München wird als Fallbeispiel in der Untersuchung einer intensiveren Betrachtung unterzogen. 103 Vgl. dies und das Folgende: Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 10.

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Abb. 81: Brunswick Center, London: Schnittperspektive (vor der Sanierung) /Blick auf die Ladenpassage und Dachterrasse 2012

Quelle: Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981, S. 88f/Privatarchiv

Brunswick Center (Großbritannien 1972) Das Brunswick Genter in London wurde von dem britischen Architekten Hodkinson erbaut. Es besteht aus zwei parallel verlaufenden, doppelseitigen Terrassenhäusern, die einen städtischen Innenraum bilden. Das Innere des Komplexes wird vom Straßenraum über großzügige Freitreppen und eine Passage fußläufig erschlossen und beinhaltet Einzelhandelsflächen, Cafés, Restaurants und ein Kino. Die Terrassenhäuser beinhalten Wohnungen unterschiedlichster Größe mit vorgelagerten Wintergärten und Balkonen.104 Der Gebäudekomplex des Brunswick Centers wurde unter Berücksichtigung der städtischen Umgebung als „Blockrandbebauung“ ausgeführt. Auf Grund der terrassenförmigen Abtreppung der Fassade sowie der Andersartigkeit der Fassadengestaltung wirkt der Komplex jedoch trotzdem fremd im Stadtgefüge. Das Brunswick Center wurde, im Vergleich zu anderen Großwohnkomplexen, als niedrige Bebauungsstruktur mit nur einer Gebäudetypologie, dem Terrassenhaus realisiert. Im Jahr 2000 wurde der Großwohnkomplex unter Denkmalschutz gestellt und in den folgenden Jahren grundlegend saniert.105 Auch das Brunswick Center wird im Rahmen der Fallbeispielanalyse ausführlicher betrachtet.

104 Vgl. Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 17. 105 Vgl. ebd. S. 55.

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Abb. 82: Stadtzentrum Ivry sur Seine, Paris: Grundrissausschnitt und Außenansicht

Quelle: Institut francais dʼurbanisme (Hrsg.): Jean Renaudie. La logique de la complexité. Paris 1992, S. 104/Privatarchiv

Stadtzentrum Ivry-sur-Seine, Paris (Frankreich 1975) Das Stadtzentrum von Ivry sur Seine, einem Vorort von Paris, angrenzend an die Stadtgrenze und das 13. Arrondissement, wurde in den Jahren zwischen 1969 und 1982 umfassend saniert. An Stelle des gewachsenen Stadtkerns entstand ein Großwohnkomplex, der neben Wohnnutzung ebenso Geschäfte, eine Schule sowie Büroräume beinhaltet. Der Großwohnkomplex ordnet sich dem vorhandenen Straßennetz unter wodurch im Grunde drei, von Hauptverkehrsstraßen getrennte Gebäude entstanden. Eine Einheitlichkeit erfahren die Gebäude durch ihren hohen Grad an Komplexität und insbesondere durch sternenförmige Grundrisse mit spitzen Winkeln, die in nahezu allen Gebäuden realisiert wurden. Diese pyramidenförmig gestapelten Wohngebäude mit unterirdischer Erschließung und Fußgängerwegen auf unterschiedlichen Etagen, sind mit Wohnhochhäusern durchsetzt. Neben diesem Geschosswohnungsbau entstanden so ebenfalls Terrassenwohnungen sowie reihenhausähnliche Gebäudeformen mit privaten Gärten. Das Zentrum des Komplexes erstreckt sich auf der Etage des ersten Geschosses und verbindet auf dieser Ebene zwei Gebäude oberhalb einer Straße durch einen zweigeschossigen Brückenbau. Der Großwohnkomplex Ivry-sur-Seine entstand im Rahmen des staatlichen Förderprogramms „plan construction“, wodurch verdichtete und komplexe

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Abb. 83: Ihmezentrum, Hannover: Perspektive/Außenan sicht

Quelle: Schwab, Gerhard: Differenzierte Wohnanlagen. Stuttgart 1975, S. 84/Privatarchiv

Wohnanlagen gefördert werden sollten.106 Die Grundidee des neuen Zentrums von Ivry ist neben den im Förderprogramm formulierten Forderungen auf die Ansätze des Team Ten, die Stadt als einen komplexen Organismus zu betrachten, zurückzuführen.107 Der Architekt setzte sich zum Ziel alle Elemente eines Stadtzentrums wie Wohnungen, Büroflächen, Künstlerateliers, Bürgerbüros und Einkaufsmöglichkeiten in den Gebäuden zu integrieren.108 Gleichzeitig entstand eine hohe Vielfalt in den Gebäudeformen, ebenso wie in den Planungen der Außenanlagen und der Wohnungsgrundrisse.109 Ihmezentrum, Hannover (Deutschland 1975) Der Großwohnkomplex „Ihmezentrum“ ist typologisch betrachtet ein geschlossenes System mit kompakter Erschließungsstruktur und ist gekennzeichnet durch eine zweigeschossige Tiefgarage, eine weitläufige Fußgängerpassage auf dem Niveau des ersten Obergeschosses sowie Geschosswohnungsbauten, einem Studentenwohnheim und Bürogebäuden. Der Gebäudekomplex wurde zwischen 1972 und 1975 erbaut und beinhaltet etwa 1.150 Wohneinheiten. Auf Grund des Höhenunterschieds zwischen der Erschließungsebene und der Ebene des umgebenden Stadtraums sind die Anbindung an und die Verzahnung mit dem Stadtraum wenig ausgeprägt. Als Verbindung wurden Rampen und Brückenbauwerke realisiert, trotzdem ist das „Ihmezentrum“ heute eher als inselähnlicher Solitär im Stadtraum ablesbar. Das Grundkonzept des „Ihmezentrums“ sah die Anbin106 Vgl. „Exkurs: Frankreichs städtebauliche Experimente – Komplexbebauungstypen in den „Villes Nouvelles““

107 Vgl. Institut francais dʼarchitecture (Hrsg.): Jean Renaudie. Paris 1993, S. 57 108 Vgl. ebd. S. 59f. 109 Vgl. ebd. S. 66.

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dung an einen kleinen Hafen vor, der auf Erdgeschossniveau die Verbindung zum Wasser herstellen sollte. Das Ihmezentrum entstand auf dem Grundstück ehemaliger, kleinteiliger Gewerbeflächen die für den Bau abgebrochen wurden. Im Zuge der Planungen wurde aus Gründen der Wirtschaftlichkeit die Nutzfläche um das dreifach erhöht und der Hafen aus dem Konzept gestrichen.110 Eine U-Bahn Station, die im Untergeschoss des Ihmezentrums geplant war, wurde nie realisiert. Das Ihmezentrum verfügt über ein vielfältiges Wohnungsangebot von Einzimmerappartements über Maisonettwohnungen bis zu großzügigen Penthäusern mit Blick über die Stadt. Charakteristisch für den Großwohnkomplex ist eine offene, zwischen den Hochhäusern angeordnete Ladenzeile, die durch den gesamten Großwohnkomplex verläuft. Die Erschließung der Wohnungen erfolgt fußläufig über die beschriebene Ladenpassage sowie direkt vom Straßenraum bzw. einer Promenade entlang des namensgebenden Flusses Ihme. Die Fassadengestaltung der Gebäude des Großwohnkomplexes zeugen deutlich vom Zeitgeist der 1970er Jahre. Damit grenzt sich der Gebäudekomplex klar von seiner Umgebung ab und verstärkt den abgrenzenden Eindruck des Gebäudes. Der Großwohnkomplex Ihmezentrum wird im Rahmen der Untersuchung im Kapitel „Wahrnehmung der Großwohnkomplexe“ in einem Exkurs näher erläutert.

110 Vgl. Mlynek, Klaus/Röhrbein, Waldemar R. (Hrsg.): Geschichte der Stadt Hannover. Band 2 – Von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Hannover 1994, S. 743

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Abb. 84: Terrassenhaussiedlung St. Peter, Graz: Lageplan/Erschließung

Quelle: Messerschmidt, Ingeborg: „Kontrolliertes Experiment“ zur Erprobung geeigneter städtischer Wohnformen. In: Neue Heimat, Band 26, Heft 5, 1979, S. 29/ Privatarchiv

Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter (Österreich 1978) Die Terrassenhaussiedlung wurde in den Jahren 1972–1978 von der Architektengruppe „Werkgruppe Graz“ entworfen und realisiert. Der Großwohnkomplex wurde auf dem Gebiet einer ehemaligen Lehmgrube erbaut und besteht grundsätzlich aus vier Gebäudescheiben, deren Sockel terrassenförmig abtreppen und die in den oberen Geschossen vielfältige Wohnungstypen beinhalten.111 Der gesamte Komplex ist mit einer Tiefgarage unterkellert. Als Typologie entspricht der Gebäudekomplex einer offenen Struktur mit kompakter Erschließung. Die öffentlichen Flächen zwischen den Gebäuden besitzen den Charakter eines urbanen Hinterhofs und werden von den Bewohnern vielfach genutzt. Ein Kindergarten sowie Arztpraxen und Büroräume ergänzen die überwiegende Wohnnutzung im Komplex. Die Terrassenhaussiedlung bildet das dritte in der Untersuchung untersuchte Fallbeispiel. Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße, Berlin (Deutschland 1982) Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin wurde in den Jahren 1976–1982 erbaut und ist ein Großwohnkomplex der typlogisch einem geschlossenen System mit einer linearen Erschließung zugeordnet werden kann. Der Großwohnkomplex besteht aus einer etwa 600 Meter langen, terrassenartigen 111 Vgl. Messerschmidt, Ingeborg: „Kontrolliertes Experiment“ zur Erprobung geeigneter städtischer Wohnformen. In: Neue Heimat, Band 26, Heft 5, 1979, S. 24f.

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Abb. 85: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße, Berlin: Modelfoto / Erschließung

Quelle: DEGEWO ( Hrsg.): Autobahnüberbauung Berlin Schlangenbader Straße. Berlin, etwa 1980, S.11/ Privatarchiv

Überbauung der Stadtautobahn, sowie einer vorgelagerten, öffentliche Grünzone mit großzügigen und abwechslungsreich gestalteten Spielplätzen und Aufenthaltszonen. Begrenzt werden diese Grünräume durch einen weiteren Gebäuderiegel, der sich in der Höhenentwicklung am gewachsenen Stadtteil orientiert und neben Wohnungen, Gewerbe- sowie Büroflächen beinhaltet. Ein kleines Ladenzentrum ist an einer querenden Straße angeordnet und verbindet die halböffentlichen Bereiche des Großwohnkomplexes mit dem Straßenraum. Die Erschließung des Komplexes erfolgt fußläufig über die beschriebenen „Innenhöfe“ sowie über innenliegende Erschließungsflure innerhalb des Gebäudes. Gemeinschaftsräume, gemeinschaftlich nutzbare Terrassenflächen und Gästewohnungen sowie Abstellräume im Innern des Komplexes stehen den Mietern der Wohnungen zur Verfügung.112 Anders als in den meisten Großwohnkomplexen wurden im Gebäudekomplex der „Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße“ keine Eigentumswohnungen geplant. Vielmehr wurde das Projekt von der Berliner Wohnungsbaugesellschaft „DeGeWo“ im Rahmen eines sozialen Wohnungsbauprojektes durchgeführt. In der Planungsphase wurden unterschiedliche und flexible Wohnungstypen entwickelt, die eine relativ heterogene Bewohnerstruktur erzeugen sollten. Ein Seniorenheim im Süden des Komplexes ergänzt das Wohnungsangebot. 112 Vgl. dies und das Folgende: DEGEWO (Hrsg.): Autobahnüberbauung Berlin Schlangenbader Straße. Berlin, etwa 1980, S. 16.

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Durch die Großmaßstäblichkeit des Gesamtkomplexes und die elementierte Fassadengestaltung hebt sich der Großwohnkomplex deutlich vom umgebenden Stadtraum ab. Auf Erdgeschossebene verbinden jedoch Passagen und Eingänge den Großwohnkomplex mit der Umgebung. Die Grünflächen werden als halböffentliche Ruhe- und Spielzonen genutzt. Ausführlich diskutiert wird dieses Beispiel im Exkurs mit dem Titel: „Gebaute Utopie? Eine Autobahnüberbauung als Wohnquartier“.

AUSBLICK : G ROSSWOHNKOMPLEXE

HEUTE ?

Den Abschluss der Darstellung typischer Bebauungsstrukturen der 1960er/ 1970er Jahre bildet ein Ausblick auf zeitgenössische Gebäudestrukturen, die Ähnlichkeiten zu Großwohnkomplexen aufweisen. Damit soll auch in dieser Beispielsammlung der retrospektive Blick der Forschungsarbeit geöffnet und die Relevanz der Ergebnisse der Untersuchung auf derzeitige und zukünftige Planungsaufgaben unterstrichen werden. Die Entwurfskriterien der neuen Projekte wie Funktionsvielfalt und Überlagerung von öffentlichen, halböffentlichen und privaten Freiräumen erinnern stark an die Konzepte der 1960er/1970er Jahre und verdeutlichen die Relevanz des Forschungsthemas für zeitgenössische, architektonische Fragestellungen.

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Abb. 86: Eight House, Kopenhagen: Luftaufnahme/Erschließung

Quelle: http://www.dbz.de/artikel/dbz_Von_Ausblicken_und_Einblicken_8_House_ Kopenhagen_DK_1177882.html, 19.07.2013 18:00

Big 8, Kopenhagen (Dänemark 2010) Die Gebäudestruktur des Eight-House der dänischen Architekten BIG oszilliert auf Grund seiner Größe zwischen architektonischen Objekt und Stadtplanung. Das Gebäude entstand im Rahmen einer Stadterweiterung im Süden Kopenhagens.113 Mit einer guten Verkehrsanbindung in die Innenstadt soll auf der 300 Hektar großen Fläche ein Stadtteil mit Wohnangeboten, Arbeitsplätzen und einer Universität entstehen. Grundlage des Entwurfsprozesses für das Gebäude „Big 8“ der Bjarke Ingels Group (BIG) war der Wunsch die „[…] Vielfalt einer historischen Altstadt wieder aufleben zu lassen.“114 Diese Vielfalt wurde durch unterschiedliche Funktionen zu erreichen versucht, die als horizontale Layer übereinanderlegt wurden. So wurden in den Erdgeschosszonen Ladenflächen realisiert, darüber Maisonettewohnungen, Appartements und „Reihenhäuser“ mit Dachgärten auf den obersten Ebenen. Der ersten Ebene der Wohnnutzung wurde umlaufend ein Erschließungsband vorgelagert, das als öffentlicher Weg funktioniert.115 Auf Grund der Topografie des Gebäudes, in Richtung Norden ansteigend um eine optimale Besonnung aller Wohnungen zu erreichen, windet sich der öffentliche Erschließungsweg von der Erdgeschosszone im Süden des Komplexes bis in die obersten Etagen des Gebäudes im Norden. Das im Grundriss verdrehte Gebäude in Form einer Acht fasst zwei Innenhöfe, die unterschiedlich bespielt und von den Bewohnern genutzt werden können. Im Kreuzungsbereich der Gebäudestränge befinden sich gemeinschaftlich nutzbarere Flächen wie Gäste113 Vgl. dies und das Folgende: N.N.: 8 House Kopenhagen/DK. In: DBZ 5/2011, S. 48. 114 BIG (Hrsg.): Yes is more. Ein Architekturcomic zur Evolution der Architektur. Köln 2010, S. 93.

115 Vgl. ebd., S. 95.

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Abb. 87: The Interlace, Singapur: Computeranimation

Quelle: N.N.: The Interlace. In: archithese 2/2010, S. 43

appartements oder eine Dachterrasse.116 Im Gegensatz zu Großwohnkomplexen bilden sich die Öffentlichkeit anziehenden Bereiche wie Ladenzonen jedoch eher im Außenbereich aus. Die innenliegenden Höfe dagegen können als Erholungsraum von den Besuchern und Bewohnern genutzt werden. The Interlace (Singapur, im Bau) The Interlace, ein Projekt der Architektengruppe OMA, ist eine komplexe Gebäudestruktur aus Luxusappartements in Singapur. Die jeweils sechsgeschossigen, gleich großen Wohngebäude wurden bis zu einer Höhe von 24 Geschossen so gestapelt und zueinander versetzt angeordnet, dass sich acht große Höfe ergeben und die Dachterrassen der darunterliegenden Gebäude als gemeinschaftliche Außenräume genutzt werden können.117 Die Überlagerungen ergeben vielfache halböffentliche und private Räume auf unterschiedlichen Ebenen. Ziel des Entwurfs war es, in Abkehr zur vorherrschenden Hochausarchitektur in Singapur, eine komplexere und miteinander verwobene Gebäudestruktur zu schaffen, die nicht nur unterschiedliche, halböffentliche Räume verbindet, sondern gleichzeitig einen Bezug zur Umgebung aus bewaldeten Hügeln herstellt. Das Projekt beinhaltet etwa 1.000 Appartements unterschiedlicher Größe. Fußläufige Wege verbinden die thematisch gestalteten Höfe untereinander. Die Gebäudestruktur weist Ähnlichkeiten zu Großwohnkomplexen auf, wobei der Bau ausschließlich von Luxuswohnungen einer durchmischten, öffentlichen und urbanen Wohngegend im Sinne der in dieser Arbeit thematisierten Architektur und Stadtplanung der 1970er Jahren entgegensteht. Während die 116 Vgl. N.N.: 8 House Kopenhagen/DK. In: DBZ 5/2011, S. 50. 117 Vgl. dies und das Folgende: N.N.: The Interlace. In: archithese 2/2010, S. 42.

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Großwohnkomplexe den Anspruch besaßen mit ihrer Struktur die unterschiedlichsten heterogenen Gesellschaftsstrukturen einer Stadt zusammenzuführen und durch öffentliche Bereiche, Einkaufsmöglichkeiten, Bewohner und Besucher eine städtische Öffentlichkeit und „Urbanität“ zu erreichen, ist das Projekt „The Interlace“ ausschließlich für eine Gesellschaft der Oberschicht geplant. Die Luxuswohnungen, die dort entstehen bedingen die Gesellschaft auch in den „öffentlichen“ Bereichen des Komplexes, sodass eine heterogene und vielschichtige Bewohnerschaft ebenso wenig entstehen wird wie eine uneingeschränkte Öffentlichkeit. Mithilfe der vielfältigen Erkenntnisse aus den vorangegangenen Kapiteln wird nun im Folgenden der eigentliche Analyseteil der Arbeit beginnen. Die forschungsleitende Fragstellung lautet dabei: welche Qualitäten besitzen Großwohnkomplexe und wie können diese, auf zeitgenössische Problemstellungen transformiert, neue Impulse für städtebauliche Projekte bieten? Dieser Forschungsteil der Arbeit besteht aus drei Fallstudien, die nun im Folgenden dargelegt werden.

Fallstudien: München, Graz, London

ANALYTISCHES V ORGEHEN UND M ETHODE Die Untersuchung der Großwohnkomplexe wird jeweils in zwei übergeordneten Forschungsschritten erarbeitet. Nach einer einleitenden Erläuterung der Grundparameter des Fallbeispiels werden in einem ersten Analyseteil (Teil A) im Rahmen einer Grundlagenanalyse die entwurfsbildende architektonische und städtebauliche Struktur des gewählten Beispiels mithilfe der Ergebnisse einer Literaturrecherche herausgearbeitet und aufgezeigt. Dabei werden die Verortung im Stadtraum, der Außenraum, die Gebäude- und Wohnungstypen sowie die geplante Nutzung der Gebäude beschrieben. Durchsetzt ist dieser Teil der Analyse bereits mit Beschreibungen über die Zielvorstellungen der Architekten und Planer bezüglich der Wahrnehmung und Nutzung des Großwohnkomplexes. Die in diesem Kapitel verwendete Literatur ist, bis auf wenige Ausnahmen, Literatur aus der Entstehungszeit der Komplexe (Quellen). Die Strukturen der Großwohnkomplexe und die zugrunde liegenden Leitvorstellungen der Planer und Architekten werden aufgezeigt, ohne eine Bewertung vorwegzunehmen. Während viele Großwohnkomplexe und insbesondere die ausgewählten Fallbeispiele in einer Vielzahl von Publikationen aus der Entstehungszeit dokumentiert sind, existiert nur wenig architekturkritische Sekundärliteratur über Großwohnkomplexe im Allgemeinen. In den letzten Jahren werden jedoch vermehrt Beiträge über die Entwicklung und den derzeitigen Stand spezifischer Großwohnkomplexe in Publikationen, Fachzeitschriften oder Tages- und Wochenzeitungen publiziert.1

1 

Vgl. bsp. N.N.: Die Schlange feiert Jubiläum. In: bi. bauwirtschaftliche Information, Heft 5, 2000/Buchholz, Sonja: Das nacholympische Dorf. In: db 2/88/Matzig, Gerhard: Das olympische Dorf in München. In: Bauwelt 1993 Heft 38/N.N: Stadt hilft

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Mithilfe der Grundlagenanalyse aus dem Analyseteil A werden die ersten spezifischen Entwurfsmerkmale des jeweiligen Fallbeispiels herausgearbeitet und dargestellt. Im zweiten Schritt der Analyse, im Analyseteil B, werden die aus der Quellenrecherche erarbeiteten Erkenntnisse anhand der heutigen Situation vor Ort überprüft und möglicherweise entstandene, architektonische Veränderungen beschrieben. Die Beschreibung der Beobachtungen vor Ort wird darüber hinaus Einzelaspekte, die über die Erkenntnisse aus der Quellenrecherche hinausgehen, aufzeigen. Diese Beschreibung der Wahrnehmung vor Ort wird, für den Bereich der Großwohnkomplexe, unbekanntes Forschungsterrain betreten, um sich dem übergeordneten Ziel, die Potenziale dieser Komplexe herauszuarbeiten, anzunähern. Dabei wird die Forschung vor Ort aus unterschiedlichen Methoden bestehen: Beobachtungen: Die architektonische und städtebauliche Form des Großwohnkomplexes wird im Rahmen einer individuellen Bestandsaufnahme fotografisch festgehalten. Dabei werden unter anderem raumbildende Elemente, Oberflächenmaterialien, Begrünung, und künstlerische Interventionen aufgezeigt, die die spezifischen Charakteristika der Räume im Großwohnkomplex bilden. Speziell wird das Augenmerk in diesem Analyseschritt auf Raumabfolgen, -sequenzen und die Überlagerung oder Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gelegt. Raumnutzungsanalyse: Stichprobenartig wird ein Ort (zum Beispiel das Zentrum des Komplexes) auf die spezifische Nutzung analysiert. Dazu wird eine 1973 in der „Stadtbauwelt“ publizierte Stadtbeobachtungsmethode herangezogen, die anhand grafischer Darstellung eine Überlagerung der architektonischen Situation in einer Grundrissdarstellung mit der zu diesem Zeitpunkt spezifischen Nutzung des öffentlichen Raums aufzeigt.2 Notiert werden dabei nicht nur die Position der sich im Raum befindenden Personen, sondern gleichzeitig ihre Tätigkeit. Diese Darstellung wird in einer weiteren Schicht von städtischen Möblierungsgegenständen im Raum überlagert, die bestimmte Nutzungssituationen bedingen. Zusammenfassend bringt diese Analysemethode eine vergleichbare Darstellung der Nutzung unterschiedlicher öffentlicher Räume sowie ähnlichen architektonischen Situationen in anderen Großwohnkomplexen. In einem die Kosten der Sanierung schultern. In: Süddeutsche Zeitung, 04.11.2003/N.N.: […] in die Jahre gekommen. In: db10/2001/Seiß, Reinhard: Wohnsatellitenglück. In: DBZ Heft 11 2006/Soggia, Sylvia: City Nord. Hamburg 2009. 2 

Vgl. Günter, Roland: Eine Stadtbeobachtungsmethode in: Stadtbauwelt 1973, Heft 37, S. 64ff.

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weiteren Schritt wird die grafisch erarbeitete Nutzung des Raums in eine Tabelle übertragen, in der jeweils ähnliche Tätigkeiten unter Oberbegriffen zusammengefasst werden, um so eine Vergleichbarkeit der Nutzungsintensität der unterschiedlichen architektonischen wie zeitlichen Situation zu erhalten und daraus Schlüsse für die öffentliche Nutzung und das Kommunikationsverhalten ziehen zu können. Einschränkend ist bei dieser Methode zu berücksichtigen, dass die Erkenntnisse durch unterschiedliche Umwelt- und Witterungseinflüsse sowie Tageszeiten die Erkenntnisse nicht als quantitative Ergebnisse verzeichnet und wiedergegeben werden können. Vielmehr stellen die Erkenntnisse eine weiteres Puzzleteil in der hermeneutischen Erarbeitung einer Gesamtübersicht über die Qualitäten und Schwächen des spezifischen Fallbeispiels dar. Leitfadeninterviews: Es werden Gespräche mit heutigen und möglichst langjährigen Bewohnern sowie an der Planung der Großwohnkomplexe beteiligten Architekten („Experten“) geführt, um persönliche Einschätzungen und individuelle Erfahrungen aus dem täglichen Leben im Großwohnkomplex und Hintergründe über die Entstehung zu erhalten. Dabei werden insbesondere Planer oder Mitglieder von Interessenvertretungen interviewt, da von ihnen konkretere und reflektiertere Aussagen über die spezifische architektonische und städtebauliche Gestaltung der Großwohnkomplexe erwartet werden können als von Bewohnern ohne spezielles Hintergrundwissen. Quantitative Befragungen, zum Beispiel anhand von Fragebögen, werden nicht durchgeführt, da die individuellen und fallspezifischen Erkenntnisse in einer Erstanalyse des Phänomens Großwohnkomplex3 nicht im gewünschten Maße mit standardisierten Fragebögen zu erarbeiten sind. Die beschriebenen Methoden und die Ergebnisse dieser Untersuchungsschritte werden dokumentiert und erreichen damit, obwohl sie subjektiv wahrgenommen wurden, eine wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit. Generierung von Ergebnissen Die Generierung wissenschaftlich verwertbarer und für die vergleichende Analyse nach Abschluss aller Fallbeispiele notwendiger Ergebnisse wird auf zwei unterschiedlichen Bezugsebenen durchgeführt. Im ersten Schritt werden die Ergebnisse der „vor Ort“-Untersuchungen hermeneutisch interpretiert, im Bezug zu den aus der Quellenrecherche erarbeiteten Entwurfsmerkmalen auf ihre Qualität im Einzelfall überprüft und in einem zusammenfassenden Text wiedergege3 

Vgl. Kapitel „Forschungsinteresse“: Großwohnkomplexe als eigenständiger Stadtbaustein wurden bisher keiner wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen.

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ben. In einem zweiten Schritt werden die aus der Analyse des Fallbeispiels gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf die Verifizierung oder Falsifizierung der leitenden Forschungsthesen untersucht. Abschließend werden zusammenfassend die spezifischen Potenziale des Fallbeispiels aufgezeigt. Die im zweiten Teil der Untersuchung, dem Forschungshintergrund, erarbeiteten Verständnistheorien der Begriffe bilden hier die Grundlage der Bewertung. Nach demselben Schema werden im Folgenden alle Analysebeispiele bearbeitet und in einem letzten Schritt abschließend und vergleichend gegenübergestellt. Eine vergleichende Analyse bietet dabei die Chance, Gestaltungsaspekte und städtebauliche Entscheidungen direkt gegeneinander abzuwägen und die spezifischen Potenziale und Schwächen zu analysieren. Den Abschluss des Analyseteils der Arbeit bildet eine zusammenfassende Erläuterung der Potenziale von Großwohnkomplexen.

K LASSIFIKATION – T YPISIERUNG Großwohnkomplexe besitzen, trotz unterschiedlicher architektonischer und gestalterischer Ausformulierung, wiederkehrende Gestaltungsprinzipien. Um eine Klassifikation von Großwohnkomplexen aufgrund spezifischer Prinzipien zu erreichen, muss ein Abstraktionsgrad geschaffen werden, der geringfügige Abweichungen kompensiert. Gleichzeitig erfüllt eine Klassifikation den Zweck, eine Vergleichbarkeit von Ergebnissen zu erleichtern bzw. spezifische Qualitäten und Schwächen bestimmten Typen von Großwohnkomplexen zuordnen zu können. Im Rahmen der Vorstudien zur Klassifikation bzw. Typisierung wurden im Rahmen dieser Untersuchung drei Klassifikationsmerkmale erarbeitet, woran jeweils zwei unterschiedliche „Typen“ von Großwohnkomplexen aufgezeigt werden können: die Orientierung am bestehenden städtebaulichen Kontext, die Erschließung bzw. die Verkehrsführung innerhalb des Großwohnkomplexes und der Grad an Öffentlichkeit. Das Klassifikationsmerkmal „städtebauliche Einbindung“ eröffnet dabei den Typus „offene Bauweise“ und „geschlossene Bauweise“. Das Merkmal „Verkehr“ bzw. „Erschließung“ wird mit den Typen „lineares System“ und „kompaktes System“ hinterlegt und der „Grad an Öffentlichkeit“ anhand der Großwohnkomplextypen „privater Freiraum“ oder „öffentlicher Freiraum“ beschrieben. Es ist dabei zu beachten, dass die Einordnung der Fallbeispiele in diese Typologien nicht nach empirisch belegbaren Baukennzahlen erfolgt, sondern dass die Wirkung des Wohnkomplexes der entscheidende Faktor zur Einordnung ist.

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Abb. 88: Typen von Großwohnkomplexen

Quelle: Privatarchiv

Städtebauliche Einbindung Grundlegend ist festzustellen, dass in der Planung von Großwohnkomplexen der städtebauliche Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielte. In der Typologie „offene Bauweise“ werden Großwohnkomplexe zusammengefasst, die in ihrer Grundstruktur eher an Einzelgebäude als an ein Gesamtgebäude erinnern. Die Typus „geschlossene Bauweise“ dagegen vertritt Gebäudestrukturen, die als Gesamtheit wirken. Es ist festzustellen, dass sich die Großwohnkomplexe, die sich in Gebieten mit einer aufgelockerten Struktur einzeln stehender Gebäude befinden, eher dem Typus des „offenen Systems“ zuordnen lassen, als Großwohnkomplexe im dichten städtischen Raum, die sich durch die „geschlossene Bauweise“ auszeichnen. So wirkt der Großwohnkomplex „Terrassenhaussiedlung St. Peter“ in Graz, obwohl die Gebäude durch einen Sockel und die darin integrierte Tiefgarage verbunden sind, doch wie eine Addition von Einzelkörpern im Stadtraum. Bezeichnend dabei ist, dass sich dieser Großwohnkomplex in einem ebenfalls aufgelockerten städtebaulichen Kontext befindet. Ein zweites, etwas ambivalentes Beispiel für diesen Typus ist das Olympiadorf in München, das sich durch lang gezogene Terrassenhausstrukturen und sich daran angegliederte flachere Wohngebäude, die relativ frei im Grünraum angeordnet sind, auszeichnet. Gleichzeitig grenzt sich der Großwohnkomplex jedoch mit den Rückseiten der Terrassenhäuser und dem Zentrum klar von der städtischen Struktur ab und verkörpert dort eher den Typus des geschlossenen Systems. Dem Typus des geschlossenen Systems folgend, fügen sich die Großwohnkomplexe Ihmezentrum in Hannover, die Großwohnkomplexe Barbican, Lillington Gardens und Brunswick Center in London sowie die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin in den Kontext der Blockrandbebauung ein, indem sie, zumindest auf den für die Wahrnehmung im Verkehrsraum relevanten Gebäudehöhen, eine Blockrandbebauung nachempfinden. Die Erkenntnis, dass Großwohnkomplexe sich klar an der umgebenden Stadtstruktur der Gebäudehöhen orientieren ist dadurch interessant, dass sie durch ihr Größe und Baustruktur im Grunde ein vollkommen autarkes und ei-

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genständiges Element im Stadtraum bilden. Dass sie trotzdem den Anspruch vertreten, sich zumindest im Bereich dieser aufgezeigten Grundstruktur, dem Kontext unterzuordnen zeugt von einer ausgeprägten städtebaulichen Haltung, die so in der Literatur über den Städtebau der 1970er Jahre nicht thematisiert wird.4 Verkehr/Erschließung Ein zweites Merkmal, das Großwohnkomplexe untereinander deutlich als Typen voneinander unterscheidet, ist die Erschließung des Wohngebiets und die Verkehrsführung innerhalb des Komplexes. Während die Kategorie des „linearen Systems“ von Gebäudestrukturen geprägt ist, die sich entlang der Erschließungsstraße entwickeln, ist das kompakte System definiert durch eine flächige Verkehrsebene, die sowohl als Fahrweg aber ebenso als Tiefgarage gilt. Diese Systeme zeichnen sich ebenfalls in der Gesamterschließung und Nutzung des Komplexes ab: Während beim kompakten System das Einkaufszentrum mit den Einrichtungen des öffentlichen Lebens im physischen Zentrum des Komplexes liegen kann und kurze Wege innerhalb des Zentrums fördert, ist die Zentralität im linearen System nicht in dieser Form realisierbar. In die Typologie des linearen Systems sind die Großwohnkomplexe Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin oder das Olympische Dorf in München einzuordnen. In der extremsten Ausführung bildet der Großwohnkomplex „Schlangenbader Straße“ die Überbauung einer Stadtautobahn über eine Länge von etwa 500 Metern. Deutlich kleiner kam das System im Olympischen Dorf in München zur Anwendung, bei dem die drei Wohnarme in der Tiefgaragenebene als überdeckte Verkehrswege ausgebildet wurden. Dem Typus des kompakten Systems gehören dagegen die Großwohnkomplexe Ihmezentrum in Hannover, das Barbican, Brunswick Center und Lillington Gardens in London sowie die Terrassenhaussiedlung in Graz St. Peter an. Dass in der Überlagerung der beiden festgestellten Typen die offene Bauweise eher mit einem linearen System realisiert wurde und die geschlossene Bauweise tendenziell auch ein kompaktes Erschließungssystem besitzt, liegt zwar nahe, trifft jedoch nicht auf alle genannten Beispiel zu. Eine Klassifikation über diese groben Grundparameter hinaus ist aufgrund der Individualität der Komplexe nicht möglich. Es können jedoch folgende weitere Merkmal herausgearbeitet werden, die jeweils auf eine Gruppe von Groß4 

Vgl. z. B. Banham, Reyner: Megastructure. Urban futures of the resent past. London 1976/Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1981.

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wohnkomplexen angewendet werden können: Großwohnkomplexe bestehen der Definition entsprechend aus unterschiedlichen Gebäudestrukturen wie Terrassenhaus, Reihenhaus oder Hochhaus. Es gibt jedoch ebenso Gebäudekomplexe, die ausschließlich aus einem Bautyp, zumeist einer Art von Terrassenhaus, bestehen. Ein weiteres Merkmal ist die Verzahnung mit dem Stadtraum, die sich beim Terrassenhaus insbesondere durch die Ausrichtung der Wohnung darstellt. Während zum Beispiel der Großwohnkomplex Olympisches Dorf in München die terrassenförmige Struktur der Gebäude ausschließlich in Richtung des Grünraums orientiert, ist die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin von einer zweiseitigen Abtreppung und einer damit verbundenen, in beide Richtungen gleichwertigen Verzahnung mit dem Stadtraum geprägt. An dieses Merkmal schließt entsprechend ein weiteres, nämlich der Grad an Öffentlichkeit im Großwohnkomplex an. Während einige Großwohnkomplexe autark als Stadt in der Stadt funktionieren, ohne mit dem Stadtraum zu kommunizieren, öffnen sich andere mit ihrer Bebauungsstruktur zum Stadtraum und treten in einen Dialog. Der bei allen Großwohnkomplexen angelegte innere Freiraum ist ein entscheidendes Merkmal, dessen Qualität in der folgenden Analyse erforscht werden wird. Grad an Öffentlichkeit Der Grad der Öffentlichkeitsorientierung von Großwohnkomplexen ist in den vorgestellten Projekten unterschiedlich ausgeprägt. Während die Terrassenhaussiedlung in Graz St. Peter in Ermangelung öffentlicher Einrichtungen und durch die nahezu ausschließlich durch Wohnraum geprägte Umgebung stark introvertiert erscheint, steht das Brunswick Center in London im klaren Kontrast dazu. Hier ist der gesamte Innenraum des Komplexes mit Ladenflächen belegt, die einen hohen Grad an Öffentlichkeit evozieren und gleichzeitig benötigen. In welchem Zusammenhang die bauliche Ausformulierung mit der Zielvorstellung des öffentlichkeitsorientierteren oder introvertierteren Großwohnkomplexes kohärent ist, wird am spezifischen Fallbeispiel und in der Ergebnisgenerierung aufgezeigt. Wahl der Fallbeispiele Im Laufe der Arbeit und zusammenfassend im Kapitel „Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele“ werden Großwohnkomplexe vorgestellt, die alle den Kriterien der Definition entsprechen. Dazu gehören die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin, das Ihmezentrum in Hannover, das Olympische Dorf in München, das Wohnquartier Lillington Gardens, das Brunswick Center und das Barbican in London, die Terrassenhaussiedlung in Graz St. Peter

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sowie das Stadtzentrum von Ivry-sur Seine bei Paris. Das Ziel der Auswahl der Fallbeispiele war, möglichst unterschiedliche Großwohnkomplexe zu wählen, um breit gefächerte Erkenntnisse aus diesen Fallbeispielen generieren zu können. Aus diesem Grund wurden Großwohnkomplexe gewählt, die den oben beschriebenen Typen in möglichst unterschiedlicher Zusammensetzung entsprechen und sich in drei unterschiedlichen europäischen Ländern befinden. Gewählt wurden das Olympische Dorf in München, das Brunswick Center in London und die Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter. Die Fallbeispiele Graz St. Peter und Brunswick Center verkörpern dabei jeweils klare Typen, während das Olympische Dorf eine Zwischenposition einnimmt.

F ORSCHUNGSLEITENDE T HESEN Der zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung erarbeitete Forschungshintergrund lässt einige Thesen über die Potenziale von Großwohnkomplexen zu, die es in den folgenden Analysen zu verifizieren oder falsifizieren gilt. Diese Thesen werden anhand eines jeden Fallbeispiels überprüft und in der Ergebnisfindung vergleichend gegenübergestellt. Großwohnkomplexe werden heute, im Gegensatz zu positiveren Bewertungen in der Entstehungszeit, in der Öffentlichkeit oft als negativ besetzte Wohnorte angesehen. Dies könnte damit begründet werden, dass diese städtebauliche Großstruktur an keine traditionellen Wohnformen erinnert und somit in der Wahrnehmung fremdartig wirkt. Gleichzeitig werden Großwohnkomplexe zumeist aus einer Entfernung wahrgenommen, die einen ganzheitlichen Überblick über die Gebäudemassierung zulässt, aber ebenso die Unmaßstäblichkeit im Kontext der kleinteiligen, gewachsenen Stadt zum Ausdruck bringt. Aufgrund ihrer Materialität, Farbigkeit, der unterschiedlichen Gebäudetypen sowie der vertikalen Trennung der Verkehrswege, wirken Großwohnkomplexe wie visionär-utopische Gebäudestrukturen. Geprägt ist dieses Verständnis der Architektur von medialen Inszenierungen, die die Stadt der Zukunft fast ausschließlich als vertikale, hoch verdichtete Gebäudestrukturen mit unterschiedlichen Verkehrsebenen darstellen.5 Diese Aspekte führen heute zu einer negativ besetzten Außenwirkung. Zur Planungs- und Entstehungszeit wurden die Großwohnkomplexe jedoch durch den insbesondere in den 1960er Jahren eher fortschrittsgläubig geprägten Zeitgeist positiver wahrgenommen.

5 

Vgl. zum Beispiel den Film „Metropolis“ aus dem Jahr 1925/1926.

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Die durch die Außenwirkung geprägten, negativen Assoziationen werden heute erst langsam und beim eigenen Erleben des Großwohnkomplexes aufgebrochen. Großwohnkomplexe grenzen sich, trotz einiger, in jedem Großwohnkomplex individuell gewichteter, Bezüge durch ihre Materialität und Maßstäblichkeit von der umgebenden Bebauung klar zum umgebenden Stadtraum ab. Es wird im Rahmen der Analyse zu klären sein, welche Qualitäten mit dieser visuellen Abgrenzung für den spezifischen Großwohnkomplex erzeugt werden können. Als These kann weiterhin festgehalten werden, dass eine dichte Bebauungsstruktur nur dann zu einer qualitätvollen Urbanität führt, wenn die öffentlichen Räume so angelegt werden, dass es vermehrt zu zufälligen Begegnungen und informellen Treffen sowie unterschiedlichsten Aktivitäten kommt.6 Da Großwohnkomplexe per Definition ein fußläufiges Erschließungssystem besitzen, erreichen sie damit, so die vereinfacht dargestellte These, mehr Urbanität als andere Wohnquartiere. Es scheint nahe zu liegen, dass ein kompaktes System durch überlagernde und kreuzende Wegenetze ein höheres Kontaktpotenzial besitzt, als das lineare Erschließungssystem. Ein mittleres Maß an Komplexität wirkt anregend auf den Betrachter.7 In Großwohnkomplexen eröffnen sich durch die im Gegensatz zu anderen Wohnquartieren mittlere bis relativ hohe Komplexität in der Gestaltung vielfache, neue Raumerlebnisse. Die dichten, veränderbaren und komplexen Räume fördern, so die These, Kommunikation und Aneignung und damit die Bindung des Bewohners an seine unmittelbare, gebaute Umgebung. Großwohnkomplexe wurden im Sinn der Gesellschaft der 1970er Jahre als eine gemeinschaftliche Anlage geplant, die auf der einen Seite die individuelle 6 

Vgl. die unterschiedlichen Diskursstränge zum Thema „Urbanität“. Grundlage des hier thematisierten Verständnisses von Urbanität kann mit den Worten von Dieter Hassenpflug, 2002 erläutert werden wobei der Autor drei Ebenen von Urbanität (funktionale, soziale und ästhetische Urbanität) aufzeigt. Urbane Räume erreichen demnach, bezogen auf den Aspekt der „funktionalen Urbanität“ Nutzungsmischung, überlagerung und Funktionsvielfalt. Verbunden mit der „sozialen Urbanität“, ein am Stadtraum partizipierender, weltoffener und selbstbewusster „citoeyen“ und in Verbindung mit der „ästhetischen Urbanität“, die mit städtischer Atmosphäre knapp umschrieben werden kann, kann nach Dieter Hassenpflug Urbanität erreicht werden. Vgl auch Jean Nouvel im Kapitel „Forschungshintergrund“. Für Nouvel ist Urbanität städtische Komplexität, informelle Treffen, lebendige Straßen, ein spezifischer kultureller Charakter und der personalisierte Gebrauch von Raum.

7 

Vgl. Kapitel „Forschungshintergrund“, worin Rainer Maderthaner (1978) mit einer Analyse des richtigen (mittleren) Maßes an Komplexität zitiert wird.

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Freiheit des Einzelnen fördert, die Emanzipation und Selbstbestimmtheit der Frau unterstützt und auf der anderen Seite Gemeinschaftlichkeit und nachbarschaftliches Miteinander fördert.8 Diese Grundlagen lassen sich in den Gebäudestrukturen ablesen.

F ALLSTUDIE 1 – O LYMPISCHES D ORF , M ÜNCHEN Planung/Bauzeit: 1967–1972 Bauherr: Olympia Baugesellschaft mbH Architekt: Heinle Wischer und Partner Wohneinheiten: 3000 WE (Männerdorf) + 1800 WE (Frauendorf) Dichte (GFZ):1,0–1,2 (im Zentrum 2,4) Bewohner: etwa 6000 Entfernung zum Stadtzentrum: ca. 7 km Nutzung: überwiegend Wohnnutzung, im Zentrum Laden-/Büroflächen, Gemeinschaftszentrum, Kirchen, Schulen, Kindergarten

Einleitung Im Rahmen eines öffentlichen Wettbewerbs für das Olympiagelände auf dem Oberwiesenfeld im Norden Münchens, der von den Stuttgarter Architekten Behnisch und Partner 1967 gewonnen wurde, wurden neben dem Konzept für die Sportstätten und die Gestaltung des Olympiaparks bereits generelle Aussagen zur Gestaltung des Olympischen Dorfes gemacht. Im Entwurfsplan von 1967 werden die Struktur und die Gebäudeformen für den nördlichen Bereich des Olympischen Dorfes deutlich: Ein an die Lerchenauer Straße angrenzendes Zentrum verzweigt sich fingerartig in den Grünraum. Im südlichen Teil des Geländes zeichneten sich Gebäudecluster ab, die später das Olympische Dorf der Frauen bilden sollten. Während mit der weiteren Planung des nördlich gelegenen „Männerdorfes“ das Büro Heinle, Wischer und Partner (Stuttgart) in Zusammenarbeit mit den Architekten Ludwig, Wiegand, Zuleger aus München beauftragt wurden, wurde das Olympische Dorf der Frauen im Süden des Komplexes von den Architekten

8 

Vgl. Kapitel „Gesellschaftlicher Kontext“ und dabei insbesondere der Absatz Politik und Gesellschaft. Vgl. ebenso N.N.: Urbanes Wohnen in Köln. In: Bauwelt Heft 1973, Heft 17.

