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German Pages [176] Year 2008
Bauwelt Fundamente 140
Herausgegeben von Ulrich Conrads und Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hildegard Barz-Malfatti Elisabeth Blum Eduard Führ Werner Sewing Thomas Sieverts Jörn Walter
Erol Yildiz Birgit Mattausch (Hg.)
Urban Recycling Migration als Großstadt-Ressource
Bauverlag Gütersloh · Berlin
Birkhäuser Basel · Boston · Berlin
Satz und Layout: Paula Altmann, Köln Umschlagvorderseite: Köln-Keupstraße, Foto © Erol Yildiz Seite 2: Schaufenster in der Kölner Weidengasse, Foto © Birgit Mattausch Umschlagrückseite: Türkisches Restaurant Köln-Keupstraße, Foto © Erol Yildiz
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Man in the street, Marseille, Foto © Leslie Dema
Inhalt
Gerd Baumann Stadt und Migration: Herz und Kreislauf Statt eines Vorworts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Birgit Mattausch Die Bronx im Kopf Ein Mythos und die Kultur der Urbanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Leon Deben / Jacques van de Ven Fünfhundert Jahre Erfolg durch Immigration Eine kurze Chronik Amsterdams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Holger Floeting Selbständigkeit von Migranten und informelle Netzwerke als Ressource für die Stadtentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Robert Pütz Perspektiven der „Transkulturalität als Praxis“ Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Michel Peraldi Marseille: der Geist der Krise und die Ökonomie des Basars . . . . . 82 Erol Yildiz „Als Deutscher ist man hier ja schon integriert.“ Alltagspraxis in einem Kölner Quartier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Katrin Gliemann /Gerold Caesperlein Von der Eckkneipe zur Teestube Urbaner Wandel im Alltag: Dortmund-Borsigplatz . . . . . . . . . . . . . 119 6
Angela Stienen Einst „die Bronx von Bern“ Die andere Logik sozialräumlicher Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Detlev Ipsen /Holger Weichler Vielfalt als Stärke: Kulturelle Cluster in Toronto . . . . . . . . . . . . . . . 159 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
„Tante Emma ist jetzt Onkel Ali“ – türkische Konditorei mit Imbiß in Köln, Foto © Erol Yildiz
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Gerd Baumann
Stadt und Migration: Herz und Kreislauf Statt eines Vorworts Wie komme ich durch das Stadtthor? […] Ich verlernte es, ein Zwerg zu sein. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1883
Als der Plan für dieses Buch in meinen Briefkasten flog, war ich sofort Feuer und Flamme. Daß Migration das Wesen der Stadt ist, wissen wir von Ur und Babel seit 5000 Jahren. Und daß etablierte Städter oft ihre Stadttore verriegeln, um ihren Besitzstand zu schützen, wissen wir, seitdem es Nationalstaaten im (ehemals) modernen Sinn gibt, je nach Region zwischen 500 und 50 Jahren. Eine Dialektik der Stadt gibt es, seit es Städte gibt; sie wurde überall schärfer, sobald sich Städte in Nationalstaaten spiegeln wollten. Dann fürchtete man den ‚Turm von Babel‘. Trotzdem ist dieser Prozeß der Urbanisierung oft dialektisch geblieben, manchmal sogar dialogisch geworden, denn Städte brauchen nicht nur alte Venen, sondern auch neue Arterien, wenn sie überleben wollen – ehe malige Städte gibt es genug: als ‚romantische‘ Städtchen in Reiseführern für Nostalgiker. Wenn also die lebende Stadt anlockt und zugleich immer ausschließt, dann hängt dies mit der inneren Dynamik der Migration zusammen. Ärmere Städter und Migranten suchen Arbeit, reichere Migranten bringen sozia les und ökonomisches Kapital, und zwischen beiden können sich außer gewöhnliche Prozesse entwickeln, die es ohne Migration nicht gäbe: Einerseits kommt es zu erneuernden Formen der Unternehmerschaft – oft transkulturell oder transnational geprägt –, andererseits zu einem ‚trickledown‘-Effekt, wie es ihn in Städten wie in Staaten ohne Migration niemals gäbe. Die erste Dynamik ist evident: Alle erfolgreichen Städte haben ihre sinnbildlichen Hugenotten und ausländischen Pioniere, oftmals Flüchtlinge 8
mit besonderem sozialen, kulturellen oder technologischen Kapital. Als erstes Beispiel aus eigener Erfahrung sei Kadugli genannt, die Hauptstadt der Nubaberge im Sudan. Als ich 1976 ankam, bestand Kadugli aus fünf armseligen Dörfern mit ein paar Läden, die sich als arabischer Markt (suq) tarnten. Als ich 1979 das Land verließ, hatte die Immigration von daheim stigmatisierten, aber transnational vernetzten Unternehmern aus Oberägypten Kaduglis Dörfer in eine ‚Wild West Boom Town‘ verwandelt: Die ersten geteerten Straßen wurden bald mit Hilfe privater Dieselgeneratoren elektrisch beleuchtet, und man erfand neben der alten Pilgerherberge auch den ersten ‚Saloon‘ und sogar eine Art Restaurant. Aus dem Umland zog es binnen dreier kurzer Friedensjahre beinahe 20.000 Migranten in die werdende Stadt von zunächst 5.000 Einwohnern, wo man den Hunger der Dörfer durch Teilzeitjobs lindern konnte. Die zweite Dynamik freilich fehlte: Der von Neoliberalen angepriesene ‚trickle-down‘-Effekt scheiterte an staatlich erzwungenen eisernen ethnischen Grenzen. Dennoch gibt es diesen Effekt in anderen sich ent wickelnden oder wiedererstehenden Städten, wenn auch oft nur innerhalb ethnischer Grenzen. Die ehemalige Stadt Southall (60.000 Einwohner), eingemeindet als Londons dichtest besiedelte und ärmste Vorstadt, war um 1955 ein ruiniertes Elendsviertel, aus dem Tausende auf Kosten des britischen Gesundheitsministeriums umgesiedelt wurden. Just zwischen 1952 und 1982 wurde Southall jedoch durch Immigrationen aus Indien und Pakistan zur ,Asian Capital of Britain‘. 1993, am Ende meines siebenjährigen Aufenthalts, meldeten die Läden auf dem Southall Broadway dem Finanzamt (sic!) einen Umsatz pro Quadratmeter, der nur von Londons kosmopolitaner ‚shopping mile‘ Oxford Street übertroffen wurde. Ironischerweise ist der Southall Broadway eine geographische Verlängerung der Oxford Street. Man könnte sie beinahe umkehren; aber die zweite Dynamik ist wichtiger. Der von rechtslastigen Ökonomen oft beschworene, aber niemals auch nur ansatzweise bewiesene ‚trickle-down‘-Effekt wirkt tatsächlich, wenn es gelingt, inter-ethnische Grenzen durchlässig zu machen und intraethnische Solidaritäten zu respektieren. Ersteres macht die Konsumgesellschaft von selbst: „Wenn du frisches Gemüse willst, dann geh zum Türken“, sagen auch Alt-Amsterdamer, um den einheimischen Treibhaus tomaten zu entkommen. Mein Lieblingsbeispiel für urbanen Geschmack ist Frau Mohamed, die mir beim Kochen eines surinamischen Currys zurief: „Gerd, mach die Fenster auf, die Nachbarn müssen auch mal was Gutes riechen!“ 9
Die zweite Dynamik ist schwieriger. Intra-ethnische Solidarität stört alteingesessene Städter, denn die Stadt ist der klassische Ort, an dem sich jeder mit ‚Schiffauers Paradox‘ herumschlagen muß. Schiffauer nennt es „die Zumutung der Moderne“: Man soll normativ und grundsätzlich mit allen anderen jedweden freien Austausch betreiben, obwohl einem die Nächsten (sei es über Familie, Ethnizität oder Kultur) doch am nächsten stehen. Schiffauer zeigt verschiedene Lösungsmodelle, je nach Nationalstaaten; sein Argument über die Rolle national geprägter civil societies ist inzwischen ein Klassiker. Darauf aufbauend, läßt sich Schiffauers Ansatz selbst noch zuspitzen auf die civic culture, also die Bürgerkultur bestimmter Städte. Große multikulturelle Städte, wie einstmals Brügge oder Ravenna, verschwanden nicht einfach in der Versenkung, wie uns so mancher Touristenführer weismachen will, sie gingen in einer xenophoben Stadtkultur unter. Städte degenerieren zu Städtchen, wenn die Alteingesessenen alle ‚Neuen‘ und alles Neue abwehren oder abwerten. Städte, die sich einschließen, schließen sich aus. Nun gilt es aber nicht, die alltäglichen Probleme der Koexistenz auszublenden: Blinde Flecken oder Scheuklappen helfen niemandem. Migration ist zugleich die Ur- und die Babel-Definition der Stadt, und Multikulturalismus ist ihre größte Leistung, wo immer sie ihre zwei Aufgaben bewäl tigen kann. Und: Die ‚Neuen‘ sind keine weitere kulturelle Farbe, die man à la mode an- und wieder ablegen kann, wie es einem beliebt. Es braucht sowohl einen politisch konkreten als auch einen interdisziplinären Ansatz. Zum interdisziplinären, hier nicht weniger politischen Ansatz bietet der vorliegende Band drei Brücken: Die erste verbindet Städtebau und Architektur; die zweite verknüpft beide mit den Sozialwissenschaften, die dritte schließlich vermittelt zwischen diesen mit einer engagierten inter-wissenschaftlichen Perspektive, was die Befunde dieses Bandes mit jedem Beitrag bestätigen.
Foto gegenüberliegende Seite: Metrostation Jules Guesde in Marseille, © Karim de Broucker
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Einleitung
Migration war seit jeher konstitutiv für die Entwicklung von Städten; Urbanisierung ohne Mobilität ist schlichtweg unvorstellbar. Die Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts und die Entstehung riesiger Arbeitsmärkte in städtischen Zentren forcierten die Zuwanderung von Arbeiterinnen und Arbeitern auf der Suche nach einer gesicherten Existenz. In den Industriezentren entstanden neue Arbeiterquartiere, in denen sie sich niederließen und zum Teil unter desolaten Bedingungen Überlebensstrategien entwickelten. Über Jahrhunderte wurden die Städte Europas von unterschiedlichen Migrationswellen geprägt. Insofern war die Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine neue Phase, in der viele Großstädte nachhaltig verändert wurden. Oft sind es dieselben Arbeiterviertel, die nun als Ausländerviertel in Verruf geraten und als Ghettos, ethnische Kolonien, islamische Hochburg oder neuerdings als ‚Parallelgesellschaften‘ etikettiert werden. Diese Wahrnehmung bestimmte in den meisten europäischen Ländern den politischen und wissenschaftlichen Umgang mit Migranten und blieb daher nicht ohne Folgen für deren gesellschaftliche Positionierung. Es waren negative Zuschreibungen, die Einwandererquartiere territorial stigmatisierten und ihre Bewohner oft genug ins gesellschaftliche Abseits drängten. Genauer betrachtet, handelt es sich bei solchen unhinterfragten, pauschalierenden Abwertungen um einen „wissenschaftlichen Mythos“ (Bourdieu), um ein (ethnisches) „Dispositiv“ (Foucault), mit denen Norma litäten definiert und so gesellschaftliche Macht organisiert wird. Dies führt dazu, daß der konstitutive Zusammenhang von Migration und Urbanisierung aus dem Blick gerät und die Potentiale, die solche Migrantenquartiere für städtisches Leben bieten, bis heute nicht erkannt und gewürdigt werden. Es verwundert daher nicht, daß in der kritischen Migrationsforschung der letzten Jahre ein radikaler Perspektivenwechsel gefordert wird. Statt sich weiter an rassistische Deutungsmuster zu halten, gilt es, endlich den wesentlichen Beitrag von Migranten für die Entwicklung und Moder nisierung marginaler Quartiere zur Kenntnis zu nehmen und als solchen zu würdigen. Aus dieser Perspektive kann nämlich sichtbar gemacht 12
werden, daß es sich hier nicht um ‚Parallelgesellschaften‘ handelt, sondern vielfach um – wenn auch unter prekären Bedingungen realisierte – Erfolgsgeschichten. Viele solcher Quartiere, die von Stadtplanern und Behörden aufgegeben und ihrem Schicksal überlassen wurden, Stadtteile in denen kommunale Maßnahmen von oben an der Alltagswirklichkeit der Bewohner vorbeigingen, gerieten erst in Bewegung durch den Zuzug von Migranten, die trotz vielfältiger rechtlicher und politischer Barrieren und Behinderungen heruntergekommene oder leerstehende Häuser übernahmen, kleine Geschäfte gründeten und informelle Netzwerke errichteten. Damit sind nicht die mafiösen Strukturen gemeint, die Migrantennetzwerken oft unterstellt werden, sondern Strategien, mit denen Menschen ihre Existenz und ihren sozialen Aufstieg vielfach an den offiziellen Arbeitsmärkten vorbei organisieren müssen und deren Leistungen daher nur zu einem geringen Teil in die ‚nationale Buchhaltung‘ eingehen. Gerade solche Viertel zeichnen sich aber durch eine große Dichte von Dienstleistungen, Geschäften und gastronomischen Angeboten aus. Sie sind zu Lebensadern vieler Großstädte geworden. Im vorliegenden Band wird die Perspektive in der oben beschriebenen Weise umgekehrt. Die Entwicklung in Quartieren, deren Geschichte und Erscheinungsbild durch Einwanderung geprägt ist, wird aus unterschiedlichen Dimensionen in den Mittelpunkt gerückt, um genauere Einblicke in die soziale Praxis vor Ort zu gewinnen. Im Gegensatz zu einer Außenperspektive, wie sie vielfach in den Medien und in der öffentlichen Meinung dominiert und aus welcher solche Räume vor allem in Problemzusammenhängen wahrgenommen werden, wollen wir die Bewohner als ‚Experten ihres Alltags‘ betrachten. Statt von oben oder aus der Ferne zu urteilen und sozusagen „mit der Bronx im Kopf“ (vgl. den Beitrag auf Seite 22) ganze Stadtteile als ‚Ghettos‘ oder ‚Parallelgesellschaften‘ abzuwerten, reicht manchmal schon eine erste Ortsbesichtigung oder ein Gespräch, um den Blick zu verändern. Vieles wird allerdings erst bei genauerem Hinschauen sichtbar: Wie die Bewohner dieser Stadtteile unter schwierigen Bedingungen ihr Leben organisieren, wie vernachlässigte städtische Räume durch die Anwohner wiederbelebt, also ‚recycelt‘ wurden. Dabei geht es nicht nur um die Aufwertung ehemals oder bis heute marginalisierter Stadträume, sondern auch um die Aufwertung der Kompetenzen und Ressourcen ihrer Bewohner vor Ort. Kurz gesagt: um Gegenbilder zu den gängigen urbanen Krisendiskursen. Widersprüche, Probleme und Auseinandersetzungen, die normaler Bestandteil des Großstadtlebens sind, sollen nicht ausgeblendet werden, vielmehr soll 13
ein differenzierter Blick auf bisher vernachlässigte Alltagswirklichkeiten ermöglicht werden. Entgegen so mancher Behauptung klassischer Gentrifizierungstheorien kommen die Erneuerer und ‚Revitalisierer‘, ob Künstler oder Einzelhändler, nicht von irgendwo, um alteingesessene Anwohner zu vertreiben, sondern oft aus den Reihen der Anwohner selbst, von denen viele als Migranten in die vernachlässigten und aufgegebenen Stadtteile gezogen waren, hier in Eigeninitiative den sozialen Aufstieg schafften und ihr Wohngebiet wieder attraktiv für weiteren Zuzug machten, manchmal mit den bekannten Folgen: ökonomische, soziale und symbolische Gentrifizierung. Die Botschaft ist einfach und pragmatisch: Statt Migration und Migranten für den Niedergang städtischer Räume verantwortlich zu machen, wird in diesem Band gerade ihr Beitrag zur Stadtentwicklung gezeigt. Ein Beitrag, der in der Stadtpolitik bisher sträflich vernachlässigt wurde. Migration, Reise und elektronische Kommunikation sind Aspekte einer Mobilität, die Großstädte und ihre Quartiere nicht als abgeschlossene Räume denken läßt, sondern als Orte des Übergangs und des Durchgangs, als Transitorte mit allen Konsequenzen: Uneindeutigkeit, Widersprüche, Differenzen. Wir legen hier nicht, wie Gerd Baumann eingangs feststellt, das Ideal des ‚romantischen Städtchens‘ an. Vielmehr haben wir es mit dem Paradox zu tun, daß wir durch urbane Strukturen in unserem Alltag oft mehr mit ‚Fremden‘ als mit den nächsten Vertrauten Umgang haben (vgl. dazu Schiffauer 1997). Wo ‚aufgeräumte‘ und ‚unaufgeräumte‘ Bilder der Stadt miteinander kollidieren (Blum/Neitzke 2002, 5), unter dem Eindruck von Konflikten und Widersprüchen, die mit Urbanität einhergehen, einer „Ungewißheit und Diskontinuität, mit der wir noch nicht gelernt haben, umzugehen“ (Beauregard/Body-Gedrot 1999, 21), hat es in der Stadtforschung immer Krisendiskurse und Untergangsprophezeiungen gegeben, und in derselben Regelmäßigkeit wurden Einwanderer für diese Negativprognosen verantwortlich gemacht. Selbst da, wo man eigentlich nicht umhin kann, nach einem Niedergang durch Deindustrialisierung das Neuerwachen von Nachbarschaften und Quartieren festzustellen, sind Begriffe wie ‚Ghetto‘ und ‚Parallelgesellschaft‘ schnell zur Hand – Begriffe, die allerdings niemand verwendet, wenn es um die Selbstabsonderung wohlhabender Bevölkerungsgruppen und Formen der Stadtentwicklung geht, die diesen Bedürfnissen Rechnung tragen, aber das sei nur am Rande vermerkt. Ein Blick in die Alltagswirklichkeit migrationsgeprägter Stadtteile zeigt, daß hier schon aus strukturellen Gründen ‚Parallelgesellschaften‘ nicht 14
denkbar sind. Denn großstädtische Strukturen motivieren, ja nötigen Menschen auf unterschiedliche Weise und in den verschiedensten Kontexten zum Austausch – ob auf dem Markt oder in öffentlichen Verkehrs mitteln, bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen, in Schule und Beruf. Netzwerke des Handels, der Gastronomie und anderer Unternehmungen verbinden das Quartier mit dem größeren Umfeld – gerade in Einwandererquartieren über nationale Grenzen hinaus. Es zeigt sich, daß nur wenige Bewohner im Stadtteil geboren und aufgewachsen sind und längst nicht alle Zugezogenen für immer an Ort und Stelle bleiben, auch wenn ein pauschaler Blick von außen, der nicht auf Individuen, sondern auf vermeintliche ‚ethnische Gruppen‘ oder einfach ‚Ausländer‘ gerichtet ist, das so wahrnehmen will. Statt die Alltagspraktiken der Bewohner aus dem Blick zu verlieren, sollen hier langjährige urbane Kompetenzen sichtbar gemacht werden, Strategien, die städtische Angebote umgehen und verändern, informelle Räume und städtische Nischen aufwerten können. Gerade diese Nischen sind häufig Räume der Aneignung durch Einwanderer, die auf diese Weise aktiv zur Entwicklung neuer Urbanitätsformen beitragen (vgl. Vanhué 1997, 14). „Die erste Frage, die ich mir als Architekt stelle“, sagt der vorwiegend in Brasilien tätige Argentinier Jorge Mario Jáuregui, „ist eigentlich immer die gleiche: Auf welche Weise nähere ich mich einer gegebenen Situation? Was alles steckt in meiner Strategie, um die Strukturen eines Ortes zu entziffern? […] Alles hängt von der Art und Weise ab, wie man eine Situation anschaut oder Fragen an sie stellt. Zu einem gewissen Grad hängen alle meine späteren Möglichkeiten davon ab, wie ich meine Fragen stelle.“ (Blum/Neitzke 2006, 75). Diese Feststellung ist gleichermaßen brisant für sozialwissenschaftliche Forschung und stadtpolitische Maßnahmen. Ein offener Blick auf die Situation hat dabei entscheidende Vorzüge. Verglichen mit den bekannten Negativprognosen, ist er in jedem Fall konstruktiv. Migrationsbedingte Pluralität und Vielfalt öffnen städtische Räume nach außen, statt sie künstlich in sich abzuschließen, und sie eröffnen damit eine neue Dynamik, Chancen auf Veränderung, die auch von kommunaler Seite endlich als solche wahrgenommen werden sollten. Die Beiträge dieses Bandes zeigen dies aus unterschiedlichen Blickwinkeln: kulturwissenschaftlich, historisch, aber vor allem empirisch, anhand von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die in den letzten zehn Jahren in migrationsgeprägten Quartieren europäischer Städte durchgeführt wurden. Sie belegen exemplarisch die Diskrepanz von öffentlicher Wahrnehmung und Binnenperspektiven der Bewohner, zwischen herkömm15
lichen pauschalen Zuschreibungen und heterogener Alltagswirklichkeit. Sie plädieren für eine neue Sicht und Repräsentation solcher Quartiere in den heutigen Städten. Denn es steht außer Zweifel, daß der politische und mediale Umgang letztlich soziale Wirklichkeiten erzeugt und verfestigt. Obwohl in Urbanitätsdiskursen amerikanische und europäische Städte oft gegeneinander gestellt werden und historische Entwicklungen, gerade zwischen den Einwanderungsgesellschaften der USA und Kanadas einerseits und europäischen Nationalstaaten andererseits nur bedingt vergleichbar sind, haben wir zwei Beispiele jenseits des Atlantik einbezogen. Sie bilden den Rahmen für die hier versammelten Beiträge und Betrachtungen: einführend die New Yorker Bronx als internationales Symbol und Exempel für die Zählebigkeit negativer Mythen und deren Diskrepanz zu einer differenzierten Alltagswirklichkeit in den Lebenserinnerungen von (ehemaligen) Einwohnern, abschließend Toronto als Beispiel für die Möglichkeit einer veränderten öffentlichen Wahrnehmung auf kommunaler und politischer Ebene. Beides sind Paradebeispiele für die Macht öffentlicher Repräsentation – im negativen wie im positiven Sinn. Leon Deben und Jacques van de Ven nähern sich der Weltstadt Amsterdam aus einer historischen Perspektive. 500 Jahre Immigration haben den Wohlstand dieser Stadt begründet: Zuwanderung von anderen Provinzen und Nachbarstaaten, osteuropäisch-aschkenasischen und sephardischen Juden aus Spanien und Portugal, von Hugenotten und im Zuge der Industrialisierung von Arbeiterinnen und Arbeitern aus dem benachbarten Ausland und Südeuropa über die Immigration aus Indonesien und später Surinam, den ehemaligen niederländischen Kolonien, bis hin zur Arbeitsmigration aus der Türkei und Marokko in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch immer neue Immigrationswellen wurden Jahre der Stag nation und des Niedergangs überwunden, konnte die Stadt ihren Ruf als weltoffene, blühende Handelsstadt begründen und hat sich schließlich das besondere Gesicht der heutigen Stadt mit ihrer internationalen Ausstrahlung entwickelt. Holger Floeting zeigt aus ökonomischer Sicht, welche konkrete Bedeutung die unternehmerische Tätigkeit von Migranten für die Kommunen in Deutschland hat. Allein in den 1990er Jahren verdoppelte sich die Zahl ausländischer Unternehmer und Selbständiger, meist türkischer, italienischer und griechischer Herkunft. Oft handelt es sich dabei um eine erzwungene Selbständigkeit infolge eines schlechteren Zugangs zum Arbeitsmarkt, für die informelle Netzwerke genutzt werden. Diese Netzwerke sind zugleich eine wichtige Ressource zur Einbindung von 16
Jugendlichen ins Berufsleben, sie funktionieren auch in den Bereichen ‚Ausbildung‘ und ‚Arbeitssuche‘, vermitteln jungen Menschen, die auf dem formellen Arbeitsmarkt kaum Chancen hätten, ein ‚training on the job‘ in Migrantenunternehmen. Diese Potentiale gilt es auch für die Stadtentwicklung zu nutzen, etwa indem gerade Kleinunternehmen, die zur Belebung der Stadtteile beitragen, gefördert und mit ihren informellen Netzwerken in die Verantwortung für die Quartiersentwicklung ein bezogen werden. Robert Pütz betrachtet einen interessanten Aspekt der Selbstständigkeit am Beispiel türkischer Unternehmerinnen und Unternehmer in Berlin, nämlich Transkulturalität als Alltagspraxis. Davon ausgehend, daß ‚Kulturen‘ weder homogen noch aufgrund vielfältiger Verflechtungen eindeutig territorial zuzuordnen sind, ‚kulturelle Differenzen‘ jedoch als Konstruktionen denkbar bleiben, verschiebt sich „die mit jeder Grenze verbundene Innen-Außen-Differenz […] konzeptionell auf die Ebene einzelner Subjekte“. Konkret bedeutet dies für Selbständige türkischer Herkunft, wie sich anhand biographischer Interviews zeigt, das Verhandeln dieser unterschiedlichen Zugehörigkeiten: entweder durch die Konstruktion ‚türkischer‘ sozialer Ressourcen oder die Infragestellung national etikettierter Grenzen oder sogar in Form einer „strategischen Transkulturalität“, wie das Beispiel einer kurdischen Unternehmerin, Kevsan, eindrucksvoll zeigt. Die erfolgreiche Geschäftsfrau nutzt bei der Kundenakquisition ihre biographischen Ressourcen souverän zur Aktivierung unterschiedlicher ‚Identitäten‘ – je nach Kunde betont sie andere Kompetenzen und Zugehörigkeiten: als qualifizierte Firmenchefin, als Türkin, als Kurdin oder als Schwester eines bekannten Unternehmers. Auch bei Michel Peraldi steht Transkulturalität im Mittelpunkt, denn „die Ökonomie des Basars“, die viel zur Wiederbelebung totgesagter Stadtteile in Marseille beigetragen hat, lebt gerade von transnationalen Netzwerken, von den zahlreichen „Ameisen“ – von Handelsreisenden, die immer nur so viel Waren kaufen und verkaufen, wie sie selbst tragen oder fortbewegen können. Diese „Ameisenstraßen“ zwischen Nordafrika und den Handels- und Umschlagplätzen im Mittelmeerraum treffen immer wieder auf politische Hindernisse, manchmal ändern sie dann ihren Verlauf – wie ein anschließender kurzer Blick auf Alicante zeigt, doch sie versanden nicht. Sie regenerieren sich und schaffen mit ihren Märkten auch ökonomische und soziale Ressourcen in den Stadtteilen. Durch diesen informellen Handel wird gerade für jugendliche Migranten die Chance eines „Aufstiegs auf eigene Rechnung“ möglich. Sie fungieren als Grenzgänger und 17
„Vermittler zwischen den verschiedenen kulturellen Welten des Marktes“. So werden, „auf Grundlage mündlicher Übereinkunft und gegenseitiger Unterstützung, Waren wieder in den Kreislauf der Profitabilität zurückgeschleust […], aus dem sie durch soziale und politische Filterung herausgefallen waren“. Die nachfolgenden empirischen Berichte aus migrationsgeprägten Stadtteilen in Deutschland und der Schweiz zeigen noch einmal bisher verkannte Potentiale und Ressourcen, die gerade bei einem Blick auf die Lebenswirklichkeit vor Ort sichtbar werden. Erol Yildiz beschreibt unspektakuläre Alltagsstrategien am Beispiel der Kölner Keupstraße, einem Quartier, das in Medienberichten bis heute wiederholt als ‚Ghetto‘ oder ‚Parallelgesellschaft‘ abgewertet wird. Im Zuge der Deindustrialisierung des Stadtteils übernahmen vor allem türkische Migranten leerstehende Geschäfte und Wohnungen und schufen eine lebendige Geschäftsstraße mit „mediterran-orientalischem Flair“, in der sich auch Alteingesessene inzwischen „integriert“ fühlen, eine Straße, die mit ihren Läden und gastronomischen Angeboten längst zahl reiche Besucher anzieht. Auch hier wird geschäftsstrategisch mit kulturellen Inszenierungen gearbeitet, etwa wenn Restaurants und Einzelhändler mit Namen, Einrichtung und Angebot ihres Ladenlokals europäischen Vorstellungen vom ‚Orient‘ Rechnung tragen. Das Zusammenleben der Anwohner scheint jedenfalls, Medienberichten zum Trotz, gut zu funktionieren. Nicht nur durch kommunale Strukturen, sondern auch durch private und geschäftliche Netzwerke sind sie zudem in den städtischen Kontext und über diesen hinaus eingebunden in die Stadtgesellschaft. Parallelgesellschaft? Davon kann keine Rede sein. Der Beitrag von Katrin Gliemann und Gerold Caesperlein analysiert den Wandel eines Dortmunder Quartiers vom alten Arbeiter- zum Einwandererviertel. Die Autoren zeigen historische Ursachen für kommunale Vernachlässigung und Stigmatisierung und die Spannungen, die mit dem Aufgeben angestammter Räume durch die Alteingesessenen und der Übernahme und Neudefinition durch die Zugezogenen einhergehen. Auch dieser Stadtteil kann nicht als homogen oder statisch betrachtet werden. Vielmehr zeigt sich eine hohe Mobilität – eine Herausforderung für Stadtplaner, die die Existenz von „Durchgangsstadtteilen“ und eine hohe Fluktuation gemeinhin als Warnzeichen deuten. Obwohl dies die Aufgabe einer Stadtplanung nicht einfacher macht, plädieren die Autoren für eine Neubewertung solcher Prozesse, für die Schaffung einer entsprechend offenen Infrastruktur, etwa durch Einrichtungen, deren Angebot „inhalt18
lich flexibel und stets neu verhandelbar“ ist und die so auch ein kurzfristiges, temporäres Engagement von Zugezogenen ermöglichen. Angela Stienen demonstriert in ihrem Beitrag eine andere Dimension sozialer Segregation vor dem Hintergrund einer stadtpolitischen „Neu definition des Städtischen im Spannungsfeld zwischen urbaner Toleranz und rigider Reglementierung“ in Bern. Hier geht es um die Beziehungsdynamik innerhalb eines Stadtteils, der aus der Außensicht einst als ‚Ghetto‘ verrufen war; aus der Binnensicht der Einwohner wird diese Segregation jedoch zum Teil gegenteilig bewertet. „Die zentralen Konfliktfronten im Stadtteil verlaufen dabei“, so die Autorin, „nicht zwischen der ‚ausländischen‘ und der ‚schweizerischen‘ Bevölkerung, sondern zwischen den Angehörigen des alteingesessenen Arbeitermilieus – die sich unabhängig davon, ob sie einst einwanderten oder nicht, als Hüter der etablierten Lebensordnung im Stadtteil sehen – und neu zugezogenen Bevölkerungsgruppen.“ Dies führe noch einmal vor Augen, „in welcher Weise sich die weltweiten gesellschaftlichen Umbrüche der letzten drei Jahrzehnte auf kleinstem Raum zeigen“ und welche Flexibilität im Zuge dieses Wandels von allen Stadtteilbewohnern verlangt wird, da sie ihre Position in den neuen Räumen immer wieder neu verhandeln müssen. Der Beitrag von Detlev Ipsen und Holger Weichler führt uns abschließend vor Augen, wie das Image einer Stadt von politischer Gleichstellung und aktiver kommunalpolitischer Anerkennung migrationsbedingter Ressourcen profitieren kann. Die kanadische Metropole Toronto hat sich kulturelle Vielfalt als offizielles Leitbild gegeben und damit „zu einem grundlegenden Element ihrer städtischen Identität erhoben.“ Dies wurde auch ermöglicht durch eine schon seit den 1960er Jahren initiierte staatliche Debatte um kulturelle Vielfalt als Grundwert der Gesellschaft, in deren Folge 1988 schließlich die Idee kultureller Vielfalt als „Canadian Multiculturalism Act“ in die Verfassung aufgenommen wurde. Weltoffenheit wird für Einheimische und Besucher nun in unterschiedlichen „kulturellen Clustern“ sichtbar, die etwa als Little Italy, Chinatown, GreekTown oder Koreatown das Stadtbild prägen. Am Beispiel der griechischen Community um die Danforth Avenue werden dabei die symbolische Prägung und die Dynamik von Stadtteilen deutlich, welche in sich keineswegs statisch, sondern transitorisch sind, aber einen stabilisierenden Einfluß auf die „kulturellen Communities“ und die umliegenden Nachbarschaften haben und sich zugleich zu touristischen Anziehungspunkten entwickelten – insgesamt ein optimistischer Ausblick auf die Möglichkeiten, die ein kommunalpolitischer Perspektivenwechsel eröffnet. 19
Bleibt zu hoffen, daß die interdisziplinären Einblicke, die dieser Band vermittelt – auch wenn dies im vorliegenden Rahmen nur punktuell und exemplarisch möglich ist – zu einer veränderten Sicht auf migrations geprägte Stadtquartiere beitragen und zum Weiterdenken anregen. Unser herzlicher Dank gilt allen Autoren für ihre engagierten und ebenso fundierten Beiträge. Wir bedanken uns für die lebendigen Photos aus den Stadtteilen, die uns neben den Autoren auch Freunde und Bekannte – manche von ihnen aus dem ‚virtuellen Raum‘ – großzügig zur Verfügung gestellt haben: Leslie Dema und Karim de Broucker (Marseille), Daniel Hauben und Mario Burger (The Bronx, NYC), Gerda Heck (Berlin) und Peter Bach (Köln). Nicht zuletzt gilt unser Dank Peter Neitzke, Mit herausgeber der Reihe Bauwelt Fundamente, für seine konstruktive Mitarbeit und Unterstützung. Birgit Mattausch, Erol Yildiz Köln, im August 2008 Literatur Amin, A./Thrift, N. (2002): Cities. Reimagining the Urban. Cambridge Beauregard, R. A./Body-Gedrot, S. [eds.] (1999): The Urban Moment. Cosmopolitan Essays on the Late 20th- Century City. Thousand Oaks, London, New Delhi Blum, E./Neitzke, P. [Hg.] (2002): Boulevard Ecke Dschungel. StadtProtokolle. Hamburg Blum, E./Neitzke, P. (2006) FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und São Paulo. Basel, Boston, Berlin Schiffauer, W. (1997): Fremde in der Stadt. Frankfurt a.M. Vanhué, L.: „Migration – Stadt im Wandel“, in: Brech, J./ Vanhué, L. [Hg.] (1997): Migration. Stadt im Wandel. Darmstadt, S. 11–15 Yildiz, E. (2005): Leben in der kosmopolitanen Moderne. Die Öffnung der Orte zur Welt. Köln (Unveröff. Habilitationsschrift)
Foto gegenüberliegende Seite: Schaufenster in Marseille-Belsunce spiegelt Sozialsiedlung im Stadtteil, © Leslie Dema
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Birgit Mattausch
Die Bronx im Kopf Ein Mythos und die Kultur der Urbanität The hiphop aesthetic is largely about the recycling, the sampling. Miles Marshall Lewis (2006, i) Wir begegnen hier dem strahlend offenbaren Geheimnis der urbanen Stadt: ihrer Fähigkeit zur Wiedergeburt. Friedrich Heer (1969, 20)
Die beiden Aussagen könnten einen Dialog einleiten, der sonst kaum zustande käme. Während der Wiener Historiker die Weltstädte der Ver gangenheit meint (für ihn ist „Demokratie, Dialog als freier Sohn der freien, der geistesfreien Stadt: im letzten immer ein Sproß Athens“1), spricht der Herausgeber der Zeitschrift Bronx Biannual, Miles Marshall Lewis, offensichtlich von der Realität ganz anderer Städte, vor der im euro päischen Stadtdiskurs oft genug gewarnt wird. „Die HipHop-Ästhetik, die in den frühen Siebzigern geboren wurde“, sagt er, „stellt einen ganz neuen Ausgangspunkt, eine ganz neue Perspektive für die Schwarzen dar. […] Dieser Zeitgeist, der nun die Welt bewegt, kommt aus meiner Heimatstadt, der Bronx.“2 Urbanität scheint jedenfalls ein streitbarer Begriff, denn es geht nicht nur um so Werthaltiges wie Ästhetik und Kultur, sondern auch um deren Einbindung in soziale und politische, globale und lokale Dominanzverhältnisse. Wer bestimmt, was modern ist und was dem Zerfall geweiht, was Fortschritt und was Niedergang bedeutet, was Slum oder Ghetto, was häßlich und was schön ist? Wer hat schließlich die Autorität der Repräsentation in Medien, Wissenschaft, Politik und Stadtplanung? Wohl kaum ein Beispiel könnte die Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung, Stigmatisierung und der differenzierten Alltagswirklichkeit der Bewohner urbaner Räume deutlicher zeigen als der ‚Fall Bronx‘, der in seiner Zuspitzung geradezu exemplarisch scheint. Der Name ist längst zum Paradigma geworden für Krisenszenarien in Medien und Wissenschaft, vor allem im Zusammenhang mit Urbanität und Migration. 22
Die Zählebigkeit solcher Stereotypen und ihr Bezug zu rassistischem Denken zeigte sich wieder, als Medien im April 2007 wegen diffamierender Äußerungen eines Ausbilders der Bundeswehr über Afroamerikaner in der Bronx die Reaktion der Betroffenen veröffentlichten: Unter der Schlagzeile „Bronx lädt Bundeswehr ein“ wurde der Bürgermeister des Stadtteils, Adolfo Carrión, zitiert: Sollte die Bundeswehr eine Abordnung schicken, würde er sie herumfahren, damit sie sehen, wie die Bronx wirklich ist. Er betonte seine Empörung über die deutschen Rekruten. Deutschland müsse die Menschen seiner Stadt um Verzeihung bitten.3 Es geht hier nicht nur um ein Mißverhältnis von Außen- und Binnensicht oder die Diskrepanz zwischen dem Blick von oben und dem auf Straßenhöhe, sondern auch um die Macht solcher Negativmythen und darum, wie sie auf die soziale Wirklichkeit der Bewohner zurückwirken. Man könnte die Bronx als Lehrbeispiel sehen für eine Reihe sozial- und kulturwissenschaftlicher Fragen wie Migration und urbaner Wandel, Strategien der Konstruktion von In- und Outsidern, kulturelle Hegemonie, Stereotypen und öffentliche Repräsentation, ebenso über den Streit um Bedeutungen, das Recht am eigenen Bild und die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Kurz gesagt, es geht um die Diskrepanz zwischen der Lebenswirklichkeit einer Stadt und ihrem Ruf. Schon der Name klingt manchen wie ein Warnsignal: Hüte dich vor der Bronx! Ein Ort der Verheißung Ich war ziemlich stolz auf diesen Artikel vor dem Namen Bronx, als ob er meinen Stadtteil erheben würde (natürlich weit über Brooklyn hinaus) in den Stand eines Herzogtums oder irgendeines weit entfernten Ortes wie The Hague/Den Haag oder Die Niederlande, Die Welt, Das Universum. Linda Leila Rosenkrantz, Schriftstellerin Zeit meines Lebens, also seit man mir beigebracht hatte, daß ich in einem ,modernen Gebäude‘ und als Teil einer ‚modernen Familie‘ aufwuchs, in der Bronx vor dreißig Jahren, bin ich fasziniert gewesen von der Bedeutung des Wortes Modernität. Marshall Berman, Soziologe und Stadtforscher
The Bronx. Der Name geht auf den ersten Siedler 1639, den Schweden Jonas Bronck und dessen Familie (‚the Broncks‘) zurück – so die land läufige Erklärung für den Artikel als Namensbestandteil. Historischen Chroniken zufolge wurde zunächst der große Fluß, den die Indianer Aquahung nannten, der weite Teile des Gebietes durchquert und 23
in den East River mündet, Bronck’s River genannt. 1874 wurden die südlich gelegenen Städte Morrisania, West Farms und Kingsbridge der Stadt New York angegliedert. Erst 1895, nach der Eingemeindung der restlichen Orte nordöstlich des Flusses (wie Westchester, Wakefield, Eastchester und Pelham), wurde das gesamte Gebiet als „the borough of the Bronx“, der Stadtteil vom Bronck’s (River), bezeichnet. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren weite Teile noch ein ländliches Refugium. Edgar Allan Poe verbrachte hier wegen der gesunden Landluft seine letzten Lebensjahre. Mit dieser Idylle war es in den südlicheren Lagen allerdings bald vorbei, als 1886 die erste Hochbahnlinie, die Third Avenue ‚El‘ (Elevated Train) bis in die Bronx erweitert wurde und nun zahlreiche Arbeiter aus Manhattans Industriebetrieben, vorwiegend europäische Immigranten, sich hier niederließen und ein reger Pendelverkehr begann, der mit der ersten U-Bahnlinie 1904 stetig anwuchs. Bis dahin verfügten nur die südlichsten Gebiete wie Morrisania und Mott Haven durch ihre Nähe zu Harlem und ihre berühmten Pianofabriken, in denen vor allem deutsche, holländische und irische Einwanderer beschäftigt waren, über eine städtische Infrastruktur. In den jetzt erreichbaren nördlicheren Lagen entstanden bald neue Wohngebiete, Geschäfte und Schulen. Deutsche Bierbrauereien wurden zu Magneten für weitere deutsche Zuwanderer, später gefolgt von osteuropäischen Juden und einer großen Zahl Italiener, die sich vor allem im nördlicher gelegenen Stadtteil Belmont niederließen. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Bronx einen Boom. Die Bevölkerungszahl wuchs von 200.000 im Jahr 1900 auf 1,2 Millionen im Jahr 1930. Zahlreiche weitere Verkehrsverbindungen wurden in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut. Im Süden entstanden neue Industriebetriebe und Unternehmen, die eine rasante Urbanisierung vorantrieben, während höhere Einkommensschichten sich in mondänen Villen weiter nördlich niederließen. Ehrgeizige städtebauliche Pläne wurden verwirklicht, der Region die besten Perspektiven unter allen New Yorker Stadtteilen prophezeit. Viel Geld floß in die Planung und Umsetzung eines von den Pariser Champs Elysées inspirierten elfspurigen Prachtboulevards von der 138. Straße zum nördlichen Mosholu Parkway, dem Grand Concourse, der von hohen Apartmenthäusern im Art-Deco-Stil gesäumt wird. Der inzwischen restaurierte, von deutschstämmigen jüdischen Einwanderern gestiftete Loreley- bzw. Heinrich-Heine-Brunnen an der 161. Straße, markiert den 1927 weiter nach Süden verlegten ursprünglichen Eingang des 24
Boulevards. Der Zoo und der Botanische Garten mit ihren imposanten Gebäuden wurden von namhaften Landschaftsgestaltern und Architekten angelegt, auf dem weitläufigen Gelände des Woodlawn Friedhofs wurden Mausoleen und teure Grabstätten für die New Yorker High Society errichtet, der Pelham Bay Park, eine der größten Parklandschaften New Yorks mit Sandstränden am Meer, Fahrradwegen und zahlreichen Sportplätzen, einem Wildgehege und kulturellen Attraktionen zum Naherholungsgebiet ausgebaut und nach dem Ersten Weltkrieg per Bahn für jeden schnell erreichbar gemacht. 1923 eröffnete das weltberühmte YankeeStadion, das zum Besuchermagneten für legendäre Baseballspiele wurde. Nicht nur diese Attraktionen, auch einladende Restaurants mit internationaler Küche, von Grünflächen gesäumte Wohnblocks, lebendige Einkaufsmeilen, Kinos, Jazz- und Nachtclubs machten die Bronx in den zwanziger und dreißiger Jahren zum beliebten Wohnort auch der höheren Einkommensklassen. Mitte der dreißiger Jahre verfügten fast alle Haushalte über ein eigenes Bad und heißes Wasser und immerhin die Hälfte über Klimaanlagen. Dieser Standard war für die USA – und wahrscheinlich weltweit – einzigartig. Modernität und Mobilität im sozialen und physischen Sinn waren Leitbegriffe, an denen sich das Leben der Stadt ausrichtete, auch das der unteren Mittelschicht und der Arbeiter. Der Film The Jazz Singer, 1927 offiziell der erste Tonfilm der Warner Brothers mit dem damals berühmten jüdischen Entertainer Al Jolson in der Hauptrolle, hat der Bronx in ganz Amerika zum Ruhm verholfen. Als der Musiker seiner Mutter auf Knien schwört, er würde sie aus ihrer schäbigen Wohnung in Lower Manhattan herausholen, uptown, also herauf in die Bronx, in ein helles geräumiges Apartment auf dem Grand Concourse, sollen diesem Ruf über 600.000 Juden gefolgt sein, um sich hier niederzulassen. In jener Zeit, so der in der Bronx aufgewachsene Reporter CJ Sullivan, symbolisierte die Bronx den Aufstieg der Immigranten zum amerikanischen Traum: „Es war ein Ort, an dem die Dinge besser liefen für den kleinen Mann, für den Zuwanderer […], der amerikanische Vorort des frühen 20. Jahrhunderts.“4
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Weiterkommen: Mobilität im Stadtteil Die Bronx meiner Jugendzeit war besessen, motiviert, vom großen modernen Traum der Mobilität. Gut zu leben hieß, sozial aufzusteigen und das wiederum bedeutete, sich auch physisch fortzubewegen; sein Leben am Heimatort zuzubringen hieß, praktisch gar nicht am Leben zu sein. Marshall Bermann In jenen Tagen war Hunts Point überwiegend jüdisch, gemischt mit irischen, polnischen, italienischen, schwarzen oder hispanischen Familien. Die Wohnblöcke auf der Kelly Street bildeten einen Bogen, deswegen war die Nachbarschaft schon seit Jahren als ‚Banana Kelly‘ bekannt. Das Wort ‚Ghetto‘ benutzte niemand. Ghettos waren irgendwo in Europa. Wir lebten in Mietshäusern. […] Man hat mich gefragt, wann bei mir das Gefühl einer racial identity erwachte, wann mir zum ersten Mal bewußt geworden sei, daß ich einer Minderheit angehöre. In diesen frühen Jahren hatte ich nie ein solches Gefühl, weil es dort auf Banana Kelly keine Mehrheit gab. Colin L. Powell, US-Außenminister
Wie viele Afroamerikaner war Colin Powell Anfang der vierziger Jahre mit seiner Familie aus Harlem in die südliche Bronx gezogen. Bis zu Beginn der vierziger Jahre war die Gesamtbevölkerung der Bronx noch mehrheitlich irischer, italienischer, holländischer, deutscher oder osteuropäischer Abstammung, 45 Prozent davon Juden. Als Arbeiter in den Fabriken von Manhattan oder in den Industriebetrieben der Bronx, als Angehörige der Mittelschicht in Schulen, Behörden und Büros verfolgten alle ein ähnliches Ziel: Wohlstand und den sozialen Aufstieg ihrer Familien. Aus diesem Grund waren sie in die Bronx gekommen und dort später von den südlichen in die zentralen und nördlichen Gebiete gezogen. Aus diesem Grund würden sie von den komfortablen, modernen Apartments in Eigenheime ziehen, sobald ihre Ersparnisse ausreichten. Und aus diesem Grund würden viele die Bronx irgendwann ganz verlassen. Noch bot der Stadtteil eine funktionierende Infrastruktur, kostenlose Schulen und zahlreiche soziale Vergünstigungen – ein Weg zum Erfolg, der von großen Bevölkerungsteilen genutzt wurde, um weiterzukommen, auch im räumlichen Sinn. Ihnen folgten, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, eine große Zahl Afroamerikaner aus Harlem und den Südstaaten sowie Puertoricaner und andere Zuwanderer von den karibischen Inseln, natürlich ebenfalls mit dem Wunsch des sozialen Aufstiegs. Blühender Wohlstand, wachsende Flexibilität und Mobilität der Bevölkerung führten gerade in der aufstrebenden Mittelschicht dazu, daß der amerikanische Traum für viele nicht länger darin bestand, in geräumigen Apartments in der Nähe von Parks und öffentlichen Verkehrsmitteln zu 26
wohnen – wer sich ein Auto leisten konnte, strebte auf den neuen Schnellstraßen hinaus in die Vororte, wo man mit staatlicher Hilfe Eigenheime bauen konnte. Ladies and Gentleman, the Bronx is burning! Wer in einer dicht bebauten Metropole operieren will, muß sich seinen Weg mit der Fleischeraxt hineinschlagen. Robert Moses, Stadtplaner Ich sah die Zerstörung der schönsten Gebäude für diese Straße und fühlte eine Trauer, von der ich heute weiß, daß sie dem modernen Leben eigen ist. So oft ist der Preis wachsender Modernität nicht nur die Zerstörung ‚traditioneller‘ und ‚vormoderner‘ Institutionen und Umwelt, sondern – und das ist die eigentliche Tragik – all des wirklich Vitalen und Schönen dieser modernen Welt selbst. Marshall Bermann Als wir ein bißchen Geld zur Seite gelegt hatten […], brachen wir über den Fluß auf in die Bronx, und all die Leute, die gerade erst weiß geworden waren, flohen vor Entsetzen. Jede Fortbewegung der Weißen in diesem Land – es ist schlimm, aber höchste Zeit, es offen auszusprechen – bestand schon immer in dem panischen Versuch, von den Schwarzen wegzukommen. James Baldwin