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Abb. 89: Luftbild/Schwarzplan

Quelle: www.bing.com/maps am 28.04. 2014 um 10:27 (Nutzung mit Genehmigung von Microsoft)/ Privatarchiv

Wirsing+Eckert (München) geplant. An der Planung des Kirchen- und Gemeindezentrums waren zusätzlich die Architekten Christ+Karg beteiligt.9 Unter ständiger Abstimmung mit dem Büro Behnisch und Partner wurde das Grundkonzept der Bebauungsstruktur des Olympischen Dorfes modifiziert und bis zur Ausführungsreife weiterentwickelt.10 Der Baubeginn für das Olympische Dorf der Frauen war im April 1969, fünf Monate später wurden auch die Arbeiten für das Olympische Dorf der Männer aufgenommen. Drei Jahre später, im Jahr 1972, wurden die Gebäude fertiggestellt.11 Die Planung der Gesamtanlage des Olympischen Dorfes wurde mit dem Ziel der Nachnutzung entwickelt. Öffentliche Einrichtungen sowie Geschäfte und Büroräume wurden so konzipiert, dass eine Nachnutzung im Anschluss an die Olympischen Spiele ohne hohen konstruktiven Aufwand möglich wurde.12 Ziel war es, eine Wohnanlage zu planen, „[...]in der sich zeitgemäße Formen des Wohnungs- und Städtebaues darstellen.“13 Finanziert wurden die Gebäude des Olympischen Dorfes der Männer von fünf unterschiedlichen Wohnungsbaugesellschaften. Die dort entstandenen etwa 3000 Wohnungen wurden nach den Olympischen Spielen als Eigentumswohnungen verkauft oder von den Woh9 

Vgl. Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 8

10  Vgl. dazu folgenden Absatz über das „Entwurfsverfahren“ 11  Vgl. Olympisches Bautagebuch: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1972, S. VIII 12  Vgl. Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 6 und S. 12. 13  Ebd., S. 6.

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nungsbaugesellschaften vermietet.14 Bauträger des Olympischen Dorfes der Frauen war das Studentenwerk, das nach den Spielen die Appartements und Wohnungen zur Nutzung für etwa 1800 Studenten zur Verfügung stellte.15 Das Studentenwerk errichtete die Wohnungen und Appartements in drei unterschiedlichen Gebäudetypologien: einem 19-geschossigen Wohnhochhaus mit Appartements, zweigeschossigen, clusterartig zusammengefügten Appartementbebauungen und einem Terrassenhaustyp mit weiteren Wohnungen für jeweils zwei Bewohner. Für die weitere Analyse des Olympischen Dorfes aus Sicht der Architektur der 1970er Jahre und im Kontext des verdichteten Bauens wird im Folgenden ausschließlich die Nutzung nach den Olympischen Spielen diskutiert. Wie oben beschrieben wurde das Olympische Dorf aus dem Hintergrund der späteren Nutzung heraus entwickelt und bildet mit seiner städtebaulichen Struktur ein gutes erstes Analysebeispiel auf der Suche nach Potenzialen in Großwohnkomplexen. Die Gebäudestruktur des Olympiadorfes entspricht dabei allen in der Einleitung der Untersuchung beschriebenen Parametern. In der Analyse des Großwohnkomplexes wird der Schwerpunkt auf dem Olympischen Dorf der Männer liegen (nördlicher Teil des Geländes). Ein Teil des Olympischen Dorfes der Frauen, zweigeschossige Appartementhäuser für jeweils ein bis zwei Bewohner in verdichteten Clusterstrukturen, wird im Gesamtzusammenhang der Komplexbebauung zwar mitdiskutiert, nimmt jedoch in der Bebauungsstruktur eine Sonderrolle ein: Die niedrigen und dicht platzierten Gebäude stehen in einem eigenen Quartier zu Füßen der Türme des Olympischen Hauptdorfes. Durch die Höhenentwicklung der Gesamtanlage grenzt sich dieser Teil des Olympiadorfes von den anderen Bereichen ab und kann damit nur eingeschränkt zur Komplexbebauung gezählt werden. Dieser Teilbereich ist außerdem von der übergeordneten Verkehrsführung ausgeschlossen. Aufgrund der ausschließlichen Nutzung als Studentendorf nimmt es in der Wahrnehmung ebenfalls eine Sonderstellung ein. Im Folgenden wird also der Schwerpunkt der Analyse auf dem nördlichen Teil des Olympischen Dorfes liegen. Dabei werden nun die Begriffe Olympiadorf oder Olympisches Dorf als Bezeichnungen dieses Analysegebietes genutzt.

14  Vgl. Mertz, Carl: Bestandsaufnahme. In: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. VI. 15  Vgl. dies und das Folgende: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1972, S. 30.

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Abb. 90: Typologie

Quelle: Privatarchiv

Das Olympische Dorf in München wurde als ein autarkes Wohngebiet im Hinblick auf die notwendige Unterbringung der Sportler während der Olympischen Spiele und auf die folgende private Nachnutzung entwickelt. Ein übergeordnetes Gesamtkonzept der Stadt München, im Rahmen dessen sich, wie am Beispiel des „Ihmezentrums“ im Gesamtkontext der Stadt Hannover, mehrere komplexe Baustrukturen entwickeln sollten, bestand nicht. Gleichzeitig wurde jedoch mit dem Bürostandort „Arabellapark“ (1979–1983) ein weiteres verdichtetes Zentrum entwickelt, das, wenn auch monofunktional, den Charakter einer Komplexbebauung trägt. Gemäß der erarbeiteten Typologie kann die Bebauung des Olympischen Dorfes in die Kategorie „offene Struktur, lineares System“ eingeordnet werden. Diese Kategorisierung bezieht sich auf die städtebaulichen Grundentscheidungen (Grad der Abgrenzung zur Umgebung – hier: offene Struktur) und die Verkehrserschließung (hier: lineares System unterhalb der Wohnarme). Dabei ist im Olympischen Dorf jedoch zu beachten, dass die „offene Struktur“ des Komplexes ausschließlich für die Öffnung zum Grünraum gilt. Zu den Hauptverkehrsstraßen Lerchenauer Straße und Moosacher Straße hingegen schirmen die Rückseiten der Wohnhochhäuser das Innere des „Dorfes“ von der Umgebung ab. Beide Aspekte prägen die städtebauliche Situation des Komplexes grundsätzlich. Während sich die Wohnbebauung zum Grünraum der Sportstätten des Hochschulzentrums und dem Olympiapark öffnet, kehrt sie den vielbefahrenen Straßen Lerchenauer- und Moosacher Straße den Rücken zu. Zwischen den Wohnarmen zieht sich der Grünraum in die Komplexbebauung hinein und schafft so eine Pufferzone zu den Rückseiten der Terrassenhäuser des folgenden Wohnarmes. Die 20-geschossigen Hochhäuser, die in östlicher Richtung das Zentrum des Olympischen Dorfes ebenfalls gegen den Straßenlärm abgrenzen, vervollständigen das Bild der starken, zum Grünraum in Süd-West Richtung orientierten Gebäudestruktur.

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Abb. 91: Luftbild

Quelle: Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 3

Eine allgemeine Projektbeschreibung des planenden Büros Heinle Wischer und Partner wurde 1979 veröffentlicht. Darin heißt es: „Das Olympische Dorf kehrt dem Verkehrslärm der Lerchenauer und Moosacher Straße den Rücken zu und öffnet sich nach Südwesten zum Grün-, Ruhe-, Sonnen-, Spazier-, Aussichts- und Erholungsraum. Sein Zentrum liegt unmittelbar neben dem U-Bahnhof an der Lerchenauer Straße. Von hier aus ist es erschlossen, von hier aus erfolgen auch Verund Entsorgung. An dieses Zentrum schließen die „Wohnarme“ an, deren Magistralen ebenerdig dem Verkehr vorbehalten sind, während das „Deck“ darüber den Fußgängern gehört. Mit diesen Wohnarmen wurde ein neuer Wohntyp geschaffen: Steile Terrassengebäude mit sogenannten hängenden Gärten erheben sich auf der Nordseite der über beide Ebenen erschlossenen Magistralen, südlich davon schließen sich flachere Terrassenhäuser mit auslaufenden, liegenden Gärten an. Diese Art der Bebauung wurde von vier weltbekannten Stadtplanern als gute Synthese des hygienisch wertvollen Einfamilienhauses mit dem urbanen Mehrfamilienhaus gepriesen. Soziologen, Hygieniker, die Berater für Tageslicht, Schallschutz, Verkehr und Grünraum und Sozialpsychologen befürworteten diese Kombination des Drive-in-Terrassenhauses, in dem jeder seinen Platz an der Sonne hat. Die dynamische Grundform, die städtebauliche Erlebnisräume bildet, hat mannigfaltige netzartige Zuordnungen mit typischen Merkzeichen durch die Konturen der olympischen Sportstätten. Orientierungsmöglichkeiten und Einprägsamkeit schaffen Vertrautheit im Wohnbereich und können Identität erzeugen. [...]

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Die wichtigsten Flächen der Gebäude im olympischen Dorf werden in weißem Sichtbeton hergestellt. Dazu soll der Kontrast gefüllter Blumentröge auf den Terrassen eine reizvolle Belebung und eine Verbesserung der lokalen Orientierung für die Fußgänger bewirken. [...] Mehr als 70 Wohnungsvarianten im Sinne der Identität und der individuellen Wünsche und Bedürfnisse wurden mit Blick auf die „nacholympischen“ Bewohner entworfen.“16

Wie in der Projektbeschreibung bereits formuliert, wurden im Rahmen der Planungen des Olympischen Dorfes neueste Erkenntnisse der Architektur und des Städtebaus aufgenommen: Fachingenieure für die unterschiedlichsten Bereiche wie Hygiene, Schallschutz, Verkehr, Ökologie, Ökonomie, Soziologie oder Sozialpsychologie wurden in den Planungsprozess integriert. Dabei stand jede Planung unter der Prämisse der im Jahr 1965 von der „Union International des Architects“ ausgesprochenen Forderung nach einer Gewichtsverlagerung in der Architektur weg von rein ästhetischen hin zu soziologischen und technischen Aspekten.17 Die theoriegeleiteten Grundgedanken, die dem Entwurf für das Olympische Dorf zugrunde gelegt wurden, waren zum einen „.. im zentralen (Dorf-) Bereich: „die Verlockung zur Kommunikation“ (lt. Mitscherlich) und […] im Wohnbereich (des Dorfes): „die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung“ (lt. Jaspers).“18 Das Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, wie es in vielen Publikationen dieser Zeit diskutiert wurde, war also ein entscheidender Faktor zur Gestaltung des Komplexes. Entwurfsverfahren19 Aus den auf theoretischer Ebene diskutierten Determinanten sollte im Planungsprozess eine starke Entwurfsidee generiert werden, die eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Wissenschaftler der oben beschriebenen Bereiche mit den 16  Heinle, Wischer und Partner: Die Planung des Olympischen Dorfes. In: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. 50f. 17  Vgl. Heinle, Erwin/Church, Murray/Lohss, Hilmar/Dehlinger, Hans: Das Olympische Dorf in München. In: N.N.: Bauten der Olympischen Spiele 1972 München. Stuttgart 1969, S. V/0. 18  Ebd., S. V/0. 19 Zur inhaltlichen Vertiefung vgl. auch Heger, Natalie: Das Olympische Dorf München. Planungsexperiment und Musterstadt der Moderne. Veröffentlichung der Dissertationsschrift. Berlin 2014.

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Architekten ermöglichte, ohne durch die Einwände jeder Wissenschaft das übergeordnete Planungsziel aus den Augen zu verlieren. Der gesamte Planungsprozess wurde akademisch durchdacht und rational geplant, obwohl aufgrund relativ kurzer Planungszeiten eine ständige Überprüfung der Entscheidungen durch Externe ausblieb. Dennoch wurde ein Optimierungsprozess bis zur endgültigen Entwurfsgrundlage durchgeführt, „… der die jeweils bestmögliche Lösung aus einer abnehmenden Reihe von Lösungs-Alternativen der Zahl nach selektiert.“20 Dabei wurde das Optimierungsverfahren soweit verwissenschaftlicht, dass am Ende ein mathematische Formel und ein Punktesystem gefunden wurden, die die unterschiedlichen Entwurfsvorschläge klassifizierten und dann in Relation zu einer imaginären, und nach einer maximal erreichbaren Punktezahl festgelegten Optimallösung setzten. Das Entwurfsverfahren war dabei von vier Optimierungsstufen geprägt, wobei aus einer geringer werdenden Anzahl an Entwürfen (Stufe 1: 57 Entwürfe, Stufe 2: 20 Entwürfe, Stufe 3: 7 Entwürfe, Stufe 4: 5 Entwürfe und Ergebnisfindung) jeweils die Besten weiterentwickelt wurden. Es wurde deutlich, dass sich aus einer Vielzahl unterschiedlichster Entwürfe im Laufe des Optimierungsverfahrens diejenigen Entwürfe auszeichneten, die sich mit differenzierten und von Terrassenstrukturen geprägten Wohngebäuden, der Grundkonzeption des Wettbewerbentwurfplans folgend, nach Nord-Osten gegen den Verkehrslärm mit linearen Strukturen abschotteten und nach Süd-Westen zum Grünraum öffneten. 21 Ergebnis des Entwurfsverfahrens, an dem als Jurymitglieder zeitweise auch Jacob Bakema und Georges Candilis (Team Ten) beteiligt waren, waren vier übergeordnete Planungsziele, die durch das Terrassenhaus als Hauptbestandteil der Planungen erfüllt wurden: „Mehr Sonne, mehr Himmel“22 für jeden Bewohner durch die Terrassierung der Gebäude, „die hängenden + die liegenden Gärten“ durch die Begrünung der Dachterrassen und vorgelagerten Gärten, „die Aussicht“ bzw. „die optische Verbindung Micro-Macrowelt = Vertrautheit“ aufgrund der Brüstungsausbildung der privaten Terrassen, die sowohl den Fernblick als auch den Blick in den öffentlichen Nahbereich der Wohnung ermöglichen und „das „Drive in“ Terrassenhaus“, das dem Verkehrslärm der Hauptverkehrswege den „Rücken“ kehrt und die Erschließungsstraßen mit einer Fußgängerebene überdeckt. 20  Vgl. Heinle, Erwin/Church, Murray/Lohss, Hilmar/Dehlinger, Hans: Das Olympische Dorf in München. In: N.N.: Bauten der Olympischen Spiele 1972 München. Stuttgart 1969, S. V/2. 21  Vgl. ebd., S. V/2ff. 22  Vgl. dies und das Folgende: Ebd., S. V/30.

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Abb. 92: Ansicht Wohnarm

Quelle: Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 16

Die nacholympische Nutzung Zu den Olympischen Spielen im Jahre 1972 wurde das Olympische Dorf erstmals seinen Nutzern übergeben. Für 16 Tage bot das Olympische Dorf den Sportlern, Betreuern und Funktionären Platz und insbesondere die öffentlichen Räume wurden positiv als kommunikative Orte wahrgenommen.23 Der Verkauf der Wohnungen im Anschluss an die Olympischen Spiele gestaltete sich jedoch schwierig.24 Zwei Jahre erlebte das „Dorf“ negative Pressemeldungen, der schleppende Verkauf der Wohnungen führte in der Öffentlichkeit zum Begriff „Geisterstadt“, Kriminalität und Vandalismus im Wohngebiet nahmen zu und dem Begriff „Betonstadt“ folgte bald die Erkenntnis über erhebliche Mängel in der Bauausführung, die möglicherweise dem Termindruck während der Bauzeit geschuldet waren. Erst im Jahr 1974 waren nahezu alle Wohnungen zumeist an junge Familien der gehobenen Mittelschicht verkauft, die die Vorzüge der Kombination des innenstadtnahen Wohnens mit der durchgrünten Wohnanlage schätzten. Ein konstant bestehendes Problem im Olympischen Dorf waren jedoch weiterhin Mängel in der Bauausführung. Gleichzeitig entwickelte sich das Olympische Dorf kontinuierlich zu einem immer beliebteren Wohngebiet. „[...] bemerkenswert ist nicht die Architektur, dazu trägt sie allzu deutlich die grobschlächtigen Spuren der Eile und einer noch nicht sensiblen Beherrschung elementierten Bauens. Zukunftsweisend ist hingegen die städtebauliche Anlage, der ganz ungewöhnliche Einfallsreichtum bei der räumlichen Differenzierung, das Temperament und der Rhythmus der Gliederung, vor allem der Fußwege, die glückliche Hand beim Bau der Kinderspielplätze und den Parkanlagen mit ihren 23  Vgl. Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 22. 24  Vgl. dies und das Folgende: Dr. Sack, Manfred: Olympisches Dorf – eine Chronik. In: Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 26f.

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Accessoires.“25 Eine Umfrage unter den Dorfbewohnern aus dem Jahr 1974 bestätigt diese Einschätzung: 91 Prozent gaben an, wieder in das Olympische Dorf einziehen zu wollen, wenn sie nochmal vor der Wahl stünden.26 Teil A: Grundlagenanalyse Verortung im Stadtraum Das Oberwiesenfeld war zu Beginn der Planungen im Jahre 1965 eine unbebaute Fläche, nur im südlichen Randgebiet befand sich ein Flugplatz. Vor dem Beginn der Baumaßnahme aufgenommene Luftbilder zeigen das Oberwiesenfeld, begrenzt durch die Lerchenauer und Moosacher Straße, den Flugplatz und eine Kleingartenkollonie auf dem Grundstück des späteren Olympiaparks. Der später das Olympische Dorf vom Olympiapark trennende mittlere Ring bestand zu dieser Zeit noch nicht, einzig der Fernsehturm dominierte bereits das Baugrundstück. Im Jahr 1972 zeigte sich folgende städtebauliche Situation in der Umgebung des Olympischen Dorfes: Das Oberwiesenfeld mit dem Olympischen Dorf der Männer und Frauen im Norden ist von vier Seiten von Hauptverkehrsstraßen umgeben. Daran orientieren sich großflächige Industriezonen, bzw. im Süden der Olympiapark. Erst dahinter entwickeln sich jeweils die Wohngebiete und Randbezirke der Stadt München. Die Gebäudeformen des Olympischen Dorfes grenzen das Innere des „Dorfes“ vom umgebenden Stadtraum ab. Zu Fuß ist das Zentrum über den Olympiapark zu erreichen, die Erschließung für den motorisierten Verkehr ist über die Hauptverkehrsstraßen gegeben. Der Anschluss an die Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln wurde mithilfe des U-Bahn Systems realisiert. Dies bringt die Bewohner innerhalb von zehn Minuten in das Stadtzentrum Münchens. Auf den Luftaufnahmen wird jedoch gleichzeitig deutlich, dass sich das Olympische Dorf in einer Art Insellage im Stadtraum befindet. Diese Insellage wurde städtebaulich mit abgrenzenden Gesten zu den Hauptverkehrsstraßen sowie Industriezonen und einem Öffnen zum Grünraum beantwortet. Gleichzeitig wurden im Olympischen Dorf alle Einrichtungen des öffentlichen Lebens für den täglichen Bedarf geplant, sodass der neue Stadtteil weitgehend autark funktionieren kann.

25  Ebd., S. 27. 26  Vgl. Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 28.

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Abb. 93: Schnitt durch die Gebäude und geplante Sichtbezüge

Quelle: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. 71

Gebäudetypologien und Fassadenstruktur Das Olympische Dorf ist von unterschiedlichen Gebäudestrukturen geprägt. Etwa 20-geschossige Wohnhochhäuser mit einer Gesamtlänge von ca. 150 Metern befinden sich angrenzend an das Zentrum des Komplexes und bilden mit ihrer Höhenentwicklung auch städtebaulich-visuell das Zentrum. Ein Schnitt durch den Bereich eines Wohnarmes lässt folgende Staffelung erkennen: Das Terrassenhaus (ca. 50–70 m lang und neun- bis elfgeschossig hoch) erhebt sich über der Fußgängerebene und weist rückwärtig einen Versprung auf, um eine ökonomische Tiefe der Wohnungen bis in die obersten Etagen zu erreichen. Um die Tiefe eines Vorgartens vorgelagert befindet sich der öffentliche Fußgängerweg, an dessen anderer Seite bereits ein viergeschossiger Flachbau (ebenfalls etwa 50 m lang) angrenzt. Hier treppt sich das Gelände nach Süden ab, sodass sich der Garten des Flachbaus auf der Höhe des Fahrwegs im Untergeschoss und Erdgeschoss des Terrassenhauses anschließt. Das an einen schmalen Wohnweg angrenzende weitere Flachgebäude mit drei Etagen ist ebenfalls mit einem Geschoss zur Hälfte eingegraben. Aus dem weiterhin abfallenden Gelände ergibt sich ein weiterer privater Garten auf der Höhe des Untergeschosses. Die Bebauung wird durch einen eingeschossigen Bau abgeschlossen, der je nach Standort unterschiedliche Wohnnutzung in Atrium oder Bungalowbauweise sowie nahe des Zentrums auch öffentliche Einrichtungen beinhaltet. Der sich daran an-

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schließende Grünraum reicht bis zur Rückwand des folgenden Terrassenhauses heran. Die Parkflächen und Erschließungsstraßen sind in dieser Gebäudekonfiguration unter dem Terrassenhaus und dem Fußgängerdeck angeordnet. Eine Reihe mit Parkplätzen auf zwei Ebenen befindet sich dabei jeweils unter der ersten Flachgebäudereihe.27 Die Parkflächen sind, auch unter dem Aspekt der Sicherheit, jeweils den Hauseingängen zugeordnet, sodass kurze Wege vom Gebäude zum Auto ermöglicht werden.28 Ebenfalls in flacher Bauweise wurden die öffentlichen Einrichtungen (Schule, Kirchenzentrum, Kindertagesstätte) und das Ladenzentrum geplant. Nahe dem Ladenzentrum befindet sich auch eine Fußgängerrampe, die Besucher und Bewohner von der regulären Straßenebene auf das Fußgängerdeck bringt. Die angestrebte Mischung unterschiedlicher Wohnungsgrößen wurde sowohl innerhalb der terrassierten Wohnhochhäuser als auch der Flachbauten realisiert. „Sie reichen vom Ein-Zimmer-Appartement bis zum Penthaus, von der Etagenwohnung im Hochhaus, im Etagenhaus, im Reihenhaus bis zum eingeschossigen Einfamilienhaus. Appartement- und Mehrraumwohnungen wurden so gelegt, daß [sic!] sie durch Kopplung der veränderten Familiengröße angepasst werden können.“29 Insbesondere im Bereich der Terrassen/Balkone wurde eine auf die spezifische Situation im Olympiadorf abgestimmte Konstruktion gewählt. Dem Anspruch der „hängende Gärten“ entsprechend wurden die Terrassen mit Pflanztrögen ausgestattet, die die Monotonie der großmaßstäblichen Fassaden individuell auflockern sollten. Die Pflanztröge wurden so positioniert, dass dem Bewohner sowohl aus einer sitzenden als auch aus einer stehenden Position ein freier Blick in den weiten Grünraum oder das nähere, öffentliche Umfeld ermöglicht wurde. Gleichzeitig dienen die Pflanztröge dem Sichtschutz von der oberen Terrasse auf die darunter liegende und ermöglicht so eine hohe Privatsphäre trotz terrassierter Bebauung. Die nebeneinander angeordneten Terrassen sind durch feststehende Schotts voneinander getrennt. Ziel war es, die Privatheit eines Einfamilienhauses in einem dichten, gestaffelten Wohngebäude zu erreichen: „Die terrassierte Bebauung verbindet Vorteile des Wohnens im Einfamilienhaus (Privatheit und 27  Vgl. Miller, Wolfgang/Luz, Hans: Außenanlagen des Olympischen Dorfes. In: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. 71. 28  Vgl. Billinger + Partner: Verkehrsplanung. In: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. 54. 29  N.N.: Olympisches Dorf der Männer. In: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. 71.

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Freiraum) mit denen des Wohnens im Hochhaus (Aussicht und städtische Dichte).“30 Die Grundrissplanungen der Architekten sahen flexible, offen gestaltete Wohnungen mit demontierbaren Wänden vor, um die Flexibilität zu erhöhen und Anpassungen an veränderte Wohnbedürfnisse zu vereinfachen. Im Entwicklungsverfahren mit den Bauträgern wurden einige der Wohnungen jedoch mit festen Wänden ausgeführt, sodass diese Entwurfsansätze nur noch in Teilbereichen zum Ausdruck kommen. Die Fassadengestaltung des Olympischen Dorfes ist von weiß gestrichenen Sichtbetonflächen geprägt. Die Hochhäuser besitzen durch die vorgelagerten Terrassen und Balkone eine lineare Fassadenstruktur. Die dahinter angeordneten Fenster sind als bodentiefe Fassadenelemente ausgebildet und ermöglichen einen Austritt aus unterschiedlichen Räumen der Wohnung. Die Fassaden der Flachbebauung sind je nach Gebäudetypologie durch geschlossene oder offene Laubengänge mit dahinterliegenden Lochfassaden geprägt. Die Farbgebung des Orientierungssystems spiegelt sich neben den Hausnummern und Hinweisschildern insbesondere in den Fassadenelementen und Fensterrahmen in den Wohnclustern wider, die jeweils eine der Farbgebung des Leitsystems entsprechenden Farbreihe zugeordnet sind. Die Fassaden spiegeln gleichzeitig die Unterscheidung zwischen Maisonettwohnungen und eingeschossigen Wohnungen wider und machen somit die Grundrisstypologien ablesbar. Das Zentrum des Olympischen Dorfes Die Ansprüche an das Zentrum der Komplexbebauung wurden wie folgt formuliert: Das Zentrum sollte ein lebendiger und lebensfähiger Mittelpunkt werden, der abwechslungsreiche Erlebnisräume eröffnet. Die Überlagerung der Funktionen und Nutzungen sollte zu einem urbanen Charakter führen und damit einen stark frequentierten Kommunikationsbereich eröffnen, der die soziale Interaktion der Bewohner stärkt. Ziel war es ein „[...] lebendiges, den Zukunftsansprüchen gewachsenes Zentrum zu schaffen, das nicht nur den Grundfunktionen Einkaufen, Arbeiten, Wohnen und Entspannen dient, sondern die Dorfbewohner durch seine Ausgestaltung auch zur Kommunikation verlockt.“31 Obwohl die nacholympische Nutzung im Vordergrund der Planungen stand, war eine Flexibilität gefragt, die sowohl eine kurzfristige Nutzungsänderung der öffentlichen Gebäude nach den Olympischen Spielen zuließ als auch weiterhin zukünftige Nutzungsänderungen ermöglicht. Das Image dieses Zentrums dagegen sollte aus der 30  Ebd., S. 71. 31  Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 12.

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Abb. 94: Grundrissvarianten – übereinanderliegende Grundrisse im Terrassenhochhaus

Quelle: Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 17

olympischen Nutzung erwachsen.32 Diese Wünsche spiegeln die in weiteren Publikationen über den Städtebau der 1960er/1970er Jahre allgemein formulierten Zielsetzungen für zukünftige Wohnbebauung wider und unterstreichen den Anspruch der Planer an eine durchmischte, komplexe, dichte und damit urbane Bebauungsstruktur. Die Wohnungsgrundrisse Der Großwohnkomplex Olympisches Dorf bietet eine Vielzahl unterschiedlicher Wohnungstypen. Eine erste Unterscheidung kann zwischen den bereits beschriebenen Gebäudetypen gefunden werden: Neben den Flachbauten und Terrassenbauten erstrecken sich am Zentrum des Komplexes Hochhäuser mit Etagenwohnungen. Das Wohnungsangebot reicht vom 1-Zimmer-Appartement bis zur 7Zimmer-Penthousewohnung, wobei etwa 20 Prozent der Wohnungen in Maisonette- und Bungalowbauweise entstanden und 80 Prozent der Wohnungen als eingeschossige Geschosswohnungstypen realisiert wurden.33 Während in den Terrassenbauten Wohnungen von 1–5 Zimmern entstanden, wurden in den Zentrumsbauten eher kleinere 1–2-Zimmer-Wohnungen geplant. Auf den obersten Geschossen der Terrassen- und Hochhausbauten wurden Penthäuser, auch in Maisonettebauweise, geplant. Für die Flachbauten mit bis zu fünf Geschossen wurden Maisonette- und Etagenwohnungen mit drei bis fünf Zimmern geplant.

32  Vgl. N.N.: Zentrum des Olympischen Dorfes. In: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. 57. 33  Vgl. Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 16.

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Abb. 95: Wohn- und Esszimer/Küche – Wohnung in einem Flachbau, Straßberger Straße

Quelle: Privatarchiv

Eingeschossige Gebäude entstanden nahe den Grünzonen als Atrium bzw. Bungalowtypen.34 Alle Wohnungen wurden mit dem Ziel entworfen Flexibilität im Wohnraum durch Leichtbauwände zu gewährleisten. Während der Planungsphase wurden viele Wohnungsentwürfe der Architekten von den Bauträgern umgestaltet, sodass freie Grundrissformen mit den Möglichkeiten der Nutzungsmischung/-überlagerung sowie Multifunktonalität nicht mehr wie geplant realisiert wurden.35 Grundlegender Entwurfsansatz war es, allen Wohnungen einen privaten Freiraum in Form von Balkonen, vorgelagerten Terrassen oder, auf der Ebene der fußläufigen Erschließung, in Form von Gärten zuzuordnen. Alle Gebäudetypen wurden in einem Raster von 3,90 bzw. 7,80 Metern entworfen. Die Wohnungen sind entsprechend von lang gestreckten Grundrissen geprägt. Aufgrund der großen Gebäudetiefe und des schmalen Grundrasters wurden viele Funktionsräume (Bad, Küche, Abstellräume) sowie die innere, private Erschließung der Maisonettewohnungen im mittleren Bereich der Wohnung verortet. Die Ausrichtung aller Wohnungen ist im Grunde Nord-Süd, sodass alle Balkone und privaten Freiräume sowie die dahinter angeordneten Aufenthaltsbereiche möglichst viel Sonne und natürlich Belichtung erhalten. Die Wohnungen, das wird am Wohnungsgrundriss der beispielhaft gewählten 4½-Zimmer-Wohnung deutlich, wurden so flexibel gestaltet, dass durch kleinere, nachträgliche Veränderungen Wohnungen zusammenzuschließen oder voneinander zu trennen sind. Mobile 34  Vgl. ebd., S. 16. 35  Vgl. Grundrissgegenüberstellung in: Ebd., S. 16.

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Trennwände in den Kinderzimmern ließen einen Zusammenschluss zweier Zimmer zu einem größeren Zimmer zu.36 Ziel der Planer war es nicht nur unterschiedliche Wohnungstypen für unterschiedliche familiäre Zusammenhänge zu realisieren, sondern auch die individuelle Wohnung so flexibel zu gestalten, dass die Grundrisse an im Laufe der Zeit veränderte Familienstrukturen angepasst werden können. Typisch für viele Wohnungsgrundrisse im Olympischen Dorf ist eine zentrale Küche, die oft als „Rundlauf“ im Mittelpunkt der Wohnung angeordnet ist. Eine Öffnung und Sichtbezüge von der Küche zum Wohnraum und/oder zum Essplatz wurden oft geplant. Geprägt sind alle Grundrisse von offenen Strukturen und fließenden Raumübergängen. Die Arbeitszimmer wurden zumeist in den Wohnraum mit Essplatz und angrenzendem Außenraum integriert.37 Die Erschließung der Wohnungen erfolgt in den Hochhäusern und Terrassenbauten über Treppenhäuser und Aufzüge, die pro Etage jeweils nur zwei bis drei Wohnungen erschließen. Damit verfolgten die Planer das Ziel, nachbarschaftliche und gemeinschaftliche Strukturen zu etablieren. Die Flachbauten werden durch schmale Wohnwege mit Aufweitungen und durch kleine Plätzen erschlossen, die von den „Nachbarn“ als Treffpunkte genutzt werden. Die öffentlichen Räume und die Nutzungsvielfalt Eine Forderung der Architekten Behnisch an die Gesamtsportanlage inklusive der Sportstätten im Olympiapark lässt sich auf die Planung des Olympischen Dorfes übertragen: „Die gedankliche Konzeption [...] hieß: „Olympiade im Grünen“ „Olympiade der kurzen Wege“ „Sport und Kunst“ oder: ungezwungen, jugendlich, heiter, vergänglich.“38

36  Vgl. 4 ½ Zimmer Wohnung Typ M5B in: Eigentumswohnungen im Olympischen Dorf, Käuferbroschüre. 37  Vgl. z. B. Typ 4E in: Eigentumswohnungen im Olympischen Dorf, Käuferbroschüre 38  Behnisch, Günter: Gesamtwerk Oberwiesenfeld. In: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. IX.

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Abb. 96: Blick auf eine Wohnstraße (kurz nach der Fertigstellung)

Quelle: Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 1

Die Fußgängerebene, und damit der öffentliche Bereich, gehen fließend in die angrenzenden Grünräume über. Übergeordnete Orientierungspunkte wie der Fernsehturm, das Zeltdach des Olympiastadions, die Hochschulsportanlage und die Pressestadt sind aus den unterschiedlichen Standpunkten innerhalb des Komplexes erlebbar, die räumliche Vertrautheit innerhalb des Olympischen Dorfes wird zusätzlich durch den besonderen Zuschnitt der Grünräume erzeugt. Weitere Vorteile sollen die Trennung der Fußgänger- und Pkw-Erschließung, die Aussicht in die Grünzonen und die Orientierung der Wohnungen vorzugsweise nach Süden bieten. Die terrassierten Gebäudetypen ermöglichen jeder Wohnung viel Sonne und Himmel, der Übergang der Freiräume in Privatgärten und „hängende Gärten“ der Terrassenbebauung schaffen durchgängige Grünzonen. Das „DriveIn“ Terrassenhaus fasst die Vorteile des nahe der Wohnung parkenden Autos mit einer autofreien Anlage zusammen.39 Die unterschiedlichen Grünräume wurden von den Landschaftsarchitekten Miller+Luz (München) erarbeitet. In den privaten Freiräumen bilden (Vor-) Gärten grüne Zonen vor den aufragenden Terrassenbauten und Reihenhäusern aus. Während auf den Fußgängerdecks zwischen diesen Gebäuden die Bepflanzung zum größten Teil durch „trogartige“ Pflanzflächen realisiert wurde, weisen die Wohnwege zwischen den flacheren Gebäuden mehr natürliche Begrünung auf. Die weitläufigen Grünflächen jeweils im Süden der einzelnen Wohnarme wurden dagegen als Landschaftsräume gestaltet und im Gegensatz zu privaten

39  Vgl. Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 10.

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Gärten oder kleinteiligen Bepflanzungen als großmaßstäbliches, parkähnliches Konzept angelegt. Entsprechend der Gesamtplanung, die in einem hohen Maß von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt wurde, wurde auch die Planung der Spielbereiche im Olympiadorf von Pädagogen unterstützt. „Das pädagogische Konzept sieht Spielräume vor, in denen differenzierte Lernerfahrungen spielerisch gewonnen werden können. Spielerisch heißt: der Lernende reguliert seine Erfahrungsprozesse nach eigener Zielsetzung (selbstbestimmt) und lustvoll (ohne fremdbestimmte Leistungsmotivation).“40 Diese Spielbereiche sind in die öffentlichen, verkehrsfreien Kommunikations- und Bewegungsflächen integriert und erlauben eine Durchmischung der Nutzungen. Die Erschließung des Großwohnkomplexes wurde unter anderem aufgrund der Verkehrssicherheit auf unterschiedlichen Ebenen geplant.41 Wie beschrieben erfolgt der Pkw-Verkehr unterhalb der Fußgängererschließungsebene und hält dort, jeweils in unmittelbarer Nähe zu den Hauseingängen, Parkmöglichkeiten für die Bewohner bereit. Die Fußgängerwege auf der darüber liegenden Ebene öffnen sich zum Grünraum und führen den Besucher über eine Erdwall am Wohnkomplex des Olympischen Dorfes vorbei zum Olympiapark. Zur Orientierung innerhalb des Olympischen Dorfes wurde ein eigenes Farbkonzept entwickelt, das sich in der Beschilderung auf beiden Ebenen der Verkehrsstraßen wiederfindet. Aus dem Spektrum des Farbkonzepts der Olympischen Spiele wurde jeweils eine Farbe für die einzelnen Wohnarme gewählt.42 Unterstützt wird das Orientierungssystem durch die „Media Linien“ von Hans Hollein. Fortlaufende, auf Stützen aufgeständerte Röhren markieren die öffentlichen Wege des Olympischen Dorfes. Jede Linie besitzt eine spezifische Farbe, markiert damit den jeweiligen Wohnarm und läuft im Zentrum des Komplexes zusammen. Die Media Linien hatten neben der Orientierung durch die Farbgebung das Ziel, flexibel nutzbare Stadtmöbel zu sein und durch unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten die Aufenthaltsdauer der Besucher und Bewohner im öffentlichen Raum zu erhöhen. So sah das Konzept Beleuchtung, Heizung, Verschattung, Kommunikation oder Wasserkunstwerke vor und tritt als raumbildendes Element auf. 40  Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1972, S. 26. 41  Vgl. Billinger + Partner: Verkehrsplanung. In: Olympia Baugesellschaft mbH (Hrsg.): Olympische Bauten München 1972. Stuttgart 1970, S. 54. 42  Vgl. dies und das Folgende: Heinle, Wischer und Partner (Hrsg.): Eine Stadt zum Leben. Freudenstadt 1980, S. 14.

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Im Olympischen Dorf wurde versucht, alle für einen eigenständigen Stadtteil notwendigen Versorgungseinrichtungen und Einrichtungen des öffentlichen Lebens zu realisieren. Im Zentrum befinden sich neben der Ladenstraße mit Selbstbedienungsläden, Apotheken, Banken, einem Postamt und Restaurants, die Schule des Stadtteils, ein Hotel, ein Ärztezentrum, ein Kirchenzentrum sowie ein Parkhaus mit angeschlossener Tankstelle. Das Olympische Dorf von 1972 bis 2012 Das „Olympische Dorf“ war nach Beendigung der Olympischen Spiele im Jahr 1972 durch einen hohen Wohnungsleerstand geprägt. Ein negatives Image der „Betonburgen“ und negativ formulierte Schlagzeilen über die „Geisterstadt“ oder „gigantische Fehlspekulationen“ führten zu einem anhaltenden Wohnungsleerstand. Diese Entwicklung war auch durch einen besonders hohen Zinssatz zu Beginn der 1970er Jahre geprägt, der den Erwerb der Eigentumswohnungen nicht nur im Olympischen Dorf erschwerte. Nachdem die Kaufpreise drastisch gesenkt worden waren und erste Bewohner positiv vom Wohnumfeld berichteten, wandelte sich das Bild in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig wurde das Wohngebiet im Jahr 1979 im „Museum of Modern Art“ in New York unter dem Ausstellungstitel „Transformations in Modern Architecture“ ausgestellt und erhielt dadurch in Fachkreisen eine positive Reputation. Wie die Zeitschrift „Der Spiegel“ 1982 rückblickend zusammenfasst, waren „Vandalismus von Fußballrowdys“, Nutzung der Tunnelstraßen als „Rennstrecken“ für Sportwagenliebhaber, die schlechte Orientierungsmöglichkeit für Ortsunkundige und die negativen Umwelteinflüsse durch umgebende Industrie Aspekte, die in den ersten Jahren ein negatives Image bei Außenstehenden verursachten und die Bewohner schließlich zum Handeln zwangen.43 Bedingt durch die Eigentumsverhältnisse konnten die ersten Bewohner diesen Umständen nicht entfliehen und organisierten sich zu der Einwohner-Interessen-Gemeinschaft, EIG, die seit Ende 1973 als Selbstverwaltung des Komplexes auftritt. Gleichzeitig ist bemerkenswert, dass in den ersten Jahren der Nutzung des Komplexes vielfach Bewohner des gehobenen Mittelstandes, junge Akademiker wie Architekten, Juristen und Lehrer, die das Projekt als erfolgsversprechend ansahen, einzogen.44 „Magnetgleich hat die Architektur eine ziemlich homogene Bewohnerschaft angezogen. Zu 70 Prozent sind es junge, vorwiegend höher geschulte Ehepaare mit noch bescheidenem Einkommen. Es überwiegen die Frauen mit 43  Vgl. Brügge, Peter: „So etwas wird keiner mehr bauen“. In: Der Spiegel 31 /1982, S. 143. 44  Vgl. Stefan Goedeckemeyer 2011.

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dem ausgesprochene Vorsatz, sich Mutterschaft, nicht aber die damit bislang verbundene Ablösung von beruflichen wie gesellschaftlichen Aktivitäten zu leisten.“45 Aus dieser homogene Bevölkerung und den daraus resultierenden engen Bekanntschaft heraus entwickelten sich gemeinschaftliche Freizeitaktivitäten kultureller und sportlicher Art, die das Gemeinschaftsgefühl unter den Bewohnern weiter stärkten. Zu Beginn der 1980er Jahre hatte das „Olympische Dorf“ damit einen hohen Wohnstandard erreicht. „Das einst am Markt vorbeigebaute Wohnviertel, als Betonburg und Geisterstadt verschmäht – jahrelang waren die Wohnungen nicht zu verkaufen – ist wie von selbst, so liest und hört man, zu einer menschenfreundlichen Oase geworden.“46 Im Jahr 1988 zeigt sich ein ähnlich positives Bild. Sechzehn Jahre nach Fertigstellung der letzten Bauabschnitte war das Gebiet großzügig von Bepflanzung eingewachsen. „Was in der ganzen Anlage unausweichlich ist, das ist der charakteristische Blick auf die nach oben nicht enden wollenden Fassadenflächen der Terrassenhochhäuser. In den Balkonkübeln üppig bepflanzt und in jeder Etage leicht zurückweichend vermitteln sie ein klein wenig mehr als die üblichen Hochhäuser ein Gefühl der Erdverbundenheit.“47 Zu diesem Zeitpunkt waren die gesamten Wohnungen des Komplexes verkauft und zumeist von den Eigentümern selbst bewohnt.48 Weitere acht Jahre später ist das Bild ähnlich positiv und die Aneignung der Bewohner vielerorts bemerkbar: „Abseits der gemeinschaftlichen Ordnung ist indessen erlaubt, was gefällt. Weil der alles bemäntelnde Beton hier auch alles so gleich macht, haben sich allerorten „Individualisten“ hervorgetan. Die Schlagbohrmaschine ist immer zu hören. So werden Trennwände verlegt und die Betonwaben zur Almhütte oder zum Bauhaus gestylt.“49 In den letzten Jahren sind die Schlagzeilen durch einen hohen Sanierungsbedarf und die Vertretung der eigenen Interessen der Bewohner bei der Stadt München geprägt. Ungeklärt blieb jahrelang, ob die Kosten für die Sanierung der öffentlichen Wege allein von den Bewohnern getragen werden müssten. Im Jahr 2003 wurde schließlich entschieden, dass 25 Prozent der Sanierungskosten von der Stadt München übernommen werden.50 Gleichzeitig wird durch die EIG daran gearbeitet, die kleinteiligen 45  Brügge, Peter: „So etwas wird keiner mehr bauen“. In: Der Spiegel 31 /1982, S. 144. 46  Petzold, Peter: 10 Jahre Olympisches Dorf. In: der Architekt, 3/1983, S. 151. 47  Buchholz, Sonja: Das nacholympische Dorf. In: db2/88, S. 80. 48  Vgl. ebd., S. 81. 49  Matzig, Gerhard: Das olympische Dorf in München. In: Bauwelt 1993, Heft 38, S. 2045. 50  Vgl. N.N.: Stadt hilft die Kosten der Sanierung schultern. In: Süddeutsche Zeitung, 04.11.2003.

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Läden in der Ladenzeile ständig zu vermieten und einen möglichst hohen Branchenmix zu erreichen. Eine Umgestaltung der Ladenpassage und eine Öffnung der Geschäfte zum öffentlichen Bereich werden derzeit geplant.51 Bezeichnend ist auch, dass sich die Bewohner im Jahr 2010 vehement gegen eine Namensänderung ihrer Siedlung in „ehemaliges Olympiadorf“ wehrten.52 Grundsätzlich sind heute wie bereits vor etwa 30 Jahren das Bewusstsein für die Verantwortlichkeit und die Selbstverwaltung der Bewohner hoch. Dies führt zu einem hohen Aneignungsgrad und einer Identifikation mit der baulichen Umgebung. Zwei Internetseiten zeugen von dem Interesse der Bewohner und Besucher am Quartier.53 Entwurfsmerkmale Aus den bisherigen Erkenntnissen über den Großwohnkomplex Olympisches Dorf werden nun im Folgenden die architektonischen und städtebaulichen Merkmale stichpunktartig zusammengefasst um im Anschluss, nach einer Überlagerung dieser Aspekte mit Beobachtungen vor Ort, die charakteristischen Qualitäten des Olympischen Dorfes zu erarbeiten. Merkmal A – städtebauliche Geste der Abgeschlossenheit gegenüber der Stadt/dem Verkehrslärm und das Öffnen zum Grünraum. Prägend für den Großwohnkomplex Olympisches Dorf sind die an der Umgebung orientierte Geschlossenheit bzw. Öffnung der Bebauungsstruktur. Merkmal B – Verzahnung der Grünräume mit der Bebauungsstruktur/vertikale Gärten Die Grünzonen des Olympischen Dorfes ziehen sich aus den angrenzenden Sportanlagen des Olympiaparks und des Hochschulsportzentrums in den Wohnkomplex hinein und verzahnen sich mit den drei Wohnarmen der Komplexbebauung. Durch die privaten Gärten der Flachbauten sowie durch die Balkon- und Terrassenbegrünungen überlagert sich der Grünraum mit den urbanen Wohngebäuden. Merkmal C – Trennung der Verkehrswege/lineares Erschließungssystem Die vertikale Trennung der Verkehrswege ist einer der grundlegenden Merkmale des Großwohnkomplexes. Diese Trennung führt zu ruhigen Wohnstraßen mit 51  Vgl. Feese-Zolonitski, Manuela 2011. 52  Vgl. N.N.: Olympiadörfler sind keine Ehemaligen. In: Süddeutsche Zeitung, 26.06.2010/N.N.: Olympiadorf bleibt Olympiadorf. In: Süddeutsche Zeitung, 27.10.09 53  Vgl. http://www.olympiadorf.de/, http://www.eig-olympiadorf.de/, http://www.kulturforum2.de/.

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hoher Kommunikationsdichte und ungefährdeten Spielmöglichkeiten für Kinder in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wohnung. Das lineare Erschließungssystem schafft Durchgangsstraßen im Untergeschoss und prägt die Linearität der Gesamtstruktur des Komplexes. Merkmal D – Nutzungsmischung (Hotel, Läden, Wohnen, Arbeiten, Verkehr, Erholen) Im Zentrum des Olympischen Dorfes wurde ein hoher Grad an Nutzungsmischung durch die Planung einer Ladenzone und die Planung von Büroräumen und Arztpraxen vorgegeben. Zusätzlich wurden dort Restaurants und ein Hotel realisiert. Gleichzeitig wurden Schulen, Kindergärten und ein Kirchenzentrum geplant, die sich an die Wohnarme angliedern und eine Nutzungsüberlagerung der öffentlichen Räume schaffen. Merkmal E – Leitsystem und Farbigkeit Das übergeordnete Orientierungssystem besteht aus einem städtischen Kunstwerk, den Media Linien von Hans Hollein. Diese zeigen die Wege in die drei Wohnarme auf, wobei jedem Wohnarm eine eigene Farbreihe zugeordnet ist. Diese Farbigkeit setzt sich jeweils in den Fassadenelementen der Flachbebauungstypen fort. Merkmal F – Gebäudetypen: Hochhaus, Terrassenhaus, Zeilenhaus, Reihenhaus, Bungalow Der Großwohnkomplex Olympisches Dorf besteht aus unterschiedlichen Gebäudetypologien, die sich vom etwa zehngeschossigen Terrassenhaustyp über dreibis viergeschossige Zeilenbauten mit Terrassenstrukturen und zwei- bis dreigeschossige Reihenhäuser zu einer Bungalowbebauung, angrenzend an die Grünzonen, erstreckt. Merkmal G – Wohnungsgrundrisse für unterschiedliche Lebenssituationen (Singles, Familien, Ältere) Die Vielfalt der Wohnungsgrundrisse zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit der zukünftigen, nacholympischen Nutzung des Wohnkomplexes. Ziel war es, einen möglichst hohen Grad an sozialer Mischung zu ermöglichen. Die Flexibilität der Wohnungsgrundrisse wurde durch ein Rastersystem der Tragstruktur realisiert, sodass die Wohnungen jeweils den spezifischen Bedürfnissen angepasst werden können.

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Teil B: Vor-Ort-Analyse Das Olympische Dorf, ein „Dorf“? Nähert man sich den Gebäudestrukturen des Großwohnkomplexes von außen, mit dem Pkw von der Moosacher oder Lerchenauer Straße, ermöglicht die dichte Begrünung zwischen Straße und Komplexbebauung nur kurze Einblicke auf die rückwärtigen, steil aufragenden Fassaden der Terrassenbauten. Das Zentrum des Komplexes wird dagegen durch frei stehende Hochhäuser markiert und weist vorgelagert ein Parkhaus und eine Tankstelle auf. Die Hochhäuser des Zentrums erscheinen abweisend und schützen das Innere des Komplexes vor dem Verkehrslärm der Hauptstraßen. Von der U-Bahnstation, ebenfalls in der Nähe des Zentrums positioniert, führt der Weg über eine Rampe zwischen den Hochhäusern hinauf. Ein schmaler Schlitz zwischen dem Studentenhochhaus auf der einen und dem Verwaltungsgebäude auf der anderen Seite präsentiert sich als Eingang zum Olympischen Dorf. Die Rampe, die im Kontext der umgebenden Bebauung schmal wirkt und durch die festen Brüstungselemente den Blick zum Eingang des Zentrums fokussiert, führt den Besucher hinauf bis in die Ladenpassage des Olympischen Dorfes. Am Ende dieser überdachten Passage öffnet sich der Raum und die Hochhäuser des „Helene Meyer Ring“ bilden eine städtische, dichte Kulisse. Der zentrale Platz ist durch eingeschossige Ladenbauten dreiseitig gefasst. Erst in einem Abstand entwickeln die Hochhäuser ihre gesamte Höhe und bilden damit einen zurückweichenden Hintergrund. Der sich nach Westen in den Grünraum öffnende Platz wird durch die Röhren der Media Linien bestimmt, die den Platz überspannen und dem Raum eine den Proportionen angemessene Höhe geben. Die Dichte und Anordnung der Röhren schafft eine angenehme Atmosphäre und scheint beobachtende Blicke abzuschirmen. Nach Westen öffnet sich dieser Raum zum Forum mit angeordneten Sitztribünen, die den Höhenunterschied zum Grünraum überwinden. In Nord-Süd-Richtung wird der Platz durch den Bewegungsraum von Fußgängern und Radfahrern durchschnitten, der sich in die Ladenpassagen nach Osten verzweigt. Zufällige Begegnungen häufen sich an diesem kommunikativen Ort, vereinzelt stehen Gruppen und unterhalten sich kurzzeitig. Der Platz wird insbesondere durch die Kreuzungspunkte dieser Bewegungsräume als Zentrum erlebbar. Alle Wege durch das Olympische Dorf treffen hier aufeinander. Durchquert man die Ladenpassage nach Norden eröffnet sich ein weiterer städtischer Raum. Einseitig von Läden am Fuße des 17-geschossigen Hochhauses gesäumt, öffnet sich der Raum über das eingeschossige Kirchenzentrum gegenüber dem Hochhaus und gibt den Blick auf die Terrassenbauten der Wohnarme frei. Auch hier bildet das Röhren-

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Abb. 97: Blick auf die Rückseiten der Terrassenhäuser von der Moosacher Str. Abb. 98: Das Zentrum des Olympischen Dorfes von der Lerchenauer Str. Abb. 99: Das Ladenzentrum Abb. 100: Das Zentrum Abb. 101: Wohnarm – Nadistr. Abb. 102: Helene-Mayer-Ring vor dem Kirchenzentrum Abb. 103: Wohnarm – Straßberger Str. Abb. 104: Spielbereich – Connolystr. Abb. 105: „Flachbereich“ – Nadistr. Abb. 106: Privatgärten – Nadistr.

Quelle: Privatarchiv

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system eine menschliche Maßstäblichkeit im Gegensatz zu den umliegenden Wohnhochhäusern und Terrassenbauten. Von diesem Platz entwickeln sich zwei mäandernde Wohnarme, die in ihrer Linearität durch die Media Linien unterstützt werden. Der Betrachter beginnt die Zusammenhänge zu erkennen. Die Farbigkeit der Beschilderung korrespondiert mit den Media Linien, das Leitsystem wirkt hier präsenter als auf den Hauptplätzen, wo alle Linien zusammentreffen. Folgt man einem Wohnarm überrascht den Betrachter die Komplexität der Gestaltung, die kurz nach Eintritt beginnt. Höhenversprünge, durch Treppenstufen und Rampen begehbar und durch Pflanztröge eingefasst sowie unterschiedliche Bodenbelagsmaterialien, die die Zonen ab- und eingrenzen und auf die Höhenversprünge aufmerksam machen bieten dem Besucher/Bewohner ein vielfältiges Bild. Einen kontinuierlichen Rahmen für diese Komplexität der Gestaltung in den fußläufig erschließbaren Bereichen bilden die Wohngebäude: Einseitig erhebt sich das zehn- bis zwölfgeschossige Terrassenhaus, auf der anderen Seite schließt ein zwei- bis dreigeschossiger Zeilenbau den Raum. Den Maßstab niedriger, maximal zweigeschossiger Bebauung behält die Wohnstraße durch die vorgelagerten privaten Gärten und den dadurch entstehenden Rücksprung der Terrassenbauten um etwa zehn Meter. Die hohen Terrassengebäude geben den mäandernden Wohnarmen die Richtung vor, sie sind nicht hintereinander aufgereiht, sondern öffnen und schließen sich in unterschiedlichen Winkeln zueinander. Dabei entstehen wie selbstverständlich jeweils an den Stoßpunkten der Gebäude Aufweitungen im Fußgängerraum, die Kommunikationszonen eröffnen: kleine Spielorte für Kinder, Sitzplätze oder niedrige Gebäude mit Gemeinschaftseinrichtungen wie Schwimmbäder wurde dort geplant. Trotz des hohen Grads an gestalteten Außenräumen in den Wohnarmen sind nur wenige Nutzungen vorgeschrieben, einige Nutzungen überlagern sich, andere Orte können täglich neu bespielt werden. Die individuelle Selbstentfaltung wird durch das Angebot von Möglichkeitsräumen gefördert. Die niedrige Bebauung der westlich angeordneten Zeilengebäude und Reihenhäuser folgt den Richtungen der Terrassenbauten und formt damit die Wohnstraße in ihrer Linearität. Je weiter man sich vom Zentrum entfernt, desto natürlicher, privater und durchgrünter erscheint der Weg. Diese Privatheit verstärkt sich, sobald man den Wohnarm verlässt und zwischen den Zeilenbauten in Gassen abbiegt, die in die Flachbebauungszone und den Grünraum führen. Privat anmutende, dichte und stark durchgrünte Räume eröffnen sich hier dem Betrachter und Einblicke in die halböffentlichen Bereiche der Bewohner werden möglich. Das lineare System der Wohnarme scheint hier nicht mehr zu existieren, man befindet sich eher in dichten Wohnclustern aus Bungalowbebauung, zwei-

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Abb. 107: Schemazeichnung

Quelle: Privatarchiv

Abb. 108: Raumnutzungsanalyse – „Momentaufnahme“ im Zentrum 28.05.2011 10:30Uhr

Quelle: Privatarchiv

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„Momentaufnahme“ im Zentrum des Olympischen Dorfes, Mai 2011 Der Platz im südlichen Teil des Zentrums besitzt eine Verteilerfunktion im Wegenetz des Olympischen Dorfes. Die Haltestelle des ÖPNV liegt in unmittelbarer Nähe und eine Rampe sowie eine Ladenzeile führen den Besucher und Bewohner in das Zentrum. Der dreiseitig geschlossene Platz öffnet sich über ein „Forum“ zum Grünraum. Hier können kleinere Veranstaltungen stattfinden wobei die Treppen nicht nur bei diesen Veranstaltungen als Sitzgelegenheiten genutzt werden. Aus dem Zentrum entwickeln sich weitere Wege Richtung Norden und Süden. Im Norden gelangt man über eine Ladenstraße auf den zweiten Platz des Zentrums, der später in die Nadi- und Straßbergerstraße mündet; Richtung Süden öffnet sich der Weg entlang eines Restaurants mit Außenterrasse in Richtung Collonystraße. Durch diese Wegebeziehungen ist das Zentrum des Olympischen Dorfes von einem relativ hohen Anteil an fußläufigem Verkehr und von Radfahrern geprägt und kann als „Durchgangsraum“ angesehen werden. Aus diesen Bewegungsabläufen resultieren gleichzeitig zufällige Begegnungen. Kurze und informelle Treffen finden damit zum einen auf Grund der Zentralität und Nutzungsdichte (Bäcker, Sparkasse, Immobilienmakler, Copyshop, Supermarkt etc.) statt, zum anderen durch Aufenthaltsmöglichkeiten auf den Stufen des Forums, sowie durch temporäre Außenbestuhlungen vor der Bäckerei/Café und dem Restaurant. Der Platz wird durch eine Verdichtung der Media Linien geprägt, die den Raum fassen. Abb. 109: Zentrum

Quelle: Privatarchiv

Abb. 110: Anzahl der Personen und ihre Aktivität im Rahmen der „Momentaufnahme“.

Quelle: Privatarchiv

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geschossigen Reihenhäusern oder den rückwärtigen Gärten der niedrigen, zweibis dreigeschossigen Terrassenhausbauten. Die Gärten der Flachbebauung gehen fließend in den öffentlichen Grünraum über, die sich jeweils zwischen den Wohnarmen aufspannen. Ein wiederkehrendes Muster in den Wohnarmen und den Flachbaubereichen bildet die Materialität und das Farbkonzept. In den Wohnarmen prägt neben den weiß gestrichenen Sichtbetonwänden das Rot und Gelb der gepflasterten Wege und das Grün der Bepflanzung den Blick des Betrachters. Die Linearität der Fassadenstruktur der Terrassenbauten wird durch die dichte Begrünung der vorgelagerten Pflanztröge gebrochen. Deutlich erkennbar ist gleichzeitig die Wabenstruktur der tragenden Bauteile, die die einzelnen Wohnungen von der benachbarten trennen. Daraus entstehen gerichtete und störungsfreie Sichtfelder aus jeder Wohnung in den Grünraum, Einblicke von benachbarten Balkonen oder Terrassen sind durch diese Struktur nicht möglich. Die Flachbauzonen sind weniger städtisch und in einem noch höheren Maße von natürlichen Materialien geprägt. Hier kehrt die spezifische Farbigkeit des Wohnarmes in den Rahmen der Fenstern und Türen sowie in Fassadenelementen der niedrigen Bebauung wieder. Die vertikale Erschließung der Terrassenhäuser erfolgt über ein Treppenhaus mit Aufzug, an welches in jedem Geschoss drei bis vier Wohnungen angegliedert sind. Die halböffentlichen Flure auf den Geschossen sind mit einem Fenster natürlich belichtet. Je nach Länge des zusammenhängenden Terrassenhauses besitzt das Gebäude damit zwei bis vier Zugänge, die eine überschaubare Anzahl an Wohneinheiten erschließen und einem Gefühl der Anonymität entgegenwirken. Die Hochhäuser des Zentrums werden analog und je nach Größe durch zwei bis vier Hauseingänge erschlossen, die auf der Fußgängerebene in die Ladenstraße und auf die zentralen Plätze münden. Öffentlichkeit Die relativ kleinen Wohnungen in den Terrassenhäusern und in den Flachbauzonen bedingen ein hohes Maß an Nutzung der Außenbereiche im täglichen Leben. Spielbereiche aber auch gestaltete Sitzgruppen in unmittelbarer Umgebung der Wohnung fördern den Aufenthalt im Außenraum, private Tische und Bänke zeugen darüber hinaus von der Aneignung dieser öffentlichen Räume. Die Küchen und Esszimmer der Zeilenbauten sind zum öffentlichen Weg ausgerichtet, sodass eine ständige Interaktion zwischen dem privaten Raum und der Öffentlichkeit stattfindet. Die kurzen Wege zum Ladenzentrum, den Schulen, Kindergärten und zu kulturellen Angeboten fördern darüber hinaus den Fußgänger- und Radfahrerverkehr innerhalb des Komplexes und damit die Kommunikation.

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Häufig treffen Bekannte spontan aufeinander, unterhalten sich kurz oder setzen ihren Weg gemeinsam fort. Die Wohnarme und das Zentrum des Dorfes sind barrierefrei gebaut, sodass die Selbständigkeit von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen gefördert wird. Auffällig viele Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen bewegen sich in den öffentlichen Zonen und nutzen die Kommunikationsund Aufenthaltsbereiche. Das Zentrum wurde als Ort der höchsten Öffentlichkeit geplant und wurde zu diesem Zweck im Entwurfsprozess als ein urbaner, städtischer Raum entworfen. Die Bewegungsräume des Olympischen Dorfes und die Zuwegung zum Stadtraum und zur U-Bahn treffen hier aufeinander. Die Öffentlichkeit dieses Ortes wird durch die unterschiedlichen Einkaufsmöglichkeiten und Restaurants, Cafés oder Imbisse erzeugt. In den ersten Jahren nach Fertigstellung des Großwohnkomplexes bildeten mobile Bänke variable Aufenthaltsmöglichkeiten. Heute ist jedoch die Tendenz erfahrbar, dass die Potenziale des Raums nicht ausgeschöpft werden. Monika Mühlenbeck-Krausen, Interviewpartnerin im Rahmen der vorOrt-Analyse, berichtet darüber, dass sich die Anwohner durch den Aufenthalt unterschiedlichster Menschen auf dem Platz gestört fühlen und versuchen z. B. durch das Untersagen von Außenbestuhlung an den Restaurants längere Aufenthalte zu vermeiden. Es besteht außerdem die Angst, dass sich ein attraktives Zentrum zum Anziehungspunkt für Menschen aus anderen Stadtteilen entwickelt, was im Hinblick auf die Verursachung von Lärm und Müll abgelehnt wird. Ein vielschichtiger, urbaner Ort könne dadurch heute nicht entstehen.54 Bei oberflächlicher Betrachtung werden dem Besucher des Olympischen Dorfes die im Entwurfsprozess theoretisch entwickelten Parameter nicht immer klar. Die spezifische Gestaltung der Grünräume nach Themengruppen wie dem „Bewegungsraum“ mit unterschiedlichen Spielmöglichkeiten für Kinder und dem „Wasserraum“ mit Brunnen, Bächen und einem See fördern jedoch trotzdem, ebenso wie das strenge Farbkonzept, das intuitive Verständnis der Räume und damit Orientierung und Aneignung durch die Bewohner und Besucher. Stadt und Natur Trotz der dichten Bebauung bilden sich im Olympischen Dorf unterschiedliche Zonen aus, die sich in Abstufungen vom öffentlichen zum privaten Raum entwickeln. Die Grünzonen spielen dabei eine übergeordnete Rolle und besitzen einen hohen gestalterischen Anteil: In den Wohnbereichen, den Wohnarmen, finden

54  Vgl. Mühlenbeck-Krausen, Monika 2011.

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Abb. 111: Nadisee zwischen Nadistraße und Connolystraße

Quelle: Privatarchiv

sich großzügig gestaltete Grünflächen, private Gärten sowie Terrassen und Balkone. Das öffentliche Zentrum dagegen wird durch Hochhäuser ohne vertikale Grünräume geprägt. Auch in unmittelbarer Nähe des Zentrums befindet sich eher städtisches Grün. Trotz der hohen Durchmischung der Funktionen entsteht über den Einsatz der Bepflanzung eine sinnlich erfahrbare Änderung zwischen Stadt (dem Zentrum, Öffentlichkeit) und Wohnen (Ruhe, Grünraum, Privatheit) Die Kommunikation, sowohl in den Wohnarmen als auch im Zentrum, wird durch eine klare Zuordnung der Bewegungsräume erzeugt. Es gibt nur wenige Hauptwege, die von allen Bewohner genutzt werden. Die Wohnarme mit ihren städtisch gestalteten Räumen bilden dabei den schnellsten Weg zum Zentrum und von da aus zum öffentlichen Nahverkehr. Die Grünzüge mit ihren freien Formen, Bepflanzungsflächen und dem differenzierten Wegesystem sowie schmalen Pfaden laden dagegen eher zum Verweilen und Spazierengehen ein und öffnen sich zu den weiten Grünflächen des Olympiageländes. Die Schulen und Kindergärten befinden sich jeweils am Ende der Grünräume, nahe dem Zentrum, und erinnern durch ihre Einbettung an die Idee der funktional gegliederten Stadt. Einer der zwei Grünräume ist durch das Kirchenzentrum und den Kindergarten vom Zentrum abgegrenzt, der andere erstreckt sich bis an das Zentrum heran und stellt so eine parkähnliche Verbindung her. Dieser Grünraum, der „Wasserraum“, erscheint städtischer, besitzt gestaltete Wasserbecken und Brunnen, die später in angelegten Bachläufen und einem künstlichen See münden, der durch seine Formen Natürlichkeit suggeriert. Wie in den Wohnarmen erlebt man hier einen schrittweisen Wandel vom städtischen Raum zum Naturraum. Unterschiedliche Gebäudetypologien im Schatten der Terrassenhäuser eröffnen durch die Fassadengestaltung und die Höhenentwicklung immer neue Raumerfahrungen.

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Während der Bewegung in den Grünzonen des Komplexes eröffnen sich zwischen den Bäumen immer wieder Ausblicke auf die umgebende Bebauung. Durch die Weite des Raums dominieren die Hochhäuser nicht den Blick, sondern bilden eher einen schützenden Hintergrund für den gestalteten Freiraum. Raumfolgen: Öffentlichkeit und Privatheit Das Olympische Dorf zeichnet sich durch markant gestaltete Raumsequenzen und Abfolgen im gemeinschaftlichen Außenraum aus. Die fußläufigen Wege im Komplex sind klar hierarchisch gegliedert: vom städtischen Zentrum führt der Weg über „halböffentliche“ Wohnwege zu „privat“ anmutenden Nachbarschaftszonen. Aufweitungen in der linearen Wegestruktur bilden unterschiedliche Räume aus, wobei Dichte und Weite in einem ständigen Wechsel zueinander stehen. Öffentlichkeit und Privatheit scheinen sich in diesen Wohnwegen zu überlagern. Ein wichtiger Aspekt in der Bewertung der gemeinschaftlichen Außenräume ist die Orientierung der Wohnungen in das Innere des Komplexes. Visuelle Kontakte und kommunikative Beziehungen werden durch diese Orientierung gefördert. Die Erschließung über einzelne Treppentürme führt zu kleinteiligen Nachbarschaftsstrukturen auf den Etagen. Dreidimensionalität der Räume Der Großwohnkomplex Olympisches Dorf besitzt unterschiedliche öffentliche Freiräume, deren Charakter maßgeblich durch die dreidimensionale Gestaltung geprägt wird. Während das Zentrum des Komplexes, flankiert von eingeschossigen Läden, durch ein dichtes Netz der Media-Linien in der Höhe visuell beschränkt ist, empfindet der Besucher beim Eintreten in die Ladenpassage die vorhandene Deckenhöhe trotz Oberlichtern gering und drückend. Dahinter öffnet sich ein weiterer zentraler Platz, der wiederum durch die steil aufragenden Fassaden der Hochhäuser geprägt ist. Hier löst sich das Netz der Media-Linien bereits auf und lässt den Platz offener wirken. Es entsteht ein deutlicher Kontrast zwischen dieser offenen Platzgestaltung und der beschriebenen Ladenpassage. Die von diesem Zentrum abgehenden Wohnarme entwickeln sich in ihrem Verlauf von städtisch geprägten Räumen zu privat anmutenden und stark durchgrünten Wohnwegen. Diese Wohnarme sind geprägt vom linearen Verlauf der aneinandergereihten Terrassenhäuser, die trotz hoher räumlicher Dichte im Erdgeschossbereich offene und nur gering verschattete Plätze durch Aufweitungen der Wege bilden. Diese, auch unter dem Aspekt „Raumfolgen“ beschriebenen Aufweitungen im Wegesystem werden durch zurückspringende Fassaden (Terrassenhäuser) und Höhenversprünge innerhalb des Platzes, die die angrenzenden Gebäude niedriger erscheinen lassen, in ihrer Dreidimensionalität unterstrichen.

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Der Unterschied zwischen den öffentlichen Plätzen des Zentrums und den privat anmutenden Plätzen der Wohnwege verdeutlicht die klare Hierarchie in den Freiflächen des Olympischen Dorfes. Dabei spielt auch die Höhenentwicklung der angrenzenden Bebauung eine übergeordnete Rolle. Während das öffentliche Zentrum schon in der Fernwirkung durch die etwa 20-geschossigen Hochhäuser klar im Stadtraum hervortritt, sind die Wohnwege neben den Terrassenhäusern von zwei- bis dreigeschossigen Zeilenbauten flankiert. Die den Grünzonen angegliederte eingeschossige Bungalowbebauung erreicht dabei das höchste Maß an Privatheit obwohl man sich rein formal weiterhin im öffentlichen Raum befindet. Die Bewohner sprechen von ihrem „Dorf“ Soziale Kontakte im Wohnquartier entstehen zum größten Teil durch die gemeinschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen wie das Kirchen- und Kulturzentrum, Schulen oder Kindergärten. Außerdem besteht ein hohes Engagement im Bereich der Verwaltung des Olympischen Dorfes, der Olympiadorf-Betrieb Beteiligungsgesellschaft mbH&Co. Wartungs KG, kurz OBDG, oder der Einwohner-Interessen-Gemeinschaft Olympisches Dorf e.V. (EIG). Diese Verbundenheit mit dem Quartier wird durch die klare bauliche Abgrenzung des Gebietes von seiner Umgebung gefördert, sodass ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht. Gleichzeitig ist das Engagement durch die überdurchschnittlich hohe Dichte an Eigentumswohnungen sehr hoch. „Die Sozialstruktur die sich entwickelt hat, hat ganz stark damit zu tun, dass es Eigentum ist [...] Das Eigentum bedeutet auch, dass sich die Leute die hier wohnen darum kümmern und sich in den Hausverwaltungen engagieren [...] Und das führt zu einem anderen Zustand, einem anderen Aussehen.“55 Hinzu kommt eine relativ homogene Bewohnerstruktur, die soziale Kontakte fördert. Barbara Wohn, Bewohnerin des Olympischen Dorfes, beschreibt ihre Erfahrung: „Ich bin früher nie davon ausgegangen, dass ich da, wo ich wohne, auch meinen Freundeskreis haben werde. Aber irgendwie verlagert sich das alles immer mehr hierher. [...] Diese Baustruktur provoziert es, dass etwas ähnlich denkende Menschen hier wohnen, [...] dass sie die gleichen Prioritäten haben. Es wohnt zum Beispiel niemand hier, dem es wichtig ist zu zeigen, mit welchem Auto er morgens aus der Garage fährt. Das sieht hier kein Mensch.“56 Stefan Goedeckemeyer, ebenfalls Bewohner des Olympischen Dorfes, ergänzt: „Diese Sozialstruktur ist einem Dorf viel näher und es ist viel vernetzter als das, was 55  Barbara Wohn 2011. 56  Barbara Wohn 2011.

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man immer sagt: die anonyme Großstadt. Das ist das, was ich hier überhaupt nicht finden kann.“57 Heute ist die Bewohnerstruktur insbesondere in den Flachbauten von Ehepaaren geprägt, die nach der Fertigstellung in den 1970er Jahren mit ihren Familien einzogen. „Wir haben die Freiflächen gesehen und wir ahnten, dass das für die Kinder eine prima Geschichte sein muss. Auch wegen der Autofreiheit. Im Übrigen auch für uns, die Nähe der U-Bahn. [...] Und das traf damals, und trifft ja wohl auch heute, eine bestimmte Denkweise bei Leuten, die hierher ziehen. Und als wir damals eingezogen sind und beobachteten, wer noch so alles zuzieht: Das waren zuerst einmal sehr viele Architekten und fast immer junge Akademiker. Ehepaare mit Kindern.“58 In den letzten Jahren ist sogar die Tendenz erkennbar, dass die Kinder dieser Familien nun mit eigenen Familien zurück in das Olympische Dorf ziehen, um die positiven Erfahrungen ihrer Kindheit an die eigene Familie weiterzugeben.59 Die Bauweise des Olympischen Dorfes ermöglicht auf der anderen Seite aber auch eine zurückgezogene Lebensweise. Die Privatheit der Wohnungen, insbesondere in den Terrassengebäuden, ist auch im privaten Außenbereich, auf den Terrassen gegeben. Darüber hinaus ist die Gesamtstruktur des Komplexes so groß, dass kein Nachbarschaftsdruck entsteht. „Ich kenne nur eine Familie, die hier weggezogen ist, weil sie anders wohnen wollten. [...] Es ist doch erstaunlich, wie lange die Leute hier wohnen und wie sehr sie sich mit dem Olympischen Dorf identifizieren.“60 Es kann die These aufgestellt werden, dass dieser hohe Grad an Identifikation aus der aktiven Entscheidung, im Olympiadorf zu wohnen herrührt. Die neuartige und noch heute fremde Architektur führt zu einer Bewohnerstruktur, die die Qualitäten des Komplexes trotz einer abwehrenden Meinung vieler Außenstehender für sich entdecken und schätzen. Insbesondere in den ersten Jahren nach der Fertigstellung war das Olympiadorf von großem Wohnungsleerstand betroffen. Zeitungsberichte über die „Geisterstadt“ und „Betonburg“ schufen ein schlechtes Image in der Öffentlichkeit. „Das Olympiadorf ist über Jahre hinweg negativ, wenn überhaupt dann negativ, zerrissen worden.“61 Dadurch bestand insbesondere in

57  Stefan Goedeckemeyer 2011. 58  Stefan Goedeckemeyer 2011 . 59  Vgl. Barbara Wohn 2011. 60  Barbara Wohn 2011. 61  Stefan Goedeckemeyer 2011.

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dieser Zeit die Pionierarbeit auch darin, Trotz zu entwickeln, IdentifizierungsNeurosen zu produzieren: „Ich bin hier und ich bin gern hier!“62 Die Gemeinschaftlichkeit und die Förderung sozialer Kontakte in direkter Nachbarschaft wird auch in der Gestaltung der privaten Gärten deutlich: Die Gärten der Reihenhäuser waren in den Planungen der Architekten untereinander verbunden und bildeten damit eine großzügige, durchgängige Grünfläche. Diese Überlagerung der Nutzung unterschiedlicher Eigentümer verringerte nicht nur den Freiflächenbedarf und ermöglicht eine hohe Dichte im Quartier, sondern förderte auch die Beziehungen der Nachbarn untereinander. Es ist vor Ort jedoch festzustellen, dass diese rückwärtigen Gärten heute oft zugepflanzt und in schmale, private Parzellen abgeteilt wurden. Im Zusammenhang mit der Identifikation der Bewohner mit der Bebauungsstruktur des Olympischen Dorfes ist Eigentum, das wurde bei vielen Gesprächen deutlich, der entscheidende Faktor. Zusammenfassend kann jedoch angenommen werden, dass die grundlegend hohe Qualität in der Gestaltung eine Aneignung ebenso forciert. Barbara Wohn erläutert ergänzend, dass im Olympischen Dorf herauszuheben ist, dass alles, was so ein Wohngebiet ausmacht, gut durchdacht ist. „Das ist die Hauptqualität des Olympiadorfes, es fehlt an keinem entscheidenden Parameter.“63 Im folgenden Kapitel „Ergebnisgenerierung“ werden die Erkenntnisse der Fallanalyse zusammengetragen. Dabei werden in einem ersten Schritt die Entwurfsmerkmale, die in Folge der Literaturrecherche erkannt und im Rahmen der Vor-Ort-Analyse überprüft wurden, dargestellt und erläutert. In einem zweiten Schritt werden im Anschluss die zu Beginn dieses Kapitels herausgearbeiteten, allgemeinen formulierten forschungsleitenden Thesen anhand der Erkenntnisse des Fallbeispiels Olympisches Dorf verifiziert oder falsifiziert. Abschließend werden die fallspezifischen Qualitäten des Olympischen Dorfes zusammenfassend aufgezeigt.

62  Vgl. Stefan Goedeckemeyer 2011. 63  Barbara Wohn 2011.

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Ergebnisgenerierung Interpretation und Bewertung der Entwurfsmerkmale Merkmal A – städtebauliche Geste der Abgeschlossenheit gegenüber der Stadt/dem Verkehrslärm und das Öffnen zum Grünraum Die Einordnung von Großwohnkomplexen in den Stadtraum ist ein entscheidendes Kriterium für die Bewertung der Bebauungsstruktur. Das Olympische Dorf grenzt sich stark von der städtischen Umgebung ab, heute verdecken dicht begrünte Erdwälle die Rückseiten der Terrassenbauten. Die Wohnarme des Olympischen Dorfes werden dadurch vom Verkehrsraum der Moosacher und Lerchenauer Straße kaum wahrgenommen. Diese mangelnde optische Verzahnung mit dem Stadtraum ist durch den städtischen Kontext erklärbar und eröffnet durch die Abkehr vom Verkehrslärm dem Inneren des Komplexes Ruhe und geringere Emissionswerte. Das Zentrum des Komplexes präsentiert sich dagegen durch freistehende Hochhäuser präsenter als die Wohnarme und setzt ein städtebauliches Merkzeichen. Große Parkflächen und eine Tankstelle prägen den Charakter eines städtischen Zwischenraums und lassen ein urbanes Wohngebiet in unmittelbarer Nähe nicht erwarten. Eine fußläufige Erschließung, zum Beispiel vom U-Bahnhof Olympiazentrum, wird durch die Blickbezüge zum Eingang des Komplexes bestimmt. Das Ankommen mit dem eigenen Pkw eröffnet eine grundlegend andere Erfahrung des Ortes. In das überbaute Straßensystem einfahrend, verästelt sich die Straße zu den drei Wohnarmen. Ein Bezug zur Bebauung wird kaum hergestellt. Ausschließlich am Leitsystem erkennt man den gewünschten Ankunftsort. Diese Zuwegung erscheint für Besucher wenig attraktiv, eröffnet dem Nutzer und Bewohner jedoch die Möglichkeit, bis an die eigene Wohnung heranzufahren und die Wohnung trockenen Fußes über Aufzüge zu erreichen. Der Großwohnkomplex öffnet sich zum Grünraum und stellt eine Verzahnung zum Naturraum her. Für Freizeitaktivitäten und die Erschließung des Komplexes aus dieser Richtung sowie aus städtebaulicher Sicht begründet dieser Aspekt eine hohe Qualität, die von den Bewohnern oft benannt wird. Dieses Entwurfsmerkmal kann in der Analyse vor Ort demnach ambivalent bewertet werden. Im spezifischen Kontext des Oberwiesenfelds ist die Abkehr vom Straßenlärm eine positiv zu bewertende Entscheidung. Die dadurch entstehende, mangelnde Verzahnung mit dem Stadtraum wird in diesem Fall durch eine gute Anbindung an das öffentliche Nahverkehrssystem kompensiert. Die Öffnung zum Grünraum wird als Qualität bewertet.

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Merkmal B – Verzahnung der Grünräume mit der Bebauungsstruktur/vertikale Gärten Die dichte Begrünung auf unterschiedlichen Maßstabsebenen schafft innerhalb des Wohnkomplexes differenzierte Räume und visualisiert den Übergang vom städtischen Zentrum über urbane Wohnarme bis hin zu halböffentlichen Wohnclustern, die den Übergang zum „Natur“-Raum herstellen. Dieses Entwurfsmerkmal steht in enger Verbindung mit den folgenden Aspekt des fußläufigen Erschließungssystems und wird nachfolgend übergreifend bewertet. Merkmal C – Trennung der Verkehrswege/lineares Erschließungssystem Die körperliche Wahrnehmung von Stadträumen, wie sie im Forschungshintergrund als Erläuterung zum Begriff der Stadtraumästhetik beschrieben ist, spielt in der Wahrnehmung des Olympischen Dorfes eine übergeordnete Rolle. Die Gestaltung der öffentlichen Räume ist von den gerichteten Bewegungsströmen der Bewohner geprägt. Unterschiedliche Raumerfahrungen eröffnen sich nicht nur beim Verlassen der Wohnarme und dem Eindringen in die dichten Wohncluster der Flachbebauung, sondern ebenso beim Durchschreiten des Wohnarmes. Unterschiedliche Flachbautypen, angrenzend an die Wohnarme und damit raumbildender Bestandteil des Bewegungsraums, eröffnen immer neue Fassaden und die Bespielung der Aufweitungen und Plätze ist durch unterschiedliche Kunstobjekte, Wasserspiele oder Stadtmöbel gegeben. Die Trennung der Verkehrswege ist demnach ein hohes Potenzial des Großwohnkomplexes. Die daraus resultierenden Qualitäten jedoch ausschließlich mit dem fehlenden Autoverkehr zu begründen, wäre zu einseitig betrachtet. Vielmehr eröffnen die fußläufigen Bereiche und insbesondere die zeitlich und räumlichen Möglichkeiten, diese zu benutzen, differenzierte Urbanitätspotenziale. Merkmal D – Nutzungsmischung Die spezifischen Funktionen und Nutzungen des Großwohnkomplexes, im Sinn der Gesellschaft der 1960er/1970er Jahre geplant, werden noch heute gut angenommen. Die Zentralität der öffentlichen Einrichtungen und die allgemein kurzen Wege innerhalb des Quartiers, begründet durch die Kompaktheit des Großwohnkomplexes, bilden den städtebaulichen Rahmen für ein funktionierendes, städtisches Leben. Die Selbstbestimmtheit, die sich ebenfalls aus den kurzen Wegen, der daraus resultierenden Zeitersparnis, den behindertengerechten Zuwegungen und der kinderfreundlichen, verkehrsfreien Anlage ergibt, bildet das kulturelle Verständnis der 1970er ab und schafft ein hohes Maß an Öffentlichkeit. Die Fußgängerwege werden vielfältig genutzt, sodass sich dort raum- und zeitspezifisch „Urbanität“ einstellt. Multifunktionalität und Mehrzwecknutzung wurden innerhalb der öffentlichen Räume realisiert.

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Im Zentrum des Komplexes wird die Möglichkeit der Nutzungsmischung jedoch wenig genutzt. Öffentliche Aufenthaltsräume, durch Möblierung der Plätze oder Außenbestuhlungen vor Restaurants werden nur im geringen Maß eröffnet. Einige Bewohner der angrenzenden Bebauung fühlen sich durch ein hohes Maß an Öffentlichkeit gestört und befürchten Lärmbelästigung und Verschmutzung sowie Vandalismus. Die Nutzungsmischung eröffnet demnach Qualitäten in der Gesamtwirkung des Großwohnkomplexes, könnte jedoch in Einzelaspekten mehr gefördert werden. Merkmal E – Leitsystem und Farbigkeit Die Orientierung im Olympischen Dorf fällt schwer. Dies liegt zum einen an der Gleichartigkeit der Wohnarme, aber ebenso am verästelnden System der Fußwege in den Wohnclustern. Die Media Linien sind in diesem Zusammenhang nur kurzzeitig eine Orientierungshilfe, da man das System erst beim Eintritt in die Wohnarme erkennt, und sie dann nach kurzer Zeit dort enden. Städtebauliche Orientierungspunkte wie Hochpunkte, Merkzeichen oder räumlich markante Orte fehlen. Trotz der hohen Komplexität in der Gestaltung ist eine Einheitlichkeit in der Gestaltung ablesbar. Diese Einheitlichkeit kann zwar für die Gesamtstruktur des Großwohnkomplexes als übergreifendes und verbindendes Element als positiv bewertet werden, erschwert jedoch die Orientierung. Im Zentrum des Komplexes schaffen die Media Linien jedoch eine Maßstäblichkeit in der Gestaltung der Plätze und erzeugen eine Intimität der Räume. Merkmal F – Gebäudetypen Die Unterschiedlichkeit der Gebäudetypologien fördert nicht nur das Zusammenleben differenzierter Bevölkerungsgruppen, sondern gleichzeitig eine Vielfältigkeit in der Gestaltung. Dabei sind nicht nur die unterschiedlichen Typologien der Flachbebauung mit den variierenden Wohnungsgrundrissen ausschlaggebend, sondern ebenso die Terrassenhaustypen, die in gleicher Gebäudetypologie unterschiedliche Wohnungsgrundrisse eröffnen. Merkmal G – Wohnungsgrundrisse für unterschiedliche Lebenssituationen Ein hoher Grad an sozialer Mischung wurde aufgrund der Eigentumsverhältnisse nicht erreicht. Vielmehr profitiert das Gebiet jedoch von einer homogenen Bewohnerstruktur, die nach der Erkenntnis von Roland Günter sogar eine höhere Kommunikationsdichte eröffnen kann.64 Eine Integration von Menschen mit

64  Vgl. Günter, Roland: Eine Stadtbeobachtungsmethode. In: Stadtbauwelt 1973, Heft 37, S. 64ff.

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Behinderungen oder älteren Menschen ist durch die barrierefreie Bauweise gegeben. Die Wohnungsgrundrisse sind relativ klein bemessen, sodass eine Verzahnung des privaten Innenraums mit der Öffentlichkeit gefördert wird und private Aktivitäten, insbesondere das Spiel von Kindern, vermehrt im Außenraum stattfindet. Überprüfung der forschungsleitenden Thesen Die These, dass Großwohnkomplexe durch ihre Fremdartigkeit und Präsenz im Stadtgefüge eine negativ besetzte Außenwirkung erreichen, kann am Beispiel des Olympischen Dorfes nur zum Teil bestätigt werden. Es wird deutlich, dass im Gegensatz zur aufgestellten These das „Image“ des Olympischen Dorfes zu Entstehungszeit bereits negativ besetzt war. Es ist sogar die Tendenz ablesbar, dass sich das Image im Laufe der Jahre verbesserte. Qualitäten ergeben sich im Olympischen Dorf jedoch trotzdem nahezu ausschließlich aus der „Innenwirkung“ des Komplexes und im täglichen Leben vor Ort. Es wird deutlich, dass im Olympischen Dorf insbesondere die kulturellen Angebote, Schulen und Kindergärten und das Engagement in Interessengruppen ausschlaggebend für eine Aneignung sind. Durch die wahrgenommene Halböffentlichkeit, insbesondere in den Wohnarmen und Wohnclustern, stellte sich eine enge Verbindung von Öffentlichkeit und Privatheit ein, der öffentliche Außenraum wird als Erweiterung des privaten Innenraums angesehen. Es kann ebenso bestätigt werden, dass sich im Großwohnkomplex Olympisches Dorf, insbesondere durch den hohen Benutzungsgrad der fußläufigen Wege und des Zentrums, ein urbaner Charakter ergibt. Im Olympischen Dorf werden zufällige Begegnungen durch die Zusammenfassung der Bewegungsströme auf die Hauptwege und die Kreuzungen der Wege im Zentrum forciert. Gleichzeitig bildete das Zentrum, durch die hier bestehende Verbindung zum Stadtraum und zum öffentlichen Nahverkehr, einen Knotenpunkt. Die These, dass Urbanität insbesondere durch die Mischung von Bewohnern des Komplexes und Bewohnern andere Stadtteile entsteht, kann im Rahmen der Analyse des Olympischen Dorfes nicht verifiziert werden, da eine solche Durchmischung kaum stattfindet. Die Komplexität der öffentlichen Räume, hervorgerufen durch Materialwechsel, Höhenversprünge, Dichte und Weite sowie privatere und öffentlichere Zonen, bildet im Olympischen Dorf unterschiedliche Raumerlebnisse aus, die damit Aneignungsmöglichkeiten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen eröffnen. Die These, dass Komplexität durch Aneignung zu positiven Bindungen der

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Bewohner zu ihrem Quartier führt, kann nach der Analyse ebenfalls bestätigt werden. Abschließend kann ebenfalls die These bestätigt werden, dass die Selbstbestimmtheit (individuelle Freiheit) und Gemeinschaftlichkeit ein Potenzial der Großwohnkomplexe darstellt. Dabei spielen die architektonischen Parameter im Bereich der kurzen Wege, die behindertengerechte Gestaltung sowie die Planung eines Einkaufszentrums, von Kindergärten, Schulen sowie einem Kirchen- und Kulturzentrum eine übergeordnete Rolle. Gleichzeitig sind jedoch ebenso die Motivation und das Engagement der Bewohner gefragt, um diese dargestellten Möglichkeitsräume zu nutzen. Zusammenfassung: Qualitäten des Olympischen Dorfes Die Qualitäten des Großwohnkomplexes können nach der vorhergehenden, differenzierten Analyse und Interpretation der Ergebnisse auf wenige Punkte zusammengefasst werden. Urbanität entsteht im Olympischen Dorf nicht allein durch die Massierung der Gebäude und einer damit einhergehenden hohen Wohndichte, sondern vielmehr durch die klare Planung der Erschließungsstruktur des Gebietes. Die Trennung der Verkehrswege führt zu kommunikationsfördernden Fußwegen, die durch die Beschränkung auf wenige Hauptwege zufällige Begegnungen und informelle Kontakte fördern. Das Zentrum, der Ort mit der höchsten Kommunikationsdichte, ist der Ort, an welchem alle Wege städtebaulich kumulieren und wo ebenfalls der Haupteingang zum Komplex angeordnet ist. Als negativ zu bezeichnen ist, dass heute eine Urbanität im Zentrum nicht durch das Schaffen von Aufenthaltsräumen gefördert wird.65 Die Fremdheit und Andersartigkeit der Gestaltung der Wohngebäude führt zu einer klaren Abgrenzung gegenüber anderen, bekannten städtischen Quartiersformen und schafft damit eine spezifische Bindung der Bewohner. Gleichzeitig bildet der Großwohnkomplex im Sinne der Gestalttheorie durch die übergeordnete Gesamtgestaltung komplexer und individueller Gestaltungsparameter eine klare eigene Gestalt aus.66 65  Urbanität als Potential wird hier im Sinne der funktionalen Ästhetik, der Leistungsfähigkeit des städtischen Raums erkannt. Vgl. dazu Dieter Hassenpflug, 2002 im Kapitel „Forschungshintergrund“. 66  Vgl. Kapitel „Ästhetik“, insbesondere der Absatz über die „Gestalttheorie“, worin erläutert wird, dass Großstrukturen, die in ihrer Kleinteiligkeit Komplexität aufweisen durch eine übergeordnete Gestalt (verbindende und wiederkehrende Elemente) in der Wahrnehmung zu einem Ganzen zusammengefasst werden können. Eine eigene „Ge-

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Die Erkenntnis Robert Venturis, dass Mehrdeutigkeit eine nützliche Flexibilität bedeutet, wird im Kontext der Komplexität in der Gestaltung deutlich. Komplexität führt zu individuellen Aneignungsmöglichkeiten und lässt multifunktionale Möglichkeitsräume ohne vorgefertigte Nutzungsaufforderung entstehen, die eine spezifische und temporäre Bespielung ermöglichen.67 Die Komplexität der Räume wird durch die inhomogene Höhenentwicklung der Räume (hohe und niedrigere Bebauung in unmittelbarer Nachbarschaft) unterstrichen. Als negativ zu bewerten ist die schlechte Orientierung innerhalb des Quartiers, die im Planungsprozess durch städtebauliche Merkpunkte hätte verbessert werden können. Ebenso ist die mangelnde Verzahnung mit der umgebenden Stadt als negativ zu bewerten, wobei die Standortwahl die Reaktion auf die Umgebung begründet. Dieser Mangel wird jedoch über die gute Anbindung zum öffentlichen Nahverkehr und kurze Fahrtzeiten in die Stadtmitte kompensiert. Hier wird die Qualität der Zentralität des Großwohnkomplexes im Gesamtzusammenhang der Stadt München deutlich. Als positiv hebt sich die Verzahnung mit dem Grünraum heraus, die einen hohen Freizeitwert in unmittelbarer Umgebung der Wohnung eröffnet und zur Nutzungsvielfalt des Quartiers beiträgt. Aneignung und Gemeinschaftlichkeit entstehen zum größten Teil durch das kulturelle Angebot, Schulen, Kindergärten und Kirchen. Dies wäre ohne die Bereitstellung der Nutzungsvielfalt nicht möglich und greift damit in die städtebaulichen und architektonischen Entscheidungen ein. Der gesellschaftliche Hintergrund, der in den 1970er Jahren diese Wohnformen gefördert hat, scheint im Großwohnkomplex Olympisches Dorf noch immer eine Aktualität zu erfahren. Die relativ kleinen Wohnungen fördern den Aufenthalt im Freien, Öffentlichkeit und Privatheit gehen in solchen Situation ineinander über. Der Außenraum wird als Erweiterung des privaten Innenraums angesehen. Der Innenraum ist flexibel an neue Bedürfnisse anpassbar - eine Qualität, die von vielen Bewohnern genutzt wird. Die Erschließungsräume fördern durch die Kleinteiligkeit und klare Zuordnung nachbarschaftliche Strukturen.

stalt“ erzeugt einen Wiedererkennungswert und fördert damit nicht nur die individuelle Aneignung sondern auch den „Marketingeffekt“. 67  Vgl. Kapitel „Öffentlichkeit und Privatheit”. Darin wird beschrieben, dass nach Robert Venturi Räume, die eine Mehrdeutigkeit in der Wahrnehmung zulassen, also so gestaltet sind, dass nicht nur vordefinierte Nutzungen ermöglicht werden, sondern die Gestaltung eine Vielzahl von Nutzungmöglichkeiten zulässt, eine indivdiuelle Aneignung der Räume fördert.