Wie konnte aus dem Mythos sozialer Aufwärtsmobilität ein weltweites Symbol für urbanen Untergang werden? Ursachen, Auslöser und Symptome sind komplex, widersprüchlich und dabei so eng miteinander verflochten, daß hier nur eine verkürzte Erklärung möglich ist. Eine Welle der Vernichtung schien seit den 1960er Jahren vor allem über die südlichen Gebiete hinwegzurollen, welche unter diesem Eindruck in der medialen Darstellung zur imaginären Einheit ‚South Bronx‘ verschmolzen. Diese stand in der öffentlichen Wahrnehmung bald für den gesamten Stadtteil. Erste Spuren sind schon in der amerikanischen Depressionszeit zu finden. Ende der dreißiger Jahre wurden in der südlichen Bronx Wohnblöcke mit Grünflächen und sozialen Einrichtungen für niedrige Einkommen geplant. Die Mieten begannen dort jedoch schnell zu steigen, denn der Andrang war größer als der vorhandene Wohnraum, so daß Überbelegung später zu Abnutzung und Vernachlässigung führte – ein Problem, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch rückkehrende Soldaten und sogenannte ‚Slum-Clearings‘ in Manhattan, die weitere 170.000 Menschen in die Bronx zwangen, drastisch verschärfte. Viele Unternehmen zogen nach dem Krieg nach New Jersey, die Arbeitslosenrate stieg sprunghaft an; weitere Hochhausblocks wurden mit öffentlichen Mitteln gebaut, um 27
den Bedarf an bezahlbaren Wohnungen zu decken. Für viele der neuen Mieter, vor allem Hispanics und Afroamerikaner, die aus Manhattan, aber auch aus ganz Amerika und der Karibik zuwanderten, gab es längst keine Arbeitsplätze mehr. Dennoch existierten bis in die sechziger Jahre, nicht nur dank kommunaler Sozialpläne, noch viele intakte Nachbarschaften mit Juden, Iren und Italienern. Noch war die Bronx ein Ort wie viele andere: dicht besiedelt und lebendig, und von Behörden und Medien wurde eine Gewalttat oder ein Brand nicht anders behandelt als andernorts, noch drängten sich Reporter nicht in der Gegend, noch gab es die Normalität des Alltags. Doch eine fatale Schneise der Verwüstung, erbaut vom New Yorker Masterplaner Robert Moses, wurde Anfang der sechziger Jahre im wahrsten Sinne des Wortes wie mit der Axt in den Stadtteil gehauen: der Cross Bronx Expressway, eine Schnellstraße mitten durch die am dichtesten besiedelten Arbeiterviertel, der mehrere hundert Wohn- und Geschäftshäuser zum Opfer fielen. Nach ihrer Fertigstellung verpesteten endlose Auto- und LKW-Kolonnen die angrenzenden Wohngebiete mit Abgasen
Under the Bruckner and Cross Bronx Expressways, Foto © Mario Burger
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und Lärm. Diese Straße diente nicht etwa der Fortbewegung innerhalb des Stadtteils, sondern nur dazu, ihn schnellstmöglichst zu durchkreuzen und wieder zu verlassen. Zusätzlich wurden in den sechziger und siebziger Jahren die Wohnungen von 60.000 Menschen im Rahmen von ‚Slumclearings‘ vernichtet. In kurzer Zeit kam es zu riesigen Bevölkerungsverschiebungen, wer es sich leisten konnte, zog fort – wer aber weder Arbeit noch Geld hatte, mußte bleiben oder wurde gerade in diese trostlosen Gegenden gedrängt. Je mehr Hispanics und Afro-Amerikaner zuwanderten, desto schneller floh die weiße Bevölkerung, galten Stadtteile in der öffentlichen Wahrnehmung als ‚entwertet‘, erhöhten Versicherungen ihre Beitragsraten, sanken Mieten und Immobilienpreise. Die kommunale Aufmerksamkeit für diese Nachbarschaften nahm drastisch ab. 1970 bewohnten die Bronx nach offiziellen Angaben 1,08 Millionen Weiße, einige Hispanics inbegriffen. 1980 war ihre Zahl auf die Hälfte gefallen. Der Trend der ‚white flight‘ setzte sich fort: bis 2000 waren insgesamt 700.000 weggezogen; eine Volkszählung aus dem Jahr 2002 schreibt den rassistischen Trend weiter fort, wenn sie die Gesamtbevölkerung von inzwischen 1,3 Millionen in 14 Prozent Weiße, 25 Prozent Schwarze, 48 Prozent Hispanics und einen geringen Anteil von drei Prozent Asiaten sortiert.5 Viele Wohnblöcke (kurz projects genannt) entwickelten sich seit den sechziger Jahren zu sozialen Brennpunkten und Schauplätzen von Drogenhandel und Kriminalität. Häuser wechselten für wenig Geld in den Besitz von Spekulanten und ‚Slumlords‘. Als eine Kommission der Stadt New York endlich für geregelte Verhältnisse sorgen wollte, war es bereits zu spät – keiner wollte mehr in die heruntergekommenen Wohnungen und Häuser investieren, viele behalfen sich durch Brandstiftung. Anfangs kassierten die Besitzer ansehnliche Versicherungssummen, den Mietern wurde der Hausrat ersetzt und andere Wohnungen angeboten, bis die Versicherungen ihre Zahlungen einstellten. In den siebziger Jahren, so erzählen Augenzeugen, konnte man bei einer Fahrt mit der Hochbahn durch die südlichen Viertel überall aufsteigenden Rauch sehen. Der Ausruf eines Sportreporters aus dem Yankee-Stadion, wo hinter den Zuschauertribünen eine Feuersbrunst am Himmel stand, ging um die Welt und blieb bis heute im öffentlichen Gedächtnis: „Meine Damen und Herren, die Bronx brennt!“ Immer wieder beschworen die Medien das Bild von Einwohnern, die „ihr eigenes Nest ausräucherten“, ihren eigenen Stadtteil in Schutt und Asche legten. Sogar Reporter, die selbst aus der Bronx stammten, fragten medienwirksam, was sich diese Menschen nur antun würden. Aus Opfern waren 29
Täter geworden; dem Argument, den Stadtteil seinem Schicksal zu überlassen, wurde nicht mehr widersprochen. Eine radikale Kürzung des New Yorker Sozialhaushalts während der siebziger Jahre verschärfte die Krise; ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte sie im Sommer 1977: Bei einem fast zweitägigen Stromausfall kam es in ganz New York zu Gewalt und Plünderungen im großen Stil. Polizei und Feuerwehr konzentrierten ihre Kräfte in Manhattan, die Bronx erlebte einen Schock. Die ärmsten Gegenden waren am meisten betroffen. Hunderte Geschäfte wurden zerstört, kleine Gewerbetreibende verloren in einer Nacht ihre Existenz, am nächsten Morgen, sagt man, habe die Bronx ausgesehen wie „Dresden nach dem Krieg.“ Hier wurde der Strom erst Stunden später angeschaltet als in der übrigen Stadt. Von nun an beschrieben Medien die Bronx als gesetzlosen Ort, als Vorhof zur Hölle, als brodelndes Chaos. Gebäude verfielen weiter, ausgebrannte Ruinen, Baulücken und Müllhaufen umgaben die noch bewohnten Blöcke. Die New York Times veröffentlichte täglich eine ‚Ruinenseite‘, auf der sämtliche in der Vornacht zerstörten Wohnhäuser aufgelistet waren wie Todesanzeigen, Teil der New Yorker Frühstückslektüre. Action- und Horrorfilme wie Fort Apache, Wolfen oder Koyaanisqatsi (ein Wort der Hopi-Indianer, das ‚Leben im Ungleichgewicht‘ bedeutet), eine eindrucksvolle, apokalyptische Großstadtvision mit Bildern aus der South Bronx, trugen vor dieser Kulisse zur Entnormalisierung und zum Stigma der zerfallenden Straßenzüge bei. Die Botschaft war laut und deutlich: Wer hier hängen blieb, war verloren. Drei Monate nach dem fatalen ‚black-out-looting‘ – ein Begriff unter dem die Plünderungen nach dem Stromausfall in die Geschichte eingingen – besuchte Präsident Jimmy Carter, gefolgt von Presse und Kamerateams, die South Bronx und nannte sie den schlimmsten Slum Amerikas. Damit war ihr Ruf endgültig besiegelt. Die Bronx, die mittlerweile zwei Drittel ihrer Einwohner verloren hatte, verkam zum weltweiten Synonym für urbanen Verfall und galt für die Medien fortan als ‚Amerikas Dritte Welt‘. Alltagserinnerungen Der Reporter schickte mich in diese Ecken, um all den Müll zu zeigen, damit die Leute seine Bilder sähen und sagten: Wow! Ich sollte mit meinem Basketball spielen und dabei durch Straßen laufen, in die ich nie im Leben einen Fuß setzen würde. Was soll denn so toll an Müll und Dreck und Autowracks sein? Warum nicht die guten Dinge zeigen? Gil C. Alicea, jugendlicher Einwohner
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Die Kinder aus meiner Photoklasse sahen ihre Nachbarschaft als Heimat, nicht als einen exotischen Ort für Touristensafaris. Ihre Bilder zeigten keinen Unrat, sondern die einfachen Dinge, von denen sie im Alltag umgeben waren: witzige Schnappschüsse ihrer Freunde, Mama und Papa im Wohnzimmer, Freunde beim Spiel im Crotona Park. Schade, daß Touristen niemals erfahren würden, wie diese Jugendlichen ihre eigene Welt betrachteten. David Gonzalez, Künstler Wenn du Verantwortung für etwas hast, vertrauen dir die Leute, daß du es schaffst. Sie wissen, du kannst es. […] Die größte Verantwortung, die ich je hatte, war, mich um meine Mutter zu kümmern. Mein Vater sagte mir, ich solle auf sie aufpassen, denn sie sei krank. Gil C. Alicea
Erinnerungen der Einwohner zeugen davon, daß es auch in den Krisen jahren noch andere Wirklichkeiten gab. Der Alltag ging in Familien und Nachbarschaften weiter, auch wenn der Kampf um die tägliche Existenz immer härter wurde und sich viele gezwungen sahen, ihre Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen, da von Feuerwehr und Polizei eher Schikanen als Schutz zu erwarten waren. Im zentralen Stadtteil Belmont verteidigte die italienische Gemeinde ihr Revier in Eigenregie – auch gegen Zugezogene. Puertoricaner und Afroamerikaner organisierten das Leben in ‚ihren‘ Straßen und bewachten die projects, in denen ihre Familien lebten. Kampf und Rivalität gehörten ebenso zum Alltag wie das Miteinander in Familien und sozialen Netzwerken. Was in Medien als ‚kriminelle Gangs‘ bezeichnet wurde, nannten die Bewohner ‚Social Clubs‘. Viele Organisationen in der Bronx, ob Schulen, historische Archive oder Stadtteilbibliotheken, ermutigen die Einwohner heute, sich zu erinnern und das multikulturelle Gemisch und die daraus entstehende Spannung und Kreativität als Gewinn, als Ressource ihres Stadtteils zu betrachten. Auf der leider inzwischen eingestellten Homepage der Arthur Avenue etwa, fanden sich unter dem Motto „Little Italy in The Bronx – A Good Taste of Tradition” zahlreiche neighborhood stories, Geschichten von Anwohnern über das Aufwachsen und den Alltag in ihrem Viertel. Viele Interviews aus dem Afro-American-History-Project, das Mark Naison, Professor an der Bronx Fordham-University, in Kooperation mit der Historischen Gesellschaft des Stadtteils leitet, Autobiographien von Stadtteilbewohnern und Nachbarschaftsgeschichten, die in Buchform, Archiven und im Internet zugänglich sind, erinnern an die Blütezeit des Jazz und der Latin Music, an schillernde Namen wie Tito Puente, Dizzie Gillespie, Nancy Wilson oder Thelonious Monk, das legendäre Blue Morocco auf der Boston Road, den Club 845 auf der Prospect Avenue, aber auch an das ganz normale Alltagsleben in den Hochhäusern mit ihren 31
Little Italy in the Bronx – „The Good Taste of Tradition“, Arthur Avenue, Foto © Birgit Mattausch
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Oben: Der Künstler Daniel Hauben lebt und arbeitet in der Bronx. Unten: „Young Boy Selling Fruit“, Öl auf Leinwand, 1995, Fotos © Daniel Hauben
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Bewohnern aus aller Welt. Neben dem täglichen Existenzkampf erzählen sie von familiärer Geborgenheit, sozialen Netzwerken, gegenseitiger Hilfe und einem Heimatgefühl, das Tausende ehemaliger Bewohner der projects heute wieder zu jährlichen Treffen in den Stadtteil zieht, auch wenn viele ihn bereits in den siebziger Jahren auf der Flucht vor Drogen und Verwahrlosung verlassen haben. Mark Naison, der in einem Artikel der New York Times6 mit dem Rap-Vers zitiert wird: „I may be old, I may be white, but my flow is funky and my rhymes are tight“, konnte die Witwe des Tenorsaxophonisten Dexter Gordon als Mitarbeiterin für seine Recherchen gewinnen. Zahlreiche Interviews mit ehemaligen Bewohnern der südlichen Stadtteile wurden bereits dokumentiert und archiviert, um den Einwohnern den Stolz auf die Vitalität und die Vielfalt ihres Quartiers zurückzugeben, mit der sie die Krisenjahre gemeistert haben. Tags und Signaturen: der Name im städtischen Raum Ich erinnere mich, als ich während der Ferien mit meiner Verlobten auf der Suche nach einem time sharing-Objekt war. Nur aus Neugier schauten wir die Kataloge durch, um zu sehen, wo die New Yorker Immobilien lagen. Mich hätte fast der Schlag getroffen, als ich die Adresse las. Ihr hübsches Multimillionen-Dollar-Gebäude war direkt auf den Ruinen erbaut worden, auf deren Mauern ich vor zehn Jahren noch meine letzten tags gesprüht hatte. Joseph Anastasio, ehemaliger Graffiti-Writer Als ich älter war, fiel mir auf, daß immer mehr Schwarze zur Latinomusik tanzten, und sie waren wirklich gut! Wir haben sie beobachtet und uns gleich in die Musik verliebt. […] Also ich weiß nicht, wo das Wort (Bootarican) herkommt, aber es beschreibt jemanden, der beides ist: schwarz und ein Puertoricaner […].Wenn wir jemanden Spanisch sprechen hörten, der so aussah wie wir, sagten wir: Oh, ein Bootarican!7 Victoria Archibald-Good, ehemalige Einwohnerin Du erfindest einen neuen Stil. Darum geht es immer auf der Straße. Es geht um Respekt und deine Position. Das macht es so wichtig […], dieser Druck, der Beste zu sein. Oder wenigstens versuchen, der Beste zu sein. Einen neuen Stil zu erfinden, mit dem keiner umgehen kann. Fab Five Freddy, Rapper, Graffiti-Writer
HipHop, Rap, Graffiti sind Mittel im Kampf um die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Einen neuen Stil erfinden, mit dem „keiner umgehen kann“, den also keiner sofort begreifen, für sich vereinnahmen oder aus radieren kann, bedeutet, den eigenen Platz in der Stadt zu behaupten. In den frühen siebziger Jahren, sagt Phase2, ein Star der Graffiti-Szene, die 34
überwiegend aus Hispanics und Afroamerikanern bestand, sei ‚writing‘ in die Bronx gekommen. Sein Cousin, Lee der 163ste, habe mit seinen Signaturen auf Loks und Zügen eine Bewegung in Gang gesetzt, die ihre Namen in riesigen, stilisierten Lettern durch ganz New York transportierten. Die ganze Stadt habe darüber gesprochen; eine Revolution in der Kunst, seinen Namen zu schreiben, wurde damit in Gang gesetzt.8 Die ‚Schreiber‘ oder ‚Bomber‘, wie sie sich selbst nannten, wurden zu Stylisten, die immer wieder neue Schriften erfanden. Eine indirekte Kommunikation zwischen der Bronx und den anderen New Yorker Stadtteilen, zwischen uptown und downtown wurde in Gang gesetzt, public transit, der öffentliche Nahverkehr, zum beweg lichen Medium für monumentale Bilder und Signaturen, für die ‚Meisterstücke‘ der Jugendlichen: Ganze Züge zeigten Szenen aus Phantasie und Alltagsleben, aus Armageddon und dem New Yorker Straßenleben oder waren dem Gedenken an Idole wie dem Cartoonisten Charles Schulz gewidmet. An Plätzen, die eine gute Sicht boten, trafen sich GraffitiWriter und Zuschauer und warteten voller Spannung auf ihre vorbeifah-
Hip Hop Graffiti in Hunts Point, the Bronx, NYC, Foto © Mario Burger
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renden ‚Namens-Züge‘. Alles im Namen des Namens, sagt Phase2. Aber es ging dabei um mehr: die Aneignung des städtischen Raums durch Schrift und Farben, um eine Wiederbelebung des Stadtteils durch neue Bilder, um öffentliche Kommunikation. Künstler – aus Manhattan und dem Ausland – waren die ersten, die mit Projekten und öffentlichen Treffpunkten wie fashion moda in diesen Dialog eintraten und sich von der Kreativität der Jugendlichen inspirieren ließen. Als Ronald Reagan sich 1980 zwischen den Ruinen der Charlotte-Street aufhielt, wurden ‚Guerilla-Signaturen‘ auf den Ruinen wie Falsas Promesas und Broken Promises zum Hintergrund sämtlicher Medienübertragungen. „Ich erinnere mich“, schreibt der Stadtforscher und Soziologe Marshall Berman, „wie ich an einem Sommernachmittag mit meiner Mutter an der Ecke Broadway, 125. Straße in der Bronx stand und sagte, paß auf, gleich kommt ein Regenbogen vorbei. Meine Mutter war eine reservierte und skeptische Frau, aber als der nächste knallbunt bemalte Zug vorüberfuhr, erhellte ein Lächeln ihr ganzes Gesicht.“9 MTA, die öffentliche Verkehrsbehörde, und andere Autoritäten führten einen unerbittlichen Kampf gegen den ‚Vandalismus‘. Einige GraffitiWriter schlugen vor, einen Zug zu bemalen und dann die Öffentlichkeit abstimmen zu lassen. Wenn die MTA nur einsehen würde, daß diese Kunst die beste Reklame für New Yorks Verkehrsbetriebe sei! Doch der damalige MTA-Präsident lehnte barsch ab mit der Begründung, die gesamte Öffentlichkeit wäre einhellig seiner Meinung. Der Harvard-Soziologe (und ehemalige ‚Bronxite‘) Nathan Glazer verfaßte 1979 ein öffentliches Rundschreiben gegen die MTA, in dem er sie mit totalitären Sowjetbehörden verglich, die allerdings das fragwürdige „Privileg“ hätten, Vandalen in Arbeitslager zu stecken. Von den Zügen und Mauern aus transferierten viele Jugendliche ihre Bilder später auf Leinwände für Galerien und Museen, erhielten Aufträge für öffentliche Gebäude, wurden gefragte Maler, Theater-, Mode- und VideoDesigner, die sich oftmals weiter durch soziale Projekte und Lehrtätigkeit für ihre Nachbarschaften engagierten. Die Gruppe K.O.S. (Kids of Survival), die aus einem Art-and-Knowledge–Workshop des Künstlers Tim Rollins entstand, erlangte schnell weltweite Berühmtheit. Medien, Galeristen und sogar europäische Bürgermeister rissen sich um ihre Wand gemälde für Galerien, Rathäuser und öffentliche Plätze. Neben der Schrift nutzten sie auch die Macht des gesprochenen Worts. Ende der siebziger Jahre erschallte an jeder Straßenecke die Musik der grossen Bronx-DJs: Kool Herc, Afrika Bambaataa oder Grandmaster 36
Flash, die sich ihre Gefechte mit Rhythmus und Reim, Stimme und scharfen Versen auf Straßen, Plätzen, in Parks, Clubs und auf Schulhöfen vor einem jugendlichen Publikum lieferten. Der Begriff signifying (bedeuten, andeuten; beleidigen), wie diese rituellen Wortgefechte auch genannt werden, drückt sehr gut aus, worum es dabei geht – um den Kampf um Bedeutung(en) in jedem Sinn des Wortes, um das Recht am eigenen Bild, um den eigenen Namen im öffentlichen Raum. In vielen Rap-Texten war vom Existenzkampf und den desolaten Zuständen in der South Bronx die Rede. The Message von Grandmaster Flash, hundert Mal kopiert, zitiert und ‚gesampelt‘, ist bereits ein Klassiker. Es ist allgemein bekannt, daß diese Formen subversiver Kunst inzwischen zum Exportschlager wurden, neben Jugendlichen in aller Welt die etablierte Kunstszene eroberten und schrittweise zum konsumierbaren Kulturgut städtischer Eliten avancierten. Doch die eigentliche „Message“ dabei ist, wie Marshall Berman es enthusiastisch ausdrückt, daß „eine ganze Generation“ Jugendlicher aus Armut und Ghettoisolation aufgebrochen und zu gebildeten New Yorkern mit einem weltweiten Horizont geworden sei: „Die erstaunliche Explosion von Kreativität inmitten von Ruinen gab alteingesessenen New Yorkern einen Grund, uptown in die Bronx zu kommen. Die erstaunliche Fähigkeit, aus der Krise heraus, etwas lebendig Beseeltes, einen Soul zu machen, hat der Bronx eine ganz eigene Aura verliehen.“10 Wie Phönix aus der Asche: die Kultur der Urbanität Ne Cede Malis. Ergib dich nicht dem Übel – Schriftzug aus dem Wappen der Bronx-Flagge Die farbige und hispanische Mittelschicht hat die Pracht der außergewöhnlichen BoulevardApartments wiederentdeckt, mit ihren großen Foyers, ihren tieferliegenden Wohnsalons, ihren stilvollen Speisezimmern und ihren geräumigen Küchen. […] So gewinnt der Concourse langsam seine Identität als Grand Concourse zurück, als Zentrum des Stadtteils und Heimat einer aufstrebenden Schicht, auch wenn sie jetzt schwarz und hispanisch und nicht mehr jüdisch ist. Jille Jonnes, Autorin
Inzwischen haben auch kommunale Behörden Kreativität und Innova tionsgeist als Ressource der Stadtteilentwicklung erkannt. Kunst im öffentlichen Raum gehört längst zum Selbstverständnis der Bronx; ja selbst die öffentlichen Verkehrbetriebe haben ihren Sinn dafür entdeckt und fördern junge Kunst in Metrostationen und Bahnhöfen. 37
1997 erhielt die Bronx den All American City Award für vorbildliche Stadtentwicklung. Seit Ende der siebziger Jahre haben nicht nur Künstler, sondern auch gemeinnützige Organisationen, aktive Pfarrer mit ihren Gemeinden und Selbsthilfeprojekte, die ihre Viertel in der South Bronx nicht einfach aufgeben wollten, nach und nach wieder intakte Wohngebiete geschaffen. Die inzwischen legendäre Bürgerinitiative Banana Kelly setzte in der Gegend um das berühmt-berüchtigte Mott Haven verlassene Gebäude instand und klagte deren Besitz erfolgreich bei New Yorker Gerichten ein. Mittlerweile ist sie mit zahlreichen Angestellten ein zentraler Machtfaktor im öffentlichen Leben der South Bronx, verwaltet ein Millionenvermögen und die Budgets für kommunale Sozial- und Gesundheitsprogramme. Je größer die Erfolge bei Sanierung und Neubau von Gebäuden und bei der Bekämpfung sozialer Probleme waren, desto mehr änderten sich auch die Wahrnehmung und Wertschätzung der Bewohner für ihren Stadtteil, der schließlich wieder für den Zuzug attraktiv wurde. Die Wiederbelebung der South Bronx führte in der Nachbarschaft von Port Morris beispielsweise zur Entstehung eines ganz neuen Geschäftsviertels, inzwischen als Antique Row bekannt. Durch Mundpropaganda und später auch Pressemeldungen wurden Antiquitätenliebhaber aus dem ganzen Land aufmerksam, und immer mehr Läden siedelten sich an. Nun erkannte auch die Stadt das Potential dieses wachsenden Antikmarktes und investierte 1989 in einige Maßnahmen der Infrastruktur. Zur Verschönerung wurden die Straßen zusätzlich mit Baumreihen bepflanzt. Dies alles klingt nach den klassischen Gentrification-Mustern, nur kann man diesen Wandel auch als Eigeninitiative der Bronxites betrachten, ob nun auf ‚Durchreise‘, als Rückkehrer oder als Anwohner seit Generationen – einen ‚Migrationshintergrund‘ haben wohl die meisten. Es ist jedenfalls eine Erfolgsgeschichte, die nicht um die Welt ging. Denn alte Mythen sind zählebig. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben wieder neue Migranten in der Bronx Fuß gefaßt. Während die Zahl der Puertoricaner sank, weil sie auf dem Weg des sozialen Aufstiegs den Stadtteil verließen, folgten ihnen nun andere Lateinamerikaner oder Kariben, Asiaten aus Korea, Vietnam, Kambodscha, Indien oder Pakistan, Araber und Israelis, Afrikaner vor allem aus Senegal, Nigeria, Ghana und Guinea, aber auch zahlreiche europäische Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Griechenland, Albanien und Irland. Sie alle trugen zu einer Vielfalt bei, die inzwischen weit größer ist als je zuvor in der Bronx. Inzwischen wurden auch Moscheen und buddhistische Tempel gebaut. 38
Der Bronx-Reporter CJ Sullivan traf einen Priester aus Tansania, der seit Jahren eine ehemals italienische Kirche betreut: „Ich liebe diese Gemeinde. Sie erinnert mich an Afrika. Die Menschen haben hier viele Probleme […], so viele, daß man bei Null beginnen muß.“ Und Sullivan ist sicher: „Die Bronx wird auf dieselbe Art gerettet, wie sie entstand: durch die Menschen, die hier leben und sie Heimat nennen. Wie die Gambier und Senegalesen, die auf dem steinigen Weg von Afrika kamen, um Geschäfte in Morrisania zu eröffnen. Oder die Kambodschaner, die das Pol-Pot-Regime überstanden und nun den Grand Concourse wiederbeleben. Die Mexikaner, die zehn Tage durch die Wüstenhitze wanderten, um ein neues Leben an der Fordham Road zu beginnen und in fast allen Restaurants in Manhattan arbeiten. Gerade sie schuften hart, um jeden Tag ein Stück weiterzukommen. Für sie bedeutet die Bronx Hoffnung, für sie ist die Bronx der amerikanische Traum.“11 Der eingangs zitierte Wiener Historiker Friedrich Heer hat nicht unrecht: Das „strahlende Geheimnis“ der urbanen Stadt besteht in ihrer Fähigkeit zur Wiedergeburt. Nur eines muß wohl ergänzt werden: nicht der abstrakten, imaginären Stadt, sondern ihrer Bewohner, nicht einer abstrakt gedachten Öffentlichkeit, sondern der Menschen in den Stadtteilen. Es ist ihre Fähigkeit zur Improvisation, die Kompetenz, mit Uneindeutigkeit, Widersprüchen, mit Konflikten und Krisen umzugehen. Denn eine Stadt überlebt gerade durch die, die kommen, um in ihr zu leben.
Fordham Road, Stadtteil Belmont/the Bronx, Foto © Birgit Mattausch
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Anmerkungen Dieser Essay basiert im wesentlichen auf Schriften und Lebenserinnerungen (ehemaliger) Einwohner der Bronx – Wissenschaftler, Graffiti-Künstler, Schriftsteller, Sozialarbeiter oder anderer Bronxites – aus amerikanischer Literatur, Archiven, aus dem Internet, mündlichen und unveröffentlichten amerikanischen Quellen. Alle Zitate sind eigene Übersetzungen aus dem amerikanischen Englisch. 1 Heer, F. in: Améry/Heer/Marsch (1969, 20) 2 Lewis, M. M. 2006, S. i (Einleitung) 3 Der deutsche Generalkonsul Hans-Jürgen Heimsoeth mußte vermitteln. Er besuchte die Bronx und sprach vor allem mit Jugendlichen. Heimsoeth, der selbst einige Jahre in der Bronx zur Schule gegangen war, habe dort, so berichteten diverse online-Medien, nicht etwa zornige Jugendliche getroffen, sondern nachdenkliche junge Menschen, die verwundert darüber waren, daß „ihr Ruf in der Welt so schlecht sei, daß Ausbilder sie als Schreckgespenst benutzen.“ Im April 2008 hielt sich eine Schülergruppe aus der Bronx zu einem zweiwöchigen Austausch in Oranienburg bei Berlin auf. 4 Sullivan, C. J. in: Berman/Berger [eds.] (2007, 76) 5 Vgl. ebd., 78 6 Fernandez, M.: „Morrisania Melody”, in New York Times, 30. April 2006. Mark Naison machte mich auf diesen Artikel aufmerksam, in dem es weiter heißt: „Wahrscheinlich haben nur wenige New Yorker Historiker so ein enthusiastisches Interesse am Leben der schwarzen Bronx-Einwohner wie Professor Naison. Doch mit Sicherheit gibt es noch weniger 59 Jahre alte weiße jüdische Großväter vom Park Slope, die die Eingangs zeilen von ‚The Message‘, den bahnbrechenden Rapsong von Grandmaster Flash and the Furious Five, rappen können.“ 7 „Bootarican“ – jemand, der einen schwarzen und einen puertoricanischen Elternteil hat; „boot“ – Slangausdruck für Schwarze, den Afroamerikaner untereinander scherzhaft gebrauchen, früher abwertend. 8 Zit. bei Rose, T. in: Urban Mythologies (1999, 89) 9 Berman, M. (1999, 73) 10 Ebenda, 75 11 Sullivan, C. J. in: Berman/Berger (2007, 89)
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Leon Deben / Jacques van de Ven
Fünfhundert Jahre Erfolg durch Immigration Eine kurze Chronik Amsterdams
Dieser Beitrag beschreibt die Vergangenheit Amsterdams als eine Erfolgs geschichte von Immigrationswellen – eine Geschichte, die auch ihre Schattenseiten hat: Ausbeutung, Armut und Diskriminierung bis hin zu staatlicher Exklusion. Am Ende steht jedoch das ganz besondere Gesicht der heutigen Stadt. Wir werden diesen langen Weg stichprobenartig anhand einiger histo rischer Marksteine und Eckdaten verfolgen – die Jahre 1588, 1685, 1799, 1876 – und mit der Periode von 1975 bis 2008 einen Ausblick auf das heutige Amsterdam geben. 1588: Reformation und Alteration Protestantische Thesen werden um diese Zeit schon seit zwei Generationen diskutiert. Luther und die neue protestantische Ethik finden zahl reiche Anhänger in der Stadt, die eigentlich ein Stadtstaat ist – die Niederlande gibt es nur auf dem Papier. Im Handstreich führt der Stadtstaat Amsterdam schließlich die Reformation durch: Klöster werden enteignet und der Stadt überschrieben. Mönche werden von aufgebrachten Bürgern, die sich eines doppelten Jochs entledigen wollen, gesteinigt: der Willkürherrschaft der spanisch-katholischen Habsburger und der Extravaganzen eines korrupten Papstes in Rom. Seit 1550 befindet sich Amsterdam schon im Aufschwung. Migration ist anfangs eine interne Angelegenheit; nur wenige Zuwanderer kommen aus dem Ausland. Ein 1579 von der Republik erlassenes Gesetz garantiert Glaubensfreiheit, und Amsterdam wird nun zum Fluchthafen für religiös Verfolgte. Als es der Amsterdamer Marine gelingt, den Erzrivalen Antwerpen durch eine 42
systematische Hafenblockade auszuschalten, fliehen viele Süd-Nieder länder nach Amsterdam, darunter eine große Zahl Lutheraner. Während des Achtzigjährigen Krieges mit Spanien (1568–1648) wächst die Lutherische Gemeinschaft durch den Zuzug flämischer Familien und ihr Gesinde; weitere Immigranten aus Preußen und Skandinavien kommen hinzu. Bereits in dieser Zeit finden auch kleinste Gruppen ihre Nischen, wie etwa die italienischen Schornsteinfeger. Nach den süd-niederländischen Immigranten kommen die sephardischen Juden aus Spanien und Portugal infolge ihrer Vertreibung durch die spanische Inquisition (1492). Die anfangs abweisende Haltung der protestantischen Stadtväter gegen die Einwanderer von der feindlichen iberischen Halbinsel ändert sich bald, als sie deren wirtschaftliches Potential, ihre weltweiten Netzwerke und Sprachkenntnisse kennen- und schätzen lernen. Völlig frei sind die Juden allerdings auch hier nicht. Nach dem Ende des Achtzigjährigen Krieges durch den Frieden von Münster (1648) beschließt der Stadtrat, daß Juden keiner Zunft angehören dürfen. So sieht sich die jüdische Bevölkerung gezwungen, eigene Nischen zu suchen, vor allem in dem von sephardischen Juden aus Antwerpen eingeführten Diamantengewerbe, das nicht nach Zünften organisiert ist. Während sie sich zunächst über das ganze Stadtgebiet verteilt, konzentriert sich die jüdische Bevölkerung bald in der Nähe der Synagogen. So entsteht das spätere jüdische Viertel von Amsterdam. Ärmere jüdische Migranten aus Böhmen, Litauen und Deutschland folgen um 1635 dem Ruf der Stadt auf der Suche nach neuen Chancen, und da nach wie vor Arbeitskräfte gebraucht werden, heißt die Stadt sie – wenn auch widerstrebend – willkommen. Die Zünfte sind ihnen verwehrt; so finden sie Arbeit als Ausrufer und Straßenhändler, Marktkaufleute, Verkäufer von Gebrauchtwaren oder Buchdrucker. Häufig arbeiten ihre Frauen in den Haushalten reicherer sephardischer Juden. Der wachsende Wohlstand der Stadt zieht weitere Immigranten an. Die Aktivitäten der Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC), die das Monopol auf den Fernhandel mit Asien und Afrika besitzt, ent wickeln sich dabei zur wichtigsten Einnahmequelle der Stadt. Schätzungen zufolge sollen 75 Prozent ihrer ungelernten Arbeiter und 70 Prozent der Seeleute Zuwanderer gewesen sein. Besonders Deutsche und Skandinavier heuern auf den Schiffen der VOC an – und viele von ihnen verlieren dabei ihr Leben. Während des zweihundertjährigen Bestehens der Compagnie gehen etwa 700 Schiffe verloren. So ergeht es auch der 1685 erbauten ‚Oosterland‘ am Kap der guten Hoffnung. Auf dem Schiff befin43
den sich französische Hugenotten auf dem Weg nach Südafrika. Das gleiche Schicksal ereilt die ‚Noordster‘ – ebenfalls mit Hugenotten an Bord – einige Jahre später bei Kap St. Francis. Was aber suchen französische Hugenotten auf den niederländischen Schiffen der VOC? 1685: Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes Als Ludwig XIV. im Jahre 1685 Frankreichs Religionsfreiheit abschafft, die auch Nicht-Katholiken hundert Jahre lang wirtschaftlichen Erfolg und städtische Bürgerrechte gesichert hatte, müssen die Hugenotten sich eine neue Heimat suchen, sei es in Amsterdam, London oder später Berlin. Etwa 12.000 der reicheren unter ihnen ziehen nach Amsterdam. Insgesamt fliehen etwa 70.000 Hugenotten in die Stadtstaaten der Republik der Niederlande. Zwischen 1680 und 1730 werden sie fast unvermittelt eingebürgert und gehören bald zu den erfolgreichsten Geschäftsleuten von Amsterdam, deren Einfluß sich nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell auswirkt: In diesem Zeitraum befindet sich etwa ein Drittel der 230 Amsterdamer Verlage und Druckereien in den Händen von Hugenotten. Ohne sie und die zuvor eingewanderten jüdischen Drucker wäre Amsterdam nur eine Handelsstadt geblieben; so steigt Amsterdam zur Kulturstadt auf, deren Freiheit sich wohltuend abhebt von der Erstarrung und der Zensur in England, Spanien und Frankreich. Hier geht es aber nicht nur um Eliten und ihre Gesellen oder ihr Gesinde. Die Immigration erreicht im Laufe der Zeit viel breitere Ausmaße: Zwischen 1600 und 1800 ziehen 175.000 Immigranten aus dem europäischen Ausland nach Amsterdam. Dazu kommen fast ebenso viele aus den weiteren niederländischen Provinzen in die Stadt. Beträgt die Einwohnerzahl um 1600 noch rund 50.000, hat sie sich 1622 schon auf 105.000 verdoppelt und um 1650 verdreifacht auf 160.000. Ab 1700 hält sich die Einwohnerzahl bei 220.000. Diese Zahlen, von denen man etwa die Hälfte auf Zuwanderung zurückführen kann, und von diesen wiederum die Hälfte auf ausländische Migranten, illustrieren die enorme Entwicklung der Stadt in diesem Zeitalter. In seiner ersten Blüte (etwa 1550–1700) ist Amsterdam eine Immigrantenstadt par excellence, eine Art New York oder Chicago in Europa. Wird der Strom der Immigranten zum Ende des 16. Jahrhunderts noch weitgehend durch religiöse Überzeugungen motiviert, so stehen im 44
17. Jahrhundert wirtschaftliche Perspektiven im Vordergrund. Arbeiter, Handwerker und Fachleute ziehen in das rauschende, geschäftige Amsterdam, um dort ihr Geld zu verdienen – die Stadt braucht Arbeitskräfte und heißt sie willkommen. 1799: Die Auflösung der Vereinigten Ostindischen Compagnie Um 1730 endet eine fast ununterbrochene Zeit von Wachstum und Wohlstand. Der Bevölkerungszuwachs stagniert. Ende des 18. Jahrhunderts zählt die Stadt bereits 10 Prozent Einwohner weniger als noch ein Jahrhundert zuvor. Besonders der Anteil der ausländischen Immigranten nimmt stark ab. Amsterdam ist auf dem Weg von der Weltstadt zur Provinzstadt – ein Niedergang, der sich ebenso in vielen anderen niederländischen Städten vollzieht, von Haarlem bis Zwolle. Der Bevölkerungsschwund ist so groß, daß selbst die Mieten sinken. Viele potentielle Migranten suchen nun Zufluchtsorte in Übersee, in Nordamerika oder Australien. Andere jedoch wollen, können oder müssen in der Nähe bleiben. So ziehen 1860 deutsche Topfhändler aus dem Westerwald zu ihren Landsleuten in die Nähe der für ihre Branntweindestillen bekannten ‚Roeterinsel‘, benannt nach dem Amsterdamer Hendrik Roeter, der dort die Grundstücke parzelliert und zuweist. Die Produktion von Bier, Brot, Zucker und Branntwein liegt zu dieser Zeit fast vollständig in den Händen von Immigranten aus Deutschland und dem weiteren Osten Europas. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, nach einer Zeit interner Unruhen und Aufstände, belebt die Wirtschaft sich wieder. Inzwischen stören aber die Kriege zwischen und mit England und Frankreich den Welthandel. Die niederländische Flotte verliert alle entscheidenden Seeschlachten – wenngleich der Verlierer noch heute in jeder Stadt mit dem Straßennamen ‚Admiraal de Ruyter‘ gefeiert wird –, erfindet aber zu ihrer Ehrenrettung den Freihandel auf See. Nach der Doktrin des Niederländers Hugo de Groot, Begründer des Internationalen Seerechts, verlangen die Niederlande nun, daß die neuen Seemächte ihre Schiffe nicht mehr kontrollieren dürfen. „Freies Schiff, freies Gut“ soll das Basisprinzip des Handels sein. Da der Handelsverkehr mit Nordamerika inzwischen stark zugenommen hat, ist dies freilich nur ein frommer juristischer Wunsch. Von nun an geht es mit Amsterdam bergab. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist ein Fünftel der Bevölkerung abhängig von der durch Kirchen und Synagogen organisierten Armenhilfe. Die Kluft zwischen Arm und Reich 45
wird tiefer und schärfer; die Stadt verfällt zusehends. Amsterdam und sein nationales wie internationales Umfeld haben sich verändert, der Vorsprung der Niederlande in Europa schwindet mehr und mehr. Amsterdam als Umschlagplatz und Zwischenlager wird von London und Hamburg überflügelt. Die Marktverbindung zwischen Produzent und Konsument wird immer unmittelbarer, und Amsterdams Funktion als Zwischenlager und -händler wird zeitweilig fast überflüssig. Auch die einstmals über legene Technologie gerät ins Hintertreffen. War die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts noch geprägt durch starkes Wachstum und hohen Wohlstand, was den umfangreichen Immigrantenzahlen zu verdanken war, so ist jetzt das Gegenteil der Fall: Die ein heimische Bevölkerung beginnt mit ihren Organisationen – beispielsweise Genossenschaften – das soziale Leben stärker zu bestimmen. Die sozialen Grenzen zwischen Etablierten und Außenseitern werden deutlicher. Der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Aktivitäten verschiebt sich von Warenherstellung und Handel zu finanziellen Dienstleistungen; der Händler wird zum Bankier. In dieser Zeit zerfällt die Bevölkerung von Amsterdam in eine extrem wohlhabende Oberschicht, eine ziemlich breite Mittelschicht und eine große, verelendete Unterklasse mit unregelmäßigem Einkommen. Aus Amsterdam ist eine Stadt der sozialen Ungleichheit geworden. Auch im 18. Jahrhundert sind Juden unter den Immigranten. Diesmal kommen sie vor allem aus Mittel- und Osteuropa. Sie lassen sich im überfüllten Jüdischen Viertel nieder, handeln mit Gebrauchtgütern oder arbeiten als Straßenhändler, Musiker oder Gepäckträger, während sich die reicheren Sepharden überwiegend dem Geldhandel widmen. In der Zeit der Napoleonischen Kriege zwischen 1795 und 1815 fällt die Anzahl der Amsterdamer Bevölkerung um 40.000 auf 180.000 Einwohner. Auch mit der einmal so erfolgreichen VOC geht es nun bergab: Der vierte Englische Krieg und zahlreiche Schiffbrüche bedeuten schließlich ihren Untergang. Die Kompanie wird 1799 aufgelöst. Um die gleiche Zeit marschiert die französische Armee ein und wird von einem Großteil der Amsterdamer Bevölkerung begeistert empfangen. 1798 wird die Föderation der Provinzen und Städte der Republik der Niederlande aufgehoben und in einen Zentralstaat umgewandelt, 1806 der spätere Palast an den ersten König Louis Napoleon übergeben. 1813 schließlich wird das Königreich der Niederlande mit Den Haag als Residenzstadt gegründet. Damit verliert Amsterdam alle Privilegien, wie sie beispielsweise Wien oder London genießen. 46
Die Ära der stolzen Unabhängigkeit des Amsterdamer Stadtstaats ist vorbei. Das nach 1815 veränderte nationale und internationale Kräfteverhältnis belastet auch die Amsterdamer Bevölkerung in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Nur der einheimische holländische Markt und das historische Band mit seinen Kolonien hält die Amsterdamer Wirtschaft bis zur industriellen Revolution im ausgehenden 19. Jahrhundert über Wasser. Zwar bleibt Amsterdam weiterhin Handelsstadt, doch eine immer größer werdende Zahl einflußreicher Kaufleute steigt nun in das Geldgeschäft ein. Die Oberschicht wird zunehmend zu einer Klasse von Rentiers. 1876: Direkter Zugang zum Meer durch den Bau des Nordseekanals Die Lagerung von Handelsgütern spielt auch im 19. Jahrhundert noch eine Rolle, wenngleich in viel geringerem Maße als zuvor. Die Speicher für Sturzgüter wie Getreide und der Geldmarkt halten die Wirtschaft der Stadt zwar am Leben; dennoch scheint Amsterdam bis in sein letztes Quartier wie in einen Tiefschlaf gefallen. Um 1870 hält dann endlich auch hier die industrielle Revolution Einzug. Das umfangreiche deutsche Hinterland mit seinem schnell wachsenden Ruhrgebiet, die Ausbeutung der Kolonien, die nach dem Bau des Suezkanals schneller erreichbar sind, und der Bau von Eisenbahnstrecken (mit dem neuen Hauptbahnhof), neuen Häfen und Kanälen befreien Amsterdam aus seiner Erstarrung. Der wachsende Wohlstand zeigt sich durch einen Nachholbedarf bei monumentaler Architektur: Schon 1864 wird der Palast des Volkes gebaut, es folgen eine große Arena (1881), das Konzerthaus (1888) und das Rijksmuseum (1885). Der Nordseekanal – eine direkte Verbindung der Stadt mit der Nordsee – wird 1876 vor allem mit Hilfe englischer Arbeiter fertiggestellt. Der neue Hauptbahnhof wird 1879 eröffnet. All diese ehr geizigen Projekte verkörpern den neuen Elan des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Stadt braucht wieder Arbeitskräfte. Zwischen 1880 und 1910 ziehen mehr als 130.000 Immigranten aus den nördlichen Provinzen Friesland, Groningen und Overijssel in die Stadt. Wieder ist Amsterdam eine Stadt der Zuwanderer. Um 1900 zählt sie bereits mehr als eine halbe Million Einwohner. Viele Immigranten lassen sich im rasch erbauten Gürtel um die Altstadt nieder. Zwischen 1866 und 1900 entstehen Nachbarschaften wie De Pijp, 47
Dapperbuurt und Kinkerbuurt – meist schlecht gebaute, überbelegte Mietwohnungen. Eine ganz eigene Atmosphäre hat das Jüdische Viertel zwischen dem Nieuwmarkt und dem Weesperplatz mit seinen vielen Syna gogen. Um 1900 lebt mehr als die Hälfte der niederländischen Juden in Amsterdam, 13 Prozent der Bevölkerung ist jüdisch. Die neuen Einwanderer sind vorwiegend im verarbeitenden Gewerbe und im Bauwesen tätig. Amsterdam hat sich mittlerweile von einer Handelsstadt zu einer Industriestadt mit zahlreichen Kleinbetrieben wie Leinsie dereien, Gerbereien, Plattendruckereien und Zuckerraffinerien entwickelt. Beherrschende Industriezweige gibt es nicht, obwohl man zwei große Bierbrauereien, eine wachsende Konfektionsindustrie und sogar eine Autoproduktion (Spijker) finden kann. Wirkliche Großbetriebe (Mehl, Brot, Maschinenbau und Diamanten) entstehen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Diamantenfunde in Südafrika (1870–1873) geben der Diamantenindustrie zwischenzeitlich einen rasanten Auftrieb. Der gewaltige Bauboom zwischen 1879 und 1893 zieht eine große Zahl an Saisonarbeitern aus den Provinzen Friesland im Norden (Tischler und Schreiner) und dem Brabant im Süden (Maurer) in die Stadt. Auch in den Wintermonaten kehren sie nicht in ihre Heimatorte zurück, sondern verdienen sich ihr Brot mit dem Verkauf von Lebensmitteln, Heiz- und Brennstoffen und übernehmen auf diese Weise den Platz lokaler, ungelernter Arbeiter. Die Stadt wächst wieder über ihre Grenzen hinaus. Als pulsierende, chaotische Metropole wird sie so lebendig wie schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Die Einwohnerzahl wächst jährlich um etwa 7000 Menschen. Jetzt sind es jedoch vor allem Niederländer, die im Zuge der Landflucht ihr Brot in der Stadt verdienen wollen. 1975 bis 2008: Unabhängigkeit der Kolonien, Zuzug von Gastarbeitern und Flüchtlingen 1925 beträgt die Einwohnerzahl der Stadt über 700.000 und ist damit fast so hoch wie heute. Die Immigration von Ausländern nimmt erneut zu. Italienischen Terrazzo-Arbeitern folgen Steinmetze und Eismacher aus Süd europa. Chinesische Seeleute, 1911 angeworben, um einen Hafenstreik zu brechen, lassen sich im späteren Chinesischen Viertel nieder. Nach 1920 kommen zudem zahlreiche deutsche Dienstmädchen nach Amsterdam. 48
Von 1920 bis 1970 wird das Leben der niederländischen Bürger stark bestimmt durch die Zugehörigkeit zu religiösen, später auch politischen ‚Säulen‘. Diese ‚Versäulung‘ (niederländisch: ‚Verzuiling‘), die einer Politik der rechtlichen und finanziellen Gleichstellung unterschiedlicher religiöser und politischer Gruppierungen entspringt, mit dem Ziel, soziale Spannungen zu beseitigen, führt dazu, daß jeder sich in seinem eigenen Lebensbereich wie in einer Bastion verortet – katholisch, evangelisch, jüdisch, später sozialdemokratisch und andere politisch-ideologische Richtungen. Es sind korporative Organisationsformen, die sich in jeweils eigenen Schulen, Zeitungen, politischen und Sportvereinen, in Radio und Fernsehen verkörpern. Durch alle Organisationen zieht die ‚Versäulung‘ ihre Spur. Immigranten haben sich in diese niederländische Apartheid zu fügen – man lebt nebeneinander, aber nicht miteinander. Der Anteil der ausländischen Einwanderer bleibt bis zum Ersten Weltkrieg gering. Und sogar dieser kleine Zustrom nimmt mit dem Friedensvertrag von Versailles, durch den die freie Arbeitsimmigration von Lohnarbeitern stark beschränkt wird, weiter ab. Trotz der Versuche staatlicher und kommunaler Behörden, den Arbeitsmarkt zwischen 1850 und 1930 weitestgehend zu nationalisieren und abzuschirmen, gab es doch immer Schlupflöcher, bis diese in der Krise von 1929 nach und nach geschlossen werden. Es steht wieder schlecht um die Stadt: Fast ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung ist erwerbslos. Noch in den dreißiger Jahren strömen deutsche Juden in die Stadt. Doch dann beginnt eine schwarze Zeit. Von den achtzigtausend Amsterdamer Juden sind nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch fünftausend am Leben. Die Amsterdamer Juden (und nicht nur sie) wurden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert und dort ermordet. Es ist sehr zu bedauern, daß Niederländer dabei mit der SS und der Wehrmacht kooperierten. Als die Trümmer schließlich beseitigt sind, wird wieder gebaut. Im westlichen Teil von Amsterdam entsteht eine Gartenstadt. Doch angesichts der wachsenden Zahl kleinerer Haushalte sind Wohnraumknappheit und Überbelegung kaum auszugleichen. Viele Familien ziehen fort. Die Stadt leert sich zusehends. Ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg und dem schmerzhaften Verlust des größten Teils seiner jüdischen Einwohner verlieren die Niederlande ihre Kolonialmacht in Indonesien, das 1956 unabhängig wird. Die Tabakindustrie und die Schifffahrt fallen erheblich zurück. Innerhalb zweier Jahrzehnte (1960–1980) verläßt fast eine halbe Million Einwohner die Stadt. Einige hunderttausend Einwanderer aus Indonesien und ande49