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Obwohl die Planung eine heterogene Bewohnerstruktur zum Ziel hatte, lässt sich heute eine überwiegend homogene Struktur erkennen. Dies fördert jedoch offensichtlich, entgegen der Vorstellungen der Planer in den 1970er Jahren, die Kommunikationsdichte. Die Integration von benachteiligten Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit Behinderungen oder älteren Menschen ist durch die bauliche Struktur und die dadurch entstehenden Mobilitätsmöglichkeiten gegeben. Abschließend wird nach der Auswertung aller gesammelten Erkenntnisse deutlich, dass die ständige Überprüfung aller städtebaulichen und architektonischen Entscheidungen im Planungsprozess zu einem in nahezu allen Bereichen funktionierendem Wohnquartier geführt hat. Aus diesen Entscheidungen heraus lassen sich die überwiegend positiven Aspekte des Großwohnkomplexes Olympisches Dorf beschreiben und die negativen Aspekte als Reaktion auf die vorgefundene Umgebung begründen

F ALLSTUDIE 2 – B RUNSWICK C ENTER , L ONDON Bauzeit:1969–1972 Architekt: Patrick Hodgkinson Wohneinheiten: 560 WE Entfernung zum Stadtzentrum: ca. 3 km Nutzung: gleichw. Wohnnutzung und Läden, teilweise Büroflächen

Einleitung Das Brunswick Center wurde in den Jahren 1969–1972 von Patrick Hodgkinson im Londoner Stadtteil Bloomsbury realisiert. Gemäß der einleitend erarbeiteten Definition entspricht das Zentrum einem Großwohnkomplex, wobei in diesem Beispiel ausschließlich die Terrassenhausstrukturen realisiert und die in der Definition festgehaltene Unterschiedlichkeit von Gebäudetypologien damit nicht umgesetzt wurde. Innerhalb der einheitlichen Bebauungsstruktur des Terrassenhauses wurden jedoch unterschiedliche Wohnungstypen realisiert. Gemäß der entwickelten Typologie wird das Center als ein Komplex mit linearer Erschließungsstruktur, als ein geschlossenes System sowie als ein Zentrum mit einer öffentlichkeitsorientierten Zielsetzung eingeordnet. Das Brunswick Center ist ein Gebäudekomplex aus zweireihig angeordneten, zweiseitig orientierten Terrassenhausstrukturen. Der Komplex bildet durch diese Gebäudetypologie einen etwa 150 Meter langen Innenhof, der ausschließlich fußläufig genutzt wird. An dieser Passage gliedert sich im Erdgeschoss überwiegend Einzelhandel an. Das Center beinhaltet darüber hinaus Restaurants, ein

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Abb. 112: Luftbild/Schwarzplan

Quelle: www.bing.com/maps am 05.08. 2011 um 12:49 (Nutzung mit Genehmigung von Microsoft)/ Privatarchiv

Kino und Büroflächen. Die Fußgängerebene befindet sich ca. zwei Meter oberhalb des Straßenniveaus, die Erschließung vom umgebenden Stadtraum erfolgt fußläufig über große Freitreppen im Süden und Süd-Westen sowie über eine überdeckte Passage unterhalb der Wohnbebauung im Osten. Zur privaten Erschließung der Wohnungen über Laubengänge bildet sich eine langgezogene, mehrgeschossige Halle innerhalb des Terrassenhauses aus, deren A-förmige Trägerstruktur hier sichtbar wird. Die dem Stadtraum zugwandte Gebäudeseite wurde maximal fünfgeschossig ausgebildet und ordnet sich durch die geringe Höhe in die vorhandene Bebauungsstruktur ein. Die dem Innenhof zugewandten Gebäudeteile wurden um zwei Geschosse angehoben und entwickeln sich damit siebengeschossig über das Straßenniveau. Prägender Entwurfsbestandteil waren die dem Innenhof zugewandten, großzügigen Terrassen auf der Ebene des ersten Obergeschosses, die in der Entstehungszeit die gegenüberstehenden Terrassengebäude verbanden und nach der Sanierung im Jahr 2005 als den Wohnungen vorgelagerte Räume funktionieren. Bereits in den ersten Jahren nach Fertigstellung wurde das Zentrum kritisch wahrgenommen. Die Fassaden aus Sichtbeton und der große Maßstab im Stadtraum führten zu einer negativen öffentlichen Sichtweise. “[I]t is the „concrete-ness“ of this grand architectural intervention which seems to have impinged upon the public consciousness more than almost anything else about it, inspiring some less than complimentary epithets – „concrete monstrosity“, „concrete jungle“, „Alcatraz“, and so on – but also, from other quarters, unabashed admiration.”68 68  Melhuish, Clare: Concrete as the Conduit of Experience at the Brunswick. London. In: Lloyd Thomas, Katie (Hrsg.): Architecture and Materials Practice. Oxon 2007, S. 200.

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Abb. 113: Typologie

Quelle: Privatarchiv

Teil A: Grundlagenanalyse Zur Geschichte des Ortes Der Stadtteil Bloomsbury im Norden des Londoner Stadtzentrums wurde während des 2. Weltkriegs in Teilen zerstört. Gleichzeitig war in dem Gebiet eine Entwicklung spürbar, die das lebendige und durchmischte, von Intellektuellen und Arbeitern bewohnte und mit kleinere Läden besetzte Stadtquartier durch den ansteigenden motorisierten Individualverkehr teilte und das öffentliche Leben zerstörte.69 Nachdem ein erster Ansatz, auf dem Gebiet 40-geschossige Bürohochhäuser und 20-geschossige Appartementblocks zu realisieren gescheitert war,70 entwickelte ein privater Investor mit den Architekten Leslie Martin und dem zur Entstehungszeit des Projektes als Mitarbeiter bei Martin arbeitenden Patrick Hodgkinson einen Bebauungsvorschlag für ein hoch verdichtetes, jedoch mit niedriger Bebauung besetztes Wohnquartier, das sich am Maßstab der vorhandenen Bebauung orientierte. Dieser Vorschlag wurde im Jahr 1963 genehmigt.71 Einige politische Entwicklungen in Großbritannien kamen dem Projekt zugute.72 So wurde, parallel zu dem 1946 initiierten New Towns Act, im Jahr 1951 der County of London Plan veröffentlicht, der innerhalb des Stadtgebietes 69  Vgl. Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 16. 70  Vgl. ebd., S. 16f. 71  Vgl. Melhuish, Clare: Concrete as the Conduit of Experience at the Brunswick. London. In: Lloyd Thomas, Katie (Hrsg.): Architecture and Materials Practice. Oxon 2007, S. 201. 72  Vgl. Kapitel „Gesellschaftliche Entwicklungen in Großbritannien“ und Kapitel „Umsetzung des Leitbilds“ und dabei insbesondere die Entwicklungen in Großbritannien.

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Abb. 114: Brunswick Center, kurz nach der Fertigstellung

Quelle: Deutsche Bauzeitschrift (Hrsg.): Verdichtete Wohnformen. Gütersloh 1974, S. 162

Wohnquartiere mit hoher Verdichtung vorsah.73 In diesem Zusammenhang wurde auch die Höhenbeschränkung für Wohngebäude im Stadtgebiet gelockert und eine höhere Verdichtung zugelassen. Die architektonische Gestaltung Der Entwurf des Architekten Patrick Hodgkinson, der später mit der Bearbeitung des Brunswick Centers ein eigenes Büro gründete, war von einer durchmischten Bewohnerstruktur, die durch die Planung von Penthäusern, Drei- bis Vierzimmerwohnungen, Maisonettwohnungen und Appartements erzielt werden sollten geprägt: „Some 16 different housing types, from luxury to proffessional on to hostels for young medics and nurses working close by, which would have been a good mix for a central London village.“74 Das unterhalb der Wohnbebauung angeordnete Shoppingcenter sollte aus hochwertigen Läden bestehen, Büroflächen wurden auf der Ebene der öffentliche Terrassen angeordnet und sollten vor

73  Vgl. dies und das Folgende: Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 14. 74  Hodgkinson, Patrick in: Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 17.

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Abb. 115: Schnitt

Quelle: Melhuish, Clare: The life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 85

allem als Kanzleien von den in der näheren Umgebung ansässigen Anwälten genutzt werden.75 Die ursprüngliche Planung sah klassische Häuserblocks vor, die ähnlich wie der später realisierte Entwurf linear gegenüberliegend angeordnet waren. Anders als der realisierte Entwurf wurden die Gebäude jedoch jeweils autark erschlossen und besaßen eine Fassade, die sich an den vorhandenen Strukturen orientiert. Dieser Entwurf wurde zu Gunsten einer Terrassenbauweise mit A-förmigen Trägerstrukturen verändert. Der sich durch die Anordnung der Gebäudeteile bildende Innenraum wurde entgegen vieler anderer Terrassenhaustypologien als innenliegender Erschließungsbereich genutzt wobei die schlecht belichtet Innenraumzonen als Abstell- oder Gemeinschaftsräume genutzt werden. Aus statischer Sicht wurde in den Planungen eine Option zur Erweiterung des Brunswick Centers um ein Geschoss für Penthouse Wohnungen eingearbeitet76 und wird bis heute als Möglichkeit der Weiterentwicklung des Zentrums angesehen.77 Zur Entstehungszeit basierte das Projekt auf den finanziellen Mitteln des Investors Alec Coleman. Die Bewohner der auf dem Grundstück des heutigen Brunswick Centers stehenden Gebäude hätten für das Projekt ihre Häuser verlassen müssen, ein Recht auf Ersatzleistungen für Wohnungen und Häuser wurde ihnen nicht zugesprochen. Dies änderte sich jedoch nach der Wahl der Labour Regierung im Jahr 1964. Die hohen Ersatzzahlungen, die nun nötig geworden wären um den Gebäudekomplex zu realisieren, schlossen die geplante Finanzie75  Vgl. Stuart Tappin 2012. 76  Vgl. Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 37. 77  Vgl. Stuart Tappin 2012.

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rung aus. Das neu formierte London Borough of Camden, zu dem Bloomsbury nun gehörte, übernahm mit dem Camden“s Housing Department den Wohnungsanteil mit einem 99-jährigen Leasingvertrag und damit die Verantwortung für die zukünftigen Bewohner.78 Diese Entwicklung – die ursprünglich geplanten Eigentumswohnungen wurden nun zu Sozialwohnungen umgeplant – führte nicht nur zu einem deutlich niedrigeren Wohnraumstandart, sondern gleichzeitig zu entscheidenden Änderungen auf architektonischer Ebene: Oberhalb des Shopping Centers wurde nun eine Terrasse geplant, die eine klare Trennung zwischen dem Bewohnerbereich und dem Shoppingzentrum ermöglichte. Die Wohnungen wurden rationalisiert und die Diversität auf Zwei- bis Dreizimmerwohnungen und einige Maisonettwohnungen reduziert. Gleichzeitig wurde die Gesamtausdehnung des Komplexes reduziert und damit nur ein Teil der ursprünglichen Größe des Zentrums erreicht. In der weiteren Entwicklung wurde auf die Überdachung des Shoppingcenters verzichtet und die Terrassenebenen mit Brücken oberhalb der Ladenzone verbunden. Die Bauphase begann im Jahr 1969 und das Gebäude wurde bis 1972 fertig gestellt. Das Brunswick Center wurde in Betonbauweise ausgeführt, wobei die Planungen der Architekten eine Farbgebung vorsahen, die ebenfalls aus finanziellen Gründen nach der Übernahme des Bewohnerteils durch den Stadtteil Camden nicht ausgeführt wurde. Der geplante cremefarbene Anstrich sollte sich an den vorhandenen Bebauungsstrukturen orientierten und wurde erst während der Sanierung des Komplexes im Jahr 2005 wieder aufgegriffen. Der Architekt Patrick Hodgkinson beschrieb im Jahr 2003 das Gebäude wie folgt: „The idea of a superblock had been in my mind since, as a student, I had read Lewis Mumfordʼs notion of building over several New York blocks to exclude traffic and define a community. In the eighteenth century the Adam Brothers had put houses over commerce at the Adelphi. But the most compelling example I knew was the Palais Royal in Paris, with its apartments and chambers over shops surrounding its charming graveled garden… All these affected my thoughts but I didn“t draw directly from any one example. The main aim was to come up with a contemporary interpretation of terraced eighteenth or nineteenth century ideal.

78  Vgl. Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 18.

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Abb. 116: Grundrisstypen

Quelle: Schwab, Gerhard: Differenzierte Wohnanlagen. Stuttgart 1975, S. 59 In town making terms, The Brunswick design broke from the customary habit of zoning housing away from shops and workplaces – a killer of life. It met the highest permitted residential density over a high commercial input, with underground servicing and garages. With its east-west orientation, the housing“s raked section and sloping glass ensured sun in all homes over the middle of each day. In a world which now considers architecture as art, these functional factors may seem boring. They were not boring to us. The country as a whole still had much substandard housing and traffic was ruining cities. The design of buildings had to show positive gains of real social amenity if architecture was to lead the field.”79

Die Wohnungsgrundrisse Wie bereits beschrieben unterlagen die Wohnungsgrundrisse im Rahmen der Umplanungen ebenfalls Änderungen. Die ursprünglichen Planungen sahen Wohnungsgrundrisse vom 1-Zimmerappartement bis zum Penthouse vor. Alle Geschosswohnungen wurden von einem Laubengang erschlossen und einseitig belichtet. Am mittig positionierten Eingang gliederten sich rechts und links die Funktionsflächen wie Bad und Küche an. Davor öffnete sich die Wohnung bis zur Fensterfront mit vorgelagerter Loggia. Diese den Wohnungen vorgelagerten Loggien bzw. Balkone wurden in den ersten Gestaltungskonzepten mit variablen Glaselementen geplant, die den Balkon durch Schließen der Elemente in einen Wintergarten verwandeln konnte.80

79  Hodgkinson, Patrick: The Brunswick Project. Veröffentlichung im Rahmen einer Veranstaltung mit künstlerischen Interventionen im Brunswick Center 4.4.– 6.4.2003. 80  Vgl. Stuart Tappin 2012.

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Abb. 117: Grundrissperspektive einer typischen Wohnung/Blick in das Wohn- und Esszimmer einer Wohnung

Quelle: Schwab, Gerhard: Differenzierte Wohnanlagen. Stuttgart 1975, S. 59 /Privatarchiv

Nach der Umplanung blieb die Erschließungsstruktur im Grunde erhalten. Die Hauptzugänge zum Gebäude befinden sich jeweils im äußeren Gebäudeteil und orientieren sich damit zum umgebenen Stadtraum. Das Betreten des Inneren des Gesamtkomplexes ist zur Erschließung der privaten Wohnung nicht notwendig. Über die Eingangstüren gelangt man in einen der gesamten Gebäudeausdehnung folgenden Erschließungsraum, der zwischen den Terrassenhäusern angeordnet ist und die Gebäudeform und Tragstruktur klar ablesbar macht. Dieser Bereich war als öffentlicher Raum geplant und wurde erst mit der Installation der Haupteingangstüren vom Straßenraum getrennt. Aus dieser Halle werden durch Aufzüge und Treppen die Geschosse erschlossen. Laubengänge und Stege führen zu den einzelnen Wohnungen. Die beschriebene Vielfalt der Wohnungsgrundrisse wurde im Zuge der Umplanung auf Einzimmerappartements und Zwei- bis Dreizimmerwohnungen reduziert. Die Küche und das Bad der Wohnung lagerten sich, wie in der ursprünglichen Planung, am Eingangsbereich an. Die Grundrisse wurden nun jedoch offener und modularer geplant: Die Küche wurde nun nicht mehr separiert, sondern öffnet sich zum Wohnraum. Die vorgelagerte Loggia wurde jeweils in Teilen durch einen dauerhaft geschlossenen Wintergarten und eine Terrasse ersetzt. Diese lagert sich jeweils vor den Schafräumen an. Durch die Terrassenhausstruktur, die großzügige Verglasung und die, zumindest in den oberen Etagen, relativ geringe Gebäudetiefe, sind die Wohnungen gut belichtet und öffnen sich optisch zum Freiraum.

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Megastruktur und Brutalismus In vielen Publikationen aus der Entstehungszeit, allen voran Reyner Banhams Buch „Megastructure“, wurde das Brunswick Center als Megastruktur eingeordnet: „The most pondered, most learned, most acclaimes, most monumental, most bedevilled in its building history of all Englisch megastructures – and seemingly the best liked by its inhabitants.“81 Hodgkinson jedoch wollte ein Gebäude erbauen, das auf “[...] social idealism and equality in an architectural form“82 basierte. Sein Entwurf orientierte sich vielmehr an der umgebenden „Georgian“ Architektur: Eine georgianische Terrassenstruktur umschließt einen Platz, eine einfache Typologie in Camden zu dieser Zeit. Es war demnach sein Ausgangpunkt, einen neuen Platz zu schaffen. Besucher sollten die Shops besuchen und dann auf den Terrassen die Sonne genießen.83 Darin spiegeln sich die strukturalistischen Gedanken wider, wobei der architektonische Außenraum als städtischer Innenraum angesehen wurde. Trotz der Ablehnung des Begriffes der Megastruktur durch den Architekten Hodgkinson ist doch festzustellen, dass das Gebäude mit der dichten und multifunktionalen Nutzung auf unterschiedlichen Ebenen trotzdem vielen Kriterien einer Megastruktur entsprach und in direkter Opposition zur Gartenstadtbewegung und den Konzepten der aufgelockerten Stadt der Moderne stand. Ein ähnliches Verhältnis wie zu dem Ausdruck „megastructure“ im Zusammenhang mit seinem Entwurf zum Brunswick Center behielt Hodgkinson in Bezug auf das „brutalistische“ Erscheinungsbild. Während die Smithsons84 das Gebäude durch die raue Oberfläche des Sichtbetons (welcher nach den Wünschen des Architekten einen hellen Farbanstrich hätte erhalten sollen) in den brutalistischen Kontext einordneten, erklärte Hodgkinson: „I myself reject Brutalism […] because I felt it was inhuman and just a fashionable gimmick.“85

81  Banham, Reyner: Megastructure. London 1976, S. 185. 82  Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 28. 83  Stuart Tappin 2012 (Übersetzung). 84  Vgl. Kapitel „ Der Strukturalismus und seine Vertreter“. Peter und Alison Smithson als Mitglieder des Team Ten und Vertreter/Mitbegründer der Strömungen des Brutalismus und Strukturalismus. 85  Hodgkinson, Patrick in: Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 46.

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Abb. 118: Öffentliche Terrasse vor der Umgestaltung/Skizze zur Umgestaltung 2005

Quelle: Schwab, Gerhard: Differenzierte Wohnanlagen. Stuttgart 1975, S. 57/ Melhuish, Clare: The life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 95

Sanierung Schon bald nach Fertigstellung des Gebäudekomplexes wurden erste Baumängel sichtbar und die Lärmbelästigung durch unerwünschten Aufenthalt fremder Personen auf den öffentlichen Terrassen führte zu Kritik durch die Bewohner und zu einer schlechten Reputation in der Öffentlichkeit.86 In den 1970er und 1980er Jahren wurde dementsprechend kontinuierlich eine Unzufriedenheit der Bewohnern formuliert, die unter den oben genannten Stichworten Baumängel, „brutalistisches“ Erscheinungsbild, mangelnde Sicherheit und Lärmbelästigung durch frei zugängliche Erschließungsbereiche und öffentliche Terrassen zusammengefasst werden können. Im Jahr 1991 wurden aus diesem Grund die Zugänge zu den Erschließungsbereichen der Wohnungen durch neue Eingangstüren von der Öffentlichkeit der Straße getrennt. Dies erhöhte zwar die Sicherheit im Komplex, stand jedoch gleichermaßen konträr zu den ursprünglichen Planungen des Architekten Hodgkinson.87 In den folgenden Jahren wurden unterschiedliche Vorschläge zur Aufwertung des Brunswick Centers durch das Hinzufügen unterschiedlicher Baukörper eingereicht. Keiner der Vorschläge wurde umgesetzt, jedoch wurden als weitere Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und Redu-

86  Vgl. dies und das folgende in: Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 49. 87  Vgl. ebd., S. 49.

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zierung der Lärmbelästigung die großen Freitreppen zu den Terrassen zurückgebaut und für die Öffentlichkeit geschlossen.88 1998 kaufte der Investor Allied London die Immobilie auf und beauftragte die Architekten David Levitt und David Bernstein, die bereits während der ursprünglichen Planungen am Projekt beteiligt waren, in Zusammenarbeit mit Patrick Hodgkinson eine Sanierung zu planen. Im Jahr 2000 wurde das Brunswick Center trotz Proteste der Investoren, des Stadtteils Camden und sogar der Architekten, die zusätzliche Investitionskosten befürchteten, unter Denkmalschutz (Grade II listed) gestellt.89 In den Jahren 2005/2006 wurde das Zentrum vollständig saniert und umgebaut, wobei die entwurfsprägenden Bestandteile wie die Ladenpassage, die Mischnutzung von Büros, Wohnen, Läden und dem Shoppingzentrum sowie die Terrassenhausstruktur der Wohngebäude beibehalten wurden. Hinzugefügt wurde ein neuer Gebäudeteil für einen Supermarkt, der nun das Brunswick Center baulich nach Norden abschließt. Die noch vorhandenen Brücken zwischen den Terrassen wurden zurückgebaut, sodass heute keine Verbindung der zwei Baukörper auf der Ebene der Terrassen vorhanden ist. Die Künstlerin Susanna Heron entwickelte für den Innenbereich des Komplexes ein Konzept aus Wasserspielen, das den öffentlichen Raum strukturiert und Sitzmöglichkeiten schafft. Auch wenn es nicht das Ziel der Planungen des Architekten war, eine „brutalistische Megastruktur“ zu entwerfen oder die „Moderne“ Pate zum Entwurf stand90, so wird doch der Zeitgeist im Projekt deutlich: Der Architekt bezeichnete seinen Entwurfsansatz des öffentlichen Raums als den Entwurf eines „Stadtraums“91, was, wie bereits erwähnt, an strukturalistische Gedanken erinnert. Auch die Ergebnisse des Buchanan Reports beeinflussten die Entwicklung. Analog der Projektbeschreibung des Architekten Hodgkinson vergleicht Clare Melhuish das Brunswick Center mit einem Superblock: „[…] lying between major traffic arteries, and providing good-quality new housing, a large area of 88  Vgl. Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 59ff. 89  Vgl. ebd., S. 55. 90  Vgl.

http://www.blueprintmagazine.co.uk/index.php/everything-else/the-brunswick-

centre/, 06.1.2012, 12:35/Melhuish, Clare: Concrete as the Conduit of Experience at the Brunswick. London. In: Lloyd Thomas, Katie (Hrsg.): Architecture and Materials Practice. Oxon 2007, S. 203. 91  Vgl. Melhuish, Clare: Concrete as the Conduit of Experience at the Brunswick. London. In: Lloyd Thomas, Katie (Hrsg.): Architecture and Materials Practice. Oxon 2007, S. 200.

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open, public space, and a high proportion of new commercial space.”92 Gleichzeitig war das Projekt in den 1960er Jahren eines der zukunftsweisendsten Projekte Londons. “On the one hand, concrete symbolized the idea of modern life – immensely strong and stable, allowing for the construction of large-scale structures, and capable of mass production – and architects in Britain had been experimenting with the material since the end of the nineteenth century. On the other hand, it was perceived as aesthetically unappealing, lending itself to scalelessness, and, progressively, problematic in terms of maintenance. […] But the vast scale of the Brunswick complex (compared to its surroundings), combining many different functions, and the sheer extent of the use of concrete as a structural and a cladding material, was regarded as ground-breaking in the context of 1960s planning philosophy and architectural ideology, and highly significant for the future of urban living.”93 Aufgrund der Veränderungen, die während des Umbaus im Jahr 2005 realisiert wurden ist es in der folgenden Analyse kaum möglich, den ursprünglichen Zustand des Zentrums zu bewerten. Da es sich bei der vorliegenden Untersuchung jedoch keinesfalls ausschließlich um eine historisch gerichtete Arbeit handelt, sondern vielmehr die aktuellen und zukünftigen Entwicklungen im Vordergrund der Fallbeispiele und des Ausblicks stehen sollen, wird die Wahrnehmung der Räume im Brunswick Center aus Sicht des derzeitigen Zustands beschrieben. Entwurfsmerkmale Als Entwurfsmerkmale bilden sich auch in diesem Projekt aus der Literaturrecherche unterschiedliche Aspekte heraus, die in der folgenden Analyse vor Ort auf Ihre Relevanz und Qualität untersucht werden sollen. Merkmal A – Öffentlichkeit und Kommunikation mit der Umgebung Im Unterschied zum bereits thematisierten Großwohnkomplex Olympisches Dorf orientiert sich das Brunswick Center mit dem Ziel, möglichst viele Besucher in das Zentrum zu locken, stark an der Öffentlichkeit. Dies bildet sich stadträumlich durch weite Öffnungen mit offen gestalteten Treppenanlagen sowohl im Süden des Komplexes als auch an einer großzügigen Passage in Westrichtung ab. Diese Öffnungen stehen in Kommunikation mit der umgebenden Bebauung

92  Melhuish, Clare: The Life and times of the Brunswick, Bloomsbury, Camden 2006, S. 16. 93  Melhuish, Clare: Concrete as the Conduit of Experience at the Brunswick. London. In: Lloyd Thomas, Katie (Hrsg.): Architecture and Materials Practice. Oxon 2007, S. 202.

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und reagieren auf städtebauliche Merkpunkte wie die U-Bahnstation Russel Square oder der Stadtpark Coram“s Fields/St. George“s Gardens. Merkmal B – Orientierung am gewachsenen Stadtraum Die Verzahnung mit dem umgebenen Stadtraum ist in vielerlei Hinsicht gegeben. Zusätzlich zu den Öffnungen und Passagen, die das Innere des Großwohnkomplexes mit dem umgebenen Stadtraum verbinden, orientiert sich die Bebauungsstruktur in ihrer Höhe an der umgebenen Bebauung. Gemäß des Architekten sollten auch die Bebauungsstruktur, die Terrassenbauweise, der öffentliche Innenhof und die Verbindung von Gewerbe, Einzelhandel und Wohnen an die Gebäudetypologie des Stadtteils erinnern. Merkmal C – private Nutzung der Freiflächen Im Fallbeispiel des Brunswick Centers entsteht durch die Gebäudeform ein öffentlicher, städtischer Innenraum, der trotz des hohen Grades an privater Wohnnutzung in den oberen Etagen im Erdgeschossbereich stark öffentlichkeitsorientiert ist. Dadurch eröffnet das Brunswick Center den Bewohnern jedoch keinerlei Möglichkeiten der nicht kommerziellen Freizeitgestaltung innerhalb des Komplexes. Grünflächen oder Kinderspielplätze finden sich im Komplex nicht wieder, diese fehlenden Zonen können jedoch durch den angrenzenden Park kompensiert werden. Merkmal D – Gebäude Anders als die Definition von Großwohnkomplexen beschreibt, besteht das Brunswick Center ausschließlich aus einer Gebäudetypologie, dem Terrassenhaus. Ungewöhnlich dabei ist die Umsetzung der Gebäudeerschließung über eine siebengeschossige Halle zwischen den Gebäuderückseiten, die die Tragstruktur des Gebäudes ablesbar darstellen. Diese Bereiche waren zu Planungszeiten öffentlich zugängig. Der skulptural anmutende Innenbereich war also öffentlicher bzw. halböffentlicher Raum und die Schwelle zum „Privaten“ wurde bis an die Wohnungstür verschoben. Merkmal E – vertikale Trennung von Pkw-Verkehr und Fußgängern Gemäß der grundlegenden Definition von Großwohnkomplexen ist auch das Brunswick Center von einem ausschließlich fußläufig erschlossenen Innenbereich geprägt. Die Parkplätze für Bewohner und Besucher befinden sich in einer Tiefgarage unterhalb des Gebäudekomplexes. Der autofreie Innenbereich schafft eine Fußgängerzone, die eine innenstädtische Atmosphäre mit Aufenthaltsmöglichkeiten kreiert.

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Abb. 119: Eingang Bernard St. Abb. 120: Eingang Brunswick Square Abb. 121: Zentrum Abb. 122: Blick entlang der Hauptachse Abb. 123: Blick über das Zentrum zur Bernard St. Abb. 124: Passage im Nord-Westen Abb. 125: Marchmont St. Abb. 126: Erschließung der Wohnungen Abb. 127: Terrassen im 1. OG

Quelle: Privatarchiv

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Teil B: Vor-Ort-Analyse Ein „low rise, high density, mixed use“94 Haus Das Brunswick Center in London befindet sich in einem gewachsenen Stadtteil aus der Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts. Schon immer war das Gebiet von Einzelhandel in Verbindung mit Wohnnutzung geprägt. Beim Erreichen des Brunswick Centers mit einem öffentlichen Verkehrsmittel, der London Tube, erhebt sich das Center markant im Stadtraum. Die heute helle Fassadengestaltung, der Schriftzug Brunswick Center und die offene Treppenanlage wecken Neugier und wirken anziehend auf vorbeigehende Passanten. Betritt man das Brunswick Center von Süden eröffnet sich etwa zehn Stufen oberhalb des Straßenniveaus ein städtischer und belebter Platz mit Restaurants, Cafés und Läden für Bekleidung und Technik. Die Sanierung im Jahr 2005 führte zu einem einheitlichen Werbeauftritt der Geschäfte, sodass heute das Gefühl eines einzigen, langen Gebäudes verstärkt wird. Die Fassaden der Geschäfte definieren klar den öffentlichen Raum. Die darüber angeordneten Wohnungen in Terrassenbauweise liegen etwa 15 Meter zurückversetzt und öffnen damit optisch den Raum oberhalb des Erdgeschosses. Nach einigen Metern in Richtung Norden öffnet sich der Raum auch auf Erdgeschossniveau gen Osten. Dort verbindet ein weiterer großzügiger Eingang das Center mit dem Stadtraum. Diese etwa 15 Meter breite Passage, die von der Wohnbebauung wie eine Brücke überspannt wird, wird durch den mittig eingestellten kubischen Körper des Eingangs zum „RenoirKino“ geteilt. Hinter dieser Passage eröffnet sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein städtischer Park, der in wechselseitiger Beziehung zu dieser Öffnung zu stehen scheint. Die Öffnung zum Stadtraum wird optisch dadurch definiert, dass zur Innenraumseite des Brunswick Centers die den Gebäuden vorgelagerte Terrasse ausgesetzt wurde und auch die zur Straße orientierte Bebauung zurücktritt, sodass ausschließlich ein Teil des Terrassenhauses die Passage überspannt und der Besucher einen Einblick in die Erschließungs- und Tragstruktur des Gebäudes erfährt. Zwei rechts und links vom Eingang positionierte Techniktürme verstärken die den Eingang betonende Geste. Im Innern des Brunswick Centers bildet der Kreuzungspunkt dieser beiden Hauptzugänge das Zentrum des Komplexes. Ein quadratisches Wasserbecken markiert heute optisch diesen Mittelpunkt. An dieser Stelle ist ein aktives, städtisches Leben spürbar. Menschen durchqueren zielgerichtet den Raum, andere sitzen wartend oder die Sonne genießend auf dem Rand des Wasserbeckens und die Cafés und Bars in diesem Bereich bieten Außenbestuhlung an. Folgt man der Hauptachse des 94  Stuart Tappin 2012.

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Gebäudes, dringt man weiter in die dichte Gebäudestruktur ein. Hier erscheint das Zentrum mehr als eine enge Fußgängerzone, als dass es an eine städtischen Patz erinnert. Aufenthaltsmöglichkeiten werden in diesem Bereich durch skulptural geformte Wasserbecken und Bänke geboten. Im nördlichen Bereich des Zentrums schließt das neu hinzugefügte Einkaufzentrum den Raum optisch. Hier mündet eine weitere, jedoch untergeordnete Passage vom Stadtraum in den Innenraum des Komplexes. Diese Passage, im Gegensatz zu den weiten Öffnungen im Süden und Süd-Westen nun durch beide Reihen von Wohnbauten und die tiefe Terrasse überdeckt, erscheint eng und gedrungen. Hier findet man weitere Ladeneinheiten innerhalb der Passage und auf der der Straße zugewandten Seite des Komplexes, sodass der Eingang an dieser Stelle durch die Ladenflächen markiert wird. Auch der Supermarkt stellt eine Verbindung zum Stadtraum her, indem ein weiterer Eingang nach außen orientiert ist und so wissenden Besuchern einen Eingang in das Zentrum eröffnet. Der Gebäudekomplex hat eine klare Orientierung im Stadtraum. Die Haupteingänge im Süden, nah am städtischen Park, an der Haltestelle der öffentlichen Verkehrsmittel und an einer belebten Straße mit kleineren Ladeneinheiten und Cafés positioniert, lockt Besucher an und zieht sie in den Komplex. Dieser Bereich wird von Passanten oft als städtischer Platz zielgerichtet durchquert. Während die Besucher tiefer in das Zentrum eindringen, wird der Raum enger und intimer jedoch noch immer städtisch belebt. Vor dem Supermarkt kehren die flanierenden Besucher um oder halten sich kurz auf, sodass sich dort ein weiterer belebter Ort ergibt, ohne dass die Architektur hier einen gestalteten Platz ausbildet. Die Positionierung des Supermarkts hat die Linearität des Komplexes gebrochen und schließt den Raum heute wahrnehmbar nach Norden ab. Nach außen bietet das Brunswick Center unterschiedliche Gesichter. Nach Westen und Osten greifen die Terrassenbauten die umgebenden Gebäudehöhen auf. Durch die Terrassenstruktur und die klar ablesbare Dimension des Gebäudes werden dem Betrachter trotzdem ständig die Fremdheit und der große Maßstab des Gebäudes im Stadtraum bewusst. Im Nord-Osten fällt das umliegende Gelände ab. Ein auf Erdgeschossniveau des Komplexes verlaufender Fußweg liegt damit an dieser Stelle bis zu drei Meter oberhalb des Straßenniveaus und grenzt das Zentrum damit klar von der Umgebung ab. Folgt man dem Gebäudeverlauf Richtung Westen passen sich die Geländehöhen wieder an und eröffnen im Nordwesten ein Gefühl der Eingebundenheit im Stadtraum. Von der Straßenseite erscheint auch die Passage im Nord-Westen präsenter und wird von Passanten, deren Ziel das Innere des Brunswick Centers ist, stark frequentiert. Diese Passage steht im klaren Kontrast zu den markanten Öffnungen im Süden des Komplexes. Während sich im Süden nicht das Gefühl vom aktiven Eintreten in ein Ge-

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bäude ergibt, sondern sich vielmehr der fließenden Raum mit der Umgebung verbindet, ist der Norden durch klare Grenzen zwischen Brunswick Center und der Stadt ablesbar. Die Unterschiedlichkeit der Ansichten reicht also von einladend-fließend im Süden bis Süd-Osten, über abgeschlossen und abgegrenzt im Norden bis geöffnet jedoch klar abgegrenzt im Nord-Westen. Die Überschreitung einer Schwelle beim Eintreten in das Brunswick Center wird damit eher im Norden erlebbar. Der Süden steht dagegen vielmehr im direkten Kontakt mit der Umgebung. Städtebaulich gliedert sich das Brunswick Center in Bezug auf die Gebäudehöhe der „äußeren“ Terrassenhausstruktur und in Bezug auf die „Blockrandbebauung“ klar in die Umgebung ein. Die Erschließung der privaten Wohnungen erfolgt über offene Laubengänge im Innern des rückseitig aneinander angeordneten Terrassenbaukörpers. Aus dieser Struktur und der offen dargestellten Tragstruktur ergibt sich ein skulpturaler Raum, der teilweise sakralen Charakter hat. Während in den Jahren vor der Sanierung dieser Bereich der Öffentlichkeit zugänglich war, erreicht man das Innere heute nur durch private Eingänge zu beiden Seiten. Jeder dieser Eingänge führt in denselben offenen Raum. In den Etagen oberhalb des Erdgeschosses kreuzen Stege diesen Raum. Diese Stege führen zu jeweils zwei gegenüberliegenden Korridoren, die durch das gesamte Gebäude führen und die Dimensionen erkennen lassen. Die Zugänge zu den Wohnungen sind zurückhaltend in die senkrecht aufsteigenden Wände eingestanzt. Die Wohnungstür stellt ein klare Schwelle vom öffentlichen (jetzt halböffentlichen) zum privaten Raum her. Auch die Dachterrassen oberhalb der Läden sind heute ausschließlich über diesen halböffentlichen, ausschließlich von Bewohnern und Besuchern genutzten Raum erschließbar. Während die ursprüngliche Planung die Terrassen in den öffentlichen Bereich mit einbezog und die Büroflächen daran angliederte, stehen diese heute leer und die Terrassen sind weitestgehend ungenutzt. Die Wohnungen sind, der Trag- und Erschließungsstruktur folgend, ausschließlich zu einer Seite orientiert. Die Tiefe der Wohnung verringert sich dabei zwischen Erdgeschoss und sechsten Obergeschoss. Zonierung Im Gegensatz zum Olympischen Dorf ist das Brunswick Center von einer einzigen, offenen, übersichtlichen und einfachen Platzstruktur geprägt. Die Einfachheit in der Gestaltung sowie wiederkehrende Elemente erlauben eine hohe Übersichtlichkeit und einfache Orientierung. Der Innenraum des Komplexes ist jedoch trotz der Einfachheit in der Gestaltung durch unterschiedliche Zonen strukturiert. So besitzt das „Zentrum“ des Komplexes einen städtischen Platzcharakter während die Passagen als Durchgangsräume wirken und so zur Differenzierung

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des öffentlichen (Stadt-) Raums beitragen. Die Wohnungen werden ausschließlich durch Laubengänge von der Straßenseite und damit ohne Kontakt zum Innenraum erschlossen. Nur wenige, untergeordnete private Passagen ermöglichen den Bewohnern einen direkten Zugang vom Wohngebäude in den Innenraum des Komplexes. Die halböffentlichen Bewohnerterrassen als Pufferzone zwischen öffentlichen Raum und privater Wohnung werden derzeit von den Nutzern nicht angenommen. Dreidimensionalität der Räume Trotz der Einfachheit in der Gestaltung und der Übersicht, die sich dem Besucher daraus ergibt, besitzt der Großwohnkomplex vielfältige Räume, die sich durch unterschiedliche Proportionen deutlich voneinander unterscheiden. So verläuft die Erschließung im Osten durch eine Passage mit niedriger Deckenhöhe. Sie wirkt weniger einladend und dient vermehrt wissenden Besuchern als Eingang zum Komplex. Im Gegensatz dazu steht die einladende und durch Treppentürme inszenierte Eingangssituation im Westen. Dort wird der öffentliche Bereich des Großwohnkomplexes über eine weitläufige Freitreppe und eine großzügige, zweigeschossige Öffnung in der Bebauungsstruktur erschlossen. Neben diesem inszenierten Eingang wirkt der südliche Teil des Komplexes wie beiläufig geöffnet und verbindet den Straßenraum fließend mit dem Innenraum des Großwohnkomplexes. Diese unterschiedlichen Eingangssituationen werden heute von dem baulich geschlossenen nördlichen Teil des öffentlichen Freiraums in ihrer Eindeutigkeit weiter geprägt. Der heute halböffentliche bzw. ausschließlich von den Bewohnern des Komplexes genutzte Erschließungsbereich der Wohnungen erfolgt über einen siebengeschossigen Luftraum mit Laubengängen. Durch das A-förmige Trägersystem und das einfallende Tageslicht besitzt dieser Raum sakrale Züge. Die Wahrnehmung des Komplexes im Wandel der Zeit Die Entwicklung des Brunswick Centers war, beginnend mit den Planungen in den 1960er Jahren, über dem Einzug der ersten Bewohner in den 1970er Jahren, dem zunehmenden Sanierungsstau und der Abwertung des Einkaufszentrums in den 1980er und 1990er Jahren bis zur Revitalisierung in den Jahren ab 2000, von einer wechselhaften Geschichte geprägt. Während sich die ersten Bewohner noch wie im „Paradies“ fühlten und es als eine „Ehre“ ansahen im Brunswick Center zu leben, störte schon bald nach Fertigstellung der Strom an Besuchern, unter ihnen auch interessierte Architekturstudenten, die Privatheit der Bewohner. Dies lag vor allem in der offenen Bauweise begründet, die mit einladenden Gesten wie den großzügigen Freitreppen und einer ungehinderten Durchwegungs-

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möglichkeit aller Besucher bis an die Wohnungstür keine halböffentlichen Vorräume vor der eigenen Wohnung zuließen.95 „As a result, residents became used to the appearance of architecture students and curious visitors roaming the access galleries with cameras, snapping the dramatic vista through the A-frame structure […]. They would drift past their kitchen windows, sometimes peering in to a glimpse of the interiors.”96 Mit dem Schließen der Hauseingänge und dem Abbruch der Haupttreppe die auf die Terrasse führte, wurden die privaten Zugänge von unerwünschten Besuchern zwar nahezu verschlossen, das Gebäude büßte jedoch gleichzeitig die idealistische Vorstellung des öffentlichen Raums auf mehreren Nutzungsebenen ein. Der nun haböffentliche Raum der Erschließungstreppen und Aufzüge wird von Clare Melhuis aufgrund seiner Tragstruktur als „Kathedrale“ oder als „Wald uralter Bäume“ beschrieben. The emptiness „[…] of the space is almost overwhelming.“97 Gleichzeitig fühlen sich einige Bewohner durch die Leere und Offenheit beobachtet, und die gute Schallübertragung stört private Gespräche. Negative Assoziationen wie „Alcatraz“ und „concret jungle“ beschreiben ebenso die unterschiedlichen Sichtweisen wie „very beautiful pieces of architecture“ oder die Assoziation einer „open space piazza“.98 Auch in den folgenden Jahren dauerten die unterschiedlichsten Meinungen über das Zentrum an, jedoch wird durch die Vehemenz der Beiträge (zusammengefasst von Clare Melhuis 2006) deutlich, wie sehr das Brunswick Center polarisiert und zu Diskussionen anregt. Ähnlich dem Olympischen Dorf sollten auch im Brunswick Center die Balkone dicht begrünt und ein von Hodgkinson vorgeschlagenes Grünraumkonzept umgesetzt werden. Heute sind die Balkone zwar individuell begrünt, eine Natürlichkeit, die fließend in die Gebäudestruktur eingreift, entsteht hier jedoch nicht. Clare Melhuish beschreibt die Atmosphäre und das Image des Komplexes: „The „invisibility“ factor was to be a significant obstacle to the continuing succes of the centre as a „shopping destination“ and the high-profile re-branding of the Brunswick as „the high street for Bloomsbury“ by allied London has been a key tactic in their strategy to reverse the situation.”99

95  Vgl. Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 59. 96  Ebd., S. 59. 97  Ebd., S. 60. 98  Vgl. ebd., S. 60f. 99  Ebd., S. 65.

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Abb. 128: Schemazeichnung

Quelle: Privatarchiv

Abb. 129: Raumnutzungsanalyse – „Momentaufnahme“ Zentrum 28.01.2012 11:00 Uhr

Quelle: Privatarchiv

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„Momentaufnahme“ im Brunswick Center, Januar 2012 Das Brunswick Center ist räumlich der kleinste der untersuchten Großwohnkomplexe und besitzt einen städtischen Charakter. Grünflächen gibt es im Großwohnkomplex keine und vorhandene, halböffentliche Terrassenflächen im ersten Obergeschoß werden nur in geringem Maße als Außenräume von den Bewohnern genutzt. Das Brunswick Center ist ein langgezogen Gebäudekomplex mit Nord-West/Süd-Ost Ausrichtung. Die Linearität der gegenüberliegenden Terrassenhausstrukturen wird von einer mittig angeordneten Fußgängerzone unterstützt. Zwei Passagen münden von Osten und Westen in den Komplex und verbinden so den Innenraum mit dem umgebenden Stadtraum. Der Hauptzugang liegt im Süden des Komplexes. Dort gelangt man über eine Freitreppe in den erhöht liegende Innenraum. Im Überschneidungspunkt der großzügigen Passage im Osten mit dem Hauptzugang ergibt sich ein Zentrum, das räumlich durch eine großzügige Brunnenlage mit Sitzmöglichkeiten geprägt ist. Aufgrund der relativ kleinen Grundfläche wirkt das Zentrum des Brunswick Centers deutlich dichter als die Zentren der weiteren Fallbeispiele. Durch die Höhenunterschiede zwischen Straßenraum und Innenraum des Brunswick Centers ist der Raum nahezu ausschließlich von Fußgängern genutzt. Dabei überlagern sich die Wege von zielgerichtet bewegenden Personen mit flanierenden Besuchern. Sitzmöglichkeiten sind durch die Einfassung des Brunnens ebenso gegeben wie durch skulptural gestaltete Sitzbänke die den Raum fassen und gleichzeitig Aufenthaltsmöglichkeiten bieten. Ein hoher Anteil an Cafés und Bars gruppiert sich in der Nähe des Zentrums, sodass die Außenbestuhlung den öffentlichen Platzcharakter weiter prägt. Abb. 130: Zentrum

Abb. 131: Anzahl der Personen und ihre Aktivität im Rahmen der „Momentaufnahme“

Quelle: Privatarchiv Quelle: Privatarchiv

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Das schlechte Image des Brunswick Centers in den 1980er und 1990er Jahren begründet sich vor allem in konstruktiven und technischen Aspekten. So stellte die Heizungsanlage bis zum Austausch in den 1990er Jahren ein Problem dar, die schlechte Isolation der Glasfassade der Wintergärten erzeugte Kondenswasser und der Schallschutz war in vielen Wohnungen mangelhaft.100 Gleichzeitig lebten in den Untergeschossen des Komplexes eine Zeit lang einige Obdachlose, die ebenfalls das Image des Brunswick Centers negativ prägten.101 Schwierigkeiten bereitete außerdem der Schallschutz in Bezug auf Aktivitäten auf den Terrassen. Da in den tiefer liegenden Geschossen vor allem Ältere oder Singles lebten, störten sie sich am Lärm der spielenden Kinder.102 Bis heute wurde jedoch keine Lösung für eine sinnvolle und von allen Bewohnern gleichermaßen gewünschte Nutzung der Terrassen gefunden. „Itʼs like being in the south of France”103 Im Gespräch mit dem Vorsitzenden der „Tenants and Resident Assoziation“ (TRA) wurde die Entwicklung des Gebäudes bis zu seinem „Erfolg“ heute noch einmal deutlich.104 Nach der Umwandlung der Wohnungen von Privateigentum zu Sozialwohnungen im Planungsstadium und in der damit einhergehenden Notwendigkeit zur Kostenreduzierung liegen viele der heutigen und ehemaligen Probleme des Komplexes begründet. Der Architekt Patrick Hodgkinson plante den Gebäudekomplex ursprünglich als eine georgianische Terrassenstruktur, die sich der vorhandenen Bebauungsstruktur folgend um einen öffentlichen Platz gruppiert. Die Unterschiedlichkeit der Bauweisen, Fassadenstrukturen und Öffnungen zwischen der vorhandenen Bebauung und dem Brunswick Center lässt diese Assoziation nicht zwingend erscheinen, der dieser Bebauungsstruktur zugrunde liegende Gedanke wird jedoch im öffentlichen Raum deutlich. Das Zurückspringen der Fassaden im Innern lässt Licht in den Komplex eindringen und die Ausrichtung des Gebäudes in Nord-Süd-Richtung lässt nicht nur eine großzügige Belichtung der Wohnungen zu, sondern gleichermaßen des öffentlichen Raums im Erdegeschoss und der zurzeit ungenutzten Terrassen auf der Ebene des ersten Obergeschosses. „Itʼs like being in the south of France”105 umschreibt Stuart Tappin den öffentlichen Raum in den Sommermonaten, wenn 100  Vgl. ebd., S. 66f. 101  Vgl. ebd., S. 68. 102  Vgl. ebd., S. 70. 103  Stuart Tappin 2012. 104  Vgl. dies und das Folgende: Stuart Tappin 2012. 105  Stuart Tappin 2012.

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der Platz voller Menschen ist. Es ist kein Platz mit hoch aufragenden, senkrechten Fassaden, die kaum eine freie Sicht zum Himmel zulassen; der Raum ist dicht aber trotzdem offen. Vergleichbar mit den Ergebnissen aus der ersten Fallstudie ist die Erkenntnis Tappins, dass die Attraktivität des Komplexes sich hier im öffentlichen Raum abzeichnet, und zwar durch die Shops auf Erdgeschossniveau, die U-Bahn in unmittelbarer Nähe und die Nähe zum Stadtkern Londons. Tappin unterstreicht den öffentlichen Charakter des Komplexes, obwohl er durch die Eigentumsverhältnisse als Privatgrundstück gilt. Es sei eben nicht das Wohngebiet mit dem großen Zaun darum herum, das sich von der Umgebung abschirmt, erklärt Tappin. Im Vergleich zu anderen Quartieren in London, insbesondere auch Quartieren aus derselben Entstehungszeit, erkennt Tappin durchaus die Qualität von Urbanität im Komplex. Er begründet diese Urbanität mit einem „warmen Klima“, jedoch gleichzeitig mit der Attraktivität der Geschäfte heute und der Ansiedlung von Restaurants, die die Menschen zum Verweilen einladen. Entscheidend ist für Tappin jedoch auch die historische Sicht auf das Quartier.106 Das Gebiet war schon immer durch kleinere Geschäfte in den Erdgeschossbereichen geprägt, sodass der Komplex eine Weiterentwicklung der historischen Entwicklung des Stadtteils darstellt. Der Wohnkomplex Brunswick Center war durch seine besondere Struktur schon immer ein Komplex, der in der Stadt bekannt war. Nach seiner Entstehungszeit war jedoch die Außenwirkung durch Baumängel, eine geringe Attraktivität der Geschäfte und Sicherheitsaspekte aufgrund der schlechten Einsehbarkeit der offenen Erschließungsräume negativ. Dies änderte sich in Teilen, nachdem die Bewohner die Möglichkeit erhielten ihre Wohnungen zu erwerben. Die heutige Attraktivität erhielt das Brunswick Center jedoch erst nach der Sanierung in den Jahren nach 2000. 107 Stuart Tappin unterstreicht jedoch, dass die bei der Sanierung umgesetzten Veränderungen zum Großteil bereits in der Entstehungszeit geplant waren, jedoch aus Kostengründen nicht realisiert wurden. Der Architekt, so geht es aus dem Bericht von Stuart Tappin hervor, lehnte es immer strikt ab das Brunswick Center als eine Megastruktur anzusehen.108 Vielmehr wollte er einen öffentlichen Ort schaffen, der sich an die vorhandenen Strukturen der Stadt anpasst. Heute erklärt Stuart Tappin, dass das Gebäude „idealistisch“ entworfen sei. Der öffentliche Erschließungsraum zu den privaten

106  Vgl. dies und das Folgende: Stuart Tappin 2012. 107  Vgl. dies und das Folgende: Stuart Tappin 2012. 108  Vgl. Absatz Megastruktur und Brutalismus dieses Kapitels sowie Stuart Tappin 2012.

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Wohnungen und die Nutzung der Terrassen für die Öffentlichkeit haben in der Realität nie funktioniert. Die terrassenförmige Bebauungsstruktur lässt, und das ist laut Tappin eine weitere Qualität, nicht nur viel Licht in den inneren öffentliche Raum, sondern öffnet auch den Blick in den Himmel vom privaten Balkon aus, der bei senkrechten Fassaden immer durch den darüber liegenden Balkon verdeckt werden würde. Gleichzeitig bedeutet die Struktur auch, dass man zu seinem Nachbarn auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes einen größeren Abstand habe. Heute scheint auch die Wahrnehmung von außen sich zum Positiven gewandelt zu haben. Die Attraktivität der kurzen Wege und der hellen Wohnungen, die privaten und öffentlichen Außenräume und sogar die skulpturalen Erschließungsräume werden nach Stuart Tappin von Besuchern und Bewohnern als qualitätvoll herausgestellt. Zusammenfassend beschreibt Stuart Tappin die Kombination aus funktionierenden Läden, der Helligkeit, der Ruhe ohne die Geräusche des Verkehrs und dass man in den Fußgängerbereichen die Kinder gefahrlos spielen lassen kann als Qualität des Komplexes.109 Ergebnisgenerierung Interpretation und Bewertung der Entwurfsmerkmale Merkmal A – Öffentlichkeit und Kommunikation mit der Umgebung Die Öffentlichkeitsorientierung ist der prägende und entwurfsbestimmende Aspekt des Brunswick Centers und ist heute bei einer Besichtigung des Komplexes deutlich erfahrbar. Der Raum ist klar öffentlichkeitswirksam organisiert, halböffentliche Zwischenzonen sind heute nicht mehr erlebbar. Ein Potenzial dazu bieten die Terrassen oberhalb der Ladenzeile. Dort könnten Bewohnergärten realisiert und damit eine halböffentliche Zwischenzone erreicht werden. Durch die Ladenzeilen, die Nutzungsmischung und die damit einhergehende Öffentlichkeit und Urbanität (in Bezug auf den Aufenthalt von Menschen im Raum und unterschiedlichsten Attraktionen und Nutzungsmöglichkeiten der Räume) ist das Brunswick Center ein Beispiel der Einbindung eines Großwohnkomplexes in ein durchmischtes Stadtquertier. Trotz der Andersartigkeit des Komplexes stellt das Gebäude keine Barriere dar, sondern setzt den fließenden Raum der Straßenzüge im Komplex fort.

109  Vgl. Stuart Tappin 2012.

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Merkmal B – Orientierung am gewachsenen Stadtraum Die Verzahnung mit dem Stadtraum besteht, wie oben beschrieben, im SüdOsten des Komplexes eher als im Norden oder Westen. Insgesamt wird jedoch deutlich, dass der Wunsch nach einem hohen Maß an Öffentlichkeit durch die großzügigen Öffnungen zum Stadtraum erreicht wird. Die Unterschiedlichkeit der Abgrenzung zum Stadtraum ist stark der Umgebung angepasst und schafft so eine natürliche Zonierung sowie eine Verteilung der markanten und urbanen Orte im Stadtraum. Dies wird insbesondere auch in der abgrenzenden Geste im Norden deutlich, wo sich Nebenstraßen ohne Einzelhandel oder Gastronomie befinden. Merkmal C – private Nutzung der Freiflächen Die klare Ausrichtung des Brunswick Centers auf kommerzielle Aspekte führt zu einem Mangel an Grünflächen. Zwar ist in unmittelbarer Umgebung des Brunswick Centers ein städtischer Park, insbesondere im Vergleich zum Olympischen Dorf in München wird jedoch das Fehlen halböffentlicher Randzonen und Erholungsmöglichkeiten im Grünen deutlich. Insbesondere nach den Umbauten in den 1990er und 2000er Jahren führt dies auch zu einer Ermangelung halböffentlicher Räume sowie Zwischenzonen zwischen dem öffentlichen Stadtraum und der privaten Wohnung, die typisch für andere Großwohnkomplexe sind. Aneignung, Partizipation und Identifikation der Bewohner mit der gebauten Umgebung ihrer Wohnung findet nicht statt. Das Brunswick Center ist durch die fehlenden halböffentlichen Erholungsräume als Wohnort für Familien auch weniger attraktiv als andere Großwohnkomplexe, die unterschiedliche, verkehrsberuhigte Zonen zum Spielen und für Freizeitaktivitäten anbieten. Merkmal D – Gebäude Die zwei gegenüber angeordneten Gebäuderiegel haben eine einfache und schnell verständliche Struktur. Ausschließlich der Erschließungsbereich stellt durch den offenen Raum im Innern eine Besonderheit dar. Durch die einfache Struktur von gegenüberliegen Baukörpern erscheint das Brunswick Center entgegen anderer Gebäudetypologien von Großwohnkomplexen, weniger komplex. Die Abfolge immer gleicher Fassadenelemente hat jedoch durch die Linearität des Großwohnkomplexes eine eigene Ästhetik und damit Qualität. Die Komplexität des Gebäudes ist demnach nicht in der Gebäudeform zu finden, sondern vielmehr in der funktionierenden vertikalen Nutzungsüberlagerung und der damit einhergehenden Überlagerung des Privatraums, mit einem stark öffentlich orientierten Freiraum.

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Überprüfung der forschungsleitenden Thesen Die Erkenntnis, dass das Brunswick Center erst nach der umfangreichen Sanierung zu einem funktionierenden und positiv besetzten Gebäudekomplex geworden ist, zeigt Potenziale auf, wie Großwohnkomplexe, deren Ansehen zur Zeit negativ besetzt sind, in Zukunft revitalisiert werden können. Die utopisch anmutende, großmaßstäbliche Gebäudestruktur, die bei vielen Großwohnkomplexen das öffentliche Bild prägt, scheint beim Brunswick Center durch das Wissen über die positive Atmosphäre und die attraktiven Geschäfte in den Hintergrund zu rücken. Andres als Großwohnkomplexe wie das Olympische Dorf in München, die Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter oder die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin öffnet sich das Brunswick Center ganz gewollt zur Öffentlichkeit. Im Umkehrschluss stellt sich dadurch jedoch ein geringeres Gemeinschaftsgefühl ein und eine „Subkultur“, wie sie anderen Komplexen existiert, (vgl. Fallstudie Olympisches Dorf) entwickelt sich nicht. Es besteht offensichtlich weniger Identifikation mit der umgebenden, gebauten Umwelt, da sie anders als in abgeschlosseneren Systemen weniger Privatheit im öffentlichen Raum zulässt. Dies wird auch darin deutlich, dass im Brunswick Center über Jahre keine Einigung bezüglich der Nutzung der Terrassen erzielt werden konnte. Gerade dies wäre jedoch eine Möglichkeit das gemeinschaftliche Zusammenleben der Bewohner des Brunswick Centers zu fördern. Im Zusammenhang mit einer fehlenden Komplexität in der Gestaltung zeigt sich, dass durch die Ermangelung differenzierter, halböffentlicher bis privater Räume informelle Kontakte kaum stattfinden und das Nachbarschaftsgefühl durch diesen Umstand weniger ausgeprägt ist. Im Brunswick Center könnte der offene Erschließungsbereich zu einer solchen Kommunikationszone werden, wenn die Offenheit des Raums nicht ein Gefühl einer ständigen Beobachtung evozieren würde. Auch der mangelnde Schallschutz lässt weniger persönliche Kontakte zu. Die geringere Komplexität in der Gestaltung wird am konkreten Fallbeispiel Brunswick Center in Teilen durch die Heterogenität der Schaufenstergestaltung kompensiert. Dies findet jedoch ausschließlich in den Oberflächen der öffentlichen Bereiche statt. Dass sich gestalterisch komplexe, und gleichzeitig unterschiedlich genutzte Räume ergeben oder sogar überlagern ist in diesem Fallbeispiel nicht zu finden. Positiv ist in diesem Zusammenhang jedoch die gemischte Nutzung der Gewerbeflächen zu bewerten, die durch Entertainment, Gastronomie und Einzelhandel nahezu durchgängig eine Belebung des Komplexes erreichen. Der in den forschungsleitenden Thesen formulierte Ansatz, dass durch neue und wechselnde Raumerlebnisse eine Aneignung gefördert wird, kann im Umkehrschluss am Beispiel des Brunswick Centers bestätig werden. In diesem

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hauptsächlich kommerziell ausgerichteten Gebäude entsteht offensichtlich weniger Gemeinschaftsgefühl und eine Aneignung des gebauten Raums erfolgt im geringeren Maße als in anderen Großwohnkomplexen. Die Homogenität der Wohnungsgrundrisse, durch die Umplanungen im Zusammenhang mit der Übernahme der Wohnungsbaufinanzierung vom Stadtteil Camden begründet, hat zu einer relativ homogenen Bewohnerstruktur in der Anfangszeit geführt. Seitdem einige Wohnungen nun als Eigentumswohnungen weiterverkauft wurden und das Center als Einkaufsquartier positiv bewertet wird, scheint sich hier eine heterogenere Bevölkerungsstruktur anzusiedeln, die eine langfristige Bewahrung der Qualität des Komplexes möglich erscheinen lässt. Zusammenfassung: Qualitäten des Brunswick Centers Das Brunswick Center ist heute, insbesondere in den Erdgeschossbereichen der öffentlichen Zonen, von einer gestalterisch hohen Qualität geprägt. Durch die Sanierung wurde das Zentrum als ein eigenes Objekt im Stadtraum aufgewertet und durch eine sinnvolle Anordnung und Auswahl an Geschäften und Restaurants ein städtischer, belebter Ort geschaffen. Er erinnert im Sinne von Birgit Wolter110 an die gewachsene Struktur alter europäischer Städte und bietet damit Aufenthaltsqualitäten. Die Fremdartigkeit des Gebäudes und die gestalterische Abgrenzung zur Umgebung fördern den Widererkennungswert. Eine entscheidende Qualität ist die Zonierung vom fließenden, schnelllebigen Raum im Süden, der als Durchgangsraum angesehen werden kann, und einer Zone im Norden, die als ein ebenfalls belebter, aber deutlich ruhigerer und introvertierter Ort wahrgenommen wird. Besonders wichtig erscheinen dabei die im Grunde abgeschlossene Struktur des Komplexes (Blockrand) und die Perforierung dieser Struktur, die im Süden ausgeprägter ist als im Norden. Der Eintritt in den Großwohnkomplex wird deutlich markiert, trotz fließender Räume wird die Schwelle durch die Erhöhung des Terrains klar ausgebildet. Dem Besucher wird der Eintritt in den Gebäudekomplex deutlich vor Augen geführt (inszeniert). Die Einfachheit in der Gestaltung (Wiederholung) sowie die Übersichtlichkeit des Erdgeschossniveaus eröffnen dem Besucher einen klar ablesbaren Raum mit „Marktplatzcharakter“. Insbesondere das ausgewogene Verhältnis von Raumzu Baukörper führt im Brunwick Center zu einem klaren Erscheinungsbild. Komplexität wird hier durch Einfachheit und Wiederholung abgelöst. Die visuelle Offenheit wird jedoch durch unterschiedliche Nutzungen und Funktionen so

110  Vgl. Wolter, Brigit: Die Gestalt des städtischen Raumes. Dissertation. Dresden 2006.

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parzelliert, dass der Besucher in Verbindung mit der räumlichen Zonierung unterschiedliche Funktions- und Handlungsräume erfährt. Die „Urbanität“ im Brunswick Center ist nahezu ausschließlich am Konsum orientiert. Ohne Bars, Cafés, Läden und das Kino würde kein belebter, öffentlicher Raum entstehen. Die Möglichkeiten zur Kommunikation und informellen Treffen, die dieser Ort gerade durch sein Funktion für Besucher mehr noch als für Bewohner bietet, kann als Qualität angesehen werden. In diesem Zusammenhang muss jedoch ebenfalls verdeutlicht werden, dass sich das Brunswick Center und alle seine „öffentlichen“ Bereiche in privatem Besitz befinden. Eine städtische „unkontrollierte“ Öffentlichkeit kann dort also nicht stattfinden. Diese Erkenntnis ist nicht neu, da nahezu alle Großwohnkomplexe über keine öffentlichen Räume im Sinne von städtischem Eigentum verfügen. In einem Gebäude, das jedoch städtische Öffentlichkeit suggeriert, ist dies aber erwähnenswert. Die Terrassenstruktur der Gebäude, ihre Höhenentwicklung und die privaten Außenräume in Form von Wintergärten und Balkonen eröffnen differenzierte Qualitäten im privaten Umfeld. Die hellen Wohnungen besitzen durch die Terrassenstruktur große visuelle Freiräume während die Fußgängerzone im Erdgeschoss gleichzeitig durch die vorgezogenen Erdgeschossflächen spürbare Dichte erhält. Zur Diskussion stehen seit Langem die ungenutzten Terrassen oberhalb der Ladenzone. Um die Attraktivität des Quartiers weiter zu erhöhen müssten hier Nutzungsvarianten entwickelt werden, die den Bedürfnissen der Bewohner nicht nur nach individuellem Freiraum, sondern ebenso nach Ruhe und Privatheit gerecht werden. Eine Initiative zur Gestaltung dieser Flächen und die Partizipation der Bewohner würde dabei die Akzeptanz stärken. Ideen in diesem Bereich wurden von der Tenents and Residents Association bereits entwickelt. Es bleibt jedoch offen, in welcher Form die Umnutzung gelingen kann. Entscheidendes Merkmal der Typologie des Brunswick Centers ist die horizontale Schichtung der Nutzungen und zwar auf dem gesamten Gebiet des Komplexes. Während in anderen Großwohnkomplexen ein Zentrum mit Geschäften für den täglichen Bedarf entstand, ist das Brunswick Center ein Einkaufszentrum mit darüber liegend angeordneten Wohnungen. Eine Überschneidung beider Bereiche ist heute kaum vorhanden, die Wohnungen erschließen sich über einen zur Straße orientierten Raum, während die Besucher das Zentrum von innen beleben. Gerade diese Trennung war jedoch in den ersten Planungen des Architekten nicht gegeben. Zur Entstehungszeit konnten die Wohnungen über die Terrassen aus dem Innern des Zentrums erschlossen werden. Heute ist das nur noch punktuell und mit Einlasskontrolle möglich.

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Die Erschließung der privaten Wohnungen über die zwischen den Gebäudeteilen angeordnete Halle kann als Schwachstelle des Konzeptes angesehen werden. Durch diese Erschließungsstruktur müssen die Bewohner den Komplex nicht betreten um ihre Wohnung zu erreichen oder zu verlassen. Dies würde jedoch die Aneignung fördern. Gleichzeitig werden durch die Größe und Monumentalität der Halle keine Nachbarschaften im Sinne von Zugehörigkeit, sozialer Kontrolle und nachbarschaftlicher Hilfe gebildet. Dies, so wurde es bereits bei der Analyse der Gebäude im Olympischen Dorf deutlich, führt jedoch zu positiven Effekten im Rahmen der Bewohnerzufriedenheit. Rückwirkend beschrieb Hamilton Eddy das Projekt als „traditionellkommunal und gleichzeitig futuristisch-eigenständig“,111 was sich stark an dem Bild orientiert, das Patrick Hodgkinson in seiner Entwurfsplanung als Zielvorstellung verfolgte: Ein gemeinschaftlicher, städtischer Raum, gefasst durch Fassaden, die den Raum in der Vertikalen erweitern und eine durchmischte, sozial Bewohnerstruktur. Heute wird jedoch deutlich, dass dieses Bild durch die Umbaumaßnahmen nahezu vollständig eliminiert wurde, wobei die gut funktionierenden, öffentlichen Bereiche über diesen Mangel hinwegtäuschen. Auffallend sind die Einfachheit und Klarheit des Konzeptes sowie die Umsetzung des Projekts: Eine Schichtung von Funktionen in zwei sich gegenüberstehenden Gebäuden, die einen städtischen Innenraum bilden, der durch das Herausziehen der Erdgeschossflächen räumlich verdichtet wird. Dieses Konzept wurde auf einer Länge von 150 Metern wiederholt. Die immer gleiche Fassadenstruktur wird durch verglaste Elemente und vertikale Schotts zwischen den Balkonen aufgebrochen.

111  Vgl. Eddy, Hamilton in: Melhuish, Clare: The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury. Camden 2006, S. 42.

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F ALLSTUDIE 3 – T ERRASSENHAUSSIEDLUNG G RAZ S T . P ETER Planung/Bauzeit: Entwurf 1965, Ausführung 1972–1978 Bauherr: Gemeinnützige Wohnbauvereinigung GmbH Architekten: Werkgruppe Graz Grundstück/Wohneinheiten: 45.000m2/522 WE Nutzfläche: 60.000 m2 Dichte (GFZ):1,8 Bewohner: etwa 1.500 Eigentumsverhältnisse: Eigentumswohnungen Entfernung zum Stadtzentrum: ca. 4 km Nutzung: überwiegend Wohnnutzung, Arztpraxen, Büroräume, Kindergarten

Einleitung Die letzte Fallanalyse in der vorliegenden Untersuchung bezieht sich auf einen Großwohnkomplex in Österreich, die Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter. Das Projekt wurde von der „Werkgruppe Graz“ in den Jahren von 1965 bis 1978 geplant und realisiert. Bauherr war die „Gemeinnützige Wohnbauvereinigung GmbH“. Das Projekt wurde als Demonstrativbauvorhaben eingestuft und im Planungs- und Bauprozess auf unterschiedlichen Ebenen wissenschaftlich untersucht. Dazu zählten unter anderem hygienische Aspekte, die Ermittlung optimaler Freiflächengrößen, soziologische Untersuchungen, Bauphysik oder Zivilschutz. Der Großwohnkomplex besteht aus vier zueinander versetzt angeordneten Wohngebäuden oberhalb einer unterirdischen Tiefgarage. Durch ihre heterogene Fassadenstruktur und Differenziertheit in der Höhenentwicklung wirken die Gebäude wie eine Stapelung kubischer Elemente. In den ersten vier Geschossen bilden die Gebäude jeweils einen Sockel in Terrassenhausbauweise aus. Der Gebäudekomplex mit etwa 520 Wohneinheiten wurde in Sichtbeton und mit einer Verkleidung aus Eternitplatten ausgebildet. Die Begrünung der Terrassen und Balkone steht in enger Verbindung mit einer stark durchgrünten Fußgängerebene und lockert die Fassadenstruktur auf.

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Abb. 132: Terrassenhaussiedlung, Luftaufnahme und Schwarzplan

Quelle: www.bing.com/maps am 05.08.2011 um 12:37 (Nutzung mit Genehmigung von Microsoft)/Privatarchiv

Trotz der klaren und parallel zueinander angeordneten Gebäudescheiben “[…] weisen die Zwischenräume, komplett als abwechslungsreiche Fußgängerzone ausgebildet, alle Merkmale einer positiv erlebbaren städtischen Umwelt auf. Offensichtlich ist es den Planern in Zusammenarbeit mit den künftigen Bewohnern […] gelungen, eine […] „neue Qualität nicht nur der privaten InnenAußenraumbeziehung, sondern vor allem auch der gesamträumlichen Disposition“ zu erreichen.“112 Die Terrassenhaussiedlung kann gemäß der erarbeiteten Definition als Großwohnkomplex angesehen werden, wobei in diesem Komplex der Schwerpunkt im Wohnbereich liegt und Büro- sowie Ladenflächen nur untergeordnet realisiert und genutzt werden. „…die Konzeption der Anlage [sollte, K.B.] „aktives soziales Wohnverhalten“ provozieren und zum „Leben in der Öffentlichkeit“ durch kommunikative Einrichtungen anregen. Eingeplant waren daher auch ein kleines Einkaufszentrum innerhalb der Anlage, Zeitungskiosk, Café. – Es zeigte sich jedoch, dass sich hierfür, bedingt durch die Nähe von Großmärkten, Einzelhandel und anderen Einrichtungen, keine Mieter fanden.“113 Im ersten Schlussbericht zum Demonstrativbauvorhaben, veröffentlicht 1975, wurden diese Ansätze der Funktionsmischung dennoch thematisiert: Neben dem „Einkaufszentrum“ waren außerdem ein Kindergarten, Büro- und Versammlungs-

112  Jäger-Klein, Carolin: Österreichische Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. Wien 2005, 2. aktualisierte Auflage: Wien 2010, S. 141. 113  Messerschmidt, Ingeborg: „Kontrolliertes Experiment“ zur Erprobung geeigneter städtischer Wohnformen. In: Neue Heimat, Band 26, Heft 5, 1979, S. 24.

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Abb. 133: Terrassenhaussiedlung, Typologie

Quelle: Privatarchiv

räume, eine Bibliothek, ein Hotel und Restaurants geplant.114 Die Bibliothek, das Hotel und die Restaurants, alle baulich im Zentrum verortet, wurden nie realisiert. Trotzdem erfüllt das Projekt damit, insbesondere im Planungsstadium, jedoch in Teilen auch in der Realisierung, die für Großwohnkomplexe typische Funktionsmischung. Typologisch ist die Terrassenhaussiedlung einer offenen Struktur mit kompaktem Erschließungssystem zuzuordnen, der Grad der Öffentlichkeit ist eher gering und nahezu ausschließlich durch die Halböffentlichkeit der Bewohner und Besucher geprägt. Deutlich wird an diesem Beispiel ebenfalls die Einordnung in den städtischen Kontext: Während der Süden, Westen und Osten des Bebauungsgebietes heute von unterschiedlich dichten Bebauungsstrukturen geprägt ist, öffnet sich das Grundstück mit dem Grünraum zu einem angrenzenden Waldstück und verbindet so den städtischen Raum mit der angrenzenden Grünzone. Das Projekt erinnert an das bereits vorgestellte Projekt der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße mit den begrünten Innenhöfen, die weniger einen urbanen und konsumorientierten Charakter besitzen, sondern vielmehr Erholungsräume für die Bewohner bieten. Teil A: Grundlagenanalyse Der Ort Das für den Bau ausgewählte Grundstück liegt etwa vier Kilometer süd-östlich des Stadtzentrums und war ein stillgelegtes Gelände der Ziegelindustrie, dessen

114  Vgl. Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen, Planen. Wien (Hrsg.): Demonstrativbauvorhaben Graz-St. Peter. Zusammenfassender Schlussbericht. Wien 1975, S. 5.

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Lehmgruben nach Ende des 2. Weltkriegs zum großen Teil mit Bauschutt gefüllt wurden. Damit lag das Gelände bis Mitte der 1960er Jahre brach, obwohl die Umgebung bereits durch die anwachsende Stadt Graz besiedelt wurde.115 Aufgrund der schlechten Bodenverhältnisse wurde der Gesamtkomplex auf Pfählen realisiert, um die Gebäude auf tragfähigen Boden gründen zu können.116 Die Architekten entwickelten für das Grundstück eine Bebauungsstruktur, die sich durch Nutzungsmischung, heterogene Grundrisse für unterschiedliche Bewohner, eine fußläufige Erschließung mit unterirdischer Tiefgarage und terrassierten Wohngebäuden auszeichnet. Die Architekten und der „strukturalistische“ Hintergrund Die „Werkgruppe Graz“ mit den Gründungsmitgliedern Eugen Gross, Friedrich Gross-Rannsbach, Werner Hollomey und Hermann Pichler entstand aus Bekanntschaften während des Studiums an der TH Graz und kann der „Grazer Schule“ zugeordnet werden. Die Grazer Schule als übergeordneter Name einiger Architekten und Studenten der Technischen Hochschule (TH) Graz konstituierte diesen Namen erstmals im Rahmen einer Veröffentlichung zu einer Ausstellung studentischer Arbeiten am MIT117 im Jahre 1949. „Mit diesem Schritt wurde eine Bewusstseinserweiterung vollzogen, die [die, K.B.] Schule mit einer Identität ausstattete, die über Graz hinaus einer Internationalisierung gleichkommt.“118 Die Verbindung dieser „Grazer Schule“ zum Strukturalismus stellt Eugen Gross in einem Vortrag aus dem Jahr 2010 anhand von zwei einflussnehmenden Vorbildern heraus: der Verbindung der „Grazer Schule“ mit dem Team Ten sowie den Einflüssen des Metabolismus. Konkret wurden die strukturalistischen Gedanken

115  Vgl.

http://www.werkgruppe-graz.at/1400/03/032-data/03213.html,

13.1.2012,

9:40Uhr. 116  Vgl. Messerschmidt, Ingeborg: „Kontrolliertes Experiment“ zur Erprobung geeigneter städtischer Wohnformen. In: Neue Heimat, Band 26, Heft 5, 1979, S. 25. 117  Massachusetts Institute of Technology. 118  Gross, Eugen: Wie beeinflusste der Strukturalismus die Grazer Schule der Architektur? Vortrag im Rahmen eines Symposiums an der TU Graz 2010, S. 5/Der Vortrag wurde 2012 in gekürzter und leicht veränderter Fassung veröffentlicht. Vgl. Gross, Eugen: Wie beeinflusste der Strukturalismus die „Grazer Schule“ der Architektur? In: Wagner Anselm/Senarclens de Grancy, Antje (Hrsg.): Was bleibt von der „Grazer Schule“? Architektur Utopien seit den 1960ern revisited. Berlin 2012, S. 217.

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Abb. 134: Modellfoto/Terrassenhaussiedlung kurz nach der Fertigstellung

Quelle: Archiv Werkgruppe Graz

• • • • •

durch Teilnehmer aus Graz am CIAM 1959 in Oterloo, durch Stipendiaten aus Graz, die als Studenten an der TU Delft strukturalistische Gedanken kennenlernten, durch die Verbreitung der Zeitschrift „Forum“ in Graz durch eben diese Stipendiaten, durch Teilnehmer aus Graz an einer Sommerakademie in Salzburg, wo Jacob Bakema lehrte sowie durch Exkursionen von Mitgliedern der „Grazer Schule“ nach Holland119 in Graz angenommen und verbreitet.

Ebenso entstanden strukturalistische Gedanken durch Einflüsse von japanischen Metabolisten, die durch die Veröffentlichung von Projekten urbaner Großstrukturen auch in Graz Aufmerksamkeit erfuhren120 und damit Vorbildcharakter für die Idee des ständigen Wandels in einer festen Großstruktur darstellten. In Bezug auf das Bauvorhaben „Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter“ stellt Eugen Gross die Verbindung zum Strukturalismus unter folgendem Aspekt her: „Sie [die Terrassenhaussiedlung, K.B.] steht für die Konzeption des „IN-BETWEEN“, die dem Strukturalismus der „Ästhetik der Zahl“, wie sie Aldo van Eyck vertrat, zuzurechnen ist. Zwischenräume auf verschiedenen Ebenen vermitteln zwischen Gemeinschaft und Individuum. Die „freie Mitte“ ist jenes vorherrschende Identifikationsmoment, das der

119  Vgl. Gross, Eugen: Wie beeinflusste der Strukturalismus die Grazer Schule der Architektur? Vortrag im Rahmen eines Symposiums an der TU Graz 2010, S. 7f. 120  Vgl. ebd., S. 7.

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Siedlung bis heute die Geltung einer der wichtigsten Wohnanlagen im europäischen Kontext verschafft.“ 121

Die theoretischen Ansätze, die der Entstehung der Terrassenhaussiedlung zugrunde liegen, fassen die Architekten in einem Brief an das Institut für Umweltforschung und Entwicklungsplanung im Jahr 1973 unter den Stichworten „syntaktisch“, „semantisch“ und „pragmatisch“ zusammen.122 Unter syntaktischen Gesichtspunkten beschrieben die Architekten die Konzeption der Gebäude als Gruppenform, deren einzelne Blocks und deren Wohnungen nicht nur nach den Himmelsrichtungen und optimaler Besonnung ausgerichtet wurden, sondern auch auf markante Sichtbezüge zur Stadt Graz verweisen (Orientierung). Als „semantischen“ Aspekt beschreiben die Architekten den visuellen und sozialen neuen Schwerpunkt im Stadtgefüge der Stadt Graz durch die Terrassenhaussiedlung. Als „pragmatisch“ wurden das Erscheinungsbild der Anlage und die damit einhergehende Identifizierbarkeit der Bewohner mit ihrer Umwelt, den Außenanlagen und der Wohnung beschrieben. (Förderung der sozialen Integration durch Fußgängerplattform). „Dieserart erhoffen wir von unserem Entwurf, daß [sic!] er ein Lernfeld sozialer, demokratischer Interaktion bildet, in dem die Neigungen und Fähigkeiten des Menschen zu einem räumlichen Erleben besser und voller Gestalt annehmen können.“123

Deutlich wird hier, inwieweit die theoretischen Aspekte der Architektur der 1970er Jahre in diesem Beispiel tatsächlich Planungsbestandteil wurden, und wie klar die Architekten diese Ansätze in Bezug auf ihr Projekt formulierten. 124 Zielvorstellungen Auf der Website der „Werkgruppe Graz“ stellen die Architekten ihre Zielvorstellungen und entwurfsbegleitenden Grundsätze heraus, die sie der Publikation „Neue städtische Wohnformen“ entnommen haben und auf deren Grundlage die Terrassenhaussiedlung entstand: 121  Ebd., S. 9. 122  Vgl. dies und das Folgende: Gross, Eugen in einem Brief an das Institut für Umweltforschung und Entwicklungsplanung 1973. 123  Ebd.. 124  Vgl. dazu Kapitel „1960–1975 Urbanität durch Dichte“ in welchem die die Hintergründe des städtebaulichen Leitbilds, Kommunikation, Verkehr, gesellschaftliches Leben und die Zunahme des tertiären Sektors beschrieben werden.

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Abb. 135: Skizze Sonnenstände und Grünraum/Siedlung im Bau

Quelle:http://www.gat.st/sites/default/files/imagecache/Vollbild/public/01_65_terrassenhausskizze.jpg, 12.01.12, 9:50/ Archiv Werkgruppe Graz „Mischung der Stätten des Wohnens, des Arbeitens, der Erholung und der Bildung entsprechend den natürlichen Lebensfunktionen des Menschen. Verflechtung privater und öffentlicher Funktionen für gemeinschaftsbildende Kontaktmöglichkeiten. Horizontale und vertikale Konzentration der Bebauung als Voraussetzung neuer urbaner Wohnformen. Trennung der Verkehrsebenen aus der Forderung nach ungestörten Fussgeherbereichen [sic!]. Das Einfamilienhaus als Inspirationsquelle familiengemässen [sic!] Wohnens. Wissenschaftliche Forschung industrieller Vorfertigungsmethoden für die wirtschaftliche Realisierung neuer Ideen. Schöpferische Aktivierung der Bewohner als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Persönlichkeit. Der Wohnbau als verantwortungsvollste Bauaufgabe unserer Zeit erfordert höchste künstlerische Qualität“125

Nach eigener Darstellung ist das Projekt in Primärstruktur, Sekundärstruktur und Tertiärstruktur unterteilbar. Die Primärstruktur als „Ausdruck für Bewusstsein von Gemeinschaft“126, die Sekundärstruktur, mit der Wohnung, als „Ort der

125  http://www.werkgruppe-graz.at/1400/04/wegphase06.html, 15.01.2021, 16:37 126  Dies und die folgenden: Steirisches Internetportal für Architektur und Städtebau (www.GAT.st).

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Abb. 136: Längsschnitt

Quelle: Archiv Werkgruppe Graz

Individualität“ und die Tertiärstruktur, die „Partizipation und Selbstbau“ beinhaltet. Die Primärstruktur stellt dabei das gedankliche Gerüst des Gemeinschaftlichen dar, das im Projekt durch die vertikalen und horizontalen Verkehrswege und die daraus entstehenden Kommunikationszonen ebenso ausgedrückt wird, wie durch das Bereitstellen einer „konstruktiven Grundausstattung“ der Wohnung, worin jeder Eigentümer einen individuellen Ausbau planen konnte. Die Sekundärstruktur bezieht sich auf die Individualität des Wohnens und die Erkenn- und Unterscheidbarkeit des Privaten und seiner direkten Umgebung. „Das Prinzip der Unterscheidbarkeit steht gegen Monotonie und Unterwerfung.“127 Die Tertiärstruktur beschreibt sowohl die Partizipation, in Form von Mitgestaltungsmöglichkeiten im Planungsprozess, als auch die Selbstgestaltung im konkreten Ausbau der Wohnung. Mit dieser Beschreibung des intellektuellen Projekthintergrunds wird deutlich, inwieweit die Themen Planungsdemokratie, Mitgestaltung und Individualität mit dem Ziel, die Vorzüge eines Einfamilienhauses innerhalb einer Gemeinschaft zu realisieren, den Entwurf der Terrassenhaussiedlung in Graz geprägt haben. Die Gebäude und der Außenraum Ähnlich dem Projekt des Olympischen Dorfes wurde bei der Planung der Wohnungen und der Ausrichtung der Gebäude auf eine optimale Besonnung geachtet. So wurden die in Nord-Süd-Richtung ausgerichteten Gebäudescheiben zueinander versetzt angeordnet und gleichzeitig gegenläufig abgetreppt.128 Alle Woh-

http://www.gat.st/pages/de/nachrichten/828.html?ls=c3dcc6aba03457be442665799c c670eb, 12.1.2012, 9:50. 127  Ebd., 12.1.2012, 9:50. 128  Aus einem Interview aus dem Jahr 2011 mit Eugen Gross. Durchgeführt im Rahmen eines Seminars an der TU Graz.

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nungen besitzen einen privaten Außenraum in Form von Dachterrassen oder Balkonen. Teilweise wurden halböffentliche Terrassen für die gemeinschaftliche Nutzung vorgesehen. Eine auf der Website veröffentlichte Projektdarstellung der Architekten fasst die wichtigsten Parameter zusammen: „Die Planung sah […] die Errichtung eines Stahlbetonträgerrostes auf Höhe des ursprünglichen natürlichen Geländes vor, der als „künstliches Niveau“ der gesamten Anlage zu dienen hatte. Über diesem wurden 4 Blöcke in süd-ost und nord-westlicher Orientierung konzipiert, die versetzt angeordnet in gestaffelter Höhe zugleich den Blick auf die Stadt und das grüne Umland bieten. Die Gesamtanlage mit ca. 530 Wohnungen und einer Tiefgarage, die den ganzen Siedlungsbereich als Fußgängerzone anbietet, wurde von 1972– 1978 in 4 Bauabschnitten errichtet…“129

In Bezug zu dieser Unterschiedlichkeit der Wohnungsgrundrisse war es das Ziel der Architekten, unterschiedlichste Bevölkerungsstrukturen in der Terrassenhaussiedlung zusammenzuführen und für alle Bedürfnisse Wohnraum bereitzustellen. Es wurden etwa je zu einem Drittel Terrassenwohnungen, Maisonettewohnungen und Etagenwohnungen realisiert.130 Die Heterogenität der Bevölkerung sollte, so die übergeordnete und bereits erläuterte Vorstellung in den 1960er/1970er Jahren, eine Urbanität entstehen lassen. Neu ist demnach auch nicht, dass die „… Spezifik dieses Wohnraums […] trotz der geplanten Pluralisierung der Lebensstile deren Homogenisierung“131 bewirkte. Dass in den Planungen der Architekten soziologische Gesichtspunkte Berücksichtigung fanden, wird auch daran deutlich, dass die Anlage „…mit der utopischen Perspektive eines sozialen „anderen“ urbanen Lebens zu einem ökologischen System werden“ 132 sollte. Durch die Betonung des Innen- und Außenraums sowie der Übergänge von öffentlichen und halböffentlichen zu privaten Bereichen kann das Projekt einem strukturalistischen Ansatz zugeordnet werden. Eine Verbindung der Gebäude mit der Umgebung wird auch an der dichten Begrünung der Fassaden deutlich: „[…]

129  http://www.werkgruppe-graz.at/1400/03/032-data/03213.html, 13.1.2012, 9:45Uhr. 130  Vgl. Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen, Planen. Wien (Hrsg.): Demonstrativbauvorhaben Graz-St. Peter. Zusammenfassender Schlussbericht. Wien 1975, S. 4. 131  Katschnig-Fasch, Elisabeth: Möblierter Sinn: Städtische Wohn- und Lebensstile. Wien/Köln/Weimar/Böhlau 1995, S. 125 . 132  Ebd., S. 126.

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Abb. 137: Hofansicht/Querschnitt

Quelle: Privatarchiv/Archiv Werkgruppe Graz

eine künstliche Natur auf den Terrassen und über die grauen Betonwände hängend […]“133 Die Erschließung des Gebiets erfolgt durch den Fahrverkehr im Untergeschoss der Siedlung. Diese Parkplätze sind durch Aufzüge und Treppenhäuser mit dem Gebäude direkt verbunden. Oberhalb des Parkdecks, zwischen den Gebäudeblöcken, entstand eine fußläufig erschlossene Grünzone mit Wasserbecken, einem „Zentrum“ mit Aufenthaltsmöglichkeiten und „Ruhezonen“.134 Diese Grünflächen innerhalb des Komplexes sind von einer klaren Orthogonalität geprägt, die auf dem konstruktiven Raster der Tiefgarageneben basiert. Dieses Raster verleiht dem Außenraum einen gestalteten, architektonischen Charakter und ordnet den Raum. Die Gebäude wurden auf einem Achsraster von sieben Metern errichtet wodurch eine Flexibilität und die Möglichkeit individueller Anpassung der Wohnungsgrundrisse durch nicht-tragende Zwischenwände erreicht wurde.135 Das Demonstrativbauvorhaben mit den unterschiedlichen Wohnungsgrundrissen, der angestrebten, heterogenen Bewohnerstruktur und den unterschiedlichen Bezügen von Innen- zu Außenraum in Form von öffentlichem Grünräumen, halböffentlichen Bewohnerterrassen sowie privaten Dachterrassen und Balkonen ergab ein vielfältiges Forschungsfeld.136 Gemäß der Architekten sollte der „[…] Wunsch nach einer stärkeren Verdichtung als Ausdruck einer sozialen Lebensform […] in einer optimalen Integration in die Landschaft ihren Ausgleich finden. Das Einfamilienhaus mit 133  Ebd., S. 129. 134  Vgl. Messerschmidt, Ingeborg: „Kontrolliertes Experiment“ zur Erprobung geeigneter städtischer Wohnformen. In: Neue Heimat, Band 26, Heft 5, 1979, S. 26 135  Vgl. ebd., S. 27. 136  Vgl. N.N.: St. Peter: Schlechtes Image, zufriedene Bewohner. In: Wohnbau, Heft 5, 1981, S. 4.