ren Ländern können diese Entwicklung etwas dämpfen – dennoch sinkt die Einwohnerzahl um ein Viertel, von 900.000 Anfang der sechziger Jahre bis knapp 700.000 Anfang der achtziger Jahre. Anstelle der in die Vorstadt gezogenen Familien kommen jetzt Zuwanderer aus Surinam, den Antillen, aus der Türkei und Marokko. Während die ersten beiden Gruppen die niederländische Sprache sprechen und sich dadurch relativ schnell integrieren, besteht die Gruppe der türkischen und marokkanischen Gastarbeiter zunächst überwiegend aus alleinstehenden Männern, die sich besonders im östlichen Teil der Stadt niederlassen. Nach der Familienzusammenführung ab 1973 ziehen jedoch auch die Familien der Gastarbeiter in die westliche Gartenstadt. Schon seit den dreißiger Jahren gab es im übrigen eine große Zahl Surina mer und Antillianer in der Stadt. Nach der Unabhängigkeitserklärung (1975) ließen sich viele in Amsterdam Ost und in der gerade erbauten südöstlichen Trabantenstadt Bijlmermeer („Klein-Parimaribo“) nieder, in den achtziger Jahren gefolgt von einer großen Immigrantengruppe aus Ghana. Während in Amsterdam 1963 kaum zehntausend Menschen nicht-nieder ländischer Herkunft lebten und die Zahl der Surinamer und Antillianer etwa 3000 betrug, ist vierzig Jahre später die Zahl der Amsterdamer mit ausländischer Nationalität auf 350.000, also auf die Hälfte der Einwohner gestiegen – von denen allerdings viele inzwischen die niederländische Staatsbürgerschaft haben. Allein die Zahl der Einwohner aus Surinam beträgt beinahe 70.000. Die Zahl der Asylbewerber dagegen war im Amsterdam des 20. Jahrhunderts immer relativ niedrig. Von 1993 bis 2002 kamen nicht mehr als 8000 in die Stadt, anfangs meist Jugoslawen, danach Afghanen. Anfang 2002 betrug ihre Zahl kaum 3000. Ende des 20. Jahrhunderts sieht sich besonders die erste Generation türkischer und marokkanischer Einwanderer, die meist nicht der städtischen Mittelschicht ihrer Herkunftsländer angehören, sondern aus länd lichen Gebieten stammen, der Situation ausgesetzt, als Arbeiter nicht mehr gebraucht zu werden: Als Ungelernte waren viele von ihnen in der Schwerindustrie tätig, die aber ist schrittweise aus Amsterdam und den Niederlanden verschwunden. Ihre Arbeitskraft wird überflüssig, was viele in die Abhängigkeit von der Sozialhilfe zwingt. Mit einem Blick auf das historische Auf und Ab und ohne die Schattenseiten der Geschichte zu ignorieren, können wir abschließend feststellen: Das heutige Bild der Stadt zeigt wieder den multikulturellen Charakter Amsterdams wie in den Blütejahren seines goldenen Zeitalters im 17. Jahr50
hundert. Wie in jener Zeit ist auch heute die Hälfte der Stadtbewohner nicht-niederländischer Herkunft. Wie damals die Juden in der Diamantenindustrie, die Belgier als Putzmacher, die Deutschen als Bierbrauer, Bäcker, in der Zuckerbranche und über die Jahrhunderte als Saison arbeiter im Baugewerbe, die Westfalen – zunächst als fliegende Händler – im Textilgeschäft oder die Italiener als Eismacher, so finden auch die heutigen Migranten ihre wirtschaftlichen Nischen und erobern sich, wie schon in den Jahrhunderten zuvor, ihre gesellschaftliche Position. Diese war und ist natürlich abhängig von Art und Organisationsformen des jeweiligen Gewerbes, von informellen Netzwerken, sozialen und politischen Umständen der In- und Exklusion. Doch immer hat der Immigrationsstrom die Wirtschaft Amsterdams getragen. Er war und ist unlösbar verbunden mit dem Wohlstand und dem Wohlergehen dieser Stadt. Literatur Aerts Remieg en Piet de Rooy [red.] (2006): Geschiedenis van Amsterdam. Hoofdstad in aanbouw. 1813–1900. Amsterdam Frijhoff Willem en Maarten Prak [red.] (2004): Geschiedenis van Amsterdam. Centrum van de wereld. 1578–1650. Amsterdam Frijhoff Willem en Maarten Prak [red.]: Geschiedenis van Amsterdam. Zelfbewuste stadsstaat. 1650–1813. Amsterdam ’t Hart, Marjolijn, Jan Lucassen en Henk Smalv (1996): Nieuwe Nederlanders. Vestigin van Migranten door de eeuwen heen. Amsterdam/IISG/SISWO Lucassen, Leo (2004): Amsterdammer worden. Migranten,hun organisaties en inburgering, 1600–2000. Amsterdam Lucassen, Jan en Rinus Penninx (1985): Nieuwkomers. Immigranten en hun nakomelingen in Nederland 1550–1985. Amsterdam Mak, Geert: Een kleine geschiedenis van Amsterdam. Amsterdam/Atlas, 1995/2005 Rooy de, Piet [red.] (2007): Geschiedenis van Amsterdam. Tweestrijd om de hoofdstad. 1900–2000. Amsterdam
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Holger Floeting
Selbständigkeit von Migranten und informelle Netzwerke als Ressource für die Stadtentwicklung
Warum sind Migrantenökonomien wichtig für die Kommunen? Integration ist ein gesellschaftliches Schlüsselthema, das auf den unterschiedlichen räumlichen Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) zunehmend als Querschnittsaufgabe wahrgenommen wird. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Integration von Migranten und Personen mit Migrationshinter grund in den Arbeitsmarkt. Arbeitsmarktintegration bedeutete in der Vergangenheit vor allem Integration als sozialversicherungspflichtig Beschäftigter. In dem Maß wie Arbeitsmarktintegration allein über nichtselbständige Beschäftigung nicht mehr möglich ist, weil die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze vor allem in der Produktion in Deutschland nicht mehr zur Verfügung stehen, gewinnen Migranten als Selbständige an Bedeutung. Dies betrifft nicht nur die eigene Arbeitsmarktintegration der Selbständigen, sondern auch die Schaffung von weiteren Arbeits- und Ausbildungsplätzen, die Stärkung der lokalen Ökonomie und Versorgungsstrukturen, das heißt die Stadtteilentwicklung als Ganzes. Der folgende Beitrag geht den Fragen nach, warum Migrantenökonomien wichtig für die Kommunen sind, wie Migrantenökonomien entstehen, welche Rolle informelle Netzwerke dabei spielen und wie die Potentiale der Selbständigkeit von Migranten und informellen Netzwerken besser als bisher als Ressource für die Stadtentwicklung genutzt werden können. In Deutschland sind heute fast 600.000 Migranten selbständig (Christ/ Reinecke/Welker 2007). Allein in den 1990er Jahren verdoppelte sich die Zahl ausländischer Selbständiger und Unternehmer in Deutschland (vgl. Schmidt 2000), die meisten von ihnen stammen aus der Türkei, anteilig folgen Italiener und Griechen. 1970 waren etwa zwei Prozent der erwerbstätigen Ausländer in Deutschland selbständig. Seit Beginn der achtziger Jahre haben die Zahl ausländischer Selbständiger und auch der Selbstän52
digenanteil von Ausländern in Deutschland deutlich stärker zugenommen als bei der deutschen Bevölkerung (Leicht u. a. 2001). Von 1989 bis zum Jahr 2001 ist die Zahl deutscher Selbständiger um 22 Prozent gewachsen, die ausländischer Selbständiger aber um 69 Prozent. Der stärkste Zuwachs war in der ersten Hälfte der neunziger Jahre zu verzeichnen (DtA 1999, 1). In dieser Entwicklung spiegelt sich einerseits ein Generationswechsel wider, andererseits macht sie die verschlechterte Beschäftigungssituation deutlich. Die erste Einwanderergeneration wurde als Arbeitnehmer angeworben und blieb abhängig beschäftigt. Die ökonomischen Rahmenbedingungen haben sich für die zweite und dritte Generation der Zuwanderer verändert. Betriebsgründungen von in Deutschland lebenden Ausländern nahmen in einer Zeit zu, in der sich die Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitnehmer – vor allem im industriellen Bereich – erheblich verschlechterten. In Deutschland lebende Ausländer haben in stärkerem Maß als Deutsche auf diese Entwicklung mit dem Weg in die Selbständigkeit reagiert. Informelle Netzwerke spielen bei diesem Prozeß der häufig erzwungenen Selbständigkeit eine wesentliche Rolle. Die berufliche Selbständigkeit von Personen mit Migrationshintergrund1 ist häufig in spezifischen Migrantenmilieus verankert, die als ‚ethnische Ökonomie‘ bezeichnet werden. Unter ‚ethnischer Ökonomie‘ wird im folgenden selbständige Erwerbstätigkeit von Migranten und abhängige Beschäftigung von Migranten in von Migranten geführten Betrieben verstanden, die in einem spezifischen Migrantenmilieu verwurzelt sind. Diese spezifischen Migrantenmilieus zeigen sich als Traditionen und Kulturen, die für die Geschäftstätigkeit eine Rolle spielen und Mitarbeiter-, Lieferanten- und Kundenstrukturen, die sich zunächst auf Migranten konzentrieren. Sie werden in den Städten in der Regel nur wahrgenommen, wenn sie sich im Erscheinungsbild von anderen Bereichen unterscheiden, also scheinbar als ‚ethnische Quartiere‘ zu erkennen sind. Von der ethnischen Ökonomie zu unterscheiden sind ethnisch besetzte Arbeitsbereiche, die nicht durch „kulturalistisch zu erklärende Beziehungen zwischen bestimmten Ethnien und ihren angeblichen Arbeitspräferenzen“ definiert sind, sondern „ökonomisch bedingte Umschich tungsphänomene“ darstellen (Häußermann/Oswald 1997, 24), das heißt Arbeitsbereiche, in denen Deutsche nicht mehr tätig sein wollen. Diese Bereiche zählen dennoch zur Migrantenökonomie. Informelle Netzwerke spielen bei der Unterstützung auf dem Weg in die Selbständigkeit, bei der Unternehmenstätigkeit und bei der Formation von Migrantenökonomien eine wichtige Rolle: 53
– Sie substituieren formelle Netzwerke, zu denen der Zugang fehlt, durch Hürden (Sprache, Regulierung und so weiter) erschwert oder nicht gewählt wird. – Sie ergänzen formelle Netzwerke, indem Sie beispielsweise den Zugang zu Erfahrungswissen (über Möglichkeiten der Selbständigkeit, Gründungsprozesse, Marktsituation, Lieferanten, Arbeitskräfte) ermöglichen, das formell oder kodifiziert nicht zur Verfügung steht. – Sie erschließen spezifische Potentiale für die Migrantenökonomien, zum Beispiel in bezug auf transkulturelle Geschäftstätigkeit (Wissen über Geschäftskultur im Herkunftsland, Zulieferkontakte oder Geschäftsideen). – Allerdings bringen informelle Netzwerke Migrantenunternehmer auch in (familiäre) Abhängigkeiten und können sich dann zu einer Wachstumsfalle entwickeln, wenn der Selbständige eher informellen Regeln verpflichtet ist als sich an Marktgegebenheiten zu orientieren (etwa, indem er sich verpflichtet fühlt, Verwandte in seinem Betrieb zu beschäftigen oder Waren von Bekannten abzunehmen, obwohl dies wirtschaftlich nicht sinnvoll ist), oder wenn sie mit einer Isolierung von der formellen Ökonomie verbunden sind. Die Beschäftigung mit Struktur und Bedeutung von ethnischen Ökonomien und Migrantenökonomien in Deutschland ist ein aus kommunal wissenschaftlicher und politischer Sicht noch junges Thema. Befaßten sich bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre vor allem Ausländerbeauftragte und Sozialverwaltungen, nicht aber Wirtschaftsverwaltungen mit Migrantenökonomien, so sind diese mittlerweile zu einem Thema der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik und der kommunalen Wirtschaftsförderung geworden. Grundlage für den veränderten Umgang mit dem Thema ist auch ein verändertes Verständnis von Integration. Bis in die neunziger Jahre wurde Integration überwiegend als Arbeitsmarktintegration interpretiert (Hillmann 2001, 189). Mit zunehmender struktureller Verfestigung der Arbeitslosigkeit und dem ‚Nachwachsen‘ der zweiten und dritten Generation haben sich die Handlungserfordernisse der Stadtpolitik in bezug auf Einwanderer grundlegend gewandelt. „Es geht bei der künftigen Stadtentwicklung unter Einschluß der ausländischen Bürgerinnen und Bürger also nicht um ein idealistisches Konzept einer multikulturellen Stadtgesellschaft, sondern um die existentielle Frage, wie wir die kulturellen und ökonomischen Potentiale der Stadt sichern können. Es geht damit um die Grundlagen unserer künftigen Prosperität.“ (Reiß54
Schmidt/Tress 2002, o. S.) Die Rolle der Ausländer in den Städten wandelte sich folglich auch in der Wahrnehmung der Kommunen von einer „wichtigen Zielgruppe für kulturelle und wirtschaftliche Integrations politik“ zu „wesentlichen Akteuren und Partnern“ (ebenda). Wie entstehen Migrantenökonomien und welche Rolle spielen dabei informelle Netzwerke? In der Migrationsforschung gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze für das Entstehen ethnischer Ökonomien, die sich gegenseitig nicht ausschließen. In allen Ansätzen spielen Aspekte der informellen Vernetzung und der Mobilisierung von Ressourcen, die aus informellen Beziehungen generiert werden, eine – wenn auch unterschiedliche – Rolle. Die Entstehungsprozesse ethnischer Ökonomien lassen sich zu drei Modellen zusammenfassen: das Nischenmodell, das Kulturmodell und das Reaktionsmodell (Schutkin 2000, 126ff). Das Nischenmodell bezieht sich vor allem auf die Einwanderer der ersten Generation. Sie entsprechen mit ihren Geschäften vor allem den Bedürfnissen der eigenen ethnischen Gruppe. Wenn der Bedarf nach speziellen Waren und Dienstleistungen für bestimmte Einwanderergruppen groß genug ist, werden aus ihrer Mitte Gewerbe gegründet, die diesen Bedarf decken. Die Betriebe ergänzen die deutsche Wirtschaft und stehen zunächst kaum mit ihr in Konkurrenz (Blaschke/Ersöz 1986, 64). Beispiele dafür sind die von Ausländern geführten Ex- und Importläden, Gastronomiebetriebe, Lebensmittelgeschäfte oder spezialisierte Reise büros. Informelle Netzwerke spielen nach diesem Erklärungsmodell zunächst eine wesentliche Rolle für die selbständige Geschäftstätigkeit der Migranten in umfassendem Sinn: – Die Finanzierung der Selbständigkeit setzt wegen des fehlenden Zugangs zu formellen Finanzierungsmöglichkeiten oder geringen Interesses an Kleinkreditvolumina seitens der Geschäftsbanken häufig auf Verwandtschafts- und Bekanntschaftskontakte. – Für die Beschaffung von Waren aus dem Herkunftsland werden informelle Kontakte genutzt, die im Laufe der Reife der Geschäftstätigkeit zum Teil formalisiert werden, zum Teil aber auch informell bleiben. – Bei der Rekrutierung von Helfern und Beschäftigten setzt man auf bestehende informelle Kontakte als Informationsquelle. 55
– Selbst die Kundschaft wird, zumindest in der ersten Generation von Migrantenunternehmern, bei der die Nischengewerbe eine Grundversorgungsfunktion für Produkte aus dem Herkunftsland übernehmen, aus informellen Netzwerken generiert. Die Werbung um Kunden erfolgt über ‚Mundpropaganda‘. Einige dieser Gewerbe orientieren sich später auch auf die deutsche Kundschaft. Ausländische Gastronomie, Lebensmittelhandlungen oder Änderungsschneidereien sind Beispiele für Teile der ethnischen Ökonomien, die sich verstärkt an die Konsumgewohnheiten der deutschen Kundschaft angepaßt haben. In bestimmten Bereichen werden inzwischen Gewerbe nahezu ausschließ lich von Migranten betrieben (beispielsweise Änderungsschneidereien oder Obst- und Gemüsehandel als kleine Einzelgeschäfte). Diese Geschäfte sind heute wichtiger Bestandteil der Nahversorgung aller Bürger in bestimmten Stadtteilen. Das Nischenmodell erklärt vor allem die Existenzgründungen der ersten Einwanderergeneration. Im späteren Verlauf stehen in ethnischen Nischen gegründete Geschäfte auch in Konkurrenz zu Betrieben, die von Deutschen geführt werden, und ebenso entwickeln sich Konkurrenzsituationen innerhalb und zwischen den Ethnien. Darüber hinaus verändert sich die Nischenökonomie, indem sie auf die veränderten Konsumbedürfnisse einer schon jahrelang in Deutschland lebenden Migrantenbevölkerung eingeht. Zur ‚gereiften‘ ethnischen Nischenökonomie gehören dann nicht mehr nur Gastronomiebetriebe oder Lebensmittelhändler, sondern auch Medienunternehmen (Verlage, Druckereien oder Fernsehsender), die Unterhaltungsindustrie (beispielsweise Diskotheken und Videotheken), Banken, Versicherungen und Immobilienmakler. Der Erklärungsansatz wird heute deshalb kritisch beurteilt, weil er individuelle Motive (Streben nach höherem Einkommen, wirtschaftlicher Unabhängigkeit, höherem sozialem Status) kaum einbezieht (Schutkin 2000, 129). Das Kulturmodell erklärt die Entstehung ethnischer Ökonomien als Ergebnis kultureller Einflußgrößen des Herkunftslandes der Einwanderer (Wirtschaftsordnung, Herkunftsmilieu oder Tradition), die die Aus prägung bestimmter Präferenzen für die Unternehmertätigkeit beeinflussen. Tatsächlich scheint eine ‚Mentalität der Selbständigkeit‘ in einigen europäischen Ländern stärker verbreitet als in Deutschland, wenngleich in der Statistik unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen abgebildet und ‚kulturelle Dispositionen‘ nur vermittelt widergespiegelt werden. 56
Die Selbständigenquote lag in Griechenland und der Türkei Ende der neunziger Jahre bei über 30 Prozent, in Italien bei 25 Prozent, während sie in Deutschland nur rund zehn Prozent betrug (Schmidt 2000, 5). Dieser kulturelle Unterschied wirkt sich möglicherweise auch bei Unternehmensgründern aus diesen Ländern aus: Die Selbständigenquote von Migranten, die aus Herkunftsländern mit marktwirtschaftlichem System und ‚Handelsmentalität‘ nach Deutschland gekommen sind, ist höher (Blaschke/Ersöz 1987, 55). Möglicherweise werden auch eher informelle Praktiken aus dem Herkunftsland übernommen. Die unterschiedliche Bedeutung informeller Geschäftstätigkeiten wird zum Teil an der unterschiedlichen Bedeutung der Schattenwirtschaft (hier als deren Anteil an der wirtschaftlichen Leistung eines Landes dargestellt) in den Herkunftsländern von Migranten deutlich. So liegt der Anteil der Schattenwirtschaft in der Türkei geschätzt bei rund 40 Prozent der wirtschaftlichen Leistung (BDI 2007), in Griechenland bei rund einem Viertel des offiziellen Bruttoinlandprodukts (BIP), in Italien bei rund 22 Prozent, in Portugal und Spanien bei jeweils rund 19 Prozent und ist damit höher als in Deutschland, wo er knapp 15 Prozent beträgt (Schneider 2007)2. Dies kann ein Hinweis auf unterschiedliche Geschäftskulturen sein, sollte aber keinesfalls zu dem Kurzschluß verleiten, Migranten aus bestimmten Herkunftsländern seien in Deutschland mehr oder weniger stark an der informellen Ökonomie beteiligt, wofür keine statistische Evidenz vorliegt. Zu berücksichtigen ist dabei, daß auch beim Kulturmodell die ungenügende Berücksichtigung individueller Motive zu kritisieren ist. Einwanderer der zweiten Generation werden nur mittelbar in den Erklärungsansatz mit einbezogen. Neuere Untersuchungen sehen die Entstehung ethnischer Ökonomien häufig als Reaktion der Migranten auf ihre spezifische Lebenslage in Deutschland (Reaktionsmodell). Wesentliches Motiv für den Entschluß zur Selbständigkeit wären damit die oft vergleichsweise schlechteren Chancen von Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt und die höheren Marktchancen von Migrantenunternehmen in bestimmten Wirtschafts bereichen. Tatsächlich trägt die ausländische Bevölkerung höhere Arbeitsmarktrisiken: So hat der Anteil der Ausländer an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 1990 abgenommen, der Ausländeranteil bei den Arbeitslosen hat sich erhöht, sie sind jünger und schlechter qualifiziert als deutsche Stellenbewerber (Hillmann 2001, 195). Deutlich wird auch, daß mit der Migration meist eine „formale Dequalifizierung der Zuwanderer“ verbunden ist (Kapphan 1997, 126). Da es sich also um Gründun57
gen aus der Arbeitslosigkeit heraus handelt und damit um Selbständige, die diese Tätigkeit meist zuvor nicht in Erwägung gezogen hatten, besteht in dieser Hinsicht ein großer Beratungsbedarf, dem bisher nur zu einem Teil von bestehenden Institutionen entsprochen wird. Informelle Netzwerke haben in dieser Gründungssituation eine besondere Bedeutung: Sie ermöglichen den Zugang zu Erfahrungswissen anderer Selbständiger (zum Beispiel hinsichtlich bestehender Regeln, Finanzierungsmöglichkeiten, Marktsituation oder vorhandenen Geschäftsräumen). Sie ermöglichen in einer für den Gründer unbekannten Situation den Austausch in einem bekannten Umfeld. Er muß – möglicherweise verunsichert durch die veränderte persönliche Situation – nicht mit als fremd wahrgenommenen Institutionen umgehen. Dies senkt einerseits die Zugangsschwelle zur Selbständigkeit, andererseits erhöht es das Risiko, unvollständig oder unrichtig informiert und später mit den entsprechenden Folgen konfrontiert zu werden. Letztlich steigt das Risiko, an formellen Regelungen und unbekannten oder nicht berücksichtigten Rahmenbedingungen zu scheitern. Das Reaktionsmodell berücksichtigt individuelle Motive der Unternehmensgründer am stärksten. Es wird meist zur Erklärung der Entstehung von Migrantenunternehmen der zweiten Gründergeneration herangezogen (Schutkin 2000, 131). Allerdings lassen sich die drei Erklärungsmodelle nicht eindeutig voneinander abgrenzen. Die Genese ethnischer Ökonomien läßt sich meist aus einer Mischung der genannten Modelle begründen, wenngleich jedes einzelne als typisch für bestimmte Phasen der Migration erscheint. Welche Rolle informelle Netzwerke in Migrantenunternehmen spielen, läßt sich exemplarisch an den Themen ‚Ausbildung‘ und ‚Arbeitssuche‘ erläutern. Neben der formalen Ausbildung im Rahmen des dualen Systems findet in zahlreichen Migrantenunternehmen ein ‚Training on the job‘ statt. Auf diesem Wege erlernen sonst zum Teil schwer vermittelbare Jugendliche Fertigkeiten, die genutzt werden könnten, um sie langfristig in eine formale Berufsausbildung zu integrieren. Zur Umgehung von Formalien der dualen Ausbildung bieten zahlreiche Migrantenunternehmen Praktika an. Diese Angebote werden einerseits von schwer vermittelbaren Jugendlichen – meist auch Migranten, häufig aus der gleichen Migrantengruppe wie der Unternehmer – genutzt, andererseits dienen sie als Sprungbrett in die eigene Selbständigkeit. Personen, die selber ein Gewerbe gründen wollen, lernen auf diesem Wege grundlegende Geschäftsabläufe kennen, erwerben erste kaufmännische Grundkenntnisse und sind in der Lage, ein 58
Netzwerk späterer Zulieferer und Kooperationspartner kennenzulernen. Schließlich werden Familienangehörigen, Verwandten und Bekannten Qualifikationsmöglichkeiten durch die informelle Mitarbeit in Unternehmen geboten. Auch bei der Arbeitssuche und der Suche nach Ausbildungsplätzen spielen informelle Netzwerke bei Migranten eine große Rolle. Auf Basis der Daten des Sozio-ökonomischen Panels zeigt sich, daß fast die Hälfte der Migranten für Stellenwechsel und Arbeitssuche persönliche Netzwerke genutzt haben, bei den Deutschen war es nur etwa ein Drittel. Der Anteil derer, die persönliche Netzwerke nutzen, ist dabei bei Migranten, die nach 1988 nach Deutschland gekommen sind, am höchsten (51 Prozent). Vor allem jüngere und schlechter ausgebildete Migranten haben durch persönliche Kontakte von ihrer neuen Stelle erfahren (Drever/Spieß 2006). Informelle Netzwerke senken also in diesen Fällen die Zutrittsbarriere zum Arbeitsmarkt, vor allem beim Ersteintritt. Zwischen den Migrantengruppen gibt es erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung informeller Netzwerke für die Rekrutierung von Auszubildenden: Bei türkischen Unternehmen spielt der Bekanntenkreis dafür eine besonders große Rolle, griechische stützen sich am stärksten auf Initiativbewerbungen von Auszubildenden, und Migrantenunterneh men, deren Inhaber oder Geschäftsführer aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion kommen, nutzen die Kooperation mit der Arbeitsverwaltung besonders selten (Christ/Reinecke/Welker 2007). Die Entwicklung solcher Unternehmen wird durch eine Reihe struk tureller Probleme, rechtlicher und finanzieller Barrieren behindert, die hier im einzelnen nicht weiter ausgeführt werden können (vgl. hierzu Floeting/Reimann/Schuleri-Hartje 2005). Wie können die Potentiale von Migrantenökonomien stärker für die Stadtentwicklung genutzt werden? Die selbständige wirtschaftliche Tätigkeit von Migranten hat bereits heute für einige deutsche Städte einen hohen Stellenwert bei der Entwicklung der lokalen Wirtschaft. Zukünftig ist mit einem weiteren Bedeutungsgewinn zu rechnen. Der Umgang mit Migrantenökonomien entwickelt sich von einem Integrationsthema zu einem Wirtschaftsförderungsthema, ohne dabei die Bedeutung für die Integration von Migranten zu verlieren. Bei der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen – dies zeigen bereits zahlreiche Aktivitäten in den Städten – sollten zukünftig beide 59
Politikfelder stärker verknüpft werden. Gerade unter Berücksichtigung des Stadtteilbezugs wächst die Notwendigkeit eines integrierten Ansatzes. Auf lokaler Ebene besitzen leistungsfähige Migrantenökonomien vor allem folgende Vorzüge: – Nutzung der endogenen Entwicklungspotentiale (von Stadtteilen); – soziale und wirtschaftliche Integration von Migranten; – Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen, gerade auch für sonst schwer vermittelbare Arbeitskräfte und Auszubildende (zum Beispiel jugendliche Migranten); – Verbesserung der Nahversorgung, nicht nur für die Migrantenbevöl kerung; – Erschließung von Spezialisierungspotentialen (in Großhandel, Einzelhandel, im Dienstleistungsbereich, zum Beispiel Reisebüros), die durch transkulturelle Erfahrungen der Migranten unterstützt werden; – Erschließung neuer Wachstumspotentiale (Nischenunternehmen mit gut durchdachten Geschäftskonzepten, beispielsweise im Großhandel, im Medienbereich und in der Werbung, können über die lokale Ökonomie hinaus expandieren); – Belebung von Stadtteilen mit Entwicklungsproblemen durch die Förderung von Kleinunternehmen; – Beitrag zur Imagekorrektur gerade von benachteiligten Stadtteilen (Migranten werden nicht mehr nur als Problem, sondern auch als Entwicklungschance wahrgenommen); – Einbindung informeller Netzwerke in die Verantwortung für die Quartiersentwicklung. Es gibt kein Patentrezept dafür, wie sich die Entwicklung von Migrantenökonomien unterstützen läßt. Zu unterschiedlich sind die Ausgangssituationen in den einzelnen Städten und Gemeinden (zum Beispiel in bezug auf die Zahl der Migranten, die Größe einzelner Migrantengruppen oder die Aktivität der Unternehmer). Bausteine einer kommunalen Strategie, um die Potentiale von Migrantenökonomien für Städte und Gemeinden besser zu nutzen, könnten sein: – Identifizierung vorhandener Unternehmen (welche Migrantengruppen sind in welchen Gewerben an welchen Orten tätig?); – Kennenlernen (Verbesserung der Informationsgrundlage für die Kommune und Aufbau von Vertrauen zwischen kommunalen Einrichtungen und Migranten); 60
– Unterstützung von aktiven oder aktivierbaren Migrantenunternehmern (welche Unternehmer sind bereit und in der Lage, neben der eigenen Geschäftstätigkeit auch Belange der Quartiersentwicklung und Inte grationsaufgaben zu unterstützen?); – Gemeinsame Stärken-Schwächen-Analyse (welche Potentiale, aber auch welche Entwicklungshemmnisse bestehen vor Ort?); – Identifizierung kommunaler Politikfelder, die für die Entwicklung von Migrantenökonomien wichtig sind (welche Ideen, Konzepte, Maßnahmen, die für Migrantenunternehmer wichtig sein könnten, bestehen bereits und wie werden sie bisher in Anspruch genommen, welche Konzepte könnten gemeinsam entwickelt werden?); – Vernetzung von Politikfeldern und Akteuren (wie können Konzepte und Maßnahmen besser aufeinander abgestimmt werden, um Synergiepotentiale zu erschließen, welche Akteure müssen in welcher Form miteinander zusammenarbeiten?); – Sichtbarmachung von Potentialen der Migrantenökonomien (beispielsweise durch Einbeziehung in Stadtmarketingmaßnahmen oder Organisation spezieller Events). Fazit Wenn es gelingt, die Bedeutung von Migrantenökonomien in Städten und Gemeinden zu erkennen und sie aufzuwerten, können sie eine wichtige Integrationsfunktion übernehmen und das Zusammenleben fördern. Informelle Netzwerke spielen dabei allerdings eine ambivalente Rolle. Sie können Eintrittsbarrieren in die (lokale) Ökonomie senken und damit neue Potentiale für die Stadt(teil)entwicklung erschließen. Sie können aber auch zur Wachstumsfalle für Migrantenunternehmer werden, wenn diese allein informellen Strukturen verhaftet bleiben. Anmerkungen 1 Im folgenden wird der Begriff Migranten verwendet. Er schließt männliche und weib liche Personen, Zuwanderer und Personen mit Zuwanderungshintergrund ein. 2 Die Angabe für die Türkei basiert auf einer Schätzung für das Jahr 2006, die übrigen Angaben basieren auf einer Berechnung für 21 OECD-Staaten für das Jahr 2007.
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Robert Pütz
Perspektiven der „Transkulturalität als Praxis“ Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin
„Der fleißige Mann vom Bosporus“ titelte die Berliner Zeitung in Anspielung auf eine historische Redewendung.1 Der Artikel beschreibt das Phänomen, daß sich vor allem in den 1990er Jahren immer mehr Menschen türkischer Herkunft in Deutschland selbständig machen und sich dadurch die Erwerbsstruktur dieser im öffentlichen Diskurs noch häufig als ,Migranten‘ wahrgenommenen und bezeichneten Gruppe – von denen mittlerweile mehr als jeder dritte in Deutschland geboren ist und fast jeder fünfte die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt – maßgeblich wandelt. Er reiht sich ein in zahlreiche Beiträge ähnlicher Botschaft: Mit „türkischer Ruck“ überschrieb beispielsweise Die Woche einen Artikel zum gleichen Thema.2 Damit zeichnet sich ein Mediendiskurs ab, den man plakativ mit „die multikulturelle Gesellschaft entdeckt die Ökonomien ihrer Kulturen“ umschreiben kann. Die Zunahme an Betrieben – das Zentrum für Türkeistudien (ZfT 2001, 7) schätzt, daß sich ihre Zahl zwischen 1985 (22.000) und 2000 (60.000) annähernd verdreifacht hat – erweckte nicht nur die Aufmerksamkeit der Medien, sondern es stieg auch das wissenschaftliche Interesse an Unternehmern türkischer Herkunft. Konzeptionell werden dabei meist Impulse aus dem angloamerikanischen Raum aufgenommen, wo Arbeiten unter dem Schlagwort ‚Immigrant Business‘ beziehungsweise ‚Ethnic Business‘ bereits seit längerer Zeit im Blickpunkt der sozialwissenschaftlichen Forschung stehen.3 Vereinfacht dargestellt, wird das unternehmerische Handeln von Migranten dabei vornehmlich aus einer strukturalistischen Perspektive betrachtet, wobei der Strukturbegriff unterschiedlich ausgefüllt wird (Waldinger, Aldrich & Ward 1990, vgl. zum Überblick auch die Beiträge in Portes 1995 und Rath 2000): Auf der einen Seite stehen sogenannte ‚Opportunitäten‘, die die Aufnahmegesellschaft bietet, auf der anderen Seite ‚Ressourcen‘ der Migrantengruppen. Während im ersten Fall also strukturelle Rahmenbedingungen thematisiert werden, die der jewei63
lige Arbeitsmarkt, der rechtlich-institutionelle Rahmen der Selbständig keit und des Absatzmarktes bieten (vgl. detaillierter Pütz 2003), sind es im zweiten Fall eines eher kulturalistischen Verständnisses von Struktur vermeintlich gemeinsame Eigenschaften von Menschen gleicher regionaler Herkunft. Zwar sind Zuschreibungen wie „arbeiten härter“ oder „sparen mehr“ in solch expliziten Formulierungen mittlerweile weitgehend aus der Diskussion verschwunden, implizit prägen sie aber immer noch das Grundverständnis zahlreicher Argumentationslinien – als ‚kulturelle‘ oder ‚ethnische Ressourcen‘, die Unternehmertum bestimmter Gruppen förderten oder einschränkten. Kultur und unternehmerisches Handeln Mit solchen Vorstellungen von kulturellen Ressourcen zeigt sich eine Verbindung zum einleitend erwähnten Mediendiskurs. Es stellt sich nämlich die Frage, was man unter der Perspektive ‚Kultur und unternehmerisches Handeln‘ mit einer Studie über Unternehmer türkischer Herkunft lernen kann. Etwas über ‚die Türken‘ und die Art, wie sie Unternehmen führen? Oder etwas über die Besonderheit einer ‚türkischen‘ Wirtschaftsweise oder über einen ‚türkischen Unternehmergeist‘? Der Mediendiskurs vom „fleißigen Mann vom Bosporus“ suggeriert genau das. Und er erweist sich als machtvoll, denn auch manche wissenschaftliche Untersuchung folgt ähnlichen Forschungsfragen. Solchen Fragestellungen liegen Vorstellungen eines Neben- oder Miteinanders von Kulturen als jeweils klar begrenzte, homogene Einheiten zugrunde. Kultur wird konzeptionell an abgrenzbare soziale Kollektive gebunden, was häufig einschließt, sie territorial zu verorten beziehungsweise auf einen territorial verortbaren Ursprung zurückzuführen (‚türkische Kultur‘, ‚Regionalkultur‘). Theoretisch-konzeptionell ist dies jedoch nicht haltbar. Selbst, wenn es jemals homogene Kulturen gegeben haben sollte, könnten sie spätestens im Zeitalter der Globalisierung und weltweiter Migrationsbewegungen nicht mehr identifiziert werden. Es gibt „keine ausschließlich regional verankerten Wissensbestände mehr und konsequenterweise auch keine durchgehend regional definierbare sozial-kulturelle Welten“ (Werlen 1997, 379). Fruchtbar erscheint hier das Konzept der Transkulturalität, das Welsch (1992) entwickelt hat. Welsch geht mit Hinweis auf die Globa lisierungsdebatten zunächst davon aus, daß territorial verortbare homogene Kulturen aufgrund vielfältiger Verflechtungszusammenhänge nicht 64
mehr angenommen werden könnten. Transkulturalität impliziert also die Aufhebung der Kongruenz von Territorium und Kultur. Gleichzeitig verschiebt Welsch die theoretische Lage kultureller Grenzen von einer interpersonalen auf eine intrapersonale Ebene, das heißt, die mit jeder Grenze verbundene Innen-Außen-Differenz wird konzeptionell auf die Ebene einzelner Subjekte verschoben. Diese seien ebenfalls durch Transkulturalität gekennzeichnet und verfügten somit über unterschiedliche kulturelle Bezugssysteme. Damit wird auch die Vorstellung von Kultur als einem geschlossenen Verweisungszusammenhang von Symbolen obsolet. Gleichzeitig bleiben aber ‚kulturelle Differenzen‘ denkbar: als Konstruktion entlang Zugehörigkeit und Ausschluß markierender Symbole. Auf Basis dieser Überlegungen läßt sich Kultur für eine handlungsorien tierte empirische Forschungspraxis konzeptualisieren, in dem der Blick weg von Fragen nach der Ausprägung vermeintlich homogen existieren der Kulturen gelenkt wird und hin zur Frage nach der Praxis der Grenzziehungen, die Akteure kontinuierlich vornehmen; ‚kulturelle‘, da Bedeutung schaffende Grenzziehungen, anhand derer das vertraute, dazugehörende ‚Innen‘ vom unvertrauten, nicht dazugehörenden ‚Außen‘ geschieden wird. Diese Perspektive der „Transkulturalität als Praxis“ (Pütz 2002)4 ist aber nicht nur als Analysekonzept zu verstehen. Gleichermaßen kann sie als konkrete Handlungspraxis konkreter Subjekte gelesen werden. Denn durch die Verschiebung der Innen-Außen-Differenzen bei der Herstellung kultureller Grenzen auf die Ebene des Subjektes werden Mehrfachzugehörigkeiten von Individuen sowohl konzeptionell akzeptiert als auch empirisch greifbar. Daraus läßt sich ableiten, daß Menschen über Handlungsroutinen verfügen, mit denen sie sich in Form einer „alltäglichen Transkulturalität“ in unterschiedlichen Deutungsschemata verorten können, um zum Beispiel in ökonomischen Interaktionssituationen Bedeutungsgleichheit mit Geschäftspartnern herzustellen. Sind dem Akteur solche Deutungsschemata reflexiv zugänglich und damit absichtsvoll einsetzbar, kann „alltägliche Transkulturalität“ zur „strategischen Transkulturalität“ werden – als Fähigkeit, sich reflexiv in unterschied lichen Symbolsystemen orientieren und in ihnen operieren zu können. Kulturelle Deutungsschemata können damit als für die soziale Praxis sinngebend und handlungsleitend aufgefaßt werden, aber als Repertoire, das verschiedene Handlungsoptionen bereithält und zu dem Individuen einen reflexiven Zugang besitzen können. Am Beispiel einer inhaltsanalytischen Auswertung von biographischen Interviews, die im Rahmen eines DFG-Projektes mit Unternehmerinnen 65
Türkisches Aussteuer-Geschäft in Berlin-Neukölln, Foto © Gerda Heck
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Oben: „Europa-Imbiss“ in Berlin-Kreuzberg, Unten: „El Salam Orient Café“ in Berlin-Kreuzberg, Fotos © Gerda Heck
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und Unternehmern türkischer Herkunft in Berlin geführt worden sind, soll im folgenden an zwei Beispielen die Praxis kultureller Grenzziehungen empirisch nachvollzogen werden. Im ersten Beispiel steht die Konstruktion „türkischer“ sozialer Ressourcen durch Grenzziehungen im Vordergrund. Anschließend wird anhand eines Ausschnitts einer biographischen Analyse die Perspektive der „strategischen Transkulturalität“ nachvollzogen. Die Konstruktion ‚türkischer‘ sozialer Ressourcen Die Annahme, daß Migranten oder ihre Nachkommen über spezifische Eigenschaften verfügten, die als ‚ethnische Ressourcen‘ unmittelbar mit ihrer Abstammung und Herkunft zusammenhingen, ist eine Kernaussage zahlreicher Arbeiten zum Themenfeld ‚Immigrant Business‘. Light & Rosenstein (1995, 171) definieren sie wie folgt: „Ethnic resources include an ethnic culture, structural and relational embeddedness, social capital, and multiplex social networks that connect the entire group. Ethnic resources characterize a whole group.“ Die hier angeführten Basiskonzepte „Embeddedness“ (Granovetter 1985) und „soziales Kapital“ (zumeist mit Rückgriff auf Bourdieu 1983 oder Coleman 1988) haben in ihrem Ursprung zunächst nichts mit der Herkunft eines Unternehmers zu tun. Sie wurden in den vergangenen Jahren vornehmlich von Seiten der Wirtschaftssoziologie entwickelt und haben mittlerweile auch breiten Raum in der wirtschaftsgeographischen Debatte eingenommen (z. B. Glückler 2001, Bathelt & Glückler 2002). Wesentlich daran ist, daß ökonomisches Handeln als grundsätzlich immer auch soziales Handeln aufgefaßt wird und daß damit der Kontext sozialer Beziehungen als relevant für jegliche ökonomische Interaktion in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Das Denkmodell ‚ethnischer‘ Ressourcen dreht die Argumenta tionslogik jedoch um. Hier werden – da Ethnien als a priori existent und voneinander unterschiedlich wahrgenommen werden – soziale Ressourcen zu „ethnischen“, das heißt, dem Unternehmer als ethnisch prädisponiertem Wesen wird eine spezifische Art an Embeddedness, sozialem Kapital et cetera zugesprochen, die sich aus seiner Herkunft ergeben. Anknüpfend an die einführenden Bemerkungen sollte bei der Betrachtung sozialer Beziehungen zwischen Unternehmern mit ähnlichem Migrationshintergrund ein Perspektivenwechsel vorgenommen werden. Weniger als die Frage nach vermeintlich wesenhaften Eigenschaften einer gegebenen 68
Gruppe sollte die Frage in den Vordergrund rücken, wie Innen-AußenDifferenzen entlang von Symbolen wie der national etikettierten Herkunft hergestellt werden und welche Funktion diese Grenzziehungen beispielsweise für die Akkumulation sozialen Kapitals haben. Dies kann im folgenden durch die Schilderung von Unternehmern türkischer Herkunft zur Beschaffung von Informationen beziehungsweise zur Auswahl von Geschäftspartnern nachvollzogen werden. Kaya und Ali, so lauten ihre Codenamen, sind Lebensmittelgroßhändler mit jeweils rund zehn Angestellten. Kaya beschreibt primär eine dyadische Beziehung zu einem freundschaftlich verbundenen Wettbewerber (relationale Embeddedness), dem er günstige Bezugsquellen nennt, wobei er von dieser Art Vertrauensvorschuß später einmal Gegenleistungen erwartet (Reziprozität). Die Rolle sozialer Beziehungen für ökonomische Transaktionen drückt er dadurch aus, daß er sie nur mit „sehr guten Leuten“ tätige: „Wenn ich jetzt, sagen wir mal, mit einem Lieferanten aus Westdeutschland telefoniere, grüne Linsen zum Beispiel, sagt er: ‚Ich habe was für 1,50 für Dich.‘ Dann bin ich auch so fair und andere Großhändler – also Freunde, die ich eben vom Fruchthof kenne, mit denen ich jahrelang zusammen gearbeitet habe, sagen wir mal – rufe ich an und sage: ‚Guck mal, wo kaufst Du Deine grünen Linsen?‘ Sagt der mir: ‚Da und da für 1,95.‘ Sag ich: ‚Ich hab was rausbekommen. Ruf mal da und da an, sagst Du meinen Namen und dann ist gut.‘ Und das machen die denn auch. […] Weil, eine Hand wäscht die andere. Und wenn irgendwann mal ihm was auffällt, ist egal was, was mir behilflich sein kann, dann sagt er mir’s auch. […] Der muß mir ja nicht nur geschäftlich helfen, das kann ja auch privat sein oder was. […] Aber das macht nicht jeder mit jedem, das machen eben nur sehr, sehr gute Leute.“ Ali beschreibt ebenfalls den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses in einer dyadischen Beziehung, schildert anschließend aber eine Situation, in der ein „Unternehmen X“ Ansehen und Reputation verliert, weil ein von ihm geschädigter Unternehmer über geschlossene Netzwerke mit anderen Unternehmern verbunden ist (strukturelle Embeddedness). Auch Ali hebt darauf ab, daß er vertrauliche Informationen nur in einem engen Kreis „guter Kontakte“ weiterreiche: „Ich muß erstmal anschauen, wie die Geschäft von dem. Geschäft geht gut oder nicht gut. Kann er, kann er diese Rechnung jederzeit bezahlen oder kann er nicht bezahlen, und so weiter. Wenn der jetzt seit solange da macht Geschäft, Jahre oder Jahre, er ist bisher immer gut gearbeitet. Mit 69
den anderen Firma auch. Denn wenn ein Geschäftsmann macht Fehler, es geht sehr schnell, der andere Leute hört, diese Geschäftsmann hat Fehler gemacht. Zum Beispiel wir sind drei Geschäftsmann, unterhalten uns zwischen, er sagt zu mir: ‚Ali, Mensch, scheiße, zum Beispiel X, Firma X hat zu mir Scheck gegeben und diese Scheck geplatzt.‘ Oder ich sag: ‚Mensch, Firma X, andere X Firma haben sie geschäftliche Kontakte?‘ Wenn sagt: ‚Ja‘, ich sag ihnen: ‚Bitte aufpassen. Der hat von mir drei offene Rechnungen und der will nicht Geld zahlen.‘ Oder zu schwierig, Zahlungsziel.“ Pütz: „Machen Sie das mit allen Geschäftspartnern, solche Informationen austauschen?“ Ali: „Ja, zu guten Kontakten.“ Kayas und Alis Schilderungen bestätigen die Perspektive ökonomischen Handelns als grundsätzlich soziales Handeln. Gleichzeitig würde wohl jeder Beobachter die Schilderungen als ‚alltäglich‘ beschreiben. Die beiden Interaktionssituationen und sozialen Beziehungen sowie ihre Wirkungen sind jedem aus seinem eigenen Alltagshandeln vertraut, und sie sind nicht ursächlich verbunden mit Herkunft oder ‚Türkisch-Sein‘, auch wenn dieses Bild mit der Denkfigur einer ‚ethnischen Ökonomie‘ häufig reproduziert wird. Bei der Betrachtung, wie die beiden Unternehmer ihre jeweiligen Aussagen unmittelbar eingeleitet haben, verkehrt sich dieser Eindruck aber ins Gegenteil: Kaya: „Also, der Türke, der ist überall. Der weiß seine ganzen Informationen. Die helfen sich untereinander. Ich weiß nicht, ob die Deutschen das untereinander machen, glaube ich nicht. Und das machen die Türken […].“ Ali: „Hm, ja. Das ist so, erstmal natürlich Vertrauen zu Türken […].“ Die Zugehörigkeit zu einer imaginären „Gemeinschaft der Türken“ avanciert hier plötzlich zur entscheidenden Voraussetzung dafür, an entsprechenden Netzwerken zu partizipieren und von ‚gegenseitiger Hilfe‘ und von ‚gegenseitigem Vertrauen‘ profitieren zu können. Die Konstruktion einer national etikettierten Kultur als – mit Werlen (1997) – „signifikative Regionalisierung“ erweist sich also als ein ökonomisch probates Mittel, an dem sich Ein- oder Ausschluß aus sozialen Beziehungen festmacht. Diese Grenzziehung ist verbunden mit einem Diskurs vom ‚türkischen Unternehmer‘, der auf den zentralen Kategorien Ehre, Vertrauen und Solida rität aufbaut und der sie gleichzeitig als soziales Kapital ökonomisch verfügbar macht.