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seinem hohen Wohnwert in gestapelter Form diente als Modellvorstellung. Die Stapelung einer großen Anzahl von Wohneinheiten hat dabei auf den urbanen Zusammenhang, die optimalen Ausblicks- und Besonnungsmöglichkeiten, die Ansprüche des Fußgängers nach freier Bewegung und eine gesicherte Verkehrserschließung Bedacht zu nehmen.“137 Partizipation und Kommunikation Die Partizipation der späteren Bewohner war ein entscheidender Faktor in der Entwicklung der Wohnungsgrundrisse und der Fassadengestaltung.138 Die Wohnungen wurden variabel konzipiert: Die tragende Struktur im festen Achsraster lässt den Umbau von leichten Trennwänden im Zwischenraum zu und mit einem zentral im Kern des Gebäudes liegenden Erschließungsschacht können die Grundriss individuell angepasst werden. „Diese Variabilität der inneren Organisation wird ergänzt durch die Möglichkeit der Veränderung der den Wohnungen zugeordneten Freiräume und Außenwandabschlüsse. Es konnten die Freiräume (Terrassen und Loggien) sowohl vergrößert, als auch verkleinert werden […]. Von diesen Möglichkeiten haben […] rund 80% der Interessenten Gebrauch gemacht.“139 Im Planungsprozess hatten die zukünftigen Bewohner auch Mitbestimmungsmöglichkeiten bei der Fassadengestaltung ihrer Wohnung und konnten so Fenstergrößen und -positionen festlegen.140 Entgegen vieler Hochhausbauten, in welchen sich die Kommunikation der Bewohner horizontal auf die eigene Etage innerhalb eine Treppenhauses beschränkt, wurde in Graz versucht, durch offene Laubengänge auf den Etagen und gemeinschaftliche Dachterrassen im vierten Obergeschoss die geschossübergreifende Kommunikation zu stärken.141 Diese Kommunikationsebene erstreckt sich über das gesamte Geschoss eines Gebäudes. Die Pflege und Instandhaltung wird gemeinschaftlich organisiert.142

137  Zitat der Architekten in: Ebd., S. 14. 138  Vgl. Messerschmidt, Ingeborg: „Kontrolliertes Experiment“ zur Erprobung geeigneter städtischer Wohnformen. In: Neue Heimat, Band 26, Heft 5, 1979, S. 24 . 139  Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen, Planen. Wien (Hrsg.): Demonstrativbauvorhaben Graz-St. Peter. Zusammenfassender Schlussbericht. Wien 1975, S. 4. 140  Aus einem Interview aus dem Jahr 2011 mit Eugen Gross. Durchgeführt im Rahmen eines Seminars an der TU Graz. 141  Vgl. Messerschmidt, Ingeborg: „Kontrolliertes Experiment“ zur Erprobung geeigneter städtischer Wohnformen. In: Neue Heimat, Band 26, Heft 5, 1979, S. 24. 142  Vgl. Katschnig-Fasch, Elisabeth: Möblierter Sinn: Städtische Wohn- und Lebensstile. Wien/Köln/Weimar/Böhlau 1995, S. 126 .

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Abb. 138: beispielhafter Wohnungsgrundriss/Erschließungsebene 4.OG

Quelle: Archiv Werkgruppe Graz

Die Wohnungsgrundrisse Die vier langgezogenen Gebäudescheiben der Terrassenhaussiedlung werden von jeweils vier Erschließungstürmen unterbrochen und gegliedert und bilden so klare „Gebäudegrößen auf Wohnhausniveau“ aus. Während der erste Eindruck der Bebauungsstruktur darauf hindeutet, dass ausschließlich eine Gebäudetypologie, nämlich die einer Wohnscheibe mit terrassiert abgestuftem Sockel realisiert wurde, wird beim genaueren Studium deutlich, dass viele Gebäude- und Grundrisstypologien innerhalb dieser Struktur realisiert wurden: Das Wohnhochhaus mit Maisonetten und Geschosswohnungen auf den Etagen oberhalb des vierten Obergeschosses, durch einen Laubengang erschlossene Wohnungen auf der durchlaufenden Kommunikationsebene im vierten Obergeschoss, Terrassenhauswohnungen in den Sockelgeschossen und Atriumwohnungen im Erdgeschoss. Eine Besonderheit dieser Wohnungstypologie und ihrer Anordnung im Gebäude liegt darin, dass jeweils maximal drei Wohnungen pro Etage direkt vom offenen Treppenhaus erschlossen werden und durch den gemeinsamen Eingangsbereich eine Gemeinschaftlichkeit bzw. überschaubare Nachbarschaft erzeugen. Aufgrund der unterschiedlichen Höhenverhältnisse auf dem Terrassenhofniveau und der Umgebung ist die Nutzung im Erdgeschoss nur einseitig und zwar zur Umgebung ausgerichtet. Im ersten Obergeschoß, ebenengleich mit dem Hofniveau, werden dann jeweils zwei Wohnungen (Atriumwohnung Richtung Hof, Terrassenwohnung Richtung Außenraum) und große Abstellräume im „Bauch“ des Gebäudes von einem zentralen, offenen Vorraum erschlossen. Diese Struktur der Terrassenwohnungen, einseitig orientiert und belichtet, mit Abstellräumen im Innern des Gebäudes wiederholt sich auf dem zweiten Obergeschoss. Im dritten Obergeschoss hat sich die Tiefe des Gebäudes soweit reduziert, dass die gesamte Gebäudetiefe zu Wohnzwecken genutzt werden kann.

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Abb. 139: Erschließungsebene 4.OG/nördlicher Hof

Quelle: Privatarchiv

Das vierte Geschoss stellt wiederum eine Besonderheit dar: Hier verläuft an der Hofseite die offene Kommunikationsebene, die die einzelnen Erschließungsbereiche als „Brücke“ verbindet und als Erschließungsgang der nun zweiseitig belichteten Wohnungen dient. Gleichzeitig wird am Treppenturm jeweils eine weitere Wohnung erschlossen, die mit einer Zwischenebene Raum für die Belichtung der darunterliegenden Wohnung ermöglicht. Damit wird in die Gebäudestruktur eine Zwischenebene eingeführt, die sich nun bis in die obersten Etagen wiederholt. Die Grundrisse sind gemäß des Partizipationsgedankens höchst unterschiedlich realisiert worden. So gibt es die 1-Zimmer-Studio-Wohnung mit Loggia ebenso wie das Zweizimmerappartement auf gleicher Wohnfläche, die Vierzimmerwohnung über zwei Ebenen sowie als Etagenwohnung, ebenso wie die Maisonettewohnungen in den obersten Geschossen mit privater Dachterrasse. Image Wie sich bereits anhand der untersuchten Fallbeispiele zeigte, ist auch das Image der Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter von verschiedensten Meinungen geprägt. „Es gibt nur wenige andere Wohnhausanlagen dieser Größenordnung in Österreich, bei denen eine ebenso ausgereifte Konzeption realisiert wurde. Bei keinem anderen Wohnhaus wurde ein vergleichbarer wissenschaftlicher Aufwand investiert. Und dennoch hatte die Terrassenhaus-Siedlung St. Peter bei Medien und Politikern in Graz ein schlechtes Image, weil der finanzielle Aufwand offenbar jahrelang unerforscht blieb. Über die steirischen Grenzen hinaus ist der Demonstrativbau selbst in Fachkreisen wenig bekannt. Mit anderen heftig kritisierten Großwohnanlagen hat das Terrassenhaus jedoch eines gemeinsam:

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Die Bewohner sind außergewöhnlich zufrieden.“143 Ein Forschungsprojekt über diese Bewohnerzufriedenheit in den Jahren 1975 und 1980 zeigte, dass analog der Bewohnerstruktur im Olympischen Dorf ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Akademikerfamilien den Großwohnkomplex bewohnten.144 Insbesondere die Kinderfreundlichkeit der Anlage und die Mitbestimmungsmöglichkeiten im Planungsprozess sowie die einfachen Möglichkeiten der Umbauten innerhalb einer Wohnung werden von den Bewohnern bis heute als positive Merkmale angeführt. 145 Durch die unterschiedlichen Grundrisse „[...] kann jeder seine Bedürfnisse befriedigen.“ Eugen Gross führt zusammenfassend an, dass das Hauptmerkmal der Terrassenhaussiedlung sei, „[...] öffentliche und private Ansprüche in Ausgleich zu setzen.“146 Er erläutert das Ziel des Konzeptes die Vorzüge eines Einfamilienhauses durch das „Haus im Haus“ Prinzip mit dichten Bebauungsstrukturen zu verbinden und beschreibt das Ergebnis als „urban“. Bei Außenstehenden dagegen hatte der Großwohnkomplex jedoch durch die Materielwahl und die großmaßstäblichen Gebäude ein negativ besetztes Image.147 Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass sich die im Jahr 1975 formulierten Erwartungen hinsichtlich der Nutzung der privaten Freiflächen und der technischen Gegebenheiten wie dem Schallschutz oder gestalterischen Aspekten wie guter Aussicht oder Einblick in die eigene Wohnung durch Nachbarn in den meisten Fällen in der Realität positiv entwickelten.148 Entwurfsmerkmale Auch in diesem Fallbeispiel ergeben sich bereits aus der Literarturrecherche Entwurfsmerkmale, die in einem folgenden Schritt vor Ort auf ihre Relevanz und ihren Stellenwert im Gesamtkonzept überprüft werden.

143  N.N.: St. Peter: Schlechtes Image, zufriedene Bewohner. In: Wohnbau, Heft 5, 1981, S. 3. 144  Vgl. ebd., S. 6. 145  Dies und das Folgende: Aus einem Interview aus dem Jahr 2011 mit Bewohnerinnen der Terrassenhaussiedlung. Durchgeführt im Rahmen eines Seminars an der TU Graz. 146  Aus einem Interview aus dem Jahr 2011 mit Eugen Gross. Durchgeführt im Rahmen eines Seminars an der TU Graz. 147  Ebd.. 148  Vgl. N.N.: St. Peter: Schlechtes Image, zufriedene Bewohner. In: Wohnbau, Heft 5, 1981, S. 11.

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Merkmal A – Gemeinschaft und Kommunikation Die Übergänge zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wurden fließend realisiert. Dies ist in einem relativ klar abgegrenzten Wohnbereich besser möglich, als in einem stark öffentlichkeitsorientierten Komplex. Die Gemeinschaftsräume/-zonen innerhalb der Gebäude fördern ebenfalls das gemeinschaftliche Freizeitverhalten und die Kommunikation. Die gemeinschaftlich genutzten Anlagen erhöhen die Identifikation mit der gebauten Umwelt. Merkmal B – öffentlicher Raum Die Terrassenhaussiedlung ist von großen, zusammenhängenden Grünflächen geprägt, durch unterschiedliche Funktionsflächen strukturiert und mit einem Wegenetz durchzogen. Es bildet sich dadurch jedoch weder ein städtisches Zentrum heraus noch ergibt sich eine hierarchische Abfolge von Räumen. Die Aufenthaltsqualität der „Grünräume“ muss vor Ort untersucht werden. Die Urbanität ist durch diese Grünflächen eher gering, der öffentliche Raum wird vielmehr als wohnungsnaher Erholungsbereich empfunden. Merkmal C – Terrassenhäuser Durch die Terrassenhausstruktur wird der öffentliche Raum in den unteren Etagen dichter, und öffnet sich erst ab dem vierten Geschoss nach oben, sodass der Raum trotzdem offen und hell wirkt. Die empfundene räumliche Dichte ist jedoch in der Terrassenhaussiedlung durch die einzeln stehenden Wohnscheiben nicht besonders hoch. Merkmal D – Gebäudetypologie Ähnlich wie der Großwohnkomplex Brunswick Center besteht die Terrassenhaussiedlung aus nur einer Gebäudetypologie, dem Scheibenhochhaus mit terrassiertem Sockel. Aufgrund der überschaubaren Gesamtgröße des Komplexes und der unterschiedlichen Grundrisstypologien ist jedoch trotzdem eine Vielfalt gegeben. Eine Eintönigkeit der Fassadenstruktur wurde durch die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten der Bewohner ausgeschlossen. Merkmal E – der autofreie Innenbereich Die oberhalb der Parkgarage angeordnete Fußgängerebene bietet wohnungsnahe Erholungsräume für die Bewohner. Aufgrund mangelnder Infrastruktureinrichtungen kann davon ausgegangen werden, dass die sich die Nutzung eher auf Freizeitaktivitäten beschränkt und dieser weniger als urbaner und hoch frequentierter Fußgängerbereich oder Bewegungsraum genutzt wird. Merkmal F – Verzahnung mit der Umgebung Die Umgebung der Terrassenhaussiedlung ist von heterogener und aufgelockerter Bebauung geprägt. Die Bebauung der Terrassenhaussiedlung greift diese Bebauungsstruktur mit vier freistehenden Gebäuden auf. Die umgebenden Grünräume verzahnen sich mit den Freiflächen der Siedlung.

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Abb. 140: Ansicht von Westen Abb. 141: Rampe am süd-westlichen Eingang Abb. 142: Blick über das Zentrum nach Nord-Osten Abb. 143: Aufenthaltszonen Abb. 144: Erschließung Abb. 145: Übergang zum Grünraum Quelle: Privatarchiv

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Teil B: Vor-Ort-Analyse Der „Grazer Hinterhof“ Nähert man sich dem Großwohnkomplex vom Stadtzentrum Graz eröffnet sich dem Besucher auf der Fahrt zur Terrassenhaussiedlung eine niedrige Mehrfamilienhausbebauung, die sich größtenteils als Blockrandbebauung darstellt. Etwa im Verlauf der vor dem Krieg bestehenden Stadtgrenze findet ein Bruch im städtebaulichen Kontext statt. In der näheren Umgebung der Terrassenhaussiedlung lockert die Bebauung auf, frei stehende Wohnhochhäuser in Verbindung mit Zeilenbauten prägen nun das Stadtbild. Dahinter erhebt sich, stark durchgrünt und mit heterogener Fassadenstruktur, die den Komplex klar von der umliegenden Hochhausarchitektur unterscheidet, die Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter. Unabhängig von der Fassadengestaltung gliedert sich der Großwohnkomplex St. Peter durch die vier einzeln stehenden Gebäudescheiben in die aufgelockerte und heterogene Struktur der Umgebung ein. Der Zugang im Süden der Wohnanlage wird von der Garageneinfahrt auf Erdgeschossniveau dominiert, woran sich links eine Rampenanlage zum Fußgängerdeck angliedert. Die Rampe führt auf eine Ebene, die durch die starke Begrünung und die umliegenden Gebäude an eine Hinterhofsituation erinnert. Richtung Norden folgt der Blick dem Verlauf der Gebäude und man erahnt bereits die klare Struktur und die Ausmaße der Gesamtanlage. Beim Durchwandern der ausschließlich für Fußgänger und Radfahrer bestimmten Terrasse erreicht man bald das offene Zentrum des Komplexes. Die Räume des nördlichen und südlichen „Hofes“, beide gegliedert durch jeweils ein Wasserbecken, das die Gleichwertigkeit der Räume unterstreicht, überlagern sich hier und bilden einen zentralen Ort. Weitere Rampen führen von hier, dank der versetzten Anordnung der Gebäude wie selbstverständlich hinab zu den „Rückseiten“ der Gebäude, zu weiteren Einfahrten zur Garagenebene und zur umlaufenden Feuerwehrumfahrt. Der nördliche Abschluss der Siedlung wird wiederum durch Rampen gekennzeichnet, die nun jedoch auf eine dem natürlichen Terrainverlauf folgenden, höher gelegen Straße bzw. einen höher gelegenen Weg führen. Eine nahe gelegene Straßenbahnstation und ein Marktplatz schaffen hier eine gute Infrastruktur für die Bewohner. Beim Durchschreiten des Quartiers fällt eine Hierarchisierung der Flächen ins Auge, die sich eher an der Umgebung festmachen lässt, als an der Gestaltung der Höfe. Betritt man den Komplex von Süden erinnert sich der Besucher an die vielbefahrene Hauptstraße und den städtischen Charakter südlich der Siedlung. Im Norden des Komplexes öffnet sich eine großflächige, am Hang gelegene, mit Wald und Seen wie auch in Teilen mit Überresten der alten Ziegelindustrie

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durchsetzte Fläche, die als erweiterter Erholungsraum für die Bewohner dient. Dieser Raum war Teil der Planungsgrundlagen und wurde als Grünraum in der Bauleitplanung ausgegeben. Eine Hierarchisierung von Süd nach Nord wird damit deutlich, der Großwohnkomplex bildet den fließenden Übergang von städtischer Atmosphäre zum durchgrünten Erholungsraum. Die Hofsituation wird verstärkt durch die Ausrichtung aller Ausgänge zur Terrassenebene. Obwohl eine Erschließung über die rückwärtige Feuerwehrzufahrt ebenfalls möglich ist, werden die Besucher zuerst in den Hof geführt und auch die Bewohner nutzen offensichtlich vermehrt diesen Zugang. Folgt man den Wegeverläufen außerhalb der Hofebene, umrundet man den Gesamtkomplex. Hier sind in einer umlaufenden Grünzone Kinderspielplätze und ein Kindergarten angeordnet. Ein Eintritt in die Hofsituation des Komplexes ist an den Treppentürmen jederzeit möglich und wird stark frequentiert. Dabei nutzen sowohl Passanten, die von umliegenden Wohnquartieren die Siedlung auf dem Weg zur Straßenbahn oder zum Einkaufen queren, als auch spielende Kinder die unterschiedlichen Freiflächen und Ebenen mit Rasenflächen und Kinderspielplätzen außen, sowie Kinderplanschbecken (als Wasserbecken konzipiert), Sitzmöglichkeiten und gepflasterte Flächen innen. Eine ständige Frequentierung (Tageszeit abhängig ob gerichtet oder mit längerem Aufenthalt) wird durch diese Aspekte gefördert. Auf den Freiflächen sind ebenfalls spontane oder geplante Treffen wie Unterhaltungen von Eltern während des Spielens der Kinder oder ein Sektempfang im Rahmen einer Feierlichkeit zu beobachten. Dichte Bäume und überwucherte Terrassen schützen den Besucher vor dem Gefühl des „beobachtet Werdens“. Beim Aufenthalt innerhalb des Hofes hört man jedoch gleichzeitig viele Geräusche von Menschen und „Leben“ innerhalb der Wohnungen. Raumfolgen Die Terrassenhaussiedlung ist geprägt von einer offenen, übersichtlichen Platzstruktur, die sich in drei Zonen teilt: Einen südlichen und einen nördlichen Hof sowie ein Zentrum, das durch die Überlagerung beider Hofräume erlebbar wird. Die Höhenentwicklung der angrenzenden Gebäude ist dabei weitestgehend konstant, geringere Vorsprünge werden durch die Gesamthöhe der Gebäude auf dem Niveau des Freiraums nicht erfahrbar. Die Hierarchisierung der Außenräume ist stark durch die Umgebung, einer Hauptverkehrsstraße im Süden und einem Grünraum im Norden geprägt. Die individuelle Erschließung der Wohnungen erfolgt durch einzelne Treppentürme. Ein hohes Maß an Kommunikation wird durch die öffentliche Verbindungsebene sowie durch die gemeinschaftlich ge-

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Abb. 146: Schemazeichnung Terrassenhaussiedlung

Quelle: Privatarchiv

Abb. 147: Raumnutzungsanalyse – „Momentaufnahme“ Zentrum 05.05.2012 10:45

Quelle: Privatarchiv

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„Momentaufnahme“ im Zentrum der Terrassenhaussiedlung St. Peter, Mai 2012 Die Terrassenhaussiedlung in Graz ist von einer einfachen Grundstruktur geprägt. Vier ähnliche, langgezogen Terrassengebäude sind leicht versetzt zueinander auf dem Gelände platziert. Die Gebäude wurden mit dem Ziel einer möglichst optimalen Besonnung aller Wohnungen in Richtung Nord-Ost/SüdWest ausgerichtet. Aus der Gebäudeanordnung ergibt sich wie selbstverständlich eine Platzsituation im Zentrum des Komplexes, der in der Planungszeit mit einem Einkaufszentrum und einem Hotel gefüllt werden sollte. Ohne das bauliche Zentrum ergibt sich heute jedoch trotzdem eine gefasste Platzsituation, die von der Überlagerung der langgezogen Freiräume im Norden und Süden lebt. Das Zentrum der Terrassenhaussiedlung wird durch Grünflächen sowie durch leichte Höhenversprünge strukturiert. Auf einem konstruktiven Raster entstehen so Räume, die als Aufenthaltszonen von Besuchern und Bewohner genutzt werden. Gleichzeitig verbindet das Zentrum den nördlich und südliche Innenraum des Komplexes und dient somit als Durchgangsraum zwischen Hauptstraße im Süden und Grünraum im Norden der Terrassenhaussiedlung. Sitzbänke und Freiflächen werden von den Bewohnern und Besuchern angenommen und Kinder spielen auf den Grün- und Platzflächen. Abb. 148: Zentrum

Quelle: Privatarchiv

Abb. 149: Anzahl der Personen und ihre Aktivität im Rahmen der „Momentaufnahme“

Quelle: Privatarchiv

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nutzten Flächen im vierten Geschoss der Gebäude ermöglicht. Halböffentliche Bereiche ziehen sich über den Innenhof und die Kommunikationsebene bis hinauf zu Dachterrassen durch das Gebäude. Das Leben in der Terrassenhaussiedlung In einem Artikel aus dem Jahr 2010 setzt der Architekt Eugen Gross das Grundprinzip der Terrassenhaussiedlung, individuell gestalteten Wohnraum in einer vorhandenen Trag- und Erschließungsstruktur (gemeinschaftlich) zu realisieren in den Kontext des Strukturalismusgedankens. Jede Wohnung im Gesamtkomplex wurde im Planungsprozess entsprechend in Zusammenarbeit mit den zukünftigen Nutzern individuell geplant. „Es sind kaum zwei Wohnungen gleich“, erklärt Eugen Gross.149 Als ein wichtiges Element werden von den Architekten dabei die Installationsschächte angeführt, die ein „anklicken“ einer „Raumzelle“ an jeder Stelle ermöglichen.150 Diese Schächte sind begehbar, sodass neuen Installationen und Änderungen jederzeit möglich sind. Die Erschließungsebene auf dem vierten Obergeschoss mündet am Kopf des Gebäudes jeweils in einen offenen Gemeinschaftsbereich, der der gemeinschaftlichen Nutzung und Aneignung dienen soll. Durch die angegliederten Schächte sind diese Flächen „bestens versorgt“ und könnten sofort durch das Hinzufügen einiger Fassadenelemente zu nutzbaren Räume ausgebaut werden.151 „Alle Leute darüber und darunter wären mehr als froh, wenn es zugebaut werden würde“152, beschreibt Hermann Pichler die Situation, es scheitere jedoch an den Bewohnern, die als Eigentümer jeweils einen Anteil dieser Flächen besitzen. Das strukturalistische Verständnis der Primärstruktur als ausbaubares Skelett stand bei der Entwicklung dieser Zonen Pate.153 Diese offenen Bereiche mussten jedoch vor einigen Jahren für die Öffentlichkeit gesperrt werden, da sich Obdachlose diese Orte aneigneten. Heute wird intern, bisher ohne Ergebnis, über mögliche Nutzungen dieser Bereiche diskutiert. Das kulturelle und gemeinschaftliche Leben in der Terrassenhaussiedlung wird durch Gemeinschaftsräume innerhalb eines Gebäudes am Zentrum unterstützt, das den Bewohnern für Vorträge, Turn- oder Gymnastikstunden und Versammlungen der Interessengemeinschaft und zu administrativen Zwecken 149  Vgl. Eugen Gross 2012. 150  Vgl. dies und das folgende: Hermann Pichler 2012. 151  Vgl. Hermann Pichler 2012. 152  Hermann Pichler 2012. 153  Vgl. http://www.gat.st/news/1965-demonstrativbauvorhaben-terrassenhaussiedlung 12.02.2012/10:00.

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bereitsteht. Der gute Zustand diese Räumlichkeiten zeugt von einer Wertschätzung und positiven Aneignung. Eine Analogie zum Kreuzfahrtschiff In einem Gespräch mit den Architekten Eugen Gross und Hermann Pichler wird im Kontext der Grundrissstrukturen, der öffentlichen Zonen, Freiflächen und der Verwaltung von einem Ozeandampfer gesprochen: „Es ist wie eine Gemeinde in der Gemeinde. Vergleichen könnte man das etwa mit diesen riesigen Ozeanschiffen, wie eine schwimmende Stadt.“154 Später fügt Eugen Gross hinzu, dass sich die Freiflächen der Gebäude wie unterschiedliche Decks eines solchen Kreuzfahrtschiffes ausbilden, auf denen verschieden private und öffentliche Nutzungen stattfinden können. Explizit wird dabei die Idee der „Wohnmaschine“ Le Corbusiers verneint, in welcher es um die Realisierungen dieser Nutzungen in nur einem Einzelgebäude geht. Vielmehr steht für Gross das Bild des „Schiffes“ in Bezug auf die Gesamtanlage im Vordergrund. Baulich ist im Wohnkomplex eine Trennung von Öffentlichkeit und halböffentlichen Zwischenzonen nicht gegeben. Der gesamte Bereich der Terrassenhaussiedlung wird als halböffentlicher Freiraum angenommen, der durch einen hohen Anteil an Arztpraxen auch von externen Besuchern stark frequentiert wird und dadurch Öffentlichkeit erfährt. Der Anteil an Ärzten in der Siedlung ist bereits so hoch, dass die Ärztegemeinschaft im Süden des Komplexes einen Erweiterungsbau als Ärztezentrum errichtet hat. Innerhalb der Terrassenhaussiedlung lässt die Erschließungsstruktur eine Nutzung der Freiflächen, auch auf der Kommunikationsebene oder einigen Dachterrassen, für die Öffentlichkeit zu. Problematisch ist dabei, dass spielende Kinder Gegenstände von diesen Terrassen werfen und Passanten damit gefährden können. Im Planungsstadium war im Zentrum des Komplexes eine Ladenpassage geplant, die über Läden für den täglichen Bedarf hinaus ein Café oder eine Konditorei sowie ein Hotel bieten sollte. Zugrunde lag zum Zeitpunkt der Planung die Feststellung, dass es in der Umgebung nicht genügend Infrastruktureinrichtungen gäbe. Dies änderte sich jedoch während der langjährigen Planungs-und Bauzeit, sodass das Zentrum später nicht realisiert wurde. Dadurch entstand heute anstelle des Zentrums ein öffentlicher Ort, „[...] ein „Festplatz“, der auch von Kindern stark frequentiert wird.“155 In Bezug auf den gesamten Außenraum sagt Eugen Gross: „Es hat sich dieses Konzept dieser freien Mitte also doch ungeheuer bewährt, weil alle diese Häuser [in der Umgebung, K.B.] Häuser sind, 154  Eugen Gross 2012. 155  Eugen Gross 2012.

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die einfach im Grünen stehen. Die haben nirgends einen Bezug auf irgendeinen Freiraum, der ist nur Umgebungsraum. Und der [geplante Freiraum, K.B.] ist hier [in der Terrassenhaussiedlung, K.B.], und deswegen kommen auch Leute [von außerhalb, K.B.] daher. […] Die nutzen das wie einen Park.“156 Nach Aussage der Architekten kannten sie in der Entstehungszeit nicht viele der realisierten Projekte von komplexen Wohnanlagen, die nach einem ähnlichen Schema wie dem der Terrassenhaussiedlung erbaut wurden. Vielmehr fühlten sich die Architekten von einigen utopischen Projekten, insbesondere derer der japanischen Metabolisten inspiriert.157 Gleichzeitig war die Strukturalismusdebatte entscheidende Grundlage der Architektengemeinschaft bei der Planung der Siedlung. Es sollte eine realisierbare Utopie werden. Eugen Gross erklärt dazu: Das war eigentlich im österreichischen mehr eine Initiative; die „Österreichische Gesellschaft für Architektur“ hat eine Ausstellung veranstaltet, einen Katalog, „Neue Städtische Wohnformen“. Da sind auch diese Forderungen […] formuliert worden.[…]158. Und da haben in Österreich verschiedene Architekten versucht in diese Richtung zu arbeiten. Aber meisten sind kleinere Projekte entstanden […] oder es sind große, stärker utopische Projekte entstanden, die nicht so konkret sind und sich mit keinem Ort auseinandersetzen. Aber diese Tendenz, die war da.“159 Eine im Planungsprozess entwickelte und in der heutigen Nutzung bewährte Entscheidung war es, die Dachterrassen mit einer möglichst hohen Nutzlast zu berechnen. Dadurch können die Bewohner nicht nur Dachgärten mit Bäumen oder Steingärten anlegen, sondern ebenfalls kleinere Swimmingpools auf der obersten Etage des Gebäudes realisieren. Ein Blick über die Stadt Graz im SüdWesten und die Hügelketten im Nord-Osten erhöht dabei den Aufenthaltswert. Kleinere Aneignungsbemühungen der Bewohner werden in der Nutzung einiger Freiflächen und Dachterrassen als Gemüsegärten deutlich. Konstruktiv wurde die Tiefgarage mit Rasterdecken überdeckt. Die Verlegung dieser Decken erfolgte so, dass sich zwischen den Rippen große (etwa acht mal acht Meter) „Pflanztröge“ für niedrige Pflanzen und sogar Bäume auf der Innenhofebene ergaben. Aus diesem Raster entstand die für die Siedlung charakteristische orthogonale Ordnung der Außenanlagen. Im Gespräch mit den Architekten Eugen Gross und Hermann Pichler wird darüber hinaus deutlich, dass die Ausrichtung der Gebäude das Ziel einer best156  Eugen Gross 2012. 157  Vgl. Eugen Gross 2012. 158  Eugen Gross 2012. 159  Eugen Gross 2012.

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möglichen Belichtung verfolgte. Eine zweiseitige Belichtung der Wohnungen bildete dabei das grundlegende Ziel der Architekten. Um jedoch, aufgrund fehlender Kellergeschosse, Abstell- und Schutzräume realisieren zu können, wurde für das Sockelgeschoss eine einseitige Belichtung in Terrassenhausbauweise gewählt. Der „Bauch“ dieser Bebauungsstruktur konnte dann für die Nebennutzflächen verwendet werden. Die Heterogenität der Wohnungen (ein- oder zweiseitige Belichtung mit vornehmlich Ost- oder Westbesonnung) führte zu unterschiedlichen Nutzungsmustern und damit ebenso zu einer heterogenen Bewohnerstruktur. Verkauft wurden die Wohnungen anhand eines Modells, das nicht nur jede Wohnung im Gesamtkomplex ablesbar machte, sondern gleichzeitig Belichtungsstudien zuließ. Dr. Johann Theurl, im Vorstand der Interessenvertretung und Bewohner der Siedlung seit der Fertigstellung, entschied sich anhand dieses anschaulichen Modells auf einer Messe in Graz für eine Wohnung in der Terrassenhaussiedlung. Er war überzeugt von dem Konzept: „für mich war das revolutionär“.160 Entscheidend war dabei für ihn die Ansicht, „städtischer Raum sei intensiv zu nutzender Raum“, und nur verdichtete Wohnanlagen seien aus ökologischer Sicht in der Stadt, auch und besonders aus Flächennutzungssicht, vertretbar. Dabei war für ihn unter anderem die Aussicht in Verbindung mit der Stadtnähe entscheidend.161 Die Interessenvertretung der Siedlung kümmert sich heute um das „Gemeinwohl“ der Siedlung, wie um administratorische, gemeinschaftliche oder bauliche Probleme. Anteilig und je nach Wohnungsgröße werden Einzahlungen für die Reinigung, Instandhaltung und Wartung der Infrastruktur und der Außenräume von den Bewohnern verlangt. Durch diese Einzahlungen auf das „Reparaturkonto“ können Arbeiten an den gemeinschaftlichen Flächen, die Garagenreinigung oder die Sanierung der Aufzüge realisiert und ein Sanitär- sowie Elektrotechniker, die ständig ansprechbar sind, beschäftigt werden. Die Terrassenhaussiedlung ist organisiert wie eine Stadt, „[...] mit einem Bürgermeister und einem Gemeinderat [...], es ist eine demokratische Spielwiese.“162 Aus den gesellschaftlichen Grundlagen der Entstehungszeit scheinen die Selbstverwaltung und der Autonomiewunsch übrig geblieben zu sein. Damit ist der Gesamtkomplex in einem guten baulichen Zustand, was die Wohnqualität entscheidend prägt. Bezeichnend ist außerdem, dass sich viel Befürworter der politischen Partei „die Grünen“ im Wohnkomplex niederließen und man davon ausgehen kann, dass sie diese Be-

160  Vgl. Dr. Johann Theurl 2012. 161  Vgl. Dr. Johann Theurl 2012. 162  Eugen Gross 2012.

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bauungsstruktur aus gesellschaftlichen, partizipatorischen und ökologischen Grundlagen als sinnvoll angesehen haben. Ergebnisgenerierung Dieses dritte Fallbeispiel bildet, das wurde insbesondere in der Analyse vor Ort deutlich, eine weitere und eigenständige Typologie von Großwohnkomplexen ab. Während das Brunswick Center in London von einem hohen Grad an Öffentlichkeit ohne Grünraum geprägt ist, verbindet das Olympische Dorf städtischen Raum und Erholungsraum innerhalb des Großwohnkomplexes. Die Terrassenhaussiedlung ist dagegen ausschließlich von durchgrünten Erholungs- und Freizeiträumen geprägt, Infrastruktureinrichtungen findet man innerhalb des Komplexes (bis auf Arztpraxen und weiteren Büroräumen) nicht. Interpretation und Bewertung der Entwurfsmerkmale Merkmal A – Gemeinschaft und Kommunikation Eine Verzahnung und Überlagerung von öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen wird im Großwohnkomplex St. Peter deutlich. Die bauliche Struktur und die hauptsächlich private und halböffentliche Nutzung der Räume führen jedoch zu einem introvertierten Gefühl innerhalb des Komplexes. Die Öffentlichkeit scheint ausgeschlossen zu sein. Kommunikation entsteht hier durch Freizeitaktivitäten, die gleichzeitig zufällige Begegnungen bedingen. Ein wichtiger Aspekt bei dieser Überlagerung von Räumen ist die Höhenstaffelung der Kommunikationsebene. Nicht nur die Terrassenebene, sondern auch die Kommunikationsebene im vierten Obergeschoss und die nachbarschaftliche Zuordnung von maximal drei Wohneinheiten an einem Erschließungspunkt fördern die Kommunikation. Während die Hofebene noch am ehesten als öffentlicher Ort angesehen werden kann, erreichen die Kommunikationsebene im vierten Obergeschoss und die Eingangsbereiche zu den Wohnungen einen höheren Grad an Privatheit. Merkmal B – öffentlicher Raum Der wohnungsnahe Erholungsraum beginnt in der Terrassenhaussiedlung bereits an den privaten Außenräumen der Wohnungen und bildet sich gleichzeitig in dem das Gebäude umgebenden Hof bzw. Grünraum aus. Ein Hierarchisierung der Außenräume innerhalb des Komplexes ist kaum zu spüren, vielmehr wandelt sich die Umgebung vom städtischen zum durchgrünten Charakter und erzeugt so eine Spangenwirkung zwischen Stadt und Land, die die Terrassenhaussiedlung erfüllt. Das Zentrum bildet sich durch die Überlagerung der kleineren Räume (Hof Nord und Hof Süd) klarer aus, als es durch das Studium von Plänen und

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Fotos erkennbar war. Hier kann von einem dreidimensionalen Raum gesprochen werden, der Einblicke in beide Hofsituationen zulässt und dadurch eine Besonderheit besitzt. Merkmal C – Terrassenhäuser Grundlage der Gebäudestruktur war insbesondere der Wunsch nach bestmöglicher Belichtung der Wohnungen. Die Staffelung der Geschosse vom ersten bis vierten Obergeschoss führt zu einer relativ engen Hofsituation, die sich nach oben hin weitet. Merkmal D – Gebäudetypologie Die wiederkehrende Gebäudetypologie beinhaltet unterschiedliche Wohnungstypen, sodass von einer heterogenen Bauweise gesprochen werden kann. Die Heterogenität der Fassadenstruktur mit einer dichten Begrünung unterstreicht diesen Eindruck. Die vierfache Wiederholung der terrassierten Gebäudezeilen führt zu einer überschaubaren und klar verständlichen Struktur, die eine Orientierung im Gesamtkomplex vereinfacht. Merkmal E – der autofreie Innenhof Der Grünraum oberhalb der Garagenebene kann, wie auch der umgebende Grünraum, als ausschließlich zu Freizeitzwecken genutzter Raum bzw. als fußläufige Erschließung/Verkehrsraum angesehen werden. Einen urban wirkenden und hoch frequentierten Fußgängerbereich, ähnlich dem des Brunswick Centers, findet man im Großwohnkomplex St. Peter nicht. Merkmal F – Verzahnung mit der Umgebung Wie bereits anhand der Analyse anderer Großwohnkomplexe im Stadtraum festgestellt, bindet sich auch die Terrassenhaussiedlung St. Peter gut in die heterogene und von Solitären geprägte Bebauung ein. Sie schafft jedoch durch die geschickte Anordnung dieser Solitäre Räume aus, die an Hinterhöfe einer Blockrandbebauung erinnern und damit einen städtischen Charakter erzeugen. Dies steht im klaren Gegensatz zu den zwischen den Gebäuden übrig gebliebenen „Freiräumen“ in der Umgebung. Überprüfung der forschungsleitenden Thesen Die Terrassenhaussiedlung St. Peter liegt in einem Wohngebiet, das durch großmaßstäbliche Solitärbebauung geprägt ist. Dadurch wirkt die etwas versteckt liegende Siedlung, anders als die vorher benannten Beispiele, weniger fremdartig und fügt sich auch durch die Begrünung gut in die Umgebung ein. Gleichzeitig zeugen jedoch die Fassaden der Gebäude von der Entstehungszeit und grenzen sich damit visuelle von herkömmlichen und bekannten Gebäudemustern ab. Der Großwohnkomplex erfährt jedoch nicht wie einige andere Großwohnkomplexe eine negative Außenwirkung aufgrund der „Fremdartigkeit“ der Gestaltung. Der

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Wohnwert der Siedlung ist nach Aussage der Architekten und Bewohner kontinuierlich hoch, sodass sich auch aus diesen Gründen kein negatives Image ausbilden konnte. Die Terrassenhaussiedlung ist damit eines der wenigen Projekte, die zwar eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit durch Publikationen in Zeitschriften und Büchern erhielten, jedoch kaum negative Rezeptionen der Öffentlichkeit erfuhren. Vorteilhaft wirkt sich dabei auf die Bewertung aus, dass viele Bewohner der anliegenden Gebäude den „Innenhof“ der Terrassenhaussiedlung als Außenraum positiv bewerten und annehmen. Eine klare Abgrenzung von der Umgebung ist demnach kaum mehr vorhanden. Die Grünräume gehen fließend ineinander über. Hier wirken sich die geringe Größe des Komplexes und der hohe Anteil an Begrünung sowie die Möglichkeit für Besucher oder Bewohner angrenzender Bebauungen, das Quartier zu kreuzen und die parkähnlich gestalteten Außenräume zu nutzen, positiv auf das Image aus. Ähnlich wie bei den vorher analysierten Großwohnkomplexen erschließt sich die Qualität des Komplexes erst beim Betreten und während des direkten Erfahrens der öffentlichen Räume. Der beschriebene „Hinterhofcharakter“, der die spezifische Qualität des Komplexes ausmacht, wird erst beim Betreten deutlich. Trotz dieser eher introvertierten Architektur bilden die Höfe für die Bewohner der Nachbarbebauung einen beliebten Aufenthaltsort, sodass nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl der Bewohner untereinander, sondern vielmehr in Verbindung mit den Bewohnern der umliegenden Wohnhäuser entsteht. Anders als im Olympischen Dorf, wo aufgrund der Größe eine Schule, ein Kulturverein und ein Kirchenzentrum realisiert werden konnten, was zu direkter Identifikation mit dem Großwohnkomplex als abgeschlossenes Quartier führt, ist die Terrassenhaussiedlung eher ein positiv rezipierter Baustein im heterogenen Gesamtgefüge des Stadtteils. Die Gebäude der Terrassenhaussiedlung St. Peter öffnen sich jeweils zum mittig gelegenen Hof und alle Verbindungen zu Infrastruktureinrichtungen oder zur Hauptverkehrsstraße können über diesen Hof erreicht und erschlossen werden. Durch die Konzentration aller fußläufigen Wege über den Innenhof werden informelle Treffen und die Kommunikation gefördert. Trotz der heterogenen Fassadengestaltung und der dichten Begrünung vieler Terrassen bestehen alle vier Wohnscheiben aus denselben Elementen wie terrassiertem Sockel, Kommunikationsebene auf dem vierten Obergeschoss und gestapelten Maisonettwohnungen in den obersten Etagen. Jede Gebäudescheibe wird durch vier Treppentürme in fünf Einzelhäuser zerlegt. Aus dieser Reihung gleicher Elemente könnte eine gewissen Monotonie und Gleichförmigkeit entstehen, die jedoch durch die Heterogenität der Fassaden und die unterschiedlichen Gebäudehöhen kompensiert wird. Neue und spontane Raumerlebnisse werden durch die beschriebene

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klare und einfache Struktur jedoch nahezu ausgeschlossen. Eine Aneignung der Bewohner kann jedoch durch die hohe Aufenthaltsqualität innerhalb der Terrassenhaussiedlung trotzdem stattfinden. Zusammenfassung: Qualitäten der Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter Durch die Unterschiedlichkeit der Großwohnkomplexe, die in den abgelaufenen Analysen bereits umfassend thematisiert wurden, unterscheiden sich die gefundenen Qualitäten in der Terrassenhaussiedlung wiederum von den Qualitäten des Olympischen Dorfes oder des Brunswick Centers. Gleichzeitig lassen sich nach Abschluss der dritten Fallstudie nun bereits erste übergeordnete Aspekte zusammenfassen, die in einem weiteren Schritt als „allgemeingültige“ Potenziale in die Ergebnisse der Arbeit einfließen. Als spezifisch für den Großwohnkomplex Terrassenhaussiedlung St. Peter kann sowohl die Überlagerung von Raumstrukturen als auch die Überleitung vom städtischen Raum zum Grünraum angesehen werden. Im vorliegenden Fallbeispiel wird die horizontale Schichtung, im Brunswick Center als Qualität erkannt, aufgebrochen und es werden dreidimensional überlagernde Räume durch die öffentlichen Zonen innerhalb der Gebäude entwickelt. So kann der Besucher das öffentliche Treppenhaus bis auf die Dachterrassen hinauf erschließen. Insbesondere die vierte Ebene, die die Einzelgebäude untereinander verbindet, verstärkt diese Durchdringung, die von den Architekten mit der Analogie zu einem Kreuzfahrtschiff mit unterschiedlichen Decks umschrieben wird. Diese dreidimensionale Wahrnehmung der Architektur erleichtert das Verständnis der Bebauungsstruktur und ist im Sinne der Stadtraumästhetik ein interessantes Forschungsobjekt. Die Wahrnehmung der Siedlung beschränkt sich hier nicht nur auf das Erfahren der Räume auf Fußgängerebene, sondern erlaubt ebenfalls den „Blick von oben“. Dadurch wird die Wahrnehmung, die sich gemäß der Definition von Stadtraumästhetik von der Wahrnehmung eines Kunstobjektes dadurch unterscheidet, dass man den Raum mit der eigenen Bewegung erfahren muss um ihn zu verstehen, verändert und in Bezug auf die Aneignung positiv besetzt.163 163  Vgl. Kapitel „Stadtraumästhetik“. Darin wird beschrieben, das sich nach Jürgen Hasse (2000) der „Realraum“ beim Hinzutreten immer zurückzieht und einen emotional und sinnlich geprägten Raum eröffnet, der die individuelle Färbung des Betrachters besitzt. Die Möglichkeit der Beobachtung eines Raums aus unterschiedlichen Perspektiven kann, dieser Argumentation folgend, Verständnis für die raumbildenden Parameter erzeugen und die persönliche Aneignung des Raums fördern.

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Die durch die Gebäudeanordnung klar ablesbaren, hofartigen Außenräume und ihre Überlagerung im Zentrum eröffnen dem Nutzer einfach verständliche Strukturen. Dadurch wird nicht nur eine Überschaubarkeit des relativ kleinen Komplexes erreicht, sondern gleichzeitig die Orientierung erleichtert. Dies kann als Gegensatz zur Beschreibung von komplexen, differenzierten und spannungsreichen Räumen angesehen werden, die in dem bereits analysierten Großwohnkomplex in München als spezifische Qualität beschrieben wurden. Im Fallbeispiel der Terrassenhaussiedlung bildet die Übersichtlichkeit der Räume jedoch eine eigene Qualität aus. Die im Kapitel „Forschungshintergrund“ zitierte Feststellung Venturis, dass Komplexität nicht eine „Übergestaltung“, sondern vielmehr die Abgrenzung der Einfachheit zur Banalität bedeutet164, scheint hier im Umkehrschluss eine praktische Bestätigung zu finden: Dass die „Einfachheit“ der Räume nicht als „banal“ angesehen wird liegt an einer Komplexität (hier Fassaden und Höhenentwicklung der Gebäude) in der Gestaltung, die trotz Einfachheit der Räume entscheidend für deren Wahrnehmung ist. Diese Qualität der Überschaubarkeit der Räume bedingt sich außerdem dadurch, dass der Innenbereich des Komplexes nahezu ausschließlich von Bewohnern und Bewohnern benachbarter Quartiere genutzt wird und damit als halböffentlicher Raum anzusehen ist. Es ergibt sich eine gewisse Privatheit, die die gesamte Hofebene, die Kommunikationsebene sowie die Dachterrassen als Erweiterung der privaten Wohnung einschließt. Die kompakte Struktur, so steht es auch in den forschungsleitenden Thesen, führt außerdem, mehr als der Durchgangsraum im Fallbeispiel München, zu einem Aufenthaltsraum.165 Ein entscheidender Aspekt in Anbetracht der überschaubaren, einfachen Räume ist die Unterteilung dieser Räume durch das konstruktive Raster der Garagendecke. Durch dieses Raster werden kleinteilige Räume gebildet, denen Funktionen zugeordnet sind. So gibt es Rasen- und Pflanzzonen, Aufenthaltszonen mit Bänken, Wege (Erschließungszonen) und Wasserbecken. Als Qualität kann auch der fließend gestaltete Außenraum genannt werden, der sich von der umliegenden Bebauung kommend über die Außenbereiche des Komplexes in den Innenbereich erstreckt und diese Räume optisch verbindet. Auch die bereits in den Großwohnkomplexen in München und London entdeckten Qualitäten treten im Fallbeispiel Graz in Teilen in Erscheinung: So 164  Vgl. Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978, S. 27. 165  Vgl. Fallbeispiel München, wo die Aufweitungen der fußläufigen Verkehrsräume als Aneignungsräume genutzt werden.

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bildet sich auch in der Terrassenhaussiedlung durch die spezifische Gestaltung der Gebäude eine klar ablesbare eigene Gestalt der Siedlung ab. Die Trennung von Fußgängern und Pkw-Verkehr führt zu mehr informellen Kontakten und Begegnungen. Spezifisch für die Wohnkomplexe München und Graz ist dabei, dass sich alle Wohnungen zu den öffentlichen Zonen innerhalb der Komplexbebauung orientieren und so die Kommunikation erleichtert wird. Gleichzeitig werden jeweils nur maximal vier Wohnungen pro Etage von einem Treppenhaus erschlossen, was nachbarschaftliche Kontakte fördert.

ANALYSEERGEBNISSE

IM

V ERGLEICH

Im folgenden Kapitel werden die Qualitäten der drei untersuchten Fallbeispiele aufgezeigt und vergleichend gegenübergestellt. Die Erkenntnisse aus dieser vergleichenden Analyse werden im Anschluss zusammengefasst und in allgemeingültige Potenziale, also Potenziale, die unabhängig von der spezifischen Umsetzung Großwohnkomplexe charakterisieren, übersetzt. Fallspezifische Qualitäten: Olympisches Dorf, München • •

Typ: lineare Struktur, geringer Grad an Öffentlichkeit, zur Stadt geschlossene Bebauungsstruktur, zum Grünraum offen. Schlagworte: eigene Gestalt, Urbanität (Halböffentlichkeit), Flexibilität, Möglichkeitsräume, Aneignung, Gemeinschaftlichkeit, Kommunikation, Komplexität, Mehrzwecknutzung, Multifunktionalität.

Der geringe Grad an Öffentlichkeit, der sich baulich durch eine klar abgrenzende Haltung zum Stadtraum darstellt, sorgt für eine halböffentliche Atmosphäre, die Kommunikation und Aneignung bedingt. Wichtig ist bei diesem Aspekt, dass der vorhandene Einzelhandel nicht auf die Kaufkraft von außerhalb angewiesen ist (Selbstversorger für das Quartier). Die fußläufige Erschließung der Wohnungen und des gesamten Komplexes fördert informelle Kontakte. Deutlich wird dies insbesondere im Zentrum, das vermehrt als Durchgangsraum genutzt wird, durch seine Zentralität dabei jedoch informelle Kontakte und Begegnungen fördert. Durch die Größe des Gesamtkomplexes ist es im konkreten Fallbeispiel möglich, Kultureinrichtungen, eine Kirche, eine Schule und Einkaufsmöglichkeiten zu realisieren und damit die Gemeinschaft zu fördern. Die halböffentlichen Räume, insbesondere die Wohnarme, die mehr und mehr den Übergang

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vom städtischen Zentrum zum durchgrünten „Privatraum“ vollziehen, sind dabei kleinteilig und komplex gestaltet. Als ein positiver Aspekt, und damit eine spezifische Qualität, kann in diesem Beispiel herausgestellt werden, dass bei der linearen Erschließungsstruktur der „Weg“ mit Aufweitungen und Plätzen zum multifunktionalen (Möglichkeits-/Aneignungs-) Raum wird. Die Erholungsräume in unmittelbarer Umgebung zur Wohnung stellen damit eine Erweiterung der privaten Wohnung dar und fördern die Überlagerun von privaten, halböffentlichen und öffentlichen Räumen. Die Flexibilität der Wohnungsgrundrisse, die unterschiedlichen Wohnungsgrößen sowie die kleinteilige Nachbarschaftsstrukturen fördern langfristige Wohnverhältnisse, Gemeinschaft und Aneignung. Aufgrund der Gesamtgröße des Komplexes fehlt die Überschaubarkeit des Komplexes. Eine Orientierung fällt demnach schwer. Diese Schwäche wurde bereits zur Entstehungszeit durch ein farbiges Leitsystem zu kompensieren versucht (Media Linien von Hans Hollein). Fallspezifische Qualitäten: Brunswick Center, London • •

Typ: kompakte Struktur, hoher Grad an Öffentlichkeit, geschlossene Bebauungsstruktur. Schlagworte: eigene Gestalt, Urbanität (Öffentlichkeit), Raum (Zonierung), räumliche Dichte, Einfachheit/Übersicht, Verzahnung mit dem Stadtteil.

Das Brunswick Center in London zeichnet sich durch eine klar ablesbare, einfache Struktur aus, die einen städtischen Platz ausbildet. Die hohe räumliche Dichte auf Erdgeschossniveau unterstützt den urbanen Charakter. Der hohe Grad an Öffentlichkeit fördert das positive Image in der Sicht von außerhalb und die Aneignung des Zentrums durch Besucher. Der Komplex ist im Bereich des Erdgeschosses klar konsumorientiert ausgerichtet. Großzügige Öffnungen zum umgebenden Stadtraum fördern die Verknüpfung vom Innenraum des Komplexes zum Stadtraum, die Gebäudestruktur orientiert sich an der vorhandenen Blockrandbebauung. Eine Zonierung des öffentlichen Raums wird durch den Grad der Perforation der Außenhaut des Komplexes ebenso gegeben, wie durch eine Parzellierung in der öffentlichen Nutzung. Das Zentrum bietet dabei Aufenthaltsqualitäten wobei der Raum gleichzeitig als Bewegungsraum (zielgerichtet/flanieren) genutzt wird. Aufgrund der angegebenen Aspekte wie dem hohen Grad an Öffentlichkeit oder dem Öffnen zum umgebenden Stadtraum ist ein geringer Aneignungsgrad

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der Bewohner festzustellen. Dies führt zu einem in Relation mit anderen Großwohnkomplexen geringem Gemeinschaftsgefühl, was sich in den ungenutzten halböffentlichen Gemeinschaftsbereichen widerspiegelt. Die Wohnungen besitzen private Außenräume in Form von Loggien und orientieren sich in ihre Ausrichtung entweder zum Innern des Komplexes oder zum Stadtraum. Beide Wohnungstypen stehen dabei kaum in Kommunikation mit dem öffentlichen Freiraum im Innern des Großwohnkomplexes. Fallspezifische Qualitäten: Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter • •

Typ: kompakte Form, Grad an Öffentlichkeit gering, offene Bebauungsstruktur. Schlagworte: Raum (Durchdringung/Schichtung/Überlagerung), klare Grundstruktur und Kleinteiligkeit in der Gestaltung, eigene Gestalt, fließende Räume, Kommunikation.

Eine Qualität der Terrassenhaussiedlung St. Peter liegt in der offenen Bebauungsstruktur begründet, die sich an der umgebenden Bebauung angliedert, jedoch durch das geschickte Platzieren der Einzelelement klare, dichte und urban anmutenden Räume schafft. Die räumliche, dreidimensionale Überlagerung von privaten, halböffentlichen und öffentlichen Zonen durch das Kommunikationsgeschoss, die öffentlichen Dachterrassen und gestaltete Freiflächen im Innern des Komplexes führen zu Kommunikation und Aneignung. Ein Zentrum wird durch die Überlagerung des nördlichen und südlichen Freiraums ausgebildet. Die kleinteilige Parzellierung der Freiflächen gliedert den weiten und übersichtlichen Raum. Das Zentrum des Großwohnkomplexes ist in einem hohen Maß von Aufenthaltsqualitäten geprägt, was sich in der Nutzung der Freiflächen durch die Bewohner widerspiegelt. Der geringe Grad an städtischer Öffentlichkeit schafft innerhalb dieser Gebäude einen haböffentlichen Raum mit „Hinterhofcharakter“. Die einfach zu verstehende Gesamt-Raumkonfiguration wird durch komplexe und heterogene Fassadenstrukturen, eine differenzierte Höhenentwicklung der Gebäude und durch kleinteilige und nutzungsspezifische Gestaltungen des Freiraums gegliedert. Der halböffentliche Freiraum lädt durch diese Kleinteiligkeit zum Aufenthalt ein. Eine weitere Qualität ist die kleinteilige Nachbarschaftsstruktur im Wohnkomplex, wobei nicht mehr als drei Parteien von einem Flur erschlossen werden und sich die Eingänge gleichzeitig um einen Punkt gruppieren.

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Abb. 150: Anzahl der Personen und ihre Aktivität in Rahmen der „Momentaufnahme“

Quelle: Privatarchiv

ANALYSEERGEBNISSE

IM

V ERGLEICH

Diese vergleichende Gegenüberstellung zeigt Qualitäten auf, die in allen Fallbeispielen gleichwertig erkannt wurden. Dazu gehören die eigene, wiedererkennbare Gestalt des Großwohnkomplexes, die dichte Struktur der Freiräume, die Fußläufigkeit der Erschließung oder die Platzierung und Einbindung des Großwohnkomplexes in den städtischen Kontext. Gleichzeitig wird deutlich, dass ebenso fallspezifische Qualitäten erkannt wurden. So wird am Beispiel des Brunswick Centers deutlich, wie die Präsenz des Großwohnkomplexes im Stadtraum sowie seine Anziehungskraft, die durch die platzierten Öffnungen zur Umgebung verstärkt wird, in der Vermarktung des Großwohnkomplexes und in der Orientierung zur Öffentlichkeit genutzt werden kann. Auf der anderen Seite zeigt die Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter, wie in einem Großwohnkomplex halböffentliche Kommunikationsräume ausgebildet werden können, die nicht nur die Aneignung und Kommunikation in diesen Räumen fördert, sondern eine dreidimensionale Raumüberlagerungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit schaffen. Schwächen Neben den erarbeiteten Qualitäten zeigen sich in der Analyse der Fallbeispiele auch Schwächen, die typisch für einige Großwohnkomplexe in der heutigen Zeit sind und, wie bereist thematisiert, zum schlechten Image einiger Großwohnkomplexe beitragen. Dabei handelt es sich in weiten Teilen um Baumängel und Bauschäden, die in der Experimentierfreudigkeit und Nutzung neuer, manchmal nicht ausreichend erprobter Bauweisen und Technologien begründet liegen. Wie in anderen älteren Gebäuden ist auch in Großwohnkomplexen der Wärmeschutz nach heutigen Standards mangelhaft und eine Sanierung ohne großen Eingriff in die Gesamtstruktur und Architektur der Gebäude oftmals kaum möglich. Ein

F ALLSTUDIEN : M ÜNCHEN , G RAZ , L ONDON | 449

hoher Sanierungsbedarf ist heute, etwa 40 Jahre nach Fertigstellung der Gebäude offensichtlich. Aufgrund der großen Maßstäbe und differenzierten Besitzverhältnisse werden Sanierungen jedoch zu wenig ausgeführt. Als ein Beispiel positiver Entwicklung kann die Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter angeführt werden, wo durch monatliche Einzahlungen der Bewohner jeweils anstehende Sanierungen, Reparaturen und Reinigungen durchgeführt werden können. Im Fallbeispiel München unterstützte die Stadt Ende der 1990er Jahre eine Sanierung der öffentlich zugänglichen (jedoch privaten) Fußgängerbereiche des Komplexes. Als Negativbeispiel kann das Ihmezentrum in Hannover angeführt werden, wo eine bereits geplant Sanierung der Ladenzeile an der Insolvenz eines Investors scheiterte. Auch aus stadträumlicher Sicht sind Kritikpunkte an Großwohnkomplexen anzuführen. Aufgrund der Größe fällt eine Orientierung innerhalb des Komplexes oftmals schwer. Anders als bekannte Stadtteilmuster, wo eine Hierarchisierung von Straßen sowie Merkpunkte das Quartier strukturieren, fehlen solche Orientierungspunkte oder können durch die Dichte der Bebauung kaum wahrgenommen werden. Die fußläufige Erschließung und die Komplexität der Fassadenstruktur erschwert das Auffinden von Straßennamen und Hausnummern. Oftmals findet man zum Zweck der Orientierung Pläne an den Eingängen zum Komplex, die die Gesamtstruktur aufzeigen und das Auffinden von Adressen vereinfachen soll. In kleineren Großwohnkomplexen wie dem Brunswick Center oder der Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter ist die Überschaubarkeit durch die Größe und innere Platzbildung gegeben. Große Großwohnkomplexe, und dazu zählen neben dem Fallbeispiel München auch das Barbican Center oder das Ihmezentrum, benötigen dagegen Orientierungspunkte oder, wie das Beispiel München zeigt, Leitsysteme. Ein Beispiel der Überlagerung stadttypischer Strukturen mit dem Großwohnkomplex ist das Quartier Lillington Gardens in London, das sich klar an der vorhandenen Straßenstruktur orientiert und dadurch in drei, dem Maßstab der übrigen Blockränder entsprechenden Blöcke aufteilt. Erkenntnis Unabhängig von den erarbeiteten Qualitäten und Schwächen wurde in der Gegenüberstellung der Fallbeispiele ein weiterer wichtiger Aspekt deutlich: Großwohnkomplexe besitzen offensichtlich unterschiedliche Zielsetzungen in Bezug auf ihre Funktion in der Stadt. So wird mit den Großwohnkomplexen „Olympisches Dorf“ und „Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter“ die Zielsetzung eines bewohnerorientierten, autarken Stadtquartiers verfolgt, das nur wenig Bezug zum umgebenden Stadtraum benötigt und als eine Art Mikrokosmos im Gesamtgefüge der Stadt existiert. Auf der anderen Seite verkörpert das Brunswick Cen-

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ter eine klar öffentlichkeitsorientierte Struktur, die konsumorientiert agiert und einen hohen Anteil an Besuchern in das Zentrum zu locken versucht. Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass aufgrund baulicher Abhängigkeiten beide Zielsetzungen nicht gleichzeitig verfolgt werden können. Außerdem ergibt sich aus der Gegenüberstellung der fallspezifischen Qualitäten die Erkenntnis, dass ein öffentlichkeitsorientierter Komplex weniger Aneignung durch die Bewohner erfährt, als eine introvertierte Struktur.

Ergebnisse der Arbeit

Z UR P ROBLEMATIK DES METHODISCHEN V ORGEHENS DES GEWÄHLTEN F ORSCHUNGSANSATZES

UND

Der gewählte Forschungsansatz wird auch nach der Analyse der Fallbeispiele als zielführend und erkenntnisfördernd im Rahmen dieser Forschungsarbeit angesehen. Gemäß der im Forschungsdesign erläuterten Methode des qualitativen Forschungsansatzes veränderte sich das Grundwissen des Forschenden mit aus jeder Fallstudie hinzugewonnener Erfahrung. Bereits untersuchte Fallbeispiele wurden demnach auf spezifische Aspekte, die erst im Laufe weitere Bearbeitungsschritte deutlich wurden, erneut untersucht. Damit ergibt sich ein umfassendes und detailreiches Bild der Qualitäten und Potenziale von Großwohnkomplexen. Gleichzeitig wurden die neuen Erkenntnisse auch genutzt um vorherige Ergebnisse zu spezifizieren oder als fallspezifisch und damit für den Gesamtkontext als weniger relevant zu widerlegen. Deutlich wird bei dieser Vorgehensweise, dass das Wissen des Forschenden, gewonnen aus der Literaturrecherche und den bereits untersuchten Fallbeispielen, die Wahrnehmung stetig veränderte. Durch die vor der Analyse festgelegten Methoden und den vorher festgelegten Ablaufrahmen aller Untersuchungen konnte jedoch die notwendige Distanz gewahrt werden. Vor der „vor Ort Untersuchung“ einer jeden Fallstudie wurden aus den Erkenntnissen der Literaturrecherche forschungsleitende Thesen formuliert, die die Untersuchung jeweils weiter strukturierte. Die face-to-face Interviews, die ebenfalls ergebnisoffen als Gruppen- oder Einzelgespräche durchgeführt wurden, eröffneten darüber hinaus Erkenntnisse, die mithilfe quantitativer Forschungsansätze nicht deutlich geworden wären. Weniger erkenntnisreich ist die verwendete Methode jedoch in Bezug auf empirisch gewonnene Kennzahlen. Auch kann die vorliegende Forschungsarbeit keine Handlungsanweisungen bieten, bei welchen Dichtegraden, Gebäudetypo-

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logien oder Bewohnerstrukturen, gemäß dem Titel der Untersuchung, „Urbanität“ entsteht. Vielmehr bieten die nun folgenden Ergebnisse der Arbeit einen facettenreichen Verständnishintergrund der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre und die Arbeit eröffnet mit der Formulierung von Potenzialen neue Handlungsfelder im Kontext des innerstädtischen, verdichteten Bauens. Alle Erkenntnisse der Arbeit, die entwicklungsprägenden Aspekte von Großwohnkomplexen, ihr Platz im Architekturdiskurs der 1960er/1970er Jahre sowie die „allgemeingültigen“ Potenziale dieser Städtebautypologie werden nun im Folgenden zusammengefasst, diskutiert und in einem größeren Forschungskontext verortet. Die in der Einleitung aufgestellten Thesen bilden dabei den inhaltlichen Leitfaden dieser Zusammenfassung.

E NTWICKLUNGSPRÄGENDE ASPEKTE G ROSSWOHNKOMPLEXEN

VON

Einleitend zu vorliegender Untersuchung wurde der Begriff Großwohnkomplex als neue Gebäudetypologie im architektonischen und städtebaulichen Sprachgebrauch eingeführt. Nach der umfassenden Analyse aller mit der Entstehung von Großwohnkomplexen verbundenen Tendenzen, Strömungen und Entwicklungen zeichnen sich einige Einflussfaktoren ab, die die Entstehung von Großwohnkomplexen maßgeblich beeinflussten. Damit veranschaulichen diese Einflussfaktoren nicht nur neue Erkenntnisse dieses spezifischen Bausteins der Architekturgeschichte, sondern fördern auch das Verständnis für die Hintergründe, Konzepte und Zielsetzungen, die mit der Entwicklung von Großwohnkomplexen verbunden waren. Die Wurzeln von Großwohnkomplexe liegen in Großbritannien Im Kapitel „Großwohnkomplex und städtebauliches Leitbild“ der vorliegenden Arbeit wurden diese einflussreichen Entwicklungen beschrieben und zusammenfassend dargestellt. Die Entwicklungen in Großbritannien, das zeigt sich dabei deutlich, können für die Entwicklung von Großwohnkomplexen als maßgebend und beispielhaft für viele weitere Entwicklungen in Europa angesehen werden. So zeigen die verdichteten Zentren der New Towns1 bereits deutliche Hinweise auf die Leitideen und Grundsätze der später realisierten Großwohnkomplexe. In Verbindung mit utopischen Projekten der Gruppe Archigram und den Ideen des Team Ten, die 1959 in Otterlo den „CIAM“ organisierten und mit ihren Ansätzen einen neuen Städtebau begründeten, waren sie der Nährboden und Wegbe1 

Vgl. als frühes Beispiel Cumbernauld Town Center,1966.

E RGEBNISSE DER A RBEIT | 453

reiter für die Entwicklung komplexer Wohnanlagen. Insbesondere in Großbritannien wurde die Entwicklung von Großwohnkomplexen durch eine Verkehrspolitik forciert, die auf den Buchanan Report von 1963 basierte. Dieser beschrieb komplexe Gebäudestrukturen mit einem unterirdischen Erschließungssystem und emissionsfreien und ruhigen Fußgängerebenen. Allein in London entstanden damit in den 1960er/1970er Jahren drei komplexe Anlagen nach den oben beschriebenen Grundsätzen.2 Großwohnkomplexe sind gebaute Utopien Gleichzeitig entstanden in den 1960er Jahren in Großbritannien, in weiteren westeuropäischen Ländern, Nordamerika und Japan utopische Megastrukturprojekte.3 Obwohl die entwerfenden Architekten von Großwohnkomplexen in ihren Projekterläuterungen weder explizit Bezug auf diese Projekte nahmen noch diese Projekte als direkte Vorbilder thematisierten, lässt sich doch feststellen, dass Großwohnkomplexe Analogien zu diesen Utopien aufweisen.4 Gleichzeitig wird deutlich, dass aufgrund der Publikation der utopischen und zukunftsorientierten Entwürfe Großwohnkomplexe als praxisnahe und realisierbare Objekte den gesellschaftlichen Rückhalt zur Realisierung erfuhren. Zusätzlich sank der Utopiegehalt vieler Entwürfe im Laufe der 1960er Jahre dadurch, dass ihre Realisierbarkeit in technischer Hinsicht stieg.5 Großwohnkomplexe können demnach als das Ergebnis dieser Entwicklung angesehen werden.6 Großwohnkomplexe wurden nach strukturalistischen Entwurfsprinzipien entwickelt Neben der Architekturströmung des „Brutalismus“ entstand im weiteren Verlauf der Architekturgeschichte ebenfalls aus Großbritannien kommend der Strukturalismus als eigene, international anerkannte Architekturströmung. Großwohnkomplexe lassen sich dabei eindeutig strukturalistischen Gestaltungsprinzipen 2  Brunswick Center 1969–1972, Lillington Gardens 1961–1971, Barbican 1971–1982. 3 

Vgl. Überbauung der Bucht von Tokyo 1961, Kenzo Tange/Paris Spatial 1959, Yona Friedman/New Babylon1959–1974, Constant Nieuwenhuys/Überbauung des Lower Manhatten Highway 1967, Paul Rudolph .

4  5 

Vgl. Exkurs: Gebaute Utopie? eine Autobahnüberbauung als Wohnquartier. Vgl. Philipp, Klaus Jan: Die grosse Euphorie. Machbarkeitswahn und Freiheitsversprechungen im Städtebau der 60er und 70er Jahre. In: Hassler, Uta/Dumont d Áyot, Catherine (Hrsg.): Bauten der Boomjahre. Paradoxien der Erhaltung. Zürich 2009, S. 62.

6 

Vgl. auch Kapitel „Praxisbezogene Grundlagen der Realisierung von Großwohnkomplexen“ und darin die Ausführungen zur Publikation „Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte“ (Bonn 1976).

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zuordnen und können damit als realisierte Projekte dieser neuen Architektursprache gelten. Das strukturalistische Denken in Bezug auf städtische Innenräume führte in Großwohnkomplexen zu räumlich dichten Freiflächen mit heterogener Gestaltung und vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten. Die strukturalistischen Konzepte von Trägersystemen, die veränderbare Zellstrukturen als einsetzbares Modul aufnehmen sollten, wurden in dieser Zeit nur in Prototypen realisiert. Die Stahlbetonskelettbauweise der Großwohnkomplexe führte jedoch gleichzeitig zu variablen Grundrissen und vielfältigen Veränderungsmöglichkeiten. Die Erkenntnis von Michael Hecker7, dass der Einfluss der Strukturdebatte zu einer „[...] neuen Denkweise, Ästhetik und Funktionalität in Architektur und Städtebau geführt habe, in der sich die zeitgenössischen Assoziationen und symbolischen Wertsetzungen widerspiegelten“8 ist damit im Rahmen der vorliegenden Untersuchung am Beispiel der Großwohnkomplexe belegt. Weitere einflussreiche Faktoren, die den theoretischen Kontext von Großwohnkomplexen prägten, waren die von Hans Paul Bahrdt beschriebene „Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit“ und die Verhaltensweisen des Individuums in diesen Räumen.9 Resultierend aus diesen Denkweisen prägen öffentliche Freiflächen, halböffentliche Zwischenzonen und Gemeinschaftseinrichtungen bis heute das Leben im Großwohnkomplex.10 Nur die fortschrittsgläubige und liberale Gesellschaft der 1960er/1970er Jahre ermöglichte die Realisierung von Großwohnkomplexen In der vorliegende Untersuchung konnte als weiterer Aspekt herausgearbeitet werden, dass nur eine Gesellschaft, die grundsätzlich optimistisch und fortschrittsgläubig in die Zukunft blickte und neue Technologien als zukunftsweisend ansah, den gesellschaftlichen Rückhalt für die Entwicklung von Komplexbebauung und speziell Großwohnkomplexen ermöglichte. Die „Boomjahre“ waren geprägt durch das Wirtschaftswunder, steigenden Wohlstand, Reduzierung der Wochenarbeitszeit und Erleichterung des täglichen Lebens durch neue Technologien. Gleichzeitig erlebte die Gesellschaft in Westeuropa durch Jugendbewegungen eine neue Freiheit, und tradierte Lebensentwürfe wurden in 7 

Vgl. Hecker, Michael: structurel I structural. Dissertation. Stuttgart 2007.

8 

Ebd., S. 436f.

9 

Vgl. Kapitel „Öffentlichkeit und Privatheit“.

10  Vgl. dabei Kapitel „Praxisbezogene Grundlagen der Realisierung von Großwohnkomplexen“ und darin das beschriebene Forschungsprojekt „Terrassierte Bauten in der Ebene. Bsp. Wohnhügel“ worin der „soziologische Dichtebegriff“ thematisiert wird. Kommunikation und Kontakte, funktionale und soziale Mischung sowie Mobilität treten dabei in den Vordergrund.

E RGEBNISSE DER A RBEIT | 455

Frage gestellt. Eine gesellschaftliche Liberalisierung, die Emanzipation der Frau oder das Wohnen in Kommunen und Wohngemeinschaften führten zu neuen Wohnformen, die sich in den Entwürfen dieser Zeit abzeichneten.11 Diese Erkenntnis, dass das gesellschaftliche Verständnis ebenso entscheidend für die Entwicklung von Großwohnkomplexen war wie technische Möglichkeiten oder städtebauliche Leitsätze, wird darüber hinaus dadurch bestätigt, dass, als zu Beginn der 1970er Jahre dieser gesellschaftliche Rückhalt durch die Ölkrise, Denkmalschutzgedanken und Rezession schwand, gebaute Großwohnkomplexe schnell an Image verloren und gleichzeitig neue Projekte nicht weitergeführt wurden. Großwohnkomplexe sind gemeinschafts- und kommunikationsfördernde Wohnformen Neben dem grundsätzlichen gesellschaftlichen Optimismus waren es insbesondere gemeinschaftliche Aspekte, die sich baulich in überlagernden Funktionsräumen, halböffentlichen Zonen oder Gemeinschaftseinrichtungen widerspiegeln, die die Entstehung von Großwohnkomplexen prägten. Noch heute findet man in diesen Gebäudestrukturen nicht nur gepflegte und genutzte Gemeinschaftseinrichtungen, sondern gleichzeitig ein vielfältiges Zusammenleben und ein hohes Maß an nachbarschaftlichen Kontakten, insbesondere in den bewohnerorientierten Komplexen.12 Gleichzeitig sind Großwohnkomplexe von einem hohen an Maß an Selbstverwaltung geprägt, was sich in Interessengemeinschaften widerspiegelt. Neben diesen Erkenntnissen in Bezug auf die Entstehung von Großwohnkomplexen, den Einflussfaktoren und Vorbildern, wird im Folgenden dargestellt, in wie weit die Erkenntnisse aus der Untersuchung einen Beitrag zum Verständnis der 1960er/1970er Jahre Architektur im Allgemeinen leisten können.

G ROSSWOHNKOMPLEXE IM ARCHITEKTURDISKURS 1960 ER /1970 ER J AHRE

DER

Großwohnkomplexe, das wurde in der Erarbeitung der Untersuchung deutlich, sind eine eigene Städtebautypologie, die zwar Ähnlichkeiten zu typologisch verwandten Einzelgebäuden oder Wohnquartieren aufweist, jedoch ebenso klare 11  Vgl. Kapitel „Gesellschaftlicher Kontext“ und „Resümee“. Erkenntnisse für das Forschungsthema worin die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf städtebauliche und architektonische Entwürfe diskutiert werden. 12  Vgl. z. B. die vor Ort Analyse des Großwohnkomplex Olympisches Dorf in München.

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Unterscheidungsmerkmale besitzt. Diese Eigenständigkeit herauszuarbeiten, um die fallspezifischen Qualitäten und allgemeingültigeren Potenzialen für zukünftige Planungsaufgaben anwendbar aufzubereiten, war ein Ziel der vorliegenden Untersuchung. Es gibt zwei Typen von Großwohnkomplexen Die der Analyse vorangestellte Typisierung der Großwohnkomplexe ergab drei Merkmale, in welche die zu analysierenden Großwohnkomplexe eingeordnet werden konnten.13 Die weitere Forschung führte jedoch zu der Erkenntnis, dass diese Merkmale immer in einem Zusammenspiel entweder zu einem öffentlichkeitsorientierten Großwohnkomplex oder einem bewohnerorientierten Großwohnkomplex führen und damit die Typisierung auf diese zwei Kategorien zu reduzieren ist. Ein bewohnerorientierter Großwohnkomplex zeichnet sich dabei städtebaulich durch eine abgrenzende Bauweise, die den Innenraum des Großwohnkomplexes umschließt, ein komplexes Wegesystem, das unterschiedliche Platz- und Raumsituationen inszeniert und durch halböffentliche Zwischenzonen aus. Ein öffentlichkeitsorientierter Großwohnkomplex dagegen zeigt eine inszenierte Perforierung der umschließenden Gebäude, eine übersichtliche und klar definierte Platz- und Raumgestalt sowie öffentlichkeitsorientierte Funktionen im Innern des Komplexes. Großwohnkomplexe sind die Antwort auf die Kritik an Großwohnsiedlungen, Trabanten- und Satellitenstädten, Verödung des öffentlichen Raums, Anonymität und mangelnder Privatheit Erst eine klare Abgrenzung zu verwandten Gebäudestrukturen lässt eine freie Sicht auf die Potenziale von Großwohnkomplexen zu. Ein fehlendes Verständnis für die Andersartigkeit der Großwohnkomplexe besteht seit den Planungs- und Bauzeiten bis heute und wurde durch die Quantität anderer realisierter Städtebautypologien in den 1960er und 1970er Jahren weiter verstärkt. Großwohnkomplexe müssen daher heute in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine spezifische architektonische Ausformulierung und Neu-Interpretation des Leitbilds der „Urbanität durch Dichte“ etabliert werden In den Planungszeiten der Großwohnkomplexe wurde die dogmatisch Umsetzung des Leitbilds der Dichte in Bezug auf Baumassenzahlen oder Bewohnerdichte durch die Zielvorstellungen räumlicher und funktioneller Dichte abgelöst. 13  „Städtebauliche Einbindung“ mit dem Typus „offene Bauweise“ und „geschlossene Bauweise“/„Erschließung“ mit den Kategorien „lineares System“ und „kompaktes System“/„Grad an Öffentlichkeit“ mit den Merkmalen „privater Freiraum“ oder „öffentlicher Freiraum“.

E RGEBNISSE DER A RBEIT | 457

Gleichzeitig muss das in den 1960er Jahren entwickelte Leitbild losgelöst und in Abkehr von der prägenden Zeit der „Moderne“ betrachtet werden. Das negative Image von Großwohnkomplexen von der Entstehungszeit bis heute liegt in der mangelnden Kenntnis und im mangelnden Verständnis dieser Gebäudestruktur begründet Das negative Image ist dabei das Resultat einer langjährigen Entwicklung, die grob zusammengefasst von negativen Rezeptionen im Laufe der 1970er Jahre, einer Aufwertung in den folgenden Jahren und anstehenden Sanierungsmaßnahmen heute geprägt ist. Schlagzeilen wie die Unruhen in den Vororten von Paris im Jahr 2005 oder die Publikation „Neukölln ist überall“ 2012 verstärken das Image von „sozialen Brennpunkten“ in Siedlungen der 1950er–1970er Jahre im Allgemeinen und werden durch die mangelnde Abgrenzung zu verwandten Gebäudestrukturen auf das Image von Großwohnkomplexen übertragen. Gleichzeitig spielt die gestalterische und typologische „Andersartigkeit“ der Gebäudestrukturen eine übergeordnete Rolle in der Bewertung. Während Gebäudeformen, die wie Großwohnkomplexe von konventionellen Bauweisen stark abweichen in den Entstehungszeiten zukunftsorientierte Projekte symbolisierten, sind sie heute durch oberflächliche Betrachtungsweisen und oben beschriebene Einflüsse oft negativ besetzt.14 Komplexität ist ein entscheidendes Gestaltungsmerkmal von Großwohnkomplexen Ein Themenschwerpunkt, der in den Entwürfen von Großwohnkomplexen ebenso eine wichtige Rolle spielte, ist der Begriff der „Komplexität“. Dieser Begriff etablierte sich seit Mitte der 1960er Jahre unter anderem durch die Veröffentlichung Robert Venturis15 und wurde als Gegenpol zur Reduktion und dem Postulat „Weniger ist Mehr“ angesehen. Großwohnkomplexe sind auf unterschiedlichen Ebenen von einem hohen Maß an Komplexität geprägt, die die spezifische Gestalt der Siedlungen prägt. So wurden in Großwohnkomplexen differenzierte und unterschiedliche Außenräume zur Aneignung der Bewohner realisiert.16 Darüber hinaus erzeugen vielfältige und sich überlagernde Nutzungen eine hohe funktionale Komplexität. Auch die Fassadenstrukturen von Großwohnkomple14  Vgl. auch Kapitel „Praxisbezogene Grundlagen der Realisierung von Großwohnkomplexen“ und darin die Ausführungen zur Publikation „Systemanalyse neuer Stadtbaukonzepte“ (Bonn 1976). 15  Vgl. Klotz, Heinrich (Hrsg.): Robert Venturi. Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck. New York 1966, deutsche Ausgabe: Braunschweig/Wiesbaden 1978.

16 Vgl. z.B. Großwohnkomplex Olympisches Dorf in München.

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xen erreichen durch das Widerspiegeln individueller Wohnungsgrundrisse eine abwechslungsreiche und komplexe Gestaltung.17 Großwohnkomplexe sind stark kontextbezogen Im Rahmen der „Komplexitätsdiskussion“ der 1960er/1970er Jahre kann eine neue Kontextbezogenheit der Architektur festgestellt werden. Auch Großwohnkomplexe, das zeigt die Analyse der Fallbeispiele, wurden offensichtlich mit einer hohen Kontextbezogenheit geplant. Die Randbebauung der Großwohnkomplexe nimmt dabei entweder vorhandene Strukturen (Blockrandbebauung, Traufhöhe und Geschosszahlen) auf18 oder grenzt sich deutlich von inhomogenen, beispielsweise industriell geprägten Zonen ab.19 Öffnungen in der Randbebauung nehmen Bezüge zu gewachsenen Strukturen in der Stadt auf und führen bekannte Straßenzüge oder Wegebeziehungen im Innern fort.20 In der Zeitschrift Archithese (2010), mit dem Gesamttitel „Grosser Massstab“ thematisiert Robert Kaltenbrunner in einem Essay großmaßstäbliche Gebäudestrukturen im städtischen Kontext und stellt fest: Es liegt „[...] in der Natur der Sache, dass die architektonische Grossstruktur allenfalls einen (Stadt-) Baustein darstellt, dessen Logik darin liegt, dass er nur für sich „optimiert“ wird (werden kann) und in seinem oft mangelnden Zusammenspiel mit anderen zu einem isolierten Fragment insulären Charakters zu verkommen droht.“21 Dieser Aussage ist unter dem Aspekt der Großwohnkomplexe und der hier beschriebenen Erkenntnis zu widersprechen. Es konnte deutlich herausgearbeitet werden, dass Großwohnkomplexe einen differenzierten Umgang mit dem Kontext der Stadt besitzen. Insbesondere öffentlichkeitsorientierte Großwohnkomplexe nehmen Bezug zur Umgebung auf und binden sich städtebaulich gut in das gewachsene Stadtgefüge ein. Einzig der große Maßstab, einige Gebäudetypologien wie das Terrassenhaus und architektonische Aspekte wie Fassadengestaltung, Farben und Materialien unterscheiden sich von der Umgebung und prägen die eigene Gestalt des Komplexes. Damit wird eine weitere Unterscheidung, nämlich die Kontextbezogenheit des Großwohnkomplexes im Gegensatz zum „Inselcharakter“ anderer Stadtbausysteme dieser Zeit herausgearbeitet.

17 Vgl. z.B. Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter. 18  Vgl. z. B. Großwohnkomplex „Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße Berlin“ 19  Vgl. z. B. Großwohnkomplex „Olympisches Dorf München“. 20  Vgl. z. B. Großwohnkomplex „Brunswick Center“. 21  Kaltenbrunner, Robert: Grosse Systeme. Zur Frage des Massstabs in Architektur und Städtebau. In: archithese 2/2010, S. 38.

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P OTENZIALE

VON

G ROSSWOHNKOMPLEXEN

Alle im Kapitel „Fallbeispiele“ identifizierten Qualitäten der Fallbeispiele werden nun im Folgenden interpretiert und zu allgemeingültigeren Potenzialen zusammengefasst. Diese Potenziale werden den Überschriften „Städtebau“, „Gebäude“ und „Mensch“ zugeordnet, um die Lesbarkeit und das Verständnis der Einzelaspekte zu erhöhen. Gleichzeitig erfolgt eine Zuordnung der Potenziale zu den Kategorien „bewohnerorientiert“ und „öffentlichkeitsorientiert“, da sich bei den Strukturen durchaus unterschiedliche Qualitäten ergeben. Dabei wird ebenso deutlich, dass nicht alle Potenziale gleichwertig Qualitäten in den Großwohnkomplexen der Kategorien „bewohnerorientiert“ oder „öffentlichkeitsorientiert“ erzeugen. Insbesondere auf gebäudetypologischer Ebene führen die Potenziale unabhängig von diesen Kategorien zu den gleichen Qualitäten. Die Tabelle veranschaulicht die Potenziale und die sich daraus ergebenen Qualitäten. Einige der aufgezeigten Potenziale werden textlich näher erläutert, um eine Einordnung in den theoretischen Hintergrund der Arbeit zu realisieren. Klare eigene Gestalt Alle angeführten und analysierten Fallbeispiele besitzen eine klar ablesbare, eigene Gestalt im Sinne der Gestalttheorie. Demnach sind Einzelteile, die sich zu einer Gesamtheit zusammenfügen, wesentlich mehr als die Summe der Einzelteile.22 Der Komplex wirkt als Gesamtstruktur und grenzt sich damit auf den ersten Blick deutlich von seiner Umgebung ab. Dies führt zu zwei unterschiedlichen Potenzialen: Zum einen fördert die sichtbare Gesamtstruktur die Identifikation mit der gebauten Umwelt und der Aneignung der öffentlichen Räume. Auf der anderen Seite erfährt der Gebäudekomplex eine Außenwirkung, wird als Baustein des städtischen Gesamtsystems aktiv wahrgenommen, kann als „Merkpunkt“23 in das kollektive Gedächtnis und die „mental maps“ der Stadtbewohner eingehen und erreicht so eine Strahlkraft. Beide Aspekte können sich parallel entwickeln. Es wird jedoch ebenso deutlich, dass der Aspekt der Identifikation eher in introvertierten, abgeschlossenen Großwohnkomplexen zu einer Qualität führt, während öffentlich- und konsumorientierte Komplexe eher die „Strahlkraft“ und den Effekte des „Merkpunkts im Stadtgefüge“ als Qualität erfahren.

22  Vgl. Kapitel „Ästhetik“ und Gestalttheorie unter Anderem nach Max Wertheimer 1880 – 1943. 23  Vgl. Kapitel „Stadt“ und darin Kevin Lynch in: Conrads, Ulrich (Hrsg.): Das Bild der Stadt, Berlin, 1965 (deutsche Ausgabe).

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Dichte und differenzierte Räume Ein weiteres Potenzial von Großwohnkomplexen ist die räumliche Dichte dieser Bebauungsstruktur. Während das Leitbild der 1970er Jahre mit dem Leitsatz „Urbanität durch Dichte“ mit einer hohen Dichtekennzahl (Bewohner/Fläche) gleichgesetzt wurde, wird im Laufe dieser Arbeit deutlich, dass vielmehr die räumliche Dichte als die Bewohnerdichte entscheidend ist. Ein Potenzial bildet die räumliche Dichte jedoch immer in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Zielvorstellungen aus: Ein Großwohnkomplex mit dem Ziel einer introvertierten, halböffentlichen und den Bewohnern zugewandten Struktur bietet mit der räumlichen Dichte und einer gleichzeitig hohen Komplexität und Kleinteiligkeit in der Gestaltung privat anmutende Räume.24 Die öffentlichkeitsorientierten Gebäudekomplexe dagegen erhalten ihr Potenzial durch die Verdichtung des Raums und einer gleichzeitigen Übersicht, die analog eines „Marktplatzes“ in einem gewachsenen Stadtgefüge eine Urbanität erzeugen kann.25 Abgrenzung zum Stadtraum In den Analysen der Großwohnkomplexe wurde festgestellt, dass der Innenraum des Komplexes auf unterschiedlichsten Gestaltungsebenen immer eine übergeordnete Rolle in der Bewertung von Großwohnkomplexen spielt. Der „öffentliche“ Freiraum erscheint, gemäß strukturalistischer Ziele, als städtischer Innenraum.26 Diese Feststellung gilt unabhängig von der typologischen Einordnung in Bezug auf die Abgrenzung zur Umgebung oder den Grad an Öffentlichkeit. Vielmehr wird deutlich, dass offene Gebäudetypen die bauliche Offenheit durch nutzungsorientierte Gestaltung kompensieren (vgl. Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter), um eine Halböffentlichkeit zu erzeugen.

24  Vgl. Kapitel „Komplexität und Struktur“: Komplexität sei nötig „um die Vielfalt, Brechung und Dynamik der urbanen Lebenswelt im nachindustriellen Zeitalter […] zu erfassen.“ Mainzer, Klaus: Komplexität. Strategien ihrer Gestaltung in Natur, Gesellschaft und Architektur in: Gleininger, Andrea/Vrachliotis, Georg: Komplexität. Entwurfsstrategie und Weltbild, Basel, 2008, S. 89. 25  Vgl. auch den Aspekt Einfachheit in der Gestaltung. 26  Vgl. Kapitel „Der Strukturalismus und seine Vertreter“ sowie Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau, Stuttgart 1981.

E RGEBNISSE DER A RBEIT | 461

Abb. 151: Potenziale von Großwohnkomplexen

Quelle: Privatarchiv

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Auf der anderen Seite können geschlossene Gebäudestrukturen nur dann öffentlichkeitswirksam sein, wenn eine zusätzliche Perforierung den Komplex zum Stadtraum öffnet und so Besucher anlockt, um einen hohen Anteil an Öffentlichkeit und damit einen „urbanen Charakter“ zu erzeugen. Es wird deutlich, dass die Eingänge zum Komplex dabei gut platziert und inszeniert werden müssen. Durch die klare Abgrenzung zum Stadtraum ergibt sich außerdem das Potenzial, dass der Eintritt in den Komplex dem Besucher oder Nutzer/Bewohner immer deutlich bewusst wird. Einen Großwohnkomplex betritt man demnach nicht beiläufig und zufällig, sondern immer bewusst und aktiv. Raumbildung innerhalb der Großstruktur Enge und dichte Wege innerhalb eines bewohnerorientierten Großwohnkomplexes bieten dann Qualitäten, wenn die Enge des Verkehrsraums immer wieder durch Aufweitungen in Form von Plätzen mit Sitzbänken, Höfen, Spielplätzen etc. unterbrochen wird. Erst dort bilden sich Subzentren, die durch ihren spezifischen Raumcharakter Aufenthaltsqualitäten hervorrufen und Kontakte fördern können. In einem öffentlichkeitsorientierten Großwohnkomplex, der sich durch Übersichtlichkeit im öffentlichen Raum auszeichnet, kann eine Qualität geschaffen werden, wenn die Weite durch geschickte Parzellierung gebrochen wird und wiederum Subzentren mit unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten entstehen. Dabei geben die Räume in beiden Fällen keine spezifische und solitäre Nutzung vor, sondern eröffnen eine Vielzahl von Möglichkeiten. Als theoretischer Hintergrund wird hier die absolutistische (Raum als Behälter von Dingen) und relativistische Raumvorstellung (funktionaler Raum) Herman Herzbergers herangezogen, die aussagt, dass ein Raum, umso mehr Handlungsspielräume eröffnet je unspezifischer er gestaltet ist. „Raum wird in den Handlungskontext mit eingebunden, statt nur den Hintergrund dafür zu bilden.“27 Die oben beschriebenen Subzentren, insbesondere die Subzentren in bewohnerorientierten Großwohnkomplexen, können durch ihre Aneignungsmöglichkeiten als solche Handlungsspielräume angesehen werden.

27  Vgl. Exkurs Zwischen Ästhetik und Architekturästhetik: zum Begriff „Raum“ in Kapitel „Forschungshintergrund“ und Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main, 2001, S. 264.