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Destabilisierung national etikettierter Grenzen Zugehörigkeitsdiskurse entfalten große Handlungsrelevanz und erweisen sich über Ein- oder Ausschluß aus sozialen Beziehungen als wichtig für unternehmerischen Erfolg. Mit Giddens werden solche Deutungsschemata durch ihre Anwendung rekonstituiert und stabilisiert. Gleichzeitig aber unterliegen sie durch die permanente Neuverhandlung in der Handlungssituation immer auch prozeßhaftem Wandel. Diesen Aspekt der Destabilisierung räumlich-national etikettierter Grenzen verdeutlicht ein zweites Beispiel: Ulvi, der Inhaber einer Werbeagentur, berichtet von kulturellen Grenzziehungen aus der Perspektive eines Ausgegrenzten. Er sieht sich in seinen Anfängen als Unternehmer mit einer Situation konfrontiert, in der Sprache herangezogen wird, um symbolisch Differenz zu markieren, und zwar zwischen einer Gemeinschaft „echter Türken“ und „unechten Türken“. Ulvis Sprache läßt keine eindeutige Zuordnung zu. Ihm wird daher mit Mißtrauen begegnet, was seine unternehmerische Karriere gefährdet. Er ist davon bedroht, seine geschäftliche Verbindung aufgrund dieser Grenzmarkierung zu verlieren: „Mein Partner damals hatte irgendwas gegen mich. Ich habe es gar nicht so gemerkt von ihm, weil er war immer noch so nett und höflich. Aber intern weiß ich, daß er seinem Vater, mit dem ich die Geschäftsbeziehung hatte, gesagt hat: ‚Oh Mann, er ist ein Idiot, das ist doch so ein deutsch gewordener Türke‘ und ,laß uns mal jemanden anderes nehmen‘ und so. [lacht] Genau die Situation gab es. Und auch so, der Rest der Familie, von meinem Partner, die hatten auch so einen komischen Blick auf mich, weil ich, weil mein Türkisch so ein seltsames Türkisch war. Es war nicht so das normale Türkisch, was die Türken geredet haben, sondern dadurch, daß ich sehr viel im deutschen Kreis war, war mein Türkisch eher so eine Halbübersetzung, Zum-Teil-Übersetzung aus dem Deutschen. Ich, meine Sätze waren seltsam konstruiert, es waren im Grunde deutsche Sätze, mit türkischen Worten.“ National oder sprachlich etikettierte kulturelle Identität schafft ein ‚Wir‘ und ein ‚Anderes‘ und dient in einem ersten Schritt dazu, die Auswahl von Geschäftspartnern zu vereinfachen. Menschen wie Ulvi passen nicht in solche dichotomen Zuschreibungsdiskurse. Sie verunsichern und irritieren, indem sie Orientierung bietende Selbst- und Fremdzuschreibungen durch ihre Existenz in Frage stellen. Ibrahim, Vorstandsmitglied eines türkischen Unternehmerverbandes, äußert sehr eindrücklich, wie ihm das Zurückgreifen auf binational aufgebaute Identitätskonstruktionen Sicher71
Berlin ist eine geheimnisvolle Stadt. Nichts ist hier so, wie es zunächst scheint. In der Sushi-Bar auf der Oranienburger Straße stand ein Mädchen aus Burjatien hinter dem Tresen. Von ihr erfuhr ich, dass die meisten Sushi-Bars in Berlin in jüdischen Händen sind und nicht aus Japan, sondern aus Amerika kommen. Was nicht ungewöhnlich für die Gastronomiebranche wäre. […] Nichts ist hier echt, jeder ist er selbst und gleichzeitig ein anderer. […] Ich ließ aber nicht locker und untersuchte die Lage weiter. Von Tag zu Tag erfuhr ich mehr. Die Chinesen aus dem Imbiss gegenüber von meinem
Haus sind Vietnamesen. Der Inder aus der Rykestraße ist in Wirklichkeit ein überzeugter Tunesier aus Karthago. Und der Chef der afroamerikanischen Kneipe mit lauter Voodoo-Zeug an den Wänden – ein Belgier. […] Ich war von den Ergebnissen meiner Untersuchungen sehr überrascht und lief eifrig weiter durch die Stadt, auf der Suche nach der letzten unverfälschten Wahrheit. Aus: Wladimir Kaminer, Geschäftstarnungen, in: Russendisko. München 2002, S. 98f
„Galerie El-Salam“ Import-Export-Laden in Berlin-Kreuzberg, Foto © Gerda Heck
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heit im alltäglichen sozialen (und unternehmerischen) Handeln vermittelt, und welche Wirkung Menschen wie Ulvi auf ihn haben, die solchen Konstruktionen nicht entsprechen: „Das Hauptproblem, wenn man sich zurückblickt: Erste, zweite, dritte Generation. […] Manchmal hat man selber Angst, was für Menschen das überhaupt sind, weil die sind, viel, äh, fremd zu eigene Kultur geworden. Und die ihre eigene Persönlichkeiten verloren haben. Und dadurch geben sie keine gute Bild und das stört eigentlich einmal die Einheimischen und auch mal die eigene Seite. Man kann die nicht richtig zuordnen. […] Und ich habe schreckliche Angst, wie die Türken dann überhaupt aussehen. Ich bin mit meine eigene Kultur und meine eigene Glauben, meine eigene Werten im Lande viel besser, kann besser die Deutschen verstehen, die Deutschen können mich auch als ein Türke besser verstehen.“ Menschen wie Ulvi kann man „nicht richtig zuordnen“. Sie passen nicht in das Schema und gefährden damit die auf Differenzen basierende Koexistenz zu Deutschen. Denn Deutsche können Türken dann nicht mehr „als Türken verstehen“, weil die dem ‚Türkisch-Sein‘ zugeordneten Deutungsschemata nicht mehr greifen. Sie stellen damit für viele eine Bedrohung dar. Sie gefährden die Aufrechterhaltung von national etikettierten Kulturen, und sie stellen nicht nur die zu Grunde liegenden Oppositionen in Frage, sondern darüber hinaus das „Prinzip der Opposition selbst, die Plausibilität der Dichotomie“ (deutsch-türkisch), „die es suggeriert, und die Möglichkeit der Trennung, die es fordert“ (Bauman 1995, 80). Beide Beispiele zeigen, daß die Annahme vermeintlich gegebener kultu reller Grenzen nicht haltbar ist und daß ‚Kultur‘ gleichermaßen als Zustand wie auch als Prozeß konzeptualisiert werden muß (Schiffauer 1997). So geht der Deutsch-Türkisch-Diskurs einher mit Konstruktionen von Ehre oder gegenseitiger Hilfe. Dadurch kann er in entsprechenden Handlungskontexten aktiviert und zu einer wichtigen Quelle der Akkumulation sozialen Kapitals werden. Indem Unternehmer in ökonomischen Interaktionen auf ihn rekurrieren, tragen sie auch zu seiner Stabilisierung bei. Andererseits aber werden kulturelle Symbole durch ihre kontinuierliche Interpretation und ihren Gebrauch immer neu konstruiert, und vermeintlich stabile Klassifikationsschemata verlieren durch Unternehmer wie Ulvi an Wirkungsmacht, weil es Menschen sind, die prozeßhafte Veränderung implizit in sich tragen und kulturelle Konstruktionen destabilisieren.
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Strategische Transkulturalität Wenn kulturelle Grenzen nicht natürlich existent, sondern diskursiv hergestellt und damit auch veränderbar sind, sind sie dem einzelnen Akteur prinzipiell auch verfügbar. „Transkulturalität als Praxis“ wäre dann nicht nur als Analysekonzept zu lesen, sondern als konkrete Handlungspraxis konkreter Akteure. Dies soll im folgenden am Ausschnitt aus einer biographischen Analyse nachvollzogen werden. Kevsan wird 1968 in einem osttürkischen Bergdorf in der Provinz Sivas geboren und kommt im Alter von drei Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland. Nach Beendigung der Hauptschule und einer Ausbildung als Krankenschwester arbeitet sie ab 1989 im Pflegebereich und holt nebenbei ihr Abitur nach. 1993 bewirbt sie sich erfolgreich um einen Studienplatz und studiert bis 1997 Erziehungswissenschaften. Während ihrer anschließenden Tätigkeit auf einer Sozialstation erwächst die Idee, sich im sozialen Bereich selbständig zu machen. Diese setzt sie 1999 um. 2001 beschäftigt sie bereits mehr als 40 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von mehr als eine Million Euro. Kevsans Urgroßmutter ist Überlebende von Massakern an Aleviten in den 1930er Jahren. In den siebziger Jahren wurden Verwandte aufgrund ihrer Konfession und prokurdischer politischer Aktivitäten verfolgt und ermordet. Dadurch ist die Aufrechterhaltung einer kollektiven Identität bei gleichzeitiger Verheimlichung nach außen ein bedeutendes und im Alltag permanent präsentes Thema in der Familie. Die Anforderung, sich reflexiv mit der Zugehörigkeit zu imaginären Gemeinschaften auseinanderzusetzen, ist somit bereits in Kevsans Familienkonstellation angelegt. Sie setzt sich bis in ihr gegenwärtiges unternehmerisches Handeln fort. Dabei dominieren drei Konfliktlinien: an der Sprache markierte Ethnisierungen kurdisch-türkisch, an der religiösen Orientierung aufgehängte Zuschreibungen alevitisch-sunnitisch und am Geschlecht festgemachte Zuschreibungen zur Rolle Frau-Mann. Alle drei Diskursfelder entfalten in ihrer Biographie eine große Dynamik zwischen Aneignung und Ablehnung der entsprechenden, ihr zugeschriebenen Identitäten. Kevsan erfährt erst nach der Migration nach Deutschland durch die Begegnung mit türkisch sprechenden Mitschülern, daß die sprachliche (kurdisch) und religiöse (alevitisch) Verankerung ihrer Familie in der Türkei Ziel von Verfolgungen ist. Es zeigt sich, daß der in der Türkei hegemoniale Diskurs auch in Deutschland sehr machtvoll ist: In Berlin lernt Kevsan Deutsch und Türkisch, wird durch ihren kurdischen Akzent in 74
der Schule aber als ‚Kurdin‘ identifiziert und auf ‚Kurdisch-Sein‘ festgelegt. Sie ist so einer doppelten Ethnisierung als ‚Ausländerin in Deutschland‘ und als ‚Kurdin unter Türken‘ ausgesetzt. Letztere Diskriminierungen erfährt sie auch über institutionalisierte Machtasymmetrien von ihrer türkischen Grundschullehrerin. Sie begegnet ihnen durch die Entwicklung zweier Handlungsstrategien, die sie bis in die Gegenwart begleiten: einerseits durch Aneignung von Wissen und damit verbundener Anerkennung, andererseits durch Veränderung ihrer Aussprache des Türkischen, was eine Codierung über Sprache unmöglich macht. Auch die Zuschreibungen, als Angehörige einer alevitischen Familie einer „schlimmen, unreinen“ Gruppe anzugehören, werden Kevsan bereits als Kind latent vermittelt, aufgrund der Tabuisierung des Themas durch die Familie aber zunächst nicht öffentlich. Ein offensives „Bekenntnis zum Alevitentum“ in ihrer Pubertät wirkt wie ein Mittel der Befreiung von dominanten Zuschreibungspraktiken und ist für ihre Subjektbildung zunächst auch ‚erfolgreich‘. Es führt allerdings zu Ausgrenzungen durch sunnitische Mitschüler, die sich im Privatleben fortsetzen: Der religiöse Hintergrund ihrer Familie ist Anlaß dafür, daß mehrere Partnerschaften beendet werden. Sie begegnet dem unter anderem dadurch, daß sie sich in ihrer Diplomarbeit mit „Frauenbildern bei Aleviten und Sunniten“ intellektuell auseinandersetzt und erneut durch Wissensaneignung reagiert. Hierdurch bringt sie sich in eine Position, die ihr einen reflexiven Zugang zu unterschiedlichen Konfessionen und damit verbundenen sozialen Praktiken und Diskursen verschafft. Das kann als eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der Fähigkeit zur ‚strategischen Transkulturalität‘ betrachtet werden, die sie in ihrer späteren unternehmerischen Praxis in Wert setzt. So läßt Kevsan in ihren gegenwärtigen Kundenkontakten durch die Wahl ihrer äußeren Erscheinung – formaler Businesslook und perfektes Makeup – eine Zuordnung zu einer ethnischen oder konfessionellen Gruppe entlang äußerer Kennzeichen nicht zu. Sie gibt sich über diese Distink tionsmerkmale vielmehr als Geschäftsfrau zu erkennen und verschafft sich dadurch zunächst Respekt und Distanz. Auch sprachlich ist sie nicht festzulegen. Gleichzeitig – und das ist entscheidend – hat sie durch die praktische wie reflexive Auseinandersetzung mit machtvollen Zuschreibungen und in der Dynamik zwischen Aneignung und Ablehnung solcher extern an sie herangetragenen Identitätspositionen die Fähigkeit entwickelt, mit kulturellen Kodierungen flexibel umzugehen und sie situativ einzusetzen. Diese hier als ‚strategische Transkulturalität‘ bezeichnete Fähigkeit, 75
die nur vor dem Hintergrund ihrer Familienkonstellation und ihrer Biographie beziehungsweise den darin erworbenen biographischen Ressourcen verstanden werden kann, trägt wesentlich zu Kevsans ökonomischem Erfolg bei. Das zeigt sich exemplarisch in einer Interaktionssituation mit einem Kunden: „Ich gehe hin, stelle mich vor. [Der Kunde] ist jünger als ich, guckt mich an und sagt: ‚Guten Tag, nehmen Sie Platz.‘ Ich habe Platz genommen, da habe ich gesagt: ‚Auf was warten wir denn?‘ Da meint er: ‚Auf ihren Chef.‘ Da habe ich gesagt: ‚Wie bitte? Ich habe keinen Chef.‘ Da meint er: ‚Die Firma hat doch einen Chef.‘ Da habe ich gesagt: ‚Die Firma hat eine Chefin, und das bin ich.‘ Guckt er mich an, wirklich so hier: ‚Sie?‘ Und der ist ja so groß, und dann stand ich und da macht er mit dem Finger: ‚Sie sind die Chefin? Nee, dann wollen wir sie nicht haben.‘ Da habe ich gesagt: ‚Warum wollen sie mich nicht haben?‘ ‚Nee, die Firma wird von einer Frau geführt […].‘ Ich stand da, und die Frau kam, hat mich so mit einem Kopfnicken gegrüßt, war vermummt.“ Bei einem Gespräch, in dem es sich, rein geschäftlich betrachtet, um die Verhandlung eines Auftrages und eine Kundenakquisition handelt, findet sich Kevsan in einer Situation wieder, die zunächst nicht von ökonomischen Parametern wie Kosten und Qualität, sondern von anderen Bedeutungszuschreibungen bestimmt wird. Sie sieht sich mit traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen konfrontiert. Weder ihre hervorragenden beruflichen Referenzen, die sie ansonsten als ein probates Mittel zur Auftragsakquisition einsetzen kann, noch die äußeren Kennzeichen ihres Auftretens als Geschäftsfrau werden als Symbole für berufliche Qualifikation akzeptiert. Sie muß die in der Verhandlungssituation geltenden Deutungsschemata redefinieren und stellt sich darauf anhand zweier Symbole ein: Einerseits greift sie die herabsetzenden Äußerungen des Familienvaters und sein Rekurrieren auf einen entsprechend traditio nellen Diskurs über die Rolle der Frau auf, andererseits das äußerliche Kennzeichen der „Vermummung“ seiner Ehefrau. Sie zieht daraufhin andere Deutungsschemata und Codierregeln heran: „Da meint er: ‚Ja, wenn eine Firma von einer Frau geleitet wird. Außerdem ist ihre Firma ja ganz neu. Weiß nicht, ob sie Pleite macht und eine Frau kann doch keine Firma führen.‘ Da habe ich gesagt: ‚Wissen Sie. Wenn Ihr Problem das ist, daß ich Pleite mache, kann ich Ihnen sagen, ich habe supergute Rückendeckung. Mein Bruder hat selber eine Firma. Ich würde niemals Konkurs gehen, weil er mir über die Durststrecke helfen würde.‘ […] Dann wurde er etwas weich, und dann sagte er so von oben herab. 76
‚Wer ist denn Deine, wer ist denn Dein Bruder, der Dich unterstützt?‘ Und dann dachte ich mir, ob ich die Wohnung verlassen oder bleiben soll. Da habe ich gesagt: ‚Firma X ist mein Bruder und Firma Y.‘ Da meint er: ‚Ach der, der in [Straßenname] ist. Natürlich. Den kenne ich. Dann gibt’s ja kein Problem‘.“ Ökonomisches Handeln ist immer auch ‚kulturelles‘ Handeln in dem Sinne, als daß in der (wie in jeder) unternehmerisch relevanten Inter aktionssituation ‚Kundenakquisition‘ zunächst die geltenden Deutungsschemata verhandelt werden. Kevsan erkennt dabei, daß die Symbolik ‚ausgebildete, qualifizierte Fachkraft‘ keine Wirkung entfaltet. Sie iden tifiziert ein anderes Diskursfeld als situationsdefinierend und paßt sich den dabei geltenden Codierregeln an. Hier wird auch deutlich, daß Fragen der Macht, verstanden als Fähigkeit, seine Deutungsmuster durchzusetzen, bei der Betrachtung der kulturellen Aspekte unternehmerischen Handelns zentral sind. Denn Kevsan rekurriert auf Repräsentationsinstrumente, die aus den in der Akquisesituation über Machtasymmetrien durchgesetzten Deutungsschemata erwachsen, und reproduziert und stabilisiert damit gleichzeitig den entsprechenden Diskurs: Sie entwertet ihre beruflichen Qualifikationen und Fähigkeiten und benutzt Codes, in denen sie ihre Qualitäten ausschließlich durch die gesellschaftliche Position ihres älteren Bruders bezieht. Dadurch erhält sie letztlich den Auftrag. In einer Art Globalevaluation erklärt sie eine solche situationsabhängige Verortung zu unterschiedlichen kulturellen, weil Sinn bildenden Deutungsschemata im Sinne einer ‚strategischen Transkulturalität‘ zu ihrem unternehmerischen Leitprinzip: „Ich sag’ immer also: […] ‚Wenn Sie wollen, daß ich ’ne Kurdin bin, dann bin ich ’ne Kurdin. Und wenn Sie sagen, ich soll ’ne Sunnitin sein, dann bin ich ’ne Sunnitin‘.“ Der Ausschnitt aus der Biographieanalyse Kevsans und die Unternehmerzitate bestätigen eine Ausgangsüberlegung zu „Transkulturalität als Praxis“. Kulturelle Grenzen sind nichts naturhaft Gegebenes, sondern Kon strukte, die diskursiv vermittelt sind und durch die Handlungspraxis (re-) produziert werden. Die drei empirischen Beispiele stehen dabei für unterschiedliche Varianten der Herstellung, Reproduktion und Bearbeitung kultureller Grenzen. Damit ist aber auch Zugehörigkeit keine A-prioriGröße, die sich durch ‚Sein‘ ergibt, sondern die durch soziale Praxis hergestellt wird – und damit prinzipiell auch veränderlich ist. Dieser Aspekt wird bei Arbeiten, die auf ‚kulturelle Embeddedness‘ verweisen und dies an vermeintlich ‚geteilten Normen und Werten‘ eines Kollektivs fest machen, häufig übergangen. 77
Solche Grenzziehungen beruhen häufig auf einer räumlich relationierten Symbolik, indem sie entlang einer imaginären Herkunft markiert werden. Dadurch, daß sie das Innen vom Außen trennen und damit Gemeinschaften herstellen, sind sie immer auch ein Akt der Identitätskonstruktion. Solche (Selbst-)Verortungsprozesse müssen als wesentliches Element beachtet werden, wenn kulturelle Aspekte unternehmerischen Handelns untersucht werden sollen. Unternehmer bewegen sich – wie alle handelnden Subjekte – in einem Feld, in dem permanent Identitätspositionen verhandelt werden. Wie die Beispiele Kevsan und Ulvi zeigen, sollte die Vorstellung von einer ‚wesenhaften‘ Identität dabei aber ebenso aufgegeben werden wie die Vorstellung einer ‚wesenhaften‘ Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Vielmehr erscheint der Begriff ‚Verortung‘ adäquater als der Begriff der ‚Identität‘, da in ihm mit dem Handlungsakt (sich verorten), dem Zuschreibungseffekt (verortet werden) und dem situativen Charakter (Verortung als immer wieder neu kontextualisiertes Phänomen) drei Aspekte zusammenfließen, die für die Konstruktion von Identitätspositionen konstitutiv sind. Der Aspekt der Verortung ist zentral, um in vermeintlich rein ‚ökonomischen‘ Interaktionssituationen die Handlungen der Akteure zu verstehen. Im Sinne einer Transkulturalität als konkreter Handlungspraxis können diese sich nämlich in mehreren imaginären Gemeinschaften verorten und besitzen damit prinzipiell die Fähigkeit, kontextbezogen auf unterschiedliche symbolische Deutungsschemata zu rekurrieren und sie in ihrem Handeln einzusetzen. Die Existenz der alltäglichen Kompetenz zu Transkulturalität kann bei jedem Unternehmer angenommen werden, weil in jeder ökonomischen Interaktion (meist unausgesprochen) ‚verhandelt‘ wird, welche Deutungsschemata die Situation definieren. Auf der Ebene des einzelnen Akteurs kann die Fähigkeit zur Transkultu ralität weiter ausdifferenziert werden: Alltägliche Transkulturalität bezeichnet das routinisierte Heranziehen von Deutungsschemata, um zum Beispiel in Interaktionssituationen Bedeutungsgleichheit mit Interaktionspartnern herzustellen. Solche Routinen sind – in terminologischer Anlehnung an Giddens (1997, 57) – im „praktischen Bewußtsein“ verankert und stehen dem Handelnden in einer reflexiven Auseinandersetzung in der Regel nicht zur Verfügung. Strategische Transkulturalität bezeichnet dagegen eine absichtsvolle reflexive Verortung. In wiederkehrenden Interaktionssituationen verhandelte Deutungsschemata können dem Akteur im „diskursiven Bewußtsein“ zur Verfügung stehen. Das versetzt ihn in die Lage, mit Identitätscodierungen flexibel umzugehen und sich situa78
tionsabhängig und intentional auf unterschiedliche Bezugssysteme einzustellen. Strategische Transkulturalität, das Beispiel von Kevsan hat es gezeigt, ist damit eine ökonomisch verwertbare Ressource, die Handlungsspielräume bei der Marktbearbeitung erweitert und dem Unternehmer die Teilhabe an unterschiedlichen sozialen Beziehungen ermöglicht. Anmerkungen Erschienen in Petermanns Geographische Mitteilungen 147 (2): S. 76–83. Die vorliegende Fassung wurde von den Herausgebern leicht gekürzt. 1 Berliner Zeitung vom 6.7.2002. Der „kranke Mann vom Bosporus“ bezeichnete um die Jahrhundertwende das geschwächte Osmanische Reich. 2 Die Woche vom 18.12.1998 3 In Deutschland stammten die ersten und meisten Arbeiten zu diesem Themenkomplex vom Zentrum für Türkeistudien (v. a. ZfT 1989, sen 1997, Goldberg und Sen 1997, Goldberg et al. 1999). Daneben fokussieren Arbeiten im deutschsprachigen Raum auf die Themen Existenzgründungen von Frauen (Kontos 1997), Beschäftigungsverhältnisse in „ethnischen Ökonomien“ (Wilpert 1998, Hillmann 2002), arbeitsmarktpolitischer Kontext der Selbständigkeit von Ausländern (Loeffelholz, Gieseck & Buch 1994) und Integrationswirkungen von Selbständigkeit (Bukow 1993, Özcan & Seifert 2000). Daneben existieren Studien zu ausländischen Unternehmern am Fallbeispiel Berlin (Rudolph & Hillmann 1997, Pécoud 2001 sowie Arbeitsgruppe um Scholz mit Publikationen in „Occasional Paper“ Geographie der FU Berlin). 4 Einer ähnlichen Idee folgt auch Boeckler (1999) bei seiner Konzeptualisierung von „Kultur als diakritische Praxis“, als fortwährendes Einfügen von kontingenten Unterscheidungen in die prinzipiell nicht getrennte Welt.
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Schaufensterdekoration in Berlin-Neukölln, Foto © Gerda Heck
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Michel Peraldi
Marseille: der Geist der Krise und die Ökonomie des Basars
Das Foto zum Artikel zeigt einen Mann und eine Frau. Nur der aufmerksame Beobachter bemerkt die Anspannung, die in ihrem Lächeln liegt. Auf der Mauer hinter ihnen sind Schuhe ausgestellt. Ein ruhiger Tag im Oktober 1996, die Lokalpresse widmet dem eher unbedeutenden Ereignis eine ganze Seite. Raymond und Rose Marie S., die so viel Aufmerksamkeit gar nicht gewohnt sind, müssen ihr Geschäft schließen, das sie seit fast sechzig Jahren auf der Canebière betrieben haben. „Jimmy Chaussure“ stand in den fünfziger Jahren hoch im Kurs und erlangte sogar eine gewisse Berühmtheit. Mike Brant, Claude François, Dalida, um nur einige Größen des Showbusiness zu nennen, bezogen von hier ihre Schuhe. „Jimmy“ verkaufte hochwertige Schuhe, die in den armenischen Werkstätten von Belsunce in Handarbeit hergestellt wurden. Irgendwann ließen die Umsätze nach, erst langsam, der Anfang vom Ende der Canebière. Das Geschäftszentrum der Stadt stahl sich in südlichere Viertel davon. Als erste machten die Kaufhäuser dicht, dann die Bars und das große Hotel Noailles, die Kinos und nun auch Jimmy. So unbedeutend es erscheinen mag, dieses Ereignis hat Symbolwert, und entsprechend wird es in der Lokalpresse auch gewürdigt: Es markiert nicht irgendeine Krise, sondern das Ende einer Epoche und ihrer städtischen Ordnung. Mit seinen Vorzeigegeschäften, die durch nichts Vergleich bares ersetzt werden, verliert Marseille nicht nur ein spezielles Aktivitätsfeld, sondern mehr noch die Zuversicht, die es aus seiner internationalen Bekanntheit zog. Bei „Jimmy Chaussures“ kauften die Stars, das Hotel Noailles beherbergte Diven und Staatspräsidenten, eines Tages wurde auf offener Straße sogar ein echter Prinz ermordet. Marseille ist nicht einfach eine verblühende Stadt, es ist ein verlöschender Stern. Diese Bedeutung möchte wenigstens die lokale Presse dem Anlaß verleihen. Seit über zehn Jahren* vermittelt die Stadt nun schon eine Vorstellung von sich selbst, die fest im Mythos des Niedergangs verankert ist. Marseille ist Objekt in zahllosen lokalen, nationalen und manchmal sogar internationalen Medien, natürlich mit all dem Spektakel, das einer zu ihren besten Zeiten 82
international berühmten Stadt gebührt. Der dramatische Blick auf das Ende einer Epoche und ihrer urbanen Konfiguration findet öffentliches Interesse, und die Stadt will in Zeiten der Agonie im Rampenlicht bleiben. Sie politisiert das Problem und macht ihre Renaissance zum Dauerthema politischer Diskurse und Kampagnen. Nicht ein Blumenbeet, nicht eine Straßenlaterne, nicht ein Bordstein, deren Einweihung ohne feierliche Ansprache vonstatten ginge, um zu betonen, daß eben diese symbolische Geste den Beginn einer neuen Ära markiere, endlich, mindestens. Die Canebière und das Geflecht der sie umgebenden Straßen sind die Bühne, auf der das Bedürfnis von drei Stadtverwaltungen, historische Bedeutung zu erlangen und die Geschichte der Stadt zurückzudrehen, seine Spuren hinterlassen hat. Mal ist ein Kino durch eine Polizeiwache ersetzt worden, als man noch glaubte, Sicherheit durch Polizeipräsenz vorgaukeln zu können, anderswo wurden Banken oder Bars vom Fremdenverkehrsamt verdrängt, weil man dachte, Marseille würde sich zu einer Touristenstadt entwickeln. In einem ehemaligen Bekleidungsgeschäft eröffnete ein Modemuseum. Schließlich bezogen Einrichtungen der Universität alte Kinosäle und Kaufhäuser, denn Studenten scheinen das ideale Publikum für die Canebière zu sein – ihrem Umfeld gegenüber tolerant bis gleichgültig. In vielen Chansons als eine der schönsten Promenaden der Welt besungen, ist die Canebière heute nur noch eine provinzielle Einkaufsstraße mit kläglichen Angeboten hinter prachtvollen Fassaden. Aber man sehe sich in den Seitenstraßen um: auf einer Seite Basare, Konfektionsgeschäfte mit billiger Stangenware, türkische und tunesische Restaurants, „Erwachsenenkinos“ und Sex-Shops. Auf der anderen Seite Metzgereien, die nach islamischem Ritus schlachten, exotische Gewürzläden, ägyptische Imbißbuden und noch mehr Basare. Samstag für Samstag tobt hier das Leben, dicht, sorglos und überschwenglich, urban, farbig und verschiedenartig, dabei aber zu, ja: zu volkstümlich, zu offenkundig eroberungslustig, zu fremdartig. In der Gegend um die Canebière prallen zwei Gegensätze aufeinander: die bereinigte Stadt, Ergebnis der Sanierungsstrategien der verschiedenen Stadtverwaltungen, um die „Krise des Zentrums“ zu bewältigen, und die Vitalität eines als ausländische Bedrohung dargestellten Marktkapitalismus. Auf einer Seite der laute Basar und die Menschenmenge, auf der anderen architektonische Strenge, guter Geschmack und Grabesstille. Diese urbane Inszenierung betrifft nicht nur die Canebière. Sie hat das ganze alte Zentrum erfaßt, das strategische Dreieck zwischen dem Hafen und dem Bahnhof, in dem sich einst all die Dichte und Intensität konzen83
trierte, von der eine Stadt lebt. Was in anderen Städten, in anderen Vierteln, die Form einer Konkurrenz zwischen verschiedenen sozialen Gruppen annehmen würde, die sichtbar um die Besetzung der urbanen Szenerie wetteiferten, wird hier, mit schwerwiegenden Konsequenzen, zum großsprecherischen Gegeneinander zwischen den Behörden und den Initia tiven derer, die man zu gerne als „Fremde“ abtun würde. Als ob man uns damit zwei Dinge glauben machen wollte: erstens die alte Strategie, Gefahren zu beschwören und das „Andere“ abzulehnen, als ob der Wohlstand der „anderen“ nur sie selber reich machen würde, als ob dieser – entgegen allen wirtschaftlichen Grundregeln – nicht auch der Stadt zugute käme, als gäbe es „gute“ und „schlechte“ Geschäfte, als wären ägyptische Sandwiches wirtschaftlich oder gar sozial weniger wert als beispielsweise eine Pizza. Und zweitens, daß es die Aufgabe der Politik und der Behörden sei, diese Krise zu bewältigen, daß angesichts der Gefahr sie die einzige Rettung seien, daß das Heil für die krisengeschüttelte Stadt einzig und allein im behördlichen Eingreifen zu finden sei. Im Unterschied zu dem, was seit einigen Jahrzehnten als klassische Logik der Rehabilitierung und Wiederbelebung verfallender Stadtzentren praktiziert wird, sind es hier nicht die Künstler, die als erste anrücken, um die Ankunft neuer Besitzer vorzubereiten, sind es nicht Firmensitze oder Luxusläden, die das Umfeld prägen, und auch keine kulturellen Orte. Die Verwaltung und die städtischen Wohnungsbaugesellschaften üben ihr Vorkaufsrecht aus, um die Häuser für ihre „guten“ Mieter zu reservieren; einzig die städtischen Versorgungsunternehmen und einige Fachbereiche der Universität haben sich hier neu angesiedelt. In einer seltsamen Doppeldeutigkeit sterilisiert das Sanierungsprogramm die Räume, derer es sich annimmt, indem es sie gleichsam einfriert und ihnen für lange Zeit jede Plastizität nimmt, jenes Potential der Städte, zu sterben und sich zu erneuern, sich aufzulösen und neu zusammenzufügen, im Rhythmus der Veränderungen, die die Städte hervorbringen. In diesem Paradox liegen alle Spannungen beisammen, die Marseille heute erlebt, eine Krise, die nicht nur eine der Wirtschaft ist, sondern fast schon so etwas wie Widerstand gegen die Modernität. Formen des Niedergangs Seit Mitte der siebziger Jahre bis 1990 hat Marseille mehr als 10.000 Einwohner pro Jahr verloren. Weit gefehlt, zu glauben, diese Entwicklung 84
wäre danach gestoppt worden; man hat nur einfach aufgehört, zu zählen. Im selben Zeitraum hat die Stadt auch das Gerüst ihrer Industriestruktur weitgehend eingebüßt: Über 50.000 industrielle Arbeitsplätze sind allein in der Dekade zwischen 1975 und 1985 weggefallen. Die Krise erfaßte zuerst, und das schon lange vor der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, die ältesten Industriezweige: Ölraffinerien, Seifenfabriken, Chemie – all jene, die das Ansehen der Stadt geprägt und ihren Namen auf dem Erdball bekannt gemacht haben (Seife aus Marseille). Sie griff dann auch auf die größten Unternehmen über, jene, die aus der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts hervorgegangen waren: Schwer- und Leichtindu strie, Schiffswerften, Ziegeleien. Die Arbeitslosigkeit wuchs proportional zur industriellen Verödung. Insgesamt liegt die Arbeitslosenquote der Stadt bei 20 Prozent. In den benachteiligten Vierteln im Norden der Stadt übertrifft die Rate sogar 30 Prozent und klettert bei bestimmten Personengruppen bis auf 45 Prozent: bei den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 und bei älteren ungelernten Arbeitern. 15 Prozent von Marseilles Bevölkerung leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, und die Einkünfte nahezu der Hälfte seiner Einwohner sind so geringfügig, daß sie keine Steuern zahlen. Die Krise von Marseille ist aber insofern spezifisch, als zu einem Phänomen, das so gut wie alle Städte der westlichen Welt in den letzten zwanzig Jahren* erleben mußten, nämlich die Entindustrialisierung durch weltweite Umstrukturierung der kapitalistischen Volkswirtschaften, noch das besondere Merkmal der Sterilisierung des lokalen ökonomischen Geflechts hinzutritt. […] Marseille ist, anders als die Gemeinden in der Region, aus den tiefgreifenden Umstrukturierungen des lokalen Industrieapparats geschwächt hervorgegangen. Der Hafen ist ein anschauliches Beispiel für diese Umstrukturierung. Seit den sechziger Jahren ist die Hafengesellschaft im Besitz der öffentlichen Hand und wird paritätisch verwaltet vom Staat, der den Direktor bestimmt, von der Marseiller Handelskammer, von den Gemeinden, auf deren Territorien die Hafenanlagen liegen, von den Geschäftsführern der Hafenverwaltung, Unternehmern und Gewerkschaften. Räumlich umfaßt der Hafen Quais von circa 60 Kilometern Gesamtlänge, die sich auf fünf Gemeinden des Departements verteilen: Marseille, Port de Bouc, Martigues, Port Saint Louis du Rhône und Fos. In der letztgenannten Gemeinde, die etwa 70 Kilometer von Marseille entfernt am Rand der Camargue liegt, wird fast der gesamte Hafenverkehr abgewickelt. Hier werden die Container verladen, das industrielle Massengut und 85
besonders die Raffinerieprodukte, die allein 70 Prozent der Hafenaktivitäten ausmachen. Nach umfangreichen Rationalisierungen erfordern diese Aktivitäten nur noch wenig Lagerhaltung und Arbeitskraft und bringen der Stadt so gut wie keine Vorteile. Marseille ist der Passagierverkehr zwischen Korsika und Algerien geblieben und nur ein kleiner Teil des Warenverkehrs, insbesondere Zitrusfrüchte. Durch seine hermetische Absperrung, den zunehmenden Verzicht auf den Einsatz menschlicher Arbeitskraft (von 2.000 Dockarbeitsplätzen 1970 sind heute* nur noch 800 übrig) und die Beschleunigung der Rotations zyklen hat sich der Hafen der Stadt entledigt. Die Bars, die Restaurants, die von ihm lebten, sind längst geschlossen, genauso wie die vielen Seemannskneipen und einschlägigen Etablissements, die noch vor dreißig Jahren das Hafenleben bestimmten. Seit den fünfziger Jahren haben sich die Behörden in Marseille, wie auch in anderen Städten, in eine Politik der Großprojekte gestürzt, deren Liste in jedem Wahlkampf heruntergebetet wird und die Stelle eines Parteiprogramms der außerordentlich haltbaren lokalen Allianz einnimmt, die Gaston Defferre über dreißig Jahre lang an der Macht hält. Zwei Themen dominieren: der Straßenbau und, nach einer kurzen, aber intensiven Zeit der Bodenspekulationen und der Entwicklung des privaten Hausbaus Anfang der sechziger Jahre, ein großangelegtes Programm zum Bau von Sozialwohnungen. Mit der Begeisterung einer Epoche, in der die Stadtregierung sich als Planungsbehörde und die Bürgermeister sich als Städtebauer verstanden, wurde Marseille dem Automobil geöffnet, ja geradezu ausgeliefert. Es gehört wahrscheinlich zu den wenigen europäischen Städten, in denen gleich drei Autobahnen bis ins Zentrum vorstoßen, das von Tunnels unterhöhlt ist, davon sogar einer unter dem Alten Hafen, von Schnellstraßen durchzogen, mit Fußgängerbrücken bestückt. All diese Bauwerke wurden von der lokalen Presse hochgelobt wie Großtaten in einem unendlichen Heldenepos. Die öffentlichen Wohnungsbauprogramme wurden in Marseille später gestartet als anderswo in Frankreich. Anfang der siebziger Jahre, als der damalige französische Bauminister den Bannfluch über die Zones d’Urbanisme Prioritaire (Vorzugs-Bebauungsgebiete) verhängte, indem er ein feierliches „Nie wieder“ verkündete und sich an die Entwicklung eines Sanierungsprogramms machte, wurden in Marseille gerade eben die ersten Zyklopenstädte fertiggestellt. Über den brutalen und im weitesten Sinne totalitären Typ von Stadtplanung ist schon viel geschrieben worden und wird weiterhin viel geschrieben werden. Von einer seiner Auswirkungen wird hingegen wenig gesprochen, obwohl sie von größter Bedeutung für 86
die Stadt und ihre soziale Organisation ist. Die Großsiedlungen haben die erhebliche Ausdehnung des Öffentlichen Dienstes erlaubt und zur Entwicklung der Mittelschichten beigetragen, aus denen sich ihre Angestellten rekrutieren. Manches Kind eines Arbeiters aus den Tagen des Industriezeitalters hat dort nicht nur eine Arbeitsstelle gefunden, nachdem es in den Fabriken keine mehr gab, sondern damit auch eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Die Behörden gewannen an Einfluß, und die politischen Gremien wandelten sich zu Verwaltungsapparaten. Während Marseille sich noch in den Mythen der Vorkriegszeit sonnte, sich für eine Industrie- und Handelsstadt hielt, weltoffen und von den Strömen des internationalen Lebens durchflossen, war es längst eine provinzielle Beamtenstadt. Heute ist der Öffentliche Dienst der Hauptarbeitgeber; die mächtige Assistance Publique, oberste Dienstherrin der Krankenhäuser und Gesundheitsdienste, beschäftigt 15.000 Personen, die Stadtverwaltung steht mit 12.000 ständigen Angestellten an zweiter Stelle, ohne daß dabei die zahlreichen Beschäftigten der ausgelagerten städtischen Dienststellen berücksichtigt sind. Anläßlich einer neueren Umfrage in den nördlichen Stadtbezirken wurden nicht weniger als 6.000 Personen gezählt, die allein für die „Animation Socioculturelle“, das Amt für soziale und kulturelle Dienste, arbeiten. Von den zehn wichtigsten Unternehmen der Stadt gehören sieben zum Öffentlichen Dienst, so z. B. der Handelshafen, in dem heute ebenso viele Angestellte und Beamte beschäftigt sind wie Dockarbeiter und Lager personal. Für die Mittelschicht waren auch die großen sozialen Wohnungsbauprojekte am Stadtrand realisiert worden, um ihr zu ermöglichen, die verfallenden Quartiere des Stadtzentrums zu verlassen. Als sie dann zur bevorzugten Zielgruppe der Politik der Eigentumsförderung wurde, die seit den siebziger Jahren verfolgt wurde, war es eben diese Mittelschicht, die in Scharen die Stadt verließ, um sich in den umliegenden Gemeinden in Einfamilienhaus-Siedlungen niederzulassen, deren enorme Ausdehnung inzwischen das Bild der Metropolen-Landschaft prägt. Die postindustrielle Stadt Heute hat in Marseille die Mittelschicht die politische und soziale Vorherrschaft, nachdem sich das Bürgertum, das während der produktiven Zeiten in der Stadt gesellschaftlich tonangebend gewesen war, weitgehend zurückgezogen hat. 87
Über ein Vierteljahrhundert lang konnte man beobachten, wie Beamte, Anwälte und vor allem Mediziner die Schaltstellen in der Stadtverwaltung einnahmen, die früher dem Großbürgertum aus Handel und Industrie vorbehalten waren. Tatsächlich waren es in höchst symbolischer Weise ein Anwalt, ein Chirurg und ein Lehrer, die sich zuletzt im Amt des Bürgermeisters von Marseille abgelöst haben. Die starke Mitwirkung in den politischen Parteien, egal welcher Richtung, von Beamten, vorwiegend Lehrern, und von Angehörigen der medizinischen Berufe bildet seit über dreißig Jahren eine Konstante des öffentlichen Lebens dieser Stadt. Sie kontrastiert mit der militanten Einflußnahme und dem Eintritt von Führungskräften und Technikern aus der Industrie in die Politik, wie es beispielsweise in den aufstrebenden Städten Aix-en-Provence, Grenoble oder Toulouse gang und gäbe ist. Diese neue städtische Elite wohnt entweder im Süden der Stadt, in den Wohngebieten auf den Hügeln oder am Ufer des Mittelmeers, die zu Zeiten des Großbürgertums Anfang des Jahrhunderts in Mode waren; kleine Nischen und dörfliche Enklaven, die vom städtischen und industriellen Wachstum weitgehend verschont geblieben sind, oder auch ganz außerhalb von Marseille, im Hinterland. Nur ein kleiner Teil der neuen Eliten entstammt den großen bürgerlichen Dynastien des 19. und 20. Jahrhunderts, die meisten sind Einwanderer der zweiten und dritten Generation, Nachfahren der Immigranten, die in den Zeiten des großen industriellen Aufschwungs nach Marseille gekommen sind: Armenier, Korsen und besonders Italiener. Sie verwirklichen so den Traum ihrer Väter vom sozialen Aufstieg, ehemals kleine Händler, Angestellte, aber zumeist Arbeiter oder Bauern aus allen Teilen des Mittelmeerraums, die dazu neigen, Integration mit dem Erwerb von Statussymbolen zu verwechseln. Ein hohes schulisches Ausbildungsniveau ermöglicht den Zugang zu attraktiven Positionen in Wirtschaft und Verwaltung und, in der Folge, zu Immobilienbesitz. In diesem kulturellen Umfeld stellen finanzielle Sicherheit und Wohneigentum die höchsten Werte dar. Diese Elite, die sich mehr durch den Erwerb angesehener Positionen und die Herrschaft über die Verteilung der öffentlichen Mittel herausgebildet hat und weniger durch Vermögen oder die Kontrolle über die Produktion, teilt weitgehend sowohl die Werte als auch die kulturelle und soziale Herkunft mit der anderen sozio-professionellen Welt, die heute den größten Teil der erwerbstätigen Bevölkerung von Marseille darstellt: Angestellte im Öffentlichen Dienst und der Verwaltung. Je nach Einkommensniveau 88
Eigenheimbesitzer oder künftige Eigenheimbesitzer, teilen sie alle dasselbe Ideal der Stabilität von Amt und Stellung. Die größte Bevölkerungsgruppe dieser Stadt aber bilden jene, die beim Umbau der Wirtschaftsstrukturen auf der Strecke geblieben sind: Arbeiter in unsicheren Verhältnissen, Gelegenheitsarbeiter, illegal Beschäftigte, Langzeitarbeitslose, die in hoffnungslos veralteten Berufen ausgebildet sind, eben alle, die durch die engen Zugangsvoraussetzungen zum Arbeitsmarkt endgültig als untauglich abgestempelt werden. Wie überall in Frankreich setzt sich diese veränderte Welt langsam aber sicher gegenüber der hergebrachten durch, in einem Maße, daß Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit so alltägliche und bekannte Phänomene sind, daß jeder in seiner Familie oder seinem Bekanntenkreis die Auswirkungen beobachten kann. Der „Geist der Krise“ tritt nicht nur durch den heftigen Einbruch des sichtbaren Elends in unsere Welt des Überflusses. Er tritt uns auch entgegen in der Gestalt des Gemeindeangestellten, der seinen Posten noch mittels Protektion erhalten hatte, während seinem Sohn dieses „Recht“ verwehrt wird, oder auch in der Gestalt des ehemaligen Arbeiters, der all seine Aufstiegshoffnungen in seinen Nachwuchs gelegt hatte und nun mit ansehen muß, wie die diplomierten Söhne zur Arbeitslosigkeit verdammt sind. Marseille, das ist eine Binsenweisheit, ist eine Stadt der Immigranten. Die Bevölkerung rotiert in einem Zyklus, in dem jede einmal ansässig gewordene Einwanderergeneration ihren Platz an die nächstfolgende weitergibt. Auch wenn dieses Ablöseverfahren nicht ohne Blessuren, Konflikte und gelegentlich wilde Reibereien abgeht, ist es doch ein funktionierendes Prinzip, das den Rahmen und die Regeln des Miteinander geformt hat. Denn der „Etablierte“ kann sich um so mehr seines Schicksals und des Weges, den es ihn geführt hat, erfreuen, wenn er auf andere zurückblicken kann, die es noch nicht so weit gebracht haben. Die Integration stützt sich eben auch auf das Gefühl der Sicherheit, das sich durch die Anwesenheit der „outsiders“ den Etablierten vermittelt, und ermöglicht somit die enge räumliche Nachbarschaft. Das genau austarierte Miteinander wird unterbrochen, wenn der Arbeitsmarkt seine Türen schließt. Die letzte Einwanderungswelle, hauptsächlich algerischen Ursprungs, erreichte Marseille Anfang der siebziger Jahre, als der Prozeß der Deindustrialisierung soeben begonnen hatte. Die Algerier waren die ersten, die entlassen wurden, als die letzten großen Werften dichtmachten, als die großen Fabriken umstrukturiert oder ganz geschlossen wurden. Und sie wurden entlassen, noch bevor sie ihre Existenz hätten 89
stabilisieren können, durch den Zusammenschluß zu politischen Organisationen, durch Aufbau von Beziehungsnetzen und professionelle Solida rität. So blieben sie unter sich, in den ersten Wellblechstädten oder den Wohnheimen und verwahrlosten Unterkünften des Stadtzentrums. Schwer von Arbeitslosigkeit und unsicheren Arbeitsverhältnissen betroffen, sind diese letzten Migranten in besonderem Maße abhängig von öffentlicher Fürsorge und deshalb besonders oft Opfer von Bevormundung durch die Institutionen, die öffentliche Unterstützungen verwalten. Die „Maghrebiner“ in Marseille bilden eine eigene Gemeinschaft, im anthropologischen Sinne des Wortes. Dieser generische Begriff, der allgemein benutzt wird, wenn man von ihnen spricht, und den sie mehr und mehr auch für sich selbst anerkennen, ist bezeichnend für ihre Situation. Der Begriff Maghrebiner entspricht keiner wirklich existierenden Gemeinschaft, weder kulturell noch ethnisch, noch nicht einmal national, er zeugt mehr von dem historischen Band der Abhängigkeit, das durch die Kolonisation zwischen den Völkern Algeriens und der Großmacht gespannt wurde. Der Begriff ist weniger der Ausdruck einer gemeinschaftlichen Identität, er ist das Zeichen der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen historischen Schicksal. Die Präsenz der Algerier in Marseille hat eine lange Geschichte, die bis zum Ersten Weltkrieg zurückreicht, als Arbeitskräfte aus der dortigen Bevölkerung, vorwiegend Kabylen, mehr oder weniger zwangsgeworben wurden, um die in den Krieg kommandierten französischen Arbeiter zu ersetzen. Mit ihnen kamen auch die „maurischen Kaffeehändler“, die Handelstraditionen einführten, die seither regulär weiterbestehen. Angefangen vom gelegentlichen Zustrom bis zur großen Einwanderungswelle in den siebziger Jahren, ist die Anwesenheit algerischer Arbeitskräfte im Hafen, auf den Werften und in den Fabriken eine Konstante dieses Jahrhunderts. Aber die sozialen und kulturellen Unterschiede sind groß zwischen den Erst-Gekommenen, die im großen und ganzen dieselben Wege gegangen sind wie die Italiener entsprechenden Hintergrundes, und denen, die nach der Blütezeit kamen und vor verschlossenen Türen standen. Und genauso groß ist der Unterschied zwischen den letzten Einwanderern der postindustriellen Ära, so schwierig und leidvoll ihre Lebensbedingungen auch sein mögen, und denen, die heute auf der Flucht vor dem algerischen Bürgerkrieg durch Marseille kommen.
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Der Mythos „Dorf“ Anläßlich der letzten Gemeinderatswahl 1995, die die rechten Parteien UDF und RPR an die Macht brachte, kreiste der Wahlkampf um das Thema „Aufblühen dörflicher Kerne“ in der Innenstadt. Dieses Thema, von links bis rechts heiß diskutiert, wird von einigen Intellektuellen auf die „spezifisch Marseiller“ Tradition der territorialen Verankerung bestimmter Bevölkerungskreise in eigenen Mikro-Urbanitäten zurückgeführt. Der Begriff „Dorf“ und das Thema „dörfliches Leben“ scheinen so gut auf den durchschnittlichen Lebensstil in ländlichen Dorfkernen zu passen, die während des 19. Jahrhunderts Schritt für Schritt von der Stadt absorbiert wurden. Die Urbanisierung hat längst auch die Fischerdörfer erreicht, die Einfamilienhausgebiete aus den dreißiger Jahren und nicht zuletzt die Siedlungen des sozialen Massenwohnungsbaus unserer Tage. Jenseits der verschiedenen und gegensätzlichen Lebenswelten der Stadt gibt der dörfliche Mythos der Stadt eine gemeinsame Identität unter dem schützenden Banner der zur Kardinaltugend erhobenen Seßhaftigkeit. In seltsamer Amnesie scheint die Stadt sich lieber in ihrer Peripherie vereint zu sehen als in ihrem Zentrum, lieber in den ausgefransten und verlorenen Rändern als in ihrer Mitte. In dieser Sicht liegt gleichzeitig bloße Demagogie wie Beschwörung eines Mythos. Der Mythos „Dorf“ verklärt ein urbanes Leben, das in so viele Teile parzelliert ist, wie die Stadt Funktionen hat. Der Stadtbewohner, aus Marseille oder anderswo, so theo retisieren manche, lebe heute in einem Netz verstreuter Räume, deren imaginäres Zentrum das jeweils eigene Wohnviertel ist. Dieses Phänomen betreffe wenn nicht alle, so aber doch die meisten der postindustriellen Großstädte. Aber daß dieser Wohnort der symbolische Mittelpunkt ist, der Hafen der Sicherheit, von dem aus der einzelne Stadtbewohner sein Leben organisiert, bedeutet deshalb noch lange nicht, daß dieser zentrale Ort ein „Dorf“ ist. Wenn man Marseille als ein Puzzle lauter kleiner dörflicher Einheiten begreift, löscht man alles aus, was sich zwischen diesen Dörfern befindet, Räume, die dem Reich der Bewegung, der Fortbewegung, aber auch der Verirrung angehören. Für Marseille, das sich sowieso schon in den von der industriellen Ära geerbten übergroßen Schuhen verliert, ist das Unbestimmte zwischen den Dörfern gewaltig: die brachgefallenen Fabrikgelände, die öffentlichen Räume, die eine dem Straßenverkehr hörige Raumordnung von einer anderen als der automobilen Nutzung abgeschnitten hat, der unbegehbare Hafenbereich, und schließlich das Zen91
trum, das mittlerweile von einer Vielzahl vereinzelter Funktionszentren abgelöst worden ist, die wie Splitter im urbanen Großraum herumliegen. Aber diese Splitterräume leben, und die Mobilität, zu der sie zwingen, läßt sich auch als Form der Geselligkeit verstehen. Welche Gelegenheiten, welche Geschäfte, welche Vergnügungen hat Marseille noch zu bieten? Stadtplaner versuchen, die aufgelassenen Flächen wiederzubeleben, andere meinen, die Antwort in der Fortsetzung der ältesten Tradition gefunden zu haben: der Ökonomie des Basars. Zurück zum Zentrum also, zur Canebière. Die Ökonomie des Basars Im Viertel Belsunce, im Herzen des historischen Zentrums, hat sich auf der Grundlage der seit Anfang des Jahrhunderts ansässigen ethnischen Gewerbeformen ein Handelsapparat herausgebildet, der einen der Hauptversorgungsstützpunkte der maghrebinischen Bevölkerung und anderer Afrikaner aus der Mittelmeerregion darstellt. Zwischen 1980 und 1988 erwirtschafteten dort an die vierhundert Geschäfte einen Umsatz von ungefähr dreieinhalb Milliarden Francs, der sich einer Kundschaft von etwa 40.000 Personen verdankt, die an den Wochenenden aus dem Maghreb kommen und zu denen sich außerdem die lokalen und regionalen Konsumenten gesellen. Auf diesem Markt bekommt man nicht nur sämtliche Lebensmittel, die in europäischen Läden nicht angeboten werden, insbesondere Fleisch aus ritueller Schlachtung, Gewürze und ähnlich spezifische Produkte, sondern ebenfalls all die Fertigprodukte, die in den Ursprungsländern nicht erhältlich sind: Stoffe, Autoteile, elektrische Geräte, Gebraucht- und Neuwagen usw. Das erste Handelshaus wurde Anfang der siebziger Jahre von algerischen Händlern gegründet, denen sich alsbald Tunesier, Senega lesen und Marokkaner zugesellten. Im Grunde stützt sich dieser Apparat auf ausgedehnte Handelsnetze, zum Teil im Viertel selbst, wie zum Beispiel auf die Stoff- und Konfektionsgroßhändler, sephardische Juden aus Marokko und Algerien, aber auch auf Lieferanten und Grossisten in ganz Europa: in Belgien für Teppiche, in Deutschland für Autos, in Italien für Leder und Schuhe und als Transitstation für die aus Asien kommenden Elektrogeräte, in der Türkei für Schmuck und Bekleidung. Dieser „koloniale Handelsposten“ ist nicht nur einfach eine Gewerbefläche. Er ist vor allem ein Warenumschlagplatz auf den Handelsrouten, die den produk 92
tiven Norden mit dem konsumierenden Süden verbinden, auf denen Waren, Menschen, Kapital und Informationen zirkulieren. Das Spezielle dieses Handelsplatzes besteht darin, daß die Gesamtheit der Warenbewegungen sich außerhalb jeglicher normierter Transportlogistik vollzieht, entweder von den Händlern selbst organisiert wird oder von sogenannten „Ameisen“-Netzen, von Individualreisenden im ganzen Mittelmeerraum, die immer gerade soviel Waren transportieren, wie sie selbst tragen oder bewegen können. Das Viertel Belsunce ist ein Ort des nachbarschaftlichen Handels und direkten Warenaustauschs. Aber darüber hinaus ist es auch ein Geschäftsraum, der die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für den mittelmeerweiten Handel mit Gütern schafft, die irgendeiner Art von Beschränkung (Ein- oder Ausfuhrbeschränkungen) oder einem politischen Embargo unterliegen: Gold aus Istanbul oder Neapel auf dem Weg in den Maghreb oder nach Afrika, deutsche Autos auf der Reise nach Libyen, über das ein Embargo verhängt ist, aber auch Auslaufmodelle, Restbestände, Imitate und Plagiate von Luxusprodukten usw. Diese Beispiele sollen belegen, daß Belsunce in erster Linie ein Marktplatz ist, auf dem durch die Initiative der Akteure, auf Grundlage mündlicher Übereinkunft und gegenseitiger Unterstützung, Waren wieder in den Kreislauf der Profitabilität zurückgeschleust werden, aus dem sie durch soziale und politische Filterung herausgefallen waren. Trotz der labilen Beziehungen zwischen Europa und den Ländern des Maghreb, häufig unterbrochen durch die politischen Krisen, die besonders Algerien immer wieder heimsuchen, trotz des Drucks der lokalen Institutionen und der chronischen Verteufelung durch die öffentlichen Meinungsmacher hört dieser Handelsstützpunkt nicht auf zu wachsen. In Belsunce finden die verschiedenen Einwanderungsquellen sowohl einen Ort zum Bleiben als auch ein Geschäfts- und Handelszentrum. Die Formen der Kooperation, die sich zwischen alten und neuen Ankömmlingen ausbilden, erlauben eine konstante Erneuerung der Vorräte und der Handelswege und garantieren die Sicherheit verfügbarer Arbeitskräfte. So haben die algerischen Gewerbetreibenden der siebziger Jahre die armenischen und italienischen Kunsthandwerker abgelöst, die das Viertel in den dreißiger bis fünfziger Jahren belegten. Die Algerier selbst waren zuvor von den spehardischen Großhändlern in ihre Stellungen eingeführt worden, die seit dem Ende der fünfziger Jahre nach Marseille gekommen waren und denen man erlaubt hatte, die Handelswege in den Maghreb neu zu eröffnen, die eine Zeitlang durch die Dekolonialisierung geschlos93
Oben: Straßenszene in Marseille-Belsunce, Foto © Karim de Broucker Unten: Buch- und Textilgeschäft in Marseille-Belsunce, Foto © Leslie Dema
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sen waren. Ende der achtziger Jahre haben dann die Algerier die afrika nischen, senegalesischen und tunesischen Händler in den Markt eingeführt und auch da wieder neue Handelsbeziehungen vermittelt. Auf ewig evolutiv, verwirklicht die „Handels-Maschinerie“ von Belsunce eine interkulturelle Anordnung der Wirtschaftsfunktionen, in der weniger die ethnischen Beziehungen als vielmehr die Wanderungsströmungen selbst und ihre Verschiedenartigkeit als ökonomische Ressource mobilisierbar sind. Die hervorstechendste Eigenschaft dieser Evolution ist die Öffnung neuer Märkte und die Erschließung neuer Flächen in der Stadt, manche in der unmittelbaren Umgebung des historischen Brennpunktes des Viertels von Belsunce, andere, und hier besonders der Marché aux Puces, auf verlassenen Fabrikgeländen im Herzen der ehemaligen Industriegebiete im Norden. Diese neuen Gewerbeflächen, oft auf Betreiben von wohlhabenden Händlern aus dem erst gegründeten Markt entstanden, zeigen eine deutlich andere Ausrichtung der Absatzstrategien: Ohne den Rückhalt bei der Kundschaft aus den Ländern des Maghreb zu verlieren, orientieren sich diese neuen Märkte deutlicher am lokalen Konsumenten, ihr Angebot umfaßt Lebensmittel, Konfektion, Haushaltswaren zu Niedrigstpreisen und ist nach dem Vorbild von „hard discounters“ kalkuliert, deren Markenprodukte schon vereinzelt auf den Märkten auftauchen. Die so aus gebreiteten Märkte öffnen sich zunehmend dem lokalen Publikum. Auf der neuen kommerziellen Bühne sind auch neue Unternehmerfiguren erschienen, in erster Linie die Söhne der Einwanderer, die, vom Markt bezahlter Arbeit ausgeschlossen, neue soziale und professionelle Karrieren ansteuern, indem sie ihre „Beziehungskompetenzen“ ausspielen und als „Grenzgänger“, als Vermittler zwischen den verschiedenen kulturellen Welten des Marktes fungieren. Belsunce und der Marché aux Puces de la Madrague, der Marché du Soleil oder das Viertel Noailles sind heute im gesamten frankophonen Afrika bekannt, dazu im Maghreb in Teilen des Machrek. Reiseführer empfehlen Touristen aus Nordeuropa, diese „Hohen Orte des Handels“ genauso in ihr Besichtigungsprogramm aufzunehmen wie den Spaziergang in den Calanques oder den Besuch in den Museen. Wie Istanbul auf der NordSüd-Achse und kurz nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks auch Berlin, ist Marseille eine Drehscheibe, auf der sich all die Ströme kreuzen, die trotz Krisen, Kriegen, Embargos und Elend den Großteil des alltäglichen Handelsgeschehens etlicher afrikanischer und Mittelmeerstädte bestimmen. Belsunce ist ein Label, ein Markenname, ein Handelsplatz, der von Wohlstand träumen läßt, ein Kreuzungspunkt. 95
Und das jenseits jeglicher institutioneller Kontrolle, direkt vor der Nase des Staates und der Honoratioren, und, ob es den paranoiden Warnern gefällt oder nicht, unabhängig von Cliquen, Banden und mafiösen Vereinigungen religiöser, politischer oder wirtschaftlicher Art. Die Unternehmer und die Ladeninhaber, die informellen Notare und die „Ameisen“, die diesen Markt organisieren, erfinden das europäische Handelsreich aufs neue, aber dies ist ein Reich ohne Herrscher, ohne Einheimische, ohne Kolonisten, geglättet und befriedet allein durch die „unsichtbare Hand des Marktes“. * Zuerst erschienen unter dem Titel „Der Geist der Krise“ in Heft 24/1998 der Stadtbauwelt. Aus dem Französischen von Gabriele Krüger. Die von den Herausgebern leicht gekürzte Fassung erscheint im vorliegenden Band mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Hammam in Marseille-Belsunce: „Tout Confort“, Foto © Leslie Dema
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Aufstieg auf eigene Rechnung
Slimane, Sohn eines Bauarbeiters, hat nach äußerst mittelmäßiger schulischer Laufbahn sehr früh die Schule aufgegeben. Sein Vater, mit den Kreisen der Mächtigen in Algerien liiert, machte dort Umsätze im Transithandel, die den bescheidenen Handel der „Ameisen“ weit übertreffen. […] Von seiner Kindheit an begann Slimane zusammen mit seinem Vater zu arbeiten: „Seit meiner Kindheit schickt mich mein Vater in die Siedlung und auf den Flohmarkt, um die Waren zu verkaufen, die sein Chef (eigentlich sein Lieferant, ein Grossist in Belsunce) ihm gab. Im Gegenzug machte mein Vater unbezahlte Überstunden. Der Chef gab uns Kleidung, Pralinen, Kaugummi.“ Nachdem er die Schule verlassen hat, tritt Slimane als Lagerist in den Betrieb des Grossisten ein, eines sephardischen Juden: „Es war, als gehörte ich ihnen. Ich war ihnen ausgeliefert. Ich arbeitete nicht wie alle anderen 39 Stunden pro Woche, sondern 60 Stunden. Unter dem Vorwand, ich sei der einzige ordentlich Angemeldete, mußte ich alles machen. Er rief mich regelmäßig nachts an, damit ich Ware ablade, den Lastwagen hier oder dorthin fahre. Das war zuviel.“ Slimane verläßt seinen Chef auf der Grundlage einer gütlichen Einigung: Der Grossist liefert ihm Waren auf Kredit, die Slimane auf eigene Rechnung auf den Märkten oder in den Sozialsiedlungen weiterverkauft. […] Zwar kennt Slimane jeden in den Nachbarsiedlungen, doch lebt er dort nicht, und auf dieser ‚vertrauten Fremdheit‘ bauen seine Geschäfte auf. Er vertreibt ausschließlich Markenkleidung (Chevignon, Timberland, Lacoste), die er sich entweder beim Grossisten besorgt
oder äußerst vorsichtig bei den Netzen von Werftarbeitern und Spediteuren, die die Entwendung von Waren am Hafen organisieren. Er verkauft sie dann in kleinen Mengen an Vertrauenskundschaft weiter. Lassen wir ihn selbst zur Organisation seiner Geschäfte zu Wort kommen: – Warum gehst Du in den Siedlungen verkaufen? – Viele Menschen, die hier zusammenwohnten, sind in diese Siedlungen umgezogen. Ich kenne viele Leute in den Siedlungen, wir sind zusammen aufgewachsen. Für mich ist das besser, die Siedlung ist meine Welt, ich bin dort zu Hause, ich wohne aber nicht dort, ich wohne nebenan […]. – Wie hast du dir deine Kundschaft aufgebaut? – Anfangs war das schwer. Ich habe in jedem Haus an allen Türen geklopft. Mehr als einmal ist mir die Tür vor der Nase zugeschlagen worden. Schrittweise habe ich mir einen Kundenstamm aufgebaut, und jetzt sind es immer dieselben. Ich habe fünfzehn regelmäßige Kunden, dreißig unregelmäßige und etwa fünfzig, die gelegentlich etwas kaufen. – Verkaufst du gegen Barzahlung oder gibst du Kredit? – Ich werde selten cash bezahlt. Der deal zwischen den Kunden und mir ist, daß sie bezahlen, wann sie wollen. Einige haben nie bezahlt, ich vergesse sie nicht. Wenn sie mich sehen, schleichen sie an den Hauswänden entlang. Einige wollen mehr Ware, ich verkaufe sie ihnen, sie zahlen aber bar. Ich klage nie das Geld ein, das mir geschuldet wird. Ich schenke es, aber ich vergesse nicht. Vor lauter Vertrauen gegenüber den Leuten bin ich mißtrauisch geworden. Jetzt mache ich es wie die Polizei, an allen Grenzen wird kontrolliert. Jeder Geschäftsmann muß
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denjenigen, der ihm gegenübersteht, testen, sonst wird er reingelegt. Die Leute, die ihr Wort nicht halten, streiche ich gleich. – Und wenn ich dich um eine Definition des Handelns bitten würde? – Das bedeutet Beziehungen zu den anderen, das ist alles. Sie müssen pausenlos gepflegt werden. Bei allem, was ich tue, ist das Geld nie mein erstes Argument gewesen. Der größte Fehler ist, Geld und Handel zu verwechseln. Viele Geschäftsleute sind deshalb den Bach runtergegangen. Du kannst Handel ohne Geld betreiben. Die Leute, die Beziehungen, ersetzen quasi das Geld. Es geht nicht darum, mit so viel Geld wie möglich zu tun zu haben. Das ist Geschäft. Sieh mal: Ich habe kein Geld und trotzdem mache ich Geschäfte. Es ist eine Frage von Beziehungen. Ob die Menschen rot, grün, gelb oder weiß sind, ist unerheblich. Sofern sie ins Geschäftsleben verwickelt sind, ist es immer günstig, sie zu kennen. Man muß nur ihr Vertrauen gewinnen und dann läuft es. Das ist aber das Schwierigste.
Aus: Michel Peraldi, Aufstieg auf eigene Rechnung. Vorstadtjugendliche von Marseille im informellen Handel, in: Brech, J. und L. Vanhué [Hg.] (1997): Migration – Stadt im Wandel. Darmstadt, S. 73–79
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The Station of Alicante is the Centre of the World
In the 1990s, Europe closed its borders and France its ports to Algeria that was about to enter its second war, this time a civil war. Alicante, on the contrary, reestab lished a shipping line with Oran that had fallen into disuse. Gradually, this shipping line gained in importance. […] Immediately after this opening of the shipping line, the old depressed town centre regained its vitality thanks to the installation of French, Algerian, Moroccan, and more recently, Chinese traders. They sell what the Algerians had previously shopped for in Marseilles. Alicante has consequently become like a huge bazaar, and its population – as well as its elite – appear enthused by this change. When flashes of xenophobic violence erupted at El Ejido a member of the local elite commented: „We are not worried by foreigners who come to work here, because in Alicante they are not seeking to take the places of local people: first, because there is a lot of space left, and secondly because they are mainly passing through. They stay here for some months or a couple of years before going elsewhere, but before they do so, they give us the best of themselves to prove that they perform a useful role“. […] two bus consortia, Linebus and Euro lines, service the station of Alicante and connect it daily with an enlarged European Union and the Maghreb. For example, the busses of the consortium Eurolines run four weekly shuttle services between Barcelona and Fez, Barcelona – Marakech, Barcelona – Beni Mellal, and Gerona – Oujda, with lengthy stops at Alicante where tra-
vellers stock-up with merchandise before taking the crossing to North Africa. One of the coaches that we have seen in the parking lot is precisely going to Oujda. Every Friday a bus departs from Malaga at 22:30 to arrive in Prague at 19:00 hours (€148 from Malaga). Others depart from Andalusia towards Poland and Romania, from where the large landed proprietors of the Spanish south regularly enrol more day labourers than they have use for. These same bus companies also service other big European towns such as Milan, Rome and Naples. Twice weekly a Eurolines coach leaves Alicante for London via Dover. A plethora of bus lines thus intersect at Alicante, which therefore constitutes one of the nerve centres linking Europe and the Maghreb through a dense network of bus routes. […] By following the routes of what one can conveniently call „suitcase trade“ we are able to update and display this layer of spacetime organized through transborder movements between the Maghreb and Europe: a latticework of routes joining the big European trading centres to North African micromarkets. To acknowledge their cultural embeddedness […] I had used the term „bazaar economy“ to highlight the primacy of social relationships in the institutional routines governing the acts and moments of exchange. From one end to the other, from their connection to the producing regions until the final sequence when the last handler disposes of his merchandise, this suitcase trade is performed by means of face-to-face links, word of mouth, and verbal agreements. Actor performances that employ a verbal economy, bodily engagement, ruses and microtactics. Mechanisms as ethereal as the most modern networks of the world economy. But this economy is organized
and its mechanism weaves territorially. […] Within this continuous movement, two huge trading markets in the East play a strategic role in our transnational EuroMediterranean latticework: Istanbul is composed of a myriad of shops and khans, commercial buildings that occupy a large part of its historic centre: Lalelli, Beyazit, Aksaray, Taksim; and Dubai, dressed up like an immense hypermarket encased in airport zones […]. They are in themselves the rotational centres, the stoppage and revival points for a significant part of the immense volume of clothes that pour out of Turkish, Tunisian, Moroccan, Italian and, above all, Chinese work-shops. Trad ing centres that concentrate and then boost the flow of goods towards the markets of Naples, Marseilles, Alicante, Oujda, Tunis, Oran, Maghnia, among some of the vi brating and chaotic Meccas of the peripheral channelling of merchandise flows. It is not an exaggeration to say that every micromarket in Maghrebi average towns today form part of this system by which the merchandising of goods are oriented and derived. And these connections are only possible by virtue of a mass of humanity that endlessly travels the routes, informing themselves about things, loading suitcases, ordering the consignment of containers, discussing, trading, paying in cash, and making its promises.
Aus: Michel Peraldi, The Station of Alicante is the Centre of the World. Wars at the borders and peace in the market along the north African routes to Europe, in: History and Anthropology, Vol. 18, 3. September 2007, S. 389–404.
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Erol Yildiz
„Als Deutscher ist man hier ja schon integriert.“ Alltagspraxis in einem Kölner Quartier
Ob als römische Kolonie, als Pilger-, Wallfahrts- oder Handelszentrum, als französische oder preußische Garnisonsstadt, als Ziel von Arbeits migration, Touristenmagnet oder als selbsternannte „nördlichste Provinz Italiens“ – die Entwicklung Kölns mit seinem Image als Rheinmetropole hat immer schon von grenzüberschreitenden, ja weltweiten Einflüssen und Verbindungen profitiert. Und sogar anscheinend ‚urkölsche‘ Aspekte des Alltagslebens und des Stadtbildes – vom Stadtwappen mit den Heiligen Drei Königen aus dem Morgenland, über Dom und romanische Kirchen, Karneval, kölsche Sprache und den „rheinischen Katholizismus“ bis hin zur regionalen Küche, dem ‚Kölsch‘ und den ‚Heinzelmännchen‘ – sie alle sind so unterschiedlicher Provenienz, daß eigentlich nichts außer dem berühmten ‚Kölner Klüngel‘ wirklich lokalen Ursprungs sein mag. Mobilität und Migration haben Sozialgeschichte und Alltagskultur ihren Stempel aufgedrückt und eine Diversität hervorgebracht, die man durchaus als Produkt einer zweitausendjährigen Migrationsgeschichte ansehen kann.1 Zwar scheint Köln eine reichlich beschriebene und oft besungene Stadt zu sein, aber selbst nach eingehenden Recherchen in Bibliotheken und Archiven ist festzustellen, daß keine systematische und vor allem keine anerkennende Darstellung des urbanen Wandels durch Migration aus heutiger Sicht existiert. Mobilität und Migration im 20. Jahrhundert werden selbst in alternativen Archivsammlungen als Problemkonstellationen – entweder unter dem Stichwort Ausländer oder, kritischer, unter Rassismus – abgehandelt. Ob ausgrenzend oder paternalistisch, dramatisierend, kriminalisierend oder ethnisierend, statistisch deskriptiv oder polemisch – Migration gilt in der öffentlichen Darstellung nur selten als selbstverständlicher Bestandteil des städtischen Alltags. Im Gegenteil, der beständige und von jeder Einwanderergeneration neu gestiftete Beitrag zum urbanen Wandel wird alltagspraktisch zwar gern vereinnahmt, von Kommu100
nalpolitik und Medien jedoch selten positiv wahrgenommen. Man könnte zu Recht sagen, die Besonderheit der Kölner Migrationspolitik liege bis heute in ihrem Nichtvorhandensein. Wird städtische Vielfalt thematisiert, dann überwiegend, um auf Defizite und Passungsprobleme zu verweisen. Dieser selektive Umgang ist fatal; er versperrt den Blick für eine realistische Einschätzung und Mobilisierung von Potentialen der Zuwanderung und der durch sie freigesetzten urbanen Kompetenzen. Ein Blick in die Lebenswirklichkeit der Stadtteile zeigt, daß Migranten (heute geht es bereits um die dritte Generation) längst hier angekommen sind und den städtischen Alltag mitgestalten. Von den Jugendlichen unter achtzehn hat in Köln mittlerweile fast jeder zweite einen ‚Migrations hintergrund‘ – mit steigender Tendenz. Daß Zuwanderung ein konstitutives Element der Stadtentwicklung ist, kann man in der Rheinmetropole heute täglich selbst erleben. Migranten und deren Nachkommen werden in zunehmendem Maße im Stadtbild sichtbar, melden sich zu Wort, stellen Ansprüche, organisieren in manchen Stadtvierteln große Teile der Infrastruktur und tragen durch ihre ökonomischen Aktivitäten wesentlich zur Lebensqualität bei. Wir sehen hier eine Art selbstorganisierter Integration. Die Ergebnisse unserer inzwischen mehr als zehnjährigen Studien zu Einwandererquartieren in der Kölner Region verweisen auf eine andere Logik, eine Art sozialer Grammatik, die ich in diesem Beitrag beschreiben und theoretisch hinterfragen möchte. Im Grunde handelt es sich um eine unspektakuläre urbane Alltagspraxis, die bis heute bestenfalls ignoriert wird. Eine Art kommunaler Tunnelblick prägte schon den Umgang mit den ‚Gastarbeitern‘ nach dem Zweiten Weltkrieg, die zunächst den Kölner Arbeitsmarkt unterschichteten und nach Krämer-Badoni (2002, 47ff) auf diese Weise ökonomisch integriert waren.2 Obwohl politisch unerwünscht, ließen sie sich nach und nach nieder und versuchten unter rechtlich erschwerten Bedingungen, sich städtische Orte anzueignen, neue Räume zu schaffen und zu gestalten. In den 1970er Jahren bezogen immer mehr Migranten mit ihren Geschäften ehemalige Ladenzeilen in Stadtteilen, die im Zuge weltweiter ökonomischer Umstrukturierungsprozesse von einheimischen Gewerbetreibenden verlassen wurden, brachten damit wieder Leben in die Straßen und auf die Bürgersteige und trugen entscheidend zur Sanierung heruntergekommener urbaner Räume bei. Kioske, Speiselokale und Lebensmittelläden wurden dabei zur Haupt erwerbsquelle und prägten nach und nach Kölner Stadtviertel, so daß 101
heute das Leben mancher Plätze und Straßenzüge schon ein mediterran- orientalisches Flair hat. Aus dieser Sicht könnte man die heutige Kölner Realität ein migrations soziologisches Experiment nennen. Rückblende zum Ankunftsort Wie in alten Filmen und auf Photos jener Zeit zu sehen ist, war der Kölner Hauptbahnhof in den ersten Anwerbejahren ein Haupttreffpunkt der Gastarbeiter, die imaginäre Verbindung zu ihren Herkunftsorten. Die meisten wohnten in Baracken auf Firmengelände oder in Sammelunterkünften, hatten kaum Deutschkenntnisse und noch selten Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Auch die Verbindung zu ihren Familien angehörigen war beim damaligen Stand der Fernkommunikation zunächst unterbrochen. Unter diesen Umständen war der Gang zum Hauptbahnhof mit der Hoffnung verbunden, Bekannte aus den Herkunftsregionen zu treffen, um Neuigkeiten auszutauschen. Der Bahnhof blieb lange der einzige Ort für Begegnung und Kommunikation; kaum einer traute sich in die kölschen Lokale oder Cafés. Es war daher nicht verwunderlich, daß bald die ersten ‚Unternehmergeister‘ den Versuch wagten, in bahnhofs nahen Quartieren wie dem Eigelsteinviertel und der dort gelegenen Weidengasse Speiselokale, Teehäuser und Cafés zu eröffnen. Das erste türkische Ladenlokal in der Weidengasse wurde 1962 gegründet. Da die Geschichte dieses bahnhofsnahen Viertels als Ankunftsort zugleich Ausgangspunkt, aber auch Gegensatz zur Keupstraße in Köln-Mülheim ist, welcher unser weiteres Interesse gilt, lohnt sich zuvor eine kurze Rückblende in die Nachbarschaft des Kölner Hauptbahnhofs. Hier, in der nördlichen Innenstadt, haben sich nämlich Entwicklungen vollzogen, die in der öffentlichen Wahrnehmung – wenn auch mit einem gewissen ‚Exotismus‘ – weitaus positiver beurteilt werden als die auf der anderen Rheinseite gelegene Nachbarschaft in Köln-Mülheim. Das Eigelsteinviertel hat einige Wandlungen durchgemacht. Über Jahrhunderte ein typisch gemischtes Altstadtquartier, wurde es im 19. Jahrhundert zu einem prosperierenden und von Zuwanderung geprägten Bahnhofsund Gewerbeviertel, in dem sich zugleich der Rotlichtbezirk fand. Was an dieser Stelle von den Bomben des Zweiten Weltkriegs verschont blieb, zerstörten in den sechziger Jahren Stadtplaner mit dem Bau der Nord-Süd-Fahrt. Diese sechsspurige Autoschleuse durchkreuzt seit An102
fang der sechziger Jahre die ehemals lebendige Straße Unter Krahnenbäumen3 und zerteilt sie in zwei Hälften. Viele Bewohner wurden in andere Viertel gezwungen, Gewerbe verfielen, Arbeitsplätze verschwanden, weitere Bewohner verließen die Gegend. In dieser desolaten Situation zogen Gastarbeiter ein, und wie in anderen Quartieren auch, entdeckten sie schließlich das abgewirtschaftete Viertel für sich, besonders die Weidengasse, welche die geographische Verlängerung der zerstörten Straße Unter Krahnenbäumen auf der anderen Seite der Schnellstraße ist. Billiger Wohnraum und die Nähe zum Bahnhof waren besonders attraktiv für die Neuankömmlinge. Mit der Wirtschaftskrise Anfang der siebziger Jahre verloren diese Anwohner jedoch zuerst ihre Arbeitsplätze. Die einzige Möglichkeit, der Arbeitslosigkeit zu entkommen, sahen viele in der Selbstständigkeit, übernahmen nach und nach die leerstehenden Geschäfte und trugen im Lauf der Zeit wesentlich zur Wiederbelebung des Viertels bei. Da Gastarbeiter nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis besaßen, waren ihnen selbstständige Tätigkeiten rechtlich nicht gestattet. Sie konnten ihre Gewerbeerlaubnis anfangs nur über einheimische Mittels- und ‚Strohmänner‘ bekommen, denen monatlich ein Anteil ausgezahlt wurde. Heute werden in der Weidengasse die meisten Geschäfte von Einwanderern betrieben. Durch eine Sanierung von 1990 bis 1995 hat die Stadt Köln ihrerseits zur Modernisierung der Straße beigetragen. Sie wandelte sich zu einer Einkaufsstraße mit internationalem Flair. Von der seit Ende des 19. Jahrhunderts berüchtigten Kleinkriminalität und Prostitution ist hier kaum noch etwas zu ahnen. Auf den ersten Blick scheint die Weidengasse – von Kölnern gern „KleinIstanbul“ genannt – türkisch geprägt. Hier kann man in allen Preislagen gut essen, hier liegen einige von Kölns ‚besten türkischen Adressen‘, ob Bäcker, Fleisch-, Obst- und Gemüsehändler oder Restaurants. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, daß sich die Geschäftsleute mit türkischem Hintergrund, die inzwischen auch Schmuck, Musikinstrumente und Brautkleider verkaufen, neben alteingesessenen ‚Alträuchern‘ und Second-Hand-Läden angesiedelt haben, wodurch die Straße eigentlich eine mediterran-kölsch-orientalische Atmosphäre hat. Dieser Wandel der Bevölkerung wird in einem Bildband über die Weidengasse wie folgt beschrieben: „[…] die alteingesessenen Bewohner haben neue Nachbarn bekommen. Tür an Tür mit den kölschen Urgesteinen leben heute Türken, Iraner, Syrer, Griechen, Armenier und Italiener. Sie alle prägen die Weidengasse mit ihrer kölschen und internationalen Aus103
Kölsches Nebeneinander: katholisch/türkische Fassade in der Weidengasse, Foto © Erol Yildiz
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strahlung und machen sie zu einer lebenswerten Veedelstraße, in der ein internationales Herz schlägt und die weit über die Grenze Kölns hinaus bekannt ist“ (Rakoczy 2001, 35). Hier, in diesem innenstädtischen Raum, hat sich tatsächlich inzwischen eine Alltagsnormalität entwickelt, die von der Kölner Öffentlichkeit mittlerweile als solche anerkannt und geschätzt wird. Anders dagegen die auf der „Schäl Sick“, das heißt rechtsrheinisch – für Kölner auf der schlechteren, wörtlich ‚schiefen‘ Seite – gelegene Keupstraße in Köln-Mülheim. Die Keupstraße: eine verkannte Erfolgsgeschichte Die Diskrepanz zwischen dem eigentlichen Beitrag von Migration zur Entwicklung von Stadtquartieren und der öffentlichen Wahrnehmung kann man am Beispiel der zeitweise hitzigen Debatten um diese Straße veranschaulichen. Für mich steht sie hier gerade deshalb im Mittelpunkt, weil sie von Medien und Kommune immer wieder mit Begriffen wie ‚Ghetto‘ und ‚Parallel gesellschaft‘ diskreditiert wurde und wird, ich aber aufgrund eigener Studien meine, daß man sie vielmehr als ein wegweisendes Erfolgsmodell beschreiben kann. Sie ist also ein besonders anschauliches Beispiel für die einleitend skizzierte Widersprüchlichkeit zwischen pragmatischer Alltags praxis und öffentlichem Diskurs (vgl. Bukow/Nikodem/Schulze/Yildiz 2007). Hier kann man sowohl den allgemeinen wirtschaftlichen Strukturwandel als auch wesentliche Eckpunkte der Einwanderungsgeschichte in Deutschland nachvollziehen. Die Keupstraße, die anfangs Wolfstraße hieß, ist im Verlauf der Indus trialisierung im 19. Jahrhundert in der damals noch selbstständigen Stadt Mülheim am Rhein entstanden. Mülheim entwickelte sich zu einem bevorzugten Industriestandort. Industriebetriebe, Ausbau der Infrastruktur, Bevölkerungszuströme und wachsende Wohnsiedlungen veränderten den zuvor landwirtschaftlich geprägten Ort nachhaltig und ließen ihn zu einem beachtlichen Industriestandort mutieren. Es entstanden typische Arbeiterviertel mit Häusern und Wohnungen für finanzschwache Bevölkerungsgruppen (vgl. Blachke 1999, 12). Mitten in diesem Stadtteil befindet sich die Keupstraße. Seit den 1950er Jahren zogen die ersten Gastarbeiter hierher. Allerdings sind sie nicht die ersten Zuwanderer, denn die Kabelwerke der Felten & 105
Guilleaume AG in der anliegenden Schanzenstraße beschäftigten in dieser Zeit bereits eine große Zahl von Migranten. Die in der Keupstraße seit 1874 für die Bedürfnisse des neuen Industriestandorts Mülheim gebauten Wohnungen waren für die Arbeitskräfte des in unmittelbarer Nachbarschaft errichteten Kabelwerks bestimmt. Schon damals mußten sie von weither angeworben werden und fanden sich schnell zu einem proletarischen Quartier zusammen, das als solches bald entsprechend diskriminiert und von der Stadt vernachlässigt wurde. Durch Zuwanderung von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg und Arbeitsmigration hat sich im Lauf der Zeit ein migrationsgeprägtes Viertel (‚Veedel‘) herausgebildet. Unterschiedliche Migrantengruppen siedelten sich über die Jahre in der Keupstraße an und verließen sie wieder. Die letzte große Zuwanderungswelle fand zur Zeit der Gastarbeiteranwerbung Anfang der sechziger Jahre statt. Die letzte Einwanderergruppe blieb schließlich in der Straße. Sie bestand überwiegend aus Migranten türkischer Herkunft. Mit der Entindustrialisierung Mülheims ging diese Zeit der Mobilität zunächst zu Ende – in den siebziger Jahren brach die industrielle Erwerbsstruktur weg. Die Schließung zahlreicher traditioneller Industriebetriebe sowie die Verlagerung von Großbetrieben führten zu hoher Arbeitslosigkeit. Da es nichts mehr zu verdienen gab, schlossen die letzten alteingesessenen Besitzer ihre Geschäfte und verließen die Keupstraße. Zurück blieb ein zerfallender und sanierungsbedürftiger Stadtteil. Die leerstehenden Wohnungen, Lokale und Läden wurden, wie in der Weidengasse, schrittweise vor allem von türkischen Migranten übernommen, weil der Schritt in die Selbständigkeit für die meisten der einzige Weg aus der Arbeits losigkeit war. Nach und nach wurden die Geschäfte renoviert und wiedereröffnet. Dienstleister, kleine Läden und Restaurants reihen sich seitdem aneinander, bald wurden auch Fassaden und Wohnungen instand gesetzt. Auch von der Stadt Köln wurde schließlich eine Sanierung durchgeführt. Heute bietet die Straße in ihrer ‚orientalischen Inszenierung‘ ein attrak tives Bild. Für die Quartierentwicklung sind dabei zwei Befunde besonders wichtig. Erstens haben die Zuwanderer aus der Not eine Tugend gemacht und sozusagen „auf eigene Rechnung“ (Péraldi 1997) Arbeitsplätze geschaffen. Zweitens ist es eine der wenigen Kölner Straßen auf der rechten Rheinseite, die bis heute nicht in die Hand der bekannten Billigketten und ‚EinEuro-Shops‘ geraten ist. Diese konzentrieren sich vielmehr drei Straßen weiter auf der Hauptverkehrsstraße. 106
Viele Geschäftsleute fragen sich, warum die Straße in der Öffentlichkeit so einen schlechten Ruf hat und fühlen sich von Stadtpolitik und Behörden weder verstanden noch in ihren Anliegen ernstgenommen, obwohl gerade diese quartierbezogenen Unternehmen sowohl ein wirtschaftliches als auch ein hohes integratives Potential besitzen, das als urbane Ressource wahrgenommen werden sollte (vgl. Adelhof 2003, 4f). Vor diesem Hintergrund ist die Diskrepanz zwischen Alltagsrealität und öffentlicher Wahrnehmung wirklich irritierend. Denn zeitgleich mit der beschriebenen Entwicklung wird von kommunaler Seite und in den Massenmedien vor der Ghettoisierung und Verslumung des Stadtteils gewarnt, wobei teilweise auf das gleiche Vokabular zurückgegriffen wird, mit dem die Straße nachweislich bereits im 19. Jahrhundert stigmatisiert worden ist. Der Name Keupstraße wird dabei regelrecht zu einer Negativmetapher. Nachdem 1997 in einer ersten Studie von Heitmeyer u. a. vor „Parallelgesellschaften“ gewarnt wurde, wird auch in Köln bald von einer „türkischen Parallelgesellschaft“ in der Keupstraße gesprochen. Jeder Kölner kennt seitdem ihren Ruf, auch wenn viele diese Straße, die zudem auf der ‚falschen‘ Rheinseite, und dort auch noch etwas abseits liegt, nicht einmal mit eigenen Augen gesehen haben. Im Ergebnis dieser Dramatisierung wurde 1999 im Auftrag des damaligen Sozialministeriums Nordrhein-Westfalen eine kleine Dokumentation über das Leben auf der Keupstraße erarbeitet, die sich keineswegs kritisch gegen diesen Trend stellte, sondern sich in ihn einordnete und bis in die Zitate hinein den negativ ausgerichteten und skandalisierenden Diskurs übernahm (vgl. Dokumentation Keupstraße 1999). Einer der Negativbegriffe ist der des ‚Ghettos‘. Er wird polemisch und dramatisierend verwendet und entwickelt in der genannten Dokumentation eine stigmatisierende Logik. Laut Einschätzungen der Autoren gehe mit der ‚Ghettobildung‘ die Verdrängung der einheimischen Bevölkerung einher, zudem seien Desintegrationsprozesse, wirtschaftlicher Verfall, Bildungsnotstand, offene und verdeckte Konflikte, Gewalt und Kriminalität zu beobachten. Hier wird deutlich, daß die anwerbebedingte Entstehung dieses Migrantenquartiers als eine gezielte räumliche Segregation türkischer Migranten interpretiert und daß der durch Entindustrialisierung bedingte Niedergang des Erwerbslebens den ‚ethnischen‘ und ‚kulturellen Eigenarten‘ der türkischen Zuwanderer zugeschrieben wird. Dieser von Ethnisierung und Kulturalisierung verstellte Blick degradiert das Wohngebiet zum Problemfeld. 107
Die genannte Dokumentation und der mediale und lokalpolitische Um gang mit dem Quartier (vgl. Yildiz 2006) zeigen letzten Endes, wie die territoriale Stigmatisierung und Isolierung der Straße vorangetrieben wird. Begriffe wie ‚Parallelgesellschaft‘ oder ‚Ghetto‘ entsprechen dem, was Loïc Wacquant (2006, 79) in Anlehnung an Pierre Bourdieu einen „wissenschaftlichen Mythos“ nennt, also eine diskursive Formation, die in wissenschaftlicher Codierung und auf scheinbar neutrale Weise soziale Phantasien über Unterschiede zwischen ‚Uns‘ und den ‚Anderen‘ konstruiert. Ein pragmatischer Blick In seit 2000 durchgeführten Studien haben wir das Alltagsleben auf der Straße aus der Nähe betrachtet, um dann in einer ‚dichten Beschreibung‘ ganz unterschiedliche Aspekte aufzugreifen und zu analysieren, die für das Quartierleben von Bedeutung sind (vgl. Bukow/Yildiz 2002, 81ff; Yildiz 2007, 319ff). Das Bild der Straße verändert sich, sobald man sie nicht mehr von außen, sondern aus der Binnenperspektive ins Blickfeld rückt. Der ethnographische Blick auf das Leben vor Ort verhalf zu differenzierten Einsichten in die soziale Praxis der Migranten, aber auch der verbliebenen Alteingesessenen. Ziel war es, die durch Migranten geprägte Straße nicht als Abbild der ‚Herkunftswelt‘ oder als Perpetuierung einer so genannten Herkunftskultur zu verstehen, sondern als ein lokales und spezifisches Arrangement, das die Lebenslage der Menschen auf dieser Straße abbildet – eine Lebenslage, die sich nicht zuletzt unter deutlich restriktiven Bedingungen der Aufnahmegesellschaft entwickelt hat.4 Aus diesem eher ungewohnten Blick auf das Leben der Keupstraße sahen wir uns plötzlich einer recht trivialen, unspektakulären urbanen Alltagspraxis gegenüber (vgl. Stienen 2006 sowie ihren Beitrag in diesem Band). Was in der Außenwahrnehmung unscharf und zuweilen unangemessen negativ präsentiert wird, erwies sich aus der Nähe als durchaus attraktiv. Es stellte sich schnell heraus, daß die Keupstraße keine in sich geschlossene ‚Parallelgesellschaft‘ ist, sondern ein ökonomisch, politisch, sozial und rechtlich mit dem urbanen Umfeld verwobenes und hoch differenziertes, flexibles Quartier. Das besondere Flair dieser Wohngegend, eine Art ‚mediterran-orientalischer Inszenierung‘ ist faszinierend und ließe sich wahrscheinlich in anderen Großstädten ebenso beobachten. Diese Mischung von kulturellen Zitaten und Anleihen, die nur vermeintlich der ‚Herkunftskultur‘ der Migranten entstammen, erweist sich als eine prak108
tische Geschäftsstrategie, als ein strategisches Zugeständnis an die lokalen, hier die deutschen Vorstellungen vom ‚Orient‘. Hier wird deutscher Orientalismus inszeniert, den Edward Said (1978) eine „imaginäre Geographie“ nannte. Hier werden neue ökonomische Strategien entwickelt und neue Traditionen geschaffen. Diese quartierspezifische Entwicklung spiegelt eine gleichermaßen von lokalen und globalen Einflüssen geprägte urbane Alltagswirklichkeit. In der Keupstraße wird an zahlreichen Beispielen sichtbar, was Robert Pütz als „transkulturelle Praxis“ (vgl. 2004 sowie seinen Beitrag in diesem Band) bezeichnet. „Hat ein bißchen was von Urlaub“ – unspektakuläre städtische Alltagspraxis In vielen Gesprächen zeigten sich diverse, einander überlagernde und kreuzende soziale und kulturelle Erfahrungen. Die Bewohner der Straße brachten zum Ausdruck, welchen Konflikten und Barrieren sie sich ausgesetzt sehen und welche Handlungsstrategien sie dabei entwickeln, welche Rolle die Familie, die Freundschaften und informelle Netzwerke dabei spielen – kurz, wie sich die Menschen den Stadtteil beziehungsweise die Stadt aneignen, durch ihre Nutzung die gebaute Umwelt mitgestalten und das Straßenbild prägen. Die Gespräche belegen darüber hinaus, wie Menschen unterschiedliche, zum Teil grenzüberschreitende ökonomische, soziale und kulturelle Elemente in diesem Quartier nutzen, neu definieren und zu neuen Strukturen und Lebensentwürfen verbinden.5 Man kann die Entwicklung der Keupstraße daher ohne weiteres eine Kölner Lokalgeschichte nennen. Die Einwanderer entwickeln nicht nur einen eigenen und zugleich neuen Lebensstil neben den Alteingesessenen – innerhalb ihrer Gruppe finden sich vielmehr neben gewissermaßen inszenierter türkisch-orientalischer Kultur auch Griechen und Spanier – wie innerhalb der einheimischen Bevölkerung neben Mülheimern auch Zugezogene aus der Eifel oder dem Ruhrgebiet. In allen Gruppen beobachtet man auch jugendkulturelle Orientierungen, die sich längst nicht mehr nach Herkunft, sondern nach altersspezifischen Lebensstilen ausdifferenzieren. Aus den Gesprächen mit Bewohnern ergibt sich, daß sich die Mehrheit im Quartier wohlfühlt, die Lebensqualität hier betont und sich mit der Straße identifiziert. Sie verstehen nicht, warum ihre Wohngegend durch das hartnäckige Ghettoimage öffentlich abgewertet wird. 109
Herr G., ursprünglich aus Mazedonien, hier wohnhaft seit mehr als 20 Jahren, beschreibt seine Nachbarschaft so: „Ist eine gute Straße, die aber einen schlechten Ruf hat, weil hier so viele Ausländer wohnen. Aber das ist nicht wahr, hier ist es sehr freundlich. Wir haben alles hier, was billig ist und es ist sehr gastfreundlich.“ Frau K., polnischer Herkunft, wohnt noch nicht lange im Quartier: „Es ist eigentlich sehr angenehm, also laut ist es schon natürlich, aber ist überall eigentlich so. Ich könnte sagen, es ist angenehm hier zu wohnen, hier kann man ja nämlich vieles verschiedenes sehen […] Hier gefällt es mir, das Essen schmeckt auch sehr gut. Also die Leute sind auch sehr nett. Also bin ich zufrieden.“ Herr I., Immobilienmakler türkischer Herkunft, nimmt das Alltagsleben so wahr: „Ich bin […] froh, hier in der Keupstraße zu sein, hier arbeiten zu dürfen. Die Keupstraße hatte früher einen schlimmen Ruf, aber das ist gar nicht mehr so. Es gibt immer wieder unseriöse Leute, wie überall, aber die Keupstraße hat sich in meinen Augen zu einer seriösen Geschäftsstraße entwickelt.“ Bei den Alteingesessenen klingt in den meisten Gesprächen eine wohl wollende Distanz an. Man hat sich mit der Entwicklung der Straße arrangiert und betrachtet die Situation durchaus positiv und pragmatisch, wenn auch unter einem exotischen Blick. Herr M., der aus der Eifel kommt und seit 15 Jahren hier lebt, sagt dazu: „Das ist Klein-Istanbul hier, ich habe mich gewöhnt an die Istanbulis, was bleibt mir auch anders übrig.“ Auch im Gespräch mit Herrn A., der im Stadtteil geboren und aufgewachsen ist, kommt der pragmatische Umgang mit der Entwicklung des Quartiers deutlich zum Ausdruck: „Ist eigentlich gemischt. Wir sind vereinzelt noch en paar Deutsche, die hier noch leben, wir kommen eigentlich mit den türkischen Kollegen sehr gut zurecht. […] Das Flair hat ein bißchen was von Urlaub, gerade jetzt, wo die Sonne scheint und wenn die Jungs hier draußen sitzen mit ihrem Tee. Was ich bei den Türken beeindruckend finde, ist die Zusammengehörigkeit. Das ist ja bei den Deutschen nicht so. […] Man ist hier integriert. Jetzt, als Deutscher, ist man hier schon integriert, das ist ja schon paradox. Wir gehen ja nur in türkische Geschäfte, wir gehen ja nur hier einkaufen.“ Lassen wir zuletzt noch einen Passanten zu Wort kommen, der auf der Keupstraße spazierengeht: „Wenn man türkisch essen möchte, dann ist hier wahrscheinlich der beste Ort in Köln. Die Vielfalt von Geschäften, 110
„Orientalische Inszenierung“ – Fassade und Schaufenster in der Keupstraße, Köln Foto oben © Erol Yildiz, unten © Peter Bach
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die man ansonsten selten sieht. Es ist ein bißchen eine andere Kultur, so ein kleines Stück Türkei.“ Ökonomische Struktur der Keupstraße Wirft man heute einen genaueren Blick auf die ökonomische Struktur der Keupstraße, dann fällt zunächst auf: Es gibt insgesamt 84 unterschiedliche Läden, die sich vornehmlich in privater Hand befinden. Niederlassungen großer Ketten sind in der Straße nicht vorzufinden. Mit ihrem breiten Angebot bedienen die vorhandenen Geschäfte den alltäglichen Bedarf. Neben Bäckereien und Konditoreien finden sich Bekleidungsgeschäfte, aber auch ein Elektrofachhandel und eine Buchhandlung. Es gibt mehrere Restaurants, Bistros und Imbißbuden, ebenso Kneipen und die für Köln so typischen Kioske. Lückenhaft ist das Angebot einzig im Bereich des Lebensmitteleinzelhandels. Allerdings wird diese Lücke punktuell an einigen Wochentagen durch den mobilen Verkauf von Obst und Gemüse auf der Straße sowie einen die Straße regelmäßig anfahrenden Fischwagen geschlossen. Die meisten Geschäftsleute setzen sich mittlerweile für die Belange der Straße ein. Durch Öffentlichkeitsarbeit, vielfältige Aktivitäten, Projekte und kulturelle Veranstaltungen ist es der Interessengemeinschaft Keupstraße zumindest teilweise gelungen, das negative Image der Straße zu verbessern und die bestehende Infrastruktur an Dienstleistungen, Einzelhandelsgeschäften und Gastronomiebetrieben zu professionalisieren. So ist die Keupstraße heute über Köln hinaus bekannt als attraktive Einkaufsstraße mit orientalischem Flair. Die bestehende Infrastruktur an Dienstleistungen, Einzelhandelgeschäften und Gastronomiebetrieben mit ihrer Angebotsvielfalt wird auch von Kunden geschätzt, die aus den umliegenden Städten oder von weiter herkommen, wie die Kennzeichen der parkenden Autos erkennen lassen. Auch die Qualität der Waren und Dienstleistungen wird von den Geschäftsleuten als Grund für dieses weite Einzugsgebiet genannt. So erläutert Herr Ö., Besitzer eines Restaurants auf die Frage nach seiner Kundschaft: „Es gibt viele Stammgäste. Früher hatten wir ja nur Außenverkauf und jetzt essen die alle hier, zu 80 Prozent sind das Stammkunden, die nicht nur aus Köln kommen, sondern aus ganz Nordrhein-Westfalen, auch Leute, die von Frankfurt nach Hamburg fahren wollen, die fahren extra von Köln durch, um nur hier auf die Straße zu kommen, um hier zu essen, sei es bei uns oder bei meinen Nachbarn.“ 112
Die Straße wird für den Einkauf gezielt angefahren, Durchreisende biegen zum Essen in die – nahe an der Autobahnausfahrt gelegene – Keupstraße ab und selbst Touristen werden in (alternativen) Reiseführern oder auf diversen Homepages auf diesen Ort hingewiesen. Was die Zusammensetzung der Kundschaft betrifft, werden in den Gesprächen unterschiedliche Zugänge zu unterschiedlichen Käufergruppen sichtbar, ebenso wie die Verwendung unterschiedlicher Strategien, sie anzusprechen. So erklärt Frau S., Besitzerin einer Konditorei: „Aber durch unsere Mehrsprachigkeit und unseren Freundeskreis sind auch andere Nationalitäten darauf aufmerksam geworden, also inklusive auch gemischte Pärchen, das ist auch immer ganz schön. Wenn die dann auch sehr gerne multikulti essen gehen, gehört dann unser Laden auch dazu. Und das macht die Keupstraße auch dann aus. Aber die deutschen Kunden haben wir durch unsere tolle Medienpräsenz gewonnen. Also, daß halt beim WDR dann fünfmal hintereinander über fünf Jahre gleiche Berichte ausgestrahlt worden sind, dann haben sich unsere deutschen Kunden auch geöffnet und getraut, hierher zu kommen und ihre Geburtstagstorten zu kaufen und die essen auch sehr gern unser Gebäck, was wir auch als Weihnachtsgebäck mittlerweile an die Düsseldorfer Weihnachtsmärkte hier vorbereiten, und wir verkaufen die dann da.“ Die Angebotsvielfalt und deren Qualität bildet einen zentralen Aspekt der ökonomischen Prosperität dieser Straße. Denn vergleicht man diese Straße mit der nahe gelegenen Berliner oder Frankfurter Straße, den zentralen Einkaufsmeilen des Stadtviertels, fällt auf: Während dort vor allem im letzten Jahrzehnt ein Niedergang sichtbar wurde, der sich in der hohen Fluktuation der Geschäfte und einer wachsenden Präsenz von ‚Ein-EuroLäden‘ sowie Niederlassungen großer Ketten äußert, ist die Keupstraße durch eine hohe Beständigkeit geprägt. Dieser Erfolg ist dabei nicht zuletzt auch das Ergebnis der hohen Flexibilität der Gewerbetreibenden und ihrer Fähigkeit, vorhandene Ressourcen formeller und informeller Art einzusetzen. Die Entstehung der ökonomischen Struktur der Keupstraße zeigt, wie Arbeitsmigranten und deren Nachkommen unter diskriminierenden Bedingungen im wahrsten Sinne eine Kultur der Selbständigkeit entwickelten, die ohne die Nutzung informeller Ressourcen nicht denkbar wäre. In fast allen Fällen handelt es sich um Familienbetriebe und oft sind tatsächlich ganze Familien in den jeweiligen Betrieb eingebunden. Darüber hinaus zeigt sich, daß es des öfteren vor allem gerade Familienunternehmen sind, die in schwierigen Zeiten und an desolaten Standorten Risiken 113
eingehen und Geschäfte eröffnen und so zu einer grundlegenden Verbesserung der Versorgungssituation im Quartier beitragen. „In der Startphase hat die Familie zusammengehalten und Tag und Nacht gearbeitet, über mehrere Monate, ohne Lohn“, erzählt Frau M., die Besitzerin einer Bäckerei auf der Keupstraße. Ökonomische Aktivitäten und soziale Netzwerke sind miteinander eng verschränkt. Da Migranten im formellen Arbeitsmarkt marginalisiert und oft ausgegrenzt werden, sind sie dazu gezwungen, andere Strategien und Beziehungskompetenzen zu entwickeln als es bei der einheimischen Bevölkerung der Fall ist. Die ökonomische Entwicklung der Keupstraße zeigt deutlich, daß die Geschäftsleute auf Netzwerke und Ressourcen zurückgreifen können, die für sie überlebensnotwendig sind. Indem Netzwerke und Ressourcen mobilisiert werden, werden sie automatisch auch gestärkt. „Sie akkumulieren soziales Kapital“, so Saskia Sassen (2000,103). Grundsätzlich läßt sich zunächst festhalten, daß der Diskurs über die Keupstraße in den letzten Jahren einen Wandel erfahren hat. Die abwertenden Stimmen sind zurückhaltender geworden und weitgehend in den Hintergrund getreten. So bezeichnete der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma die Straße inzwischen mehrfach als Erfolgsmodell, das Vorbildcharakter für die restliche Kölner Bevölkerung habe. In der Lokalpresse erschienene Artikel zeigen dennoch, wie hartnäckig sich die jahrzehntelange Skandalisierung in den Köpfen hält und regelmäßig wiederbelebt wird. In Artikeln aus dem Jahr 2005 wird die Keupstraße als „Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln“ bezeichnet. Unterschwellig gewarnt: „In die Keupstraße ist seit Jahrzehnten das Morgenland eingezogen. Hier herrschen türkische Sitten, die Gesetze einer in sich fast geschlossenen Gesellschaft“.6 Offensichtlich ist die „symbolische Exterritorialisierung“ (Lang 1998, 162) der Keupstraße im öffentlichen Diskurs nach wie vor fest verankert. Fazit und Ausblick Obwohl Migranten zu einem Herzstück der urbanen Kultur und der lokalen Wirtschaft Kölns geworden sind und zur Versorgungsqualität von Stadtteilen wesentlich beitragen, findet diese Tatsache nur in Ausnahmefällen eine stadtentwicklungspolitische Wertschätzung. Es wäre endlich an der Zeit, die Entwicklung solcher Quartiere offiziell als Leistung der Einwanderer anzuerkennen und die von Zuwanderung ausgehenden kultu114
Karnevalszug in der Keupstraße Oben: Tanzmariechen, unten: Warten auf den „Zoch“, Fotos © Peter Bach
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rellen und ökonomischen Impulse in den Mittelpunkt der Stadtpolitik zu rücken (vgl. Brake 2000, 273). Stadtentwicklungspolitische Konzepte können in diesem Kontext viele Möglichkeiten bieten, migrationsbezogene Fragestellungen als Querschnittsaufgabe in die konzeptionellen Überlegungen einzubeziehen. Zumindest gibt es in jüngster Zeit einige Städte, die im Rahmen integrierter Konzepte Leitbilder und Strategien ausarbeiten, die migrationsspezifische Themen in den Mittelpunkt der Überlegungen stellen (vgl. Berding 2008 und Ipsen/Weichler in diesem Band). Die Kölner Bewerbung um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2010“ im Jahr 2004 war in dieser Hinsicht ein bezeichnendes Beispiel für die Formulierung eines Selbstverständnisses, das zum ersten Mal den Beitrag der Zuwanderer zur Kölner Urbanität betonte (vgl. Colonia@Futura 2004, Teil I). Sie stand unter dem für Außenstehende rätselhaften Motto „Wir leben das“. Gemeint war die lebenspraktische Relevanz migrationsbedingter Vielfalt für das urbane Zusammenleben und deren Selbstverständlichkeit im Kölner Alltag. Diese durch den gezielten Rückgriff auf Migration inszenierte symbolische Aufwertung städtischer Räume und der neue Habitus der Stadt als Migrationsstadt fiel leider abrupt in sich zusammen, als die Bewerbung für die Kulturhauptstadt scheiterte. Was bleibt, ist die Erkenntnis, daß man auch in der Kölner Lokalpolitik ein Bewußtsein der Wertschätzung von Zuwanderung und städtischer Vielfalt erzeugen kann, mit dem sich neue Perspektiven für das urbane Zusammenleben auftun. Angemessen und zukunftsweisend wäre es, wenn Kommune und Medien das Phänomen Migration als konstitutives Element der Stadtentwicklung auch längerfristig zum Leitbild erklären würden. „So gilt es für unsere Epoche weiterhin eine stadtplanerische Konzeption zu entwickeln“, schreibt Klaus M. Schmals, „die diesen positiven historischen Zusammenhang bewußt hält und zur Basis eines diskriminierungsfreien Miteinanders macht.“ (Schmals 2000, 11). Anmerkungen 1 Vgl. aus einer historisch-ethnographischen Perspektive, in der (Arbeits-)Migration des 20. Jahrhunderts nur am Rande vorkommt, die erste Beschreibung der zweitausend jährigen Kölner Migrationsgeschichte bei Orywal 2007. 2 Indem die ersten Gastarbeiter in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs Arbeitsplätze übernahmen, die von Einheimischen als ‚niedere Tätigkeiten‘ angesehen wurden, besetz-
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ten sie die freigewordene unterste Etage in einem ‚sozialen Fahrstuhl‘, der die anderen Schichten entsprechend um eine Etage höher beförderte („Unterschichtungstheorie“). Von einem der bekanntesten Photographen Kölns der Nachkriegszeit, Chargesheimer, gibt es den wunderbaren Bildband Unter Krahnenbäumen, der dieses Viertel zeigt, wie es in den 1950er Jahren mit Läden, Straßenszenen, Festen und Prozessionen aussah, ein Stück lebendige Stadtkultur. Viele Geschäftsleute auf der Keupstraße beklagen die diskriminierenden rechtlichen Barrieren, die sich offenkundig negativ auf ihre wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten auswirken (vgl. zu den Hintergründen ausführlicher Schuleri-Hartje/Floeting/Reimann 2005, 38ff). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Gerd Baumann (1998) in seiner Studie zum Londoner Stadtteil Southall. Dabei handelt es sich um eine Artikelserie unter dem Motto „Unsere Kölnländer“ im Kölner Stadtanzeiger vom November 2005. In den von der Redakteurin Kirsten Boldt verfaßten Beiträgen diente die Keupstraße wiederholt als Negativfolie.