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Größe des Gesamtkomplexes und gute Infrastrukturanbindung/ Zentrumsnähe Großwohnkomplexe sind eigenständige, oft autark funktionierende Quartiere und befinden sich innerhalb des gewachsenen Gefüges einer Stadt. Die Zentrumsnähe sowie gute Infrastrukturanbindungen vernetzen den Gebäudekomplex mit der Gesamtstadt und ermöglichen eine hohe Mobilität der Bewohner sowie eine gute Erreichbarkeit des Quartiers. Die räumliche Größe und damit die hohe Anzahl an Bewohnern im Quartier birgt die Möglichkeit ein (Bewohner-) Ladenzentrum wirtschaftlich zu betreiben und in einem öffentlichkeitorientierten Komplex ein vielfältiges Angebot für Bewohner und Besucher anzubieten. Kleinteilige Erschließungsstrukturen im Gebäude In einem großen Wohnkomplex ist es wichtig, so zeigen es die Analysen und Beobachtungen vieler Großwohnkomplexe, überschaubare Nachbarschaften auszubilden, die eine Unterteilung der hohen Anzahl an Bewohnern in kleine Sozialstrukturen ermöglicht. Wichtig ist dabei, dass die Wohnungen baulich von einem kompakten Ort erschlossen werden. Diese Sub-Einheiten sind überschaubar, sodass eine soziale Kontrolle Sicherheit erzeugt und nachbarschaftliche Kontakte gepflegt werden können. Eine erweiterte Form dieser Nachbarschaft wird in vielen Publikationen der 1960er/1970er Jahre postuliert, wo Gemeinschaftsbereiche den privaten Wohnraum erweitern und beispielsweise bis zu sieben Wohnungen an einen Gemeinschaftsbereich angegliedert werden.28 Terrassierte Gebäude Terrassierte Gebäude bieten die Chance trotz einer hohen räumlichen Dichte im Erdgeschossbereich und durch die Aufweitungen in den oberen Etagen weite Abstandsflächen und eine gute Belichtung aller Wohnungen zu erreichen. In Großwohnkomplexen wird die räumliche Dichte im Erdgeschossbereich oft durch vorgelagerte Gärten weiter erhöht. Unterschiedliche Wohnungstypen und -größen Heterogene Bewohnerstrukturen werden an dieser Stelle auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert. Zum einen erreichen Planer durch unterschiedlich große und vor allem durch flexible Wohnungsgrundrisse, dass Bewohner innerhalb eines Stadtquartiers umziehen oder ihre Wohnung baulich verändern, wenn neue Lebenssituationen dies verlangen.

28  Vgl. Kapitel „Privatheit: Wohnen“ und darin das Projekt Urbanes Wohnen Köln.

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Gleichzeitig wird das Erreichen von sozial heterogenen Bewohnerstrukturen in Wohnbezirken vielfach als Zielvorstellung des Städtebaus herausgestellt. Dabei führt die „…Idealvorstellung von den gemischten Stadtquartieren, in denen sich Fremde austauschen, [...] [erst, K.B.] zur Wahrnehmung der Segregation als Krise.“29 Denn es kann gleichzeitig festgehalten werden, dass die Kommunikation in homogenen Gruppen weitaus höher ist, als in heterogenen Gruppen30 und damit die Wohnzufriedenheit steigt. Ein Potenzial von Großwohnkomplexen sind demnach Bewohnerstrukturen, die „ähnlich denken“ (geringes Statusdenken, aktive Entscheidung für das Wohnen in einem nicht klassischen Wohngebiet, Eigentum) jedoch in ihrer Altersstruktur inhomogen sind. Gleichzeitig erlauben Großwohnkomplexe vielfach Menschen mit Behinderungen barrierefreie Zuwegungen und Einkaufsmöglichkeiten in unmittelbarer Umgebung. Konstruktiv bedingte Flexibilität im Wohnungsgrundriss Dieses Potenzial liegt nicht nur Gebäudetypen von Großwohnkomplexen zugrunde, sondern ist ein Potenzial, welches viele Gebäude (seit) der „Moderne“ besitzen. Die konstruktive Flexibilität der Grundrisse lässt eine Anpassung an veränderte Bedürfnisse der Bewohner und Nutzer zu.31 Durch die Skelettbauweise vieler Gebäude lassen sich nichttragende Wände und Fassadenelemente austauschen, ohne die tragenden Struktur des Gebäudes zu verändern. Außerdem bieten Flachdächer das Potenzial, als weitere Freiräume genutzt zu werden. Dreidimensionale öffentliche Räume Die dritte Dimension eines Raums, die Höhe spielt eine entscheidende Rolle in der Wahrnehmung der unterschiedlichen Zonen eines Großwohnkomplexes. Niedrige Passagen oder hohe, inszenierte Eingänge, öffentliche Plätze mit hoher oder niedriger Randbebauung und Terrassenhausstrukturen die Dichte im Erdgeschossbereich und Weite in den oberen Geschossen erreichen, prägen die Wahrnehmung des Gesamtkomplexes. Ein Potenzial von Großwohnkomplexen liegt dabei in der auf die spezifische Situation und Funktion abgestimmte Kubatur der 29  Schroer, Markus: Stadt als Prozess. Zur Diskussion städtischer Leitbilder in: Berking, Helmut/Löw, Martina (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden 2005, S. 338. 30  Vgl. Roland Günter in Kapitel: „Die Entwicklung zur Komplexbebauung“ in Kapitel „Wissenschaftliche Studien und Umsetzung des Leitbilds“. 31  Vgl. dies und das Folgende: Licata, Gaetano: Transformabilität Moderner Architektur. Kassel 2005, S. 360ff.

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Räume und deren geschickten Anordnung im Gesamtkomplex. Gleichzeitig sind viele Großwohnkomplexe von einer Hierarchisierung der Räume geprägt, die von öffentlichen, städtischen Orten zu privat anmuten Nachbarschaftsplätzen reichen. Innerhalb des Großwohnkomplexes bildet sich eine eigene städtische Struktur, die immer im Dialog zum umgebenden Stadtraum steht. Auch birgt die Höhenentwicklung der Gebäude ein Potenzial in der Außenansicht auf den Großwohnkomplex. Durch Hochhäuser oder charakteristische Terrassenhausstrukturen wird der Großwohnkomplex im Stadtgefüge erkannt und etabliert sich als Merk- oder Orientierungspunkt. Aufgrund der differenzierten Gestaltung innerhalb der Gebäude und den Freiräumen bilden sich auch in der Höhenentwicklung Kommunikationsräume aus. Sie reichen von visuellen Kontakten (Nah- und Fernsicht) über (halböffentliche) Kommunikationszonen innerhalb der Gebäude bis zu privaten Freiräumen auf den Dachterrassen, Loggien und Balkonen. Überlagerung von öffentlichen, halböffentlichen und privaten Zonen In einer Studie unter dem Titel „Kommunikation und Entfremdung“ wurde der Stellenwert von Nutzungsmöglichkeiten der öffentlichen Räume in unmittelbarer Umgebung der eigenen Wohnung herausgearbeitet.32 Dabei wurde deutlich, dass erst die Möglichkeit den täglichen Bedarf an Waren oder Dienstleistungen im direkten Umfeld der Wohnung zu decken zu informellen Kontakten und Kommunikation führt. Die Orientierung zu anderen Stadtteilen wird geringer und der Aufenthalt im öffentlichen Raum steigt. In Großwohnkomplexen entsteht damit durch die Vielzahl an Nutzungsüberlagerungen und Aufenthaltsmöglichkeiten Kommunikation und Öffentlichkeit. Dabei spielt die dritte Dimension (Höhe) der öffentlichen Räume eine übergeordnete Rolle. Kommunikation entsteht dabei durch Sicht- und Rufkontakte von der Wohnung zum öffentlichen Raum. So wurde beispielweise in den Reihenhäusern die Küche im Grundriss zum öffentlichen Weg orientiert. Die terrassierte Struktur der Hochhäuser lässt Sichtkontakte zum öffentlichen Raum zu. Kinderspielplätze in unmittelbarer Nähe zur Wohnung lassen diese Räume als Erweiterung des privaten Grundstücks erscheinen.

32  Vgl. Kapitel „Wissenschaftliche Studien und Umsetzung des Leitbilds“ und darin Hell, Karolus: Kommunikation und Entfremdung. Stuttgart 1971.

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Fußläufige Erschließung Die Trennung von fußläufigem und Pkw-Verkehr ist ein Hauptaspekt von Großwohnkomplexen und begründet unter anderem die Definition dieser Gebäudestruktur. Die Trennung der Verkehrswege auf unterschiedlichen Ebenen führt zu einer autofreien Anlage, die aufgrund der geringen Fortbewegungsgeschwindigkeiten nicht nur kontaktfördernd wirkt, sondern auch kleinteiligere Gestaltung zulässt. Die Interaktion des Menschen mit seiner Umgebung und seine Spontanität sind beim „zu-Fuß-gehen“ deutlich höher als mit dem Auto oder mit dem Rad.33 Durch Raumfolgen von öffentlichen zu „privateren“ Bereichen im Gesamtkomplex sowie durch Zonierung großer Freiräume bilden sich innerhalb der Erschließungswege vielfältig nutzbare und unterschiedliche Aneignungsräume aus. Entscheidend ist dabei gleichzeitig die Möglichkeit, mit dem Auto auf einer Untergeschossebene bis an den Sockel des eigenen Gebäudes heranzufahren. Zugleich werden große Parkflächen in der Peripherie der Großwohnkomplexe durch das Stapeln der Verkehrswege vermieden. Urbanität Das Erzeugen urbaner Räume im Stadtgefüge ist seit den 1960er Jahren in Europa eine der Hauptzielvorstellungen im Städtebau. Großwohnkomplexe besitzen unterschiedlichste Potenziale um diese Zielvorstellung zu erreichen: Städtebaulich durch eine hohe räumliche Dichte und durch spezifische Raumbildungen im öffentlichen Raum die spontane Aneignung fördert und Nutzungsüberlagerungen wie „Durchgangsraum“, „Kinderspielplatz“, „Erholungs-/ Kommunikationsräume“ bietet. Baulich zeichnen sich diese Räume durch eine relativ hohe gestalterische Komplexität, jedoch gleichzeitig durch das Zurücktreten der Gestaltung zur Förderung unterschiedlicher Nutzungen aus.34 Die Überlagerung öffentlicher und halböffentlicher Bereiche mit Beziehungen zum privaten Raum fördert die persönliche Aneignung und Identifikation mit der direkten baulichen Umgebung. Nachbarschaften werden baulich durch kleinteilige Erschließungsstrukturen geschaffen. Eine Identifikation mit dem eigenen Wohngebäude/Wohnquartier fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl. Der partizipierende Stadtbürger, einer

33  Vgl. Kapitel „Theoretische Grundlagen zur Wahrnehmung von Großwohnkomplexen“, in welchem dieser Sachverhalt noch einmal ausführlicher diskutiert wird. 34  Vgl. „ Privatheit: Wohnen“. Und dort das Unterkapitel Flexibilität, Nutzungsneutralität, Raumsysteme: Räume, die gestalterisch zurücktreten ermöglichen eine Vielzahl von Nutzungen und fördern die Aneignung.

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der Kernaspekte der Ausführungen Edgar Salins 196035, kann in Großwohnkomplexen in Zusammenschlüssen wie Einwohner-Interessen-Gemeinschaften oder Gemeinschaftseinrichtungen gefunden werden.36 Die aktive Auseinandersetzung mit der baulichen Umgebung, auch im Zusammenhang mit der Verteidigung des eigenen Wohnquartiers gegen negative Rezeption der Öffentlichkeit, kann Engagement und damit Partizipation fördern. Heterogene Bewohnerstrukturen, im Großwohnkomplex vielfach einer bestimmten Gesellschaftsschicht angehörig, jedoch in der Altersstruktur durchaus heterogen, fördern das soziale Miteinander. Die oben genannten Schlagwörter sind dabei nur Platzhalter für diese vielfältigen Potenziale „Urbanität“ zu erzeugen. Auf theoretischer Ebene kann all dies mit den Ausführungen Dieter Hassenpflugs erläutert werden, der die Begriffe „funktionale“ und „ästhetische“ Urbanität prägte. Als funktionale Urbanität beschreibt er die „Leistungsfähigkeit des städtischen Raums“ (Zentralität, Funktionsvielfalt, Nutzungsmischung, Funktionspluralismus), als ästhetische Urbanität die „Atmosphäre bzw. den Gefühls- und Erlebniswert“ der Stadt.37 In dieser Auflistung der Potenziale und vor allem in der Übersetzung der Potenziale in Qualitäten, wird deutlich, dass nicht alle Potenziale in den Fallbeispielen als tatsächliche Qualität wiederzufinden sind. Vielmehr handelt es sich bei den Potenzialen um Möglichkeiten, Qualitäten zu erzeugen. Demnach gilt, je mehr der genannten Potenziale in einem Fallbeispiel gemäß der Zielvorstellung sinnvoll baulich und unter Berücksichtigung der Zielvorstellung umgesetzt wurden, desto höher die Qualität des Komplexes. Ebenso wird deutlich, dass eine Unterscheidung zwischen öffentlichkeitsorientierter Struktur und bewohnerorientierter Struktur ausschließlich in den Bereichen „Städtebau“ und „Mensch“ relevant wird. Auf gebäudetypologischer Ebene sind die Potenziale auf beide Strukturen anwendbar. 38 35  Vgl. Kapitel „Forschungshintergrund“ und die Veröffentlichung mit dem Titel „Urbanität“ von Edgar Salin 1960 und darin insbesondere: Salin, Edgar: Urbanität. In: Deutscher Städtetag (Hrsg.): Erneuerung unserer Städte. Bonn 1960, S. 21. 36  Vgl. beispielhaft Einwohner-Interessen-Gemeinschaft Olympiadorf e. V., Tenants and Residents Association, Brunswick Center, Interessengemeinschaft Terrassenhaus St. Peter oder Bürgerinitiative Linden Ihmezentrum, Hannover. 37  Vgl. Kapitel „Urbanität“ und Hassenpflug, Dieter: Die europäische Stadt als Erinnerung, Leitbild und Fiktion in: Hassenpflug, Dieter (Hrsg.): Die Europäische Stadt Mythos und Wirklichkeit, Münster, 2002, S. 43. 38  Hinweis: Nach der Analyse der konkreten Fallbeispiele war jedoch festzustellen, dass während die Potenziale, die auf gebäudetypologischer Ebene erarbeitet wurden, in einigen bewohnerorientierten Großwohnkomplexen wie dem Olympischen Dorf und der

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U RBANITÄT

DURCH

D ICHTE ?

Wie bereits einleitend diskutiert, drückt die Fragestellung im Titel der vorliegenden Untersuchung ein kritisches Hinterfragen des Leitsatzes „Urbanität durch Dichte“ aus. Dieses kritische Hinterfragen ist nicht unbegründet, bezieht man sich auf die bereits mehrfache diskutierte schlechte Rezeption vieler Siedlungen der 1960er/1970er in Westeuropa.39 Mit der Formulierung der vielfältigen Potenziale von dem spezifischen Typus des Großwohnkomplexes, kann die vorliegende Untersuchung jedoch differenzierte Abstufungen dieses Leitsatzes präsentieren, die vielfach Strömungen, die ebenfalls zu dieser Zeit aktuell wurden, zuzuordnen sind. So führte die Strukturalismusdebatte in der Realisierung von Großwohnkomplexen zu differenzierten Außenräumen und einem Verständnis des städtischen „Innern“, während Diskussionen über Öffentlichkeit und Privatheit, Multifunktionalität und Mehrzwecknutzung, Gemeinschaftlichkeit, Aneignung und Partizipation förderten. Die Leitideen des Team Ten, statt einer funktionalen Trennung, Nutzungen und Funktionen innerstädtisch zu überlagern und die „Straße“ als Kommunikationsort wieder zu etablieren,40 sowie die Verkehrsproblematik in vielen Großstädten dieser Zeit führten zu horizontal geschichteten, multifunktionalen Gebäuden mit fußgängerfreundlichen Aufenthaltsbereichen im Außenraum.41 Dabei wird deutlich, dass gerade eine hohe räumliche und funktionale Dichte, gepaart mit einer relativ hohen Einwohnerdichte, zu vielfach genutzten und aneignungsfähigen Außenräumen führt. Der Urbanitätsbegriff, im Kontext der 1970er Jahre wieder in das Bewusstsein von Städtebauern, SozioloTerrassenhaussiedlung in Graz angewendet wurden, die Qualitäten im öffentlichkeitsorientierten Brunswick Center kaum zu finden sind. Es steht jedoch außer Frage, dass auch öffentlichkeitsorientierte Großwohnkomplexe eine Aneignung durch die Bewohner erfahren können. Dazu scheinen jedoch größere Komplexe, in denen ein klare Hierarchisierung der Räume möglich ist (vgl. „Wohnarme im Olympischen Dorf, horizontale Verteilung), besser geeignet. Eine Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit im Erdgeschoss und Privatheit im Obergeschoss (vertikale Verteilung) mit dem gleichzeitigen Anspruch einer Identifikation der Bewohner, kann durch fehlende halböffentliche und aneignungsfähige Außenräume offensichtlich nicht ebenso gut funktionieren. 39  Vgl. z. B. Kapitel „Forschungsinteresse“ der Einleitung 40  Vgl. Kapitel „Der Strukturalismus und seine Vertreter“ und darin speziell den Absatz „Team Ten“. 41  Vgl. Kapitel „Wissenschaftliche Studien und Umsetzung des Leitbilds“ und darin speziell den Absatz „Verkehr“.

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gen und Architekten gerückt, muss jedoch gleichzeitig differenziert betrachtet werden. Aneignung, Ausstrahlung und Partizipation, Raumbildung und Aufenthaltsqualitäten, die spezifische Gestalt und eine klare, städtebauliche Trennung des Innern des Komplexes vom umgebenen Stadtraum führen zu vielfältigen, urbanen Qualitäten in Großwohnkomplexen. In Bezug auf den Urbanitätsbegriff heute und die Zukunftsfähigkeit der grundsätzlichen Idee des Großwohnkomplexes stellt sich damit die Frage: Was bedeutet Urbanität zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Welche Zielvorstellungen besitzt der Städtebau heute und in wieweit können die anhand der Großwohnkomplexe herausgefilterten Potenziale Antworten auf neue, zukunftsweisende Planungen geben? Als Abschluss der vorliegenden Untersuchung werden in einem Ausblick zwei mögliche Strategien für den Umgang mit Großwohnkomplexen eröffnet. Gleichzeitig werden im Hinblick auf weitere Forschungsthemen Ansätze und offene Fragen diskutiert, die die vorliegende Arbeit inhaltlich ergänzen können.

Z UM

ÜBERGEORDNETEN

F ORSCHUNGSANSATZ

In der vorliegenden Untersuchung wurde anhand der umfangreich beschriebenen Forschungsarbeit ein neuer, übergeordneter Forschungsansatz in der Architekturtheorie entwickelt und erprobt.42 Dabei wurden nach Klärung des Forschungskontextes über die Analyse von Fallbeispielen fallspezifische Qualitäten herausgearbeitet, die in einer vergleichenden Gegenüberstellung zu allgemeingültigeren Potenzialen transformiert werden konnten. Durch die Methode der hermeneutischen Interpretation der Ergebnisse mithilfe etablierter, architekturtheoretischer Begrifflichkeiten (Erläuterung der Potenziale), wurde ein Forschungsansatz aus den Geisteswissenschaften entliehen, der für die Beantwortung der Hauptfragestellung als angemessen angesehen wird. Aus gebauten Strukturen wurden also im Laufe der Forschungsarbeit Entwurfsbausteine generiert, die in zukünftigen Planungsaufgaben verwendet werden können. Der beschriebene Ablauf der Analyse gebauter Strukturen, dem Erkennen von Qualitäten und der Transformation der fallspezifischen Qualitäten in allgemeingültige Potenziale führt den Forschenden von der Ebene der Rezeption (Analyse, Erkenntnis und Transformation) auf die Ebene der Produktion (Anwendung). Dieser Perspektivwechsel von der Rezeption auf die Ebene der Produktion ermöglicht den Forschenden und Entwerfenden die erarbeiteten 42  Vgl. dabei Kapitel „Übergeordnete Forschungsmethode“ in der Einleitung.

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Abb. 152: Übergeordneter Forschungsansatz

Quelle: Privatarchiv

Potenziale als Entwurfsbausteine anzuerkennen und sinnvoll auf neue Planungsaufgaben anzuwenden. Hier zeigt sich der innovative Gehalt der Forschungsarbeit. Die im folgenden Ausblick der Arbeit dargestellten Entwicklungsszenarien von Großwohnkomplexen werden damit auf der Ebene der Produktion erste planerische Ansätze, wie die Ergebnisse der Arbeit für zukünftige, praktische Planungsaufgaben aufbereitet werden können, eröffnen. Mit dem abschließenden Kapitel dieser Untersuchung verknüpfen sich in der Forschungsarbeit nicht nur Theorie und Praxis, sondern gleichzeitig die Methoden der Dokumentation, Analyse und Interpretation mit einer abschließenden Synthese der Ergebnisse. Es kann bereits vorweg genommen werden, dass nach Abschluss der Untersuchung der beschriebene Forschungsansatz und seine Methoden am konkreten Beispiel des Großwohnkomplexes als zielführend bewertet wird. Eine Anwendung dieses Ansatzes auf weitere Forschungsfelder kann nun im Folgenden an weiteren Forschungsaufgaben erprobt werden.

Ausblick

E NTWICKLUNGSSZENARIEN VON G ROSSWOHNKOMPLEXEN Aus den nun umfassend dargestellten Studien zu Großwohnkomplexen der 1970er Jahre werden in einem „Ausblick“ Entwicklungsszenarien vorgestellt, die unter Bezugnahme der erarbeiteten Potenziale von Großwohnkomplexen nicht nur die Zukunftsfähigkeit dieser Gebäudetypologie darstellen, sondern auch als Anregung für zukünftige Planungsaufgaben dienen können. In vielfältigen Wissenschaftszweigen sind die Strategien „bottom up“ und „top down“ etablierte Methoden zur Analyse und Synthese spezifischer Themen. Die „bottom up“ Strategie geht dabei von „etwas Konkretem aus“ (z. B. Bewohner des Großwohnkomplexes) und überführt es zu etwas Allgemeinerem (z. B. das Leben im Großwohnkomplex), während die Strategie des „top down“ vom Ganzen (z. B. einer Stadt) zum Speziellen (z. B. dem Großwohnkomplex in der Stadt) verfährt. Angewendet auf die Analyseergebnisse der vorliegenden Studie wird deutlich, dass ein „bottom up“ Szenario eher anhand bewohnerorientierter Gebäudeformen erprobt werden kann. Diese Großwohnkomplexe bieten die baulichen Voraussetzungen, durch Selbstverwaltung, Aneignung und Partizipation das Leben im Großwohnkomplex zu gestalten und den Komplex als eigenständiges, funktionierendes Quartier im Stadtgefüge zu verankern. Bauformen, die eher einem öffentlichkeitsorientierten Großwohnkomplex entsprechen, werden mithilfe eines „top down“ Szenarios (weiter-) entwickelt, das den Großwohnkomplex im Gesamtgefüge der Stadt verortet, seinen Stellenwert in diesem Gesamtgefüge bewertet und seine Strahlkraft oder das Image als positiven Effekte für die Gesamtstadt ansieht. Die vorangegangene, umfangreiche Analyse von Großwohnkomplexen und den internationalen architektonischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Einflüssen, die zu diesen Bebauungsstrukturen in den 1960er/1970er

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Jahren geführt haben, lässt die Frage über die Aktualität solch komplexer und in Teilen noch heute utopisch anmutender Bebauungsstrukturen offen. Welche Gebäude- und Städtebautypologien müssen heute, unter Berücksichtigung der in Großwohnkomplexen vorgefunden Potenziale entwickelt werden, um neue Impulse für „urbane Architekturen“ zu entwickeln? Können „urbane Architekturen“ wie Großwohnkomplexe eine Ausstrahlung auf umliegende Stadtteile oder die Gesamtstadt auslösen, die eine nachhaltige Entwicklung dieser Orte positiv beeinflusst? Und welchen Einfluss üben sowohl introvertierte als auch öffentlichkeitsorientierte Gebäudetypologien auf ihre nähere und weitere städtische Umgebung aus? Die folgenden Szenarien stellen zwei Entwicklungsmöglichkeiten von Stadtquartieren dar. Dabei wird von einem Großwohnkomplex ausgegangen, der sich nahe eines Stadtzentrums befindet, durch seine Materialität, Formen, Farben und Gebäudetypologien eine eindeutige Gestalt aufweist und fußläufige Erschließungswege durch die Trennung von Pkw und Fußgängerverkehr besitzt.1 In beiden Szenarien wird dieser fiktive Komplex mit baulichen und sozialen Parametern ergänzt und so weiterentwickelt, dass ein funktionierendes und mit der Stadtumgebung in Zusammenhang stehendes Quartier entsteht. Dabei wird das Szenario mit dem Titel „bottom up“ einen bewohnerorientierten Komplex entwickeln, das Szenario „top down“ dagegen einen öffentlichkeitsorientierten Komplex. Ein Zusammenführen beider Szenarien wird zum Abschluss zusätzliche Parameter eines weiteren Großwohnkomplexes skizzieren, der die Qualitäten beider Typen miteinander vereint. In den Szenarien wird jeweils mit sprachlichen Mitteln eine Skizze entworfen, die Interpretationsspielräume zulässt und gleichzeitig die wesentlichen Parameter zusammenführt, ohne Vorgaben in gestalterische Hinsicht zu geben. In den Szenarien bildet die sinnvolle Zusammensetzung der baulichen Parameter die Grundlage für ein funktionierendes Stadtquartier, wobei erst die partizipierenden, aktiven Bürger das Quartier zu einem „urbanen“ Ort entwickeln können. Es wird in Zukunft notwendig sein, sich im Hinblick auf diese Entwicklungsszenarien gedanklich weiter von Großwohnkomplexen als Vorbild zu entfernen, um mit dem Wissen über die Qualitäten der Großwohnkomplexe neue, zeitgenössische Städtebau- und Architektur-Typologien zu entwickeln.

1 

Vgl. Definition des Begriffes Großwohnkomplex.

A USBLICK | 473

Szenario 1: Bottom up – Ein Mikrokosmos im gewachsenen Stadtgefüge entsteht Im Großwohnkomplex des Szenario 1 besteht eine klare räumliche Trennung zwischen dem Inneren des Komplexes und der umgebenden Stadt. Durch die bauliche Abgrenzung wird ein städtischer Innenraum ausgebildet. Hier entstehen Gemeinschaftseinrichtungen, sie fördern die Partizipation der Bewohner und die Aneignung des Raums. Interessengemeinschaften werden geründet und eine Selbstverwaltung des Quartiers entsteht. Es entwickelt sich eine soziale Kontrolle, die durch Blickbeziehungen und Bekanntschaften sowie eine hohe Frequentierung der öffentlichen Wege gestärkt wird. Die Grün- und Erholungsräume bilden den Rahmen für Freizeitaktivitäten und der Komplex ist auf optimale Besonnung und den Schutz vor Witterungseinflüssen ausgelegt, sodass ein Aufenthalt auch außerhalb der Wohnung attraktiv ist. Die Außenanlagen sind kleinteilig und differenziert gestaltet und bieten unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten. Ein hoher Grad an Kommunikation der Bewohner wird sowohl durch die vorhandenen fußläufigen Erschließungswege gefördert, als auch durch Kommunikationszonen innerhalb des Komplexes. Eine Überlagerung von öffentlichen und privaten Räumen sowie nachbarschaftliche, halböffentliche Zonen erhöhen weiterhin die Aneignung der Außenräume. Im Großwohnkomplex integrierte Einkaufsmöglichkeiten für die Dinge des täglichen Bedarfs erhöhen den Anteil an Fußläufigkeit im Quartier, wobei Fußläufigkeit spontane Handlungen wie Verweilen, neues Entdecken und Kommunikation fördert. Die fußläufigen Wege bilden dichte Räume aus, die durch Aufweitungen und Begrünung Aufenthaltsqualitäten erzeugen und ständig neue Raumeindrücke vermitteln. Eine städtische und damit „anonymere“ Öffentlichkeit wird durch private, nachbarschaftliche Strukturen überlagert. Voraussetzung für diese Entwicklungen ist ein relativ großer Komplex, um Ladenzeilen und Gemeinschaftseinrichtungen, Sportstätten, Schulen und Kindergärten wirtschaftlich betreiben zu können. Nachbarschaftliche Einheiten werden durch gemeinschaftliche Flure und Aufenthaltszonen sowie durch eine überschaubare Anzahl direkter Nachbarn gefördert. Diese baulichen Parameter bieten Potenziale für langfristige Bewohner- und Nachbarschaftsstrukturen.

474 | URBANITÄT DURCH DICHTE?

Szenario 2: Top down – der Großwohnkomplex als Anziehungsund Merkpunkt im Stadtgefüge Die Signalwirkung von Großwohnkomplexen als stadträumliche Determinanten, insbesondere durch ihre Höhe und die damit verbundene Fernwirkung, wurde bereits in den Entstehungszeiten als Potenzial von Großwohnkomplexen erkannt.2 Im Szenario des „top down“ wird die vorhandene räumliche Trennung zwischen dem Inneren des Großwohnkomplexes und der städtischen Umgebung durch großzügige und gut platzierte Öffnungen zum Stadtraum aufgebrochen. Die Eingänge werden inszeniert und nehmen Bezüge zur gewachsenen Umgebung auf. Durch diese öffentlichkeitswirksamen Öffnungen und die eindeutige und widererkennbare Gestalt des Komplexes wird die Öffentlichkeit angesprochen und animiert, den Großwohnkomplex zu betreten. Unterschiedliche Nutzungen wie Einkaufen, Erholung, Restaurants, Cafes und Bars sowie Entertainment werden im Innern des Komplexes vorgehalten, um ein ganztägige, öffentliche Frequentierung des Komplexes zu erreichen. Ein städtischer Raum und „Urbanität“ entsteht durch räumliche Dichte, eine hohe Besucherfrequenz, Aufenthaltsmöglichkeiten und „Bühnen“ für temporäre Aktionen. Das Innere des Großwohnkomplexes ist dabei übersichtlich und großzügig gestaltet, obwohl gleichzeitig eine Parzellierung der Räume stattfindet. Bezüge und Sichtverbindungen vom Innern zur Umgebung erhöhen die Verortung des großen Komplexes in der Stadt. Alle Räume sind fußläufig zu erschließen um das „Flanieren“, spontane Aktivitäten und informelle Treffen sowie Aufenthalte zu ermöglichen. Die Stadt erhält mit dem Großwohnkomplex ein Subzentrum, das mit spezifischen Schwerpunkten nicht in Konkurrenz mit der Stadt tritt, sondern neue und zusätzliche Aspekte der Nutzung von öffentlichen Räumen wie Freizeit, Entertainment oder Kultur eröffnet.3 Dabei spielt es eine entscheidende Rolle, dass Großwohnkomplexe mit dieser Zielsetzung sowohl von ihrem großen, städtebaulichen Maßstab als auch vom gestiegenen Interesse an der Zeit der „ʼ60er und 2 

Bereits Hanns Adrian postulierte in den 1970er Jahren: „Die großen Baumassen neuer, mit Hochhäusern kombinierter Komplexe könnten dazu verwendet werden, offene Straßenräume zu schließen und optisch zu begrenzen. [...] Weithin sichtbare Hochbauten müssen charakteristische, unverwechselbare Formen erhalten, wenn sie bestimmte Bereiche signalisieren und die Orientierung im Stadtganzen erleichtern sollen.[...] Ihre Lage und ihre Form dürfen nicht einseitig von privaten Interessen bestimmt werden; sie haben einen Symbolwert für alle Bürger und Besucher.“ In: Landeshauptstadt Hannover (Hrsg): Zur Diskussion: Innenstadt. Hannover 1970, S. 9.

3 

Vgl. z. B. das Barbican in London.

A USBLICK | 475

ʼ70er“4 leben und davon profitieren, wie Großwohnkomplexe als unverkennbare Objekte dieser vergangenen Epoche zugeordnet werden. Demnach bieten Großwohnkomplexe das Potenzial, sich identitätsstiftend für die Gesamtstadt zu etablieren, Subzentren zu generieren und einen „urbanen“, öffentlichen Ort in „futuristischer“ Umgebung zu schaffen. Wie bereits einleitend thematisiert, kann ebenfalls ein Szenario entwickelt werden, in welchem gleichzeitig die Strategie des „top down“ und auch die Strategie des „bottom up“ zur Anwendung kommen. Dabei wird eine klare Hierarchisierung der Wohnwege vom Zentrum zur Wohnung ebenso wichtig, wie die gestalterische Ausformulierung einer Trennung der unterschiedliche Zonen (öffentlicher Bereich und „halböffentlicher“ Wohnbereich) durch Materialwechsel, sich verändernde Dichte und differenzierte Begrünung. Der öffentliche Bereich orientiert sich dabei klar zum umgebenden Stadtraum, der an dieser Stelle ebenso städtische Qualität besitzt. Die Wohnbereiche dagegen grenzen sich von der Umgebung ab und entwickeln städtische, halböffentliche Räume zur Aneignung und Partizipation. Beide Szenarien besitzen die Chance, in den kommenden Jahren einen gesellschaftlichen Rückhalt zu erlangen. Dabei wird das „wiedererwachende Interesse“ an der Zeit der 1960er/1970er Jahre in den kommenden Jahren eine übergeordnete Rolle spielen. Im Hinblick auf Großwohnkomplexe müsste nun der beschriebene, gesellschaftliche Wandel im Ansehen dieser Zeit genutzt werden, um die beschriebenen Szenarien zielführend, unter ökonomischen Gesichtspunkten sinnvoll anzuwenden und Großwohnkomplexe als typische Erben dieser Epoche im öffentlichen Ansehen aufzuwerten. Im Hinblick auf die Entwicklung zeitgenössischer und zukünftiger „urbaner Wohnformen“ bieten die Szenerien gleichzeitig Ansätze, aus den Potenzialen bestehender Großwohnkomplexe zu lernen.

D IE Z UKUNFT

DES INNERSTÄDTISCHEN

W OHNENS ?

Die Frage nach innerstädtischen, verdichteten Bebauungsstrukturen wird heute im Zeichen wachsender Megastädte, dem Wunsch vieler Menschen in der Stadt

4 

Vgl. Kapitel 1.2 Forschungsinteresse in der Einleitung und beispielsweise Caspers, Markus: 70er. Einmal Zukunft und zurück. Utopie und Alltag 1969 – 1977. Köln 1997 („die Zeit [ist] nun reif für die Jahre zwischen 1969 und 1977“ S. 11).

476 | URBANITÄT DURCH DICHTE?

zu wohnen,5 und im Zeichen von begrenzten Ressourcen sowie dem Ziel den Klimawandel zu stoppen wieder aktuell. Damit werden auch Ansätze wie Mehrfachnutzung und Funktionsmischung ebenso aufgegriffen, wie der Wunsch nach kurzen Wegen, die ohne Auto und zu Fuß erledigt werden können.6 Vermehrt werden in Zeitschriften nicht nur Themenhefte mit der formalen Aufarbeitung der Gebäudestrukturen der 1960er/1970er Jahre veröffentlicht, sondern gleichzeitig Projekte neuer, verdichteter Stadtbaukonzepte vorgestellt. In der Ausgabe „Grosser Massstab“ der Zeitschrift Archithese wurde im Jahr 2010 ein Projekt einer komplexen Wohnbebauungsstruktur in Singapur dargestellt. Mit „The Interlace“ von OMA (Office for Metropolitan Architecture) wurde eine komplexe Großwohnstruktur entwickelt, die auf den ersten Blick und in den Projektbeschreibungen einige der für Großwohnkomplexe typischen Gestaltungsmerkmale aufweist und damit als zeitgenössischer Großwohnkomplex angesehen werden kann. So schaffen die verzahnten Wohnblöcke „[…] eine vertikale Stadt, bestehend aus gemeinschaftlichen und privaten Bereichen auf mehreren Ebenen.“7 Im Jahr 2014 erhielt dieses Projekt den „Urban Habitat Award“ für „[...] das weltweit beste Hochhausprojekt in städtischen Lebensraum.“8 Mit „The Big 8“ entstand in Kopenhagen in den letzten Jahren (Fertigstellung 2010) ebenfalls eine Bebauungsstruktur, die Ähnlichkeiten zu Großwohnkomplexen aufweist. Dabei ist eine Nutzungs- und Funktionsüberlagerung bzw. Funktionsschichtung entscheidend. Die Erschließung der Wohneinheiten erfolgt über „öffentliche“ Wohnwege, die den gesamten Komplex durchdringen. Abweichend vom strukturalistischen Gestaltungskonzept der Großwohnkomplexe liegt der Schwerpunkt der öffentlichen Nutzungen jedoch nicht im „Innern“ des Komplexes, sondern in der Randbebauung und nach außen orientiert. Beide Projekte wurden bereits im Kapitel Vom Terrassenhaus zum Großwohnkomplex: Beispiele näher erläutert.

5 

Vgl. Bodenschatz, Harald: Perspektiven des Stadtumbaus in: Bodenschatz, Harald/Laible, Ulrike (Hrsg.): Großstädte von morgen. Internationale Strategien des Stadtumbaus. Berlin 2008, S.11.

6 

Vgl. Robbins, Edward: New Urbanism in: Robbins, Edward/El-Khoury, Rodolphe (Hrsg.): Shaping the City. Studies in History, Theory and Urban Design. London 2004, S. 217.

7 

Kesselring: Rahel: The Interlace. In: archithese 2/2010, S. 42

8

www.focus.de, 27.06.14, 10:15.

A USBLICK | 477

AUSBLICK

AUF WEITERFÜHRENDE

F ORSCHUNGSFELDER

Die vorliegende Untersuchung eröffnet mit den vielfältigen Erkenntnissen, Thesen und Analysen viele weitere Forschungsfelder, Fragestellungen oder Spezialisierungsmöglichkeiten. Nur einige davon werden nun im Folgenden kurz aufgezeigt, um den Forschungskontext der Arbeit noch einmal zu öffnen. Mit der vorliegenden Untersuchung wurde nur ein kleiner Teilaspekt von Architektur- und Städtebau der 1960er/1970er Jahre thematisiert und wissenschaftlich untersucht. Bereits erschienene Forschungsarbeiten wie „Bauten der Boomjahre“, „Olympisches Dorf München“ oder „ The Life and Times of the Brunswick, Bloomsbury“ ergänzen mit kleineren oder übergeordneten Teilaspekten das Forschungsfeld. Weitere Themen dieser städtebaulich und architektonisch hoch interessanten Epoche zu untersuchen birgt vielfältigen Forschungsbedarf, der in kommenden Forschungsprojekten aufgegriffen werden sollte. Gemäß des nun etablierten Begriffs „Großwohnkomplex“ spielt das Thema „Wohnen“ eine übergeordnete Rolle im Forschungszusammenhang. In der vorliegenden Arbeit wurde diese Thematik unter vielfältigen Ansätzen betrachtet: So wurde darstellt, wie gesellschaftliche Aspekte das Wohnen in den 1960er/1970er Jahren veränderten, wie ein neues Verständnis des Individuums in der Gemeinschaft und Aspekte wie Öffentlichkeit und Privatheit das Wohnen prägten. Darüber hinaus wurden Wohnungsgrundrisse und Grundrisse von Gemeinschaftseinrichtungen in Großwohnkomplexen beispielhaft aufgezeigt. Trotzdem ist ein Forschungsbedarf über den vielfältigen Begriff des Wohnens im Wandel der Zeit und insbesondere im Hinblick auf heutige und zukünftige Ansprüche, Ziele und Wünsche in Bezug auf den individuellen Wohnraum zu konstatieren. In diesem Zusammenhang rückt die Thematik des verdichteten Wohnens als eine städtebauliche Annäherungsweise ebenso in den Fokus und eröffnet weiteren Forschungsraum. Dem Thema des „Wohnens“ hängt gleichzeitig auf wissenschaftlicher Ebene immer ein soziologischer Bestandteil an. So kann die vorliegende Untersuchung, die sich klar auf die baulichen Parameter von Großwohnkomplexen und die daraus resultierenden Potenziale beschränkt, keine soziologische Durchdringung des Themas leisten. Sich mit dem Blick eines anderen Wissenschaftszweigs der Thematik des Großwohnkomplexes zu nähern, wird weitere Erkenntnisse eröffnen. Auf empirischer Ebene werden Forschungen über tatsächliche Kennzahlen wie Dichte, Bewohnerstruktur oder Baumassenzahlen die vorliegende Arbeit ergänzen. Für eine vollständige bautechnische Analyse der Gebäudetypologie des Großwohnkomplexes wird es insbesondere heute vermehrt interessant, die

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Gebäudetypologie unter technischen und energetischen Aspekten zu betrachten und Entwicklungsstrategien zur Sanierung zu erarbeiten. Für eine solche Forschungsarbeit kann die vorliegende Arbeit eine Grundlage bilden, da mit dem Wissen über die Potenziale von Großwohnkomplexen weitere Forschungen zielgerichteter durchgeführt werden können. Auch stellen sich, insbesondere im Hinblick auf die formulierten Entwicklungsstrategien von Großwohnkomplexen, die Fragen: Wie geht man heute konkret mit gebauten Großstrukturen im Stadtgefüge um, was bedeuten verdichtete Bebauungsstrukturen für die Stadt im Allgemeinen und welchen Stellenwert werden verdichtete Wohnanlagen in der der Stadt der Zukunft besitzen? Großwohnkomplexe wirken heute auf Grund ihrer typischen Gestaltungsmerkmale der 1960er/1970er Jahre wie Relikte einer vergangenen Epoche und polarisieren im Hinblick auf den zeitgenössischen Umgang mit diesen Bebauungsstrukturen. Dabei sind in Kunst und Kultur bereits Entwicklungen ablesbar, die die 1960er/1970er Jahre wieder vermehrt thematisieren. Auch Publikationen, Ausstellungen und Vortragsreihen über Architektur und Städtebau der 1960er/1970er Jahre bringen diese Epoche wieder vermehrt in die öffentliche Diskussion ein. Neben Untersuchungen zu denkmalschutzrechtlichen Aspekten wird es interessant sein, die vorliegende Arbeit unter praxisorientierten Gesichtspunkten zu ergänzen. Die gefundenen Potenziale bieten dabei die Möglichkeit in Experimenten, Entwürfen und Projekten angewendet zu werden und neue zeitgenössische, städtebaulich verdichtete Bautypen zu generieren. Die Möglichkeiten der Transformation von bestehenden Großwohnkomplexen auszuloten ist ein weiterer Ansatz über die vorliegende Arbeit hinaus diese Bebauungsstruktur zu untersuchen und experimentell zu erforschen. Auch dabei bildet die vorliegende Arbeit die Grundlage mit Hilfe der gefunden Potenziale Großwohnkomplexe neu zu strukturieren und ihre Qualitäten stärker herauszuarbeiten. So können Großwohnkomplexe sinnvoll und im Verständnis der Entstehungsepoche revitalisiert werden. Darüber hinaus müsste in einer weiteren Forschungsarbeit thematisiert werden, wie das nun auf europäischer Ebene erarbeitete Thema der „Großwohnkomplexe“ im weltweiten Kontext zu verorten ist und in welchem Maße heute in wachsenden Megastädten in Südamerika, Asien oder Afrika verdichtete Wohnstrukturen als zukunftsweisende Typologien entstehen.

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Architekturen Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens (Hg.) Erinnerungsorte in Bewegung Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen November 2015, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3059-6

Gianenrico Bernasconi, Thomas Hengartner, Andreas Kellerhals, Stefan Nellen (Hg.) Das Büro Zur Rationalisierung des Interieurs, 1880-1960 November 2015, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2906-4

Eduard Heinrich Führ DIE MAUER Mythen, Propaganda und Alltag in der DDR und in der Bundesrepublik Oktober 2015, ca. 352 Seiten, Hardcover, durchgehend vierfarbig bebildert, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-1909-6

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Susanne Hauser, Julia Weber (Hg.) Architektur in transdisziplinärer Perspektive Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen September 2015, ca. 250 Seiten, kart., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2675-9

Jörn Köppler Die Poetik des Bauens Betrachtungen und Entwürfe August 2016, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2540-0

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Michael Falser, Monica Juneja (Hg.) Kulturerbe und Denkmalpflege transkulturell Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis 2013, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2091-7

Andri Gerber Metageschichte der Architektur Ein Lehrbuch für angehende Architekten und Architekturhistoriker (unter Mitarbeit von Alberto Alessi, Uli Herres, Urs Meister, Holger Schurk und Peter Staub) 2014, 318 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2944-6

Christian J. Grothaus Baukunst als unmögliche Möglichkeit Plädoyer für eine unbestimmte Architektur 2014, 320 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2631-5

Nadine Haepke Sakrale Inszenierungen in der zeitgenössischen Architektur John Pawson – Peter Kulka – Peter Zumthor 2013, 458 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2535-6

Achim Hahn (Hg.) Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Atmosphären im architektonischen Entwurf 2012, 364 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2100-6

Sonja Hnilica Metaphern für die Stadt Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie 2012, 326 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2191-4

Simone Kraft Dekonstruktivismus in der Architektur? Eine Analyse der Ausstellung »Deconstructivist Architecture« im New Yorker Museum of Modern Art 1988 Juli 2015, ca. 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3029-9

Joaquín Medina Warmburg, Cornelie Leopold (Hg.) Strukturelle Architektur Zur Aktualität eines Denkens zwischen Technik und Ästhetik 2012, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1817-4

Kerstin Plüm (Hg.) Mies van der Rohe im Diskurs Innovationen – Haltungen – Werke. Aktuelle Positionen 2013, 228 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2305-5

Ute Poerschke Funktionen und Formen Architekturtheorie der Moderne 2014, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2315-4

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