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Katrin Gliemann /Gerold Caesperlein
Von der Eckkneipe zur Teestube Urbaner Wandel im Alltag: Dortmund-Borsigplatz
In der öffentlichen Debatte, aber auch in der Stadtplanungspraxis ist die Angst vor der Ghettoisierung ganzer Stadtteile, in denen viele Eingewanderte leben, weit verbreitet. Diese Diskussion und daraus abgeleitete Forderungen wie Quotierungen oder Zuzugssperren führen vor Ort jedoch nicht zur gewünschten Vielfalt in Eintracht – im Gegenteil: Sie schaden den betroffenen Stadtteilen. Dies soll nachfolgend anhand von Ergebnissen zweier Forschungsprojekte der Autoren erläutert werden.1 Kurz gefaßt, geht es dabei vor allem um die Forderung, die Wirkung externer Einflüsse auf die Entwicklung von Einwanderungsstadtteilen stärker zu beachten, statt sich nur auf das Geschehen innerhalb der Stadtteilgrenzen zu konzentrieren. Das betrifft die Stigmatisierung durch die übrige Stadt ebenso wie negative Folgen von planerischen Eingriffen. Die Sorge, Stadtteile mit hohem Anteil von Migrantinnen und Migranten könnten sich in ‚Ghettos‘ verwandeln, zieht sich durch viele Diskussionen und Publikationen. Das nordrhein-westfälische Sozialministerium beispielsweise forderte in seinem dritten Zuwanderungs- und Integra tionsbericht, aus Gründen der Stadtentwicklung alles zu unternehmen, „um einer Ghettoisierung Einhalt zu gebieten“ (MGSFF 2004, 92); „vorhandene massive Ballungen ethnischer Minderheiten“ müßten „abgebaut werden“ (ebenda, 114)2. Bukow und Yildiz (2001, 40) stellen hierzu fest: „Lokale Vertreter(innen) kommunaler und anderer lokaler Einrichtungen […] orientieren sich sehr deutlich an abgehobenen Vorstellungen über Ghettobildung durch Einwanderung und über die Errichtung von Gegengesellschaften, wie sie im überkommenen ,kommunalen Diskurs‘ bereitgehalten werden.“ Die Furcht vor Ghettoisierung spiegelt sich auch in einem Planungsziel wider, das weit verbreitet ist und zunächst ganz unverdächtig daherkommt: dem Ziel der sozialen Mischung, gleichsam als Gegenstück zur residentiellen Segregation (vgl. auch Siebel 1997, 39). Staubach und Veith (1997, 172) 119
bemerken, daß die Diskussion über Einwanderer in vielen Städten allein auf die Frage der Mischung reduziert wird. Dabei ist Entmischung beziehungsweise Segregation ein sehr altes Phänomen, das auch von der räumlichen Planung und Planungspolitik gefördert wird, zum Beispiel über das lange Zeit gültige Postulat der Funktionstrennung durch die Ausweisung von sozial und funktional einseitigen Einfamilienhausgebieten am Rand und im Umland der Städte oder den Abbau des Sozialwohnungsbestands. Die Widersprüche zwischen Mischungsforderung und Segregationsförderung werden wenig thematisiert. Daß beim Thema Einwanderungsstadtteile die ethnische beziehungsweise soziale Mischung fast ausnahmslos auf der Tagesordnung steht, liegt auch daran, daß man sich hierüber eine ‚Verdünnung‘ der erwarteten Probleme erhofft, zum Beispiel durch verstärkte Kontakte der Eingewanderten mit Einheimischen, was die Integration in die deutsche Gesellschaft fördern soll. Nur langsam verbreitet sich in der Planungspraxis die Einsicht, daß dies einerseits nicht funktioniert – „Mixed housing does not lead to mixed living“ (Veldboer/Kleinhans/Duyvendak 2001) –, andererseits die erwarteten Probleme nicht die realen sein müssen. Die Hartnäckigkeit, mit der sich die Mischungsforderung zur Verhinderung einer Ghettoisierung hält, verwundert auch darum, weil Stadtsoziologen schon in den siebziger Jahren Zweifel am Sinn der Durchmischung anmeldeten. Diese beruhe nämlich auf zwei fragwürdigen Prämissen: Die erste setze voraus, daß sich ein bestmögliches Mischungsverhältnis von sozialen Gruppen als Zielgröße angeben lasse, die zweite, daß sich dieses Ziel mit den Mitteln der Planung auch durchsetzen lasse (vgl. Hiss/ Schneider/Wegener 1976). In Teilen der Wissenschaft, vor allem der Stadtsoziologie, wird mittlerweile eine differenzierte Position zur Segregation vertreten, wonach residentielle Segregation nicht grundsätzlich ein Problem sei, sondern ethnische Kolonien in bestimmten Phasen des Einlebens und unter speziellen Rahmenbedingungen wichtige Aufgaben für Einwanderer übernehmen (vgl. dazu beispielhaft Caesperlein/Gliemann/May 1996, 155ff, Häußermann 2000, Häußermann/Siebel 2001, Heckmann 1992, 96ff, Krummacher 2000, 331f, Schader-Stiftung et al. 2005, 20f). Doch für Planerinnen und Planer vor Ort ist die Erkenntnis, daß räumliche Segregation nicht grundsätzlich ein Problem ist, nur eingeschränkt hilfreich. Einerseits hält die öffentliche Meinung durchaus Wertungen bereit, andererseits ist für die Planung schwer zu erkennen, wie die Segregation im jeweiligen Stadtteil tatsächlich zu bewerten ist. Zudem haben die Planenden in den Stadtteilen keinen (ausreichenden) Einfluß, zum Beispiel auf den 120
gesamtstädtischen Wohnungsmarkt, um sicherzustellen, daß die Bewohnerinnen und Bewohner eines Viertels auf Wunsch auch wieder fortziehen können. Damit offenbart sich ein Kernproblem dieser Quartiere: Zwar existiert eine Vielzahl planerischer Eingriffe, aber sie sind meist auf den Stadtteil beschränkt – als ob sie sich in einem gesamtstädtischen Vakuum bewegten. Das zeigt bereits ein Blick auf viele Fördermaßnahmen, wie sie beispielsweise im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ durchgeführt werden. Umgekehrt entsteht aber auch der Eindruck, daß die Stadtpolitik sich rasch damit zufrieden gibt, wenn für den betroffenen Stadtteil Fördergelder akquiriert werden; darüber hinausgehende Aktivitäten, die womöglich die gesamte Stadt umfassen, werden meist nicht für nötig gehalten. Das ist deshalb so gravierend, weil die Einbindung von Einwanderungsquartieren in die Stadt eine zentrale Stellschraube zur Herstellung echter Chancengleichheit sein kann, wie nachfolgend erläutert wird. Ein Hauptproblem liegt außerhalb des Stadtteils Der fehlende Einfluß der Stadtteilplanung auf gesamtstädtische Prozesse und Ressourcen ist nur ein Aspekt, der das problematische Wechselspiel von Stadt und Stadtteil illustriert. Hinzu kommt die Abwertung der Viertel durch Außenstehende. Denn die Diskussion über das Entstehen von Ghettos, wie sie zu Beginn aufgezeigt wurde, ist selbst Teil der Stigmatisierung dieser Quartiere – einer Stigmatisierung, die die Situation vor Ort noch zuspitzt. Das Image der Einwanderungsstadtteile verschlechtert sich dadurch immer weiter, so daß mehr und mehr Bewohnerinnen und Bewohner (im übrigen nicht nur ‚einheimische‘) die Viertel verlassen und weitere als problematisch bezeichnete Bewohnerinnen und Bewohner (im übrigen nicht nur ‚ausländische‘) nachziehen. Der Außenseiterstatus der Stadtteile und ihr – faktischer wie behaupteter – Modernisierungsrückstand verstärken sich zusehends. Mit anderen Worten: Ein Teil der Probleme, die in den Klagen über Ghettoisierung angeführt werden, wird von dieser Diskussion mit produziert. In einem Forschungsprojekt, das an der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund durchgeführt und von der VolkswagenStiftung gefördert wurde (ausführlich dokumentiert in: Caesperlein/Gliemann 2003), sind diese Zusammenhänge detailliert untersucht und belegt worden.3 Die Ursprünge der Stigmatisierung reichen bis in die Gründungszeit dieser Viertel zurück, wie ein Blick in die Geschichte zeigt: Viele ehemalige 121
Arbeiter- und heutige Einwanderungsstadtteile, vor allem innenstadtnahe Altbauquartiere, hatten seit jeher einen schlechten Ruf. Dem im erwähnten Forschungsprojekt untersuchten Borsigplatzviertel in der Dortmunder Nordstadt (vgl. Kasten) beispielsweise wurde anfangs als Nebeneffekt einer Spekulation in Stahl und Kohle keine Zukunft gegeben. Daher griff auch die Stadt zunächst nicht steuernd in die Entwicklung ein. Der Stadtteil wurde planlos und eng bebaut, Straßenbefestigung und Kanalisation gab es nicht, so daß die hygienischen Zustände zeitweise katastrophal waren. Dies wurde natürlich auch von den alteingesessenen Dortmundern registriert und entsprechend kommentiert. Als der wirtschaftliche Erfolg in der Nordstadt einsetzte, wurden die besserverdienenden Einwanderer neidisch beäugt (vgl. Horstmann 1989, 62), aber niemals als gleichwertig akzeptiert. Meist wurde eine Gruppe zur Stigmatisierung des gesamten Viertels ausgewählt (‚Pollackendrehscheibe‘, ‚Klein-Istanbul‘.) In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts fiel eine wichtige Vorentscheidung für die heutige Situation: Es begann der Exodus der Facharbei-
Das Borsigplatzviertel in Dortmund Das Borsigplatzviertel ist Teil der Dortmunder Nordstadt; trotz der Innenstadtnähe ist es durch seine Lage zwischen Bahndämmen und Werksflächen jedoch relativ isoliert. Ende 2007 lebten rund um den Borsigplatz (Statistischer Unterbezirk Westfalenhütte) 11.246 Menschen, davon nach offizieller Zählung 44 Prozent ohne deutschen Paß. Seit seiner Gründung im Jahr 1870 ist der Stadtteil Ziel von Einwanderung aus dem In- und Ausland. Anfangs zögerlich, ab 1895 binnen eines Jahrzehnts jedoch vollständig bebaut, war das Viertel im Schatten eines großen Montankonzerns stets Anlaufstelle für Arbeitssuchende – zuerst aus der näheren Umgebung, aus Westfalen und Nordhessen, später aus ganz Deutschland und dem heutigen Polen. Unter den Nazis mußten Tausende von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern den Werkbetrieb aufrechterhalten. Ab Mitte der sechziger Jahre begann die Einwanderung aus den klassischen Anwerbeländern ins Viertel. In der jüngsten Vergangenheit gibt es keine einheitlichen Trends mehr – neben dem Nachzug Angehöriger kamen auch neue Flüchtlinge und Einwanderer aus den verschiedensten Staaten.
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Der Borsigplatz gehört zu den wenigen Schmuckplätzen Dortmunds, die Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur geplant, sondern auch verwirklicht wurden. Geprägt ist er durch die teils historische Bausubstanz und die sechs sternförmigen Zufahrtsstraßen. Foto © Gerold Caesperlein, Katrin Gliemann
terschaft in angesehenere Stadteile. Sie profitierte vom Wirtschaftswunder weit stärker als die noch mit der Beseitigung der Bombenschäden an ihren Gebäuden beschäftigten Haus- und Geschäftsbesitzer. Die Abwanderung – was den Wert des Viertels betraf, gleichsam eine Abstimmung mit den Füßen – machte erst den Weg frei für den Zuzug von Arbeits kräften aus den Anwerbeländern. Die Einwanderer trafen damit auf Einheimische, deren Status bröckelte, waren sie doch die Verbliebenen, die sich einen Wegzug nicht leisten konnten. Ihr Ansehen und das des Viertels sanken weiter durch den öffentlich als negativ bewerteten Zuzug von Migrantinnen und Migranten. Anfangs konnten die Alteingesessenen ihnen noch die Außenseiterrolle zuweisen und sie auf einen Verhaltenskodex verpflichten. Spätestens in den achtziger Jahren gelang auch dies nicht mehr; der Zusammenhalt der Einheimischen durch Wegzug und Überalterung erodierte. Wesentliche soziale Netzwerke der Alteingesessenen büßten ihre Funktion und ihre Rolle ein: – Mehr als drei Viertel der Läden mußte schließen, wodurch auch eine Basis für die soziale Kontrolle über alltäglichen Klatsch und wirtschaftliche Kontrolle über Kleinkredite und enge Kundenbindung verlorenging. 123
– Der Verkauf von Häusern an Einwanderer als (vormalige) Außenseiter nimmt den (ehemals) Etablierten die Möglichkeit, den Wohnbereich durch eine entsprechende Vermietungspolitik zu gestalten und zu kontrollieren. – Das Schrumpfen von Organisationen wie SPD-Ortsverein oder Arbeiterwohlfahrt raubt den Etablierten ihre politische Stimme und Durchsetzungskraft. – Die christlichen Kirchen fristen ein Schattendasein. Gemeinden müssen aufgegeben werden oder fusionieren, um überhaupt noch ein Gemeindeleben aufrechterhalten zu können. – Die prägenden ‚Hausfrauenkollektive‘ der fünfziger Jahre, die großen Einfluß auf die Gestaltung des Wohnumfelds hatten und den sozialen Anpassungsdruck allen Neuankömmlingen gegenüber vermittelt und durchgesetzt haben, sind verschwunden.4 – Auch die Kneipenkultur, über die früher Neuankömmlinge in die Nachbarschaft integriert wurden, gehört bald der Vergangenheit an. – Mit dem Rückzug ins Private wurden nicht nur inner- und außerfamiliäre Kontakte vernachlässigt, auch der Straßen- und Hofraum wurde aufgegeben und anderen Gruppen zur Neudefinition überlassen – wenngleich nicht absichtlich und bewußt. Auch wenn viele der geschilderten Entwicklungen nicht auf den Borsigplatz beschränkt sind, sondern weite Teile der Gesellschaft betreffen: Der Verlust ihrer Netzwerke, ihrer Anlaufstellen und damit ihrer Präsenz im Viertel wird von den ehemals Etablierten als Niedergang empfunden – für die Betroffenen besonders spürbar und prekär, weil dem die umgekehrte Entwicklung bei den Einwanderern gegenübersteht, welche lange als Außenseiter beherrscht wurden und die zusammen mit den nachfolgenden Generationen nun im Stadtteil oft besser positioniert und organisiert sind als die früher Etablierten: – Es existieren etwa 30 türkische Geschäfte im Borsigplatzviertel, die durch Einträge in türkischsprachige Branchenbücher überlokale Bedeutung zu erlangen suchen – was außer dem Montankonzern und einigen Wohnungsgesellschaften zuvor kaum einem Betrieb der Etablierten gelungen war. – Der zunehmende Immobilienerwerb durch Eingewanderte markiert und symbolisiert deren Aufstieg, Präsenz und wachsende Definitionsmacht im Viertel. Dabei übernehmen sie eine wichtige Funktion für den Stadtteil: Sie investieren häufig in den Erhalt der Bausubstanz, während 124
es vielen einheimischen Hausbesitzern – aufgrund der Abwanderung der jungen Generation überwiegend im fortgeschrittenen Alter – dazu an Kraft und ökonomischer Basis fehlt. – Den schrumpfenden christlichen Kirchengemeinden stehen rege besuchte Moscheen gegenüber. – Teestuben der älteren und Billardcafés der jüngeren Einwanderer führen die Tradition der Eckkneipen fort. – Straßen und Höfe werden zur Erholung und zur Beaufsichtigung der Kinder benutzt, womit öffentliche Räume angeeignet und neu definiert werden sowie die soziale Kontrolle auf die ehemaligen Außenseiter übergeht. Die Gleichsetzung von Alteingesessenen mit Etablierten und von Eingewanderten mit Außenseitern hat ihre Gültigkeit für den Borsigplatz verloren. Wesentlich dabei ist, daß Eingewanderte erfolgreich sind mit Lebensund Wirtschaftskonzepten, die im Viertel Tradition haben und mit denen die Alteingesessenen zunehmend gescheitert sind. Beispiele sind im ökonomischen Bereich das Konzept des kleinen, oft auf Selbstausbeutung basierenden Familienbetriebs – eine Rechnung, die bei den Einheimischen aufgrund des Wegzugs der Nachkommen meist nicht mehr aufgeht. Im sozialen Bereich seien exemplarisch die Nutzung sozialer Netzwerke im Quartier und der enge Familienzusammenhalt genannt – Eingewanderte symbolisieren dieses Potential geradezu, Einheimische können darauf kaum mehr zurückgreifen. Gerade das Wiedererkennen der ‚eigenen‘ Konzepte, die die ‚Fremden‘ offenbar mit mehr Erfolg fortführen, sorgt bei den Einheimischen für Ablehnung, teilweise auch Aggression. Daß die ökonomische Situation vieler Einwanderer nicht so rosig ist, wie hier suggeriert wird, daß auch in eingewanderten Familien Generationenkonflikte, etwa durch Widersprüche zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft existieren, wird dabei nicht wahrgenommen. Aus der Perspektive der Alteingesessenen ist diese einseitige Sicht aber logisch: Zugewanderte werden zur Kontrastierung für die eigene – oft ernüchternde – Lebensbilanz herangezogen und sie dienen als Anlaß, sich allgemeiner gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen und damit auch Veränderungen von Machtpositionen bewußt zu werden. Auch dies sei an einem Beispiel illustriert: Ein immer wiederkehrendes Thema in den Erzählungen der befragten Alteingesessenen ist die Veränderung der Ladenstruktur. Die Ursache dieses Wandels waren innerhalb des Viertels der mißglückte Generationswechsel in den Familien und 125
Ein Lebensmittelladen, viele Jahre im Besitz von Alteingesessenen (oben), wird nun von Eingewanderten geführt (unten), Fotos © Gerold Caesperlein, Katrin Gliemann
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der Niedergang des Montanbetriebs mit der Folge einer schrumpfenden Nachfrage, außerhalb des Viertels unter anderem die zunehmende Konkurrenz durch große Einkaufsmärkte und steigende Mobilität. Dennoch verknüpfen die Einheimischen die veränderte Ladenstruktur direkt mit den Zugezogenen, weil letztere am Ende des Prozesses davon profitierten. Wenn es um den Exodus aus dem Viertel und den Zerfall der EtabliertenNetzwerke geht, darf allerdings die Haltung der Gesamtstadt als wesent liche Ursache nicht vergessen werden, da die fortwährende Stigmatisierung des Borsigplatzes als ‚Ausländerstadtteil‘ diese Situation noch zuspitzte. Das gilt für Teile der Stadtpolitik, aber gerade auch für die Lokalpresse, die das Image des Stadtteils durch ihre Berichterstattung prägt. Diese verläuft oft wellenförmig: Artikel über die skandalösen Zustände vor Ort („Soziale Probleme ersticken die Nordstadt“) wechseln sich ab mit Beiträgen, in denen eine Besserung festgestellt wird („Nordstadt im sozialen Aufwind“), obwohl die Erfolge angesichts der Höhe der Investitionen am Ende doch relativiert werden. Etablierten-Außenseiter-Konflikte, wie Elias und Scotson (1993) sie beschrieben haben, sind ein klassischer Erklärungsansatz, um das Verhältnis zwischen Einwanderern und Alteingesessenen zu deuten. Doch läßt er sich nicht nur auf Personen, sondern auch auf Raumeinheiten anwenden:
Beispiele für typische Berichterstattungen über die Dortmunder Nordstadt
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auf das Verhältnis zwischen der etablierten Gesamtstadt und dem Außenseiterviertel. Auf dieser Ebene lassen sich sämtliche von Elias und Scotson (ebenda, 7ff) beobachtete Zuschreibungen identifizieren, mit denen Etablierte Außenseiter erst zu diesen machen. Vier solche Zuschreibungen seien beispielhaft genannt (ausführlich: Caesperlein/Gliemann 2003, 199f): – Bewertung nach den auffälligsten und ‚verwerflichsten‘ Bewohnerinnen und Bewohnern: Einzelne Negativbeispiele wie nächtliche Ruhestörer oder Kriminalität auf offener Straße werden häufig auf das gesamte Viertel bezogen – in anderen Stadtteilen ist dies nicht der Fall. – Verdammung zur Armut: Ein Großteil der Gewinne aus der Montan industrie wurde nicht im Viertel, sondern im wohlhabenden Dortmunder Süden realisiert; zugleich sind Sozialwohnungen ein zentraler Streitpunkt im Quartier – als Zeichen für die weitere Festschreibung des niedrigen sozialen Status des Viertels. – Behauptung von Straffälligkeit: Die Diffamierung von Einwanderern als kriminell sowie die aufmerksame Registrierung einzelner Straftaten in der Lokalpresse fällt letztlich auf alle Bewohnerinnen und Bewohner zurück. Hinzu kommt, daß Armut an sich ebenfalls zunehmend kriminalisiert wird. – Erziehung zur Unterwürfigkeit: Zahlreiche Alteingesessene haben den schlechten Ruf des Viertels in ihr Selbstbild übernommen und fühlen sich im Vergleich zur Einwohnerschaft anderer Stadtteile minderwertig. Ihre Adresse geben sie oft nur ungern preis. Viele ziehen sich völlig aus dem öffentlichen und politischen Leben zurück und warten auf die Entscheidungen anderer – der Stadt beziehungsweise früher des vor Ort ansässigen Montankonzerns. Ihr Minderwertigkeitskomplex wirkt sich auf das Verhalten gegenüber Zugewanderten aus: Die Einheimischen grenzen sich ihnen gegenüber ab – in der Hoffnung, dann selbst in einem besseren Licht dazustehen. Eine Solidarisierung und gemeinsame Interessenvertretung werden dadurch verhindert. Und die Stadtplanung? Bisher war in erster Linie von der Stadtpolitik und städtischen Öffentlichkeit die Rede, doch welche Rolle spielt die Stadtplanung bei den geschilderten Prozessen? Sie selbst sieht sich meist in der Rolle, die Probleme benachteiligter Stadtteile lösen zu sollen. Doch einiges deutet darauf hin, daß die Planung selbst zu den Problemen beiträgt: 128
– Aufschlußreich ist bereits die Karriere der Begriffe, mit denen Planungsprogramme die hier betrachteten Stadtteile bezeichnen – angefangen von Katrin Zapfs „Rückständige Viertel“ (1969) bis hin zu den aktuellen „Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf“. Begriffe enthüllen immer auch die Haltung, die diesen Räumen gegenüber eingenommen wird, und tragen zur Stigmatisierung der Viertel bei – auch wenn die Planung eigentlich Gegenteiliges bezweckt. – Wenn es um Einwanderung geht, haben Planerinnen und Planer häufig einen Tunnelblick: Sie betrachten Eingewanderte als eine homogene Gruppe und meinen meist „die Türken“, wenn sie von „den Ausländern“ sprechen. Doch selbst die türkische Gruppe ist inzwischen ausgesprochen heterogen, und zudem wird die Wohnbevölkerung durch eine Vielzahl weiterer Herkunftsländer geprägt. Und ebenso wenig, wie es ‚den‘ Ausländer gibt, existiert ein einheitlicher Typ Einwanderungsstadtteil. Das zeigt zum Beispiel eine Studie des Zentrums für Türkeistudien: Das ZfT clusterte 279 Stadtteile und zeichnete allein anhand der dominanten Faktoren Altersgruppen und Struktur der Nationalitäten ein differenziertes Bild von sieben Stadtteiltypen, die auch mit ganz unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben verbunden sind (vgl. ZfT 2002). – Der ‚Ausländeranteil‘ wird häufig als Indikator für Defizite des betrachteten Planungsgebiets aufgeführt, obwohl sich herausgestellt hat, daß bestimmte Migrantinnen und Migranten sogar eher stabilisierend auf die Viertel wirken (vgl. zum Beispiel Keim/Neef 2000 und FischerKrapohl 2007). Dabei gibt es bereits Beispiele für eine bessere Indika torenauswahl: Im Raumordnungsbericht 2005 wird der Anteil ausländischer Schüler an höheren Schulen herangezogen, um soziale und räumliche Gerechtigkeit zu messen (vgl. BBR 2005, 98). – Da die Förderung über Programme wie „Soziale Stadt“ oder als einer der Vorläufer die NRW-Initiative „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“ zeitlich befristet ist, ergibt sich durch stadtplanerische Kurzeinsätze keine wirkliche Verbesserung. Krummacher et al. (2003, 222) sprechen in diesem Zusammenhang treffend von „Go-und-StopProjekten“. Es fließen immer wieder Sondermittel in den Stadtteil, die die ‚Unterentwicklung‘ zum Anlaß haben – und diese damit betonen. Daß der Stadtteil auch nach einer Förderung weiter als unterentwickelt dargestellt wird, liegt in der Natur der Sache: Nur so können erneut Sondermittel beantragt werden, auf die keine Stadt gerne verzichtet. – Angesichts knapper Kassen sind die Kommunen auf Gelder aus den genannten Förderprogrammen angewiesen, finanzieren damit aber teil129
weise auch Planungsmaßnahmen, die eigentlich über den regulären Etat abgedeckt werden müßten. Da die Förderprogramme es mit sich bringen, daß für jeden Euro die „soziale Benachteiligung“, die „Unterentwicklung“, die „problematische Bevölkerungsstruktur“ betont werden müssen, markiert hier jeder verbaute Pflasterstein nicht wie andernorts Normalität, sondern zementiert letztlich das schlechte Image des Stadtteils. – Diese Situation wird mit Debatten um die (ohnehin nicht realisierbare) Quotierung von Einwanderern in bestimmten Quartieren erschwert statt verbessert. Damit wird zweierlei markiert: Einwanderung sei eine Belastung, und im betreffenden Stadtteil sei diese Belastung überschritten. Daß Einwanderung auch belastend wirkt, da im Alltag immer wieder unerwartete Wertekonflikte zu lösen sind, ist unbestritten. Das Problem liegt aber darin, daß die Stadt einerseits die Belastung reklamiert, andererseits aber das Viertel damit allein läßt. Die Integrationsleistung der Bewohnerinnen und Bewohner wird nicht anerkannt, vielmehr wird das geringe Sozialprestige dieser Integrationsleistung noch unterstrichen. Neue Aufgaben für die Planung Statt der Angst vor der Entstehung von Ghettos und hartnäckigen, aber weitgehend wirkungslosen Versuchen des Gegensteuerns wäre es stattdessen notwendig, die wichtige Funktion, die Einwanderungsviertel als Durchgangsstadtteile und Katalysator für die Gesamtstadt übernehmen, zu akzeptieren und zu unterstützen. Damit würde mit der gängigen Praxis der Stigmatisierung gebrochen und ein neuer Weg beschritten, der den in den Stadtteilen erbrachten Leistungen gerecht wird. Exemplarische Untersuchungen im Borsigplatzviertel zeigen, daß die Mobilität immens ist und der Stadtteil tatsächlich als Durchgangsstation genutzt wird. Die Auswertung von städtischen Adreßbüchern über einen Zeitraum von anderthalb Jahrzehnten5 ergab, daß gerade die Fluktuation der Migrantinnen und Migranten sehr hoch ist – und deutlich höher als bei den Einheimischen. In den beispielhaft untersuchten Straßenzügen wohnten nach 16 Jahren durchschnittlich nur noch 10 Prozent der Einwanderer im selben Haus, bei den übrigen Bewohnern waren es immerhin noch 25 Prozent – trotz der massiven Abwanderung und des Aussterbens der Vorkriegs- und Kriegsgeneration. Das zeigt: Das Viertel ist kein Ghetto 130
Sinnbild für die Transitfunktion des Stadtteils: Dieses Gebäude im Borsigplatzviertel war im Laufe der Jahrzehnte schon deutsche Brauerei, polnischer Tanzsaal, Stadtteilkino, griechischer Tanzsaal sowie marokkanisches Kulturzentrum und Moschee. Foto © Gerold Caesperlein, Katrin Gliemann
im Sinne einer Einbahnstraße, denn 90 Prozent der Einwanderinnen und Einwanderer sind nach 16 Jahren umgezogen. Die Existenz von Durchgangsstadtteilen zu akzeptieren, ist für die Planung ungewohnt, denn eine hohe Mobilität der Bewohnerinnen und Bewohner wird gemeinhin als Warnzeichen gedeutet, die Verringerung der Fluktuation in der Regel als Erfolg angesehen. Dies kann in Einwanderungsstadtteilen aber schnell zu einem gedanklichen Kurzschluß führen. Denn hohe Mobilität kann ja gerade darauf hindeuten, daß die erste Eingliederung der Zuwanderer und ihr anschließender Wegzug in andere Stadtteile geglückt ist, während eine geringe Fluktuation eher auf die so gefürchtete GhettoSituation im Sinne einer ‚Sackgasse‘ verweisen könnte. Zugegeben: Mit der Akzeptanz und Förderung des steten Bevölkerungsaustauschs wird die Aufgabe für Planer nicht unbedingt einfacher. Denn Ansätze einer stadtteilgerechten Selbstorganisation und partizipativen Planung brechen schnell zusammen, wenn die einmal aktivierten Mitstreiter nach kurzer Zeit wieder wegziehen. Auch darauf wirft eine Aus 131
wertung von statistischen Daten aus dem Dortmunder Borsigplatzviertel ein interessantes Licht: Die (straßenweise erfolgte) Feinanalyse der Bevölkerungsverteilung, aufgesplittet in Gruppen nach Herkunftsregionen6, zeigt, daß es nur wenige langfristig existente Schwerpunkte einzelner Gruppen gibt. Diese entstehen meist im Umfeld von religiösen Zentren, Läden, Teestuben und Cafés. Hier dominiert über längere Zeiträume die jeweilige Herkunftsgruppe, aber innerhalb dieser Gruppe gibt es ebenfalls ein stetes Kommen und Gehen. Gegebenenfalls können die wenigen dauerhaften Einrichtungen gerade ein Vorbild für künftige planerische und institutionelle Bemühungen sein. Denn offenbar sind sie eine kontinuierliche Anlaufstelle inmitten dauerhafter und rapider Veränderung. Planung und Verwaltung fehlen oft genau diese Anlaufstellen. Neben einer Neubewertung der Fluktuation im Stadtteil liegt eine weitere Herausforderung für die Planung darin, eine offene Infrastruktur zu schaffen, die den Bedürfnissen von Neuankömmlingen gerecht wird, den Stadtteil-Bewohnern Entwicklungschancen bietet und es ihnen ermöglicht, auch für kurze Zeit Anschluß zu finden und sich im Stadtteil zu engagieren. Offen heißt: Nutzung und Angebote dieser Einrichtungen sind inhaltlich flexibel und stets neu verhandelbar, der Zugang für alle ist gesichert, und die Einrichtungen sind an zentraler Stelle des Stadtteils verortet. Zudem sollte die gerade in Altbauvierteln vorhandene vielseitig nutzbare Bausubstanz gesichert und – soweit planerisch festsetzbar – durch eine ebenso flexible Bebauung ergänzt werden. Sie läßt sich eher an wechselnde Bedürfnisse neuer Zuwanderer anpassen und ermöglicht es auch, daß Neuankömmlinge zunächst bei Verwandten oder Landsleuten unterkommen können. Das Viertel ist ein Durchgangsstadtteil und benötigt keine Umdeutung seiner Funktion – Versuche, über Quotierungen oder ähnliche Maßnahmen eine bestimmte Bevölkerungsverteilung festlegen zu wollen, sind Beispiele für solche Umdeutungen. Stattdessen sollte über entsprechende Beratungsangebote, aber auch über das Öffnen von Wohnungsmarktsegmenten in anderen Stadtteilen gefördert werden, daß Eingewanderte den Stadtteil auf Wunsch wieder verlassen können. Die Akzeptanz der Realitäten im Stadtteil bedeutet letztlich auch, plane rischen Erfolg neu zu definieren: Ausgehend von den heutigen Bedingungen und Funktionen des Viertels sind planerische Ziele neu festzulegen. Erfolg wäre in diesem Zusammenhang, wenn sich die baulich-infrastrukturelle Situation verbessert und die jeweiligen Bewohnerinnen und Bewohner sich effektiver selbst vertreten als bislang. Weitergehende Forderun132
gen sind nicht an den Stadtteil, sondern die Gesamtstadt zu richten, die durch ihre negative Außensicht einen maßgeblichen Anteil an der Situation vor Ort hat. Es wäre ihre Aufgabe, das Viertel gleichberechtigt in städtische Standortentscheidungen einzubeziehen, um seinen Wert für die Gesamtstadt auch materiell anzuerkennen. Das bedeutet beispielsweise, auch prestigeträchtige Institutionen und Betriebe dort zu plazieren. Bisher bleiben hochwertige Einrichtungen, die zudem entsprechende Arbeitsund Ausbildungsplätze bereitstellen, den ‚besseren‘ Vierteln vorbehalten, während sich Einwanderungsstadtteile – wenn überhaupt – mit weniger angesehenen Ansiedlungen, zum Beispiel aus dem Bereich Logistik oder Abfallwirtschaft, begnügen müssen. Der skizzierte Perspektivwechsel ist gewiß schwierig, auch weil er mit gängigen Planungsmaximen bricht. Doch die bisherigen Aktivitäten haben zwar kleinräumige Verbesserungen, aber keinen Kurswechsel bewirkt, dafür müßten weiterreichende Veränderungen angestoßen werden, die über eng begrenzte lokale Projekte hinausgehen. Im Grunde spiegelt sich in den Forderungen an die Planung auch eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit: Einwanderung als elementaren Bestandteil des deutschen Alltags und als Potential für die Weiterentwicklung der Gesellschaft anzu erkennen. Anmerkungen 1 Der Artikel ist die veränderte und ergänzte Fassung eines früheren Aufsatzes: Gliemann, Katrin/Caesperlein, Gerold: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Der unterschätzte Einfluss der Stigmatisierung von Einwanderungsstadtteilen. In: Neuhaus, Rolf/ Wilforth, Stephan (Hg.): Partizipation und Integration. Information erleichtern – Partizipation ermöglichen – Integration fördern. RaumPlanung spezial 11. Dortmund 2007, S. 123–148. 2 Weitere Beispiele für diese Sichtweise finden sich in: Bechmann (1999, 19), Geiss/ Heckenroth/Krings-Heckemeier (2002, 270), Paravicini/Krebs/May (2002, 132), Regionalverband Ruhr (2005, 21), Ministerium des Inneren Rheinland Pfalz (2006, 53) und in Verwaltungsvorschriften, beispielsweise des Ministeriums für Stadtentwicklung Brandenburg vom 15. Oktober 2002; siehe Literaturverzeichnis. 3 Methodisch stützte sich das Forschungsprojekt auf biographische Interviews mit deutschen Alteingesessenen, die 20 Jahre oder länger im Viertel wohnten. Diese Datenquelle wurde ergänzt durch eine Analyse der Presseberichterstattung über den Stadtteil sowie von historischen Adreßbüchern, die Informationen über die Zusammensetzung der Bewohnerschaft im Zeitverlauf enthalten. 4 Die wichtige Rolle der Hausfrauen für die Gestaltung des Viertels und die Aufnahme neuer Bewohnerinnen und Bewohner bezieht sich zum Beispiel auf die Vermittlung
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von Regeln, wie der Bereich im und am Haus zu gestalten und sauberzuhalten ist, oder auf die wechselseitige Kontrolle und Stärkung des Zusammenhalts durch gemeinschaftlich genutzte Einrichtungen wie Wäschekeller, Trockenböden oder die Teppichstange im Hof. Das Verschwinden der Hausfrauenkollektive wurde vor allem dadurch ver ursacht, daß sich durch steigenden Wohlstand und technischen Fortschritt immer mehr Haushalte Geräte wie Waschmaschinen, Küchengeräte oder Staubsauger leisten konnten. Dadurch beschränkte sich die Arbeit der Hausfrauen zunehmend auf den privaten Bereich der eigenen Wohnung, das Prestige der harten und genaue Arbeitspläne erfordernden Hausarbeit sank und biographischer Erfolg orientierte sich noch stärker an der bezahlten Erwerbsarbeit. Mit zunehmender Erwerbstätigkeit von Frauen, die natürlich gleichzeitig Emanzipationschancen mit sich brachte, ging auch ihre Präsenz im Wohnumfeld zurück. 5 Ausgewertet wurden Adreßbücher der Stadt Dortmund aus den Jahren 1981 bis 1997, die nach Straße und Hausnummer aufgeschlüsselt die Namen der Hausbewohner enthalten. Aufgrund einer Umstellung im Einwohnermeldewesen waren Daten aus späteren Jahren nicht mehr nutzbar. Es wurden für drei längere Straßenzüge im Stadtteil im Abstand von drei bis vier Jahren (abhängig von der Verfügbarkeit der Adreßbücher, die nicht immer jährlich erschienen sind) die Zahl der eingewanderten und einheimischen Bewohner in jedem einzelnen Haus und ihre Verweildauer in diesem Haus ermittelt. Die Analyse war Teil des Forschungsprojekts „Grenzland oder Schmelztiegel? Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen von Einwander/innen unterschiedlichster Herkunft in einem traditionellen Zuwanderungsstadtteil“, das an der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund durchgeführt und von der VolkswagenStiftung gefördert wurde. 6 Der Untersuchung lagen Daten der städtischen Bevölkerungsstatistik in einer Sonderzusammenstellung durch das Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Dortmund zugrunde. Die möglichen Nationalitäten der Bewohner wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen zu 23 Gruppen zusammengefaßt, als räumliche Erhebungs- und Zuordnungseinheit wurde die Straße festgelegt. Die Daten wurden nicht jahrgangsweise seit 1980 (dem Jahr der ersten in Dortmund verfügbaren Daten) erfaßt, sondern im Abstand von je vier Jahren – abgestimmt auf einwanderungsbedeutsame Ereignisse und Phasen. Auf der Grundlage dieser Daten konnte untersucht werden, wie sich Zugewanderte verschie dener Nationalitäten im Stadtteil verteilen, ob es räumliche Schwerpunkte einzelner Gruppen gibt und wie sich die Verteilung im Zeitverlauf entwickelte.
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Wohnungsangebot im Fenster eines Hauses von Duisburg-Ruhrort. Es zeigt exemplarisch, daß Einwanderer sich über Immobilienerwerb etablieren und in die Bausubstanz investieren. Foto © Gerold Caesperlein, Katrin Gliemann
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Angela Stienen
Einst „die Bronx von Bern“ Die andere Logik sozialräumlicher Segregation
„Wohltemperierte“ Stadt Die Stadt Bern ist ein unspektakulärer Einwanderungskontext. Zwar besitzt rund ein Viertel der Bevölkerung ausländische Pässe, aber das Image der Stadt ist nicht bestimmt durch Schlagzeilen über brennende Vorstadtghettos oder ‚überfremdete‘ Schulhäuser, die zu ‚Terrorschulen‘ verkommen würden. Bern wird als „wohltemperierte Stadt“ (Bieri 2007) wahrgenommen, geprägt durch protestantische Zurückhaltung und eine dem Wandel skeptisch gegenüberstehende Beamtenmentalität. In der 1191 gegründeten Berner Altstadt, die von der Unesco als Welterbe klassifiziert ist, scheint die Zeit stillzustehen. Bern galt bis Anfang der neunziger Jahre als bürgerlichste und konservativste Stadt unter den größeren Schweizer Städten. Doch 1992, als eine rot-grüne Mehrheit in die Stadtregierung gewählt wurde, die bis heute im Amt ist, setzte ein Linksruck ein. Den gab es in den neunziger Jahren zwar in allen größeren Schweizer Städten, aber von der Stadt Bern wird behauptet, sie habe die anderen Städte des Landes links überholt.1 In Bern ist der gesamtschweizerische Trend, daß sich die städtische Bevölkerung in den letzten Jahren nicht nur politisch, sondern auch soziostrukturell grundlegend gewandelt hat, besonders ausgeprägt. Der Bevölkerungsanteil mit niedrigem Bildungsstand und statustiefer Erwerbstätigkeit ist seit 1990 stark zurückgegangen, die Lebensformen haben sich radikal verändert (Gächter 2006; Stienen 2007). Die Hälfte aller Haushalte in Bern sind heute Einpersonenhaushalte, die Zahl der Haushalte Alleinerziehender oder von Familien mit voll- oder teilzeiterwerbstätigen Müttern hat deutlich zugenommen. Das traditionell-bürgerliche Familienmodell mit vollzeiterwerbstätigem Mann und nichterwerbstätiger Hausfrau und Mutter – nicht nur in der Schweiz seit 137
den 1950er Jahren das dominante, klassenübergreifende Familienideal und Stütze der bürgerlichen Gesellschaft – hat auch in Bern seinen ein stigen Stellenwert verloren, obschon es bis weit in die achtziger Jahre von wichtigen Teilen der schweizerischen Gewerkschaften als Leitbild aufrecht erhalten wurde und die schweizerische Lohnpolitik mitbestimmte (Rytz 1997; Magnin 2002). Neue Urbanität Mit diesen Veränderungen geht ein ausdrückliches stadtpolitisches Bekenntnis der rot-grünen Berner Regierung einher, das in der Neudefinition des Städtischen im Spannungsfeld zwischen urbaner Toleranz und rigider Reglementierung zum Ausdruck kommt. Bern verfügt über ein Kompetenzzentrum Integration, das sich an die städtische Migrationsbevölkerung richtet.2 Die Stadt verfolgt eine liberale Drogenpolitik und duldet Bettler in der Innenstadt. Sie sucht aber auch den Anforderungen des globalen Standortwettbewerbs zwischen den Städten zu genügen und wetteifert mit anderen Städten mit städtebaulichen Prestigeprojekten, City-Styling sowie mit immer strikterer Überwachung öffentlicher Räume, um Investoren und solvente Steuerzahler anzuziehen (Stienen und Blumer 2008). Berns Bevölkerung wohnt heute ausgeprägter segregiert als noch in den achtziger Jahren (Gächter 2006; Stienen 2007). Die städtebauliche Aufwertung innenstadtnaher ehemaliger Arbeiterquartiere trägt, ähnlich wie in anderen größeren Schweizer Städten, dazu bei, daß sich die Bevölkerung mit tiefem Sozialstatus und niedrigem Einkommen – zu ihnen gehört ein beachtlicher Teil der Stadtbewohner mit ausländischem Paß – zunehmend in die Randzonen dieser Quartiere oder aber aus ihnen weg hin an den Stadtrand verschiebt. So konzentrieren sich diese Bevölkerungsteile heute weit stärker in den zwischen 1950 und 1980 entstandenen Großüberbauungen am Stadtrand als noch Ende der achtziger Jahre (Ziegler 2002; Gächter 2006). Solche Quartiere und Quartierteile werden auch in Bern als ‚Ghetto‘ stigmatisiert. Besonders im Visier stehen dabei Bewohner mit ausländischem Paß. In einzelnen Quartieren machen sie ein Drittel der Wohnbevölkerung aus, in bestimmten Quartierteilen sogar über die Hälfte. Diese Zahlen werden gern zum Ausgangspunkt dafür genommen, in die durch Wissenschaftler prominent gemachte3 Rede von der städtischen Desintegration und der 138
Entstehung „ethnischer Parallelgesellschaften“ einzustimmen. Wie andere Schweizer und europäische Städte hat sich Bern darum das Ziel gesetzt, „residenziellen Ausländerkonzentrationen“ und der Bildung von „Ghettos“ entgegenzuwirken und die „soziale Durchmischung“ in den Quartieren zu fördern.4 Denn „Ausländerkonzentrationen“, so hat sie die wissenschaftliche Forschung anscheinend gelehrt, müßten als Ausdruck des Scheiterns der Integration, als fehlgeschlagene Befreiung aus dem „ethnischen Schraubstock“ oder aber als Passage von einer „vormodernen Vergesellschaftungsform hin zur höheren Stufe der individuellen Integration“ gesehen werden (Heitmeyer 1998, 450f; Häußermann 1998, 153f). Im folgenden Beitrag soll diese Sichtweise auf der Grundlage einer Untersuchung, die in drei zentrumsnahen ehemaligen Arbeiterquartieren des Berner Stadtteils Breitenrain-Lorraine durchgeführt wurde (Stienen 2006a), problematisiert und eine andere Logik sozialräumlicher Segre gation vorgestellt werden.5 Ghetto? Ghetto! Der Stadtteil Breitenrain-Lorraine, im Volksmund ‚Nordquartier‘ genannt, entstand Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Cityerweiterungsgebiet im Umfeld des neu gebauten Bahnhofs und der sich dort ansiedelnden Industrie. Jedem der drei untersuchten Quartiere des Stadtteils – Lorraine-, Breitenrain- und Breitfeldquartier – haftete im Verlauf der Stadtgeschichte aus verschiedenen Gründen ein Ghetto-Image an. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, zur Zeit der Industrialisierung, war es der Quartierteil Wyler im Breitenrainquartier, der nach dem Bau einer der bedeutendsten Arbeitersiedlungen der Stadt Bern das Stigma ‚Ghetto‘ erhielt. Durch den Zuzug vieler kinderreicher Arbeiterfamilien entwickelte sich die Siedlung zum damals am dichtesten besiedelten Stadtraum Berns (Hauser und Röllin 1986). Wie andernorts (vgl. Lindner 1990, 27f) wurde damals auch in Bern die „residenzielle Konzentration der arbeitenden Bevölkerung“ in der Stadt von bürgerlicher Seite mit moralischem Zerfall und sozialer Unordnung in Verbindung gebracht. Die Berner Stadtregierung wurde aufgefordert, „eine größere Ansammlung von gleichartigen Elementen“ einzudämmen und in Zukunft zu verhindern (Hauser und Röllin 1986). Die stigmatisierte Arbeitersiedlung im Wyler wurde in den fünfziger Jahren abgerissen und durch die ersten drei Hochhäuser in der Stadt Bern ersetzt. 139
Zu einer erneuten „größeren Ansammlung von gleichartigen Elementen“ kam es in den sechziger Jahren, diesmal im Lorrainequartier. Als im Kontext der ‚Gastarbeiteranwerbung‘ Einwanderer aus Süd- und Südost europa in den Stadtteil zogen, siedelten sich vergleichsweise viele italienische Migranten an; das Quartier galt seitdem als Berns ‚Little Italy‘. Auch in den achtziger Jahren haftete dem Lorrainequartier das Stigma ‚Ghetto‘ an. Mit 20 Prozent war der Anteil der Ausländer an der Wohnbevölkerung Berns seinerzeit der höchste, und zudem zog das Quartier in den acht ziger Jahren die Alternativszene an, die sich in Bern, ähnlich wie in anderen Städten in der Schweiz und im übrigen Europa, im Zuge der sozia len Bewegungen und Jugendunruhen der späten siebziger und achtziger Jahre herausbildete.6 Sie siedelte sich vor allem im Lorrainequartier an, weil sie dort Zugang zu der im gesamtstädtischen Vergleich hohen Zahl unrenovierter stadteigener Altbauwohnungen fand. In der Folge wurde das Lorrainequartier zur ‚Bronx von Bern‘. Heutzutage sind es die mit Hochhäusern überbauten Gebiete im Breitfeld- und Breitenrainquartier, die ein Ghetto-Image haben. Dieses wird zum einen mit der ‚Überalterung‘ der dort lebenden Schweizer Bevölkerung begründet und zum anderen damit, daß in diesen Gebieten die mei sten Ausländer im Stadtteil wohnen, sowohl Alteingesessene aus Staaten mit ‚Gastarbeitertradition‘, die auch ins Pensionsalter gekommen sind, als auch jüngere neu Zugezogene aus außereuropäischen Ländern ohne Migrationstradition in der Schweiz. Der Begriff ‚Ghetto‘ basiert auf der Annahme, daß eine „größere Ansammlung gleichartiger Elemente“ verhindert werden müsse. Daher bezieht er sich mal auf Menschen aus anderen Ländern, mal auf Angehörige einer bestimmten Klasse, einer besonderen Lebensstil- oder Altersgruppe oder auch ganz allgemein auf Nicht-Schweizer. Auch aus der Innensicht ist die Bedeutung des Begriffs ‚Ghetto‘ uneindeutig, wie die Aussagen von zwei ‚Ghetto‘-Bewohnern im Stadtteil zum Ausdruck bringen. Für einen Jugendlichen mit türkischem Paß, der im Wyler aufwuchs, ist dieser Quartierteil im Breitenrainquartier ein ‚Ghetto‘, jedoch in einem positiven Sinn: „Also der Wyler, das war so ein lebendiges Quartier. Wir hatten eine richtige Szene, wir hatten Sportler, wir hatten Rapper, wir hatten welche, die Graffitis sprayten, genauso, wie ich mir das ‚Ghetto‘-Leben immer vorgestellt habe.“ Als er mit seinen Eltern an einen anderen Ort im Stadtteil zog, sah er sich in ein anders konnotiertes ‚Ghetto‘ versetzt: „Hier liegt das Durchschnittsalter etwa bei fünfundachtzig Jahren, das richtige Leben ist im Wyler.“ (Stienen 2006c, 229). Auch eine junge Mutter, die ebenfalls 140
aus der Türkei stammt, stellt das Stigma ‚Ghetto‘, mit dem das stadteigene Hochhaus, in dem sie im Breitenrainquartier wohnt, aus der Außensicht behaftet ist, auf den Kopf. Aus ihrer Innensicht ist das ‚Ghetto‘ ebenfalls etwas Positives: „Die Leute hier haben alle das gleiche Niveau, alle sind Arbeiter, alle haben Kinder, es hat viele Leute, das gefällt mir. Im Sommer, wenn es warm wird, setzen wir uns vor die Haustüre, es ist so schön wie in der Türkei.“ (ebd.) Die normative Frage, ob die residentielle Konzentration bestimmter „gleichartiger Elemente“ im Stadtteil nun positiv oder negativ sei, soll hier nicht im Zentrum stehen. Mit ihr beschäftigen sich die Ämter, die um die „sozialverträgliche Durchmischung“ von Berns Quartieren streiten.7 Hier soll es um die Beziehungsdynamik in Gebieten im Stadtteil gehen, die aufgrund bestimmter statistischer Häufigkeiten als ‚Ghetto‘ betrachtet werden. Stadt à la carte Das Berner ‚Nordquartier‘ präsentiert sich als sozialräumlicher Flickenteppich. Jede und jeder kann heute dort einen Ort finden, der den eigenen Vorstellungen von städtischem Leben in irgendeiner Weise entspricht. Idyllisch anmutende, von viel Grün umgebene alte Schindelhäuser stehen neben modernen Neubauten gemeinnütziger Bauträger und neben alten, von Wohnbaugenossenschaften behutsam sanierten Vorstadtwohnungen. Stark verkehrsexponierte Gebiete mit Blockrandbebauung, sanierungsbedürftigen Zeilenbauten aus den dreißiger Jahren und Hochhäusern aus den sechziger und siebziger Jahren finden sich in unmittelbarer Nachbarschaft verkehrsberuhigter Quartierstraßen, an denen von Gärten umgebene Mehrfamilienhäuser aus den zwanziger Jahren liegen. Stillgelegte und (vorläufig noch) ungenutzte Industrieanlagen grenzen an den großzügig gebauten, multifunktionalen Gebäudekomplex, zu dem das alte Berner Fußballstadion im ‚Nordquartier‘ umgebaut wurde und in dem neben dem Stadion Büros, ein Berufsschulgebäude und eine Vielzahl von Geschäften zu finden sind. Sie kontrastieren die vielen Kleingewerbezonen im Stadtteil, deren Angebote sich in den letzten Jahren vervielfacht haben: Zu den alten Quartierkneipen und alteingesessenen Quartierläden sind schicke Bars und trendige Cafés, Designer-Boutiquen und Galerien hinzugekommen, Öko-Läden und mediterrane Delikatessengeschäfte, spanische Weinhandlungen, asiatische Supermärkte und Kebab141
Das Lorrainequartier vor und nach der Aufwertung: Umnutzung eines im Baurecht erworbenen stadteigenen Grundstücks durch den Neubau eines gemeinnützigen Bauträgers Foto © Angela Stienen
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Buden, afrikanische Friseure und alternative Waschsalons, Beratungsstätten für Arbeitslose, multikulturelle Quartierzentren und ein Stadtkino, das von tamilischen Migranten betrieben wird. Die Statistiken verweisen darauf, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen im ‚Nordquartier‘ heute stärker segregiert wohnen als in den achtziger Jahren. Angehörige von Nationalitätengruppen mit ‚Gastarbeitertradition‘, traditionell bürger liche Familienhaushalte, höhere Altersgruppen und Personengruppen mit tiefem Bildungsstand und statustiefer Erwerbsposition sind heute stärker als vor zwanzig Jahren in den als unattraktiv geltenden Quartierteilen an den Rändern des Stadtteils konzentriert, wo unsanierte ältere Wohn gebäude und Hochhäuser an verkehrsexponierter Lage sowie Industrie brachen zu finden sind (Stienen und Blumer 2006). Die geschilderten Kontraste und die Segregation verweisen darauf, daß das ‚Nordquartier‘ seit den achtziger Jahren eine schleichende Gentrifizierung, das heißt eine (punktuelle) bauliche Aufwertung und eine kulturelle Umwertung durchläuft.8 Diese Entwicklung wurde wie anderswo mit dem Zuzug der Alternativszene eingeleitet. Die ‚Pioniere‘ der Stadtteilaufwertung führten in den achtziger Jahren in Eigenregie in vielen vernachlässigten Altbauten im ‚Nordquartier‘ Sanierungen durch und errichteten eine neue, selbstverwaltete Quartierinfrastruktur. Anders als in anderen Städten, wo sie in den neunziger Jahren zusammen mit dem alteingesessenen Arbeitermilieu durch Neuinvestitionen, massive Mietpreissteigerungen und den Zuzug statushoher Bevölkerungsgruppen aus den innenstadtnahen Quartieren hinausgedrängt wurden (Lang 1998; Bernt und Holm 2002; Hermann und Leuthold 2002), konnte sich die Alternativszene im ‚Nordquartier‘ fest etablieren. Auch das alteingesessene Arbeitermilieu, zu dem auch die ehemalige ‚Gastarbeiterbevölkerung‘ gehört, blieb im Stadtteil – Wohnbaugenossenschaften und gemeinnützige Bauträger aus dem Umfeld der Alternativszene konnten 1992 nach dem Wechsel der politischen Mehrheitsverhältnisse in der Berner Stadtregierung, vor allem im Lorrainequartier einen Großteil der zahlreichen stadteigenen Altbauten im Baurecht übernehmen. Sie kauften von der Stadt Gebäude auf stadt eigenen Grundstücken, die ihnen zu einem jährlichen Baurechtszins überlassen wurden, renovierten sie oder ersetzten sie durch Neubauten zur Eigennutzung. Im Baurecht veräußerte Gebäude unterliegen einer Antispekulationsklausel. Sollten die neuen Besitzer die renovierten oder neu gebauten Gebäude verkaufen wollen, hat die Stadt ein Vorverkaufsrecht: Sie kauft die Gebäude zum ursprünglichen Verkaufswert statt zum Marktwert zurück. Solche Baurechtsverträge erlaubten den Angehörigen der 143
Alternativszene, sich definitiv im Stadtteil niederzulassen und machen eine zukünftige Verdrängung durch Statushöhere unmöglich. Vorgaben, die den individuellen Flächenverbrauch in den im Baurecht übernommenen Gebäuden einschränken und eine private Profiterwirtschaftung verhindern, wirken sich regulierend auf die Mietpreisentwicklung im Quartier aus (Blumer und Tschannen 2006; Stienen und Blumer 2008). Dies hat dazu beigetragen, daß auch die alteingesessene statustiefe Wohnbevölkerung schweizerischer und ausländischer Herkunft nicht aus dem Stadtteil gedrängt wurde. Sie ist jedoch in den wenig attraktiven Gebieten im Stadtteil stärker konzentriert als noch 1990 (Stienen und Blumer 2006). In dem selben Maße, wie die Alternativszene im Stadtteil seßhaft wurde, etablierte sich in den achtziger und neunziger Jahren auch eine klein gewerbliche Infrastruktur, die von ihnen und neu zugezogenen Migranten errichtet wurde. Mit ihrer Seßhaftigkeit wurde die Alternativszene zunehmend heterogener, einige führten nach Jahren des politischen Aktivismus eine einst abgebrochene Ausbildung weiter und stiegen danach beruflich auf, Familienmodelle und Lebensformen vervielfältigten sich. Diese Entwicklung trug dazu bei, daß es in den Leitungsgremien der einst durch die Alternativszene im Stadtteil errichteten und heute weitgehend von der Stadt unterstützten Quartierzentren, kulturellen Einrichtungen und Beratungsstellen teilweise zu einer Ablösung von Angehörigen der Alternativszene durch in den achtziger und neunziger Jahren zugezogene Migranten kam. Letztere waren einst im Rahmen eigener Organisationen und Vereine mit der Alternativszene politische Allianzen eingegangen und hatten sich in den genannten Einrichtungen engagiert und weitergebildet. Sie ersetzten in den letzten Jahren dort Angehörige der Alternativ szene, die sich beruflich neu orientierten, und wurden als Fachpersonen fest angestellt.9 All diese Veränderungen hatten zur Folge, daß sich auch die Machtverhältnisse im Stadtteil wandelten. Die traditionellen, rechtskonservativen Bürgervereine in den Quartieren, die sogenannten Berner Leiste, die die Interessen der alteingesessenen Gewerbetreibenden vertreten und einst enge Verbindungen zur bürgerlichen Stadtregierung hatten, verloren an Einfluß. Die Alternativszene hingegen, die in Stadtteil belangen mit der rot-grünen Stadtregierung zusammenzuarbeiten begann, dehnte ihren Einfluß aus (Blumer und Tschannen 1999; 2006). Heute haftet dem Berner ‚Nordquartier‘ nicht mehr das Image an, dort liege die ‚Bronx von Bern‘. Besonders das Lorrainequartier wird von der rot-grünen Stadtregierung heute als „Musterbeispiel einer erfolgreichen Stadtentwicklung“ gepriesen. Dort habe sich in wenigen Jahren „ein groß144
artiges Angebot an multikulturellem Leben entwickelt“ (Blumer und Tschannen 2006, 393). Fremd geworden im Stadtteil Die geschilderten Veränderungen im Berner ‚Nordquartier‘ sind Resultat harter Auseinandersetzungen über die Reichweite und die Verbindlichkeit jener Weltsichten und kulturellen Transformationen, die in den frühen achtziger Jahren von der Alternativszene in den Stadtteil getragen wurden und damals starker Kritik ausgesetzt waren. Sie sind heute dominant und haben die proletarisch-kleinbürgerliche Lebensordnung, die damals im Stadtteil vorherrschte, an den Rand gedrängt. Die Angehörigen des alteingesessenen Arbeitermilieus schweizerischer und ausländischer Herkunft im Stadtteil halten jedoch auch heute noch an dieser Lebensordnung fest. So ist denn der Kontrast zwischen all jenen Gebieten im Stadtteil, in welchen Angehörige dieses Milieus die Bevölkerungsmehrheit bilden, und dem restlichen Stadtteil heute weit größer als noch 1990. Denn im Kontext der gewandelten Zusammensetzung der Bevölkerung steht diese Gruppe heute an unterster Stelle der Einkommenshierarchie, ihre Lebensordnung wird im Quartier als engstirnig und bieder angesehen. Sie beklagen sich deshalb darüber, daß sie fremd geworden seien im Stadtteil. Ein jüngerer Schweizer Hilfsarbeiter meint etwa: „Man kennt vor allem die älteren Leute [im Quartier], und wenn man die jüngeren anschaut, die sind mehrheitlich gar nicht aus diesem Quartier, die sind nicht hier aufgewachsen, das sind Zugezogene, die gehören jetzt zwar logisch auch zum Quartier, aber irgendwie hat man das Gefühl, das Quartier ist nicht mehr, was es einmal war. […] Die waren sehr sehr alternativ und die hatten auch Freude daran, die Häuser zu bemalen, einfach immer alles machen, was nicht ins Schema paßt. […] Ich bin einer der wenigen, die von Anfang an im Quartier gewohnt haben, und drum erlaube ich mir auch zu sagen, daß das alles eher schädlich war für das Quartier, […], es ist gut und recht, wenn sie Sachen anbieten im Quartier, aber man muß überall in die gleiche Richtung schauen. Wenn man in eine andere Richtung schaut, dann ist man hier ein Fremdkörperchen.“10 Ehemalige ‚Gastarbeiterfamilien‘ aus der Türkei und aus Italien beschweren sich darüber, daß kein „Anstand“ mehr herrsche und kritisieren die „große Sauerei“, als die sie unkonventionelle Lebensformen im Stadtteil wahrnehmen. Ein älterer Schweizer Anwohner erzählt, daß er versucht hätte, gegen die Veränderungen im Stadtteil politisch „ein bißchen Gegen145
steuer zu geben“, doch „die rot-grünen Chaoten“ im ‚Nordquartier‘ hätten heute die Unterstützung der Stadtregierung, deshalb hätten die Alteingesessenen nichts mehr zu sagen. Die Auseinandersetzungen darüber, was „ins Schema paßt“ und was nicht, verdichten sich besonders in Gebieten im Stadtteil, die ein Schweizer Hausmeister wie folgt beschreibt: „Die Schweizer zieht es nicht mehr hierher, die Schweizer ziehen fort. Wenn ein Schweizer wegzieht, dann kommt ein Albaner, ein Türke oder ein Marokkaner. […]. Ich sehe das, ich habe hier hundertzwölf Wohnungen in diesem ganzen Block, ich weiß, wer hineingeht und wer hinausgeht. In den anderen Häusern ist es dasselbe. Es gibt hier im Haus sehr viele alte Leute, die meisten sind Schweizer. Wir haben hier im Haus sechzehn Vierzimmerwohnungen, in zehn von sechzehn Wohnungen wohnen alleinstehende ältere Frauen […]. Schweizer Familien hat es gar keine […]. Zum Beispiel Wohnungsbewerbungen […]. Ich habe schon beobachtet, daß sie kommen, die Namen auf den Klingeln lesen und wieder weggehen […]. [Sie] kommen, schauen, doch sobald sie merken, daß es an einer Durchgangsstraße liegt, ist fertig.“ Die Fragen, worum im Stadtteil gestritten wird und welche Unterschiede dabei zu relevanten Unterscheidungen werden, verweisen auf die vorherrschenden gesellschaftlichen Normalitätsmaßstäbe – Unterschiede werden nur dann zu Unterscheidungen, wenn sie nicht ins Schema etablierter Normen passen. Da die Grundvoraussetzung des Städtischen nicht ein geteilter Wertehorizont, sondern die Verständigung im Rahmen von Konflikten ist (Yildiz 1999, 50ff), führen Auseinandersetzungen über den Geltungsbereich etablierter und neu formulierter Normen vor Augen, wie im Kontext der geschilderten Veränderungen das Städtische heute neu definiert wird. Die Neudefinition des Städtischen Die zentralen Konfliktfronten im Stadtteil verlaufen nicht zwischen der ausländischen und der schweizerischen Bevölkerung, sondern zwischen den Angehörigen des alteingesessenen Arbeitermilieus – die sich unabhängig davon, ob sie einst einwanderten oder nicht, als Hüter der etablierten Lebensordnung im Stadtteil sehen – und neu zugezogenen Bevölkerungsgruppen. Diese Konflikte sind im Sinne von Elias und Scotson (1993) als Auseinandersetzungen zu verstehen, in denen es einerseits um die Abwehr von Deklassierung und Statusverlust geht und andererseits darum, normative Vorstellungen zu verteidigen, die von den Alteingeses146
senen als ‚typisch schweizerisch‘ und als verbindliche Grundlage der eigenen Existenz betrachtet werden: harte Arbeit, Ordnung und Sicherheit, Privatbesitz und sozialer Ausgleich, Korrektheit und uneingeschränkter Respekt für die (staatliche) Autorität. Diese Normvorstellungen und die auf ihnen beruhende Lebensordnung sehen die Angehörigen des altein gesessenen Arbeitermilieus – auch die einst eingewanderten – als grundsätzlich bedroht an. Wider den Zerfall der alten Ordnung Die Aussagen des Schweizer Hausmeisters und der ebenfalls bereits erwähnten ehemaligen ‚Gastarbeiterfamilie‘ aus der Türkei führen exemplarisch vor Augen, was die Alteingesessenen als Bedrohung ihrer Lebensordnung empfinden. Wie für viele im Stadtteil sind auch für den Hausmeister die zuletzt Zugezogenen das große Problem. Das seien alles Sozialhilfeempfänger, die „ein großes Maul“ hätten und nur „fordern und nochmals fordern, aber nichts geben“ würden, meint er und betont: Hier in diesem Block gibt es mindestens zehn Mieter, für die das Sozialamt den Zins zahlt. […] Ich weiß das […]. Praktisch alles Ausländer, alles. Ich kenne keinen Schweizer, dem die Fürsorge die Wohnung bezahlt, keinen hier im Haus. Es sind alles Ausländer, aus dem Kosovo und Türken. […]
Graffiti im Zentrum von Bern, Foto © Angela Stienen
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Die sind anders als wir. Da gibt es Familien mit zwei Kindern, die haben zehn Personen in der Wohnung. […] Diese Leute leben am Abend, den Tag hindurch sehen Sie die nicht. Die leben wie die Fledermäuse in der Nacht, das ist verrückt […]. Ich will Ordnung. Ich bin ordentlich, dann sollen die anderen auch Ordnung halten.“ Gegen die „Ordnung“ verstoßen aus seiner Sicht jedoch nicht nur die aus dem Ausland neu Zugezogenen sondern auch neu zugezogene Schweizer im Stadtteil, etwa ein „Mann mit Roßschwanz und Eisenringen an den Ohren und Nase“ und die „frechen Saukerle“, die mit ihren Graffitis „den öffentlichen Raum verdrecken“ würden. Der Hausmeister versteht nicht, weshalb „solchen Leuten“ der Einzug in die Wohnhäuser, die er betreut, so einfach gemacht werde, er selber habe einst noch ein Leumundzeugnis und einen Auszug aus dem Strafregister vorlegen müssen, um seine Wohnung mieten zu können: „Jawohl, und jetzt kommt jeder rein, ob er nun den Hauszins zahlt oder nicht. Es existiert keine Hausordnung mehr. Nein, das gibt es nicht mehr. Man ist einfach der böse Mann. Wenn sie Ordnung haben wollen, sind Sie der böse Mann. Die machen, was sie wollen. Das sind sogar Schweizer, nicht? Ich bin auch Schweizer und ich weiß einigermaßen, was Ordnung ist. Aber die wissen das eben nicht. Diese Kinder, die hüpfen bis nachts um zwölf oder eins im Treppenhaus auf und ab und läuten überall. Das ist doch keine Ordnung mehr. Wenn man sie zurechtweist, dann schreiben sie der [Immobilien]Verwaltung, der Abwart [Hausmeister] sei ein Kinderhasser. […] Was eine Hausordnung ist, wissen die Leute nicht mehr und Rücksichtnahme auf andere auch nicht.“ Als bedrohlich empfinden die Angehörigen des alteingesessenen Arbeitermilieus im Stadtteil vor allem, daß das Statusgefüge und die ihnen vertraute und bewährte Ordnung auf den Kopf gestellt würden. Sie machen die neu Zugezogenen dafür verantwortlich, weil diese in ihren Augen Ansprüche stellen, statt sich anzupassen. Das stört die Alteingesessenen, weil sie selber sich ein Leben lang angepaßt haben, gleich zu welchem Preis. Doch nicht nur den neu Zugezogenen wird die Schuld für die Umkehrung der Verhältnisse zugeschrieben, sondern auch dem (Sozial-) Staat. Der würde heute gegen die Prinzipien verstoßen, die die Altein gesessenen als Grundlage der bewährten Ordnung sehen: Meritokratie und sozialen Ausgleich. Diese Sicht teilt auch die ehemalige und heute in der Schweiz eingebürgerte ‚Gastarbeiterfamilie‘ aus der Türkei. Die Ehepartner, beide Mitte fünfzig, argumentieren so: 148
Frau: „Ich habe immer gearbeitet, bis heute, ich habe nie vom Sozialamt auch nur einen Franken genommen, warum kriegen die, die erst fünf, sechs Jahre da sind, alles?“ Mann: „Ich habe vierunddreißig Jahre gearbeitet, ich arbeite jetzt wegen der Gesundheit nicht mehr, aber ich gehe nicht zum Sozialamt.“ Frau: „Es hat dreißig Familien hier im Quartier, die leben alle von der Sozialhilfe.“ Mann: „Die Türken, die haben ein Gewehr gehabt, und die leben vom Sozialamt und ich kann nicht dorthin gehen […]. Ich habe nie einen Rappen geschenkt bekommen. […] Und als ich Schweizer Bürger geworden bin, habe ich zehntausend Franken bezahlt. Aber andere Leute kommen …“ Frau: „ Nichts.“ Mann: „… und bezahlen dreihundertfünfzig Franken, wieso das?“ Frau: „Das ist nicht gut.“ Mann: „Fünfunddreißig Jahre arbeiten, alle meine Kraft geben, jetzt ist meine Kraft fertig, mein Leben ist verloren. Jetzt bin ich Schweizer Bürger und habe zehntausend Franken bezahlt und andere Sauhunde zahlen nur zweihundert oder dreihundert Franken [Hebt die Stimme]. Das ist nicht normal, das mag ich gar nicht. Wir werden ruiniert.“ Für sie – beide sind in den späten sechziger Jahren in der Türkei als Arbeitskräfte angeworben worden – sind dieselben bürgerlichen Werte grundlegend wie für den Schweizer Hausmeister: Arbeit, Fleiß und Lei stung, Pflichtbewußtsein und Autoritätsglauben. Ihr Wille zur Anpassung an vorgefundene gesellschaftliche Normen war ausschlaggebend für den materiellen Aufstieg und den Statuserwerb in Bern. Sie brachten allerdings auch beachtliche materielle und gesundheitliche Opfer. Der hohe Preis, den sie zahlen mußten, um sich in Bern zu etablieren und dazuzugehören, wird aus ihrer Sicht heute durch die später in den Stadtteil zugezo genen Ausländer in Frage gestellt. Diese würden das, was das Ehepaar erst nach langen Jahren harter Arbeit und Verzicht erreichte, durch offensives Fordern schneller und leichter schaffen. Angesichts des wahrgenommenen Kontrastes zwischen sich selbst und den neu Zugezogenen sehen sie die erbrachten Opfer nun als Dummheit und betrachten sich als Betrogene. Der Neuzuzug von Asylsuchenden aus der Türkei läßt sie zudem befürchten, daß sie deklassiert werden könnten, weil ihre Herkunft eine Abwertung erfährt. Aus Angst vor „anomischer Ansteckung“ (Elias und Scotson 1993, 20f) und vor einem damit verbundenen Statusverlust hält sich die Familie von neu Zugezogenen aus der Türkei und aus anderen 149
Ländern fern. Sie meidet jedoch auch den Kontakt zu Schweizern, denn diesen sei ihr Status etablierter, eingebürgerter Türken suspekt. Der Sohn des Ehepaars erklärt dazu: „Darum schaut man, daß man da nicht irgendwie in so eine Gesellschaft reinkommt […], von Türken oder Jugoslawen, daß man dort nicht unbedingt so viel verkehrt. […] Nicht türkische Leute allgemein, es ist etwas anderes, wenn man mit den Angehörigen der Familie verkehrt.“ Die Familie zieht sich weitgehend in ihre umfangreiche Verwandtschaftsgruppe zurück, die sie aus der Türkei nach Bern nachgezogen hat und deren Angehörigen sie in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Wohnungen vermitteln konnte. Einige Liegenschaftsverwalter im Stadtteil vermieten gerne Wohnungen an Einwanderer, sie werden fast immer von anderen Einwanderern empfohlen, die wie das erwähnte Ehepaar bereits im Stadtteil etabliert sind. Eine solche Empfehlung wird besonders deshalb geschätzt, weil sie zu Loyalität verpflichtet. Empfohlene ausländische Neumieter erweisen sich als besonders problemlos und zuverlässig.11 So kann der Rückzug der ehemaligen ‚Gastarbeiterfamilie‘ in die türkische Verwandtschaftsgruppe weder als Ausdruck des Scheiterns der Integration noch als „Passage von einer vormodernen Vergesellschaftungsform hin zur höheren Stufe der individuellen Integration“ interpretiert werden, wie in der eingangs zitierten wissenschaftlichen Debatte behauptet wird. Dieser Rückzug ist vielmehr eine Folge der Etablierung der Familie und ihrer Verwandten in Bern und zielt als Strategie darauf ab, die individuelle Integration nachhaltig zu machen. Auch der Schweizer Hausmeister sucht die Nähe von Gleichgesinnten überwiegend schweizerischer Nationalität und geht Leuten, die seinen Status in Frage stellen könnten, gezielt aus dem Weg.12 Es zeigt sich also, daß nicht die Nationalität sondern die unterschiedliche Anwesenheitsdauer, die verschiedenartigen Migrationsgeschichten und milieuspezifischen Lebensformen und -stile die relevanten Unterscheidungen im Stadtteil sind. Sie bestimmen, was als ‚normal‘ und was als ‚abweichend‘ angesehen wird und von wem man sich abschottet. Der Wandel der Bevölkerungszusammensetzung und die daraus resultierende kleinräumliche Neuordnung des Machtgefüges beeinflussen auch die etablierte Geschlechterordnung im Stadtteil. Sie wird infolge der Zunahme lediger, geschiedener, in Single-Haushalten lebender und alleinerziehender Frauen unter der dortigen schweizerischen und ausländischen Bevölkerung neu formuliert. 150
Anerkennungskämpfe Das Beispiel zweier Frauen, beide sind Mitte vierzig und geschieden und wohnen in einem abgewerteten Gebiet im Stadtteil, soll die Neuformulierung der Geschlechterordnung exemplarisch veranschaulichen. Eine der beiden Frauen, eine alleinerziehende Schweizerin mit fünf schulpflichtigen Kindern, ist auf Sozialhilfe angewiesen, die andere, eine Türkin, wohnt mit ihren beiden erwachsenen Kindern zusammen und arbeitet unter prekären Bedingungen im Gastgewerbe. Beide möchten nicht als ‚Sozialfälle‘ gesehen werden, sondern als Personen, die ihr Leben aus eigener Initiative und selbstverantwortlich gestalten, trotz Unterstützung durch den Staat, wie im Fall der Schweizerin. Während die von der Norm der Alteingesessenen abweichende Lebensform der Sozialhilfebezieherin durch die Präsenz der Migrationsbevölkerung in ihrem Wohngebiet an Anerkennung gewinnt und sie sich zunehmend als ‚emanzipierte Schweizerin‘ wahrnimmt, ist bei der Türkin gerade das Gegenteil der Fall. Gerade weil sie um eine eigenständige Existenzsicherung kämpft, wird sie als Frau und Ausländerin marginalisiert und isoliert sich in der Folge selbst. Die Schweizerin muß als allein erziehende Frau und Sozialhilfebezieherin ständig um Anerkennung ringen. Die Lebensweise ihrer muslimischen Nachbarn aus dem Kosovo, die elf Kinder haben, wird für sie zur Kontrastfolie, die es ihr erlaubt, ihre als abweichend geltende Lebensform als ‚typisch schweizerisch‘ zu definieren und dadurch aufzuwerten. Ihre Nachbarn nimmt die Sozialhilfebezieherin als rückwärtsgewandt wahr: „Die Mädchen hocken immer zu Hause und häkeln, putzen die Schuhe und kochen den ganzen Tag für all die jungen Männer. Dort gilt nur, was der Vater sagt, der verprügelt sie auch noch.“ Daß der Nachbar sie nicht grüße, begründet sie damit, daß er sie verachte, weil sie fünf Kinder hat, ohne mit einem Mann zusammenzuleben. Ihre Töchter hätten den Nachbarskindern erzählt, daß sich ihre Mutter vom Vater habe scheiden lassen, weil das „besser so sei“, worauf die Nachbarskinder gefragt hätten: „Was, hat er sie nicht umgebracht?“ Die Sozialhilfebezieherin geht davon aus, daß ihr Nachbar Schweizer Frauen als „Huren“ betrachtet. Sie sieht die Verachtung, die ihr Nachbar ihr entgegenzubringen scheint, darum in erster Linie als eine Frage der Nationalität und des Geschlechts. Ihre Annahme begründet sie damit, daß eine albanische Bekannte, auch sie eine Muslimin, ihr gesagt habe, daß eine Frau bei ihnen nicht „davonlaufe“ und sich scheiden lasse. Die Sozialhilfeempfängerin stellt diese Bekannte als eine 151
Muslimin dar, die „Glück“ habe, denn ihr Mann sei ein „ganz Lieber“, der sie „machen läßt“. Wenngleich die Sozialhilfebezieherin selber eine problematische Ehe und Gewalterfahrungen mit einem Schweizer Mann hinter sich hat, stellt sie „den ganz lieben Mann“, der seine Ehefrau „machen läßt“ im Zusammenhang mit Charakterisierungen wie „albanisch“ und „muslimisch“ als „Glücksfall“ dar, das heißt als Ausnahmeerscheinung. So schafft sie einen mit der Nationalität und Religionszugehörigkeit begründeten und als unvereinbar dargestellten Gegensatz zwischen der abhängigen Muslimin, die „Glück hat“, wenn ihr Ehemann sie „machen läßt“, und der autonomen, aus eigener Initiative handelnden Schweizerin, die ihren Mann verläßt und sich scheiden läßt, weil dies für sie besser ist. Diese Argumentation demonstriert einen typischen Mechanismus: Indem ‚ausländische‘ und vor allem ‚muslimische‘ Frauen per se als in Abhängigkeit gehaltene Frauen definiert werden, wird eine von der alteingesessenen Schweizer Bevölkerung im Stadtteil als abweichend eingestufte weib liche Lebensform in ein anderes Licht gerückt: Gerade weil sie alleinerziehende Mutter von fünf Kindern ist, scheint die Sozialhilfebezieherin zu beweisen, daß sie, die Schweizerin, sich aus ehelichen und familiären Abhängigkeiten ‚befreit‘ hat. Ihre Lebensform wird positiv umdefiniert in einen ‚typisch schweizerischen‘ Gegenentwurf zur negativ imaginierten Lebensweise eingewanderter Frauen. Sie wird dadurch als ‚normal‘ hin gestellt und dementsprechend aufgewertet. Anders verhält es sich bei der Frau aus der Türkei. Sie folgt zu Beginn der achtziger Jahre ihrem als ‚Gastarbeiter‘ in Bern lebenden Ehemann in die Schweiz, kehrt kurz darauf aber vorübergehend mit ihren Kindern wieder in die Türkei zurück. In den frühen neunziger Jahren zieht sie erneut nach Bern und versucht sich dort nach der Trennung von ihrem Mann alleine mit ihren Kindern eine neue Existenz aufzubauen. Damit macht sie sich jedoch zur Zielscheibe permanenter Kritik: „Als ich das zweite Mal hierher kam, habe ich alles selber gemacht, ich habe selber Arbeit gefunden in einem Restaurant. Aber bei uns, in unserer Kultur, wenn eine Frau im Restaurant arbeitet, schaut man sie mit schlechten Augen an. Der Neffe von meinem Mann hat mir gesagt, daß er seiner Frau nie erlauben würde, im Restaurant zu arbeiten. Ich habe ihm gesagt: ‚Du kannst hierher kommen und schauen, wie ich arbeite, ich muß diesen Job tun.‘ Weil ich selber die Stelle gefunden habe und alle meine Sachen selber erledigt habe und selbstständig bin, schauen sie mich schlecht an. Ich brauche niemanden, deswegen haben mich die Leute nicht so gerne, ich löse meine Angelegenheiten selber.“ 152
Die Eigeninitiative und die Unabhängigkeit der Frau sind der alteingesessenen, in Bern etablierten Verwandtschaft ihres Ehemannes und deren türkischem Freundeskreis vor allem deshalb suspekt, weil sie ihrer Eigeninitiative wegen zu einer Konkurrenz wurde. Die Tochter erläutert dies am Beispiel des Verhaltens eines Onkels: „[…] egal, was wir machen, es gefällt ihm nicht. Daß wir alles alleine schaffen können, daß wir keinen Mann nötig haben, um hier etwas Neues aufzubauen, also umziehen. Alles haben wir Frauen gemacht und er fand das nicht normal. Er ist ein wenig überrascht gewesen, daß wir es schafften. Und, ja, als seine Frau in die Schweiz gekommen ist, hat sie noch nach einem Jahr oder vielleicht sogar nach zwei Jahren noch keine Arbeit gehabt. Sie haben für sie keine Arbeit gefunden. Und meine Mutter, sofort als sie kam, nach sechs Monaten schon hat sie eine Arbeit gefunden. Und darauf waren sie eifersüchtig: ‚Wie kannst du das schaffen?‘ Und als sie angefangen hat, im Service [Gastgewerbe] zu arbeiten, hat der Onkel gesagt: ‚Unsere Frauen ver kaufen sich nicht.‘ Und auch als ich angefangen habe, im Restaurant zu arbeiten, hat er zu mir gesagt: ‚Für was arbeitest du im Restaurant? Du bist eine Schlampe.‘ Das sind einfach viele solche Geschichten.“ Um dem Klatsch der Verwandtschaft ihres Ehemannes und anderer im Stadtteil wohnhafter Personen türkischer Herkunft aus dem Weg zu gehen, versuchte die geschiedene Türkin zu Schweizerinnen und Frauen anderer Nationalitäten Kontakte zu knüpfen, jedoch ohne Erfolg. In die Quartiertreffpunkte im Stadtteil getraut sie sich nicht zu gehen, weil sie davon überzeugt ist, daß dort nur ‚Sozialfälle‘ anzutreffen seien. So zieht sie sich immer mehr zurück und meint: „Viel Kontakt ist nicht gut, ich habe jetzt verstanden, viel Kontakt ist nicht gut.“ Der Klatsch, dem die geschiedene Türkin ausgesetzt ist, sowie ihre Selbst isolation lassen sich nicht kulturspezifisch deuten. Vielmehr sind sie eine Folge der Beziehungsdynamik innerhalb der Verwandtschafts- und Nationalitätengruppe der Frau, die als Etablierte-Außenseiter-Figuration im Sinn von Elias und Scotson (1993) interpretiert werden kann: Die Türkin kommt nach Bern zurück, als viele in Bern alteingesessene Einwanderer aufgrund wirtschaftlicher Umstrukturierungen ihren Arbeitsplatz verlieren, frühpensioniert werden oder aber für nachgezogene Familienangehörige keine Arbeit mehr finden. Viele sehen deshalb ihre Position als Etablierte in Frage gestellt, wie das Beispiel der ‚Gastarbeiterfamilie‘ aus der Türkei zeigt. In diesem Kontext verstößt die geschiedene Türkin nicht deshalb gegen etablierte Normen, weil sie als Frau in einem Restaurant arbeitet, sondern weil es ihr gelingt, sich trotz der wirtschaftlich schwierigen Situation als neu 153
Zugezogene eine eigene Existenz in Bern aufzubauen, und zwar außerhalb des Kontrollbereichs ihrer alteingesessenen Verwandtschaft und deren türkischem Freundeskreis. Die Stigmatisierung, der sie als Außenseiterin ausgesetzt ist, ist darum nicht als Kulturkonflikt, sondern als Machtkampf zu sehen. Dieser bringt exemplarisch zum Ausdruck, wie alteingesessene und etablierte (männliche) Einwanderer über die „Re-Traditionalisierung“ (Apitzsch 1999) der Geschlechterordnung ihrer Verunsicherung entgegenzuwirken und einen Statusverlust abzuwehren suchen. Im Kontext dieser Dynamik ist die Unabhängigkeit der geschiedenen Türkin eine Bedrohung etablierter Machtpositionen. Das ist der Grund für ihre Marginalisierung. Aufgrund der skizzierten Stereotypen, mit denen sie als ‚muslimische Frau‘ betrachtet wird, und weil sie bildungsfern ist, einen bäuerlichen Hintergrund hat und eine statustiefe Erwerbstätigkeit ausübt, findet die geschiedene Türkin zudem keinen Kontakt zu anderen sozialen Milieus – etwa der (ehemaligen) Alternativszene – und verbleibt in der Isolation. Fazit Die Beziehungsdynamik im Berner ‚Nordquartier‘ führt vor Augen, in welcher Weise sich die weltweiten gesellschaftlichen Umbrüche der letzten drei Jahrzehnte auf kleinstem Raum zeigen, in einer Stadt, die einst ironisch als „nebensächlichste Hauptstadt der Welt“ bezeichnet wurde.13 Richard Sennett (1998) beschreibt eindrücklich, wie diese Umbrüche von den Menschen verlangen, flexibel zu sein, Risiken einzugehen, kurzfristige Ziele offensiver zu verfolgen und weniger abhängig zu werden von starren Normen, Regeln und Routinen. Daß das Angst erzeugt, beschreibt Sennett als inzwischen genauso normal wie die Herausbildung neuer Normen und Regeln, die die „Flexibilisierung des Kapitalismus“ mit sich bringt. Im Berner ‚Nordquartier‘ äußert sich dies darin, daß das stets konfliktgeladene städtische Nebeneinander heute unter umgekehrten Vorzeichen steht: Noch in den siebziger und frühen achtziger Jahren galten die Lebens- und Arbeitsformen, mit welchen die Alternativszene im Stadtteil experimentierte, als abweichend und suspekt – Sand im Getriebe der vorherrschenden (klein)bürgerlichen Ordnung. Als ebenso abweichend galten seinerzeit die oft irregulären Strategien, mit welchen Einwanderer aus Südeuropa, die auf eigene Faust und nicht im regulierten Rahmen des ‚Gastarbeitersystems‘ nach Bern gekommen waren, sich in vielfältiger Weise „durchschummelten“, um in Bern Fuß zu fassen (Stienen 2006c, 288f). Wer damals einen 154
flexiblen Umgang mit den etablierten Normen und Regeln pflegte, wurde als randständig diskriminiert oder kriminalisiert. Heute gilt das, was einst bei der Bevölkerungsmehrheit hoch angesehen war – eine Lebensordnung, die auf blindem Pflichtbewußtsein, langfri stig planbaren Berufslaufbahnen in der immer gleichen Firma sowie auf starren Bürokratien und dem Aufschub von Befriedigung um zukünftiger Zwecke willen beruht – als anachronistisch und ist nicht mehr mehrheitsfähig in Bern. So mag es nicht verwundern, daß man heute auch unter alteingesessenen Schweizer Arbeitern im Stadtteil Sätze hört wie: „Ich bin noch viel mit Spaniern oder Italienern zusammen, ich gehe noch oft in die Clubs, wo die sind. Einfach die Mediterranen, die gefallen mir irgendwie, die sind vielfach nicht so eng wie wir, die nehmen es irgendwie viel lockerer.“ (ebd., 286f) In den späten sechziger Jahren wurden Italiener und Spanier in der Schweiz noch als „rückständig“, „lärmig“ und „gewalttätig“ bezeichnet (Hoffmann-Nowotny 2001, 23). Für die damals am Rande der Gesellschaft entstehende Alternativszene waren sie hingegen das idealisierte „Andere“. Die Alternativszene assoziierte mit den ‚Gastarbeitern‘ aus dem Mittelmeerraum eine spontanere, kommunikativere und sinnlichere Lebensweise als die in der Schweiz übliche und machten sie zur idealisierten Gegenwelt des als ‚engstirnig‘ und ‚monoton‘ betrachteten Schweizer Alltags. Damals war das ‚Mediterrane‘ das vom ‚Schweizerischen‘ radikal abgegrenzte ‚Fremde‘: Für die Mehrheitsgesellschaft war es eine negative Kontrastfolie, für die Unangepaßten ein Vehikel der Modernisierungs kritik (Stienen 2006c, 294ff). Heute ist das ‚Mediterrane‘ als Italianità etablierter Bestandteil im Berner Stadtbild. Das einst Fremde ist längst zum Eigenen geworden, und andere Einwanderungsgruppen sind, ähnlich wie damals ‚die Mediterranen‘, zum für die Selbstvergewisserung der Stadt gesellschaft notwendigen Kontrast geworden. Als kritisierte oder idea lisierte ‚Fremde‘ erfüllen sie eine zentrale Funktion für die (Neu-)Definition des Städtischen (vgl. Yildiz 1999). Die andere Logik sozialräumlicher Segregation in den Blick zu bekommen heißt, die ausländische Herkunft einer Personengruppe genauso wenig als per se problematisch für das städtische Zusammenleben zu sehen wie ihr Alter, ihr Geschlecht oder ihren Lebensstil. Denn die Bedeutung dieser Kategorien wird immer wieder neu bestimmt im Rahmen sich wandelnder Hegemonien. Hegemonien sind die immer wieder neuen Kompromisse darüber, welches die verbindliche Lebensordnung ist und was vorüber gehend als ‚normal‘ oder ‚abweichend‘ gilt. 155
Anmerkungen 1 Vgl. Hermann, M. und H. Leuthold: Bern hat Basel links überholt, erschienen in der Tageszeitung Der Bund am 7. Dezember 2004 2 Das Kompetenzzentrum Integration der Berner Stadtverwaltung koordiniert die Integrationsarbeit der Stadt. Es ist unter anderem zuständig für mittellose Personen aus dem Asylbereich und Personen ohne Aufenthaltstitel; http://www.bern.ch/stadtverwaltung/ bss/ki (Stand: 30.5.2008). 3 Vgl. etwa Heitmeyer 1997a, 1997b und 1998, Häußermann 1998 und kritisch Bukow et al. 2001, Bukow und Yildiz 2002, Bukow et al. 2007 und Stienen 2006 4 Vgl. Rudolf Gafner: „Radikale Neuorientierung. Dorfsolidarität trotz Stadtanonymität“, erschienen in der Tageszeitung Der Bund am 9. Juni 2004 5 Die Untersuchung war ursprünglich Teil eines vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts, das von 1997 bis 2000 in Einwanderungsquartieren in Basel, Bern und Zürich durchgeführt wurde (Wimmer et al. 2000). 6 Vgl. Krämer und Neef 1985; Hansdampf 1998, Reitschule Bern 2007 7 Vgl. Anmerkung 4 8 Zur Gentrifizierung vgl. etwa Dangschat 1988, Friedrichs 1998, Bernt und Holm 2002 9 Ein Beispiel dafür ist etwa das im ‚Nordquartier‘ angesiedelte Z5, das sich als „offenes Zentrum für MigrantInnen und SchweizerInnen aus der Stadt und dem Kanton Bern, selbst organisierte Gruppen und Institutionen“ beschreibt und neben Bildungs- und Beratungsangeboten eine Bibliothek mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Sprachen sowie ein Internet-Café betreibt; http://www.zentrum5.ch/ (Stand: 1. 6. 2008). 10 Dieses sowie alle nachfolgenden direkten Zitate sind den Interviews entnommen, die im Rahmen der Untersuchung, auf welcher der vorliegende Beitrag basiert, mit Anwohnern schweizerischer, italienischer und türkischer Herkunft, die dem traditionellen Arbeitermilieu angehören, sowie mit Gewerbetreibenden, Firmenvertretern und politischen Aktivisten im Berner ‚Nordquartier‘ durchgeführt wurden (vgl. Stienen 2006a und c). 11 Diese Argumentation basiert auf Aussagen des Liegenschaftsverwalters einer im Stadtteil angesiedelten Firma, die einst im Ausland Arbeitskräfte anwarb und ihnen firmeneigene Wohnungen im Stadtteil vermietete, sowie auf Aussagen von Personalchefs weiterer Anwerbefirmen in Bern. Ferner liegt ihr die Analyse eines unveröffentlichten Dokuments der Firma im Stadtteil zugrunde, in dem alle Mieter aufgeführt sind, die zwischen 1970 und 2000 in den dortigen firmeneigenen Wohnungen wohnten (vgl. Stienen und Blumer 2006, 198ff; Truffer Widmer 2006). 12 Die quantitative Netzwerkanalyse des Geselligkeitsverhaltens der im Stadtteil interviewten Anwohner ergab, daß kaum klassenübergreifende Kontakte bestehen, daß sich alle Befragten in erster Linie mit Gleichgesinnten zusammentun und vor allem Schweizer weitgehend unter ihresgleichen bleiben, und daß Schweizer wie Ausländer einen starken Lokalbezug haben (Stienen 2006c). 13 Vgl. Friedli, B., R. Pöhner und T. Widmer (1997): „Die nebensächlichste Hauptstadt der Welt“, erschienen in der Schweizer Zeitschrift Facts am 28. August 1997; www.angelfire. com/ms/zschokke/bern.html (Stand: 29.3.2008).
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Detlev Ipsen /Holger Weichler
Vielfalt als Stärke: Kulturelle Cluster in Toronto
Die kanadische Metropole Toronto ist eine der wenigen Städte auf der Welt, die sich nach langen und durchaus kontroversen Debatten für eine aktive Zuwanderung von Menschen aus unterschiedlichen Regionen der Welt entschieden hat. In Konsequenz dieser Politik ist sie die einzige Stadt, die sich kulturelle Vielfalt als offizielles Leitbild gegeben und damit zu einem grundlegenden Element ihrer städtischen Identität erhoben hat. Um das zu unterstreichen, präsentiert sich Toronto seit 1998 mit dem offiziellen Stadtmotto und -logo Vielfalt – unsere Stärke (diversity our strength). Dieses Bekenntnis bezieht sich allerdings nicht nur auf kulturelle Vielfalt, die aus der unterschiedlichen Herkunft der Einwohner resultiert; es versucht, jegliche Art von gesellschaftlichen Gruppen in Form eines umfassenden Gleichstellungsansatzes (equity) zu würdigen und für deren Gleichstellung einzutreten1: „[…] die Stadt wird in Stadtregierung und -gesellschaft ein Umfeld der Gleichberechtigung für alle Personen ohne Rücksicht auf Rasse, Abstammung, Herkunft, ethnische Herkunft, Behinderung, Staatsangehörigkeit, Glauben, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Geschlechtsbewußtsein, gleichgeschlechtliche Partnerschaft, Alter, Ehe- und Familienstand, Zuwandererstatus, Erhalt öffentlicher Unterstützung, auf politische oder religiöse Zugehörigkeit, Grad der Alphabetisierung, Sprache und/ oder sozioökonomischen Status schaffen.“2 Diese Politik bedeutet natürlich nicht, daß es keine Konflikte und Spannungen zwischen den verschiedenen Kulturen und sozialen Klassen gäbe. Sie hat aber zur Folge, daß man sich institutionell-politisch und informell-gesellschaftlich darauf einläßt, Konflikte aktiv zu bearbeiten und Spannungen abzubauen. Politische Hintergründe des Multikulturalismus Das heutige Selbstverständnis Torontos als kulturell vielfältiger Metropole kann nicht isoliert betrachtet werden von der schon in den 1960er Jahren initiierten Debatte um die kulturelle Identität der kanadischen 159
Nation. Kanada gilt als der erste Staat, der die Idee der kulturellen Vielfalt als Grundwert der Gesellschaft entwickelt hat, so daß diese sich zu einem auf breiter Basis akzeptierten Pfeiler der kanadischen Identität entwickeln konnte. Als Antwort auf die in den sechziger Jahren in der Provinz Québec eskalierenden Separatismusbestrebungen vieler Frankokanadier wurde 1969 mit dem Official Languages Act die Zweisprachigkeit für alle bundesstaatlichen Institutionen Kanadas eingeführt, um einer möglichen Benachteiligung der frankokanadischen Kultur gegenüber der anglokanadischen Kultur im Staat entgegenzutreten und damit dem Separatismus den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dieses Zugeständnis an die Frankokanadier verursachte vor allem im Westen Kanadas Kritik. Dort lebten nur wenige Französischsprachige, jedoch viele Menschen mit osteuropäischem oder asiatischem Hintergrund. Diese dritte Kraft bildete mittlerweile einen so großen Anteil an der Bevölkerung und damit auch ein großes Gewicht bei Wahlen, daß die Politik sie nicht weiter ignorieren konnte. Der Versuch, den Interessen sowohl der beiden Gründergesellschaften (charter societies) als auch Menschen mit anderem Hintergrund gerecht zu werden und damit auch der offiziellen Zweisprachigkeit mehr Akzeptanz zu verschaffen, führte 1971 zum politischen Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt als Grundwert des Staates.3 Personell steht vor allem der damalige kanadische Ministerpräsident Pierre Trudeau für das Konzept des Multikulturalismus in einem zweisprachigen Rahmen (multiculturalism in a bilingual framework). Seine Regierung schuf in den siebziger Jahren einen institutionellen und administrativen Rahmen, um die Idee von einer kulturell vielfältigen Gesellschaft praktisch umzusetzen. In der Folge wurden in den siebziger und achtziger Jahren verschiedene Gesetze zur Stärkung der Menschen- und Bürgerrechte und zur Gleichstellungspolitik in der kanadischen Gesellschaft verabschiedet, bis schließlich 1988 die Idee der kulturellen Vielfalt in die kanadische Verfassung aufgenommen (Canadian Multiculturalism Act) und damit zu einem Grundwert der kanadischen Gesellschaft wurde.4 Zu den Grundprinzipien des kanadischen Verständnisses von kultureller Vielfalt gehört, daß diese prinzipiell als positiv bewertet und der Beitrag der verschiedenen Kulturen zur Entwicklung Kanadas gewürdigt wird. Es wird davon ausgegangen, daß kulturelle Vielfalt produktive Kräfte für die Gesellschaft entfaltet und demnach mehr Vor- als Nachteile für das Land bringt. Das Recht auf kulturelle Differenz und Pflege der eigenen Kultur sowie das Prinzip der gegenseitigen Toleranz von als gleichwertig zu behandelnden Kulturen sind weitere Eckpfeiler. 160
Diesem Prinzip übergeordnet ist allerdings das historisch gewachsene kanadische Recht, das heißt, die Pflege der eigenen Kultur ist nur in dem Maße erlaubt, wie demokratische Grundrechte nicht verletzt werden. Prinzipien wie etwa die Gleichheit von Mann und Frau stehen über dem Grundsatz des Multikulturalismus. Das Bekenntnis und die Pflege der eigenen Kultur sollen demnach immer nur in Ergänzung zum Bekenntnis zum kanadischen Gesellschaftssystem und der Annahme einer ‚kanadischen Identität‘ erfolgen. Migration als Ressource urbaner Entwicklung „Unsere Vielfalt ist ein nationaler Gewinn. Neue technologische Entwicklungen haben internationale Kommunikation wichtiger denn je werden lassen. Kanadier, die viele Sprachen sprechen und viele Kulturen verstehen, erleichtern es Kanada, weltweit in Bereichen wie Bildung, Handel und Diplomatie aktiv zu sein.“5 Ein wichtiges Ziel der kanadischen Einwanderungspolitik ist es, demo graphische Entwicklungen auszugleichen, das heißt, Schrumpfung zu verhindern und ein stetiges moderates Wachstum der kanadischen Bevölkerung zu gewährleisten. Dieses Ziel läßt sich auch auf die Stadtpolitik übertragen. So ist die Einwanderung nach Toronto im wesentlichen Maße ein Garant angestrebten städtischen Wachstums und damit einhergehender erwarteter wirtschaftlicher Dynamik. Während die meisten euro päischen Metropolen in den nächsten Jahrzehnten mit stagnierenden oder rückläufigen Bevölkerungszahlen rechnen, erwartet die Stadt Toronto bis 2030 eine Erhöhung ihrer Einwohnerzahl von 2,5 auf 3 Millionen Einwohner. Die kulturell vielfältige Bevölkerung der Stadt bietet zudem das ideale Potential globaler Verflechtung in Wirtschaft und Kultur, da sie über sprachliche und kulturelle Kompetenzen und Kontakte verfügt, die auch beim Handel mit den Herkunftsregionen von Vorteil sein können. Neben den wirtschaftlichen Ressourcen der städtischen Einwanderung ist der Beitrag der Zuwanderer zur kulturellen Entwicklung der Stadt herausragend. Die kulturelle Entwicklung zeigt wiederum Rückkopplungen mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Noch bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts galt Toronto als langweilige, zugeknöpfte Stadt (dull city), in der es wenig zu erleben und zu unternehmen gab. Dieses Image wurde mit Hilfe der Zuwanderer in wenigen Jahrzehnten umgekehrt. Als Welt in einer Stadt (the world in a city) gilt Toronto heute als eine 161
der kosmopolitischen Metropolen der Welt.6 Die Hälfte aller Einwohner Torontos ist nicht in Kanada geboren und 47 Prozent gaben bei der letzten Umfrage im Jahre 2006 an, daß ihre Muttersprache eine andere als Englisch oder Französisch sei.7 Kulturelle Komplexität, wie wir sie in Toronto ausgeprägt finden, kann für die Entwicklung einer Stadt problematisch oder produktiv sein. Eine hohe Kriminalitätsrate kann ein Zeichen für eine problematische Entwicklung sein, ebenso die sozialräumliche Abschottung einzelner kultureller Gruppen, die isoliert nebeneinander leben. Kommt es aber zum Austausch von Wissen, Leistungen und Gütern, wird die Innovationsfähigkeit in Wirtschaft und Kultur gestärkt, die Lebensqualität in einer Stadt steigt. Orte der Kulturen Für jeden Besucher der Stadt sichtbar, äußert sich ihre Weltoffenheit in zahlreichen kulturell geprägten Stadtteilen oder Straßenzügen, die in der Regel auch offensiv mit ihrem Charakter werben. Eine Gruppe stellt die Mehrheit der Bewohner einer Nachbarschaft, Geschäfte, Restaurants, institutionelle Einrichtungen und religiöse Stätten der verschiedenen Kulturen prägen unübersehbar und auf vielfältige Art und Weise den Stadtraum. Little Italy, zwei Chinatowns, GreekTown, Koreatown sind Beispiele solcher kulturell geprägter Stadträume, die wir im weiteren als kulturelle Cluster bezeichnen. In Toronto gibt es kulturelle Cluster, die ganz unterschiedliche Entstehungsgeschichten haben und sich in ihrer Größe und ihrer Gestalt vielfältig ausdrücken. Die kulturelle Prägung geschieht über gebaute oder applizierte Zeichen und Symbole, die Werbung oder die Schriftzüge der Geschäfte und Geschäftsinhaber in der jeweiligen Muttersprache oder über die Waren selbst. Manchmal sind es den Stadtraum charakterisierende kleine Elemente, die Hinweise auf die kulturelle Zugehörigkeit geben, wie die sogenannten A-Frames, Werbetafeln auf den Bürgersteigen, die sich gehäuft im chinesischen Viertel finden. Manchmal sind Prägungen in der baulichen Struktur der Gebäude zu erkennen, wie ein asiatisch geschwungenes Dach oder ein chinesisches Drachentor an der Straßenbahnhaltestelle des chinesischen Geschäftsviertels. Das folgende Beispiel der GreekTown in Toronto soll die mögliche Ausprägung eines kulturellen Clusters und dessen Bedeutung für die zugehörige kulturelle Gruppe veranschaulichen.
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„Orte der Kulturen“ – Straßenschilder in Toronto Fotos © Johanna Debik, Detlev Ipsen, Holger Weichler
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GreekTown on the Danforth Die Danforth Avenue zwischen Jones Avenue und Chester Avenue ist eine lebendige Geschäftsstraße mit vielen Cafés, Bars und Restaurants. Viele Läden und Lokale präsentieren ein Warenangebot, das der griechischen Kultur zuzuordnen ist: griechische Restaurants, Imbisse, eine griechische Apotheke, das griechische Kulturzentrum, griechische Konditoreien, Reisebüros und Lebensmittelläden. Die griechischen Einzelhandels geschäfte wechseln sich ab mit chinesischen, europäischen und kanadi schen. Einige Bars geben sich äußerst elegant und exklusiv im globalen Design. Das Konzept der Marke Griechisch scheint aufzugehen: Am sommerlichen Freitagabend und am Wochenende ist die Straße voll mit schick gekleideten Flaneuren, die Restaurants und Bars sind prall gefüllt, besonders beliebt sind die Freiluftplätze. Fast alle Restaurants haben einen Außenbereich auf dem Bürgersteig, auf einem kleinen Platz spielen Straßenmusikanten. Viele Geschäfte haben sich auf den Andrang am Wochenende eingestellt und am Samstagabend etwas länger geöffnet. Erst vor einigen Jahren entwickelte sich ein Teil der Danforth Avenue zur offiziellen Greektown. Zunächst wurde 1981 der Geschäftsverband Danforth Village Business Improvement Area gegründet.8 In einem studen tischen Designwettbewerb, in dem ein Logo für das Danforth Village entwickelt werden sollte, setzte sich ein Entwurf durch, der mit dorischen Säulen und Lorbeerkranz dem antiken Griechenland Tribut zollte. Im Sommer 1982 wurde die Danforth Avenue mit dem neuen Logo verziert; die englischen Straßenschilder wurden durch zweisprachige (englisch und griechisch) ersetzt. 1993 wurde schließlich nach erfolgreicher Lobbyarbeit des Business Improvement Area Board im Rathaus die Bezeichnung Danforth Village Business Improvement Area ersetzt: „Als Tribut an unser reiches griechisches Erbe wurde unsere Business Improvement Area im Juni 1993 offi ziell in GreekTown on the Danforth umbenannt. Kurze Zeit später vervollständigte ein neues Logo die Umwandlung.“9 Die großen Einwanderungswellen von Menschen griechischer Herkunft nach Toronto erfolgten erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Seitdem wuchs die griechische Bevölkerung in Toronto stetig bis in die achtziger Jahre. Heute leben in Toronto knapp 44.000 Menschen griechischer Herkunft. Die Gegend um die Danforth Avenue war ursprünglich angelsächsisch geprägt, später gab es eine größere Konzentration von Italienern, was sich auch heute noch in den Statistiken bemerkbar macht. 164
In den fünfziger Jahren siedelte sich die griechische Community in Danforth an. Bereits in den siebziger und achtziger Jahren galt die Gegend als größte GreekTown Nordamerikas. Obwohl viele Menschen griechischer Herkunft wie andere Zuwanderungsgruppen in die Vorstädte zogen und sich vor allem im östlichen Stadtgebiet verteilt haben, geben laut Statistik auch heute noch etwa zehn Prozent der Bevölkerung in den umliegenden Nachbarschaftsbezirken von Danforth an, griechischer Herkunft zu sein.10 Im nördlich gelegenen angrenzenden Nachbarschaftsbezirk Thorncliffe Park befinden sich ein großes Kulturzentrum der griechischen Community und die größte griechisch-orthodoxe Kirche der Stadt. Der Erfolg der griechischen Geschäftsstraße ist teilweise der Publicity zu verdanken, die GreekTown vor wenigen Jahren durch den HollywoodFilm My Big Fat Greek Wedding bekam. Der Film spielt in Chicago, wurde aber in Toronto gedreht. GreekTown on the Danforth ist hier an mehreren Stellen identifizierbar, was möglicherweise die Straße als kulturelle Besonderheit noch stärker als zuvor idealisierte und als exotisches Ausflugsziel etablierte – eine schöne Abwechslung zum Flanieren in Little Italy. Jeden August wird die Danforth Avenue für ein Wochenende gesperrt und das Krinos Taste Festival zelebriert. Das Straßenfest zieht mehr als eine Million Besucher an. Es ist gleichermaßen touristische Attraktion wie Identifikationsmöglichkeit für die in Toronto lebende griechische Community. Der Ort dient auch für Festivitäten, die nicht von den Geschäftsleuten organisiert werden. So findet alljährlich die Gedenkparade The Greek Oxi Day Parade statt, die an rassistische Zwischenfälle erinnert, die in den 1920er Jahren gegen die griechischen Einwanderer stattfanden: Während des Ersten Weltkrieges wurden 70.000 Männer aus Toronto eingezogen, etwa 2.300 Männer griechischer Herkunft blieben jedoch vom Militärdienst verschont – gegen sie richteten sich die gewalttätigen Ausschreitungen der zurückkehrenden Veteranen in einem Sommer des Jahres 1918, bei denen etwa 5.000 Männer das griechische White Star Café in der Yonge Street demolierten, gefolgt von weiterer Zerstörungswut gegen griechische Lebensmittelläden in der Nähe. Die Verortung der griechischen Community an der Danforth Avenue in Toronto zeigt, welche zentrale Rolle ein Ort für die Identifikation einer kulturellen Gruppe und deren Präsenz in der Stadtgesellschaft spielen kann. Mit der spezifischen kulturellen Prägung des Quartiers unterscheidet sich die Danforth Avenue eindeutig von ihrer Umgebung. Damit wird der Ort einerseits zum Identifikationsmerkmal der griechischen Community: Hier erinnert man sich mit Stolz an das gemeinsame reiche Kultur165
erbe und sicher auch an die eigene Biographie, wenn es etwa im Restaurant an der Ecke nach Großmutters Küche duftet. Andererseits wird die Anwesenheit der griechischen Community für die übrige Stadtgesellschaft erst erfahrbar. Gerade weil es hier anders ist, weil der Kaffee vielleicht an die letzten Ferien in Europa erinnert oder zumindest an eine Vorstellung davon. Schließlich tragen Zeremonien zum gegenseitigen Verständnis bei: Durch die Erinnerung an die Ausschreitungen gegen griechische Immigranten in der Vergangenheit kann nicht nur die eigene Herkunft, sondern auch die Situation von neuen Einwanderern in der Stadt ins Bewußtsein gerufen werden. Die GreekTown ist nur ein Beispiel für ein räumliches kulturelles Cluster. Ähnliches findet sich in Little Italy, China Town oder dem Indian Bazaar. Typen und Definitionen kultureller Cluster Kulturelle Cluster sind spezifische stadt- und sozialräumliche Organisationsformen, die sich vom Begriff des Ghettos deshalb eindeutig abheben, weil sie auf freiwilliger Basis gebildet werden oder in der Vergangenheit gebildet wurden. Ob solche Cluster einen produktiven Beitrag zur Stadtentwicklung leisten, ist entscheidend abhängig von verschiedenen Faktoren, die Peter Marcuse für die Definition der Enklave verwendet: „Eine Enklave ist ein räumlich eingrenzbares Gebiet, in dem sich Mitglieder einer speziellen Bevölkerungsgruppe, definiert über ihre kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit versammeln, um ihre ökonomische, soziale, politische oder kulturelle Entwicklung zu fördern.“11 Wie bei der griechischen Community in Toronto deutlich wird, ist ein kulturelles Cluster in der Regel nur relativ homogen. Eine Gruppe stellt die Mehrheit der Bewohner oder ist die relativ größte Gruppe, deren Ökonomien und Dienstleistungen sich in der Nachbarschaft konzentrieren. In anderen Gebieten konzentrieren sich zwar Geschäfte und Einrichtungen einer bestimmten kulturellen Gruppe, ihr Anteil an der Bewohnerschaft ist aber relativ gering. Dies ist zum Beispiel der Fall in Little Italy, wo kaum noch Italiener wohnen, sondern die kulturelle Szene der Stadt sich angesiedelt hat. Schließlich finden wir auch Konzentrationen kultureller Gruppen, die in einem Gebiet wohnen, in dem sich aber weder infrastrukturelle noch öko166
Oben: GreekTown, Reisebüro in der Danforth Avenue, Foto © Johanna Debik Unten: Gerrard India Bazaar, Indisches Bekleidungsgeschäft, Foto © Herbert Glasauer
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nomische Einrichtungen dieser Gruppe finden. Und umgekehrt gibt es Quartiere, die zwar ökonomisch und kulturell von einer Gruppe geprägt sind, die aber von dieser Gruppe nicht bewohnt werden. Ein Beispiel dafür ist das Geschäftsviertel in der Eglinton Street. Hier sind viele karibische Geschäfte zu finden, obwohl die karibischen Einwanderer sich residentiell im gesamten Stadtgebiet verteilen, beziehungsweise sich in den ärmeren Vororten wie Scarborough konzentrieren. In diesen Gebieten sind gerade neue Zuwanderer infrastrukturell und ökonomisch eher unterversorgt. Sind in einem Gebiet residentielle Konzentration und Versorgung mit kultureller und ökonomischer Infrastruktur einer kulturellen Gruppe kombiniert, sprechen wir von einem vollständigen kulturellen Cluster. Das Maß der Vollständigkeit hat Einfluß auf die Entwicklung und die Lebensqualität der verschiedenen kulturellen Gruppen. Haben die Menschen die Möglichkeit, ihren kulturspezifischen Interessen und Bedürfnissen nachzugehen und fühlen sich dadurch in ihrer Kultur verankert, können sie sich auch auf die Begegnung mit anderen, mit Fremdem und Ungewohntem einlassen. Aus einem Mangel heraus wird sich produktiver Austausch zwischen unterschiedlichen kulturellen Gruppen kaum entwickeln. Für das Maß der Vollständigkeit eines kulturellen Clusters sind verschiedene Faktoren relevant: Residentiell. In einem Gebiet einer Stadt wohnen mehrheitlich Menschen einer bestimmten kulturellen Gruppe oder sie bilden die größte Gruppe. Infrastrukturell. Es gibt ein Angebot der gesundheitlichen Versorgung, Orte zur Ausübung religiöser Praktiken (Gottesdienste), Erholung, Bildung und Kultur, die den kulturspezifischen Bedürfnissen und Interessen entsprechen. Politisch. Die Angehörigen der kulturellen Cluster haben selbst oder durch selbsternannte Vertreter die Möglichkeit, die Entwicklung ihrer Nachbarschaft, sei es räumlicher, sozialer oder ökonomischer Art, aktiv mitzu gestalten. Ökonomisch. Die Ökonomie eines Quartiers ist vorwiegend durch eine kulturelle Gruppe geprägt und sorgt für deren spezielle Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, kulturelle Güter, Dienstleistungen und so weiter. Die nachbarschaftlichen Ökonomien verbessern darüber hinaus den lokalen Beschäftigungsmarkt. Diese Unterscheidung ist allerdings analytischer Natur. In der Wirklichkeit gibt es Überschneidungen und unterschiedlich gelagerte Schwerpunkte auf einen oder mehrere Faktoren. In Toronto finden wir verschiedene Formen kultureller Cluster, die sich in ihrer Vollständigkeit stark 168
unterscheiden. Das theoretische Modell eines vollständigen und auch homogenen Clusters findet sich nur in Ausnahmefällen. Schon aufgrund der kanadischen Politik der kulturellen Vielfalt wäre es nicht möglich, ein Wohngebiet, eine Nachbarschaft oder eine Straße ausschließlich für die Nutzung durch eine bestimmte Kulturgruppe auszuweisen. Das ist auch politisch nicht gewollt; vielmehr wird Vielfalt als Stärke der Stadt gesehen – und das soll sich auch räumlich ausdrücken. Das kulturelle Cluster GreekTown ist ein Beispiel für ein relativ vollstän diges kulturelles Cluster: Die Griechen sind mit zehn Prozent auch residentiell die größte kulturelle Gruppe im Bezirk (sie stellen allerdings keineswegs die Mehrheit der Bewohner), es gibt kulturell geprägte Ökonomien, die Geschäftsleute beteiligen sich durch ihre Mitgliedschaft in der Business Improvement Area an der räumlichen Entwicklung des Geschäftsviertels, es gibt alle nötigen infrastrukturellen Einrichtungen wie ein Kulturzentrum und eine griechisch-orthodoxe Kirche. Im Vergleich hierzu ist in Little Italy der Anteil der Bewohner italienischer Herkunft marginal. Wie beim karibischen Cluster an der Eglinton Street handelt es sich hier um ein unvollständiges Cluster. In den Vorstädten finden sich ähnliche Typen, die sich allerdings im größeren Raum ausbreiten. So besteht das Einkaufszentrum Pacific Mall mit dem zugehörigen Geschäftsviertel Market Village im Norden Torontos zu nahezu 100 Prozent aus chinesischen Geschäften, Restaurants und Imbissen, dort geben von ca. 200.000 Einwohnern über 60.000 Menschen an, chinesischer Herkunft zu sein. Hier handelt es sich, trotz größerer räum licher Ausdehnungen, um ein relativ vollständiges Cluster, wobei der Anteil infrastruktureller Einrichtungen und politischer Beteiligung verhältnismäßig gering ist. In Torontos nordwestlicher Nachbarstadt Brampton sind von 325.000 Einwohnern immerhin 63.000 Zuwanderer südasiatischer Herkunft. Hier wurde 1995 der Hindu Sabha Tempel fertiggestellt, um den sich ein Wohngebiet mit Häusern für die besser verdienende Mittelschicht gruppiert, in dem nach Auskunft ortsansässiger Bewohner ausschließlich Familien indischer Herkunft leben. In unmittelbarer Nachbarschaft des Tempels entsteht zurzeit die Jaipur Gore Plaza, eine von mehreren indischen Malls im Großraum Toronto, mit der sich das kulturelle Cluster vervollständigen wird. Dieses Beispiel zeigt, daß durch die Vervollständigung eines kulturellen Clusters im suburbanen Raum eine gewisse Homogenisierung unterstützt wird, was durchaus die Gefahr der Abschottung zwischen den verschiedenen kulturellen Gruppen herbeiführen könnte. 169
Die kulturellen Cluster unterscheiden sich in ihrer Größe, ihrer Gestalt, ihren Geschichten und Bedeutungen. Entsprechend unterscheiden sich deutlich die Einflüsse der kulturellen Gruppen auf den Raum. Abhängig von ihrem Gewicht an residentiellen, ökonomischen oder infrastrukturellen Konzentrationen, prägen sie den Stadtraum auf verschiedene Art und Weise. Kulturelle Cluster sind transitorisch Unter dem Einfluß all dieser Faktoren haben die kulturell geprägten Ökonomien eine stabilisierende Wirkung auf die kulturellen Communities und die umgebende Nachbarschaft. Zudem schafft die Konzentration und die Verdichtung kultureller Geschäfte an einem spezifischen Ort Idiome und Marken für die Geschäftsviertel. Dennoch ist die Prägung dieser Orte durch kulturell-ökonomische Cluster ebenso wenig statisch wie durch residentielle. Sie richtet sich nach der Dynamik der Einwandererwellen, ihrem sozioökonomischen Status, nach Netzwerkstrukturen und Geschäftssinn. Insofern sind ökonomische wie residentielle Cluster immer transitorisch. Für eine kürzere oder längere Zeit entwickeln sich lokale Milieus, die einen starken Einfluß auf die Entwicklung des Ortes haben. In Toronto ist ein solcher dynamischer Prozeß derzeit auf der Eglinton Street West zu beobachten. Insbesondere zwischen der Marlee Avenue im Osten und der Dufferin Street im Westen finden sich auffällig viele karibische Geschäfte. Hierzu zählen Barbershops, Bankdienstleistungen für den Geldtransfer zwischen der Karibik und Kanada, einige (Reggae-)Musikgeschäfte, Lebensmittelgeschäfte, karibische Imbisse und Catering-Services. Die Musikgeschäfte und einige Boutiquen drücken ihre Liebe zum Reggae durch laute Beschallung ihres Ladenlokals und des Bürgersteiges aus. Was an Geschäften/Dienstleistungen nicht als karibisch zuzuordnen ist, ist sehr international: italienisch, portugiesisch, griechisch, philippinisch, thailändisch, chinesisch, arabisch. Im allgemeinen wirken die Geschäfte so, als würden sie eher Leute mit geringem Einkommen ansprechen. Neben afrokanadisch/karibischen Menschen nutzen viele Angehörige anderer Kulturen das Angebot auf der vitalen Straße. In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts war dieses Gebiet allerdings zu einem großen Teil italienisch, im Ostteil auch jüdisch geprägt. Während der italienische Charakter insbesondere westlich der 170
Dufferin Street noch sehr deutlich wird, ist es östlich der Dufferin die karibische Kultur, die dem Stadtraum maßgeblich Gesicht verleiht. Die jüdische Bevölkerung ist hier nicht mehr sichtbar. „Als ich hierher kam (1962), gab es eine Menge jüdische und italienische Leute. Dann wurde es ein Mix aus allen Leuten, die hierher kamen. Jetzt haben wir allmählich viele aus Westindien. […] In 15 Jahren werden es andere sein.“12 Das noch sehr junge karibische Cluster bildet den Kern der 1999 (wieder-) gegründeten York-Eglinton Business Improvement Area. Das Unter fangen der Geschäftsleute, eine gemeinsame Strategie für ihre Straße zu finden, gestaltet sich nicht ohne Konflikte: Die Mehrheit der Geschäftsleute ist aus der Karibik und will deshalb das Geld des Geschäftsverbandes für karibische Festivals ausgeben, der derzeitige Vorsitzende möchte aus Eglinton-West ein International Village machen, das seine Internationalität offensiv vermarktet. Eine dritte, von einem Italo-Kanadier geführte Fraktion findet sich in der Gesellschaft nicht mehr wieder und würde sich gern mit dem westlichen Teil abspalten, um eine eigene Business Improvement Area zu gründen.13 Wie die verschiedenen kulturellen Gruppen diesen Ort prägen, drückt sich in Schaufensterauslagen, der allgegenwärtigen Musik aus den Lautsprechern, den Gerüchen, Farben und dem Leben auf der Straße aus. Daß der Prozeß der Veränderung sich nicht ohne Konflikte vollziehen kann, versteht sich von selbst. Veränderung bedeutet oft auch einen schmerzlichen Abschied von Gewohntem und Vertrautem. „Die Beziehung des eigenen zum fremden Ort, die gegenseitige Abschottung, Aggressivität oder Toleranz in dieser Beziehung ist eine der wesentlichen Determinanten einer übergeordneten Entwicklung des Raumes.“14 Die Auseinandersetzung der Geschäftsleute der Eglinton Street West zeigt, daß die Möglichkeit, sich als kulturelle Gruppe offensiv im Stadtraum zu zeigen, auch zum Austausch zwischen den Kulturen beitragen kann. Im besten Falle können auch Konflikte gelöst werden, wenn es dafür kommunikative, beziehungsweise kooperative Strukturen gibt, wie die Organisationsform der Business Improvement Areas, in der alle Geschäftsinhaber gleichberechtigte Mitglieder sind. Wie die Geschäftsverbände der kulturellen Ökonomien haben auch Nachbarschaften einen starken Einfluß auf die Integration der Zuwanderer und deren produktive Einbindung in die Stadtentwicklung. Die Nachbarschaft (neighbourhood) spielt in der Stadtentwicklungspolitik Torontos eine große Rolle. Toronto ist seit 2001 flächendeckend in 140 Nachbarschaftsbezirke mit etwa 7.000 bis 10.000 Einwohnern gegliedert; hier lebt 171
jeder Einwohner in einer offiziellen Nachbarschaft, die als geographisch eingegrenzte, administrative Einheit eine wichtige Bedeutung bei der Versorgung der Bevölkerung mit städtischen Infrastrukturen hat (Nachbarschaftsschulen, Ärztezentren, Stadtteilbibliotheken u. ä.). Ferner hat die Nachbarschaft auch eine soziale Bedeutung für die Identifikation der Bürger und nimmt politisch auf die Stadtentwicklung Einfluß. Auf der Ebene der Stadtverwaltung gibt es ein besonderes Amt für Belange der Nach barschaften. Nachbarschaften und Geschäftsviertel sind allerdings in der Regel tran sitorisch. In einem ehemals jüdischen Quartier wohnen kaum noch Juden, es ist heute eher als ein Little Italy bekannt, in dem allerdings auch kaum mehr Italiener wohnen. Dadurch entsteht eine dauernde Umschichtung und Überschichtung einzelner Stadtteile. So finden sich in der Stadt zahlreiche Beispiele, in denen die Vielfältigkeit Torontos in seiner räumlich wohl einfachsten Form ausgedrückt wird, in der Gleichzeitigkeit zahlreicher Kulturen im Straßenbild. Hier findet sich dann ein griechischer Laden neben einem japanischem Restaurant und einem jüdischen Buch laden. Oft haben sich durch die Wanderungen von Kulturen im Stadtraum auch Raumschichten ausgebildet, die aus der Diachronie kultureller Prägungen eine vielfältige Raumphänomologie schaffen. In das jüdische oder portugiesische Quartier ziehen Chinesen und später Vietnamesen oder die europäische Mittelschicht. Zumindest wer gelernt hat, den Raum zu lesen, wird jüdische Symbole finden, wo jetzt ein Nachbarschaftszentrum ist, und auch die Zeichen christlicher Zwischennutzung sind zu erkennen. Straßennamen und Schriftformen vom Hebräischem bis zum Chinesischen erzählen über die kulturellen Schichten der Stadt. So wird die Geschichte der Kulturen dieser Stadt zum eigentlichen Ausdruck ihrer Identität. Anmerkungen Dieser Artikel basiert auf den Ergebnissen des 2005 von der Arbeitsgruppe Empirische Planungsforschung der Universität Kassel durchgeführten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts Offene Stadt – Migration als Ressource der Stadtentwicklung. Räumliche Bedingungen für einen produktiven Umgang mit Zuwanderung, die in dem Buch Debik, Johanna; Glasauer, Herbert; Ipsen, Detlev, Mussel, Christine; Weichler, Holger (2005): Toronto. Migration als Ressource der Stadtentwicklung, Kassel 2005 veröffentlicht wurden. (Englischsprachige Zitate wurden von den Verfassern ins Deutsche übersetzt.)
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1 City of Toronto: Gespräch mit Vertretern der Abteilung Diversity Management & Community Engagement (Ceta Ramkhalawansingh u. a.), 22. Juni 2005 2 City of Toronto (2005): Vision Statement on Access, Equity and Diversity, Plan of action for the elimination of racism and discrimination – background. www.toronto.ca/ diversity: 25.7.2005 3 Public Works and Government Services Canada (2000): Forging our Legacy. Canadian Citizenship and Immigration 1900–1977. Online-Ausgabe: www.cic.gc.ca/english/ department/legacy/index.html: 1.8.2005.; Geißler, Rainer (2003): Multikulturalismus in Kanada – Modell für Deutschland? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 23. Juni 2003, S. 19–25 4 Department of Canadian Heritage (2003): Annual Report on the Operation of the Canadian Multiculturalism Act 2002–2003. Ottawa 5 Department of Canadian Heritage (o. J.): Multiculturalism. www.canadianheritage.gc.ca: 1. August 2005 6 Vgl. Anisef, Paul; Lanphier, Michael [Hg.] (2003): The World in a City. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press 7 Statistics Canada (2008): Release of the 2006 Census on Language, Immigration, Citizen ship, Mobility/Migration 8 Eine Business Improvement Area (BIA) ist eine Gemeinschaft aus Grundbesitzern und Geschäftsinhabern eines Stadtbezirks, die gemeinsam mit der Unterstützung der Stadt Toronto ein Selbsthilfeprogramm zur Stimulierung des Einzelhandels durchführt. Im Stadtgebiet von Toronto gibt es gegenwärtig 50 solcher Geschäftsverbände. Ein Teil davon ist kulturell geprägt und wirbt offensiv damit. 9 BIA GreekTown (2005): Business Improvement Area GreekTown on the Danforth. www.greektowntoronto.com/about1.html: 09. August 2005 10 City of Toronto (2003/2004): Community and Neighbourhood Services: Neighbourhood Profiles 2001 11 Marcuse, Peter (1997): The Enclave, the Citadel, and the Ghetto. What has changed in the Post-Fordist U. S. City. In: Urban Affairs Review, Vol. 33, No. 2, S. 228–264; S. 242) 12 Interview mit Melvin Crooks, Friseur auf der Eglinton West; in: Heath-Rawlings, Jordan (2004): In search of its soul. Once Italian, now largely West Indian, an Eglinton West neighbourhood struggles to find an identity. In: Toronto Star, Nov 21, 2004, S. B.01 13 Heath-Rawlings, Jordan: a. a. O. 14 Ipsen, Detlev (2002): Die Kultur der Orte. In: Löw, Martina (Hg.): Differenzierungen des Städtischen. Opladen: Leske und Budrich. S. 233–245, S. 240
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Autorinnen und Autoren Gerd Baumann ist Professor für Sozial- und Kulturanthropologie an der Universiteit van Amsterdam. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören National Integration and Local Integrity in the Sudan (Oxford 1986), Contesting Culture: Discourses of Identity in MultiEthnic London (Cambridge 1996), The Multicultural Riddle: Re-Thinking National, Ethnic, and Religious Identities (New York 1999) und Grammars of Identity/Alterity: A Structural Approach (Oxford 2004). Seine neueren Arbeiten analysieren internationale Medien. Dr.-Ing. Gerold Caesperlein ist Raumplaner und Mitinhaber eines Ingenieurbüros in Dortmund. Mit Katrin Gliemann veröffentlichte er die Studie Drehscheibe Borsigplatz. Ein Einwanderungsstadtteil im Spiegel der Lebensgeschichten alteingesessener Bewohner. Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, Band 114. Dortmund 2003. Leon Deben, Stadtsoziologe und Associate Professor der Universität von Amsterdam. Jüngere Veröffentlichungen: Bouwen aan bindingen: sociale cohesie in Zoetermeer (2002), Nachtzwervers in Amsterdam (2003) und (mit W.Salet & M.T. van Thoor eds.) Cultural heritage and the future of historic innercity of Amsterdam (2004) Holger Floeting, Diplom-Geograph, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Zu seinen Veröffentlichungen gehört Ethnische Ökonomie. Integrationsfaktor und Integrationsmaßstab. Berlin 2005 (mit Schuleri-Hartje, Ulla-Kristina und Reimann, Bettina). Dr.-Ing. Katrin Gliemann ist Raumplanerin und arbeitet an der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund. Mit Gerold Caesperlein veröffentlichte sie die Studie Drehscheibe Borsigplatz. Ein Einwanderungsstadtteil im Spiegel der Lebensgeschichten alteingesessener Bewohner. Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, Band 114. Dortmund 2003. Dr. Detlev Ipsen, Professor für Stadt- und Regionalsoziologie an der Universität Kassel. Letzte Buchveröffentlichungen: The Genesis of Urban Landscape – the Pearl River Delta in South China, ISP Print, Kassel 2005, Ort und Landschaft, Wiesbaden 2006, Vielfalt fördern und Zusammenhalt stärken, 2007 Birgit Mattausch, Dr. phil., studierte Äthiopistik, Anglistik, Übersetzungswissenschaft und Ethnologie in Leipzig und Köln, Promotion am Asien-Afrika-Institut der Univer sität Hamburg, sie arbeitet am Forschungsprojekt Urbane Übersetzungen: Großstädte als kulturelle Kontakträume. 2006 erschien Die Kunst der Ambiguität, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden. Michel Peraldi, Anthropologe, Professor am C.N.R.S., Laboratoire Mediterranéen d’Etudes Sociologiques, seit 2005 Direktor des Centre Jacques Berque für die Entwicklung der Sozialwissenschaften in Rabat, Marokko. Sein Forschungsinteresse gilt der Migrationsdynamik im Mittelmeerraum und den informellen Handelswegen zwischen dem Maghreb und Europa,
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die zur Wiederbelebung von Städten beitragen. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören Tanger transnationale, in: La Pensée de Midi, n°23, 2008, und Migrations marocaines, nouvelles routes, nouvelles modalités, in Afkar, n°17, 2008 (mit A. Rahmi). Dr. Robert Pütz lehrt und forscht seit 2004 als Professor für Humangeographie an der Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der sozial- und wirtschaftsgeographischen Metropolenforschung. Zu seinen Veröffentlichungen gehören: Transkulturalität als Praxis: Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin (Bielefeld 2004) und Kulturelle Geographien: Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn (hg. mit Christian Berndt, Bielefeld 2007). Angela Stienen, Dr. phil., Ethnologin, promovierte an der Universität Bern zum Thema Die Globalisierung des städtischen Raumes am Beispiel der kolumbianischen Metropole Medellin. Sie ist Forschungsbeauftragte und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Bern, Associate Researcher am Forschungs- und Menschenrechtsinstitut IPC in Medellin und Leiterin eines Forschungsprojekts im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms NFP58 Reli gionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft des Schweizerischen Nationalfonds. Jacques van de Ven, Professor em. für Ökonomische Geographie der Hochschule Den Haag. Schrieb zusammen mit Pieter Terhorst Fragmented Brussels and consolidated Amsterdam. A comparative study of the spatial organization of property rights, Netherlands Geographical Studies, Amsterdam 1997. Holger Weichler, Studium der Stadtplanung an der Universität Kassel. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Empirische Planungsforschung an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Urbanisierungsprozesse in China, Megastädte, die Bedeutung kultureller Vielfalt in Städten. Erol Yildiz, seit August 2008 Professor für interkulturelle Bildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, bis dahin Privatdozent für Soziologie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Jüngste Buchveröffentlichung (mit Bukow, Wolf-Dietrich u. a.): Was heißt hier Parallelgesellschaft? Der Umgang mit Differenz. Wiesbaden 2007.
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Bauwelt Fundamente (lieferbare Titel) 1 Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts 2 Le Corbusier, 1922 – Ausblick auf eine Architektur 12 Le Corbusier, 1929 – Feststellungen 16 Kevin Lynch, Das Bild der Stadt 50 Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur 53 Robert Venturi / Denise Scott Brown / Steven Izenour, Lernen von Las Vegas 56 Thilo Hilpert (Hg.), Le Corbusiers „Charta von Athen“. Texte und Dokumente. Kritische Neuausgabe 86 Christian Kühn, Das Schöne, das Wahre und das Richtige. Adolf Loos und das Haus Müller in Prag 118 Thomas Sieverts, Zwischenstadt – zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land 123 André Corboz, Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen 125 Ulrich Conrads (Hg.), Die Städte himmeloffen. Reden und Reflexionen über den Wiederaufbau des Untergegangenen und die Rückkehr des Neuen Bauens (1948 / 49) 126 Werner Sewing, Bildregie. Architektur zwischen Retrodesign und Eventkultur 128 Elisabeth Blum, Schöne neue Stadt. Wie der Sicherheitswahn die urbane Welt diszipliniert 129 Hermann Sturm, Alltag & Kult. Gottfried Semper, Richard Wagner, Friedrich Theodor Vischer, Gottfried Keller 130 Elisabeth Blum / Peter Neitzke (Hg.), FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und São Paulo 131 Angelus Eisinger, Die Stadt der Architekten 132 Karin Wilhelm / Detlef Jessen-Klingenberg (Hg.), Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen 133 Michael Müller / Franz Dröge, Die ausgestellte Stadt 134 Loïc Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays 135 Florian Rötzer, Vom Wildwerden der Städte 136 Ulrich Conrads, Zeit des Labyrinths 137 Friedrich Naumann, Ausstellungsbriefe Berlin, Paris, Dresden, Düsseldorf 1896 –1906. Anhang: Theodor Heuss − Was ist Qualität? (1951) 138 Undine Giseke / Erika Spiegel (Hg.), Stadtlichtungen. Irritationen, Perspektiven, Strategien 140 Erol Yildiz / Birgit Mattausch (Hg.), Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource 141 Günther Fischer, Vitruv NEU oder Was ist Architektur? 142 Dieter Hassenpflug, Der urbane Code Chinas